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Zeitschrift
für
Psjchologie und Physiologie der Sinnesorgane
heransgegeben von
Herrn. Ebbinghans und W. A. Nagel.
L Abteilung.
Zeitschrift für Psycliologie.
In Gemeinschaft mit
S. Einer, J. v. Kries, Th. Lipps, A. Meinong,
ö. R Müller, C. Pelman, A. v. Strümpell, C. Stumpf,
A. Tschermak, TL Ziehen
herausgegeben von
Herrn. Ebbinghans.
43. Band.
Leipzig, 1906.
Verlag von Johann Ambrosius Barth.
BofipUts 17.
Inhaltsverzeichnis.
Abhandlungen. Seite
G. Hbyxans. Weitere Daten über Depersonalisation und „Fausse Re-
connaiflsance*' 1
H. Ck)BNSLiu8. Psychologische Prinzipienfragen. II. Das Material der
Phänomenologie 18
6. Jacobsohn (t). Über subjektive Mitten verschiedener Farben auf
Grund ihres Kohärenzgrades 40 u. 204
£. VON Aster. Beiträge zur Psychologie der Raumwahmehmung . . 161
Th. Zibhbn. Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen 241
H. Abbls. Über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen
und statischen Sinnes. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewegungs-
schwindel (Drehschwindel) 268 u. 374
G. Hbtkans und E. Wibbsma. Beiträge zur spezieilen Psychologie auf
. Grund einer Massenuntersuchung II * 321
M« ÜBSTBor. Ein Beitrag zur Psychologie der Aussage. Kleine Mit-
teilung 423
N. Ach. Zweiter Kongrefs für experimentelle Psychologie (Bericht) . 425
Literaturbericlit und Bespreehnngen.
I. Allgemeines.
U. SvoBODA. Studien zur Grundlegung der Psychologie 435
G. HAOKMAinr. Psychologie. Ein Leitfaden für akademische Vorlesungen
sowie zum Selbstunterricht. 7. neubearb. u. verm. Aufl. herausg.
von A. Dyboff 438
B. KxBH. Das Wesen des menschlichen Seelen- und Geisteslebens . 440
W. V. Bbchtbbew. Die biologische Bedeutung der Psyche und die
Bolle der psychischen Auslese 96
Th. Lipps. BewuTstsein und Gegenstände 97
£. H. Hollands. Wxtndt's Doctrine of Psychical Analysis 105
B. M. Ybbkbs. Animal Psychology and Criteria of the Psychic . . . 106
W. T. Bush. An Empirical Definition of Consciousness 106
A. Binbt. L'äme et le corps 230
IV Inhaltsverzeichnia.
Seite
P. Bom^iEB. Y a-t-il une psychologie hnmaine? 233
F. Abnou). The ünity of Mental Life 234
P. Schultz. Gehirn und Seele 234
M. W. CALKiNg. Der doppelte Standpunkt in der Psychologie . . . 441
H. LuQüET. Reflexion et introspection 444
P. SoLLiBB. La conscience et ses degrös 444
J. A. LxxGHTON. The Psychological Seif and the Actual Personality . 444
G. M. Stbatton. The Difference between the Mental and the Physical 443
F. Thiixy. Psychology, Natural Science and Philosophy 443
A. Palme. J. G. Sülzsbs Psychologie und die Anfänge der Drei-
yermögenspsychologie 444
S. Kbaitss. ThAodulb Ribotb Pflychologie. Ein Beitrag zur Geschichte
der modernen Psychologie in Frankreich. I. Teil: Ribots erste
Schäffens'pferiöde (1876-1890) 445
HL l^hysiologie der nervösen ^entralorgane.
R. Ssifoir. Die Mneme lüs erhalt^ides Prinzip im Wechsel des organi-
schen Geschehens 108
G. Pa^tconcslu-Oilzia. Quelques remarques sur la m^hode graphique 109
tV. Smpfindmigetn.
1. Allgemeines.
W. Na«]il. Handbuch der Physiologie des Menschen. III. Hiysio-
logie der Sinne. 2. HAlfte 107
A. H. PnmcK. Inferred Consciou« States and the Equality Axioai . . 238
2. Gesichtsempfindungen.
A. KiBSBL. Die Welt des Sichtbaren 110
H. Hbhzog. Experimentelle Untersuchungen zur Physiologie der Be-
wegungsvorgänge in der Netzhaut 110
J. EiBENHEiMBB. Untersuchungen zur Helligkeitsfrage 299
T. R. Robinson. Stereoscopic Vision and its Relation to Intensity and
Quality of Light Sensation. I. Stereoscopic Vision and Intensity 300
W. McDouoall. The Illusion of the ,,Fluttering Heart" and the Visual
Funetiens of the Rodä of the Retina 447
— The Variation of the Intensity of Visual Sensation with the Du-
ratron of the Stimulus 447
D. C. MacObbgob and D. S. Dix. The Complementary Relatkins of
some Systems of Coloüred Papwrs 11^
J. W. ÄAäu>. The Color Sensltivity of the Petipherai Retina .... IIA
ß. Danilxwsky. Beobachtungen über eine subjektive Lichteinpfindufig
im variablen magnetischen Felde Hft
A. KiBSCHHANN. Nofmale und anomale Farbensysteme 46G
3. Geh<»rsempfindniige&.
K. Dunlap. Extensity and Pitch 118
Inhaltsverzeichnis. T
Seite
M. Mabagb. Sensibilitö speciale de l'oreille physiologiqne pour cer-
tainee voyelles 236
— Contribution k T^tude de l'organe de Cobti 236
— Pourqnoi certains sourds-mnets entendent mieux les sons graves
que les sons aigns 236
E. Viiii. Über objektive Ohrentöne 451
OsTMiKNN. Klinische Studien zur Analyse der Hörstörungen. IV. Teil 452
AhBJUkifDEEL u. Tandlbr. Untersuchungen an kongenital tauben Hunden,
Katzen und an Jungen kongenital tauber Katzen 453
4. Hautempfindungen usw.
V. FoBTi u. B. Babboyscchio. Ein weiterer Beitrag zur Kenntnis des
Vibrationsgeftthls 237
S. AiAüTZ. Untersuchungen über Druckpunkte und ihre Analgesie . 114
— Untersuchungen über Schmerzpunkte und doppelte Schmerz-
empfindungen 114
B. BoüBDOK. L'^tat actuel de la qnestion du eens musculaire .... 302
L. V. Fbankl-Ho€hwabt. Der M«NiiBESche Symptomenkomplex. 2. Aufl. 454
5. Allgemeine Eigenschaften der Empfindungen.
G. Spsabmak. Analysis of „Localisation", illastrated by a Brown-
Söquard Gase 114
V. Qrondgesetae des seelischen Qeschehens.
Vatbac. Le Processus et le m^canisme de Tattention 455
G. £.' FbbbbIi. An Experimental Examination of the Phenomena
uiäually attributed to Fluctuations of Attention 456
Blbttlbb. Diagnostische Assoziationsstudien. V. Beitrag. Bewufstsein
und Assoziation 119
E. J. "St^iPl?. Memory of a Gomplex Skillful Act 120
W. MbDoüoA'LL. On a New Method for the Study of Goncurrent
Mental Operations and of Mental Fatigue 238
VI. Vorstellungen.
H. B. Mabshall. Presentation and Bepresentation 120
R. Wallaschbk. Psychologie und Pathologie der Vorstellung. Beitrage
zur Grundlegung der Ästhetik 121
A. Bbll and L. Mückbnhoüpt. A Gomparison of Methode for the
Detennination of Ideational Types 457
£. Gbossmakk. Über Schätzungen nach Augenmafs 457
J. E. W. Waluk. Optica] lUusions of Beversible Perspective : a Volume
of fiistorical and Experimental Besearches 9C6
F. Kbssow. Über die geometrisch-optischen Täuschungen 308
L. BoTTL Ein Beitrag zur Kenntnis der Variabein geometrisch-optischen
Streckentäuschungen 308
F. SoBDifAKir. Beiträge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen . . 125
— Beiträge zur Psychologie der Zeitwahmehmnng 125
VI Inhaltsverzeichnis.
Seite
K. SiBOBL. Über Raum Vorstellung und Baumbegrifi! 126
J. £. Brand. The E:ffect of Verbal Suggestion upon the Estlmation
of Linear Magnitudes 127
B. DoDOE. The Illusion of Clear Vision during Eye Movement ... 128
L. Laubekt. Les proc^^s des liseurs de pens^es 128
0. G. Jung. Experimentelle Beobachtungen über das Erinnerungs-
vermögen 128
Meunibb. Des röves stör^otyp^s 129
W. S. MoNBOE. Mental Elements of Dreams 129
J. R. Jewell. The Psychology of Dreams 130
F. N. Hales. Materials for the Psycho-Genetic Theory of Gomparison 238
N. Ach. Über die Willenstätigkeit und das Denken. Eine experi-
mentelle Untersuchung mit einem Anhange: Über das Hippsche
Ghronoskop 460
Gh. E. Bbowiöe. The Psychology of the Simple Arithmetical Processes.
A Study of Gertain Habits of Attention and Association . . . 458
Gl. H. Town. The Kinaesthetic Element in Endophasia and Auditory
Hallucination 460
A. F. Ghaxbeblain. Acquisition of Written Language by Primitive
Peoples 460
G. Bob. Les ^l^ments affectifs du langage 460
R. DE La Gbassbbie. La Psychologie de l'argot 131
E. Th. Ebdmann. Drei Beiträge zu einer allgemeinen Theorie der Be-
griffe 309
W. SwiTALSKi. Die erkenntnistheoretische Bedeutung des Zitates. Ein
Beitrag zur Theorie des Autoritätsbeweises 465
W. R. B. Gibbon. Predetermination and Personal Endeavour .... 131
J. A. Leighton. Seif and Not-Self in Primitive Experience .... 131
Th, Elsekhans. Die Aufgabe einer Psychologie der Deutung als Vor-
arbeit für die Geisteswissenschaften 131
J. E. DowNET. Normal Variations in the Sense of Reality 132
H. Kleinpetbb. Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegen-
wart 310
VH. Gefühle.
H. Mabshall. The Nature of Feeling 466
H. N. Gabdinbb. The Definition of Feeling 466
J. R. Anoell. Recent Discussion of Feeling 466
Gh. H. Johnston. The Present State of the Psychology of Feeling . 132
K. GoBDON. The Relation of Feeling to Discrimination and Gonception 133
— Feeling and Gonception 138
Dttpbat. La psycho-pbysiologie des passions dans la Philosophie
ancienne 133
Massblon. Le r^actions affectives et l'origine de la douleur morale 133
V. GiGNOux. Le röle du jugement dans les phönom^nes affectifs . . 134
R. d'Allonnbb. Röle des sensations internes dans les ^motions et dans
la perception de la dur^e 466
Inhaltsverzeiehnis, VII
Seite
G. Dumas. Le pr^jug^ intellectualiste et le pr^jug^ finaliste dans les
ihäories de TexpresBion 466
£. Wbbeb. ELritisches und Eigenes über das Weinen bei Gemüts-
bewegung 134
B. dss MoiTTMOKAND. Les ^tats mystiqnes 134
6. Dumas. Pathologie du sourire 135
J. YoLKELT. System der Ästhetik I 13ö
Ch. D. Pflaum. Die Aufgabe wissenschaftlicher Ästhetik 313
W. M. ÜBBAN. Appreciation and Description and the Psychology of
Values 467
Th. A. Mbtbb. Das Formprinzip des Schönen 467
II. SixBBCK. Über musikalische Einfühlung 141
S. Fbeud. Der Witz und seine Beziehung zum Unbewufsten .... 143
F. Jahn. Das Problem des Komischen in seiner geschichtlichen Ent-
wicklung 469
F. C. Fhench. The Relation of Psychology to the Philosophy of
Religion 239
J. D. Stoops. The Psychology of Religion 145
J. Knro. The Differentiation of the Religious Consciousness .... 145
— The Real and Pseudo-Psychology of Religion 145
G. VoBBBODT. Zur Religionspsychologie: Prinzipien und Pathologie . 313
Vm. Bewegung und Wille.
Dbomard. Etüde psychologique et clinique sur T^chopraxie .... 146
W. H. WiNOH. Psychology and Philosophy of Play 470
H. Planck. Das Problem der moralischen Willensfreiheit 147
A. L. KsLLoeo. The Possibility of a Psychological Consideration of
Freedom 148
G. Taue. Une Illusion de la conscience morale 148
M. Offnes. Willensfreiheit, Zurechnung und Verantwortung .... 315
H. GoMFEBz. Über die Wahrscheinlichkeit der Willensentscheidungen.
Ein empirischer Beitrag zur Freiheitsfrage 317
J. Mack. Kritik der Freiheitstheorien. Eine Abhandlung über das
Problem der Willensfreiheit 470
IX. Besondere Zustande des Seelenlebens.
P. Janbt. Les oscillations du niveau mental 148
8. Fbbud. Bruchstack einer Hysterie-Analyse 239
H. Stadblmann. Geisteskrankheit und Naturwissenschaft. Geistes-
krankheit und Sitte. Geisteskrankheit und Genialität. Geistes-
krankheit und Schicksal 150
— Das Wesen der Psychose auf Grundlage moderner naturwissen-
schaftlicher Anschauung. V. Die Paranoia. VI. Die Epilepsie 160
F. Kbambb. Die kortikale Tastlähmung 150
A. Mbtbb. Aphasia 151
R. Hbnnbbbbo. Über unyollständige reine Worttaubheit 151
6h. J. Fbanz. The Reeducation of an Aphasie 152
Vni InhaU9verzeichnis.
Seite
K. PnRSDOBF. Über Bededrang nach Denkhemmnng IdS
A. Pick. Zur Analyse der Elemente der Amasie 240
S. SouKHANOFF. Phobie du regard 15S
Th. Bbauh. Die religiöse Wahnbüdung 153
R. LiFSCHiTZ. Zur Ätiologie der Melancholie 240
£. RoDBKVALDT. Aufnahme des geistigen Inventars Gesunder als Ma£B-
stab für DefektprOfungen bei Kranken 319
M. IssEBLiK. Assoziationsversuche bei einem forensisch begutachteten
Falle von epileptischer Geistesstörung 320
W. V. Bechterew. Über eine Form der Paraphasie 320
Cl. H. Town. The Negative Aspect of Hallucinations 471
Sh. I. Franz. The Time of some Mental Processes in the Betardation
and Ezcitement of Insanity 472
H. Oppenheim. Psychotherapeutische Briefe 320
S. TüRKEL. Psychiatrisch-kriminalistische Probleme 154
X. Individuum und Qesellschaft.
£. Rabaud. H^r^dit^ et dögön^rescence 154
W. A. Lay. Experimentelle Didaktik. Ihre Grundlegung mit be-
sonderer Bücksicht auf Muskelsinn, Wille und Tat. I. 2. Aufl. 290
A. F. Ghambbrlain. Primitive Hearing and ^^Hearing-Words'' . . . 156
G. & Manchester. Experiments on the ünreflective Ideas of Men
Women 156
J. H. TüFTs. The Individual and his Belation to Society as reflocted
in the British Ethics of the Eighteenth Century 156
J. Stern. Über die Beue 157
A. Grabowsky. Psychologische Tatbestandsdiagnostik 157
XL Tierpsychologie.
P. GiRARD. Sur l'expression numörique de l'intelligence des espöces
animales 158
J. P. Porter. A Preliminary Study of the Psychology of the English
Sparrow 158
A. THAUzits. L'orientation du pigeon-voyageur 150
P. BoNNiBR. La question de l'orientation lointaine 159
IKaiaeQregiB.ter 4'?-^
Weitere Daten über Depersonalisation und ,,Fausse
Beconnaissance^'.
Von
G. HETMAN8.
In Band 36 dieser Zeitschrift, S. 321—343, veröffentlichte ich
die Resultate einer Enquete über Depersonalisation und „Fausse
Seconnaissance", welche darauf hinzuweisen schienen, dafs die
betreffenden Erscheinungen hauptsächlich bei Personen, welche
flieh durch psychische Instabilität auszeichnen, und unter Um-
ständen, welche eine zeitweilige Herabsetzung der psychischen
Energie wahrscheinlich machen, auftreten. Mit Rücksicht auf
die geringe Zahl der mir zu Gebote stehenden Fälle fügte ich
meiner damaligen Auseinandersetzung die Bitte hinzu, es mögen
einige Kollegen die Güte haben, Exemplare meines Fragebogens
zur Verteilung unter ihre Zuhörer zu übernehmen, und mir die-
selben später, nachdem sie ausgefüllt wären, zurückzuschicken.
Dieser Bitte haben 6 Kollegen (die Herren Dr. ELSENHANS-Heidel-
berg, Dr. H£BBEBTZ-Bonn, Dr. LiPMANN-Berlin , Prof. Sommeb-
Giefsen, Prof. van der WYCK-Utrecht und Dr. WiTASEK-Graz)
gütigst Folge geleistet, während 3 andere so freundüch waren,
für sich selbst eiaen Fragebogen auszufüllen, bzw. mir die dazu
erforderten Daten zu liefern. Im ganzen erhielt ich bis jetzt
42 ausgefüllte Fragebogen zurück, womit also mein Material von
1904 (42 Stück, von welchen jedoch nur 31 sichere Angaben über
das Vorkommen oder Nichtvorkommen von D und FR enthielten :
-a. a. O. S. 329 — 330) schon mehr als verdoppelt war. Aufserdem
habe ich dann auch selbst im vergangenen akademischen Jahre
noch einmal Fragebogen unter meine Zuhörer verteilt, und von
denselben 46 Stück ausgefüllt zurückbekommen ; so dafs jetzt im
ganzen Daten in bezug auf 130 Personen vorliegen. Allen den-
jenigen, welche mittelbar oder unmittelbar zu diesem Resultate
Zeitschrift flir Psychologie iS. 1
2 G. Heymans,
beigetragen haben, erlaube ich mir hiermit meinen verbindlichsten
Dank auszusprechen.
Die allgemeine Einrichtung der jetzt verwendeten Fragebogen
war die gleiche wie früher; es waren aber von den „allgemeinen
Fragen'* die drei ersteren durch andere ersetzt, und zu den „be-
sonderen Fragen" eine neue hinzugefügt worden. Gestrichen
wurden die allgemeinen Fragen, welche sich auf die Regelmäfsig-
keit des Schlafes, auf die gröfsere Frische morgens oder abendß,
und auf das Vermögen der anschauUchen Vorstellung bezogen^
weil die frühere Enquete die Irrelevanz der betreffenden indi-
viduellen Differenzen für die vorHegenden Erscheinungen höchst
wahrscheinUch gemacht hatte. Dafür wurden drei neue Fragen
aufgenommen, welche das Vorkommen von D- und i^Ä-Erschei-
nungen in den letzten zwei oder drei Jahren überhaupt, sowie-
die Möghchkeit einer Erklärung der letzteren durch tatsächlich
vorhegende Erinnerungsbilder zum Gegenstande hatten. Sieb
nach ersterem zu erkundigen schien nötig, weil bei der früheren
Enquete mehrere Personen, bei welchen im Versuchshalbjahr die
Erscheinungen nicht aufgetreten waren, nachträglich erklärten^
sonst häufig von denselben heimgesucht worden zu sein; und
das zweite hatte seine Wichtigkeit, weil sich dem Draufsen-
stehenden doch immer wieder jene Erklärung der FB durch-
latente Erinnerungen als die zunächstliegende und wahrschein-
lichste aufdrängt. — Es lauteten also jetzt die allgemeinen
Fragen wie folgt:
1. Kam die Erscheinung der Depersonalisation in den letzten
zwei oder drei Jahren oft, selten oder nie bei Ihnen vor?
2. Kam die Erscheinung der „Fausse Reconnaissance" in
den letzten zwei oder drei Jahren oft, selten oder nie bei
Ihnen vor?
3. Erinnern Sie sich Fälle von „Fausse Reconnaissance", bei
welchen die Möghchkeit, dafs tatsächlich ähnhche Erinnerungs-
bilder vorlagen, ganz oder nahezu ausgeschlossen war?
4. Pflegen Sie sich im allgemeinen die Sachen mehr oder
weniger als andere zu Herzen zu nehmen?
5. Ist Ihre Gemütsstimmung im grofsen und ganzen gleich-
mäfsig, oder zu verschiedenen Zeiten sehr ungleich?
6. Sind Sie fast immer mit Herz und Seele mit irgend etwa&
(sei es Arbeit, Erholung, eigenen Gedanken oder sonst etwas)*
Weitere Daten über Dq^rsonalisatum und ^^Fausse Reconnaissance", 3
beschäftigt, oder fühlen Sie sieh oft leer und zu nichts auf-
gelegt?
7. Arbeiten Sie regelmäfsig oder unregelmäfsig (bald viel
mehr, bald viel weniger)?
8. Ist im grofsen und ganzen die gesellschaftliche Unter-
haltung für Sie ein Genufs oder eine Arbeit?
9. Dringt, wenn Sie in irgend eine Beschäftigung vertieft
sind, eine von anderen an Sie gerichtete Frage dennoch sofort
zu Ihnen durch, oder mufs man die Frage bisweilen einmal oder
öfter wiederholen?
10. Welche Studienfächer machten Ihnen auf der Mittel-
schule mehr Mühe, die mathematischen oder die sprachwissen-
schaftlichen ?
11. Haben Sie oft, selten oder nie den Eindruck, dafs ein
bestimmtes, keineswegs ungewöhnliches Wort (oder Eigenname)
Ihnen momentan sonderbar, fremdartig, wie ein Laut- oder Buch-
stabenkomplex ohne Sinn erscheint?
Die besonderen Fragen betrafen, wie früher, Tageszeit,,
äufsere Umstände, Gemütslage und Antezedentien beim Eintreten
der einzelnen Erscheinungen, und waren genau so wie früher
redigiert; nur war ein neuer Umstand („beim Eintreten in ein
Zimmer, wo bereits viele Menschen zusammen waren") aufge-
nommen worden, auf dessen mögliche Bedeutung ich nach dem
Abschlufs meiner vorigen Untersuchung aufmerksam gemacht
worden war (s. meinen früheren Artikel S. 342).
Wenn wir nun das neu eingelaufene Material zunächst nach
der Frequenz, mit welcher die einschlägigen Erscheinungen auf-
treten (allgemeine Frage 1 und 2) ordnen, so stellt sich heraus,
dafs von sämtlichen 88 Berichterstattern 19 erklärten, oft, 43,
selten, und 26, nie in den letzten zwei oder drei Jahren Fälle
von D, FB oder beiden erlebt zu haben. Von jenen 19 hatte
einer die beiden Erscheinungen oft, 15 eine oft und die andere
selten, und blofs 3 eine oft und die andere nie erlebt, während
von den 43 Seltenheimgesuchten blofs 15 die beiden Erschei-
nungen, die übrigen 28 dagegen nur eine derselben aus eigener
ErffiJirung kannten: ein interessanter Beleg für die wesentliche
Zusammengehörigkeit der beiden Erscheinungen . Die Gesamtheit
der vorhegenden Verhältnisse läfst sich wie folgt übersichtlich
darstellen :
1*
G, Heymans.
Tabelle I.
Depersona- 1
lisation |
oft
selten
nie
Summe
l
11
2
14
4
1
15
6
22
26
41
33
6
32
50
Wie aus dieser Tabelle hervorgeht, ist die Anzahl der Per-
sonen, welche an FR leiden (55) merklich gröfser als diejenige
der Personen, welche von D heimgesucht werden (38), was mit
den Resultaten meiner früheren Untersuchung (17 bzw. 13 : s. d.
S. 328 — 329) übereinstimmt. Dieses Ergebnis bestätigt sich, wenn
wir die einzelnen Fälle, über welche Berichte vorhegen, ins Auge
fassen: die Gesamtzahl derselben beträgt 94, darunter befinden
sich 55 Fälle von FB, 35 von D, und 4 von beiden zusammen
(bei der Untersuchung von 1904 betrugen diese Zahlen 13, 2
bzw. 0: s. d. S. 334 — 336). Interessant ist, dafs dieses Über-
gewicht der FjB-Fälle sich nur bei denjenigen feststellen läfst,
welche „oft" die vorüegenden Erscheinungen oder eine derselben
erleben (35 X FB, 12 X -D, 3 X beide zusammen), dagegen nicht
bei denjenigen, welche nur „selten" von denselben heimgesucht
werden (20 X FB, 23 X ^, IX beide zusammen). Des weiteren
ist noch zu bemerken, dafs während des Versuchshalbjahrs 13
Personen nur ZB-FäUe (34), 9 nur D-FäUe (18), und 9 beide
(21 X FB, 17 X -D und 4 X beide zusammen) protokolliert haben.
Was schliefslich die Möglichkeit anbelangt, die gegebenen FB-
Erscheinungen auf tatsächlich vorliegende Erinnerungsbilder
zurückzuführen (Frage 3), so haben von den 55 Interessenten
32 diese Möghchkeit für bestimmte Fälle als ganz oder nahezu
ausgeschlossen bezeichnet.
An diesem Materiale sind nun zunächst die Vermutungen,
auf welche die frühere Untersuchung geführt hatte, zu prüfen.
Diese frühere Untersuchung hatte an erster Stelle wahrscheinlich
gemacht, dafs ein bestimmter Komplex mehr oder weniger zu-
sammengehöriger Eigenschaften (EmotionaUtät, ungleiche Gemüts-
lage, zeitweihges Zu-nichts- aufgelegtsein und unregelmäfsiges
Arbeiten) bei den mit D oder FB behafteten Personen merklich
Weitere Daten über D^personalisatiafi und jyFausse BeconnaisMnce" , 5
häufiger als bei anderen vorkommt (a. a. 0. S. 330—332); die
Frage, ob dieses Ergebnis durch das neue Material bestätigt wird,
mufs auf Grund der in Tabb. II und III gebotenen Zusammen-
stellung der früher und der jetzt gewonnenen absoluten und
Prozentzahlen unbedingt bejahend beantwortet werden.
Tabelle IL
(Absolute Zahlen.)
11
Antworten
Mater
von 1
D oder
FR
ial
904
nicht
1
Neues Mi
D oder
FR
»terial
nicht
Gesamt-
material
4
mehr
13
4
40
1
11
63
15
weniger
1
3
12
7
13
10
(nicht beantwortet)
8
2
10
8
18 10
5
gleichm&fsig
7
7
25
15
32
22
(sehr) ungleich
13
1
34
10
47
11
(nicht beantwortet)
2
1
3
1
5
2
6
beschäftigt
12
7
42
21
54
28
zu nichts aufgelegt
5
17
3
22
3
(nicht beantwortet)
5
2
3
2
8
4
7
regelmäCBig
10
8
30
16
40
24
unregelmäfsig
9
30
9
39
9
(nicht beantwortet)
3
Tabe
1
ile I]
2
I.
1
5
2
(ProEentzahlen.)
ä5
Antworten
mehr
weniger
gleichmäfsig
(sehr) ungleich
beschäftigt
zu nichts aufgelegt
regelmftfsig
unregelmftfsig
Material von
1904
D oder
FR
35
65
71
29
53
47
nicht
Neues Material
D oder
FR
hl
43
88
12 '
100
;
100
77
23
42
58
71
29
50
50
nicht
61
39
60
40
88
12
64
Gesamt-
material
D oder
FR
80
20
41
59
71
29
51
49
nicht
60
40
67
33
90
10
73
27
6
G. Heymans.
Wie man sieht, stimmen die Ergebnisse der neuen Unter-
suchung der Richtung nach in allen Punkten mit denjenigen
der früheren Untersuchung überein. Selbst läfst sich der Zu-
sammenhang zwischen den betreffenden Temperamentseigen-
schaften und den i>- und jP£-Erscheinungen hier noch genauer
als dort nachweisen, da die jetzige Fragestellung es ermöglicht,
diejenigen welche „oft", und diejenigen welche nur „selten" von
jenen Erscheinungen belästigt werden, gesondert zu betrachten
(s. Tab. IV und V).
Tabelle IV.
(Absolute Zahlen.)
Nummer
der Frage
Antworten
oft
n oder FB
selten
nie
4
mehr
14
26
11
weniger
3
9
7
5
gleichmäfsig
3
22
15
(sehr) ungleich
14
20
10
6
beschäftigt
10
32
21
zu nichts aufgelegt
8
9
3
7
regelmäfsig
5
25
16
unregelmäfsig
14
16
9
Tabelle V.
(Prozentzahlen.)
Nummer
der Frage
Antworten
oft
D oder FR
selten
nie
mehr
weniger
82
18
74
26
61
39
gleichmäfsig
(sehr) ungleich
18
82
52
48
60
40
beschäftigt
zu nichts aufgelegt
56
44
78
22
88
12
regelmäfsig
unregelmäfsig
26
74
61
39
64
36
Weitere Daten über Depersonalisation und „Fausse Reconnaissance". 7
Die Bestätigung der früheren Ergebnisse ist, wie man sieht,
«ine durchgängige, womit die Prädisposition des emotionalen,
häufigem Stimmungswechsel ausgesetzten, oft zu nichts aufge-
legten, unregelmäfsig arbeitenden Menschentypus zu D- und FE-
Erscheinungen wohl als gesichert gelten darf.
Nicht so schön stimmen die jetzt gewonnenen Zahlen zu
einer zweiten aus den früheren Ergebnissen abgeleiteten Ver-
mutung, nach welcher auch eine geringere Beanlagung zu mathe-
matischen als zu sprachwissenschaftlichen Studien mit dem Auf-
treten von 2). und J?!Ä- Erscheinungen in Korrelation stehen
sollte; vielmehr ist von einer solchen Korrelation in dem neuen
Material nichts mehr zu bemerken, und tritt sie demzufolge auch
in dem Gesamtmaterial nur noch schwach hervor: Tabb. VI
und VII.
Tabelle VI.
(Absolute Zahlen.)
S u
Antworten
Material von
1904
D oder
FR
nicht
Neues Material
Gesamt-
material
D oder
FR
nicht
D oder
FR
nicht
10 I mathematische
I Sprachwissenschaft!.
31
13
13
4
16
15
7
Tabelle VII.
(Prozentzahlen.)
® 2.
Antworten
Material
190^
D oder
FE
von
nicht
Neues Mi
D oder
FR
iterial
nicht
76
24
Gesan
mater
D oder
FR
at-
ial
nicht
10
mathematische
sprach wissenschaftl.
73
27
40
60
70
1 »
71
29
68
32
Dagegen ist die Korrelation zwischen der Häufigkeit der in
Rede stehenden Erscheinungen und derjenigen des Fremdfindens
eines bekannten Wortes (a. a. 0. S. 332) auch hier wieder eine
durchgängige und ausnahmslose: Tabb. VIII und IX.
G. Heyman»,
Tabelle VIII.
(Absolute Zahlen.)
Nummer
der Frage
Antworten
Material von
1904
^j«J«' nicht
Neues Material
^^^^ nicht
Gesamt-
material
^/j- nicht
11
oft
6
20
2
26
2
selten
14
5
32
18
46
23
nie
2
4
7
6
9
10
Tabelle IX.
(Prozentzahlen.)
Nummer
Antworten
Material von
1904
Neues Mi
[iterial
Gesamt-
material
1
der Frage
D oder
FR
nicht
D oder
FR
nicht
D oder
FR
nicht
11
oft
27
34
8 '
32
6
selten
64
56
54
69 i
57
66
nie
9
44
12
23 ;
11
29
Auch handhabt sich diese Korrelation in unzweideutiger
Weise, wenn wir wieder die oft und die selten von D- oder FR^
Erscheinungen Belästigten trennen: Tabb. X und XI.
Tabelle X.
(Absolute Zahlen.)
Nummer
der Frage
Antworten
J
oft
D oder Fl
selten
nie
11
oft
9
11
2
selten
8
24
18
nie
7
6
Weitere Daten über Depersonalisation und yyFausse Reconnaissance^*, 9
Tabelle XL
(Prozentzahlen.)
Nummer
der Frage
Antworten
D oder FR
oft selten nie
11
oft
selten
nie
53
47
26
67
17
8
23
Endlich die Korrelation zwischen dem Fremdfinden eines
bekannten Wortes und den nach Tabb. II — V die Erscheinungen
der D und FE begünstigenden Temperamentseigenschaften findet
mit einer unbedeutenden Ausnahme (in bezug auf Frage 4) in
den jetzt vorUegenden Zahlen ihre volle Bestätigung; und eia
Gleiches gilt ohne Ausnahme von der Korrelation zwischen dem
Fremdfinden eines bekannten Wortes und der geringeren Anlage
zu mathematischen im Vergleiche mit sprachwissenschaftlichen
Studien: Tabb. XII und XIII.
Tabelle XIL
(Absolute Zahlen.)
sä
Fremdfinden eines 1
bekannten Wortes (Frage 11)
3 h
Antworten
Material von
1904
Neues Material
Gesamt-
material
^^
oft
selten
nie
oft
selten
nie
oft
selten
nie
4
mehr
5
13
3
15
27
8
20
40
11
weniger
4
3
6
10
2
5
14
5
5
gleichm&fsig
2
14
6
10
23
7
12
37
13
(sehr) ungleich
4
10
1
14
24
6
18
34
7
6
beschäftigt
3
17
4
14
36
13
17
52
27
zu nichts aufgelegt
3
5
9
11
12
16
7
regelmäfsig
2
13
7
8
29
9
10
42
16
unregelrnftTsig
3
12
13
21
3
16
33
3
10
mathematische
3
10
1
13
27
4
16
37
5
sprachwissenschaftliche
5
3
4
10
2
4
15
5
10
. Heymcms.
Tabelle XIH.
(Prozentzahlen.)
.
Fremdfinden eines bekannten Wortes (Frage 11)
Antworten
^^^^Jä^^^*^ Neues Material
Gesamt-
material
h
oft
selten nie
oft selten
1
nie
oft
selten
nie
4
mehr
100
76
50
75
73
80
80
74
69
weniger
24
50
25
27
20
20
26
31
5
gleichmäfsig
33
58
86 \ 42
49
54
40
52
65
(sehr) ungleich
67
42
14
58
51
46
60
48
35
6
beschäftigt
50
77
100
61
76
100
59
76
100
zu nichts aufgelegt
50
23
39
24
41
24
7
regelmäfsig
40
62
100
38
68
75
38
56
84
unregelmaDsig
60
48
62
42
25
62
44
16
10
mathematische
100
67
25 76
73
67
80
71
50
sprachwissenschaftliche
38
76
24
1
27
33
20
29
50
In bezug auf die beiden übrigen allgemeinen Fragen 8 und 9
hat die jetzige Untersuchung, ebensowenig wie die frühere,
irgendwelche Korrelationen ergeben.
Abschliefsend ist demnach zu sagen, dafs die an dem früheren
dürftigen Materiale gewonnenen Ergebnisse durch das jetzt vor-
hegende bedeutend reichere Material durchgängig bestätigt werden.
Nur für eine Frage (diejenige nach der Beziehung zur mathe-
matischen bzw. sprachwissenschaftlichen Beanlagung) ist ein Vor-
behalt zu machen; diese Frage betrifft aber erstens blofs eine
konsekutive, von vielen anderen Bedingungen neben den
Temperamentsmerkmalen abhängige Eigenschaft, imd erkundigt
sich zweitens blofs nach dem Vorkommen dieser Eigenschaft in
einer früheren, vielleicht schon weit zurückliegend^i Lebens-
periode; demzufolge denn von vornherein hier mehr als sonst
Diskrepanzen zu erwarten waren.
Was an zweiter Stelle die besonderen, auf jeden einzelnen
Fall von D oder FR sich beziehenden Fragen betrifft, so ist
zunächst zu bemerken, dafs die einfache statistische Ordnimg der
darauf gegebenen Antworten keineswegs mit gleicher Deutlichkeit
wie früher (a. a. 0. S. 336) das häufige Vorkommen von Um-
ständen, welche auf eine zeitweilige Herabsetzung der psychischen
Energie hindeuten, erkennen läfst: Tab. XIV.
Weitere Daten über Depersonalisatian und „Fausse Beconnaisaance^^. H
3 ' »cc*-
S
S 2 S
QOOCQ
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TS
I
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S 4? O
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gi4 S^^^ S S SP
2 *, © ®
»H I fl ® s
2 © S 5 © 3
12 O' Heymant.
Hier bestätigt sich nmi aber, was ich in meinem früheren
Artikel (a. a. O. S. 323—324) als möglich und wahrscheinlich
andeutete: dafs nämlich begünstigende Umstände, von welchen
fast in jedem einzelnen Fall einige anwesend sind, dennoch sehr
wohl jede für sich in der Mehrzahl der Fälle fehlen können«
Fassen wir nämlich die 94 neu vorUegenden Fälle von D oder
FR gesondert ins Auge, so stellt sich heraus, dals blofs in 7 von
diesen Fällen keine, und in 10 anderen nur die Dämmer- oder
Abendzeit, in allen 77 übrigen aber sonstige Umstände proto-
kolliert wurden, welche eine zeitweilige Herabsetzung der
psychischen Energie yermuten lassen. Folgende nach den be-
teiligten Personen geordnete Übersicht (in welcher der Kürze
halber von den protokollierten Umständen blofs diejenigen, welche
auf eine Herabsetzung der psychischen Energie hindeuten, auf-
genommen sind) mag diesen Sachinhalt erläutern.
1 FB: auTserhalb der Unterhaltung.
FR: abends, aufserhalb der Unterhaltung.
2 FR: ohne Beschäftigung, langweilige Unterhaltung, aufser-
halb der Unterhaltung, müde.
FR: aufserhalb der Unterhaltung.
FR: bei oder nach dem Zubettegehen, ohne Beschäftigung,
müde.
FR: aufserhalb der Unterhaltung.
FR: abends.
FR: aufserhalb der Unterhaltung, müde, nach körperlicher
Anstrengung.
3 FR: abends, aufserhalb der Unterhaltung, nach wenig zu-
sammenhängenden Arbeiten.
FR: ohne Beschäftigung, präokkupiert.
FR: abends, langweilige Beschäftigung, deprimiert, nach
wenig zusammenhängenden Arbeiten.
FR: Dämmerzeit.
FR: Dämmerzeit, zuhörend.
FR:
FR: Dämmerzeit.
4 D: Dämmerzeit, ohne Beschäftigung, müde.
D: bei oder nach dem Zubettegehen, ohne Beschäftigung,
deprimiert.
FR: abends.
Weitere Daten Über Depersonalisation und „Fausse Beconnaissance^^. 13
5 FB: abends.
FB: abends, zuhörend.
6 D: müde.
D: aufserhalb der Unterhaltung, deprimiert.
D: müde, nach nichtinteressantem Studium.
D: zuhörend, präokkupiert, nach nichtinteressantem Studium.
7 FB: deprimiert, nach wenig zusammenhängenden Arbeiten.
8 D: nach wenig zusammenhängenden Arbeiten.
D: abends, Eintreten in Salon, zuhörend.
9 D: müde, nach körperlicher Anstrengung, nach nichtinter-
essantem Studium.
10 FB:
FB: bei oder nach dem Zubettegehen, müde.
11 FB: abends, langweiUge Unterhaltung, zuhörend.
jPJB: Dämmerzeit.
FB:
FB: zuhörend.
FB: ohne Beschäftigung, müde, deprimiert.
12 FB: präokkupiert.
13 FB: abends, langweilige Beschäftigung, müde, deprimiert,
nach nichtinteressantem Studium.
FB: Dämmerzeit, müde, deprimiert.
14 D: abends, zuhörend, deprimiert.
15 FB : abends, zuhörend, müde, nach wenig zusammenhängen-
den Arbeiten.
FB : langweüige Beschäftigung, müde, nach nichtinteressantem
Studium.
16 D: Dämmerzeit, nach wenig zusammenhängenden Arbeiten.
D: abends, zuhörend, nach wenig zusammenhängenden
Arbeiten.
FB: langweilige Unterhaltung, zuhörend, müde, nach nicht-
interessantem Studium.
17 FB: Dämmerzeit, langweilige Beschäftigung, müde, nach
wenig zusammenhängenden Arbeiten.
FB: bei oder nach dem Zubettegehen, müde, nach körper-
licher Anstrengung.
18 D: ohne Beschäftigung, deprimiert.
D: nach nichtinteressantem Studium.
14 Q. Heymam.
FB: ohne Beschäftigung, nach wenig zusammenhängenden
Arbeiten.
D: Dämmerzeit.
19 DFB: ohne Beschäftigung, zuhörend.
20 D: abends, zuhörend, deprimiert.
FB: nach körperlicher Anstrengung.
D: Dämmerzeit, langweilige Beschäftigung, müde, nach nicht-
interessantem Studium.
21 D: ohne Beschäftigung, nach nichtinteressantem Studium.
FB:
D: aufserhalb der Unterhaltung, präokkupiert.
D:
D:
22 D: abends, zuhörend, müde.
23 D: langweiUge Unterhaltung, zuhörend, präokkupiert, nach
wenig zusammenhängenden Arbeiten.
24 D: müde.
25 D: langweilige Unterhaltung, müde, nach Alkoholgebrauch.
jD: Dämmerzeit, Eintreten in Salon, präokkupiert.
jD: bei oder nach dem Zubettegehen, deprimiert.
D: abends, deprimiert.
D: müde, nach nichtinteressantem Studium.
26 FB: Dämmerzeit.
jD: aufserhalb der Unterhaltung, deprimiert.
FB: zuhörend, deprimiert, nach wenig zusammenhängenden
Arbeiten.
27 FB: müde.
28 FR: ohne Beschäftigung, zuhörend, nach wenig zusammen-
hängenden Arbeiten.
DFB: Dämmerzeit, langweihge Beschäftigung, nach wenig
zusammenhängenden Arbeiten.
FB: abends, zuhörend.
FB: nach wenig zusammenhängenden Arbeiten.
D: abends.
FB: nach wenig zusammenhängenden Arbeiten.
29 D:
D: ohne Beschäftigung.
30 FB: abends, ohne Beschäftigung, müde.
D: langweilige Beschäftigung, zuhörend.
FR: bei oder nach dem Zubettegehen, präokkupiert.
Weitere Daten über DepersonalUation und „Fattase Beconnaissance^*. 15
FR: Dämmerzeit, müde.
FR : Dämmerzeit, aufeerhalb der Unterhaltung, nach Alkohol-
gebrauch.
FR: abends, zuhörend, präokkupiert.
2): langweilige Beschäftigung, präokkupiert, nach wenig zu-
sammenhängenden Arbeiten.
DFR: Dämmerzeit.
FR : Dämmerzeit, deprimiert, nach körperlicher Anstrengung.
FB: abends, zuhörend.
FR: ohne Beschäftigung, müde, nach nichtinteressantem
Studium.
DFR : langweihge Unterhaltung, aufserhalb der Unterhaltung.
FR: ohne Beschäftigung, müde.
FR: Dämmerzeit, Eintreten in Salon.
31 FR: Dämmerzeit, präokkupiert, nach wenig zusammen-
hängenden Arbeiten.
Die tatsächlichen Ergebnisse meiner früheren Untersuchung
sind also in allen wesentlichen Punkten durch die jetzige be-
stätigt worden; und es darf nunmehr wohl als festgestellt be-
trachtet werden, dafs die Prädisposition zu jD- und FR-
Erscheinungen aufs engste mit derjenigen zum
Fremdfinden eines bekannten Wortes zusammen-
hängt; dafs alle diese Erscheinungen vorzugsweise
bei Personen mit geringer psychischer Stabilität
vorkommen; und dafs das Auftreten von D- und FR-
Erscheinungen durch Umstände,, welche eine zeit-
weilige Herabsetzung der psychischen Energie zu-
stande bringen, begünstigt wird. Wenn dem aber so
ist, so mufs ich auch meine früher vorgetragene Erklärung, nach
welcher die einschlägigen Erscheinungen auf das Wegfallen
oder Zurückweichen der die Bekanntheitsqualität
vermittelnden Assoziationen beruhen sollten (a. a. O.
S. 338 — 343), noch immer als diejenige betrachten, welche imter
allen vorliegenden den gegebenen Tatsachen am besten entspricht.
Zur weiteren Unterstützung dieser Hypothese mag noch auf zwei
bereits in meiner früheren Abhandlung erwähnte Punkte hin-
gewiesen werden. Ich hatte dort (S. 342—343) bemerkt, dafs
nach der aufgestellten Theorie „einmal eine gröfsere Frequenz,
von FR im Vergleiche mit D, sodann ein stärkeres Hervortreten
16
G. Heymans.
Tabelle XV.
(Absolute Zahlen.)
'4
^1
Antworten
Materia]
1904
FR D
von
FR
u. D
Nei»
»Material
^ u. D
Gesamt-
material
FR D 1%
4
mehr
7
3
2
10
6
23
17
9
25
weniger
1
6
1
5
5
2
5
5
gleichm&fsig
2
2
3
13
3
9
16
5
12
(sehr) ungleich
6
2
3
8
4
22
14
6
25
6
beschäftigt
6
3
4
17
5
19
23
8
23
zu nichts aufgelegt
3
1
1
3
2
12
6
3
13
7
regelmäfsig
3
4
3
13
4
13
16
8
16
unregelmäTsig
5
3
9
3
18
14
3
21
11
oft
2
1
2
1
2
18
3
3
20
selten
6
3
4
15
4
11
21
7
15
nie
1
1
6
1
1
7
2
1
Tabelle XVI.
(Prozentsahlen.)
Nummer
der Frage
Antworten
Materia]
190^
fr\ d
von
FR
u. D
Neu<
FR
mMi
D
eiterial
FR
(
I
FR
jesamt-
naterial
jy\ FR
4
mehr
100
75
100
67
86
11
11
82
83
weniger
25
33
14
23
23
18
17
5
gleichmafsig
25
50
50
62
43
29
52
45
32
(sehr) ungleich
75
50
50
38
57
71
48
55
68
€
beschäftigt
67
75
80
85
71
61
79
73
64
zu nichts aufgelegt
33
25
20
15
29
39
21
27
36
7
regelmäfsig
38
100
50
59
57
42
53
73
43
unregelmäfsig
63
50
41
43
58
47
27
57
11
oft
22
20
33
5
29
60
10
25
56
selten
67
60
67
68
57
37
68
58
42
nie
11
20
27
14
3
23
17
3
Weitere Daten über Depersonalisation und „Fatisse Beconnaissance". 17
der die Erscheinungen begünstigenden Temperamentseigenschaften
bei den mit D, als bei den mit FR behafteten Personen zu er-
warten wäre: beides, weil eben D nach der Theorie einen ex-
tremen Grenzfall darstellt, zu welchem sich FB in allen möglichen
Oraden annähern kann"; zugleich aber hinzugefügt, dafs das
damals vorliegende dürftige Material zwar die erstere, keineswegs
aber die zweite dieser Erwartungen bestätige. Das jetzt zu
Gebote stehende reichere Material bestätigt aber beide Er-
wartungen, wie in bezug auf die erstere aus den S. 4 mit-
geteilten Zahlen, und in bezug auf die zweite aus den in Tabb.
XV und XVI dargestellten Verhältnissen zu ersehen ist. Wie
aus diesen Tabellen hervorgeht, zeigen sämtliche Eigen-
schaften, welche wir im Vorhergehenden als korrelat zu dem
Auftreten der 2>- und jP!ß-Erscheinungen erkannt haben, mit
alleiniger Ausnahme der unregelmäfsigen Arbeitsweise, eine regel-
mäfsige Steigerung ihrer Frequenz, wenn wir von den mit FR
zn den mit Z>, und von diesen zu den mit FR und D behafteten
Personen übergehen. Ich betrachte diese Tatsache als eine nicht
unwesentHche Stütze für die wahrscheinliche Richtigkeit der von
mir aufgestellten Hypothese.
(Eingegangen am 26, Juni 1906.)
Zeitschrift für Psychologie 43.
18
Psychologische Prinzipienfragen.
n. Das Material der Fhanomenologie«
Von
H. COBNELIUS.
In meiner vorigen Abhandlung^ habe ich die Wege be-
zeichnet, welche die Psychologie einschlagen mufs, um zur Lösung-
der erkenntnistheoretischen Aufgabe zu gelangen. Im folgenden
soll zunächst das Material näher untersucht werden, welches,
dieser psychologischen Prinzipienwissenschaft — der „Phäno-
menologie" nach HussERLs Benennung — zu Gebote steht.
Dieses Material besteht in den unmittelbar gegebenen Tat-
sachen, die jedem von uns als die Vorkommnisse seines psychischen
Lebens bekannt sind. Dafs die geforderte Prinzipienwissenschaft
nur von diesen unmittelbar gegebenen Tatbeständen und nicht
von irgend welchen anderweitigen Voraussetzungen ausgehen
darf, ist zwar schon mehrfach betont worden; gegenüber dem
immer wieder hervortretenden Bestreben aber, Erkenntnistheorie
mit Hilfe anderer Voraussetzungen — speziell unter Voraus-
setzung des Ding- und Kausalbegriffes — zu begründen, mufs
auf diese Forderung nochmals ausdrücklich hingewiesen werden.
Wenn die Aufgabe der Erkenntnistheorie gelöst werden soll,
d. h. wenn einerseits die Aufklärung über die Tatbestände von
Wahrheit und Irrtum, andererseits — als Bedingung zur Er-
reichung dieses ersten Zieles — die Aufklärung über die Be-
deutung aller wissenschaftlichen Grundbegriffe geleistet werden
soll: so mufs es Tatbestände geben, deren Erkenntnis von der
geforderten Aufklärung selbst unabhängig gegeben ist. Von Tat-
beständen dieser Art mufs die Erkenntnistheorie ausgehen und.
1 Diese Zeitschrift 42, S. 401.
Psychologische Prinzipienfragen, 19
auf sie mufs sie zum Zwecke jener Aufklärung überall zurück-
gehen. Wo immer die Frage nach der Wahrheit entschieden
werden soll, mufs diese Entscheidung sich auf die Erkenntnis
von Tatbeständen der genannten Art gründen, wenn kein Zirkel
entstehen soll. Alle komplizierteren Erkenntnisphänomene müssen,
soweit sie endgültige Aufklärung erfahren sollen, auf eben jene
Tatbestände zurückgeführt werden ; d. h. wir müssen zusehen, ob
und wie weit dasjenige, was jene komplizierteren Phänomene
bedeuten, mit Tatbeständen der genannten Art identifiziert werden
kann oder aus ihnen sich zusammensetzt. Nur soweit solche
Zurückführung gelingt, kann die erkenntnistheoretische Aufgabe
endgültig gelöst werden.
Als Tatbestände der geforderten Art bieten sich uns nur
eben jene unmittelbar gegebenen Tatbestände unseres Erlebens
dar. Was uns so gegeben ist, wie die jetzt vorgefundene Farben-
erscheinung in unserem Gesichtsfelde, wie der jetzt gehörte Ton,
die jetzt erlebten Vorstellungen, das jetzt erlebte Gefühl — daran
können wir einerseits nicht zweifeln, nichts in Frage stellen oder
ändern, und das ist uns andererseits ohne Voraussetzung jener
Begriffe gegeben, mit deren Aufklärung es die Erkenntnistheorie
zu tun hat. In Tatbeständen dieser Art und nur in ihnen ist
jenes Ideal der Erkenntnis gegeben, welches auf den viel mifs-
brauchten Namen der „Evidenz" Anspruch hat.
So einfach die gegebene Bestimmung dieses Materiales der
psychologischen Prinzipienwissenschaft erscheint, so wenig ist
dieselbe vor Mifsverständnissen gesichert. Es ist vor allem not-
wendig, diese Mifsverständnisse abzuwehren,
A. Die Teilerlebnisse und das Gesamterlebnis.
Die eben gegebene Exemplifikation der unmittelbar gegebenen
Tatsachen, oder, wie ich dafür kurz sagen will, unserer „Erleb-
nisse" oder „Bewufstseinsinhalte", bedarf zunächst in einer Hin-
sicht einer Ergänzung. Die angeführten Beispiele könnten den
Anschein erwecken, als ob das phänomenologische Material aus
einer Mannigfaltigkeit einzelner, getrennter Erlebnisse bestünde.
Von Locke bis auf den heutigen Tag ist — zum Teil in un-
mittelbarer Anlehnung an HuME — in der psychologisch-erkenntnis-
theoretischen Literatur fast allgemein diese Ansicht zum Ausdruck
gebracht oder stillschweigend vorausgesetzt worden. Diese An-
2*
20 -H- Cornelius.
sieht aber setzt an Stelle der Tatsachen Abstraktionen und zwar
falsche Abstraktionen.
Tatsächlich sind uns nirgends getrennte, isolierte Erlebnisse
gegeben, sondern jedes unserer Erlebnisse ist uns nur als Teil
des einheitlichen Zusammenhanges gegeben, den wir als unseren
gesamten Bewafstseinsverlauf kennen. Die Tatsachen, die uns
in jedem Augenbhck von diesem Zusammenhang Kunde geben,
sind uns ebenso unmittelbar gegeben, wie die Tatsachen, die uns
als Eigenschaften jener Teile — der scheinbar isolierbaren Be-
wufstseinsinhalte — bekannt sind. Wie ich anderwärts gezeigt
habe, ist unsere Kenntnis eben dieser Eigenschaften der einzelneu
Inhalte überall durch jene ersteren Tatsachen mitbedingt. ^
Zu den Tatsachen, welche jenen Zusammenhang in jedem
Augenblick herstellen und von ihm Kunde gebep, gehören aufser
der in der vorigen Abhandlung bereits erwähnten symbolischen
Funktion des Gedächtnisses in erster Linie jene Eigenschaften
der Mehrheiten von Bewufstseinsinhalten, die von Ehbkkfbls als
,,Gestaltqualitäten'' bezeichnet worden sind. Ich habe die Be-
deutung dieser Tatsachen für die Erkenntnis des Zusammenhanges
der Bewufstseinsinhalte und für die — durch diesen Zusammen-
hang bedingte — Beurteilung dieser Inhalte an anderer Stelle^
ausführlich dargelegt. Hierauf zurückzukommen wird sich im
folgenden mehrfach Anlafs ergeben; für den Augenbhck genügt
es mir, zur Vermeidung naheliegender Miüsdeutungen auf den
Punkt hingewiesen zu haben, in welchem sich meine Auffassung
des unmittelbar Gegebenen als Ausgangspunkt und Grundlage
aller erkenntnistheoretischen Untersuchung von herkömmlichen
Auffassungen prinzipiell unterscheidet.
In jenem einheithehen Zusammenhang der Erlebnisse ist zu-
* S. meine Einleitung in die Philosophie S. 205 ff.
* Psychologie S. 202; Einl. in d. Philoe. S. 242 ff. Auch Lipps, der
früher [dUse ZeiUckrift 23, S. 385) die GeeUltqualit&ten bezeichnet hatte als
„Weisen der psychischen Besiehung swischen psychischen Vorgängen,
die als solche im BewuTstsein nicht gegeben sind", hat sich
nunmehr (Psycholog. Untersuchungen I, S. 11) su meiner Anwendung des
Wortes bekehrt Gegenüber der früheren Polemik Lipfs* gegen meine An-
wendung dieaes Begriffs — er hatte in dieser Anwendung eine ,,VerhOllang
der Tatsachen und Probleme" gesehen — ist mir diese Sinnesänderung
doppelt erfreulich. Dafs die Gestaltqualitäten, wie Lipps a. a. O. ausführt,
durch den Zusammenhang des Ich bedingt sind, habe ich bereits in meiner
Psychologie S. 119 konstatiert
FsyckologiBche Prinzipienfragen, 21
gleich der Tatbestand gegeben, den wir im vulgären Sprach-
gebrauch mit der „Einheit der Persönlichkeit" oder mit unserem
„Ich" meinen — soweit mit diesen Worten überhaupt Tatsachen
und nicht kausale Theorien zum Ausdruck gebracht werden
(„phänomenologisches Ich" nach Hussebl). Die Feststellung, dafs
die Zugehörigkeit der Inhalte zu diesem Ich und somit dieses
Ich selbst unmittelbar erlebt wird, ist zwar richtig, aber durchaus
keine erschöpfende oder erkenntnistheoretisch brauchbare Be-
schreibung. Eine solche Beschreibung mufs vielmehr die Tat-
sachen aufzeigen, in welchen uns in jedem Augenblick die Kennt-
nis dieses Ich gegeben ist. Erst die Analyse dieser Tatsachen
kann das Ich-Bewufstsein aufklären, d. h. an Stelle der Unklarheit,
die dem Begriff Ich im vulgären Sprachgebrauch anhaftet, wissen-
schaftliche Klarheit setzen.^
B. Die unmittelbar gegebenen Teilinhalte im Gegensatz zum
mittelbar Gegebenen.
Wenn wir von den einzelnen Teilerlebnissen sprechen, so
sehen wir scheinbar ab von den im vorigen bezeichneten Tat-
sachen, die den Zusammenhang des Bewufstseinsganzen überall
vermitteln und eben dadurch jedes einzelne Teilerlebnis beein-
flussen, oder genauer gesagt, mit jedem solchen Teilerlebnis und
von ihm untrennbar miterlebt werden. Dafs dieses Absehen
— eben wegen der genannten untrennbaren Verbindung — stets
nur ein scheinbares ist, wird später noch deutlicher hervortreten.
Der Begriff des einzelnen Erlebnisses oder Bewufstseins-
inhaltes — genauer gesprochen des Teilerlebnisses oder Teil-
inhaltes — scheint in diesem Zusammenhange im allgemeinen
identisch mit dem, was auch Husseel im Anschlufs an die üb-
hche Redeweise der modernen Psychologie unter diesem Namen
versteht.* Ehe ich den Punkt bezeichne, an welchem dennoch
^ Wenn Lipps (a. a. O. S. 8) von einer „nicht näher beschreib-
baren Zugehörigkeit des Inhaltes zu mir" spricht, so scheint mir dieser
Ausdruck den Verzicht auf die nähere Analyse und Beschreibung gerade
derjenigen Tatsachen anzudeuten, welche für die Erkenntnis des Bewufst-
seinszusammenhanges in jedem Augenblicke mafsgebend sind und in welchen
alles begrifflich allgemeine Erkennen seine Wurzel hat. Tatsächlich ist die
„Zugehörigkeit eines Inhaltes zu mir" sehr wohl näher beschreibbar.
« HüsSERL Bd. II, S. 326.
22 S. CorneliuB,
eine Differenz besteht, habe ich einige andere Unklarheiten ab-
zuwehren.
1. Mit Rücksicht auf die in der vorigen Abhandlung be-
schriebenen Tatsachen sind zum Material der psychologischen
Prinzipienwissenschaft nicht nur die jeweils gegenwärtigen Inhalte,
sondern auch die früheren Erlebnisse zu rechnen, deren wir uns
erinnern.^ Sind sie auch nicht unmittelbar, sondern eben durch
die symbolische Funktion des Gedächtnisses mittelbar gegeben,
so waren sie doch einst unmittelbar gegeben; sie sind uns als
Tatbestände derselben Art bekannt, wie die gegenwärtigen
Erlebnisse, und wir haben über ihr einstiges Dasein und ihre
Beschaffenheit eine ebenso sichere Kenntnis, wie wir sie von den
gegenwärtigen Erlebnissen besitzen. Obwohl also diese Inhalte
gegenwärtig nur noch zum mittelbar Gegebenen gehören,
haben sie doch für die erkenntnistheoretische Untersuchung die-
selbe Bedeutung, wie das gegenwärtig unmittelbar Gegebene.
Ich befasse sie im folgenden mit unter den Begriff des unmittel-
bar Gegebenen, indem ich diesen nicht auf die jeweilige Gegen-
wart einschränke. Aber auch nur eben das, was einst unmittel-
bares Erlebnis gewesen ist, und nichts, was anderweitig
mittelbar gegeben ist (bzw. war), gehört zum Material unserer
Untersuchung.
2. Vor allem also ist im Spezialfälle der Empfindungs-
erlebnisse zwar der Empfindungsinhalt, aber nicht der physische
Gegenstand erlebt oder unmittelbar gegeben, aufweichen wir
diese Empfindung zu deuten pflegen. Ich erlebe in einem be-
stimmten Augenblick einen gewissen Farbenkomplex in meinem
Gesichtsfeld und darin etwa ein mehr oder minder ausgedehntes
Stück Blau, das ich als die Farbe meines Heftumschlages erkenne.
Erlebt ist hier weder dieser Umschlag noch die „objektiv
existierende" Farbe des Umschlages, sondern nur das blaue Stück
der Erscheinung in meinem Gesichtsfeld ist das Erlebnis, das auf
jene anderen (objektiven) Tatbestände erst in weiteren, hinzu-
tretenden (intentionalen) Erlebnissen gedeutet wird.
Wiederum übereinstimmend mit Husserl trete ich hiermit
— wie früher — jener Auffassung entgegen, welche die Farben-
^ Übereinstimmend Hussbrl Bd. II, S. 335 : „Zu diesem Bereich
tritt . . . das, was die Erinnerung als früher uns evident gegenwärtig Ge-
wesenes . . . darstellt.**
Psycholoffkehe Prinzipiell fragen. 23
Empfindung und die Farbe des Gegenstandes vermengt und so
redet, als ob beides dasselbe, nur aus verschiedenen Gesichts-
punkten betrachtet wäre : „Psychologisch oder subjektiv betrachtet,
heifse es Empfindung, physisch oder objektiv betrachtet Be-
schaffenheit des äufseren Dinges." ^ Ich habe den Unterschied
zuerst in meiner Psychologie^ zum zweiten Mal (und wie ich
hoffe klarer) in meiner Einleitung in die Philosophie ' dargestellt.
Die Meinung Hüssbbls, dafs der Unterschied event. „in Grenz-
fällen auszugleichen" wäre*, meine ich durch die dort gegebenen
Ausführungen widerlegt zu haben: zwischen dem Einzel-
erlebnis und dem gesetzmäfsigen Zusammenhang unbeschränkt
vieler Erlebnisse gibt es keine fliefsenden Grenzen — so wenig
wie zwischen dem Realen und dem Idealen.
3. Ebensowenig wie der jeweilige Gegenstand selbst ist der
Begriff des Gegenstandes seinem Sinne nach etwas unmittelbar
Gegebenes. Dafs wir einen Gegenstand wahrzunehmen meinen
— die intentionale Beziehung auf den Gegenstand — und dafs
wir event. von diesem Gegenstand bestimmte Eigenschaften aus-
zusagen wissen, gehört allerdings zum deskriptiven Bestände des
Erlebnisses, welches wir als die „Wahrnehmung des Gegenstandes"
bezeichnen. Aber keineswegs gehört zu diesem deskriptiven Be-
stände das, was wir in diesem Falle wissen oder zu wissen
meinen. Auf diesen Punkt und das darin hervortretende Problem
werde ich an einer späteren Stelle ausführlich zurückkommen.*
4. Zum unmittelbar Gegebenen gehören femer auch nicht
die — wirklichen oder vermeintlichen — psychischen Tatbestände,
die aus den Erlebnissen erst erschlossen, bzw. den Erlebnissen
erst nachträglich substituiert werden und von denen man alsdann
so zu reden pflegt, als ob sie etwas tatsächlich Gegebenes wären.
Hierher gehört in erster Linie die falsche Objektivation
von Bewufstseinsinhalten — der „psychologische Objektivismus",
' HUS8BBL Bd. II, S. 327.
« S. 91 ff. u. 8. 236 ff.
» S. 257 ff.
♦ HuBSEBL Bd. II, S. 327.
' Entsprechend den Ausführungen meiner vorigen Abhandlung befinde
ich mich an diesem Punkte in ausdrücklichem Gegensatz zu HussiSBL,
der (Bd. II, S. 19,20) behauptet, dafs die Bedeutung jedes intentionalen Er-
lebnisses aus diesem gegenwärtigen (Teil)Erlebnis selbst vollkommen be-
stimmt werden kOnne.
24 B. Cornelius.
wie ihn Krüegeb^ in seiner Polemik gegen Lipps und Stumpf
genannt hat. Solche falsche Objektivation liegt überall vor, wo
ein Bewufstseinsinhalt als etwas Selbständiges, substantiell Be-
harrendes gedacht wird — oder wo wenigstens so von ihm ge-
redet wird, als ob er ein derartiges selbständiges und beharrendes
Gebilde und doch zugleich subjektives Erlebnis wäre.- Solche
objektiven psychischen Gebilde und alle Eigenschaften, die ihnen
beigelegt werden, sind nicht Erlebnisse und gehören daher nicht
zum Material der phänomenologischen Untersuchung. Diese
hat vielmehr zu zeigen, auf welche phänomeno-
logischen Tatsachen sich die Bildung jener Begriff e
gründet und in welchem Sinne demnach die Rede
von ihnen gerechtfertigt ist.*
Aber zu jenen nur erschlossenen und nicht unmittelbar er-
lebten Tatbeständen gehört auch noch einiges Weitere, was von
den meisten Psychologen skrupellos zu den Erlebnissen gerechnet
wird: gewisse Bestimmungen nämlich, die wir erst auf Grund
nachträglicher Überlegung unseren Erlebnissen zusprechen, ohne
sie im Moment des Erlebens wirkUch vorgefunden zu haben.
* Wundt 8 psychologische Studien 1, S. 316 ff. Vgl. auch die dort S. 317,
Fufsnote, zitierten Stellen.
■ Ich bekenne den Fehler solcher Objektivation früher — so nament-
lich in meiner Abhandlang über Verschmelzung und Analyse (V.-J.-Schr.
f. wissenschaftl. Philosophie 16 u. 17) — mehrfach begangen zu haben.
Ausdrücklich aber mufs ich bemerken, dafs der Begriff der unbemerkten
Teilinhalte nach der in meiner Psychologie (S. 135 u. 151) gegebenen Defi-
nition nicht zu dieser Art falscher Objektivation gerechnet werden darf,
da die „unbemerkten Teilinhalte" eben nicht als Bewufstseinsinhalte, sondern
als gesetzmäfsige Zusammenhänge solcher Inhalte definiert sind.
(Der Ausdruck erscheint mir heute allerdings nicht mehr zweckmäfsig.)
^ Auch HüssESL, der in den meisten Fällen den Fehler der genannten
Objektivation vermeidet, verfällt ihm doch gelegentlich. So, wenn er Bd. II,
S. 341 von der „Hinwendung des Merkens" auf einen Inhalt redet, oder
wenn er Bd. II, S. 360 davon spricht, dafs der Inhalt für mich „in anderer
Weise da ist, je nachdem ieh ihn nur . . . nebenbei bemerke oder ... es
besonders auf ihn abgesehen habe". Woher weifs Hüssbbl hier von ,,dem-
selben" Inhalt? Tatsächlich sind die verschiedenen angeführten Fälle eben
verschiedene Erlebnisse und „derselbe Inhalt" kommt nur durch
jene falsche Objektivation in dieselben hinein. Ähnliches scheint mir S. 370
vorzuliegen, wo ein intentionaler Charakter sich „einer Empfindung be-
mächtigen" soll; ebenso vielleicht auch S. 510: „wo immer wir einen Inhalt
einmal für sich und das andere Mal in Verknüpfung mit anderen betrachten^
— und mehrfach.
Psychologische Prinzipienfragen. 25
Wenn Hüssebl Bd. II, S. 326 konstatiert: „Mit diesen Erleb-
nissen . . . sind auch die sie komponierenden Teile und abstrakten
Momente erlebt . . . natürlich kommt es nicht darauf an, ob die
betreffenden Teile für sich irgendwie gegliedert . . . sind . . . oder
nicht" — so scheint auch er mir dieser Meinung zu verfallen.
Denn wenn ich den Sinn dieses Satzes richtig deute, so ist damit
u. a. behauptet, dafs beim Verlaufe irgend eines Erlebnisses oder
Elrlebniskomplexes von endlicher Zeitdauer alle die unbegrenzt
vielen sukzessiven Teile als Erlebnisse zu gelten haben, in welche
man jenen Verlauf nachträgüch zerlegt denken kann. Eine solche
Bestimmung des Erlebnisbegriffes aber ist sicherlich phänomeno-
logisch unrichtig.
Ich bezeichne hiermit den Punkt, an welchem mein Begriff
des unmittelbar Gegebenen von dem HussEKLschen Erlebnis-
begriff fundamental abweicht. Die folgenden Ausführungen
werden zeigen, in welchem Zusammenhang dieser Differenzpunkt
mit einer Reihe weiterer Meinungsverschiedenheiten zwischen
HussERL und mir sich befindet.
C. Erleben und Wissen yom Erlebnis.
Um Wiederholungen von früher Gesagtem zu vermeiden,
nehme ich im folgenden auf meine Abhandlung zur Theorie der
Abstraktion * Bezug. Ich habe daselbst * unterschieden zwischen
dem Gegebensein eines Inhaltes und der — in mehr oder
minder engen Grenzen vollzogenen — Beurteilung dieses In-
haltes („identifizierende" Beurteilung nach Hüssebl). Wie ich
dort gezeigt habe, ist das Gegebensein eines Teilinhaltes überall
identisch mit der primären Unterscheidung („Abhebung")
desselben von anderen Inhalten, indem mit diesen Worten nichts
anderes bezeichnet ist, als der Tatbestand, auf Grund dessen
überhaupt von einem bestimmten Erlebnis im Gegensatz zu
anderen Erlebnissen geredet werden kann: das Dasein eines
Erlebnisses in der Mehrheit unserer Erlebnisse schliefst diesen
Gegensatz zu anderen Erlebnissen in sich, fällt also insofern mit
jener Abhebung oder primären Unterscheidung zusammen. *
^ Diese Zeitschrift 24, S. 117 f.
« a. a. 0. S. 135—141.
• Manche Autoren pflegen sich so auszudrücken, als ob die Inhalte
«twas vären, was, auch ohne in einem Bewulstseinszusammenhang vor-
handen und unterschieden zu sein, doch für sich bestünde. Ich kann mit
26 S- Cornelius.
Die Teilinhalte, die in dieser Weise von anderen Inhalten unter-
schieden erlebt werden, sind uns unmittelbar gegeben; und nur
von den Teilinhalten, die uns in dieser Weise gegeben sind,
haben wir ein unmittelbares Wissen. Alles dagegen, was nicht
in dieser Weise von anderem unterschieden erlebt wird — wie
z. B. die vorhin erwähnten, im Zeitverlaufe nachträglich ge-
machten Einteilungen — , ist nicht unmittelbar gegeben, sondern
erst erschlossen, gehört also nicht zu dem Material, von welchem
die phänomenologische Untersuchung Gebrauch machen darf.
Von solchen erschlossenen Teilen als unbemerkten zu
reden, hat phänomenologisch keinen Sinn: Unbemerktes kann
phänomenologisch nicht gegeben, kann vielmehr stets nur er-
schlossen sein. Jede Aussage über Unbemerktes ist daher er-
kenntnistheoretisch erst dann zulässig, wenn diese Schlufsweise
phänomenologisch aufgeklärt ist, d. h. wenn die phänomeno-
logischen Tatsachen, bzw. die Zusammenhänge solcher Tatsachen
aufgezeigt sind, die mit dem Begriff des unbemerkten Daseins
bezeichnet sein sollen. Nur die tatsächlich unterschiedenen Teil-
inhalte sind phänomenologisch überhaupt vorhanden; als
solche sind sie stets auch „bemerkt" — eben weil „Unbemerktes"
nicht phänomenologisch gegeben sein kann. Das Wort „be-
merken" hat gemäfs den beschriebenen Tatsachen hier nur den
Sinn eines anderen Ausdruckes für das unterschieden Erleben,
was wiederum — gemäfs der Fufsnote a. v. S. — nur ein anderer
Ausdruck für das Dasein der unterschieden erlebten Teilinhalte
ist. Weil wir nur von den so unterschiedenen Teilinhalten ein
unmittelbares Wissen haben, darf nur dieses Unterschiedene,
nicht aber ein daraus erschlossenes Ununterschiedenes zu
dem Material gerechnet werden, welches der psychologischen
Prinzipienwissenschaft als Grundlage aller weiteren Aufklärung
zur Verfügung steht.
Diese „Unterscheidung" ist, wie ich a. a. 0. näher ausgeführt
habe, noch nicht mit irgend einer näheren Beurteilung des
einer derartigen Voraussetzung keinerlei Sinn yerbinden. Die unmittelbar
gegebenen Tatsachen sind uns nur eben als gegeben, d. h. als Teile eines
Bewufstseinsverlaufes bekannt. Demgemäfs können aber auch die Kategorien
der Einheit und Mehrheit auf sie nur Anwendung finden, insoweit sie eben
als Einheiten oder Mehrheiten gegeben, oder, was nur ein anderes Wort
für dieselbe Sache ist, soweit sie unterschieden gegeben oder „al>
gehoben** sind.
Psychologische Prinzipienfragen. 27
betreffenden Teilinhaltes — und vor allem nicht mit einer Be-
urteilung seines Unterschiedes von anderen, also einem Unter-
scheidungsurteil — identisch. Wenn sie aber auch noch kein
identifizierendes Urteil darstellt, so ist doch in ihr diejenige
Kenntnis, dasjenige Wissen von dem betreffenden Teilinhalt
gegeben, auf welches allein jede weitere Beurteilung sich
gründen kann. ^
Dieses Wissen vom unmittelbar Gegebenen besteht aber nun
nicht etwa noch in einem von dem gegebenen Inhalte selbst
phänomenologisch zu unterscheidenden Akte, in welchem und
durch welchen wir dieses Wissen erhielten. Wenn Husseel
im allgemeinen das Wissen als ein „intentionales" Erlebnis an-
sieht und im besonderen konstatiert, dafs das blofse Dasein eines
Erlebnisses noch kein Bemerken oder Wahrnehmen desselben
sei (Bd. II, S. 164 u. 544), so mufs er entweder mit jenem Wissen
und mit diesem Bemerken oder „Absehen" bereits ein iden-
tifizierendes Urteil meinen, oder aber es schwebt ihm eben
jener oben zurückgewiesene, phänomenologisch unklare und
illegitime Erlebnisbegriff vor, der auch Unbemerktes, d. h. Un-
unterschiedenes als Erlebnis bezeichnet.
Im ersteren Falle würde unsere Differenz nur eine termino-
logische sein, da ich auch schon das blofse Vorfinden ode^:
Unterscheiden ohne identifizierendes Urteil ein „Wissen" meine
nennen zu müssen. Ich mufs aber nach dem ganzen Zusammen-
hang der HüssERLschen Darlegungen vermuten, dafs Hüsserl
jedes Wissen, also auch bereits jenes primitive Bemerken
als intentionales Erlebnis betrachtet wissen will, dafs ich also
mit der zweiten Vermutung seine Meinung treffe, d. h. dafs
nach ihm jenes Bemerken oder Wahrnehmen eiaen besonderen
„Akt** fordert, der sich des Erlebnisses „bemächtigt".
Betrachten wir vorerst die Konsequenzen dieser Theorie
etwas näher. Nach ihr würde für jedes Erlebnis, damit wir
überhaupt ein Wissen von ihm hätten, damit es uns also ge-
geben wäre, ein zugehöriges intentionales Erlebnis gefordert
werden müssen, in welchem wir jenes Wissen hätten. Dieses
intentionale Erlebnis wäre dann seinerseits wiederum nicht un-
* Dafs die Unterscheidung im entwickelten Leben eine Beurteilung
innerhalb weiterer Grenzen stets in sich schliefst, wird sich im späteren
Verlaufe dieser Betrachtungen ergeben.
28 -ff. Cornelius.
mittelbar gegeben, sondern es wäre im Augenblick seines Daseins
überhaupt nicht gegeben, falls nicht gleichzeitig ein zweites
intentionales Erlebnis aufträte, in welchem das erstere von uns
wahrgenommen würde; von diesem zweiten intentionalen Er-
lebnis aber würde dann abermals ein gleiches gelten usw.
Man würde also z. B. von einer Empfindung a ein Wissen
nur dadurch erhalten, dafs ein intentionales Erlebnis A sich
dieser Empfindung „bemächtigte" ; eben dieses Erlebnis A müfste,
damit wir etwas von ihm wüfsten, abermals Gegenstand eines
weiteren intentionalen Erlebnisses B sein usf.
Diese Theorie braucht keineswegs zu einem unendlichen
Regrefs zu führen. Zwar würde sie erkenntnistheoretisch unzu-
lässig sein, wenn sie die Erlebnisse A, B usw. nicht als gegeben
in der psychischen Erfahrung aufzuzeigen vermöchte und dies
könnte sicherlich dann nicht gelingen, wenn die genannten Er-
lebnisse stets als gleichzeitig mit den von ihnen intendierten
Erlebnissen — also A, B usw. sämtlich gleichzeitig mit a —
vorausgesetzt werden müfsten. In diesem Falle wäre, wie man
sofort sieht, der unendliche Regrefs nicht zu vermeiden. Aber
die Theorie könnte nicht aus demselben Grunde abgewiesen
werden, wenn sie nur eben behaupten wollte, dafs die Erlebnisse
A, B usw. jeweils in zeitlicher Folge auftreten: dafs wir
also von a erst im folgenden AugenbUck durch A, von diesem
abermals erst im nächsten Augenblick durch B Kenntnis er-
hielten usw.
Beispiele, die eine solche Theorie für sich anführen könnten,
stehen in jedem Augenblick zu Gebote. Jede nähere Be-
urteilung eines gegebenen Inhaltes bedarf einer endlichen
Zeit, ist also erst durch die Erlebnisse der folgenden Momente
zu gewinnen. Die Beurteilung kann also tatsächlich nur mit
Bezug auf das in der Erinnerung repräsentierte, also intentional
gegebene Erlebnis stattfinden.
Allein wenn die fragliche Theorie hiemach anscheinend für
die Beurteilung unserer Erlebnisse — also für die Identifikation
der Merkmale dieser Erlebnisse — Geltung beanspruchen darf,
so ist sie darum doch noch nicht für das Wissen vomDasein
unserer Erlebnisse erwiesen. Dafs sie hierfür nicht gelten kann,
zeigt eine Tatsache deutlich: wenn wir von jedem Erlebnis erst
im folgenden Augenblick in Form eines intentionalen Erlebnisses
kenntnis erhielten, so würden uns auch unsere Empfindungs-
Psychologische Prinzipienfragen. 29
erlebnißse nur in Form der Erinnerung gegeben werden können :
wir würden also niemals die gegenwärtige Empfindung, sondern
stets nur ihr Gedächtnisbild kennen lernen, d. h. w^r würden
den Unterschied zwischen Impression und Idee und allgemein
den Unterschied zwischen Realem und Intentionalem niemals
erleben können. Tatsächlich aber erleben wir diesen Unterschied
fortwährend. Unsere Empfindungen zeigen uns in jedem Augen-
blick unzweideutig die Charakteristik, durch die sie sich von
blofsen Erinnerungen unterscheiden. Dabei zeigt mir wenigstens
.die Erinnerung nichts von einem intentionalen Erlebnisse,
.welches auf die Empfindung und deren Charakteristik gerichtet
gewesen wäre und mir so die Kenntnis derselben erst vermittelt
hätte. Das nachträgliche Wissen freilich ist nur in dem inten-
tionalen Erlebnis der Erinnerung gegeben; für das Gegebensein
im Augenblicke aber, für das unmittelbare Wissen von der
gegenwärtigen Empfindung ist ein solches intentionales Erlebnis
nicht zu finden.^
Nach all diesem mufs behauptet werden : es gibt ein Wissen
von unseren Erlebnissen nicht blofs in Form intentionaler Er-
lebnisse, sondern das reale Dasein der Erlebnisse — im einzigen
phänomenologisch möglichen Sinne dieses Wortes — ist bereits
ein Wissen von ihnen. Die entgegengesetzte HussEBLsche
Theorie macht dasjenige, was erkenntnistheoretisch das erste
sein mufs, nämlich das, wovon wir unmittelbar wissen, zum
zweiten ; das erste sind für sie zwei blofse Annahmen, von deren
Realität wir immittelbar nichts wissen : einerseits die an und für
sich unbemerkten Erlebnisse^ und andererseits das intentionale
Erlebnis des Wissens, das sich auf jene zunächst unbemerkten
Erlebnisse richtet und sie so zu bemerkten Erlebnissen macht.
Die HüSSERLsche Behauptung von der Intentionahtät alles
Bemerkens und Wissens scheint mir auf einem Mangel an
^ Die Tatsache^ dafs auch Husssbl den Empfindungsinhalten keinen
Akt des Empfindens und allgemein den erlebten Inhalten keinen Akt des
Erlebens gegenüberstellt, steht nur scheinbar im Einklang mit den Aus-
führungen des Textes. Denn diese HüssEBLSche Lehre kann nach dem
Znsammenhang mit den übrigen oben bezeichneten Stellen nur auf das
unbemerkte Dasein der erlebten Inhalte, bzw. Empfindungsinhalte, nicht
aber auf das Bemerken derselben gedeutet werden. Um dieses letztere
aber handelt es sich im Text.
• Vgl. z. B. HussERL Bd. II, S. 343: „. . . so vieles ... das „bewufst"
aber nicht bemerkt ist.*'
30 -ff- Cornelius.
Klarheit in der Bestimmung des Begriffes intentionaler Erlebnisse
zu beruhen. Ich suche im folgenden diesen Mangel und einige
damit zusammenhängende Unklarheiten zu bezeichnen und zu
heben.
D. Akt und intentionales Erlebnig»
1. Der Begriff des Aktes.
Ich habe den Begriff des Aktes aus meiner Darstellung der
Psychologie ausgeschlossen, weil mir die Anwendung dieses Be-
griffes, wie sie Bbentano eingeführt hatte, in sich widerspruchs-
voll scheint. Jeder hat freilich von vornherein das Recht, die
Erlebnisse zu benennen wie es ihm beliebt. Nur dürfen einer-
seits nicht in den Benennungen Unterschiede zum Ausdruck
kommen, die sich im Gegebenen tatsächlich nicht finden;
andererseits müssen die einmal eingeführten Bezeichnungen
konsequent festgehalten werden, d. h. es darf ihnen durch neue
Bezeichnungen nicht widersprochen werden. Hat man einmal
alle Erlebnisse als Bewufstseins in halte bezeichnet, so sind, wie
ich früher hervorgehoben habe^, notwendig auch alle Unter-
schiede der Erlebnisse als Unterschiede von Inhalten zu be-
zeichnen imd es kann dann weder die Rede davon sein, dafs
ein- und derselbe Inhalt in verschiedener Weise erlebt wird,
noch auch davon, dafs neben den Inhalten auch Akte des Be-
wufstseins erlebt würden. Die Einteilung der Erlebnisse in
Inhalte, die erlebt werden, und in Akte, in welchen diese Inhalte
erlebt werden, ist widersinnig. Dieser freilich trivialen, aber
gegenüber herkömmlichen Unklarheiten unentbehrlichen Argu-
mentation stimmt auch Hüssebl ausdrücklich zu. ^
Läfst sich sonach jener BRENTANOsche Sprachgebrauch nicht
aufrecht erhalten, so kann doch der Name Akt sehr wohl Ver-
wendung finden, wenn er nur eben in anderer, den Tatsachen
nicht widersprechender Weise definiert wird. Ich sehe hierfür
drei Möglichkeiten, die sämtlich dem ursprünglich von Brentano
vorausgesetzten Unterschied zwischen Erleben und Erlebtem in
gewisser Weise Rechnung tragen, ohne der eben bezeichneten
Inkonsequenz anheimzufallen. Von diesen drei MögUchkeiten
* Psychologie S. 15.
2 Hüssebl Bd. II, S. 362.
Psychologische Frinzipienfragen. 31
kommen jedoch phänomenologisch nur zwei in Betracht, weil die
noch übrig bleibende dritte MögUchkeit der kausalen Psychologie
angehört.
Diese letzte, phänomenologisch unbrauchbare Definition der
Akte ist diejenige, welche nicht Erlebnisse, sondern irgendwelche
hypothetischen, unbewufsten, den Erlebnissen „zugrunde liegen-
den" Vorgänge als Akte bezeichnet. Ich bin zwar nicht der
Meinimg, dafs der Psychologie durch die Annahme solcher un-
bewufsten Vorgänge als Grundlagen oder Ursachen der Bewufst-
seinserscheinungen Vorteile erwachsen werden; prinzipiell aber
will ich hier nicht gegen solche Hypothesen kämpfen. Nur aus
der Phänomenologie und aus jeder auf erkenntnistheoretische
Zwecke gerichteten Untersuchung müssen sie gemäfs den Be-
trachtungen meiner vorigen Abhandlung ausgeschlossen bleiben.
Von dieser ersten Möglichkeit braucht daher hier nicht weiter
die Rede zu sein.
Eine zweite Möglichkeit ist diejenige, von welcher Hüsserl
Gebrauch macht, indem er eine besondere Klasse von Erlebnissen,
also Bewufstseinsin halten, als Akte bezeichnet: diejenigen
nämlich, welche auch „intentionale" Erlebnisse genannt werden.
Will man das, worauf diese Erlebnisse sich intentional beziehen,
als die „Inhalte" jener Akte bezeichnen, so hat man damit aller-
dings eine Korrelation von Akt und Inhalt geschaffen, welche
niit der von Beentano beabsichtigten in vielen Punkten überein-
stimmt; nur hat man freilich den vorher angenommenen Sinn
des Wortes Inhalt (Inhalt als identisch mit Erlebnis) aufgegeben,
denn Inhalte in diesem früheren Sinne sind auch die Akte. Von
den Akten im Sinne intentionaler Erlebnisse wird sogleich weiter
zu reden sein.
Eine dritte MögUchkeit für die Anwendung des Wortes Akt
und zwar in einem Sinne, welcher der ursprünglichen Meinung
BßENTANOS vielleicht am nächsten kommt, ohne den phänomeno-
logischen Tatsachen zu widersprechen, will ich nur der Voll-
ständigkeit halber erwähnen. Wenn ich einen Ton höre, eine
Farbe sehe, so sind die Empfindungsinhalte Ton, Farbe, stets
nur Teilinhalte meiner Bewufstseinseinheit. Dafs sie sich als
Teile dieser Einheit abheben, löst sie nicht aus dieser Einheit
los: vielmehr sind sie eben durch ihre Zugehörigkeit zu dieser
Einheit als meine Inhalte charakterisiert. Aber eben weil sie
nur Teihnhalte sind, ist mein Gesamterlebnis in ihnen nicht
32 S. Cornelius,
ToUendet, sondern zu diesem Gesamterlebnis gehört anfser den
übrigen gegenwärtigen Teilinhalten auch die Beziehung, in
welcher jene ersteren Inhalte zu all meinen übrigen Erlebnissen
stehen und vermöge deren sie eben zu meinem Ich gehören.
Wenn man im Gegensatz zu jenen augenblickUch abgehobenen
Teilinhalten (Ton, Farbe) diese Beziehung zu den übrigen In-
halten als den Akt bezeichnet, in welchem die ersteren erlebt
werden, so würde, so viel ich sehe, gegen eine solche Bezeichnung
nichts einzuwenden sein und sie würde der sprachlichen Unter-
scheidung von Ton und Hören, Farbe und Sehen phänomeno-
logisch wohl so genau als mögUch entsprechen.
2. Der Begriff des intentionalen Erlebnisses.
Für die gegenwärtige Auseinandersetzung kommt nur der
•zweite Begriff des Aktes — Akt als identisch mit intentionalem
Eriebnis — in Betracht. Es ist zunächst zu fragen, ob die von
HüssERL gegebene Bestimmung dieser Art von Eriebnissen ge-
nügt. So viel ich sehe, kann diese Frage nicht bejaht werden.
Die Stellen bei Husserl, an welchen sich die deutlichsten An-
gaben über den Begriff des intentionalen Eriebnisses finden,
geben nur Exemplifikationen ohne bestimmte Umgrenzung. Im
Anschlufs an Brentano wird konstatiert^, dafs in der Wahr-
nehmung etwas wahrgenommen, in der Bildvorstellung etwas
bildlich vorgestellt, in der Aussage etwas ausgesagt wird usw.
Die hier überall hervortretende „Beziehung auf einen Gegenstand"
(nach Beientano „die Beziehung des Bewufstseins auf einen In-
halt") wird als intentionale Beziehung und die Tatsache solcher
Beziehung — die Intention oder der Aktcharakter — als das
WesentUche des intentionalen Erlebnisses festgehalten.^ Diese
Phänomene, welche „intentional einen Gegenstand in sich ent-
halten", werden hier als eine besondere Klasse definiert. Später
wird diese Eigenheit der Intention nochmals als „das sich in
der Weise der Meinung oder in irgend einer analogen Weise
auf ein Gegenständliches Beziehen" bestimmt'; zu diesen Be-
» HüssBRL Bd. II, S. 347.
» Wie weit Husserl dabei mit der Behauptung im Rechte bleibt, dafs
die Einheit der deskriptiven Gattung Intention spezifische Verschieden-
Leiten aufweist, so dafs es wesentlich verschiedene Arten der Intention
gibt, wird an einer späteren Stelle untersucht werden.
• a. a. O. S. 357.
PsychologUeht Frinzipienfragen. 33
Stimmungen kann als Ergänzung noch die Stelle^ zugezogen
werden, nach welcher die intentionalen Erlebnisse diejenigen sind^
die sich auf eine GegenständUchkeit intentional beziehen, „in den
bekannten und nur durch Beispiele zu verdeutlichenden BewuTst-
seinsweisen".
Nach dieser Berufung auf die Exemplifikationen müfste doch
wohl geschlossen werden, dafs wir in allen Fällen, die den obigen
BßENTANOschen Beispielen analog sind — in welchen wir ims
also sprachlich in analoger Weise auszudrücken veranlafst
finden — auch von intentionalen Erlebnissen geredet werden
müfste. Allein Husserl selbst folgt dieser Regel keineswegs in
allen Fällen: Für die Empfindung — etwa eines Tones — wird
kein Akt des Empfindens zugelassen-, obwohl doch auch hier
der Sprachgebrauch durchaus analog den obigen Beispielen ein
Hören dem gehörten Ton (im Sinne des Inhaltes, nicht eines
wahrgenommenen „Gegenstandes") entgegenstellt. Ebenso wird
allgemein dem Erlebnis kein Akt des Erlebens entgegengestellt:
^•Zwischen dem erlebten Inhalt und dem Erlebnis selbst ist kein
Unterschied."
So gewils man diesen beiden Positionen Husseels imd der
darin enthaltenen Ablehnung herkömmlicher Irrtümer zustimmen
mufs, weil sich phänomenologisch in den beiden genannten Fällen
eben kein Akt von dem erlebten Inhalt unterscheiden läfst, so
gewifs ist eben hiermit die gegebene Begriffsbestimmung des
intentionalen Erlebnisses als unzulänglich erwiesen.
Ist aber, wie diese Fälle zeigen, der Begriff des intentionalen
Erlebnisses nicht scharf genug bestimmt, so kann auch in anderen
Fällen nicht ohne weiteres entschieden werden, ob intentionale
Erlebnisse vorliegen, wo sie nach dem Anschein des sprachlichen
Ausdruckes zu vermuten wären. Insbesondere kann — und das
ist der Punkt auf den es mir hier ankommt — für das Be-
merken oder Wahrnehmen eines gegenwärtigen Bewufstseins-
inhaltes kein Akt statuiert werden, ehe die wesentliche Charak-
teristik dieses Begriffes bestimmt ist, die für die Entscheidung
über diese Frage in Betracht kommt.
So viel ich sehe, kann die vermifste Abgrenzung der in Rede
«tehenden Klasse von Erlebnissen nur auf eine Tatsache ge-
' Das. S. 424.
• HüsSEBL Bd. II, S. 371, Fufsnote.
Zeitschrift fdr Psychologie 43.
34 S. Cornelius.
gründet werden : auf das blofs intentionale Gegebensein
des Gegenstandes in den intentionalen Erlebnissen. Wenn
irgend eine Klasse von Erlebnissen statuiert werden soll, so
kann sich ihre Abgrenzung nur eben auf ein gemeinsames phäno-
menologisches Merkmal gründen, durch das sich die Erlebnisse
dieser Klasse von allen anderen Erlebnissen unterscheiden. Eben
jenes blofs intentionale Dasein des Gegenstandes in einer Reihe
von Erlebnissen ist nun erstlich ohne Zweifel ein höchst be-
deutsames Merkmal, durch welches diese Erlebnisse sich vor
allen anderen auszeichnen. Anderseits sind die Beispiele Bren-
tanos, auf welche Hüssebl sich bezieht, durchweg Beispiele
solchen blofs intentionalen Gegebenseins. Sowohl die Wahr-
nehmung im BsENTANOschen Sinne dieses Wortes, als auch die
bildliche Vorstellung, die Aussage, die Liebe, der Hafs, das Be-
gehren, beziehen sich auf Gegenstände, die nicht als reale
Bewufstseinsinhalte gegeben, sondern nur intentional gegeben
sind, — nur „symbolisch repräsentiert" sind, wie die Ausdrucks-
weise meiner Psychologie lauten würde. Auch nach manchen
Auseinandersetzungen Husserls (insbesondere denjenigen anr
Schlufs von Kapitel 5, § 11) möchte man schliefsen, dafs ihm
das genannte Charakteristikum das Wesentliche der intentionalen
Erlebnisse zu sein scheint.
Wenn aber eben dieses als das Charakteristische der inten-
tionalen Erlebnisse festgehalten werden soll — und ich meine,,
dafs wir in der vorliegenden Frage auf Grund der phänomeno-
logischen Tatsachen kein Recht haben, eine andere Art der
Klassenabgrenzung als diese zu vollziehen — so dürfen keine
„Grenzfälle" statuiert werden, in welchen das intentionale Erleb-
nis sich auf etwas bezieht, was tatsächlich nicht mehr intentional^
sondern real gegeben ist. Nicht als ob ein Gegenstand von
der Art, wie er in einem gegenwärtigen intentionalen Erlebnis,
gemeint ist, nicht auch gleichzeitig als realer Inhalt gegeben sein
könnte ; aber eben dieses letztere Gegebensein und alles, was sich
auf diesen Inhalt und nicht auf jenen Gegenstand bezieht^
ist alsdann kein intentionales Erlebnis mehr. Oder, in HussEBLa
Terminologie: mag neben dem Bemerken eines Inhaltes sich
allerlei weiteres vorfinden, was einen Inhalt eben dieser Art blofs
intentional enthält, so ist doch jenes Bemerken des realen Inhaltes
selbst nicht mehr ein intentionales Erlebnis, sondern das „Be-
merken" ist nur ein anderer sprachlicher Ausdruck für die ein^
Psychologische Frinzipiefifragen. 35
fache Tatsache des realen Daseins dieses Inhaltes als eines von
anderen verschiedenen.
In diesem Bemerken besteht das, was Husserl als das „Er-
füllungserlebnis" des adäquaten Wahmehmungsurteiles bezeichnet.
Diese „Erfüllung" dürfen wir hiemach nicht, wie es Hüssebl
tut, als einen Akt auffassen, sondern sie ist nichts anderes als
das Erleben des betreffenden Inhaltes; sie ist eben damit das
primäre Datum, von welchem die phänomenologische Unter-
suchung überall auszugehen hat.
HussEEL nähert sich dieser Auffassung gelegentlich ohne sie
doch klar auszusprechen. Wenn (S. 496/97) die Wahrnehmung
des Tintenfasses beschrieben wird als das „Haben" eines gewissen
„Belauf es" von Empfindungen . . . „durchgeistigt von einem ge-
wissen, ihnen objektiven Sinn verleihenden Aktcharakter der
Auffassung", so scheint er jenes „Haben" der Empfindungen
selbst nicht als Akt zu bezeichnen, sondern den Aktcharakter
erst der objektivierenden Auffassung zuzuerkennen. Dann wäre
entsprechend meinen obigen Ausführungen bei der „adäquaten
Wahrnehmung" des Empfindungserlebnisses selbst, bei welchem
ja jene objektivierende Auffassung sich nicht findet, von einem
Akt nicht die Rede. Aber die meisten der Äufserungen Husserls
entsprechen dieser Auffassung nicht, sondern fordern für das
Bemerken jedes Erlebnisses und für das darauf gegründete
Wissen von diesem Erlebnis einen Akt — entgegen den obigen
Auseinandersetzungen.
3. Der Begriff der Wahrnehmung.
Die Quelle der Unklarheiten, auf die ich im vorigen hin-
zuweisen versucht habe, scheint mir in der Anwendung des
Wortes „Wahrnehmung" zu liegen, welche Husserl von Brentano
übernommen hat. Nach Brentano ist das Wahrnehmen ein
„Fürwahmehmen" und setzt als solches stets einen Unterschied
voraus zwischen dem, was uns erscheint, und dem wofür wir
dieses Erscheinende nehmen oder worauf wir es deuten; so wie
in der Wahrnehmung eines Dinges die gegebene Erscheinung
des Dinges auf das wirkUche Ding gedeutet wird und insofern
„für wahr" d. h. für die Erscheinung eines wirklichen Dinges
„genommen" wird. Wahrnehmung in diesem Sinne ist also stets
ein intentionales Erlebnis oder involviert wenigstens ein solches
3*
36 -ff- Cornelius,
Erlebnis.* Dafs dieser Sprachgebrauch etymologisch falsch ist
— „wahrnehmen" wird irrtümlicherweise mit h geschrieben: es hat
mit dem Stamm „wahr" in „Wahrheit" nichts zu schaffen, sondern
kommt von dem Stamm „war" in „Warnung", „Warte" — mag
nur nebenbei bemerkt sein. Aber er ist auch zum mindesten
unzweckmäfsig und vor allem von der phänomenologischen
Grundlegung der Erkenntnistheorie nach dem Prinzip der Voraus-
setzungslosigkeit grundsätzlich auszuschliefsen, weil er eine Vor-
aussetzung involviert, die phänomenologisch nicht zu realisieren
ist : was phänomenologisch realisiert werden kann, sind stets nur
die Erscheinungen der Dinge und niemals die Dinge selbst,
deren vermeintliche Erkenntnis jene Redeweise im Anschlufs an
\nilgäre, erkenntnistheoretisch nicht geklärte Vorstellungen als
gegeben hinnimmt, während sie tatsächlich der erkenntnis-
theoretischen Aufklärung dringend bedürftig ist.
Durch die Anwendung jenes Sprachgebrauches auf die Fälle
der „adäquaten Wahrnehmung" aber wird in die Erlebnisse
etwas hineingedeutet, was phänomenologisch überhaupt nicht
besteht. Die adäquate Wahrnehmung — also z. B. das Bemerken
eines Empfindungsinhaltes als solchen — enthält nichts von
jenem Gegensatze: hier ist nicht irgend etwas „gemeint" und
nachträglich oder gleichzeitig entsprechend dieser Meinung vor-
gefunden, sondern es wird nur eben etwas — nämlich der be-
treffende Empfindungsinhalt — vorgefunden, ohne dafs von Er-
füllung einer Bedeutimg dabei die Rede ist. Hier von einem
„Erfüllungserlebnis" der adäquaten Wahrnehmung zu reden, ist
also eine durchaus nicht sachgemäfse Redeweise. Von einem
intentionalen Gegenstand ist ja bei jenem Bemerken nichts
zu finden, sondern nur von einem realen. Erst wenn zu dem
* Eben hierdurch wird „Wahrnehmung** zur „Interpretation", die
HüSSEBL als das Wesen der Wahrnehmung erklärt (H. Bd. II, S. 704/5).
Durch den weiteren Zusatz: „zur Wahrnehmung gehört, dafs etwas in ihr
erscheine; aber die Interpretation macht aus, was wir erscheinen nennen*'
wird ihm der Sprachgebrauch zu einer „Verirrung", der „Erscheinung"
identisch mit real gegebenem Inhalt setzt. Gemäfs den Ausführungen
des Textes mufs ich meinerseits diesen Sprachgebrauch ffir den einzigen
erkenntnistheoretisch brauchbaren halten. Dafs man im Zusammenhang
mit diesem Sprachgebrauch noch keineswegs die Dinge für „Komplexionen
von Empfindungen" ansehen mufs, durften meine früheren Publikationen
gezeigt haben. Vgl. die oben S. 23 zu B, 2 angemerkten Stellen.
Psychologische Frinzipienfragen. 37
blofsen Bemerken noch ein identifizierendes Urteil hinzu-
tritt, erhält jene Redeweise einen Sinn. Aber nicht von einem
solchen Urteil, sondern nur von dem Bemerken des realen In-
haltes als solchen war im vorigen die Rede. *
Dafs auch sonst jener BEENTANO-HussEELsche Sprachgebrauch
nicht eben sachgemäfs ist, zeigen noch andere Beispiele. Wer
gewohnt ist, nicht blofs auf die Gegenstände, sondern vor allem
auf die Erscheinungen und deren Unterschiede zu achten — wie
es im Gebiete des Gesichtssinnes jeder tut, der nach der Natur
zeichnet oder malt — wird sich durch die Redeweise Hüsserls
seltsam berührt finden, die bei der Wahrnehmung stets nur den
Gegenstand und nie die Erscheinung „wahrgenommen" sein
läfst. Wer insbesondere in der Erscheinung der gesehenen
Gegenstände überall auf die Schattierungsunterschiede zu achten
pflegt und sich bewufst ist, dafs das „Sehenlernen" im künst-
lerischen Sinne gerade auf das Beachten der Eigenschaften der
Erscheinung als solcher — im Gegensatze zum Gegenstande —
abzielt, dem mufs es direkt widersinnig erscheinen, wenn er statt
von der Farbe der Erscheinung vielmehr von derjenigen des
Gegenstandes als der „gesehenen" Farbe, oder gar von dem
„objektiv als gleichmäfsig gesehenen" Rot der roten Kugel ^
reden hört.
E. Der Begriff des Bewafstseins.
Wenn nach den durchgeführten Betrachtungen das un-
mittelbar Gegebene mit dem „adäquat Wahrgenommenen" im
HussEELschen Sinne zusammenfällt, so ergibt sich daraus, dafs
nur der zweite der von Husseel angeführten Begriffe des Be-
wufstseins*, nicht aber der erste derselben phänomenologisch
* Wie der Gegensatz von Intention und Erfüllung, so fällt auch der-
jenige von Vorstellung und Anerkennung (Urteil) im Sinne Brentanos beim
Bemerken eines Erlebnisses weg. Ein Erlebnis im phänomenologischen
Sinn kann als solches nur da sein und daher, was nach dem obigen für
die phänomenologische Betrachtung dasselbe heifst, bemerkt werden —
oder eben überhaupt nicht da sein. Ist das Erlebnis eine Vorstellung,
so ist eben diese Vorstellung da, und es hat keinen Sinn noch von einem
besonderen Anerkennen, geschweige von einem Verwerfen derselben zu
reden.
* HüSfiERL Bd. II, S. 327.
* HcssKRL Bd. II, S. 325.
38 ^' Cornelius.
haltbar ist. Denn in diesem ersten, dem „Bewufstsein als dem
gesamten phänomenologischen Bestände des geistigen Ich", setzt
HussEBL eben jenen Begriff des Erlebnisses voraus, der nicht
phänomenologisch gegeben, sondern nur erschlossen ist.^
Deutlich zeigt sich dies in Hüsserls eigenen Ausführungen
an der Stelle, an welcher er den Übergang vom zweiten — als
dem ursprünglicheren — zum ersten Bewufstseinsbegriffe be-
schreibt.
Als Erlebnis im Sinne des zweiten Bewufstseinsbegriffes ist
zunächst nur das adäquat Wahrgenommene gegeben*; hierzu
tritt — genau entsprechend dem oben unter B 1 Gesagten —
alles, was als früher erlebt in der Erinnerung gegeben ist. Diese
beiden Arten von Bestandteilen sind diejenigen, die nach den
obigen Auseinandersetzungen das phänomenologische Material
bilden, wenn man die Mifsdeutung vermeidet, welche sich oben
unter A näher bezeichnet findet. Hüsserl aber fügt, um von
hier aus den Übergang zu dem von ihm adoptierten „ersten"
Bewufstseinsbegriff zu bewerkstelligen, den genannten Bestand-
teilen noch dasjenige hinzu, was wir auf empirische
Gründe hin als koexistierend mit dem adäquat Wahr-
genommenen jedes Augenblicks annehmen dürfen.*
Dafs man auf diese Weise den von Hüsserl vorausgesetzten
Begriff des Erlebnisses gewinnen kann, der auch „unbemerkte"
Erlebnisse einschliefst,' ist freiUch richtig; aber eben so sicher
ist, dafs der so gewonnene Erlebnisbegriff phänomenologisch
imzulässig ist. Denn was nur auf empirische Gründe hin
angenommen ist, ist eben nicht phänomenologisch gegeben:
auf empirische Gründe hin Angenommenes hat nicht in der
Begründung der Erkenntnistheorie, sondern erst in der „er-
klärenden" Psychologie seine Stelle. Aber auch in der er-
klärenden Psychologie darf der so erweiterte Begriff des Erleb-
nisses erst dann Verwendung finden, wenn die empirische
^ Ich selbst habe früher — so besonders noch in meiner HabiL-Schrift
„Versuch einer Theorie der ExistentialurteUe*' 1894 — den Fehler begangen,
welchen ich in Hussebls Buch wiederfinde. Das Schlufswort der Vorrede
von HüssBBLS Buch darf ich demgemäfs auch als Motto für die Ausführungen
des Textes in Ansprucli nehmen.
« Das. S. 335.
» Das. S. 335 Z. 9f. v. u.
Psychologische Prinzipienfragen. 39
Begründung jener Annahme der unbemerkten Erlebnisse er-
kenntnistheoretisch geklärt, d. h. wenn die Legitimation für
jenen Begriff erbracht ist.
Eben diese Legitimation beizubringen war eine der prinzi-
piellen Aufgaben, die meine Psychologie sich stellte. Solange
diese Aufgabe nicht gelöst ist, erscheint der Begriff der im-
bemerkten Erlebnisse in der Psychologie als eines jener dog-
matischen Elemente, deren Elimination ich mir zum Ziele
gesetzt hatte.
(Eingegangen am 3. Juli 1906,)
40
(Ans dem psychologischen Institut der Universität Göttingen.)
Über subjektive Mitten verschiedener Farben auf
Grund ihres Kohärenzgrades.
Von
Siegfried Jacobsohn, (f )
InhaltsTerzeichnis. seite
Einleitung 41
I. Abschnitt Experimenteller Teil.
§ 1. Vorbemerkungen 42
§ 2. Unterschiedsgleichungen zwischen einer Farbe und ver-
schieden hellen Graunuancen 50
§ 3. Unterschiedsgleichungen zwischen einer Farbe und Grau
unter allmählich wachsendem Ersatz des Seitengraus durch
die Farbe 52
§ 4. Über das Verhalten der subjektiven Mitte bei einer in den
beiden Seitenfarben gleicbmäfsig vorgenommenen Steigerung
einer und derselben Komponente 58
§ 5. Unterschiedsgleichungen zwischen zwei Farben mit komple-
mentären Bestandteilen unter allmählich wachsendem Ersatz
der einen Farbe durch die andere 55
§ 6. Unterschiedsgleichungen, bei denen die subjektive Mitte nicht
ausschliefslich durch Mischung der Seitenfarben gefunden wird 58
§ 7. Ist eine Funktion von Intensität und Qualität, die sog. Ein-
dringlichkeit, allein für die Lage der subjektiven Mitte mafs-
gebend? 62
§ 8. Lassen sich aus experimentell bestimmten Mischungsgewichten
subjektive Mitten berechnen? 70
§ 9 Anhang über die Helligkeit der subjektiven Mitte in Beziehung
zu den Seitenhelligkeiten 78
IL Abschnitt. Erörterung psychologischer und physio-
logischer Faktoren, welche Einflufs auf die Urteile
haben.
Erstes Kapitel: § 10. Erörterung der Eindringlichkeitsbestimmungen 74
Zweites Kapitel: § 11. Erörterung der Helligkeitsbestimmungen . . 76
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 41
Seite
Drittes Kapitel: Erörterung der ünterschiedsgleichungen.
§ 12. Die Methode der Farbenbänder 79
§ 13. Die Methode der psychischen Rucke * 83
§ 14. Die Kohärenzmethode 84
§ 15. Die Eindringlichkeit 88
§ 16. Die Angleichung 91
§ 17. Die ästhetische Lust 94
§ 18. Die Faktoren, welche im Sinne der Beharrungstendenz, und
diejenigen, welche in entgegengesetzter Richtung wirken . 204
§ 19. Die Faktoren, welche die Gröfse der mittleren Variation be-
stimmen. — Das Gedächtnis 208
Anhang: Tabellen 216
Einleitung.
Die Untersuchungen, durch die man die subjektive Mitte
zwischen 2 Farben festzustellen suchte, wurden vornehmlich zur
Beantwortung der Frage angestellt, ob für die übermerkhchen
Empfindungsunterschiede der dem WEBERschen Gesetze analoge
Satz gelte, dafs gleich grofs erscheinenden Empfindungsdifferenzen
gleiche Verhältnisse der Reizintensitäten entsprechen. Demgemäfs
beschränkten sich diese Untersuchungen auf die schwarz-weifse
Empfindungsreihe.
Versuche über die Lage der subjektiven Mitte im Gebiete
der eigentlichen Farben vorzunehmen, mufste um so lohnender
erscheinen, als hier eine gröfsere Mannigfaltigkeit zur Verfügung
steht, welche es gestattet, die einzelnen Faktoren, durch die das
Urteil über die subjektive Mitte bestimmt wird, zu variieren und
mehr gesondert zu beobachten.
Damit liefs sich bei geeigneter Farbenwahl gleichzeitig die
Frage entscheiden, ob, wenn man die subjektive Mitte für die
Farben A und B einerseits und für die Farben B und C anderer-
seits bestimmt hat, man einfach rechnerisch aus diesen Mitten
die subjektive Mitte für A und C ableiten kann.
Wenn man zudem, wie ich es tat, als Urteilsmodus den
Kohärenzgrad wählte, so lieferte man einen Beitrag über den
Kohärenzgrad verschiedener Farben, der prinzipiell für die
Ästhetik von Interesse zu sein schien.
Die Wirkung eines figurenreichen Gemäldes wird mit da-
durch bestimmt, dafs sich die verschiedenen Gruppen des Tableaus
zu einem Ganzen vereinigen und sich doch je nach den Inten-
tionen des Künstlers mehr oder weniger scharf voneinander sondern.
42 Siegfried Jacobsohn, (f)
Diese „Einheit in der Vielheit" erreicht das Bildwerk äufserlich
— von der mehr inneren Vereinigung durch die Idee sehe ich
hier* ab — in nicht geringerem Mafse durch die Farbengebung
wie durch die Zeichnung, wenn auch beide Mittel einander zu
unterstützen vermögen. In den farblosen, photographisch her-
gestellten Kopien klafft daher z. B. manches der berühmten Ge-
mälde, in denen die Cinquecentisten die Himmelfahrt Maria dar-
stellten, in 3 unvereinigte Gruppen (den Engelchor, die Himmel-
fahrt, die Anbetenden) auseinander, während sich beim Original
infolge der künstlerischen Abtönung der Farben die Teile des
Kompositionsgerüstes nicht entfernt so scharf absondern. Es
schien mir deshalb im Hinblick darauf, dafs der Maler bestimmte
Grenzen der Farbenabstufung nicht aufser acht lassen darf, will
er verschiedene Gruppen zu einer engen Einheit vereinigen, und
sie andererseits überschreiten mufs, falls er eine Absonderung
der Teile bezweckt (wenn z. B. der Hintergrund sich absondern
soll, damit die Gruppen, denen der Künstler eine besondere
Wirkung zugedacht hat, eindringlich heraustreten), es schien mir
also, als hätte die Ästhetik zu ihrer experimentellen Grundlegung
ein Interesse daran, dafs der Kohärenzgrad verschiedener Farben
untersucht werde. Ob dabei Nennenswertes für sie zutage ge-
fördert wird, ist eine andere Frage, die ich nicht a priori ent-
scheiden wollte.
I. Abschnitt.
Experimenteller Teil.
§ 1. Vorbemerkungen.
Ich betrachte eine Unterschiedsgleichung zwischen 2 Farben
für hergestellt, wenn diejenige dritte Farbe, die sogenannte sub-
jektive Mitte, gefunden ist, welche sich gleich leicht mit den
beiden anderen — ich bezeichne sie im Hinblick auf meine Ver-
euchsanordnimg kurz als Seitenfarben — als Paar auffassen läfst.
Ob sich im Gebiete des Gesichtssinnes subjektive Mitten
aufserhalb der Schwarz- Weifs-Reihe finden lassen, war die erste
Frage.
Bei den Experimenten, soweit sie hier aufgeführt sind — die
zahlreichen für die Einübung oder ausschüefslich für die Selbst-
beobachtung bestimmten Versuchstage und die sonstigen Versuchs-
tage, an denen aus irgend welchen Gründen die festgesetzte
über sttbjektive Mitten verschied. Farben auf Oi'und ihres Kohärenzgrades. 43
Versuchszahl nicht erreicht wurde, werden im folgenden ebenso-
wenig mitgezählt, wie die Vorversuche jedes Versuchstages —
wurde von 9 Versuchspersonen die subjektive Mitte zwischen
verschiedenen Farben 1568 mal gefunden, nachdem durchschnitt-
lich wohl mindestens etwa 15 Urteile, d. h. im ganzen 23520
Urteile gefüllt waren. ^ Daraufhin erscheint die Behauptung be-
rechtigt, dafs sich subjektive Mitten auch aufserhalb der Schwarz-
Weifs-Reihe nach der Kohärenzmethode finden lassen. Über die
Fälle, in denen es nicht gelingt, sowie über den Grad der Ge-
nauigkeit, mit der es gelingt, wird später gesprochen werden.
Die Versuchsanordnung, die ich für die Mittenfindung
benutzte, war im wesentlichen die gleiche, die Fröbes in seinem
^Beitrag über die sogenannten Vergleichungen übermerklicher
Empfindungsunterschiede" ^ angewandt hat. Es sei mir daher
der Kürze halber gestattet, auf jene Arbeit zu verweisen und
nur in kurzer Rekapitulation der Hauptpunkte seiner Anordnung
meine Abweichungen von derselben anzugeben.
Die Versuche fanden im Dunkelzimmer statt.
Die etwa in der Höhe der Augen des Beobachters neben-
einander befindlichen, möglichst genau in derselben Vertikalebene
rotierenden 3 Scheiben besafsen von Mitte zu Mitte gemessen
einen gegenseitigen Abstand von 15,5 cm. Der Durchmesser der
Scheiben betrug bei den in den §§ 2 — 6 aufgeführten Versuchen
sowie bei denjenigen der in den §§ 7 und 8 genannten Versuche,
welche von Herrn Prof. Mülleb, M^^® Hoffmann und mir an-
gestellt wurden, 12 cm, bei den übrigen 11,5 cm. Die farbigen
Papiere lagen stets, auch auf dem MAHBEschen Rotationsapparat,
auf Weifs auf, wenn nach der darauf bezüglichen Untersuchung
die Möglichkeit, sie seien durchsichtig, nicht völlig ausgeschlossen
war; über die einzige Ausnahme s. S. 68.
Auf Symmetrie der Aufstellung wurde sorgfältig geachtet,
besonders auch bei etwaigen Falten des mittelgrauen Hinter-
grundtuches.
Der Beobachter safs ca. 2,40 m von den Scheiben entfernt.
* Die auch in dieser Arbeit niedergelegten Versuche zur Bestimmung
der Eindringlichkeit (s. § 7) und zum Messen der Helligkeit der bei den
Unterschiedsgleichungen gebrauchten Farben — zusammen, soweit sie in
dieser Arbeit verwendet wurden, 510 Versuche mit einer grofsen Zahl von
Urteilen — sind selbstverständlich hier nicht mit berücksichtigt.
* Zeitschrift für Psychologie und Physiologie 36, S. 356 ff.
44 Siegfried Jacobsohn, (f)
Über dem Tubus, durch den er blickte, befanden sich auf einem
Tische 2 Paare gewöhnlicher Gasglühlichtbrenner und ein Goliath-
brenner, die, wenn die Beleuchtungsprüfung kleine Ungleichheiten
erkennen liefs, ein wenig verschoben wurden, bis die Beleuchtung
aller 3 Scheiben dieselbe zu sein schien.
Die Kreisel, sowohl die beiden mit Elektromotoren aus-
gestatteten Seitenkreisel wie der durch einen separaten Motor
getriebene MAUBEsche Rotationsapparat, wurden durch Strom-
sehlufs mittels elektrischer Taster in Bewegung gesetzt; dann
wurde der vor der GucköflEnung befindliche Rollvorhang ge-
hoben; nach Beendigung jedes Versuches wurde derselbe stets
sofort wieder herabgelassen, so dafs die Versuchspersonen niemals
die Sektoren, für die sie ihr Urteil abgegeben hatten, zu sehen
bekamen.
Verändert wurde im Laufe jedes Versuches das Sektoren-
verhältnis auf dem mittleren der 3 Kreisel, dem MABBEschen
Rotationsapparat. Während der Versuche hielt der Versuchs-
leiter die Kurbel desselben hinter dem Hintergrundtuche mit der
Hand fest in der Weise, dafs seine Hand und die Umdrehungen,
die er vornahm, von der Versuchsperson nicht gesehen wurden,
wohl aber neben dem linken Seitenkreisel der stets gleiche
schwarze Ärmel des Versuchsleiters.* Dies war das einzige Un-
symmetrische der Anordnung, das übrigens natürlich durch den
Wechsel der Raumlage der Scheiben möglichst unschädlich ge-
macht wurde. Der Versuchsleiter Uefs die Kurbel erst los, wenn
der Apparat nach Ausschalten des Stroms stül stand.
Die Ablesungen wurden nur an der Kreisskala des MABBE-
schen Rotationsapparates vorgenommen. Die genaue Einstellung
derselben wurde, da sowohl eine Veränderung der Zimmer-
temperatur wie eine Veränderung im Torsionsgrade der Sehne
des Rotationsapparates auf die Länge der Sehne und damit auf
die Einstellung des Zeigers über der Kreisskala von Einflufs ist,
an jedem Tage vor Beginn der eigentlichen Versuche kontrolliert,
nachdem der Apparat erst so lange in Bewegung gesetzt war,
bis seine Sehne ihr Torsionsmaximum erreicht hatte, so dafs
sich die Einstellung des Zeigers auf der Skala nicht mehr durch
' Nur wenn ich selbst Versuchsperson war, konnte ich nicht verlangen,
dafs mein Versuchsleiter stets den gleichen Rock bei den Versuchen trug,
obwohl sonst im allgemeinen auch bei mir die gleichen Vorsichtsmafsregeln
angewendet wurden.
über atibjekHve Mitten verschied. Farben auf Ch'und ihres Kohärenzgrades. 45
Zunahme der Sehnentorsion im Laufe der Sitzung verschieben
konnte.^
Nach jedem Doppelversuche, d. h. je einem Versuche auf-
und einem absteigender Art, wurde die Raumlage durch Ver-
tauschen der Scheiben auf den Seitenkreiseln gewechselt.
An jedem Versuchstage, ausgenommen bei Herrn Professor
Müller, der keine Vorversuche und an jedem Versuchstage nur
4 zählende Doppelversuche vornahm, wurden 8 Doppelversuche
angestellt, von denen die ersten beiden Doppelversuche zwar
protokolhert, aber nicht gerechnet wurden. Die gleichen Versuche
wurden an einem anderen Tage wiederholt, so dafs aufser den
Vorversuchen 12 Doppelversuche zwischen den beiden Farben,
deren Kohärenzmitte zu bestimmen war, angestellt wurden, und
zwar in regelmäfsiger Abwechslung der 4 Hauptfälle, die durch
die doppelte Raumlage und die Möglichkeit sowohl mit dem ab-
steigenden wie mit dem aufsteigenden Verfahren zu beginnen,
gegeben waren.
Die Entscheidung, mit welcher Raumlage, und ob mit auf-
oder absteigendem Verfahren begonnen werden solle, wurde am
ersten der beiden Versuchstage jeder Farbenzusammenstellung
durch das Los gefällt. Am 2. Versuchstage derselben Farbeii-
zusammenstellung wurde mit derselben Raumlage in umgekehrtem
Verfahren begonnen. Ausgangspunkt und Stufengröfse des auf-
und absteigenden Verfahrens wechselten willkürlich. Die Urteils-
richtimg war frei. Die Verschiedenheiten der einzelnen Beob-
achter, die sich daraus ergeben, werde ich später besprechen.
Die Urteilsausdrücke waren die üblichen : „gröfser", „kleiner",
„viel gröfser", „viel kleiner", „unentschieden" und „gleich". Da
davon die ersten vier den Beobachter verleiten könnten nach
Farbenunterschieden statt nach Kohärenz zu urteilen, so ist es
besser an Stelle von „gröfser" und „kleiner" die Ausdrücke
„schwerer" und „leichter" (sc. zusammenfafsbar) zu verwenden.
^ Bei starkem Gebrauch scheuert sich die Sehne des MABBEscheii
Rotationsapparates an ihrem Befestigungsknoten häufig durch, auch wenn
derselbe geölt ist. Es empfiehlt sich deshalb, sie an einem Haken zu be-
festigen, der in starrer Verbindung mit einer kleinen Metallkugel steht, so
dafs sich bei der Rotation statt des Knotens der Sehne die (gut geölte)
Metallkugel reibt.
Bei den Seitenkreiseln nutzen sich die Kontakte rasch ab; aus Neu-
silber sind sie haltbarer als aus Kupfer.
46 ' Siegfried Jacobsohn, (f)
Es ist dies jedoch erst bei den Versuchspersonen K. K. und S. J.
und bei denjenigen Versuchen von Ka. geschehen, welche in
§ 5 aufgeführt werden. Um zu vermeiden, dafs sich die Ver-
suchsperson durch Worturteile in der Weise beeinflussen läfst,
dafs sie sich z. B. sagt, die eine der 3 Scheiben ist rot, die
andere auch , die dritte aber . grün , also ist der Unterschied
zwischen der roten und der grünen am gröfsten, ist es zweck-
mäfsig, bei Erläuterung der Ausdrücke „gröfser", „kleiner" usw.
das Wort „Mitte", das auf Farbenunterschiede deuten könnte,
der Versuchsperson gegenüber zu vermeiden.
Den eigentlichen Versuchen wurden im allgemeinen mehrere
Versuchstage vorausgeschickt, bis genügende Übung im kollek-
tiven Auffassen erreicht und die Sicherheit gegeben schien, dafe
nur nach Kohäxenz geurteilt werde.
Um den Einflufs der Übung, soweit es anging, zu berück-
sichtigen, war, wenn nichts anderes bemerkt, die Reihenfolge der
Versuche im allgemeinen 123321, wenn man mit 123 drei Ver-
suchstage bezeichnet, an denen die Kohärenzmitte von 3 ver-
schiedenen Farbenpaaren bestimmt wiu-de. Bei sehr langen Reihen
scheinen mir die weiteren Übungsfortschritte leider wohl mehr
als ausgeglichen zu seia teils durch Ermattung am Semesterschlufs,
teils dur(4i das Nachlassen des Interesses.
Die Tageszeit, zu der die Versuche angestellt wurden, war
bei den Versuchspersonen verschieden, für jede Versuchsperson
jedoch wurde die gleiche Zeit festzuhalten gesucht, allerdings
nicht streng. Um Eonstanz des Adaptationszustandes schon bei
den Vorversuchen jedes Tages in ausreichendem Grade zu er-
halten, safs der Beobachter etwa 5 Minuten auf seinem Platze
im Dunkelzimmer, bevor mit den Experimenten begonnen wurde.
Was nun die Wahl der farbigen Papiere betrifft, die
bei dieser Untersuchung verwendet werden sollten, so war es
nicht nur schwer, sondern für mich mitunter sogar unmöglich,
aus den im Handel befindlichen Papieren stets solche heraus-
zufinden, die meinen Versuchsabsichten entsprachen. Ich dachte
deshalb daran, auf Karton aufgezogene Stoffe zu verwenden, von
denen die Sammetfabrikation eine besonders reiche Auswahl
schöner gesättigter Nuancen bietet. Doch auch davon nicht be-
friedigt, suchte ich nach einer Methode, mir, wenn ich im Handel
keine geeigneten Papiere fände, dieselben in Nuancen, wie die
über subjektive Mitten verschied, Farben auf C^rund ihres Kohärenzgrades. 47
wechselnden Versuchszwecke sie gerade erforderten, selbst her-
zustellen.
Viel Herumprobieren war nötig, um ein zweckmäfsiges Ver-
fahren und geeignete Farben zu finden. Schliefslich bewährten
sich von den Farben, mit denen ich experimentierte, die sog.
KKELiTzschen Beizen für Brandmalerei am besten. Durch Mischung
verschiedener dieser flüssigen Lösungen stellt man den gewünschten
Ton her und trägt ihn mit Wasser verdünnt auf Papier auf. Bei
gröfseren Flächen, wie ich sie brauchte, um mehrere Scheiben
aus demselben Papier zu schneiden, erfordert das Auftragen nicht
geringe Übung, damit die Flächen gleichmäfsig ausfallen. Ich
feuchtete dazu grofse rechteckige Bogen weifsen Papiers unter
sorgfältiger Vermeidung von Kniffen gleichmäfsig auf beiden
Seiten mit Wasser an, preiste sie dann fest auf eine saubere
Glasplatte und überstrich sie schnell und gleichmäfsig mit einem
in Farblösung getauchten, ziemhch trocken gehaltenen Watte-
bausch, indem ich denselben parallel einer Kante entlang führte.
Verschiedene Sättigung und Helligkeit kann innerhalb gewisser
Grenzen dadurch erreicht werden, dafs man, nachdem die Farbe
ein wenig eingetrocknet ist, doch vor dem völligen Trocknen des
Bogens noch mehrere Male den Anstrich wiederholt.
Dafs jeder Bogen, bevor man ihn in Gebrauch nimmt, in
seinen einzelnen Teilen sorgfältig verglichen werden mufs, ver-
steht sich von selbst. Auch noch nach längerer Übung zeigt ein
Teil der auf diese Weise hergestellten Bogen, falls dieselben grofs
sind, kleine Verschiedenheiten des Tons und mufs daher ausge-
schieden werden. Bei den übrigen genügt es meist, einen schmalen
Band abzuschneiden, um ganz gleichmäfsige Flächen zu erhalten.
Pinselstriche, die bei Lehmanns grauem Hintergrundpapier ^ nicht
schadeten, dürfen bei unserem Zweck auch in der Nähe nicht
sichtbar sein.
Die Helligkeit der farbigen Papiere zu kennen, war er-
wünscht. Sie mufste, da nicht anzunehmen war, dafs sie für alle
Versuchspersonen die gleiche sei, unter denselben Beleuchtungs-
bedingungen, unter denen die Unterschiedsgleichungen hergestellt
wurden, für jede Versuchsperson bestimmt werden.
Nicht jede Methode gestattet es, aus einer Entfernung von
2,40 m (so weit safsen die Versuchspersonen bei den Unterschieds-
Wundts Fhilos. Studien 3, S. 517.
48 Siegfried Jaeobsohn. (f)
gleicbuDgen von den Scheiben entfernt) die Helligkeit zu messen.
Ich entschied mich für das von Bbückneb^ angewandte Ver-
fahren. Bei demselben schiebt man durch einen Schlitz, der in
die bezüglich ihrer Helligkeit zu messende farbige Scheibe ge-
schnitten ist, einige Grade eines mit der übrigen Scheibe kon-
zentrischen Ringes von grauem Papiere, des sog. Ringsektors;
läfst man dann den Kreisel rotieren, so erscheint in der sonst
homogenen Scheibe ein Ring von etwas geringerer Sättigung als
die übrige Scheibe, der, je nachdem das graue Papier dunkler
oder heller als das farbige ist, dunkler oder heller als der übrige
Teil der Scheibe aussieht. Steckt man statt eines grauen Papieres
durch den Schlitz solcher zwei, von denen das eine dunkler, das
andere heller als die farbige Scheibe ist, so kann man die beiden
Graunuancen so lange gegeneinander verschieben, bis der Ring
die gleiche Helligkeit wie die übrige Scheibe besitzt.
Nach dieser Methode, auf die ich auf S. 76 ff. zurückkommen
werde, wurden anfänglich auf den Seitenkreiseln (für jede Ver-
suchsperson auf beiden), später jedoch auf dem MAEBEschen
Rotationsapparat, da bei ihm genauere Einstellungen möglich sind
und das Berühren der empfindlichen Papiere mit den Fingern
unterbleibt, die Helligkeitsbestimmungen vorgenommen.
Es betrug der äufsere Radius der Ringsektoren bei den
Versuchen mit Scheiben von 11,5 cm Durchmesser 35 mm, da-
gegen bei der Verwendung von Scheiben mit 12 cm Durchmesser
42 mm. Der innere Radius der Ringsektoren betrug 15 mm
weniger als der äufsere, also 20 bzw. 27 mm. Bei der Versuchs-
person M"® Hoffmann, die stark kurzsichtig ist, mufsten Ringe
von 45 mm äufserem und 22 mm innerem Radius verwendet
werden. Selbstverständlich lag, um das farbige Papier stets in
allen seinen Teilen auf derselben Unterlage zu haben, weifses
Papier zwischen den farbigen und grauen Papieren.
Die Ablesungen geschahen ursprünglich mit blofsem Auge,
später mit Hilfe einer Lupe an einem jedesmal über den Knopf
des Kreisels geschobenen Transporteur. Infolge der beträchtlichen
Entfernung der Versuchspersonen von den Scheiben und der
meist wohl geringeren Sättigung meiner Papiere waren die Ring-
sektoren, die ich verwenden mufste, beträchtlich gröfser als die
Bbücknebs. Ihre Gesamtgröfse ging nur ausnahmsweise unter
> Pflüg er 8 Archiv Ö8, 1903.
über aubjektive Mitten verschied. Farben auf Chnmd ihres Kohärenzgrades. 49
45® herunter, stieg aber mitunter über 100 ^ während sie bei
Brückneb 8 — 15® betrug.
Die Zahl der endgültigen Bestimmungen war ursprünglich
auf 8 Einzel versuche , nämlich 2 Doppel versuche auf jedem
Seitenkreisel, festgesetzt. Später bei den auf dem ^Marbe" an-
gestellten Messungen wurde ihre Zahl auf 4—8 Doppelbestimmungen
für jede Farbe erhöht; nur bei Herrn Professor Müller wurde
ausnahmsweise auf nur 3 zählende Doppelbestimmungen für jede
Farbe heruntergegangen.
In einer Sitzung wurde durchschnittiich die Helligkeit zweier
Farben bestimmt.
Bei den einübenden Versuchen erwies es sich als zweck-
mäfsig, über den Punkt, an dem der Ring die gleiche Helligkeit
mit der übrigen Scheibe zu haben schien, hinaus zu gehen, also
vom deutlich zu hell zum deuthch zu dunkel und umgekehrt
fortzuschreiten. Dadurch gewann die Versuchsperson ihrer
eigenen Aussage wie den objektiv erhaltenen Zahlen zufolge
mehr Sicherheit im Urteilen. Die Zahl der zum Teil nicht
protokollierten Übungsversuche richtete sich nach der Schwierig-
keit, welche die Vergleichung der Helligkeit der Versuchsperson
bereitete.
Die Helligkeit der Graunuancen — die grauen Papiere waren
völlig undurchsichtig — ist im Dunkelzimmer in der üblichen
Weise vor der Dunkeltonne unter Versuchsbedingungen, die, ab-
gesehen von der Aufstellung der Dunkeltonne, wesentlich gleich
mit denen der übrigen Versuche waren, von mir aus 4 — 5 Doppel-
versuchen bestimmt und in äquivalenten Graden meines Normal-
weifs ausgedrückt worden. Die Einstellungen und Protokollie-
rungen nahm dabei teils Herr Dr. Rupp vor, teils derjenige Herr,
der, wenn ich Versuchsperson war, gewöhnhch die Versuche
leitete, und von dessen Zuverlässigkeit ich mich wiederholt über-
zeugt habe.
Als Versuchspersonen fungierten in dieser Arbeit
Herr Professor G. E. Müller (M.)
M"e HOFFMAKN (H.)
Herr cand. med. Aronstamm (A.)
„ Dr. Conrad (C.)
„ cand. phil. Jacobs (Ja.)
„ Dr. Katz (Ka.)
Zeitschrift fBr Psychologie 43. 4
50 Siegfried Jacobsohn, (f)
Herr cand. phil. K. Küchleä (K. K.)
„ cand. med. Scholl (Sch.)
und schliefslich ich selbst (S. J.).
Dazu kam noch an einigen Tagen Herr Dr. Rcpp bei Versuchen^
bei denen es allein auf Selbstbeobachtung, nicht auf Gewinnung
von Zahlenmaterial ankam.
Bei allen Versuchspersonen aufser mir selbst war ich Ver-
suchsleiter.
§ 2. Unterschiedsgleichungen zwischen einerFarbe
und verschieden hellen Graunuancen.
Theoretisch der einfachste, sich an die Versuche im Gebiete
der Schwarz- Weifs-Reihe am meisten anlehnende Fall schien der
zu sein, die subjektive Mitte (s. M.) zwischen einem Grau und
einer Farbe durch Mischung des betreffenden Grau und der
Farbe herzustellen.
In der Absicht, auf diese Weise die Mitte zwischen der-
selben Farbe und verschieden hellen grauen Tönen zu finden^
achtete ich darauf, eine möglichst reine Farbe zu erhalten»
damit sich nicht infolge des Einflusses, den Weifszusatz auf die-
Qualität der Mischfarben ausübt, die Beschaffenheit der Farbe
bei Mischung mit hellerem Grau verschöbe. Ich stellte deshalb
in der in § 1 angegebenen Weise ein Karmin her, welches bei
Tagesbeleuchtung blaurot, in der rötlich gelben Dunkelzimmer-
beleuchtung fast rein rot (mit einem schwachen Stich ins Gelb-
liche) erschien.
Die Helligkeit des Karmin betrug
für Herrn Professor Müller (M.) 132^7 Weifs,
„ M"« Hoffmann (H.) 139^8 Weifs,
„ mich (S. J.) 150«,0 Weifs.
Wurde nun auf einem der beiden Seitenkreisel eine sich
über sämtliche 360*^ erstreckende Scheibe dieses Karmin an-
gebracht und auf dem anderen Seitenkreisel eine sich gleichfalls
über alle 360® erstreckende Scheibe des Grau Nr. 19, dessen
HelHgkeit gleich 50^,5 Weifs war, so ergab sich für die durch
Mischung dieses Grau und des Karmin auf dem mittleren
über subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 51
Kreisel hergestellte s. M., dafs sie für M. bei 112^0, für H. bei
90^3 und für 8. J. bei 92^3 Karmin lag.*
Nahm man dann sowohl auf dem Seitenkreisel wie auf dem
MABBEschen Rotationsapparat an Stelle des Grau Nr. 19 das
hellere Grau t, welches die Helligkeit von 15P,5 Weifs besafs,
und liefs die s. M. zwischen einer Vollscheibe desselben und
einer Vollscheibe des Karmin finden, so lag die s. M. für M. bei
1970,2, für H. bei 156^0 und für S. J. bei 125^4 Karmin,
Als schliefslich für M. und S. J. als Grau das noch hellere
Grau Nr. 4, dessen Helligkeit gleich 244^,4 Weifs war, ge-
nommen wurde, benötigte M. zur s. M. 230<*,3 und S. J. 19P,1
Karmin.
Daraus ergibt sich trotz der grofsen individuellen Ver-
schiedenheiten mit Deutlichkeit, dafs zurs. M. um so mehr
von der Farbe gebraucht wird, je heller das Grau
ist, für das die s. M. mit der Farbe gesucht wird.
Ob man den Grund dieser Erscheinung in der Intensität oder
in der Qualität der Mitte oder in beiden zu suchen habe, werden
wir später zu erörtern versuchen. Hier sei nur darauf hinge«
wiesen, dafs die Qualität der Mitte insofern eine Rolle spielen
kann, als ja derselbe Gehalt der Mischung an Farbe (in Graden
ausgedrückt) bei Hellgrau weniger bemerkbar ist als bei Dunkel-
grau, und dafs bei den angeführten Versuchen in der Tat von
den die s. M. darstellenden Karmin-Grau-Mischungen keineswegs
diejenige, die den gröfsten Karmingehalt und das hellste Grau
besafs, am meisten rot war; vielmehr sah bei M. und S. J. deut-
lich die dunkelste, d. h. die mit dem geringsten Karmingehalt
am meisten rot aus. Bei H. waren die Unterschiede, die ihre
beiden subjektiven Mitten hinsichtlich der RötUchkeit zeigten,
weniger ausgeprägt, doch ist auch hier zu sagen, dafs die
dunkelste wohl die rötiichste war. Gleichfalls wenig ausgeprägt
waren die Unterschiede an Rötlichkeit, welche die bei den
beiden helleren Graunuancen erhaltenen subjektiven Mitten von
M. und S. J. aufwiesen; bei S. J. erschien von den beiden
^ Die Gradzahl Karmin ist durch die bezügliche Gradzahl des za-
gehörigen Grau auf 360^ zu ergänzen.
Der Raumersparnis wegen werden hier nur die Durchschnittswerte
beider Yersuchstage und Raumlagen angegeben. Die ausführlichen Tabellen
sind im Anhange mitgeteilt. Die Tabellen Nr. 1 — 3 enthalten die in diesem
Paragraphen aufgeführten Versuche.
4*
52 Siegfried Jacobsohn, (f)
Mischungen des Karmin mit den helleren Graunuancen diejenige
mit dem hellsten Grau (Nr. 4) am meisten rötUch, bei M. jedoch
eher die mit dem mittleren Grau t, doch würde ich in Ermange-
lung einer Methode, bei verschiedenen Intensitäten nur die
QuaUtäten der Empfindungen zu vergleichen, es vorziehen, mich
besonders in den letzten subtilen Falle des Urteils zu enthalten.
§ 3. Unterschiedsgleichungen zwischen einerFarbe
und Grau unter allmählich wachsendem Ersatz des
Seitengraus durch die Farbe.
Bei diesen Versuchen wurde der Einfachheit halber darauf
gesehen, dafs die Helligkeit des Grau annähernd gleich mit der
der Farbe war. Unter Heranziehung von K. K. und S. J. als
Versuchspersonen wurden deshalb Karmin und Grau t verwendet,
welche nach den Angaben auf S. 50 für S. J. fast genau
gleich hell waren und auch für K. K., für den 360 ® des Karmin
die Helligkeit von 145,3® Weifs besafsen, keine wesentlichen
Helligkeitsunterschiede boten.
Nachdem die s. M. zwischen einer Vollscheibe Karmin und
einer Vollscheibe des Grau t gefunden war, wurden 90 ^ 180®
und 270® der grauen Seitenscheibe dm-ch eben so viele Grade
der Farbe ersetzt und dann wieder die s. M. durch Mischung
der Farbe und des Grau t gefunden. Den Karmingehalt, welchen
dabei die einzelnen subjektiven Mitten aufwiesen, zeigt die
folgende Gegenüberstellung, in der zur leichteren Vergleichung
unter der Rubrik S. J. auch ein im vorigen Paragraphen vor-
gekommener Wert noch einmal aufgeführt wird.
Unterschiedsgleichung K. K. S. J.
360 Karmin 360 Grau t^ 157,8 125,4
360 Karmin — (270 Grau t + 90 Karmin) « 205,4 213,5
360 Kannin — (180 Grau t + 180 Karmin) « 275,8 270,7
360 Karmin — (90 Grau t + 270 Karmin)* 327,4 310,3
Wie die Gegenüberstellung zeigt, wächst der Farbig-
keitsgehalt der s. M. mit der Farbenzumischung
zum Grau.
Natürlich ist der Karminzuwuchs der s. M. nicht gleich dem
des Seitengrau.
* 8. Tabelle 2. » s. Tabelle 4. « s. Tabelle 5. * s. Tabelle 6.
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 53
Berechnet man das geometrische Mittel des Karmingehaltes
der beiden Seitenfarben, so bleibt dieses um so mehr hinter
dem wirklichen Karmingehalte der s. M. zurück, je geringer der
Karminzusatz zum Seitengrau ist. Dies zeigen folgende Gegen-
überstellungen für die Versuchspersonen
K. K. S. J.
bei den Unterschiedsgleichungen zwischen
360^ Karmin und (270^ Grau t + 90^ Karmin)
gefundene s. M. 205^4 213^5
Geometr. Mittel 180** 180^
Differenz + 25^4 + 33^5
360«^ Karmin und (180« Grau t + 180» Karmin)
gefundene s. M. 275®,8 270^7
Geometr. Mittel 254^6 254^,6
Differenz + 21«,2 + 16^,1
360® Karmin und (90<> Grau t + 270« Karmin)
gefundene s. M. 327«,4 310«,3
Geometr. Mittel 311«,8 311^,8
Differenz + 15«,6 — 1«,5
§ 4. Über das Verhalten der subjektiven Mitte bei
einer in den beiden Seitenfarben gleichmäfsig
vorgenommenen Steigerung einer und derselben
Komponente.
Hier handelt es sich darum, ob eine Unterschiedsgleichung
bestehen bleibt, wenn man nach Herstellung der s. M. zwischen
zwei Farben zu allen Gliedern der Gleichung denselben Betrag
von einer in der Gleichung vorhandenen Komponente hinzufügt.
Diese Frage bei Anwendung des Farbenkreisels zu ent-
scheiden, hat seine Schwierigkeiten, da bei demselben durch das
Hinzufügen einer Farbe immer dieselbe Gradzahl einer anderen
fortgenommen wird. Dieser Abzug sollte jedoch unterbleiben.
Ich ging deshalb von folgenden Erwägungen aus.
Die Tatsache, dafs die spektrale Helligkeitsverteilung bei
denjenigen Farbenblinden, die an sogenannter innerer Blindheit
leiden, mit der bei den Normalsichtigen vorhandenen im wesent-
lichen übereinstimmt, beweist, dafs die sogenannte Helligkeit
einer Farbe sich im wesentUchen nach dem achromatischen Pro-
zesse bestimmt, den die Farbe neben dem ihr entsprechenden
54 Siegfried Jacobsohn, (f)
chromatischen Prozesse noch hervorruft.^ Ersetzt man daher
einige Grade eines Grau durch eine gleich helle Farbe, so ist es
imgefähr dasselbe, als hätte man die betreffende Gradzahl Grau
nicht fortgenommen und nur den chromatischen Reizwert der an
die Stelle des Grau gesetzten Farbe hinzugefügt.
Es wurden deshalb mit S. J., für den, wie ein Vergleich der
S. 50 angeführten HeUigkeitswerte ergibt, das Karmin ziemlich
genau dieselbe Helligkeit wie das Grau t hat, Unterschieds-
gleichungen hergestellt
erstens zwischen
(1900 Karmin + 170« Grau t) und (350® Grau t + 10« Karmin)
und zweitens zwischen
360« Karmin und (180« Grau t + 180« Karmin).
Da sich die letztere Unterschiedsgleichung hinsichtlich der
Seitenfarben von der ersteren im wesentlichen nur dadurch unter-
scheidet, dafs beide Seitenfarben bei ihr 170« Karmin mehr ent-
halten, so fragt sich, ob die s. M. in dieser auch 170« Karmin
mehr enthalten w^ird als in jener.
Die Versuche ergaben, dafs bei jener Unterschiedsgleichung
89«,0 Karmin zur s. M. benötigt wurden*, während bei dieser
— sie ist schon im vorigen Paragraphen erwähnt — 270«,7 Karmin
für die s. M. erforderlich waren.* Es stieg also der Karmin-
bedarf nicht nur um 170« sondern um 181«,7.
Mithin bleibt eine Unterschiedsgleichung nicht
bestehen, wenn man zu allen ihren Reizgliedern den
gleichen Betrag von einer in der Gleichung vor-
handenen Komponente hinzufügt. Vielmehr ver-
schiebt sich dann die s. M. nach der Seite des
stärkeren Prozesses, ruft doch nach den Ausführungen im
' In Übereinstimmung damit steht, was von Kries in Nagels Sand-
buch der Fhysiologie des Menschen 3, S. 259 schreibt: ,,Die Helligkeit der
(farbig gesehenen) Lichter entspricht annähernd ihren Peripheriewerten.
Bas Hinzukommen der farbigen Bestimmungen ändert also den Helligkeits-
eindruck nur unerheblich. Nimmt man daher an, dafs das physiologische
Substrat des exzentrischen farblosen Sehens auch zentral vorhanden sei
und hier nur die Träger der farbigen Bestimmungen hinzukommen, so
würde zu folgern sein, dafs der Eindruck der Helligkeit in erster Linie
durch jenen Bestandteil bestimmt und durch das Hinzukommen der Farben
nur unerheblich modifiziert wird."
« s. Tabelle 7.
' s. Tabelle 5.
über subjektive Mitten verschied. Farbe^i auf Chimd ihres Kohärenzgrades. 55
Anfang dieses Paragraphen den stärksten psychophysischen Pro-
zefs diejenige von den 3 annähernd gleich hellen Scheiben her-
vor, die den gröfsten chromatischen Gehalt besitzt.
Selbstverständhch zeigt dieser Versuch auch, dafs, wenn man
von einer in der Gleichung vorhandenen Komponente denselben
Betrag auf beiden Seiten abzieht, die s. M. sich in der Weise
verschiebt, dafs bei ihr der Abzug noch gröfser ist als bei den
Seitenfarben.
Stellt man zur Vervollständigung der auf S. 53 gegebenen
Übersicht auch für die Unterschiedsgleichung zwischen (190®
Karmin + 170® Grau t) und (350 Grau t + 10® Karmin) den
Karmingehalt der s. M. — er beträgt 89®,0 — dem geometrischen
Mittel aus dem Karmingehalt der Seitenfarben — es beträgt
43®,6 — gegenüber, so ergibt sich eine Differenz von 45®,4. Diese
Differenz ist erheblich gröfser als diejenige, die sich bei der
Unterschiedsgleichung zwischen 360® Karmin und (180® Grau t
-f- 180® Karmin) zeigt, bei der die Seitenfarben sich zwar auch
wie in dieser Unterschiedsgleichung um 180® Karmin voneinander
unterschieden, das geometrische Mittel des Karmingehalts der
Seitenfarben jedoch für S. J. nach S. 53 nur um 16®,1 hinter
dem experimentell gefundenen Karmingehalt der s. M. zurückblieb.
§ 5. Unterschiedsgleichungen zwischen 2 Farben
mit komplementären Bestandteilen unter allmählich
wachsendem Ersatz der einen Farbe durch die andere.
Die Möglichkeit, dafs sich auch zwischen Farben mit kom-
plementären Bestandteilen subjektive Mitten werden finden lassen,
wurde bei der Herstellung von Unterschiedsgleichungen zwischen
€inem Grau und einer Farbe dadurch nahe gelegt, dafs die graue
Scheibe durch Kontrastwirkung mehr oder weniger von der
Gegenfarbe annahm. Durch die folgenden und die in den §§ 7
u. 8 anzuführenden Versuche wurde die Frage, ob man zwischen
2 mit komplementären Bestandteilen ausgestatteten Seitenfarben
in der früheren Weise durch Mischung eine Mitte finden kann,
in bejahendem Sinne entschieden, wenngleich das Urteilen den
Beobachtern bei diesen Versuchen schwerer als im allgemeinen
bei den übrigen fiel, und zwar um so schwerer, je verschiedener
die Seitenfarben voneinander waren. Es ist hier noch nicht der
Ort, über die Selbstbeobachtungen zu sprechen; es sei nur be-
merkt, dafs sowohl diese wie die in § 3 angeführten Versuche
56 Siegfried Jacobsohn, (f)
auch deshalb angestellt wurden, um die Gröfse der Schwierigkeit
des Urteilens kennen zu lernen.
Bei den Versuchen, die hier zur Besprechung gelangen,
wurde einerseits das schon wiederholt erwähnte Karmin benutzt
und andererseits ein gelbliches Grün (Nr. 3), welches ich in der
auf S. 47 beschriebenen Weise so hergestellt hatte, dafs es
— wenigstens für die Versuchspersonen S. J. und Ka. — in
seiner Helligkeit nicht sehr von der des Karmin abwich. Es
war die HelHgkeit von je 360^ dieser beiden Farben für die
3 Beobachter, welche diese Versuche ausführten, die folgende:
Beobachter
K. K.
S. J.
Ka.
Karmin
1450,3 WeiTs
1500,0 Weifs
1450,9 Weifs
Grün Nr. 3
1750,1 Weifs
1500.4 Weifs
1360.5 Weifs
Brachte man nun auf dem einen Seitenkreisel eine Scheibe
an, die sich aus gleichen Teilen des Karmin und Grün Nr. 3
zusammensetzte, und auf dem anderen eine Scheibe, bei der sich
das Grün Nr. 3 über alle 360^ erstreckte, und liefs man die s. M.
zwischen diesen Seitenfarben durch Mischung des Karmin und
Grün Nr. 3 finden, so ergab sich, dafs K. K. 97^5, S. J. 89^6
und Ka. 94^,0 Karmin zur s. M. benötigten.^
Wenn man dann von den Seitenscheiben die grüne Voll-
scheibe beibehielt und an Stelle der aus 180® Karmin und ISO®
Grün Nr. 3 zusammengesetzten Seitenscheibe eine 360® Karmin
enthaltende Scheibe verwandte, so brauchte, als die s. M. wieder
durch Mischung des Karmin und des Grün Nr. 3 gefunden werden
sollte, K. K. zur s. M. 186®,5 Karmin und S. J. 197®,5 Karmin.^
(Ka. hat diesen Versuch nicht ausgeführt.)
Nahm man schliefslich nochmals einen Karminzusatz an einer
Seitenscheibe vor, indem man jetzt statt der grünen Vollscheibe
eine aus 270® Grün Nr. 3 und 90® Karmin gebildete Scheibe ver-
wandte, dagegen die 360® Karmin aufweisende Seitenscheibe
beibehielt, so waren für die durch Mischung des Karmin und
Grün Nr. 3 hergestellte s. M. bei K. K. 208^9, bei S. J. 232®,7
und bei Ka. 212®,2 Karmin erforderlich.»
Mithin wird für die s. M. um so mehr von der
einen Seitenfarbe erfordert, je mehr dieselbe auf
> 8. Tabelle 8. « s. Tabelle 9. « s. Tabelle 10.
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades, 57
dem einen Seitenkreisel bzw. auf beiden Seiten-
kreiseln zum Ersätze der anderen Seitenfarbe dient.^
Bei den vorstehend aufgeführten Versuchen hielt sich der
Ersatz einer gewissen Gradzahl der einen Seitenfarbe durch die
andere in den Grenzen, dafs für alle 3 Versuchspersonen die
eine Seitenscheibe grün und die andere rot oder rötlichgelb blieb.
Als nach Beendigung der Versuche jedem Beobachter unter
den gleichen Verhältnissen des Kontrasts usw. diejenige Farbe,
die sich bei ihm als die s. M. erwiesen hatte, gezeigt wurde mit
der Aufforderung, sie zu benennen, wurde die s. M. in der
Unterschiedsgleichung zwischen (180® Karmin + 180® Grün Nr. 3)
und 360® Grün Nr. 3 für „entschieden grünlich" (K. K.), „grün"
(S. J.), „schwach grünlich" (Ka.), dagegen die s. M. in der Unter-
schiedsgleichung zwischen 360® Karmin und 360® Grün Nr. 3 für
„rötlich" (K. K.) und „rötlich-gelb" (S. J.) erklärt und schliefslich
die s. M. in der Unterschiedsgleichung zwischen 360® Karmin
und (270® Grün Nr. 3 + 90® Karmin) allgemein als „rot" oder
^deutlich rot" (S. J.) bezeichnet. Diese Verschiebung in der
Farbigkeit der Mitte zeigt, dafs die s. M. zwischen Farben
mit komplementären Bestandteilen durchaus nicht
in der Gegend liegen mufs, die den geringsten bei
Mischung der betreffenden Farben möglichen chro-
matischen Gehalt besitzt.
Will man erreichen, dafs die s. M. aus der chromatischen in
die möglichst achromatische Zone wandert, so kann man dies
leicht dadurch bewirken, dafs man in zweckmäfsiger Weise auf
einem Seitenkreisel eine bestimmte Gradzahl der einen Farbe
durch die andere ersetzt. Dann verschiebt sich ja, wie wir ge-
sehen haben, die s. M. derart, dafs sie mehr von der auf dem
Seitenkreisel als Ersatz dienenden Farbe enthält.
Ist die s. M. zwischen 2 gleich hellen Farben mit komple-
mentären Bestandteilen auf diese Weise möglichst achromatisch
geworden, so ist sie nach den Ausführungen auf S. 53f. in ihrem
achromatischen Gehalt zwar den Seitenfarben gleich, aber an
Stärke der chromatischen Prozesse jeder von ihnen unterlegen.
Infolgedessen ist ihre psychophysische Gesamtintensität kleiner
als die jeder der beiden Seitenfarben. Es wird dadurch wahr-
BcheinHch, dafs die Intensität nicht für die Lage der s. M. aus-
* Vgl. hiermit das Resultat von § 3.
58 Siegfried Jacobsohn, (f)
schlaggebend ist. Im folgenden Paragraphen soll versucht werden,
dieser Frage näher zu treten.
§ 6. Unterschiedsgleichungen, bei denen die s. M.
nicht ausschliefslich durch Mischung der Seiten-
farben gefunden wird.
Zu untersuchen, ob die psychophysische Intensität allein die
s. M. bestimme, schien zunächst nicht anders möglich als mittels
der schon besprochenen Anwendung von Komplementärfarben.
Denn so lange die Mitte durch Mischung nicht komplementärer
Seitenfarben hergestellt wird, besitzt ihre Intensität immer irgend
einen zwischen den Intensitäten beider Seitenfarben liegenden
Wert, von dem man, wie die in den §§ 2 — 4 aufgeführten Ver-
suche zeigen, nicht weifs, ob seine Veränderung bei Erhöhung
oder Verminderung der Intensität einer Seitenfarbe hervorgerufen
wird durch die Intensitäts Veränderung der Seitenfarbe oder durch
ihre Qualitätsverschiebung. Wenn es jedoch gelang eine s. M.
auch noch anders als durch Mischung ausschliefslich der Seiten-
farben zu finden, so mufste es sich auch auf diesem Wege fest-
stellen lassen, ob die Intensität für die Lage der s. M. der einzig
mafsgebende Faktor ist.
Bei den Seitenfarben Karmin und Hellgrau Nr. 4 und dem
Beobachter S. J. machte ich zuerst den Versuch damit, eine
Unterschiedsgleichung durch nicht-ausschliefsliche Verwendung
der Seitenfarben herzustellen. Nachdem eine Mitte zwischen je
360*^ dieser Farben in alter Weise durch Mischung der Seiten-
farben gefunden war,^ fragte ich mich, wie es wirken würde,
wenn ich zwar die Seitenscheiben unverändert lassen, auf dem
mittleren Kreisel jedoch an Stelle des Grau Nr. 4 eine psycho-
physisch schwächere Farbe (nämlich das dunklere Grau t, weiches
für S. J. die gleiche Helligkeit wie das Karmin hat,) verwenden
würde. Da hierbei die Seitenfarben unverändert bleiben würden,
so müfste offenbar die s. M., wenn die Intensität für ihre Lage
entscheidend wäre, in ihrer Intensität auch unverändert bleiben.
Dies wäre nur dadurch möglich, dafs die s. M. den Intensitäts-
verlust, den sie durch Verwendung einer an Intensität schwächeren
Farbe erleidet, durch eine Steigerung in der Gradzahl der psycho-
1 8. § 2, S. 51.
JJber subjektive Mitten verschied. Farbeti aufCh-und ihres Kohärenzgrades. 59
physisch stärkeren Farbe, des unverändert gelassenen Karmin*,
ausgleichen würde. In Wirklichkeit geschah dies aber nicht,
man näherte sich im Gegenteil, allerdings ohne die s. M. ganz
zu erreichen, derselben um so mehr, je weniger Karmin die
Mischung enthielt, d. h. je weniger intensiv sie psychophysisch
wurde.
Ebenso erging es dem Beobachter S. J., als versucht wurde
zwischen einer Vollscheibe Karmin und einer Vollscheibe Weifs
die s. M. durch Mischung des Karmin und des Grau t her-
zustellen.
War bei diesen Experimenten versucht worden, eine Mitte
mit Hilfe eines Grau zu finden, das an psychophysischer Inten-
sität dem Seitengrau nachstand, so wurde nun auf dem mittleren
Kreisel ein Grau verwendet, welches heller als das Seitengrau
war. Dabei gelang es wirklich, eine Mitte zu finden. Es wurde
nämlich von dem Beobachter S. J. zwischen je 360 ^ des Karmin
und des mit ihm gleich hellen Grau t eine Unterschiedsgleichung
hergestellt durch Mischung des Karmin und des helleren Grau
Nr. 4. Dabei brauchte S. J. zur s. M.« 169^5 Karmin und 190®,5
Grau Nr. 4. Da er aber nur 125^4 Karmin zur Mitte zwischen
denselben Seitenfarben benötigt hatte, als die Mitte durch
Mischung der Seitenfarben hergestellt worden war^ so weist
jene Mitte im Vergleich mit der durch Mischung der Seiten-
farben gefundenen einen Karminzuwachs auf. Darin liegt, da
das Karmin psychophysisch stärker als das mit ihm gleich helle,
von ihm jetzt zum Teil verdrängte Grau t ist, eine Intensitäts-
zunahme der Mitte gegenüber derjenigen, die durch Mischung
der Seitenfarben gewonnen ist. Die Intensitätszunahme ist um
60 gröfser, als nicht nur ein Teil des Grau t durch das stärkere
Karmin eingenommen ist, sondern auch der Rest des Grau durch
das dem Grau t an psychophysischer Intensität gleichfalls über-
legene Grau Nr. 4 einsetzt ist. Weil hierbei die Seitenfarben un-
verändert geblieben sind, so zeigt dieser Versuch, dafs die s. M.
durch die Intensität nicht eindeutig bestimmt ist.
Zu demselben Resultat führen die folgenden Versuche. Bei
ihnen sollte, während bisher jede der Seitenfarben unverändert
* DaXs das Karmin psychophysisch stärker als das mit ihm gleich hello
Grau t ist, ergeben die Ausführungen auf S. 53 f.
* s. Tabelle 11.
» 8. § 2, S. 52.
60 Siegfried Jacobsohn, (f)
gelassen, dagegen auf dem mittleren Kreisel eine dritte Farbe
eingeführt worden war, die Farbe auf dem einen Seitenkreisel
verändert, hingegen die Farben auf dem mittleren Kreisel sowie
auf dem anderen Seitenkreisel beibehalten werden. Zu diesem
Zweck wurde von den Beobachtern K. K. und S. J. zuerst eine
Unterschiedsgleichung zwischen 360® Karmin und (180® Grau t
+ 180® Karmin) hergestellt S dann auf der einen Seitenscheibe
an die Stelle der 180® Grau t das psychophysisch stärkere
Grau Nr. 4, schlielslich sogar Weifs gesetzt und die s. M. von
S. J. und zum Teil auch von K. K. unter Beibehaltung des
Karmin und Grau t auf dem mittleren Kreisel gefunden. Wäre
die Intensität für die Lage der s. M. allein mafsgebend, so
müfste man nach dieser Intensitätserhöhung der einen Seiten-
farbe erwarten, dafs auch die s. M. intensiver würde, d. h. (da
sie nur durch Karmin und Grau t gebildet wird, von denen das
Karmin intensiver als das für die Beobachter K. K. und S. J.
mit ihm fast gleich helle * Grau t ist), dafs sie eine Karmin.-
steigerung erführe. Statt dessen fiel der Karmingehalt der s. M.
von 270®,7 bei S. J. und 275®,8 bei K. K. in der Unterschieds-
gleichung zwischen 360® Karmin und (180® Grau t + 180 <^
Karmin) auf 220®,2 bei S. J. und 220®,4 bei K. K., als die 180 ^
des Seitengrau t durch Grau Nr. 4 ersetzt waren', und dann
sogar auf 183®,1, als bei S. J. das Seitengrau durch Weifs ersetzt
worden w^ar. *
Wie in dieser Versuchsreihe läfst sich bei der folgenden,
bei der komplementäre Bestandteile vorkamen und K. K. als
Beobachter diente, ein Sinken der Intensität der s. M. trotz einer
Intensitätssteigerung der einen Seitenfarbe beobachten. Es wurde
hierbei die s. M. wieder durch Karmin und das mit ihm für
K. K. fast gleich helle Grau t hergestellt und als Seitenfarbe
der 360® Karmin enthaltenden Scheibe eine Scheibe des Grau t
gegenübergestellt, dem zuerst 90 ® und dann 180 ® helleren Grüns
— des Grün Nr. 1, welches für K. K. die Helligkeit von 209*^,5
Weifs besafs — beigemischt waren. Durch diese Beimischung
helleren Grüns wuchs die psychophysische Intensität der durch
die betreffende Seitenfarbe hervorgerufenen Empfindung, die
s. M. jedoch enthielt um so weniger Karmin, d. h. wurde um so
weniger intensiv, je mehr Grün dem Seitengrau zugemischt war.
^ s. § 3, S. 52. * 8. S. 51 f. » 8. Tabelle 12. * s. Tabelle 13.
über subjektive Mitten verschied, Farben auf Orund ihres Kohärenzgrades, 61
Ihr Karmingehalt fiel bei K. K. von 157®,8 in der Unterschieds-
gleichung zwischen 360 <* Karmin und 360^ Grau t^ auf 134^2,
als 90 ® Grtin dem Seitengrau beigemischt waren *, und auf 89®,3,
als die Zumischung des Grün zum Seitengrau 180® erreichte.^
Zum Schlüsse sei noch einmal auf die Versuche des vorigen
Paragraphen hingewiesen. Man denke sich durch Mischung
zweier mit komplementären Bestandteilen ausgestatteter, gleich
heller Seitenfarben eine Unterschiedsgleichung zwischen ihnen
hergestellt, bei der die s. M. in der möglichst achromatischen
Zone liege. Wenn man dann eine beliebige Gradzahl der einen
Seitenfarbe durch die andere ersetzt, so wird dem Ergebnis des
vorigen Paragraphen zufolge die s. M. eine Zunahme von der
auf dem Seitenkreisel als Ersatz dienenden Farbe erfahren, sie
wird also aus der möglichst achromatischen Zone heraustreten
und somit an psychophysischer Intensität gewinnen. Bei dem
Komplementarismus, den die Seitenfarben aufweisen, wird aber
gleichzeitig infolge des Ersatzes einer bestimmten Gradzahl der
einen Seitenfarbe durch die andere die Gesamtintensität der be-
treffenden Seitenfarbe herabgesetzt worden sein.
Alle diese Versuche zeigen, dafs die Lage der s. M.
nicht eindeutig durch die Intensität bestimmt ist.
Die vorletzte Versuchsreihe, bei der eine Verminderung der
Rötlichkeit der s. M. eintrat, als auf der einen Seitenscheibe an
Stelle von 180® Grau t das hellere Grau Nr. 4 oder Weifs ver-
wendet wurde, ist besonders geeignet, uns noch mehr zu lehren.
Da nämlich gemäfs dem bekannten Einflüsse, den Weifszusatz
auf das Hervortreten der Farbigkeit ausübt, auch bei der einen
Seitenscheibe die Rötlichkeit durch die Verwendung des helleren
Grau oder Weifs auf derselben herabgesetzt wurde, so ist auf
einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Qualitätsände-
rung der Seitenfarbe und der Qualitätsänderung der s. M. zu
schliefsen. Indem sich die eine Seitenfarbe qualitativ von der
Farbenmischung, die vor der Intensitätsvermehrung der Seiten-
farbe die 8. M. bildete, entfernte, wurde der Unterschied auf der
betreffenden Seite gröfser; daher mufste die Mitte ihre Lage so
ändern, dafs der Unterschied auch auf der anderen Seite zunahm.
Bei der letzten Versuchsreihe, bei welcher Grün zu der
grauen Seitenfarbe zugemischt wurde, entfernte sich die be-
1 8. § 3, S. 52. « 8. Tabelle 14. » s. Tabelle 15.
62 Siegfried Jacobsohn, (f)
treffende Seitenfarbe gleichfalls qualitativ von der roten. Daraus
resultierte bei der Grünzumischung zum Seitengrau die Abnahme
des Karmingehaltes der s. M., die um so gröfser war, je beträcht-
licher das zugemischte Grün war.
Die Veränderung der Lage der s. M. ist also
durch die Qualitätsverschiebung der Seitenfarben
beeinflufst worden.
Die am Anfange dieses Paragraphen mitgeteilten Versuchs»
resultate, die erhalten wurden, als die Seitenfarben unverändert
blieben und auf dem mittleren Kreisel eine dritte Farbe ein-
geführt wurde, erklären sich in entsprechender Weise durch
Zurückführung auf Qualitätsunterschiede. Damit der Abstand
der Mitte von jeder Seitenfarbe gleich bliebe, mufste bei der
Unterschiedsgleichung zwischen Karmin und Grau t die Gradzahl
des Karmin auf dem mittleren Kreisel steigen, als ein helleres
Grau zur Mischung mit Karmin genommen wurde.
§ 7. Ist eine Funktion von Intensität und Qualität,
die sogenannte Eindringlichkeit, allein fürdieLage
der s. M. mafsgebend?
Es hatte sich im vorigen Paragraphen gezeigt, dafs die Lage
der s. M. nicht eindeutig durch die Intensität bestimmt ist,
sondern dafs auch die Qualität einen EinfluTs auf dieselbe ausübt.
Damit erhebt sich die Frage, ob vielleicht eine Funktion von
Intensität und Qualität, die sogenannte Eindringlichkeit, allein
die s. M. bestimme.
F&ÖBES bezeichnet es in seiner schon genannten Abhandlung
S. 378 als ein „wesentüches Ergebnis" der Versuche, die er im
Gebiete der Schwarz- Weifs-Reihe vorgenommen hat, festgestellt
zu haben, dafs die Urteile „unter den benutzten Versuchs-
bedingungen ganz wesenthch von der Gefühlswirkung der hellsten
Scheibe und ihrer Tendenz, die Aufmerksamkeit allein auf sich
zu ziehen, bestimmt" werden. Die auffallenden Abweichungen
vom WEBERschen Gesetze, die er beobachtete, scheint er wesent-
lich dieser Tatsache zuzuschreiben. „Dieser Faktor, der die sub-
jektiv mittlere Helligkeit um so weiter vom geometrischen Mittel
nach oben ablenkt, je stärker er ist, macht sich im allgemeinen
in um so höherem Grade geltend, je intensiver das untersuchte
Helligkeitsgebiet ist, und hängt aufserdem von der Individualität
ab." Er wirft daraufhin die Frage auf, ob die Verschiedenheit
über subjektive Mitten verschied, Farben auf Qrund ihres Eohäretizgrades. 63
der Resultate von Makbe-Ament einerseits und Külpe-Mülleb
andererseits nicht „dadurch bedingt ist, dafs die beiden ersteren
Versuchspersonen im Gegensatz zu den beiden letzteren sich
wesentlich von dem erwähnten Faktor bestimmen liefsen".
Es schien deshalb in Beziehung auf das WEBEKsche Gesetz
dringend wichtig, diesem Gesichtspunkte näher zu treten.
Dies mufste im Gebiete des Gesichtssinnes am ehesten bei
der Verwendung bunter Farben möglich sein. Bei der Schwarz-
Weifs-Reihe war unter den von Feöbes und mir benutzten Ver-
suchsbedingungen die eindringlichere Scheibe stets die hellere,
mit der Eindringlichkeit änderte man also immer zugleich die
Intensität und Qualität, bei der Verwendung bunter Farben je-
doch konnte man auch solche herausfinden, die bei gröfserer
EindringHchkeit geringere Helligkeit als andere besafsen.
Daraufhin warf Herr Professor Müller die Frage auf, ob
wohl eine Gesetzmäfsigkeit zwischen Eindringlichkeit und s. M.
von der Art bestünde, dafs, wenn man Unterschiedsgleichungen
zwischen 2 Farben durch Mischung derselben auf dem Farben-
kreisel herstellt, zur s. M. stets eine kleinere (oder stets eine
gröfsere?) Gradzahl von der eindringlicheren der beiden Seiten-
farben gebraucht werde, unbekümmert um deren Helligkeit,
Komplementarismus usw.
Wenn die s. M. nur eine Funktion der Eindringlichkeit wäre,
könnte man den etwas unbestimmten Begriff der Eindringlichkeit
genauer dadurch definieren, dafs man 2 Farben als gleich ein-
dringlich bezeichnet, wenn die durch Mischung derselben ge-
fundene s. M. die gleiche Gradzahl von beiden aufweist.
Bei den Versuchen, die ich zur Bestimmung des Eindring-
lichkeitsverhältnisses je zweier Farben anstellte, erwies sich der
Abstand, den die Seitenscheiben bei den Unterschiedsgleichungen
voneinander hatten, als zu grofs. Es wurden deshalb unter Ent-
fernung des MARBEßchen Rotationsapparates die beiden Seiten-
kreisel symmetrisch zur Versuchsperson einander so weit genähert,
dafs die auf ihnen befestigten Scheiben an der Stelle, an der sie
die geringste Entfernung voneinander aufwiesen, den gegen-
seitigen Abstand von 96 mm hatten. Die Scheiben wurden
simultan gezeigt und enthielten auf allen 360 ® je eine der beiden
Farben, die in bezug auf ihre Eindringlichkeit miteinander zu
vergleichen waren. Aufgabe der Versuchsperson war es anzu-
geben, welche der beiden Farben ihre Aufmerksamkeit am
64 Siegfried Jacobsohn, (f)
meisten auf sich zöge, wenn sie versuche, ihre Aufmerksamkeit
geradeaus zu richten.*
Um noch etwas mehr als das Urteil, die eine Scheibe sei
eindringlicher als die andere, zu erhalten, wurde derjenigen, die
für eindringlicher erklärt worden war, Schwarz von der Hellig-
keit 15^5 Weifs zugesetzt, bis die Versuchsperson durch das
Urteil „unentschieden" oder „gleich" erklärte, dafs ihre Aufmerk-
samkeit durch beide Scheiben gleichmäfsig angezogen würde.
Dasselbe wurde in umgekehrtem Verfahren, bei dem also immer
mehr Schwarz durch die betreffende Farbe ersetzt wurde, wieder-
holt und dann auf den Kreiseln eine Vertauschung der Farben-
scheiben miteinander vorgenommen. Auf diese Weise wurde an
je einem Versuchstage die Eindringlichkeit jeder Farbe — ab-
gesehen von dem meist der Sitzung vorausgeschickten Vor-
versuche — durch 4 zählende Doppelversuche bei regelmäfsigem
Wechsel der Hauptfälle bestimmt, so dafs je 2 auf- und ab-
steigende zählende Versuche bei jeder der beiden Raumlagen
angestellt wurden. Dabei zeigte sich, dafs die durch den Schwarz-
zusatz veränderte Farbe jedesmal die Aufmerksamkeit am meisten
auf sich zog.* Es wurde deshalb verlangt, dafs, wenn die Ver-
suchsperson nach Veränderung der Scheibe hingesehen habe, sie
noch einmal die Augen schhefse, um erst nach dem zweiten
Hinsehen, wenn der Reiz der Neuheit einigermafsen verschwunden
sei, ihr Urteil abzugeben. Den Schwarzzusatz, welchen auf diese
Weise die eindringlichere Farbe bei den hierbei als Versuchs-
personen fungierenden Herren A., C, Ja., Ka. und Sch. erhielt,
gibt Tabelle 16 an. Aus ihr geht hervor, dafs allen Beobachtern,
so weit sie im einzelnen mitwirkten,
das Orange, Rot und Grün h eindringlicher als das Grau t,
das Blau bei Ja. und Sch. eindringlicher als das Grau t, dagegen
das Grau t bei A., C, K>. eindringlicher als das Blau,
das Blau und Grau t eindringlicher als das Violett,
das Orange eindringlicher als das Rot und Grün h
erschien.
^ Inzwischen hat auch Amesedbb Untersuchungen über die Eindring-
lichkeit oder, wie er es nennt, über die absolute Auffälligkeit der Farben
angestellt; s. „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie".
Herausgegeben von A. Meinono. Leipzig 1904.
' Man vergleiche hierzu die Bemerkung von Jodl in seinem Lehrbuch
der Psychologie Bd. II, S. 76.
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres KoMrenzgrades. 65
Bei A. erreichte bei den Versuchen mit Violett und Blau
das eindringlichere Blau durch einen Schwarzzusatz von 148^
das Minimum seiner Eindringlichkeit, es bUeb aber dabei noch
etwas eindringlicher, als das Violett. Bei weiterer Erhöhung des
Schwarzzusatzes stieg die Eindringlichkeit desselben wieder. Ich
werde hierauf in § 10, wo ich die Emdringlichkeitsbestimmungen
genauer besprechen werde, zurückkommen.
Bei meinen weiteren Versuchen über EindringUchkeit, die
ich mit den Beobachtern H. und M. bei den Farben Karmin,
Rotgelb und Grau t anstellte, unterUefs ich es, die eindringlichere
Farbe durch Schwarz zum Teil zu ersetzen. Da nämlich der-
selbe Schwarzzusatz bei verschiedenen Farben nicht die gleiche
Herabminderung der EindringUchkeit bewirkt, so hat man in
seiner Gröfse kein Mafs der EindringUchkeit. Man verliert also
durch diese Ali; der Bestimmung nur viel Zeit und macht die
Versuchsperson der ganzen Untersuchung gegenüber mifstrauisch
und unlustig, da sie fühlt, dafs sie nur mit grofser Unsicherheit
und einer gewissen Willkür urteilt. Deshalb begnügte ich mich
bei H. damit, an einem Tage alle Farben durcheinander einmal
auf jedem der beiden Kreisel zu zeigen und angeben zu lassen,
welche eindringlicher sei.
Es wurde
Karmin und Kotgelb für viel eindringUcher als Grau t und
Karmin für ein wenig eindringUcher als Rotgelb erklärt.
Herr Professor Mülleb beurteilte die Eindringlichkeit sogar bei
der Herstellung von Unterschiedsgleichungen ohne besondere
AufeteUung der Kreisel und erklärte in Übereinstimmung mit H.
Karmin und Rotgelb für eindringUcher als Grau t und Karmin
für eindringlicher als Rotgelb.
Die HelUgkeit der farbigen Papiere wurde wieder nach der
S. 47 f. angegebenen Methode bestimmt. Infolge der am Semester-
Schlüsse bevorstehenden Abreise der Versuchspersonen mufste
bei C, Ja., Ka. die Messung, die erste, die ich nach BrIjoknebs
Methode ausführte, frühzeitig vorgenommen und deshalb ein von
mir statt vom Mechaniker zwar möglichst genau, aber doch
ziemUch primitiv hergesteUter Transporteur benutzt werden. Dies
ist insofern zu erwähnen, als minimale Fehler der Ablesung bei
der BBiiGKNEBschen Methode durch Multiplikation vergröfsert
werden. Doch könnte dieser Fehler, faUs er infolge technischer
Mangelhaftigkeit trotz erstrebter Genauigkeit begangen sein sollte,
ZeltBchrift für Psychologie 43. 5
06
Siegfried Jacobeohn. (f)
das Beeuhat deshalb nicht wesentlich verändert haben, weil ver-
hältnismäfsig grofse Singsektoren ^ £ur Verwendung kamen.
Es war die Helligkeit der Farben für die einzelnen Versuche-
pwsonen die folgende:
C.
Ja.
£a.
Orange
184«,8 Weifa
173«,0 WeifB
179«,7 Weife
Rot
74*,3
j>
66ö,4
»
föo,l „
Blau
. '1
15«,5
>»
12»,0
n
170,8 „
Violett
1
820,3
»»
30«8
i>
380,7 „
Grün h
;
leo^iG
if
150«,9
»
Botgelb
Karmin
Grau t
M.
H.
130^7 Weife
fl. S. oO u. 51.
146^5 Weife
8. J.
1540,3 Weife
Bei A. mu&ten die Helligkeitsmessungen infolge seiner Ab-
reise aus Göttingen unterbleiben; desgleichen bei Sgh., da der-
selbe durch ein Examen sehr beschäftigt war, so dafs er auch
bei den Unterschiedsgleichungen nur einmal, nämlich bei der
Mittenfindung zwischen Orange und Grau t, die vorschrifts-
mäfaigen 2 Tage auf eine Farbenzusammenstellung verwandte,
sonst hingegen aufser einer Reihe von Versuchstagen, die ans*
schhefslich dem Zwecke der Selbstbeobachtung dienten, nur einen
zählenden Versuchstag jeder Farbenzusammenstellung widmen
konnte. Ich wollte daher die mit ihm angestellten Versuche
ursprünglich nicht veröffentlichen und entschlols mich schliefs-
lieh um- deshalb dazu, weil seine subjektiven Mitten auffallend
von denen der anderen Versuchspersonen abweichen.
Zur näheren Charakteristik der Farben -, zwischen denen
Unterschiedsgleichungen angestellt wurden, sei noch bemerkt,
dafs einen besonders hohen Grad der Sättigung das schwach
rötUche Blau und das (gelbliche) Rot aufwiesen, und dals nur
das gelbliche Grün h mit dem Orange komplementäre Bestand-
teile bei der Dunkelzimmerbeleuchtimg zeigte.
> e. 8. 48.
* Die farbigen Papiere mit Ausnahme dee Violett hatte ZufMXBMAKX
in Leipzig geliefert, nur dae Karmin und Rotgelb hatte ich mir selbst her«
gestellt.
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Qrund ihreB Kohärenzgrad/es, ffj
Dk Unterscbiedsgleichungeii, jdurch die festgofitellt werden
fioUte, ob eine Gesetemäfeigkeit swischen Eindringlichkeit und
s. M. in der auf S. 63 angegebenen Weise bestände, gibt die
folgende Übersicht^ an. In derselben geschieht die Benennung
der Untefschiedsgjeiiabmi^en durch Bezeichmmg der Seitenfarben.
Jede der namhaft geBaaehiten Farben erstroekte sich auf den
S^tenkieiseln über alle 966 ^ Die s. M. wurde dureh Mischung
der Seitenfarben hergestellt. Die Zahlen bedeuten die zur s. M .
benötigten Grade von derjenigen Farbe, die bei der Benennung
der UnterschiedeigleichujQg in der Übersicht zuerst namh^JEt ge-
macht ist.
C.
Ja.
A.
SCH.
Ka.
H.
M.
Orange— Grau t
186,3
138,4
151,2
244,4
171,3
Rot— Grau t
225,0
181,7
196,4
332,3
236,5
Blau— Grau t
246,2
232,3
246,2
263,0
238,1
Violett— Grau t
245,6
215,3
265,0
211,9
237,8
Rot— Orange
236,5
201,1
230,4
177,2
232,6
Violett— Blau
162,9
158,6
160,6
134,0
155,1
Grün h— Grau t
193,2
149,7
Grün h— Orange
150,5
Karmin— Grau t
156,0
197,2
Rotgelb— Grau t
164,8
196,7
Kannin— Rotgelb
147,4
168,9
Die Reihenfolge, in der die Unterschiedsgleichungen angestellt wurden,
war für C. und Ja.
Grün h— Grau t, Rot— Grau t, Violett— Grau t. Orange— Grau t, Blau-
Grau t, Blau— Grau t. Orange— Grau t. Violett— Grau t, Rot— Grau t,
Grün h— Grau t, Rot— Orange, Rot— Orange, Violett— Blau, Violett— Blau,
(Grün h— OraAge, Grün h— Orange),
für A., ScH., Ka.
Orange— Grau t. Orange— Grau t, Rot— Grau t, Rotr— Grau t, Rot— Orange
Rot— Orange, Blau— Grau t, Blau— Grau t. Violett— Grau t, Violett-
Grau t, Violett— Blau, Violett— Blau,
für H. und M.
Kannin— Grau t, Rotgelb—Girau t, Karmin— Rotgelb, Karmin— Rotgelb,
Rotgelb — Grau t, Karmin— Grau t.
^ Dbb dieser Übersicht zugrunde liegende nähere Beobachtungsmaterial
enthalten die Tabellen 17—26. Nur betreffs der schon auf 8.51 erwähnten
ü&tefschiedsgleichung zwischen Karmin und Grau t ist Tabelle 2 zu yer-
idfiMäien.
5*
68 Siegfried Jacobaohn. (f)
Durch einen Versachsfehler lag in den Unterschiedsgleichungen Rot —
Grau t die rote Scheibe auf dem mittleren Kreisel ohne weilse Unterlage
direkt auf dem Grau auf, ebenso in den Unterschiedsgleichungen Bot— Orange.
Um zu sehen, ob dieser Fehler die Resultate beeinträchtige, stellte ich für
die Versuchspersonen Ka. und Ja. — für die anderen konnte ich es leider
nicht mehr tun — diejenige Farbe, die sie für die s. M. erklftrt hatten,
einmal mit und einmal ohne weiTse Unterlage her (zum Teil in beiden
Raumlagen) und fragte sie, ob und in wie fern diese beiden simultan dar-
gebotenen Farben verschieden wären. Da ihr Urteil teils „gleich", teils
„unentschieden" lautete, ja es sogar vorkam, dafs die nicht auf Weils auf-
liegende Farbe für „vielleicht eine Spur heller" erklärt wurde, so glaube
ich berechtigt zu sein, den betreffenden Versuchsfehler unberücksichtigt
zu lassen.
Sehen wir nun die Unterschiedsgleichungen daraufhin an,
ob die s. M. von der eindringlicheren der beiden Farben regel-
mäfsig mehr oder regelmäfsig weniger als 180^ enthielt Es
wurde gebraucht
von der eindringlicheren Farbe
mehr
weniger
als 180*
als 180«
2 mal
Orange — Grau t
3 mal
5 „
Rot— Grau t
„
2 „
Blau — Grau t
3 „
„
Violett— Grau t
5 „
1 „
Rot— Orange
4 „
5 „
Violett— Blau
„
1 r
Grün h— Grau t
1 r,
1 «
Grün h— Orange
„
1 „
Karmin — Grau t
1 «•
1 «
Rotgelb— Grau t
1 „
„
Karmin — Rotgelb
2 „
19 mal 20 mal
Es besteht also keine Beziehung zwischen Ein-
dringlichkeit und s. M., die von der Art wäre, dafs
zur s. M. stets mehr oder stets weniger von der ein-
dringlicheren Farbe benötigt werde als von der
weniger eindringlichen.
Findet sich eine derartige Regelmäfsigkeit vielleicht, wenn
die eindringUchere Farbe zugleich die dunklere, oder wenn sie
die hellere ist? Die folgende Übersicht wird darüber Aufschlufs
geben in bezug auf diejenigen Versuchspersonen, bei deinen
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 69
Helligkeitsmessungen vorgenommen worden sind. Um gleich-
zeitig festzustellen, ob etwa Typenunterschiede mitspielen, seien
dabei die einzelnen Beobachter namhaft gemacht. Es benötigten
bei den erwähnten Unterschiedsgleichungen
von der eindringlicheren Farbe
wenn sie die dunklere war wenn sie die hellere war
mehr
weniger
mehr
weniger
als 180»
als 180»
als 180»
als 180»
Oraiige— Grau t
0.
Ja. Ka.
:. Ja. Ka.
Rot— Grau t
Ja.
Blau— Grau t
Violett— Grau t
Rot— Orange
0. Ka.
C. Ja. Ka.
C. Ja. Ka.
1 Ja. Ka.
Violett— Blau
• Ja.?
Grün h— Grau t
Grün h— Orange
C.
Ja.
M.
H.
Karmin — Grau t
M.
H.
Rotgelb— Grau t
H.
Karmin— Rotgelb
M.?
Die Gegenüberstellung zeigt nur, dafs, wenn die eindring-
lichere Farbe die dunklere ist, meist mehr, wenn sie die hellere
ist, meist weniger zur s. M. gebraucht wurde als von der weniger
eindringlichen Farbe. ^
Wenn nun aber auch absolut genommen zur s. M. nicht
stets mehr Grade von der eindringlicheren Farbe benötigt werden
als von der weniger eindringlichen, so wird doch, wie die später
zu besprechenden Selbstbeobachtungen zeigen, mehr von ihr ge-
braucht, als man benötigen würde, wenn man ganz dieselbe Farbe
mit geringerer Eindringlichkeit verwenden könnte.
HinsichtHch der Eindringlichkeit der s. M. ist zu bemerken,
dafs die s. M. unter Umständen sogar weniger eindringlich als
jede der beiden Seitenfarben sein kann. Bei der Verwendung
von Farben mit komplementären Bestandteilen wäre dies schon
dadurch verständUch, dafs (s. S. 57) infolge des Komplemen-
tarismus event die Farbigkeit und Intensität der s. M. hinter
derjenigen der beiden Seitenfarben zurückbleibt, aber auch ohne
* Über den Einflufe der Helligkeit auf die La^e der s. M. siehe den
Anhang 8. 73.
70 Biegfried Jaeobsohn, (f)
Btenteung komfriementfi^er Bestandteile gab bei den Unterschiede-
^eichungen Eftrmin-Rotgelb ^ und Earmin-Grau Nr. 4 ^ M. mehr-
fach zn ProtokoU, dafs die s. M. weniger eindringlich als jed^
der beiden Seitenfarben war.
§ 8. Lassen sich aus experimentell bestimmten
Mischungsgewichten subjektive Mitten berechnen?
Wenn bei einer Unterschiedsgleichung zwischen 2 Farben
A und B für die s. M. a Grade von der Farbe A und b Grade
von der Farbe B gebraucht worden sind, so kann man sagen,
dafs unter den bei diesen Unterschiedsgleichungen gegebenen
Bedingungen die Farbe B gegenüber der Farbe A das
Mischungsgewicht t- besitzt. Angenommen nun, wir haben
bei 2 Unterschiedsgleichungen zwischen den Farbjen A und B
einerseits und A und C andererseits gefunden, dafs gegenüber
Q
der Farbe A die Farbe B das Mischungsgewicht t- und die
a
Farbe C das Mischungsgewicht — besitzt, können wir dann aus
diesen beiden Mischungsgewichten von B und C die s. M. be-
rechnen, die wir bei einer unter den gegebenen Umständen her-
gestellten Unterschiedsgleichung zwischen B und C erhalten
würden? Ist imter den gegebenen Bedingungen zu erwarten,
dafs bei Erreichtsein dieser s. M. die auf der mittleren Scheibe
vorhandenen Sektoren von der Farbe B und C sich umgekehrt
wie jene Mischungsgewichte t- und — d. h. wie - verhalten?
Bei den Versuchen, welche diese sich von vornherein leicht
aufdrängende Frage entscheiden sollten, wurden die Mischungs-
gewichte verschiedener Farben in Beziehung auf das Grau t
festgestellt. Dazu wurden Unterschiedsgleichungen hergestellt
zwischen je 360^ des Grau t und einer Farbe. Diese Farben
waren die bereits in der Übersicht auf S. 67 angeführten : Orange,
Rot, Blau, Violett, Grün h, Karmin und Rotgelb. Wie man
sieht, sind die betreffenden Versuche schon früher ausgeführt
worden, es ist nur noch nachzutragen, dafs in der Unterschieds-
gleichung zwischen Rotgelb und Grau t* S. J. 139^4 Rotgelb
zur s. M. brauchte.
* 8. S. 67 u. Tabelle 26. « s. S. 51 u. Tabelle 3. » s. Tabelle 25.
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Ghrund ihres Kohärenzgrades. 71
Aus den Mischungsgewichten der genannten Farben gegen-
über dem Grau t wurde dann die s. M. berechnet ^ für die Unter-
schiedsgleichungen zwischen* 1. Rot und Oraaige, 2. Violett und
Blau, 3. Karmin und Rotgelb, 4. Grün h und Orange.
DiMdben Unterschiedsgleichungen sind schon früher (vgl.
S. 67) experimentell hergestellt worden, es mufs zu den früheren
Angaben nur noch hinzugefügt werden, dafs in der Unterschieds-
gleichung zwischen Grün h und Orange* C. 15S®,5 Grün h und
S. J. in der Unterschieds^eichung zwischen Karmin und Rotgelb '
134^,7 Karmin zur s. M. benötigte.
Die nachfolgenden Gegenüberstellungen werden die aus den
Mischungsgewichten berechneten Gradzahlen der subjektiven
Mitten mit den experimentell gefundenen zur Vergleichung dar-
bieten.
Rot-Orange.
Beobachter
8. M. auf Grand
der
Berechnung
8. M. auf Grand
der
Experimente
C.
Ja.
A.
SCH.
Ka.
219,1 Rot
224,6
306,1
244,2
236.5 Rot
201.1 „
230,4 „
177.2 „
232.6 „
Violett-Blau.
Differenz zwischen
experimentell
gefandener und
berechneter Mitte
+ 17.4
— 22,1
+ 5,8
— 128,9
— 11.6
Beobachter
8. M. auf Grund
der
Berechnung
8. M. anf Grand
der
Experimente
Differenz zwischen
experimentell
berechneter Mitte
C.
Ja.
A.
SCH.
Ka.
179,4 Violett
162,0 „
202,8 „
124,3 „
179,6 „
162,9 Violett
158,6 „
160,6 „
134.0 „
165.1 „
- 16,5
- 3,4
— 42,2
+ 9,7
— 24,5
^ Die Rechnung wurde mit 5 stelligen Logarithmen unter Benutzung
der 2. Stelle nach dem Komma ausgeführt.
* 8. Tabelle 24.
« 8. TabeUe 26.
72
Siegfried Jacohsohn. (f)
Karmin-Rotgelb.
Beobachter
8. M. auf Grand
der
Berechnung
8. M. auf Grund
der
Experimente
Differenz zwischen
experimentell
gefundener und
berechneter Mitte
M.
H.
8. J.
180,5 Karmin
171,1 „
165.0
168,9 Karmin
147,4 „
134.7 „
— 11,6
— 23,7
— 30,3
Grün h-Orange.
Beobachter
8. M. auf Grund
der
Berechnung
8. M. auf Grund
der
Experimente
Differenz zwischen
experimentell
gefundener und
berechneter Mitte
0.
Ja.
186,9 Grün h
191,8 „
153,5 Grün h
150,5 „
-33,4
-41,3
Die Abweichungen der experimentell gefundenen von den
berechneten subjektiven Mitten sind zum Teil sehr grofs. Es
liegen allerdings auch nicht unbeträchtliche Fehlerquellen vor:
1. Die Qualität einer Farbe ändert sich leicht durch Weifs*
Zusatz oder Mischung mit helleren Tönen.
2. Es war keine reine Helladaptation vorhanden. Wenn die
drei Farben, durch welche die Mischungsgewichte von je zwei
Farben bestimmt werden, verschiedene Helligkeit besitzen, so
hat man es daher bei den 3 gewissermafsen zusammengehörigen
Unterschiedsgleichungen — sie gehören insofern zusammen, als
zwei von ihnen die Berechnung der s. M. der dritten Unter-
schiedsgleichung erst ermögUchen — mit drei verschiedenen
Adaptationszuständen zu tun und kann ein einheitliches Resultat
nicht erwarten.
3. Das Grau t, zu dem je zwei Farben zur Feststellung ihres
Mischungsgewichtes in Beziehung gesetzt wurden, nahm infolge
des Kontrastes je nach der neben ihm stehenden Scheibe eine
verschiedene Färbung an, so dafs die Mischungsgewichte im
Grunde gar nicht auf ein und dieselbe Farbe Bezug hatten. Es
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades, 73
ist weder dieser Kontrast der Scheiben untereinander noch der
der Scheiben zum Hintergrunde in der Berechnung berücksichtigt
worden.
Doch scheinen sich durch diese zum Teil grofsen Fehler-
quellen die Abweichungen nicht zu erklären. Man wird also
wohl sagen müssen, dafs eine Berechnung subjektiver
Mitten aus gegebenen Mischungsgewichten in obiger
Weise nicht möglich ist.
Es würde zu weit führen, wollten wir in eine Diskussion
aller für die Erklärung dieses Sachverhaltes in Betracht kommen-
den GesichtBpunkte eintreten.
§ 9. Anhang über die Helligkeit der s. M. in
Beziehung zu den Seitenhelligkeiten.
Werfen wir zum Schlufs noch einen BUck auf die Helligkeit
der s. M. in den Fällen, wo die s. M. durch Mischung zweier
an Helhgkeit um mindestens 10® Weifs verschiedenen Seiten-
farben gewonnen ist. Berechnet man aus der Zahl der Grade,
die von jeder der beiden in ihrer Helligkeit gemessenen Seiten-
farben gebraucht wurden, die Helhgkeit der s. M., so erhält man
eine Bestimmung derselben, bei welcher der Kontrast nicht be-
rücksichtigt ist, die aber vielleicht doch eine ungefähre An-
schauung gewährt.
Bei Betrachtung der Tabelle 27, in der die so berechnete
Helligkeit der s. M. — bezeichnet als „tatsächliches Helligkeits-
mittel" — sowohl dem arithmetischen wie dem geometrischen
Mittel der Helhgkeiten der beiden Seitenfarben gegenüber gestellt
worden ist, mufs es auffallen, wie nahe am arithmetischen oder
geometrischen Mittel der Seitenhelligkeiten die s. M. meist lag.
Eine allgemeine Bedeutung kann dieser Erscheinung aber wohl
schon deshalb nicht zugemessen werden, weil bei den in § 6 be-
sprochenen Versuchen subjektive Mitten zwischen zwei Farben
durch Verwendung einer dritten Farbe gefunden wurden und es
dabei geschah, dafs einerseits bei der Mittenfindung zwischen
zwei gleich hellen Farben die s. M. wesentlich heller als jede
Seitenfarbe wurde (vgl. S. 59) und andererseits bei der Mitten-
findung zwischen zwei an Helhgkeit wesentlich verschiedenen
Seitenfarben die s. M. in ihrer Helligkeit annähernd der dunkleren
Seitenfarbe gleich war (vgl. S. 60).
74 Siegfried Jacobsohn, (f)
IL Abschnitt.
Erörterung psychologischer und physiologischer Faktoren^
welche Einflafe auf die Urteile haben.
Erstes Kapitel.
§ 10. Erörterung
der Eindringlichkeitsbe Stimmungen.
Wir gehen nun zu einer Erörterung der psychologischen
und physiologischen Faktoren über, von denen nachweisbar ist,
dafs sie Einflufs auf die erhaltenen Versuchsresukate gehabt
haben können. Wir beginnen mit den Bestimmungen, bei denen
am wenigsten zahlenmäfsige Genauigkeit zu erwarten ist, mit
denen der Eindringlichkeit (vgl. S. 62 ff.).
Sich ganz unbefangen Reizen hinzugeben und abzuwarten,
welcher die sinnliche Aufmerksamkeit am meisten anziehe, ist
nicht jedes Beobachters Sache. Das forderte aber die Instruktion,
welche davon ausging, dafs unter Eindringlichkeit ,.die erregende
Kraft auf die Aufmerksamkeit" (Fechnbr) zu verstehen sei.
Selbst bei genauer Befolgung der Instruktion kann bald
dieser, bald jener Faktor auf die Aufmerksamkeit der Versuchs-
person bestimmend einwirken. Dies mufs sich an den Resultaten
um so mehr bemerkbar machen, als jedem Beobachter immer
wieder eingeschärft worden war, ausschliefslich den gegebenen
Fall nach bestem Wissen zu beurteilen, möge er dabei auch
selbst noch so grofse Verschiedenheiten unter seinen einzelnen
Urteilen konstatieren.
Bald erweckt die Helligkeit der einen Farbe, bald wieder
die Sättigung der anderen die Aufmerksamkeit in besonders
starkem Grade. Ästhetische Momente können mitspielen, z. B.
dafs man „gröfsere Befriedigung fühlt, wenn das Auge auf einer
reinen, klaren, als wenn es auf einer schmutzigen Farbe ruht" (C),
dafs eine Farbe „schön" ist, dafs sie „interessiert", dafs sie
„langweilig" (Ka.) ist. Assoziative Momente können mitwirken,
doch ist mir darüber bei den Eindringlichkeitsbestimmungen
nur eine reproduzierte Vorstellung, noch dazu mit dem Zusatz,
dafs das Urteil durch dieselben nicht beeinflufst worden sei, zu
Protokoll gegeben worden. *
» Sie lautet: „Es wurde plötzlich an einen weifsen Damenhals in
schwarzem Trauerkleide gedacht" (C).
über subjektive Mitten vtt*sch%ed. Farben aufGhrund ihres KoMrenzgrades. 75
Eine besondere Rolle bei den Schwankungen des Urteils
kommt dem Hintergrunde zu. Zeitweilig blieb er unbeachtet,
zeitweilig modifizierte er das Urteil dadurch, dafs es der Ver-
suchsperson auffiel, wieviel mehr sich die eine Farbe im Ver-
gleich zur anderen von ihm abhob. Bei den Versuchen, durch
Schwarzzusatz die Eindringlichkeit einer Farbe herabzumindern,
wäre es besser, den Hintergrund möglichst dunkel herzustellen,
da es sonst geschehen kann, dafs das zur Herabsetzung der
Eindringlichkeit der Farbe benutzte Schwarz eindringlicher als
die Farbe ist, und dafs die Eindringlichkeit der Farbe durch den
Schwarzzusatz nicht geschwächt wird. In der Tat beobachtete
die Versuchsperson A., wie wir S. 65 sahen, dafs die Eindring-
lichkeit des Blau bei Ersatz eines Teiles desselben durch Schwarz
nur bis zu einem bestimmten Punkte vermindert wurde, von
dem an weiterer Zusatz von Schwarz die Eindringlichkeit wieder
erhöhte. Den Hintergrund zu wechseln wurde im Interesse der
Unterschiedsgleichungen unterlassen, die unter den gleichen
Hintergrundsbedingungen wie die Eindringlichkeitsbestimmungen
vorgenommen werden mufsten, und bei denen durch einen
schwarzen Hintergrund im allgemeinen sowohl der Kontrast wie
die Mitwirkung des Stäbchenapparates in unliebsamer Weise er-
höht worden wäre.
Von der Aufstellung, welche die Kreisel bei den Versuchen
über Unterschiedsgleichungen hatten, mufste allerdings, wie
S. 63 angegeben, bei den Eindringlichkeitsbestimmungen ab-
gewichen werden. Dafs dies seine Bedenken hat, selbst wenn
die Kontrastverhältnisse dieselben geblieben wären (was nicht
der Fall ist), ist nicht zu leugnen; kommt doch, wie wiederholt
von den Beobachtern M. und Ja. bemerkt wurde, der Raumlage
zweifellos ein Einflufs auf die Anziehung der Aufmerksamkeit
zu. Da jedoch die Bestimmungen der Eindringlichkeit überhaupt
kein exaktes Mafs derselben liefern sollen, w^ird diese Fehler-
quelle wohl nicht allzu bedenklich sein, falls man an dem
Schwarzzusatz nur erkennen will, welche Farbe die eindring-
lichere war.
Bei den Eindringlichkeitsbestimmungen beobachtete M. und
gelegentlich auch Ja., dafs die eindringlichere Scheibe vor der
anderen räumlich hervortrat.
ScH. fand, dafs das Urteil erleichtert sei, wenn man sich
durch Zurücklehnen, im Zimmer-Herumblicken etc. etwas zerstreue.
76 Siegfried Jacobsohn, (f)
Zweites Kapitel.
§ 11. Erörterung der Helligkeitsbestimmungen.
Die Helligkeitsbestimmungen farbiger Papiere mittels grauer
Ringsektoren können so angestellt werden, dafs man wie Bbücknee
einen einzigen, aus zwei gegeneinander verschiebbaren Grau-
nuancen gebildeten „Ringsektor" verwendet und urteilt, ob der
Ring dunkler, heller oder gleich helP wie die übrige Scheibe
sei (s. S. 481).
Sie können aber auch so angestellt werden, dafs man in die Farben-
Scheiben, deren Helligkeit zu bestimmen ist, statt eines Ringsektors gleich-
zeitig mehrere einschiebt. Dieselben werden am besten so angeordnet,
dafs sie von einer Helligkeit, welche die der Scheibe tibertrifft, in kleinen
Stufen fortschreiten zu einer Helligkeit, welche hinter derjenigen der
Scheibe zurückbleibt. Montiert man alle Ringsektoren auf einer einzigen
Scheibe, so kann man sie alle gleichzeitig um ein und dieselbe Gradzahl
in ihrer Gröfse verschieben. Dadurch gewinnt man für das Heiligkeite-
verhältnis zwischen der Farbenscheibe und den Ringsektoren leicht eine
neue Konstellation und ermöglicht es, mehrere Urteile über dieselbe Farbe
fällen zu lassen, ohne dafs dabei der Ringsektor, welcher mit der Farben-
Bcheibe die gleiche Helligkeit besitzt, stets derselbe wäre.
Auch wenn die Ringsektoren nicht zahlreich genug sind, um in nahezu
kontinuierlicher Reihe Helligkeitsstufen darzubieten, welche teils hinter
der Helligkeit der Farbscheibe zurückbleiben, teils dieselbe übertreffen, hat
die Verwendung mehrerer Ringsektoren vor der Benutzung eines einzigen
zwei Vorzüge. Sie gestattet erstens die simultane Darbietung verschiedener
Helligkeitsstufen an Stelle der sukzessiven und zweitens die Anwendung
eines Urteils modus, dessen Einführung an sich schon eine Erleichterung
des Urteilens und dadurch möglicherweise eine Herabsetzung der Variation
zur Folge hat. Während man bei der Benutzung nur eines Ringsektora
darüber urteilen läTst, ob die Helligkeit des Ringes von derjenigen der
übrigen Scheibe abweicht, kann man bei simultaner Darbietung mehrerer
Ringsektoren denjenigen von ihnen feststellen lassen, dessen Farben-
unterschied von der in ihrer Helligkeit zu bestimmenden Scheibe „ein
Minimum der Deutlichkeit erreicht".* Helmholtz wählte dieses Ver-
fahren. Er ging aus „von dem Gnindphänomen, welches in der Photo-
metrie benutzt wird, wenn es sich darum handelt, zwei etwas verschieden
gefärbte Lichter ihrer Helligkeit nach zu vergleichen. Wenn man die
Lichtstärke des einen von ihnen allmählich verändert, so werden sie selbst-
verständlich niemals ganz gleich, aber man gelangt doch zu einer Ein-
stellung, bei welcher der genannte Unterschied ein Minimum der Deutlich-
keit erreicht. Man betrachtet gewöhnlich das Verhältnis der Lichtstärken,
welches dieser Einstellung entspricht, als das Verhältnis gleicher Helligkeit"*
* Das Urteil lautet hierbei event. „unentschieden".
* Helmholtz in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnes-
organe 2, S. 3.
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Gi'und ihres Kohärenzgi-ades. 77
Die Veränderung der Helligkeit kann bei jedem Ringsektor auf dreier-
lei Art Torgenommen werden. Entweder man läfst die Gesamtgröfse des
Ringsektors konstant und ändert das Verhältnis der Gradzahlen der beiden
Graunuancen, welche den Ringsektor bilden, oder man läfst die Gradzahl
von einer der beiden Graunuancen konstant und ändert die Gradzahl der
anderen Graunuance und damit die Gesamtgröfse des Ringsektors ; schlief8^
lieh kann man sowohl die Gesamtgröfse des Ringsektors als auch die Grad-
zahl jeder der beiden Graunuancen verändern. Das zuletzt genannte Vor-
gehen ist wegen seiner geringen Exaktheit am wenigsten zu empfehlen.
Gegen die Anwendung des zweiten Verfahrens würde für den Fall, dafs
man wie Helmholtz den Punkt des „Minimums der Erkennbarkeit des
Unterschiedes" bestimmen lassen will, folgender Einwand erhoben werden
können. Angenommen, die vorhandenen Ringsektoren seien dunkler als
die Seheibe und werden dadurch allmählich heller, dafs von den beiden
Graunuancen, welche den Ringsektor bilden, die hellere an Gradzahl zu-
nimmt» während die dunklere in ihrer Ausdehnung konstant bleibt. Dann
wird der hellste der Ringsektoren, den wir hier allein verfolgen wollen,
trotz seiner Gröfsenzunahme, wie experimentell festgestellt ist, allmählich
an Sichtbarkeit abnehmen, und zwar bis zu dem Punkte, an welchem der
Unterschied des Ringes von der übrigen Scheibe so klein geworden ist, wie
er bei der Steigerung der Gesamtgröfse des betreffenden Ringes überhaupt
werden kann. Würde man von diesem Punkte an die Gesamtgröfse des
Ringes konstant erhalten, dagegen die hellere der beiden Graunuancen,
welche den Ringsektor bilden, auf Kosten der dunkleren weiter ausdehnen,
so könnte die Sichtbarkeit des Ringes noch weiter abnehmen. Man hätte
also bei ausschliefslicher Veränderung der Gesamtgröfse des Ringsektors
in dem angenommenen Falle bei einem zu dunklen Ringsektor geglaubt,
das Minimum der Erkennbarkeit des Unterschiedes gefunden zu haben.
Es ist deshalb, wenn man den Punkt des Minimums der Erkennbarkeit des
Unterschiedes feststellen will, zu empfehlen, nicht die Gesamtgröfse des
Ringsektors, sondern das Verhältnis der Gradzahlen der ihn bildenden
Graunuancen zu ändern. Wenn man hingegen beurteilen läfst, ob die Ringe
in einer farbigen Scheibe heller, dunkler oder gleich hell wie diese seien,
so ist es prinzipiell gleichgültig, ob man die Gesamtgröfse der Ringsektoren
oder die Gradzahl von einer der sie bildenden Graunuancen konstant erhält.
Bei meinen Versuchen war die simultane Darbietung mehrerer Ring-
sektoren dadurch ausgeschlossen, dafs ich über so grofse Bogen farbigen
Papieres, wie sie bei der Anwendung mehrerer Ringsektoren nötig gewesen
wären, nicht verfügte. Ich war daher auf die Benutzung eines einzigen
Ringsektors angewiesen. Um die Variation möglichst niedrig zu halten,
wollte ich den Urteilsmodus, welchen Helmholtz bei simultaner Darbietung
mehrerer Ringe verwandte (Aufsuchung des Minimums der Erkennbarkeit
des Unterschiedes), bei der Verwendung nur eines Ringsektors einführen.
Dies wäre auf zweierlei Art möglich. Benutzt man nämlich jenen Urteils-
modus, so mufs man notwendig den Ringsektor bis zu dem Punkte ver-
ändern, an welchem man zuerst wahrnimmt, dafs der Unterschied zwischen
dem Ringe und der Scheibe gerade wieder zunimmt. Entweder mufs man
dann diesen Punkt notieren oder die Veränderung des Ringsektors wieder
78 Siegfried Jacobsohn, (f)
etwas rückgängig machen, d. h. die Heretellungsmethode anwMiden. Gregen
diese sind nun aber prinzipielle Einwände erhoben worden. Anderereeito
würde bei der ProtokoUierung des Punktes, an dem das Minimum der Er-
kennbarkeit des Unterschiedes gerade etwas überschritten ist, die erstrebte
Möglichkeit der HerabseUsung der Variation dadurch wieder schwinden,
daüB man natürlich abwechselnd mit einem zu hellen und einem zu dunklen
Ringe beginnen müfste.
Ich konnte daher nur das nicht-modifizierte BaüOKNEBsche Verfahren
benutzen und hatte keinen Grund, dies zu bedauern.^
Die Zahl der Grade, über die sich ein Ringsektor insgesamt
erstreckt, mufs um so gröfser sein, je weniger gesättigt die zu
untersuchende Farbe und je schwächer das Auge des Beobachters
ist. Die Beurteilung des Helligkeitsverhältnisses zwischen einem
Ringe und dem übrigen Teile der Scheibe ist schwerer, solange
derjenige Ringsektor, der sich für das Auge der Versuchsperson
bei der zu untersuchenden Farbe am besten eignet, nicht ge-
funden ist. Ich suchte denselben daher stets zu ermitteln, aller-
dings nur annähernd, da nach Brügkkebs Angabe^ die Mittel-
werte der Beobachtungen, die mit gut und mit wenig geeigneten
Ringsektoren angestellt werden, nicht voneinander abweichen.
Die Beobachter wurden häufig von mir darauf aufmerksam
gemacht, dafs bei längerer Betrachtung Unterschiede, die sonst
merkbar sind, verschwinden.
Die Verschiedenheit der Sättigung der aufserhalb und der
innerhalb des Ringsektors gelegenen Teile der Scheibe schien
das Urteil nicht zu stören.
Eine Erleichterung des Urteils empfand M., wenn neben der
zu untersuchenden Scheibe noch eine mit ihr gleiche, doch gftnz
homogene gezeigt wurde. Die anderen Versuchspersonen gaben
das nicht an oder hefsen sogar eine solche zweite Scheibe, wenn
sie angebracht wurde, unbeachtet.
' Bbücknbr hielt aus technischen Gründen die Gradzahl von einer der
beiden Graunuancen konstant. Dasselbe tat ich bei allen Helligkeits-
bestimmungen der Beobachter K. K., M. und S. J., aufserdem bei den
Helligkeitsbestimmungen des Karmin und Grün Nr. 3, die ich von Ka.,
sowie bei denen des Blau, welche ich von C, Ja. und Ka. anstellen liefs.
Die Gesamtgröfse des Ringsektors hielt ich konstant, als ich die HelUgkeit
des Orange, Rot und Violett von C, Ja. und Ka. und die des Grün h von
C. und Ja. bestimmen liefs.
Bei H. wurde sowohl die Gesamtgröfse des Ringsektors als auch die
Gradzahl jeder der beiden Graunuancen verändert.
* Ich habe diese Angabe nicht nachgeprüft.
ilber subjektive Mitten verschied. Farben <mf Grund ihres Kohärenzgrades. 79
DaTs der Bing weniger deutlich sichtbar wurde, wenn seine
Helligkeit sich derjenigen der Scheibe näherte, mag eine Hilfe
geboten haben, die nach den Ausführungen auf S. 77, genau
genommen, instruktionswidrig ist.
Der Mehrzahl meiner Versuchspersonen fiel das Beurteilen
der Helligkeit bedeutend leichter oder mindestens leichter als
die Anstellung von Unterschiedsgleichungen, manchen allerdings
auch schwerer. Dafs es diesen, wenn mehrere Übungstage wie
bei den Unterschiedsgleichungen den endgültigen Messungen
voraufgegangen wären, auch noch gröfsere Schwierigkeiten als
die Mittenfindung bereitet haben würde, ist zu bezweifeln.
G. E. Müllers BedenkenS dafs man an Stelle von Helligkeits-
bestimmungen leicht Eindringlichkeitsbestimmungen anstellt, trifft
diese Methode nicht.
Die Abweichungen, welche die Helligkeitswerte derselben
Farben bei den verschiedenen Beobachtern zeigen, kann man
durch folgende Gesichtspunkte zu erklären suchen.
1. Es lag keine volle Helladaptation vor. Die bekannte Er-
scheinung, dafs sich das Helligkeitsmaximum im Spektrum von
den Farben gröfserer zu denen kürzerer Wellenlänge bei Dunkel-
adaptation verschiebt, muTste deshalb um so mehr bemerkbar
werden, je stärker der Stäbchenapparat der Versuchsperson
fungierte.
2. Nach G. E. Müllers Untersuchungen der galvanischen
Gesichtsempfindungen haben die Farben Rot und Gelb inneren
Weils-, dagegen Grün und Blau inneren Schwarzwert. Je stärker
nun bei einem Individuum die betreffenden chromatischen Pro-
zesse sind, um so stärker sind für dasselbe auch die zugehörigen
Weifs- oder Schwarzwerte, d. h. um so heller, bzw. dunkler, er-
scheint die betreffende Farbe.
Drittes Kapitel.
Erörterung der UnterschiedsgleiehiiDgen.
§ 12. Die Methode der Farbenbänder.
Ich komme nun zum Kern dieser Arbeit, den Unterschieds-
gleichungen. Ich werde zunächst die von meinen Versuchs-
personen festgestellten Urteilsmethoden,
* 8. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgatie 14, 8. 177.
80 Siegfried Jacobgohn. (f)
1. die der Farbenbänder,
2. die der psychischen Rucke,
3. die der Kohärenz,
behandeln und dann verschiedene Urteilsfaktoren besprechen,
welche teils bei allen 3 Methoden, teils nur bei der Kohärenz-
methode zur Geltung kommen.
Die 3 Urteilsmethoden wurden zum Teil an Tagen, an denen
ausschliefsUch zum Zwecke der Selbstbeobachtung experimentiert
und daher die für die regulären Versuchstage festgesetzte Ver-
Buchszahl nicht erreicht wurde, zum Teil auch im regulären
Verlaufe der Versuche beobachtet. Je nach der Wahl der Urteils-
methode, d. h. je nach der Art des für das Urteil mafsgebenden
Urteilsfaktors, kann man zu wesentlich verschiedenen Resultaten
über die Lage der s. M. gelangen. Es war daher, um vergleich-
bare Resultate zu erhalten, unbedingt erforderlich, sich für einen
bestimmten Urteilsmodus zu entscheiden.
Ein Farbenband beobachteten 3 Versuchspersonen, ohne dafs
sie eine dfiJiin gehende Weisung erhalten hatten. Bei den Ver-
suchen über die Unterschiedsgleichung zi^dschen Blau und Grau t
sah Ka. an einem der den endgültigen Versuchen voraus-
geschickten ÜbungstÄge* eine abgestufte Reihe von Farben
zwischen den 3 gezeigten Scheiben und sah zu, auf welcher
Seite sich eine gröfsere Zahl dieser Stufen befände. Er war da-
bei an die Herstellung von Farben erinnert worden, die er in
seiner Schulzeit geübt hatte, in der er oftmals durch verschieden
häufiges Auftragen derselben Farblösung auf Streifen weifsen
Papieres euie Nuancenreihe derselben Farbe gebildet hatte. Durch
meine auf S. 47 beschriebene Herstellung farbiger Papiere war
diese Erinnerung nicht geweckt worden, da ich damals noch
nicht an die eigene Herstellung solcher Papiere dachte.
K. K. beobachtete ein Farbenband während der endgültigen
Versuche, als die Unterschiede der Farben recht erheblich ge-
worden waren. Als nämlich durch Mischung von Karmin und
dem mit ihm annähernd gleich hellen Grau t eine s. M. gefunden
werden sollte zwischen einer in allen ihren 360* mit Karmin
bedeckten Scheibe und einer Scheibe, bei der nur 180* von
Karmin, die anderen 180 • hingegen von dem helleren Grau Nr. 4
» 8. s. 46.
über svbjektive Mitten verschied. Farben auf Ch^und ihres Kohärenzgrades. 81
oder Weifs eingenommen waren^, wurde es ihm plötzlich so
schwer, nach Kohärenz zu urteilen, dafs er eine andere Methode
suchte. Er ging deshalb bei den genannten Versuchen mit den
Augen langsam von der einen Seitenfarbe über die mittlere
Scheibe zur anderen Seitenfarbe und beobachtete ein Farbenband,
von dem er folgendes aussagte: „Das gleichmäfsig ineinander
übergehend abgestufte Farbenband zwischen den beiden ersten
Scheiben läfst sich stets herstellen," dagegen ist es bei einer
Qualitätsabstufung, die ähnUch oder gleich der des Farbenbandes
zwischen den beiden ersten Scheiben ist, nicht immer möglich,
dasselbe zwischen den beiden anderen Scheiben ® so herzustellen,
dafs es den Raum zwischen ihnen genau ausfüllt. „Mufs ich
mir also die dritte Scheibe weiter" als die erste von der mittleren
^entfernt denken, um mir ein gleichmäfsiges Farbenband
herzustellen, so beurteile ich die beiden letzten Scheiben als
unterschiedlich gröfser.* Die entscheidende Scheibe ist also die
dritte, d. h. die zuletzt beobachtete Wieviel Stufen jedesmal
von der tatsächlich gegebenen Farbe bis zur Erreichung der
jedesmal folgenden Scheibe nötig sind, das mache ich mir nicht
klar. Ich stelle mir nur einen ganz natürlichen, allmählichen,
innerhalb der räumlichen Entfernung der Scheiben liegenden,
gleichmäfsigen Übergang vor.* Die Kontrolle geschieht durch
ein Auffassen aller 3 Scheiben mit einem Blick, wobei ich
ziemlich die obere Hälfte der Scheiben zu betrachten suche ; da-
bei verschwimmen die Farben ein wenig, so dafs die Vorstellung
eines bandähnlichen Farbenstreifens bei dieser Gesamtauffassung
der drei Scheiben bedeutend erleichtert wird." Er fügte hinzu:
„Später, als ich wieder versuchte durch instruktionsgemäfse
kollektive Auffassung zu Urteilen zu gelangen, glaubte ich zu
"bemerken, dafs die Urteile, die sich durch beide Methoden er-
gaben, durchaus verschieden voneinander, ja beinahe entgegen-
gesetzt waren."
* Über die Versuche, bei denen 180® Grau Nr. 4 benutzt wurden,
J3. S. 59 f. Die Versuche von K. K., bei denen 180*^ Weifs verwendet wurden,
sind, da ihre Zahl die festgesetzte Ziffer von 2 mal 8 Doppel versuchen nicht
erreichte, in dieser Arbeit nicht aufgeführt worden.
* Die mittlere Scheibe ist hierbei doppelt gezählt.
* Gemeint ist, so urteile ich, dafs der Unterschied zwischen den beiden
letzten Scheiben gröfser als der zwischen den beiden ersten ist.
* K. K. sah das Farbenband zwischen den Scheiben, wahrend er die-
selben beobachtete.
Zeitschrift für Psychologie 43. 6
82 Siegfried Jacobsohn, (f)
Nach dieser Beschreibung könnte man vermuten, dafs die
mit Hilfe des Farbenbandes festgestellte Mitte die Qualitätsmitte
sei, und dafs sie identisch sei mit derjenigen, \velche von den
beiden Seitenfarben ein und denselben, durch die Zahl der Stufen
bestimmten Abstand besitze.
Der Beobachter Sch. hingegen, der als dritter Aussagen über
ein Farbenband machte, bemerkte keine Identität zwischen der
Mitte, welche er mit Hilfe seines Farbenbandes fand, und der-
jenigen, welche einen und denselben Stufenunterschied zu beiden
Seitenfarben aufwies.
Als Sch. nach mehreren Versuchstagen, an denen er in*
struktionsgemäTs nach Kohärenz geurteilt hatte, aufgefordert
wurde, die „Mitte" zwischen den beiden Seitenfarben zu finden,,
stellte er sich ein flächenhaftes Schema vor, welches in kontinuier-
lichen Abstufungen von der einen Seitenfarbe zur anderen führte.
"Wo er dieses, wie er sagte, deutlich vorgestellte Streifenbild
lokalisierte, war für ihn nicht wesentlich, er konnte es sich
zwischen den Scheiben, aber auch auf dem Tische vor sich
lokalisiert denken. Als „Mitte" zwischen den beiden Seitenfarben
bezeichnete er diejenige Farbe, welche genau der räumlichen
XKtte seines Farbenbandes entsprach. Die auf diese Weise ge-
fundene Mitte zwischen Rot und Grau t enthielt weit weniger
Kot als die nach der Kohärenzmethode gefundene s. M., nämlich
175 • — 191** Rot gegen 332^3 bei Anwendung der Kohärenz-
methode. AuTser bei den Versuchen zwischen Rot und Grau t
hat Sch. (wohl infolge der die Kohärenzmethode vorschreibenden
Instruktion) nur bei den Übungsversuchen mit Grün h und Grau t
ein Farbenband beobachtet, doch glaubte er, ebi solches für alle
behebigen Endfarben geistig sehen zu können. Die Deutlichkeit,
mit der er bei den Versuchen über die Unterschiedsgleichung
zwischen Rot xmd Grau t sich den Farbenstreifen vorzustellen
erklärte, konnte Zuversicht zur Beständigkeit desselben einflöfsen^
doch erweckte die Angabe der Versuchsperson ^Die Röte des
Farbenbandes wächst nicht gleichmälsig, sondern um so be-
schleunigter, je näher man dem Rot kommt,* sowie Sch.s eigene
Vermutungen über die Crenesis des Farbenbandes Bedenken. Sch.
erklärte, dafs «dieses Band vielleicht mit bestimmt sei durch die
Erinnenmg an den Übergang des duftigen Weife nun Gelbrot
am Abendhimmel oder durch die Erinnerung an Spektralbilder.
über subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres KoMrenzgrades, 83
Auf derartig zufällige Aßsoziationen eine Experimentaluntersuchung
aufzubauen, schien bedenklich.
Die räumlich in der Mitte des Streifenbildes liegende Farbe
braucht nach der Erklärung von Sch. nicht identisch mit der-
jenigen zu sein, welche zu beiden Seitenfarben den „gleichen
Unterschied" aufweist. Letztere Farbe ohne Anwendung der
Kohärenzmethode meiner Aufforderung gemäfs zu finden, be-
mühte sich ScH. vergebens. Der Wechsel des Ausdrucks, die
beiden Seitenfarben in gleichem Grade „ähnhche Farbe" zu
finden, half nichts. Am wenigsten nützte die Aufforderung, die-
jenige Farbe zu finden, die um ungefähr die gleiche Zahl von
Stufen von den beiden Seitenfarben entfernt sei, da die Versuchs-
person, wenn sie nicht das Kohärenzverfahren anwenden durfte,
das ganze für „völligen Mumpitz" hielt, weil sie dann im Grunde
nur „die Assoziation darüber, wieviel Pigment wohl jeder einzelnen
Scheibe zugesetzt sein" möge, beurteile.
§ 13. Die Methode der psychischen Rucke.
Die Methode der psychischen Rucke zeigt zwei verschiedene
Anwendungsformen. Bei beiden läfst man den Blick von dem
einen Seitenkreisel über die mittlere Scheibe zum anderen wandern.
Dabei verspürt man entweder einmal bei einer der Scheiben
eraen Chok, eine Art inneren Sprunges, eine „ästhetische Ohr-
feige", wie die Versuchsperson K. K. sich ausdrückte, oder man
empfindet auf demselben Wege zweimal einen Ruck, das erste
Mal, sobald das Auge die mittlere Scheibe passiert, das zweite
Mal, sobald es die andere Seitenscheibe erreicht. Der Unter-
schied wird auf derjenigen Seite für gröfser erklärt, auf der man
beim Übergange von der Seitenscheibe zur Mittelscheibe oder
umgekehrt den einen Ruck bei der erstgenannten und den gröfseren
der beiden Rucke bei der letztgenannten Anwendungsform dieser
Methode verspürt.
Die letztere Form brauchte Herr Dr. Ach. bei den Fröbes-
schen Versuchen^, sie benutzt nach seinem Ausdruck „eine Ge-
fühlswirkung; von einer kollektiven Auffassung ist keine Rede".
Die andere Form dieser Methode habe ich im Laufe meiner
Untersuchung ziemlich häufig von den Beobachtern A., C, Ja.,
Ka., M. und Sch. dann anwenden lassen, wenn die s. M. schon
* 8. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie 86, S. 372 f.
6*
84 Siegfned Jacohsohn. (f)
mittels der Kohärenzmethode gefunden war. Natürlich tat ich
dies nur, wenn die Versuchspersonen nach einer Reihe von
Tagen, an denen sie ausschliefslich nach Kohärenz geurteilt
hatten, genügend Sicherheit im kollektiven Auffassen zeigten,
um durch die gelegentliche Einführung einer anderen Methode
nicht mehr verwirrt zu werden. Ich instruierte die Beobachter
dahin, die Augen nicht nur von der einen Seitenscheibe zur
anderen, sondern auch wieder zurück zur ersten wandern zu
lassen und auch dann „unentschieden" zu urteilen, wenn etwa
bei beiden Wegen das Resultat verschieden wäre. Dabei ergab
sich, dafs die Kohärenzmethode zwar manchmal zu den gleichen
Resultaten wie die in dieser Weise angewendete Methode der
psychischen Rucke führte, oft aber auch nicht.
Eine Kombination der Methode der psychischen Rucke mit
derjenigen der Farbenbänder erwähnt K. K. mit folgenden
Worten: „Erscheint mir das Farbenband einheitlich, d. h. in
seinen farbigen Abstufungen wie das Spektrum ineinander über-
gehend, ohne dafs man bei seiner Verfolgung an irgend einer
Stelle einen merklichen Ruck empfindet, so fälle ich das Urteil
„unentschieden" oder „gleich"."
§ 14. Die Kohärenzmethode.
Die Methode, für die ich mich entschied, war die der Ko-
härenz, über welche man Näheres bei G. E. Müller (Die Ge-
sichtspunkte imd die Tatsachen der psychophysischen Methodik,
S. 236 ff.) und bei Feoebes {Zeitschrift für Psydwlogie und Physio-
logie 36, S. 368 ff.) findet.
Es ist wahr, man vergleicht bei dieser Methode nicht eigent-
lich Qualitäts- oder Intensitätsunterschiede, aber ich wüfste keine
Methode, bei der man dies täte. Bei der Methode der psychischen
Rucke beobachtet man Gefühlswirkungen, man vergleicht also
nicht die Qualitäts- oder Intensitätsunterschiede der Farben,
mindestens nicht direkt, und dafs die Gefühlswirkungen allein
auf die Qualitäts- oder allein auf die Intensitätsunterschiede der
Farben zinrückzuführen seien und so indirekt eine Vergleichung
derselben ermöglichten, kann schwerlich behauptet werden. Besser
geeignet zur reinen Qualitätsvergleichung erscheint anfangs die
Methode der Farbenbänder, aber die Abstufung der Farbentöne
in einem solchen Bande ist doch wohl allzusehr durch Er-
fahrungen des Lebens bestimmt und überhaupt von zu prekärer
Über subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 85
Art, als dafs sie zur Grundlage reiner Qualitätsvergleichung
dienen könnte.
Doch angenommen, es gäbe Methoden zur Bestimmung
reiner Qualitäts-, Intensitäts-, Eindringlichkeits- und Helligkeits-
mitten, welche Mitte hätte ich dann finden lassen sollen? Nach
den, allerdings nicht auf irgend einer Methode fufsenden Angaben
von einigen meiner Versuchspersonen braucht die Qualitätsmitte
nicht mit der Eindringlichkeitsmitte (und jede von diesen nicht
mit der Kohärenzmitte) zusammen zu fallen, und auch die Hellig-
keitsmitte liegt mitunter an einer anderen Stelle. Nach der Wahl
der Kohärenzmethode konnte ich auf die Frage der Versuchs-
personen, welche von diesen Mitten sie finden sollten, antworten :
„Keine derselben! Sie sollen 2 Scheiben als Paar zusammen-
fassen und „gleich" oder „unentschieden" urteilen, sobald dies
auf beiden Seiten gleich leicht oder gleich schwer gelingt."
Dafs die Bildung bestimmter Komplexe von Farben durch die
Erfahrung des Lebens in verschiedenem Grade erleichtert wird,
soll nicht bestritten werden. Doch einerseits sind auch die beiden
anderen im vorstehenden besprochenen Methoden der Mitten-
findung nicht frei von Erfahrungselementen, andererseits werden
die Erfahrungen des Lebens, welche die kollektive Auffassung
beeinflussen sollen, schwerlich gerade bei Farbenscheiben ge-
sammelt worden sein, noch weniger gerade bei solchen, welche
bezüglich ihrer Gröfse und ihres gegenseitigen Abstandes mit
den bei meiner Versuchsanordnung benutzten Scheiben überein-
stimmten. Da nun aber bei der Kohärenzmethode die Form
der Komplexe eine grofse Rolle spielt und diese Form in der
Erfahrung nicht häufig vorgekommen sein wird, so ist der Ein-
flufs der Erfahrung des Lebens bei der Kohärenzmethode nicht
allzugrofs. Wäre er so stark gewesen, dafs er den Versuchs-
personen zum Bewufstsein gekommen wäre, so hätten sich unter
den zahllosen Farben andere, zur Untersuchung geeignetere
finden lassen müssen.
Prinzipiell liegt femer die Möglichkeit vor, dafs ästhetisches
Lustgefühl, welches sich an zwei Farben mit grofsem Unter-
schiede knüpft, dahin wirkt, die kollektive Auffassung derselben
zu begünstigen. Freilich mufs erst durch die Untersuchung selbst
festgestellt werden, ob dieser Einflufs ästhetischer Lustgefühle
auf den Kohärenzgrad verschiedener Farben auch dann bestehen
86 Siegfined Jacohsohn. (f)
bleibt, wenn die Versuchsperson unbekümmert um Lust oder
Unlust sorgfältig die Kohärenz prüft.
Das Kohärenzverfahren selbst zeigt verschiedene Arten der
Anwendung. Bei dem unmittelbaren Verfahren kommt
das Urteil mehr beim ersten Blick, nicht durch wiederholtes
prüfendes Vergleichen der Kohärenzgrade beider Paare zustande.
Beim ausprobierenden Verfahren kann man erstens so
vorgehen, dafs man jedes Paar für sich gesondert betrachtet und
die Leichtigkeit, mit der die Komplexbildung gelingt, direkt zum
Mafsstabe der Beurteilung nimmt. Man kann aber auch nach
Zusammenfassung des einen Paares zur dritten Scheibe hinüber-
blicken, indem man darauf acht gibt, ob die mittlere Scheibe
sich von selbst zur dritten gesellt, und dann die Gegenprobe
machen, indem man nach Zusammenfassung des zweiten Paares
zur ersten Scheibe hinüberblickt und abwartet, ob die mittlere
auch zu dieser hinüberläuft., mit ihr ein einheitliches Paar bildend.
Wie leicht und bald das Hinüberlaufen stattfindet, ist dabei von
grofser Bedeutung. Bei dem ausprobierenden Verfahren kann
man entweder alle drei Scheiben gleichzeitig sehen und immer
nur zwei von ihnen hauptsächlich beachten, oder man kann sich
so setzen, dafs man überhaupt nur zwei Scheiben auf einmal
sieht und die Vergleichung somit nach der Erinnerung stattfindet.^
Das Hinüberlaufen der mittleren Scheibe zur dritten habe
ich bei sehr kleinen Unterschieden, bei denen die kollektive Auf-
fassung der mittleren Scheibe mit jeder der beiden Seitenscheiben
sehr leicht von statten geht, stets beobachtet. Dagegen war bei
sehr grofsen Unterschieden, bei denen es nur mit Mühe gelingt,
zw^ei Scheiben zu einem Paare zusammenzuzwingen, von einem
solchen freiwilligen Hinüberlaufen der mittleren Scheibe bei mir
keine Rede. In diesen beiden extremen Fällen habe ich selbst
bei der strengsten Anwendung des ausprobierenden Kohärenz-
verfahrens einen Ruck in ähnlicher Weise, wie er bei der Methode
der psychischen Rucke beschrieben wurde, verspürt, wenn ich
nach Zusammenfassung des einen Paares zur dritten Scheibe
hinüberblickte. Das mein Urteil Entscheidende war bei kleinen
Unterschieden weniger die Leichtigkeit des Zusammenfassens je
' Diese letzte Art der Vergleichung fand im Gegensatze zu den übrigen
Versuchspersonen offenbar bei Ka. statt; denn Ka. gab an, das „Urteilen
fällt mir am leichtesten, wenn ich mich so setze, dafs ich von den drei
Scheiben immer nur zwei auf einmal sehe'*.
übet' subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 87
zweier Scheiben als nach der Zusammenfassung einerseits die
Leichtigkeit, mit der sich die mittlere Scheibe zur dritten gesellte,
und andererseits die Stärke des psychischen Ruckes, den ich beim
Hinüberlaufen der mittleren Scheibe empfand. Bei sehr grofsen
Unterschieden hingegen, die eintraten, als eine nicht auf den
Seitenkreiseln befindliche Farbe bei Herstellung der s. M. mit
verwendet wurde, war ich dadurch, dafs das Hinüberlaufen der
mittleren Scheibe fortfiel, darauf beschränkt, den Ruck und die
Leichtigkeit oder vielmehr Schwierigkeit, mit der die Komplex-
bildung gelingt, zu beobachten.
Wenn ich somit auch die Beurteilungsweise bei grofsen und
bei kleinen Intervallen etwas verschieden fand, so bemerkte ich
doch ebensowenig wie Ament ^ oder Angell eine Beurteilungs-
weise nach Unterschieden und nach Verhältnissen, von der
Merckel spricht.
Um die Kohärenzmethode richtig anzuwenden, ist es nicht
nötig, die schwierige Frage zu entscheiden, wie die Vergleichung
der Kohärenzgrade zustande kommt. Die Leichtigkeit (Schnellig-
keit ?; des Hinüberlaufens der mittleren Scheibe zur dritten sowie
der psychische Ruck beim Hinübersehen zur dritten Scheibe ist
schon erwähnt worden, vom absoluten Eindruck wird S. 206 die
Rede sein. Dafs daä Urteil sehr schwierig ist, wenn diese Fak-
toren unzuverlässig sind, werden wir S. 211 sehen. Wie es dann
zustande kommt, möchte ich offen lassen, nur will ich darüber
folgende Angabe der Versuchsperson Ka. erwähnen : „Das Urteil
scheint nicht aus einem Vergleich über die Zusammenfafsbarkeit
beider Seiten zu folgen, das wäre viel zu schwer, man urteilt
gewissermafsen nach den Wörtern „schwer auf dieser, leicht auf
jener Seite", oder vielmehr ich bilde mir keine Wortbezeich-
nungen, aber man hat das Gefühl, dafs es dort schwer oder
leicht war, und auf Grund dieses Gefühls urteile ich."
Eine Kombination der unmittelbaren Kohärenzmethode mit
der Methode der psychischen Rucke erwähnte der Beobachter A.
Nach seiner am Schlüsse des Versuchszyklus gemachten Aussage
wendete er (entgegen der Instruktion) fast immer, wenn er bei
kollektiver Auffassung keinen Unterschied mehr finden konnte,
noch die Methode der psychischen Rucke an. Dabei bemerkte
er oft noch einen Unterschied. Wenn er dann wieder kollektiv
» s. Philosophische Studien 16, S. 143.
88 Siegfried Jacobsohn, (f)
aufzufassen suchte, wurde ihm dieser Unterschied auch bei der
Kohärenzmethode deutUch. „Welche Methode schUefshch den
Ausschlag gab, war verschieden, es wurde so lange nicht „un-
entschieden" geurteilt, so lange in einer der beiden Methoden
noch ein Unterschied wahrgenommen wurde." Es ist beachtens-
wert, dafs für A. nach seiner wiederholt abgegebenen Aussage
die Methode der psychischen Rucke und das unmittelbare Ko-
härenzverfahren zu den gleichen Resultaten führten.
§ 15. Die Eindringlichkeit.
Bei seinen Versuchen über die Schätzung von Schallinten-
sitäten bemerkte Angell, dafs ein psychologischer Faktor, die
Erwartung, einen derartig grofsen Einflufs auf das Urteil hatte,
dafs es möglich war, „je nach dem Ausgangspunkte des mittleren
Reizes geometrisches, arithmetisches oder ein sonstiges Mittel zu
erhalten".^ Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es für die Be-
urteilung des Wertes oder Unwertes einer psychologischen
Experimentaluntersuchung ist, die das Urteil bestimmenden
Faktoren zu kennen. Nachdem ich im voraufgehenden die
Methoden der Mittenfindung, welche bei meinen Versuchen fest-
gestellt wurden, besprochen habe, werde ich daher im folgenden
die bei der Kohärenzmethode in Betracht -kommenden psycho-
logischen und physiologischen Faktoren erwähnen. Ich beginne
mit der Besprechung der Eindringlichkeit, weil diese auf die
Lage der s. M. einen besonders grofsen Einflufs hat.
Es zeigte sich bei meinen Versuchen, ebenso wie bei der
FKÖBESschen Untersuchung, dafs die eindringlichste Farbenscheibe
eine Tendenz hat, sich allein zu stellen.^ Manchen Versuchs-
personen schien es sogar, als träte sie aus der Ebene, in welcher
die drei Scheiben rotierten, heraus und deutlich näher an den
Beobachter heran.* Ist die eine Seitenscheibe im Vergleich zur
* 8. FhiUsophiBche Studien 7, S. 447.
^ Entsprechend erklärte z. B. C. an einem Übungstage „Man kann
kollektiv auffassen, wenn keine Scheibe die Aufmerksamkeit besonders auf
sich zieht. Ist dies aber der Fall, so springt die betreffende Scheibe ge-
wissermafseli heraus und läfst sich darum eben nicht mit der mittleren
kollektiv auffassen".
' M. erging es stets so, gelegentlich auch S. J. und Seh. bei Her-
stellung von Unterschiedsgleichungen, sowie Ja. bei den Eindringlichkeits-
bestimmungen. Ka.s Bemerkung bei den Eindringlichkeitsbestimmungen
„die blaue Scheibe" (das ist die weniger eindringliche) „erscheint kleiner
als die graue" gehört auch hierher.
iJber subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades, 89
anderen sehr eindringlich, so läfst sie sieh nur dann ebenso leicht
wie diese mit der mittleren Scheibe zu einem Paare vereinigen,
wenn die (aus beiden Seitenfarben zusammengesetzte) mittlere
Scheibe verhältnismäfsig viel von der eindringlicheren Farbe
enthält.^ Darin läge keine Schwierigkeit, wenn die Eindringlich-
keit einer Farbe konstant bliebe, aber sie ändert sich leicht, nicht
nur an den verschiedenen Versuchstagen-, sondern sogar im
Laufe einer Sitzung^, ja während eines einzelnen Versuches. Sie
kann nachlassen* durch Gewöhnung und zunehmen, z. B. durch
Steigerung der Dunkeladaptation* im Laufe einer Sitzung oder
dadurch, dafs es plötzlich auffällt, dafs sich die eine Seitenscheibe
* So z. B. sagte C. anläfslich der Versuche über die Unterschieds-
gleichung Rot und Orange „Beim Urteil „unentschieden" steht die mittlere
Scheibe dem Orange näher als dem Kot, wenn man sich gleiche Stufen
denkt, wohl weil das Orange durch seine Aufdringlichkeit sich
besonders leicht heraushebt, man sieht dann unwillkürlich
überhaupt nur das Orange".
* So z. B. erklärte C. an einem Übungstage, an welchem er zum
zweiten Male Unterschiedsgleichungen zwischen Grün und Grau t anstellte :
^Die grüne Scheibe erscheint heute nicht so leuchtend, wie gestern." Bei
den Versuchen über die Unterschiedsgleichung zwischen Rot und Orange
sagte er am zweiten Versuchstage, das Orange ist heute „weniger auf-
dringlich als gestern"; entsprechend benötigte er zur s. M. nur 119**,0 Orange
am zweiten gegen 127°,9 Orange am ersten Versuchstage.
* So z. B. sagte C. bei den Versuchen über die Unterschiedsgleichung
zwischen Rot und Orange: „Nach einer längeren Pause scheint es (das
Orange) mir mit einer ganz neuen Kraft ausgerüstet". Entsprechend
brauchte er zur s. M. 132® Orange bei dem ersten Versuche nach einer
Pause und nur 111® Orange bei dem letzten Versuche vor derselben.
* So z. B. erklärte M. bei dem letzten Doppelversuche des ersten Ver-
suchstages, welchen er den Experimenten über die Unterschiedsgleichung
zwischen Karmin und Grau t widmete, es scheine ihm, als hätte das Rot
im Laufe der Sitzung an Eindringlichkeit verloren. In der Tat hatte er
auch bei den ersten 6 Versuchen im Durchschnitt 209®,8 Karmin zur s. M.
benötigt, dagegen nur 182°,3 bei den letzten 2 Versuchen.
* So z. B. erklärte Ka. bei der Mittenfindung zwischen Rot von der
Helligkeit 83®! Weifs und Orange von der Helligkeit 179®,7 Weifs, dafs das
Orange im Laufe der Versuchsstunde immer eindringlicher geworden sei.
Er meinte daraus folgern zu können, dafs die mittlere Scheibe gegen Ende
der Sitzung mehr Orange beim Urteil „unentschieden" enthalten habe als
zu Anfang derselben. In der Tat war bei ihm der Orangegehalt der s. M.
von durchschnittlich 120®,3 bei den ersten 6 Versuchen auf durchschnittlich
130®,o bei den letzten 10 gestiegen.
90 Siegfried Jacohsohn. (f)
„viel stärker vom Hintergründe abhebt als die beiden anderen
Scheiben" (C).
Vor allem aber kann es geschehen, dafs statt derjenigen
Seitenscheibe, welche an sich die gröfsere Eindringlichkeit besitzt,
sich vielmehr diejenige von den übrigen absondert, deren quaü-
tativer Unterschied von den beiden anderen Scheiben derart ist,
dafs er sich auch im Namen der Farbe ausdrückt. Wenn z. B.
zwei Scheiben rot sind, die dritte aber grün ist, so kann die
grüne, selbst wenn sie an sich geringere Eindringlichkeit als die
rote Seitenscheibe besitzt, sich doch dadurch, dafs sie durch ihre
grüne Färbung in Gegensatz zu den beiden roten Scheiben tritt,
von denselben absondern und eindringlicher als sie erscheinen.^
Im allgemeinen hängt es von dem Typus der Versuchsperson
ab, ob die Kohärenzauffassung bei ihr mehr bestimmt wird durch
diese auf Qualitätsunterschieden beruhende Eindringlichkeit oder
durch die absolute Eindringlichkeit einer Farbe. Aber auch bei
ein und derselben Versuchsperson zeigen sich Schwankungen,
besonders wenn die sich in der Verschiedenheit des Namens
ausdrückende qualitative Abweichung einer Farbe plötzlich
zum Bewufötsein kommt.* Dieselbe kann allerdings durch Kon-
trast hervorgerufen oder gesteigert sein, und man weifs, dafs
darin eine Fehlerquelle liegt, die man möglichst vermeiden mufs.
Aber der Simultankontrast läfst sich nicht vermeiden, denn er
erreicht schon, gleich nachdem man die Augen geöffnet hat, sein
Maximum^: und den Sukzessivkontrast, der infolge von Augen-
* So z. B. gab S. J. bei den Versuchen über die Unterschiedsgleichung
zwischen Karmin und Grau t an: „Die graue Scheibe tritt allein hervor,
nicht weil sie gröfsere Eindringlichkeit hat — im Gegenteil, das Karmin
ist wohl eindringlicher — sondern weil sie eine andere (nämlich grüne)
Farbe als die beiden übrigen hat. Die Mitte mufs daher verhalt nismäfsig
viel Grau enthalten."
* So z. B. fiel Ka., als er bei den Versuchen über die ünterschieds-
gleichung zwischen 360 » Karmin und (270 <> Grün Nr. 3 -f 9G<> Karmin)
schon das Urteil abgegeben hatte, dafs der Kohärenzgrad auf beiden Seiten
gleich sei, plötzlich die grüne Färbung der einen Seitenscheibe so sehr auf,
dafs er sich genötigt sah, sein Urteil zurückzunehmen. Es tut hierbei
nichts zur Sache, dafs nach Abgabe des Urteils niemals mehr eine Ände-
rung in der Protokollierung desselben vorgenommen wurde. Dieses etwas
rigorose Verfahren war eingeführt worden, um den Versuchspersonen einen
Ansporn mehr zu andauernd sorgfältigster Prüfung vor Abgabe des Urteils
zu geben.
' 8. TscHERMAK, Ergebnisse der Physiologie, 2. Bd., 2. Abtlg., S. 748.
Vber subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 91
bewegungen eintritt, kann man durch möglichst kijrze Betrachtung
der Scheiben zwar einschränken, aber nicht ganz vermeiden, er
wird gerade dann am stärksten, wenn das Urteil ohnedies am
schwierigsten ist, weil das Finden desselben dann am längsten
dauert.
Von Versuchspersonen mit starkem Farbensinn werden Unter-
schiede in der QuaUtät der Farben mehr bemerkt werden als
von wenig farbentüchtigen Beobachtern. Auch die Eindringlich-
keit der bunten Farben wird bei jenen gröfser sein als bei diesen.
Soll also eine Unterschiedsgleichung zwischen einer Farbe und
einem Grau durch Mischung derselben hergestellt werden, so
tritt bei einer Versuchsperson, deren Farbensinn entweder all-
gemein oder bezüglich der in Betracht kommenden Farbe erhöht
ist, zweierlei ein. Erstens gibt die betreffende Farbe der farbigen
Seitenscheibe leicht eine hohe, sie isolierende Eindringlichkeit,
und zweitens ruft sie auf der grauen Seitenscheibe leicht einen
ungewöhnlich starken Kontrast hervor. Die Lage der s. M. ist
dann verschieden, je nachdem die kollektive Auffassung der
Versuchsperson mehr bestimmt wird dm-ch die quahtativen Unter-
schiede der drei Scheiben oder durch die absolute Eindringlich-
keit einer Farbe.
Der Vollständigkeit halber sei gleich hinzugefügt, dafs bei
farbentüchtigen Personen die Farbe gegenüber dem Grau ein
gröfseres Mischungsgewicht^ als bei farbenuntüchtigen besitzt.
Jene Versuchspersonen benötigen also für die s. M. eine geringere
Gradzahl der betreffenden Farbe als diese.
§ 16. Die Angleichung.
In seiner mehrfach genannten Abhandlung schrieb Fröbes
S. 374: „Einzig bei Rupp vertreten findet sich die sehr häufig
wiederholte Aussage, dafs die mittlere Scheibe ihre Helligkeit
zu ändern scheine, wenn sie mit der helleren oder dunkleren
Randscheibe zusammengefafst werde." Eine Erklärung für diese
Aussage gab Fröbes nicht, er schien gegen ihre Glaubwürdigkeit
Bedenken zu hegen. Es kann jedoch an ihrer Richtigkeit nicht
gezweifelt werden, nachdem bei meinen Versuchen C, Ka., M.
und S. J. eine ähnUche Erscheinung oft und sehr deutlich be-
obachtet haben. M. z. B. sagte bei den Versuchen zur Unter-
' Die Definition des Mischungsgewichtes s. 6. 70.
92 Siegfried Jacobsohn, (f)
schiedsgleichung Karmin und Grau: „Wenn ich die mittlere
Scheibe mit der roten zusammenfasse, erscheint sie deutlich röter,
als wenn ich sie mit der anderen zusammenfasse," und bei der
Herstellung der s. M. zwischen Karmin und Rotgelb: ,,Sehr
stark ausgeprägt war hier, dafs die mittlere Scheibe rot erscheint,
nur wenn ich sie mit der roten zusammenfasse, sonst merke ich
die Rötlichkeit kaum." Ebenso erklärte unabhängig davon Ka.:
„Die mittlere Scheibe erscheint bei zwei Zusammenfassungen
verschieden, nicht als dieselbe Scheibe, sie scheint mehr von
derjenigen Farbigkeit zu besitzen, mit der man sie zusammen-
Mst."
Diese Angleichung der mittleren Scheibe an die jeweils mit
ihr zusammengefafste Seitenscheibe repräsentiert sich den Ver-
suchspersonen als eine „Art psychischen Hineinsehens" (Ka.),
bei sorgfältiger Prüfung, an der aufser mir Herr Dr. Rupp teil-
nahm, erwies sie sich jedoch als eine physiologische Umstimmungs-
erscheinung. Blickt man z. B. bei Versuchen über die Unter-
schiedsgleichung zwischen Rot und Grau nach Zusammenfassung
der beiden roten Scheiben auf das andere Paar, von dem die
Seitenscheibe durch Kontrast grünUch aussieht, so fällt das
negative grüne Nachbild der am meisten roten Scheibe auf die
mittlere, ihre Rötlichkeit schwächend. Kleine Änderungen des
Aussehens, die durch Blickschwankungen oder durch das Nach-
lassen der Umstimmung entstehen, entziehen sich um so leichter
der Wahrnehmung, als die Aufmerksamkeit nicht auf diese,
sondern auf die Vergleichung der Kohärenz gerichtet ist. So
entsteht der Eindruck, als pafste sich die mittlere Scheibe der
grünen psychologisch, nicht aus physiologischen Gründen an,
luid dieser Eindruck ist so stark, dafs eine Versuchsperson (Ka.),
als ihr bei der entsprechenden Beobachtung die Erklärung der
Angleichung aus negativen Nachbildern mit der Aufforderung
gegeben wurde, die in Betracht kommende Fehlerquelle durch
häufiges Augenschliefsen möglichst zu vermeiden, die Richtigkeit
der Erklärung bestritt, bis auch sie sich davon überzeugte.
Ist also die Angleichung eine Nachbilderscheinung, so mufs
sie sich bei kurzer Betrachtung der Scheiben weniger als bei
langer und bei dem unmittelbaren Kohärenzverfahren, wenn
überhaupt, so doch weniger als bei dem ausprobierenden bemerk-
bar machen. Deshalb bestimmte die Instruktion, dafs die Ver-
suchspersonen die Scheiben nicht lange fixieren sollten, sondern,
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Ghund ihres Kohäre^izg^-ades. 93
wenn sie viel Zeit zur Gewinnung eines Urteils brauchten, häufig
die Augen schlössen.
Dafs langes Fixieren sowohl die Entstehung starker Nachbilder be-
günstigt als aach den Unterschied der beiden zusammengefafsten Scheiben
verringert, wird gut durch eine Selbstbeobachtung illustriert, welche K. K.
abgab, als durch Mischung von Karmin und Grau t die s. M. hergestellt
werden sollte zwischen einer je 180^ Grau Nr. 4 und Karmin enthaltenden
Scheibe und einer Scheibe, bei der sich das Karmin über alle 360® erstreckte.
Er erklärte, indem er die drei Scheiben mit A, B und bezeichnete:
„Fasse ich A und B zusammen, so erscheint mir bei längerer Betrachtung
der Unterschied zwischen A und B sehr klein, so dafs ich schon das Urteil
,.kleiner" auf Grund dieser beiden allein abzugeben bereit bin; das wird
noch bestärkt, wenn ich nun plötzlich B und C ins Auge fasse, bei denen
mir der Unterschied merklich gröfser zu sein scheint. Fasse ich dann
aber B und C längere Zeit zusammen, so erscheint mir hier der Unter-
schied ebenfalls sehr klein, dagegen erscheint mir nun der Unterschied
zwischen A und B gröfser, so dafs ich das Urteil ,, kleiner" für B und C
fällen könnte." Derartige Angaben, wie sie auch von S. J. vorliegen, er-
klären sich gleichfalls physiologisch aus Umstimmung des Sehorgans, und
zwar ist das Kleinerwerden des Unterschiedes bei längerer Betrachtung
hervorgerufen durch Verbrauch der Sehstoffe (Ermüdung) und das Gröfser-
erscheinen beim Hinübersehen zur dritten Scheibe durch negative Nach-
bilder.
Die Angleichung tritt bei dem ausprobierenden Kohärenz-
verfahren, wenn die Versuchsperson nicht die Gegenprobe macht,
nur auf einer Seite ein. Infolgedessen wird bei diesem Vorgehen
die s. M., wenn sie durch Mischung der Seitenfarben hergestellt
wird, zu wenig derjenigen Seitenfarbe angenähert, an welche die
Angleichung der mittleren Scheibe stattfindet, oder anders aus-
gedrückt, die s. M. liegt bei diesem Vorgehen derjenigen Seiten-
farbe zu nahe, von welcher der Beobachter bei der kollektiven
Auffassung mit der mittleren Scheibe ausgeht. Geht also der
Beobachter bei der paarweisen Auffassung zweier Scheiben stets
von demjenigen der beiden Paare aus, dessen Scheiben zu Anfang
des Versuches den gröfseren Unterschied (die geringere Kohärenz)
aufw^eisen, so liegt die s. M. der Seitenfarbe dieses Paares zu
nahe, d. h. das Urteil „unentschieden" wird zu spät gefällt, so
dafs sich bei dem auf- und absteigenden Verfahren die Urteile
über die Lage der s. M. kreuzen. Geht andererseits der Be-
obachter stets von demjenigen der beiden Paare aus, dessen
Scheiben zu Anfang des Versuches den kleineren Farbenunter-
schied zeigen, so liegt die s. M. der Seitenfarbe dieses Paares zu
nahe, d. h. das Urteil „unentschieden" wird zu früh gefällt, und
94 Siegfried Jacohsohn, (f)
es tritt keine Kreuzung der Urteile ein. Um den Einflufs der
Angleichung auf die Lage der s. M. einzuschränken, verlangte
die Instruktion, dafs stets die Gegenprobe gemacht werde.
§ 17. Die ästhetische Lust.
Über den Einflufs ästhetischer Lust- und Unlustgefühle liegen
von Seiten meiner Versuchspersonen nur wenige Selbstbeobach-
tungen vor.
Als ScH. an einem Übungstage Versuche über die Unter-
schiedsgleichung zwischen Blau und Grau t anstellte, erklärte er
es „liefs sich die mittlere, ziemlich blaue Scheibe mit der ent-
schieden gelben^ leichter vereinigen als mit der blauen; die
Farbenzusammenstellung mattblau- mattgelb erweckte starkes
Wohlgefallen, am liebsten würde ich jemand ein Kleid davon
kaufen^, während die blaue Seitenscheibe mir direkt ekelhaft
war". Es wäre hiemach anzunehmen, dafs ästhetisches Lust-
gefühl, welches sich an zwei in ihrer Farbigkeit sehr verschiedene
Scheiben knüpft, die kollektive Auffassung derselben begünstigt.
Um dies mit Sicherheit behaupten zu können, müfsten mehr
Beobachtungen darüber vorliegen. Ich kann darüber nur noch
zwei Angaben von S. J. mitteilen.
Bei einem Versuche über die Unterschiedsgleichung zwischen
Karmin und Grau t, bei dem der Karmingehalt der aus den
beiden Seitenfarben zusammengesetzten mittleren Scheibe immer
mehr verringert wurde, sagte S. J., als die mittlere Scheibe noch
sehr viel Karrain enthielt und die graue Scheibe durch Kontrast
grün aussah: „Diese Zusammenstellung des intensiven Grün mit
dem intensiven Rot verursachte ein ästhetisches Lustgefühl und
schien zu bewirken, dafs die beiden vollkommen disparaten
Scheiben sich sehr leicht zusammenfassen hefsen, nicht schwerer
als die beiden roten, welche letzteren gar keine Gefühle aus-
lösten." Ganz sicher erschien S. J. diese Beobachtung nicht.
Er urteilte deshalb an der betreffenden Stelle nicht „unent-
schieden" und beobachtete bei der Verminderung des Karmin-
gehaltes der mittleren Scheibe im Fortgange des Versuches
* Die graue Seiten scheibe war durch Kontrast gelb.
* Die Versuchsperson erinnerte sich nicht, diese Farbenzusammen-
Stellung einmal gesehen zu haben, also lag kein bewufst assoziatives
Moment vor.
über tubjfktive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades, 95
ästhetische Lust nicht mehr. Er empfand sie nur noch einmal,
als die s. M. von Karmin und Grau t durch Mischung des
Karmin und des Grau Nr. 4 in der Weise hergestellt wurde,
dafs sich das Karmin der mittleren Scheibe auf Kosten des Grau
Nr. 4 ausdehnte. Er sagte bei diesem Versuche : „Mit viel mehr
ästhetischem Vergnügen betrachtete ich das Paar des tief ge-
sättigten Rot und des reinen leuchtenden Weifs, ja das andere
Paar war mir fast widerwärtig mit seinem schmutzigen Grau.
Dennoch muTs ich sagen, dafs die Zusammenfassung der weifsen
mit der grauen Scheibe, obwohl sie unangenehmer war, doch
etwas leichter von statten ging als die der weifsen mit der roten,
ich bemerkte dies besonders an dem Ruck beim Hinübersehen
zur dritten Scheibe."
(Schlufs folgt.)
96
Literaturbericht.
w. V. Bechtebew. Die biologische Bedeatnng der Psyche and die Rolle der
psychischen Auslese. Joum. f. Psychol. u. Neurol 5 (6), 212-234. 1905.
Wir nennen ein Wesen beseelt, wenn seine Reaktionen „abhängig nicht
so sehr von dem Charakter der den Organismus treffenden Wirkungen als
vielmehr von inneren Anlassen und innerer Bearbeitung der äufseren Reize"
sind. Nimmt man diese Definition an, so «gibt es in der Welt keine lebende
Substanz ohne Psyche". Da die aktiven Erscheinungen jener inneren Be-
arbeitung für diese charakteristisch sind, und diese selbst wieder für unsere
eigene Psyche charakteristisch ist, so können wir „der aktiven Äufserungen
der Organismen uns bedienen als Index für Grad und Qualität jener inneren
Verarbeitung". Da wir „mit dem allmählichen Aufsteigen von niederen
"Tierordnungen zu höheren im allgemeinen auch eine gröfsere Mannig-
faltigkeit der Aktivität" konstatieren können, so schliefsen wir daraus, dafs
damit „auch eine höhere Entwicklung der Psyche" Hand in Hand geht.
Jedoch gilt dies nur dann, wenn wir als einen „allgemein gültigen Mafsstab
für die Vervollkommnung der Artorganisation den Grad der Differenzierung
und Entwicklung der Sinnes- und Bewegungsorgane" betrachten, womit
— bei den Tieren mit Nervensystem — „der Grad der Konzentration des
Nervensystems im Sinne einer stärkeren oder schwächeren Ausbildung des
höchsten Zentralorgans" identisch ist. „Jede einzelne Art mufs also in
ihrer historischen Entwicklung einen Parallelismus darstellen zwischen
qualitativ-physischer Entfaltung im Sinne gröfserer oder geringerer Voll-
kommenheit und qualitativer Entwicklung der psychischen Funktionen".
In der Geschichte der Menschheit läfst dieser Parallelismus sich in der
Tat nachweisen.
Zur Erklärung der Tatsache, dafs wir „in der Tierwelt die Arten sich
physisch und psychisch schrittweise vervollkommnen sehen, von den
Protisten bis hinauf zum Menschen, sich vervollkommnen nicht im Sinne
gröfserer Anpassungsfähigkeit, sondern im Sinne qualitativer Evolution,
sich äufsernd in fortschreitender Differenzierung der Sinnes- und Bewegungs-
organe und entsprechender psychischer Entfaltung", genügt die natürliche
Zuchtwahl nicht. Dagegen ist die Übung ein Mittel, das einerseits zur
Vervollkommnung der Sinnes- und Bewegungsorgane dient, andererseits
teils dadurch, teils direkt fördernd auf die Entwicklung der Psyche ein-
wirkt. Aber auch die Anpassung selbst als eine Folge der natürlichen
Zuchtwahl ist nicht auf das physische Gebiet beschränkt. Der Farben-
Liieraturbencht 97
Wechsel und der Scheintod mancher Tiere sind Beispiele dafür, ,,dars die
unmittelbare Einwirkung der Psyche auf die Sphäre des Körperlichen nicht
ignoriert werden darf unter den Faktoren, die auf die Anpassung der Orga-
nismen von Einflufs sind*'. Ferner finden sich ^^Anpassungen von Orga-
nismen an die Bedingungen der umgebenden Natur, Anpassungen, denen
bereits ein aktives Verhalten gegenüber der umgebenden AuTsenwelt,
und zwar ein psychisch bedingtes zugrunde liegt", Anpassungen, die
bestehen in einer „Ausnutzung der vorigen Versuche und individueller Wahl
der Bewegung'*. „Aufser solcher aktiver Anpassung an die Bedingungen
der Umgebung spielt in der Tierwelt eine grofse Rolle Modifikation der
Bedingungen der Aufsenwelt im Interesse der eigenen Existenz bzw. ent-
sprechend den Bedürfnissen der eigenen Organisation''. Spielt die
physische Anpassung vielleicht im eigentlichen Kampfe ums Dasein,
d. h. in „der Konkurrenz von Organismen mit anderen oder von ganzen
ganzen Arten untereinander" die Hauptrolle, so ist die psychische An-
passung, worunter die aktive Anpassung und die zweckmäfsige Modifikation
der Verhältnisse der umgebenden Natur zu verstehen sind, jedenfalls aus-
schlaggebend im Kampfe mit dem Milieu. Die Folge dieses Kampfes ist
also eine psychische Zuchtwahl. Dafs die psychische Zuchtwahl das
schliefsliche Resultat mehr als die natürliche Zuchtwahl bestimmt, zeigt
das Beispiel des Menschen, der die Krone der Schöpfung ist, ohne doch
„SLin vollkommensten ausgerüstet zu sein im physischen Kampfe mit seinen
Feinden und den Schäden der Aufsenwelt".
Selbstverständlich können die Ergebnisse der psychischen Zuchtwahl
nur dann für die Artenvervollkommnung von Nutzen sein, wenn sie als
dauernder Besitz an die Nachkommenschaft übergehen. Das geschieht
durch Vererbung, wahrscheinlich auch erworbener Eigenschaften, und
durch Erziehung, zum mindesten durch eine unvollkommene Form der
Erziehung, die Nachahmung. Die psychische Vererbung spielt darum
— besonders beim Menschen — eine so aufserordentliche Rolle, weil geistige
Schöpfungen nicht nur den physischen Nachkommen zugute kommen,
sondern zum Besitze ganzer Reihen von Generationen werden können.
LiFMANK.
Theodqr Lipps. BewQfstsela and Gegenstände. Psychol. Untersuchungen
hrsg. von Th. Lipps 1 (1), 1—203. 1905.
Wie bekannt, ist mit dem Ausdruck „Gegenstand" von Lipps auf eine
eigenartige, in sich selbst rätselhafte Erscheinung hingewiesen, deren nach-
drückliche Konstatierung zu den wertvollsten Besitztümern der Psychologie
gehört. Gemeint ist die Tatsache, dafs mir, der ich mir doch nur meiner
Bewufsteeinserlebnisse bewufst sein kann, in eben diesen Bewufstseins-
erlebnissen Dinge entgegentreten, die sich gleichwohl als etwas von meinem
Erleben völlig Unabhängiges darstellen und mit dem Anspruch auftreten, von
mir in dieser Eigenschaft auch anerkannt zu werden. — Es handelt sich um eine
Eweifellose psychologische Tatsache — ich habe das deutliche Bewufstsein,
dafs die Lampe vor mir auf dem Tisch so gedacht werden mufs wie sie
ist und nicht anders — ; aber es ist mit der Einsicht in diesen Sachverhalt auch
«ine Gefahr nahe gelegt, welche für die Psychologie verhängnisvoll werden
Zeitschrift für Psychologie 43. 7
98 Literaturberidit
könnte. Wenn die „Gegenst&nde'' als loegeldst von meinem Bewafsteein
vor mir stehen nnd eelbBtherrlich die Art ihres Daseins „f ordern", so ist
ftlr unser Welterkennen offenbar nichts weiter nOtig, als lediglich auf diese
Forderungen zu horchen, sie in ein einheitliches System zu ordnen und
Bchliefslich zu einer allgemeinsten, alle anderen umfassenden Forderung
als dem letzten Sinn alles Seins oder dem tJ>^S ^'^ sich** zu gelangen.
— L1FP8 nun hat diesen Weg betreten. Ist er an sich schon bedenklich, so
müfste man ihn um so mehr meiden in einer Wissenschaft, die, in ihren
Anfängen stehend, um ihre Daseinsberechtigung mflhsam noch zu ringen
hat. Zur Kritik des in Frage stehenden Verfahrens sei hier so viel gesagt:
Richtet etwas, das „Gegenstand" ist, an mich eine „Forderung", etwa die,
es als rot zu denken, so ist das Bewufstseinsphftnomen freilich dies, dafs
das Rot des Gegenstandes, obgleich nur von mir gedacht oder erlebt,
gleichwohl an sich selber zu bestehen scheint; dies hindert aber nicht
die tiefere Einsicht, dais der Gegenstand, der für mich Gegenstand ist,
doch auch nur von mir und meinesgleichen fordert, ihn als rot zu denken,
dafs also die Existenz des roten Gegenstandes ebensowohl durch mich
als durch ihn selber bedingt ist Und wenn der Gegenstand beansprucht
als wirklich gedacht zu werden, so fordert er auch dies nur unter der
Voraussetzung eines denkenden Bewußtseins, d. h. die Wirklichkeit
des Gegenstandes besteht ebenso wie seine Eigenschaft des Rot nur unter
der gleichzeitigen Voraussetzung eines postulierten, aber gänzlich unbe-
kannten Etwas und meines BewuTsteeins ; der Gegenstand ist, so wie er
nur für mich Gegenstand ist, so auch nur für mich wirklich. — Wie
man aber auch immer Stellung nehmen mag zu solch konstruktiver Meta-
physik, auf jeden Fall wäre es, denke ich, gut, auf sie Verzicht zu tun, wo
von psychologischen Problemen die Rede ist, und so wird man es auch
entschuldigt finden, wenn wir uns an d i e s e r Stelle ausschliefslich mit dem
psychologischen Teil der Abhandlung beschäftigen und den metaphysischen
in den Hintergrund treten lassen. —
Mehrfach hat Lipps seiner Theorie der Gegenstände schon Ausdruck
verliehen, und vielleicht bringt dem gegenüber die vorliegende Abhandlung
wenig Neues. Wohl findet der eine oder andere Punkt hier stärkere Be>
tonung und eingehendere Begründung als bisher der Fall gewesen, auch
scheint es, dafs in einigen untergeordneten Fragen Lipps zu einer von seiner
bisherigen abweichenden Ansicht gelangt ist. Zum erstenmal aber unter-
nimmt es der Verf. in dieser jüngsten Erscheinung, die Bedeutung der
„Gegenstände'' im psychischen Leben in zusammenfassender Behandlung
darzustellen und nachzuweisen, wie alle Entwicklung im intellektuellen und
ethischen Sinn ein Aufsteigen ist zu bewu/sterem, umfassenderem Denken
von „Gegenständen". — Im einzelnen bringen die 15 Abschnitte des Buches
folgende Hauptgedanken.
1. Kapitel. Bewufstseinserlebnisse und Inhalte. — Wenn ich ein Be-
wufstseinserlebnis , etwa den Empfindungs- oder Vorstellungsinhalt Blau
habe, so schlieüst dies zweierlei in sich: ich erlebe den Bewufstseinsinhalt,
dieser selber aber (Blau) ist erlebt. Da ich auch vom Erleben des Be-
wufstseinsinhaltes ein Bewufstsein habe, dieses somit ebenfalls Inhalt ist^
Literaturbericht. 99
80 wird auch dieses Erleben erlebt. Aber für dieses Erlebtwerden wiederum
ein ihm entgegenstehendes Erleben annehmen, würde eine endlose Reihe
von Erlebnissen involvieren, so dafs wir uns bei der Tatsache beruhigen
müssen, dafs unser Erleben (Fühlen, Tätigsein) stets zu gleicher Zeit Erleben
nnd Erlebtwerden ist. Im Erleben ist nun stets auch das Ich enthalten,
welches erlebt, und somit wird in allen BewuTstseinserlebnissen jederzeit
auch das erlebende Ich selber erlebt, — nicht ein transzendentes, sondern
das jedermann wohlbekannte Ich seines Bewufstseins.
2. Kapitel. Das Denken und die Gegenstände. — Etwas höchst Sonder-
bares begibt sich nun, wenn ich speziell auf den Inhalt des von mir
Erlebten, z. B. auf das Blau „als solches" achte: das, was erst nur mein
Erlebnis war, tritt mir jetzt gegenüber als etwas von mir Unabhängiges,
als „Gegenstand'^ (Gegen-stand). In solcher Weise kann alles, was BewuTst-
seinsinhalt ist, also das Erleben selber zum Gegenstand erhoben d. h. vom
Erleben des Ich losgelöst werden. Der Wandel aber tritt ein, wenn ich
mich dem Erlebten innerlich zuwende d. h. meine Aufmerksamkeit darauf
lenke; steht mir dann der Gegenstand gegenüber, so ist nicht mehr von
bloÜBem Erleben die Rede, sondern ich denke den Gegenstand. Jenes
Sich-Zuwenden ist eine Tätigkeit, das Denken der Abschlufs derselben,
nicht selber eigentliche Tätigkeit. Lipps bezeichnet es deshalb mit dem
besonderen Namen eines Aktes; Akt und Tätigkeit aber verhalten sich
zueinander wie Punkt und Linie. Die Zuwendung vollzieht sich allmäh-
lich, der Gegenstand aber tritt mit einem Mal vor mich, einem Inhalt
kann ich mich mehr oder weniger intensiv zuwenden, ein Gegenstand aber
kann nicht mehr oder weniger gedacht sein. Jedoch wäre es verkehrt,
von einer Umwandlung des Inhaltes in den Gegenstand zu reden, — da
der Inhalt (Blau) nicht verschwindet, wenn ich den Gegenstand (Blau)
denke — , sondern ich nehme, indem ich denke, aus dem Inhalt den Gegen-
stand heraus, — der deshalb implizite schon vorher in ihm gelegen haben
muTs. Dabei sind Inhalt und Gegenstand zunächst inhaltlich identisch, eine
Verschiedenheit tritt erst ein, wenn ich etwa in meinem Bewufstsein das
abgeblafste Bild einer Vorstellung habe, in diesem Vorstellungsbild aber
den früher wahrgenommenen Gegenstand denke. Aber deswegen sind doch
für mich Inhalt und Gegenstand nicht numerisch auseinandergerückt:
ich weifs nur von dem einen Blau, welches ich in dem Inhalt meiner
Empfindung oder Vorstellung denke. —
Hierzu nun möchte ich folgende Bemerkungen machen. Wenn der Ver-
gleich mit der Linie und dem Punkt richtig ist, dann wäre zu bedenken,
dafis der Punkt in jedem Teil der Linie vorhanden ist, somit auch das
Denken schon in jedem Teil der Zuwendung enthalten sein mufs. Es will
mir scheinen, als ob die scharfe Grenze zwischen dem Beachten (des blofs
Erlebten) und dem Denken (des „Gegenstandes'') in Wahrheit nicht besteht,
daXis ich vielmehr, wenn ich auf „das Blau als solches'' oder „das Blau
selbst achte, eben damit schon auf den Gegenstand achte (sprachlich
liegt dies in den Wörtchen „selbst" oder „als solches"). Wenn ich auf
irgend ein Erlebnis meine Aufmerksamkeit lenke, so übe ich damit eine
Tätigkeit aus; da es aber keine Tätigkeit gibt — wie der weitere Verlauf
7*
1 00 LiteratuA-berich t.
der Abhandlung zeigt — , die nicht durch einen „Gegenstand" gefordert
wäre, mag mir dieser selber auch nicht zu BewuTstsein kommen, so trete
ich dem „Gegenstand" schon gegenüber, wenn und indem ich die Aufmerk-
samkeit auf ihn lenke. Und er tritt meinem Bewufstsein deutlicher und
bestimmter als Gegenstand d. h. als von mir unabhängig gegenüber, in dem
Mafse als ich mich ihm zuwende. Danach hätte es also zwar keinen Sinn
zu sagen, dafs der Gegenstand durch die Zuwendung in höherem Grade
Gegenstand wird, aber es scheint Tatsache, dafs er durch die Zuwendung
für mein Bewufstsein allmählich entschiedener als Gegenstand vor mein
inneres Auge tritt. Gleichwohl fallen die Begriffe Denken und Beachten
nicht in eines zusammen. Das Beachten bezeichnet den allmählichen Fort-
gang zu gröfserer Bewufstheit, das Denken das Bezogensein auf den Gegen-
stand mit dem Grad von Bewufstheit, den ich im jeweiligen Moment erreicht
habe, Beachten ist Tätigkeit und Bewegung, Denken ein Zustand und Buhe-
punkt.
3. Kapitel. Inhalt und Gegenstand. „Wahrnehmung" und „Vorstellung".
— Der erste Teil dürfte kaum etwas Neues hinzufügen zu dem schon im
Leitfaden Gesagten : Der Gegenstand wird „repräsentiert" durch den Inhalt,
der zu ihm in symbolischer Beziehung steht. — Nicht jeder Inhalt reprä-
sentiert einen Gegenstand, aber ein Gegenstand kann nicht ohne Inhalt
gedacht werden, gleichviel wie dieser Inhalt beschaffen sei. — Der zweite
Teil der Überschrift bezieht sich auf eine kritische Betrachtung der Begriffe
Wahrnehmung und Vorstellung. Lipps unterscheidet drei verschiedene
Arten möglicher und üblicher Anwendung derselben, wonach wir sagen,
dafs wir einen Inhalt oder einen „Gegenstand" oder etwas Wirk-
liches wahrnehmen bzw. vorstellen (vgl. Leitfaden S. 55).
4. Kapitel. Die innere Wahrnehmung und die Identität des Ich. —
Die innere Wahrnehmung besteht darin, dafs ich mein eigenes Erleben zum
Gegenstand meines Denkens mache. Diese innere Wahrnehmung also ist
jederzeit ein Denken und sie ist jederzeit das Denken von einem wirklich
Existierenden, d. h. mein früheres Erleben besteht unabhängig davon, ob
ich es jetzt denke oder nicht (2. u. 3. Moment der Wahrnehmung im oben
angegebenen Sinn). Sie ist aber nie das Denken von einem gleichzeitig
Existierenden, sondern nur möglich in der rückschauenden Betrachtang.
Denn fühle ich z. B. Lust an einer Sache, so fühle ich sie eben nur so
lange, als ich die Sache mir gegenwärtige halte, und sie verschwindet,
sowie ich meine Aufmerksamkeit von der Sache weg auf irgend einen
anderen Gegenstand, z. B mein Lustgefühl hinlenke. Auch die unmittelbar
rückschauende Selbstbetrachtung ist rückschauend, ist Erinnerung, nur
dafs die Erinnerung hier nicht längst Entschwundenes zurückruft, sondern
Erlebnisse, die eben im Entschwinden begriffen sind, weiter festhält. — Da
in aller inneren Wahrnehmung meinem gegenwärtigen Ich das Ich eines
vergangenen Momentes entgegentritt und beide miteinander identisch sind,
so erlebe ich offenbar das gegenwärtige Ich im vergangenen und das ver-
gangene im gegenwärtigen. Es besteht sonach die Tendenz des vorgestellten
vergangenen Erlebnisses zum erneuten gegenwärtigen zu werden und die
Tendenz verwirklicht sich in dem Mafse, als ich mein vergangenes Ich
denke und denkend betrachte (S. 47).
Literaturbericht. 101
Zunächst fällt auf, daTs Lipps hiermit seine eigene Behauptung wieder
umstölst, nach der es eine Intensitätsabstufung des Denkens nicht geben
soll. Noch mehr aber fällt der eigenartige Widerspruch auf, der darin
liegt, dafs das ,,Denken und denkende Betrachten" (als entgegengesetzt
dem tatsächlichen Erleben) darin gipfeln soll, in sein Gegenteil, ins wirk-
liche Erleben umzuschlagen und damit sich selbst zu vernichten. — Ich
denke, der Widerspruch löst sich, wenn wir den Begriff der inneren Wahr-
nehmung ändern und anerkennen, dafs sie keineswegs immer ein deut-
liches „Denken" ist, sondern ebensowohl auch in dem vorwiegenden Haben
eines Vorstellungsinhaltes bestehen kann. Während ich etwa jetzt bei
meiner Arbeit sitze, schiefst mir plötzlich die Erinnerung an irgend eine
Gefühlslage durch den Kopf, in der ich mich früher einmal befunden, aber
ich achte nicht darauf und das Erlebnis wird nicht zum „Gegenstand":
d. h. ich komme nicht oder nur undeutlich zu dem Bewufstsein eines
von meinem jetzigen Erleben unabhängigen Etwas. Nicht minder scheint
auch der Begriff der Wirklichkeit als Eigenschaft des innerlich Wahr-
genommenen unhaltbar zu sein; oder vielmehr der Ausdruck innere
Wahrnehmung ist nicht eben glücklich gewählt, sofern er alles Nicht-
wirkliche, alle Phantasievorstellungen von vornherein ausscheidet. Viel-
leicht wäre es besser, statt dessen von Selbst vor Stellungen im allgemeinen
und des näheren von Selbsterinnerungen und Selbstphantasievorstellungen
zu sprechen.
5. Kapitel. Das Urteil. Die Deukbarkeitsurteile. — Indem ich den
Gegenstand denke, habe ich zunächst nur das Bewufstsein, dafs mir etwas
gegenüberstehe, nicht aber was dasselbe sei. Die apperzeptive Tätigkeit
nun, die an das „Denken" sich reiht, zielt auf eben dieses Was des Gegen-
standes und findet einen vorläufigen Abschlufs, wenn ich das Bewufstsein
gewinne, dafs der Gegenstand als dieser oder jener zu gelten beanspruche.
Dieses Geltungsbewufstsein ist ein Urteil, der Geltungsanspruch des Gegen-
standes eine „Forderung". Zu der Forderung aber kann ich verschieden
Stellung nehmen : entweder anerkennend oder ablehnend. Damit nun fälle
ich wieder ein Urteil, nur in einem anderen Sinn als dem eben gebrauchten :
mein Urteil jetzt ist die Anerkennung, welche ich der Gegenstands-
forderung zuteil werden lasse. — Die Forderungen und damit die Urteile
im erstgenannten Sinn sind jederzeit gültig, die Begriffe Wahr und Falsch
sind nur anwendbar auf das Urteil in der zweiten Bedeutung des Wortes. —
Wenn ich von einem kreisförmigen Quadrat rede, so meine ich etwas, habe
also einen Gegenstand vor mir, soweit es auf mein eigenes Denken ankommt;
aber dieser Gegenstand verbietet mir, ihn zu denken, d. h. er ist undenkbar.
Hiervon zu unterscheiden ist der Fall, wo der Wirklichkeitszusammenhang
es ausschliefst den Gregenstand zu denken. Auf diesen Unterschied gründet
sich die Unterscheidung der (qualitativen oder) apriorischen und der
empirischen Möglichkeits- und Unmöglichkeitsurteile.
6. Kapitel. Urteile über Gegenstände. — Wenn ich einen „Gegenstand"
„denke", so bedeutet dies einmal, dafs ich einem von mir unabhängigen,
von mir geschiedenen Etwas gegenüberstehe, und zweitens, dafs ich zu
demselben in Beziehung trete, eben indem ich es denkend erfasse. Nach
102 LiteraturbericJit
diesen beiden Richtungen seiner Daseinsweise stellt der Gegenstand Forde-
rungen an mich, logische und affektive. Die affektive Forderung besteht
darin, dafs der Gegenstand eine quantitativ und qualitativ bestimmte Auf-
fassungstätigkeit von mir verlangt; das Bewufstsein dieser Forderung ist
WertbewuTstsein, die Anerkennung derselben ein Werturteil. Ein solches
Urteil aber kann ich vollziehen, ohne daCs der Gegenstand überhaupt
forderte, als wirklich gedacht zu werden (z. B. Phantasiegegenstände). Eine
logische Forderung andererseits ist es, wenn der Gegenstand fordert, als
wirklich zu gelten d. h. gedacht zu werden; die Anerkennung dieser
Forderung ist ein Ezistenzial- oder Wirklichkeitsurteil. Neben die Existenzial-
urteile aber treten nun noch als weitere Hauptgruppen von Verstandes-
urteilen die Urteile über objektive Zusammenhänge („der Baum steht neben
dem Haus") und über Verhältnisse unter der Voraussetzung simultaner
Setzung (Gleichheit usw.), wozu auch die Zahlenurteile gehören. — Es ist
dies die nämliche Einteilung, die wir auch im „Leitfaden" antreffen. Doch
ist beachtenswert, daCs Lipps die Urteile über räumliche Beziehung dort
unter die „reinen Relationsurteile" (= unserer 3. Klasse), hier aber augen-
scheinlich unter die Urteile über objektive Zusammengehörigkeit zählt.
Und in der Tat, was sollte auch das Kriterion bilden, wonach wir die
beiden Klassen auseinander halten sollen?
7. Kapitel. Die „Forderungen" der Gegenstände. — Gegenstände und
ebenso die Forderungen der Gegenstände sind nichts i n mir, sind keine
psychologischen Tatsachen, und können somit auch nichts in mir wirken.
Es mag sein, dafs ich beim Forderungserlebnis einer Nötigung unterliege,
aber diese Nötigung ist nicht die Forderung, welche vielmehr eine Bewufst-
seinstatsache völlig sui generis ist. Die Forderung ist nicht selber Gegen-
stand, auch nicht Teilgegenstand, sondern etwas am Gegenstand. Sie ist
ein Ruf, der vom Gegenstand in mich hineindringt und den ich erlebe,
wenn ich auf ihn höre. Die Forderung wird sonach erlebt, während ich
den Gegenstand denke. — Zu trennen von den übrigen Forderungen der
Gegenstände sind die Forderungen von Verhältnissen simultan gedachter
Gegenstände und von Anzahlen, welche nicht den Gegenständen als solchen
anhaften, sondern nur sofern sie in bestimmter Weise (nämlich simultan)
gedacht werden.
8. Kapitel. Erkenntnistheoretisches. — Gregenstände, die wirklich sind,
zeichnen sich dadurch aus, daCs ihre Forderungen schlechthin gelten, also
kategorisch sind ; dagegen sind die Forderungen von Gegenständen, welche
ich willkürlich denke, gültig nur unter der Bedingung, dafs ich sie denke.
Alle sittlichen Forderungen sind kategorischer Art; die Verstandes-
forderungen dagegen können, aber müssen nicht kategorisch sein. Sie
sind es nicht, wenn der Gegenstand nicht fordert, dafs ich ihn denke, oder
wenn die Forderung des Gegenstandes nur gilt unter der Voraussetzung,
dafs ich ihn — willkürlich — in bestimmter Weise denke, d. h. in allen
Urteilen über Zahl und Verhältnis (wenn subjektiv bedingt). — Die
Forderung etwa, die Winkelsumme im Dreieck = 2 Rechten zu denken,
ist kategorisch, falls ich ein Dreieck denke; sie ist aber blofs hypothetisch,
solange es nicht ausgemacht ist, dafs es in der Welt der Gegenstände
Literatnrbericht. 103
Dreiecke überhaupt gibt. Dieaem Beispiel, welches Lipfs gebraucht, dürfen
wir wohl folgendes andere entgegenstellen: die Forderung, keinem Wesen,
welches fühlt wie ich, ein Leids anzutun, ist kategorisch, falls und
soweit ich Wesen als fühlend denke, d. h. soweit ich mich in dieselben
„einfühle^; sie ist aber hypothetisch im gleichen Sinn wie die Forderung
des Dreiecks, wenn es m()glich ist, dafs es Wesen, die mit Gefühl begabt
wären, überhaupt nicht gibt. — Es scheint, dafs die Ausnahmestellung,
welche Lippb den sittlichen Forderungen einräumen will, nicht ganz hin-
länglich gerechtfertigt ist.
9. Kapitel. Das qualitative oder Adäquatheitsurteil. — Indem ich die
Forderung des Gegenstandes erlebe, fühle ich den Drang, das Geforderte
auch wirklich zu erfüllen; stellt sich dem aber ein Hindernis entgegen, so
geht die Erfüllungstendenz über in ein deutliches Streben. Das nun,
worauf die Forderung abzielt, ist zunächst die Anerkennung derselben. Aber
sie reicht zweifellos noch weiter. Wenn etwa ein Kunstwerk Forderungen
an mich stellt, so erfQlle ich diese Forderungen noch nicht vollständig,
wenn ich sie blofs anerkenne, sondern erst, wenn ich die Wertung tat-
sächlich vollziehe, d. h. das Kunstwerk geniefse. Das gleiche gilt von
den Terstandesurteilen. Eine Kose etwa fordert, durch ein irgendwie
geartetes Rot genau bestimmt zu sein. Dann erfülle ich die Forderung der
Rose noch nicht vollständig, wenn ich diese Forderung lediglich anerkenne,
sondern erst, wenn ich dieses bestimmte Rot auch wirklich erlebe, sei es
wahrnehme oder adäquat d. h. der ehemaligen Wahrnehmung entsprechend
vorstelle. In solcher Weise schliefsen alle logischen und affektiven Forde-
rungen dies ein, dafs ich den fordernden Gegenstand, von anderem ab-
gesehen, als einen qualitativ bestimmten gelten lasse. Die An-
erkennung dieser Forderung nennt Lipps ein qualitatives oder Adäquatheits-
urteil.
10. Kapitel. Streben und Tätigkeit. Der Forderung des Gegenstandes
entspricht auf psychologischer Seite ein Streben nach Erfüllung. Umgekehrt
setzt alles Streben eine Gegenstandsforderung voraus. Auch das unbewufste
Streben, die Triebäufserung, ist gerichtet auf etwas, setzt sonach einen
„Gegenstand" voraus, der mir freilich in diesem Falle nicht bewufst ist.
Das Streben ist sonach das Ergebnis einer Kooperation, die zwischen einer
Gegenstandsforderung und mir, d. h. meinen subjektiven Bestimmtheiten,
stattfindet. — Gegenstand des Strebens (Zielgegenstand) ist das {^rieben
einer Forderung; alles Streben zielt von einer gedachten Forderung (z. B.
dafs morgen schönes Wetter sei) auf ein Erleben derselben. — Obgleich
nun aber jedes Streben in einer Gegenstandsforderung begründet ist, so
ist darum doch nicht jedes Streben objektiv begründet, da die Forderungen
sowohl kategorisch als auch hypothetisch sein können, in letzterem Falle
aber willkürlich von mir gedacht sind.
11. Kapitel. Die Tätigkeit und ihre Stufen. — Im Streben liegt nun
bereits der Keim zu einem weiteren BewuTstseinserlebnis , zur Tätigkeit.
Das Streben ist ein Zielen oder Gerichtetsein im jeweiligen Moment; in
der Tätigkeit wird es zur Bewegung, zu einem Hinausgehen über diesen
Moment. Aber doch ist wieder an jedem Punkte der Tätigkeit das Streben
104 Literaturbericht
vorhanden. Es verhalten sich die beiden Erlebnisse zueinander wie der
Punkt zur Linie oder wie der Akt zur eigentlichen Tätigkeit, die mit einem
Akt einsetzt und abschliefst. — Wie das Streben, so kann auch die Tätigkeit
zielbliud, sonach eine Triebtätigkeit sein, ja es setzt sogar jede zielbewufste
Tätigkeit voraus, dafs ihr Ziel vorher als Erfolg einer Triebtätigkeit gegeben
war. — Wird dem Streben in seiner Entfaltung zur Tätigkeit Halt geboten
(z. B. : ich kann nichts dazu tun, dafs morgen wirklich schönes Wetter ist),
so bleibt es beim nackten Streben oder Wünschen. — Da es keine Betätigung
des Ich gibt ohne Gegenstand, so gibt es auch keine Betätigung ohne jene
Kooperation des Ich mit dem Gegenstand. Im Trieb bildet sie noch eine
ungeschiedene Einheit; aber diese Einheit löst sich, wenn ich mir des
Gegenstandes bewufst werde. Es treten einander alsdann gegenüber das
Bewufstsein meiner eigenen Tätigkeit und der Forderung des Gegenstandes.
Dabei sind unendlich viele Stufen möglich von der gänzlich und weiterhin
der relativ zielblinden zur völlig bewufsten Tätigkeit, die rein auf die
Forderung des Gegenstandes hört.
12. Kapitel. Fortsetzung. Stadien der Tätigkeit. — Der gleiche Fort-
gang von zielblinder zu zlelbewufster Tätigkeit wiederholt sich innerhalb
der verschiedenen Stadien der Tätigkeit. Wir finden ihn für*s erste in der
einfachen Auffassungstätigkeit, da ich mich einem mir unbewufst Gegen-
überstehenden zuwende und dieses schliefslich bewufst denke als Gegen-
stand. Er kehrt wieder in der nun folgenden Apperzeptionstätigkeit, da
ich den Gegenstand befrage nach seinen mir noch unbewufsten Forderungen,
um diese schliefslich im Urteil bewufst anzuerkennen. Ist die Apperzeptions-
tätigkeit einmal vollzogen, so kann sie dann fernerhin auch zielbewufst von
statten gehen. — Ein weiterer Schritt ist es, wenn ich danach strebe, die
Forderung des Gegenstandes ganz zu erfüllen, im vollen Erleben. ZielbUnd
aber ist mein Urteilen auch dann noch, wenn ich die Forderung des Gegen-
standes lediglich anerkenne, ohne sie gegen alle mit ihr konkurrierenden
Forderungen abzuwägen: völlig sehend ist erst der — wertende oder in-
tellektuelle — Entscheid. So fordert etwa die kleine Mondscheibe, von mir
als wirklich gedacht zu werden, astronomische Tatsachen aber verbieten
es. Was verboten wird, ist nicht die Forderung der kleinen Mondscheibe,
sondern meine Anerkennung derselben. Folge ich dem Verbot, so fälle ich
ein negatives Urteil, welches eine Beurteilung meines Wirklichkeitsurteils
ist. Diesem negativen Urteil entspricht ein affirmatives, in dem ich urteile,
— nicht, dafs ein Gegenstand wirlich ist — , sondern dafs mein Wirklichkeits-
urteil sich endgültig bestätigt. Damit ist zugleich eine eigene Klasse von
Urteilen bezeichnet. — Was sonach über die Wirklichkeit, d. h. die Forderung
des Gedachtwerdens entscheidet, ist m e i n e Beurteilung, mein Bewufstsein ;
und mein Bewufstsein entscheidet auch über die Rangordnung der Werte
und Zwecke. Grundgesetz meines denkenden Bewufstseins aber ist der
Satz vom Widerspruch, der letzten Endes auf der Identität des Ich beruht;
wollte ein und dasselbe Ich zwei entgegengesetzte Denkakte vollziehen, so
müfste es offenbar mit sich selber in Widerspruch geraten. Andererseits
aber entscheiden nun doch wieder die Gesetze der Wirklichkeit über die
Wirklichkeit — , so dafs ein sonderbarer Widerspruch sich ergibt, dessen
Lösung Lipps auf metaphysischem Wege sucht. — Die Einsicht in diesen
Literaturberichi. 105
Sachverhalt nun bezeichnet wieder einen Fortschritt in der Richtung auf
klarer sehende Erkenntnis, ebenso wie schliefslich das Bewufstsein, dafs
Gegenstand meines Strebens nicht die Gegenstände als solche sind, sondern
irgend eine lustvoUe Betätigung meiner selbst, zu der sie mir Anlafs geben.
13. Kapitel. Die „körperliche" Tätigkeit. — Von Gegenständen bzw.
den Inhalten, in welchen sie gegeben sind, nimmt alle Tätigkeit ihren
Ausgang, nicht nur die Tätigkeit der ,. Auffassung" und die daran sich
knüpfenden Akte und Tätigkeiten, sondern auch die sog. ,, körperliche''
Tätigkeit. Da es in der Körperwelt nur Vorgänge , Tätigkeiten nur im
Bewurstsein, im Ich gibt, so bezeichnet der Ausdruck etwas völlig Wider-
sinniges, solange er wörtlich genommen wird. Tatsache ist, dafs ich mich
tätig fühle und gleichzeitig körperliche Vorgänge wahrnehme, beides in
einem Akt des Erlebens, so dafs mein Tätigkeitsgefühl aufs innigste an
die körperlichen Vorgänge gebunden erscheint. — Auch bei der körper-
lichen Tätigkeit beobachten wir den Fortgang von blinder zu zielbewufster
Tätigkeit: erst mufs ich den Erfolg überhaupt erlebt haben, um ihn dann
bewufst aufsuchen zu können.
14. Kapitel. Die Tätigkeit und die Gefühle. Bei allem Streben schwebt
mir etwas Lustvolles vor; aber doch ist das, wonach ich bewufst strebe,
nicht eine Lust, sondern irgend ein Gegenstand. Die Lust, sowie die
anderen Gefühle (wenn man den Begriff einschränkt auf Bewufstseins-
erlebnisse, in deren Natur es liegt, lust- oder unlustgefärbt zu sein) sind
Färbungen des Tätigkeitsgefühles, das ich angesichts des Gegenstandes
habe ; das Tätigkeitsgefühl selber aber ist das Grundgef tihl. Im Fortschritt
von der Wertung des Gegenstandes und vom Gegenstandsgefühl zur Wertung
meiner Tätigkeit und meines Selbstgefühls ist nun abermals ein Fortschritt
in der Richtung auf vollkommenere Bewufstheit enthalten.
15. Kapitel. Vom Zusammenhang des Bewufstseinslebens. — Wie der
Verlauf der Untersuchung gezeigt hat, findet ein beständiger Wechsel statt
im Bewufstseinsleben, der darin besteht, dafs ich mich einem Gegenstand
erst innerlich zuwende, ihn dann denke, befrage, urteile, neuerdings frage usw.
Dieser Wechsel bedeutet ein eigenartiges psychologisches Phänomen, das
wir bezeichnen, indem wir sagen: die einzelnen Erlebnisse „gehen aus-
einander hervor", sind durcheinander „bedingt", „motiviert" usw. In dieser
Art der Aufeinanderfolge aber bilden die psychischen Ereignisse einen
Zusammenhang, der mit nichts vergleichlich, insbesondere nicht vergleichlich
ist mit dem Zusammenhang der Dinge in der Aufsenwelt: in dieser gibt
es kein Bedingtsein, keine Abhängigkeit, nur zeitliche Folge und nichts
weiter. Prakdtl (Weiden).
£. H. Hollands. Wandt 8 Doctrine of Psychical Analysls. Amer. Joum, of
Fsychology 1« (4), S. 499-518, 1905 u. 17 (2), S. 206-226. 1906.
Die Abhandlung erwähnt amerikanische Kritiken, die an verschiedenen
Lehren Wundts ausgeübt worden sind. Es wird diskutiert: ob das Gefühl
spezielle Formen der Empfindung darstellt oder etwas davon elementar
Verschiedenes, etwas für sich bestehendes sei, ob Klarheit ein Attribut der
Empfindung, ob Lust-Unlust nur Richtungswerte der Gefühle und nicht
vielmehr Gefühlsattribute sind; weiter die Zurückführung der Gefühls-
106 Literaturbericht.
einheit auf die Tatsache der apperseptiven Beaktion. Verf. unternimmt es,
aus der gesammelten Produktion Wüvdts eine Darstellung seiner jetsigen
Theorie von der Analyse und den Psychischen Elementen zu geben.
In der zweiten Arbeit richtet sich die Nachprüfung auf die Gefühle und
Gefühlsanalyse. H. zeigt auch für die hierhergehörigen Begriffe, indem er
die Schriften Wcndts nach ihrer chronologischen Beihenfolge vornimmt,
dafs eine gewisse Schwankung in ihrer Bestimmung besteht. Besondere
Aufmerksamkeit wird darauf gewendet, aus Wundts verschiedenen Aussagen
herauszuanalysieren, was W. unter subjektiv versteht, ein Wort, das bei
W. das Hauptattribut der Gefühle bezeichnet. Aall (Halle).
R. M. YsRKEs. inimal Psycbology aid Criteria of the PsycMe. Journal of
PhUos., Psychol, and Scient Methods 2 (6). 141—149. 1905.
Gegenüber denjenigen, die einem tierischen Seelenleben allzu skeptisch
gegenüberstehen, betont Y. zunächst, dafs zwischen der Überzeugung von
dem Vorhandensein eines psychischen Lebens in fremden menschlichen
Individuen und der entsprechenden Annahme in bezug auf die Tiere kein
prinzipieller Unterschied sein könne. Vom einen, wie vom anderen haben
wir keine direkte Erkenntnis, sondern wir erschliefsen sie aus indirekten
Zeichen oder Kriterien. Die wichtigsten dieser indirekten Kriterien eines
seelischen Lebens werden dann vom Verf. in systematischer Ordnung dar-
gestellt. Er zählt deren sechs auf, die in die zwei Gruppen der „strukturalen"
und „funktionalen^' zerfallen. Mit Bezug auf die Struktur richten wir uns,
wenn wir einem Körper seelisches Leben zuschreiben, danach, ob er (1)
sich als Organismus darstellt, ob er (2) ein Nervensystem besitzt, sowie f3)
nach der Entwicklungsstufe und Differenzierung dieses Nervensystems. In
funktioneller Hinsicht fragen wir, ob das betreffende Wesen auf Reize
reagiert („discrimination'^), ob die Art seiner Beaktion durch Erfahrungen
modifizierbar ist (ob es die Fähigkeit besitzt, durch Erfahrungen zu lernen),
endlich ob diese Reaktionen nach bestimmten Zwecken geregelt erscheinen
(„initiative").
Mit Recht wendet sich Y. gegen die Art und Weise mancher Tier-
psychologen, die „Beiehrbarkeit durch Erfahrungen" als einziges Kenn-
zeichen des seelischen' Lebens bei Tieren zu verwenden und im besonderen
in allen Fällen einer Veränderung der Reaktion durch Erfahrungen mit
dem psychologischen Begriff des „assoziativen Gedächtnisses" zu operieren.
Schon die Tatsache, dafs für jedes einzellige Wesen, ja für das Protoplasma
überhaupt innerhalb gewisser Grenzen etwas dergleichen vorhanden sei,
zeige, dafs es hier vielmehr darauf ankomme, die Art zu analysieren, wie
ein Wesen durch Erfahrungen in der Art seiner Reaktionen beeinfluTst
werden könne, als mit dem unkritischen Begriff der „Belehrung durch
Erfahrungen" schlechtweg zu arbeiten. Leider wird diese Analyse selbst
nur angedeutet, nicht des näheren ausgeführt. v. Aster (München).
Wendell t. Bush. An Smperlcal Definition of ConscioiisiietB. Journ. ofPhilos.,
Psychol etc. 2 (21), S. 561—568. 1905.
Alles, was unsere Erfahrungen enthalten, sind nur Objekte, neben
denen es nicht auch noch ein Bewufstsein von den Objekten gibt. Be
Li tvra turberich (. 107
wurstsein mufs sonach st was bezeichnen, das sich aller Beobachtung ent-
zieht. Gleichwohl können wir fortfahren das Wort zu gebrauchen nnd
zwar für die Erfahrungen, welche wesentlich dem einzelnen Beobachter
eigen (private) sind, fflr subjektive Tatsachen, im Gegensatz zu solchen,
welche allgemein zugänglich (public) und direkt von jedermann zu beob-
achten sind, soweit ihre eigene Natur in Betracht kommt.
Prandtl (Weiden).
W. Naqel. Handbuch dar Physiologie des lenschea. In 4 Bänden. III. Band.
Physiologie der Sinne. ' Zweite Hälfte, mit 101 Abbildungen und 1 Tafel.
Braunschweig, Vieweg, 1905. 806 S.
Das vorliegende Referat betrifft den gröfseren Teil der zweiten Hälfte
des Bandes III (s. über die erste Bd. 39 S. 138 dieser Zeitschrift), umfassend
den „Gehörssinn**, „Geruchssinn*', „Geschmackssinn", die „Physiologie der
Druck-, Temperatur- und Schmerzempfindungen" und endlich „die Lage-,
Bewegungs- und Widerstandsempfindungen".
Der erste, am meisten Baum beanspruchende Gegenstand, der Gehörs-
sinn iS. 476 — 588), ist von K. L. Schabfeb bearbeitet worden. Der Verf.
gliedert seinen Stoff in 6 Kapitel: I. Von den Tonempfindungen; II. Von
<ier Klangwahrnehmung ; III. Von den sekundären Klangerscheinungen;
IV. Von den Tonempfindungen in musikalischer Hinsicht; V. Spezielle
Physiologie des Gehörorgans; VI. Von den Geräuschen.
Auch die einzelnen Kapitel zeigen zahlreiche Unterabteilungen, in
denen Physikalisches und Physiologisches in knapper durchgearbeiteter
Darstellung geboten wird. Im IV. Kapitel finden wir auch die neueren
Theorien der Konsonanz und Dissonanz, besonders die von C. Stumpf, in
Kap. V die neueren Hörtheorien, wie z. B. die von R. Ewald, behandelt.
Weniger dankbar als der vorige sind die zunächst folgenden Stoffe,
die W^. Nagel zur Bearbeitung übernommen hat, nämlich der Geruchs-
sinn und Geschmackssinn (S. 589 — 619 und 621—645). Tatsachen und
theoretische Anschauungen lassen auf diesen Gebieten noch manches zu
wünschen übrig, und so treffen wir hier denn besonders oft auf offene
Fragen, die der Verf. in anerkennenswerter Weise hervorgehoben hat.
Der „Geruchssinn" enthält folgende 16 Kapitel: I. Das Geruchs-
organ. Die Biechnerven; II. Von den Eigenschaften der Riechstoffe;
III. Der Weg des Luftstromes beim Riechen; IV. Die Reizung des Riech-
organs; V. Olfaktometrie und Odorimetrie; VI. Die Qualitäten der Geruchs-
empfindung. Klassifizierungsversuche; VII. Die Unterschiedsempfindlichkeit ;
VIII. Die zeitlichen Verhältnisse der Geruchsempfindung; IX. Ermüdung des
Geruchssinnes; X. Mischungs- und Kompensationserscheinungen auf dem
Gebiete des Geruchssinnes ; XI. Umstimmungs- und Kontrasterscheinungen ;
XII. Lokalisation der Geruchsempfindungen ; XIII. Geruchswahrnehmungen
und Geruchsreflexe; XIV. Geruchssinn und Affekt.
Auch die Kapitel der Bearbeitung des „Geschmackssinnes" seien
zum Zweck einer kurzen Übersicht angeführt: I. Das Geschmacksorgan;
die Geschmacksnerven ; II. Von den Eigenschaften der schmeckbaren Stoffe ;
III. Die Mechanik des Schmeckens; IV. Die inadäquaten Reize des Ge-
108 Literaturbericht
«chmackeorgans. Der elektrische Geschmack; V. Gnstometrie und Sapori-
metrie; VI. Anomalien des Greschmackssinnee. Toxische Einflüsse; VII. Die
Qualitäten der Geschmacksempfindung: VIII. Die spezifische Disposition
der einzelnen Geschmackspapillen. Die spezifische Energie der Creschmacks-
nerven; IX. Umstimmnngs- nnd Kontrasterscheinnngen ; X. Mischungs-
und Kompensationserscheinungen; XI. Die zeitlichen Verhältnisse der Ge-
schmacksempfindung; XII. Die Unterschiedsempfindlichkeit; XIII. Gefühls-
betonung der Geschmacksempfindungen.
Eine schöne abgerundete Darstellung der Physiologie der Druck-,
Temperatur- und Schmerzempfindungen gibt uns T. Thunberq
(S. 647 — 731). Der Verf. beginnt mit I. einer geschichtlichen Übersicht;
dann folgen: II. Klassifikation der Hautempfindungen; III. Sinnespunkte
der Haut; IV. Die Druckempfindungen; V. Die Kälte- und Wärmeemp-
findungen; VI. Die Hautschmerzempfindungen; VII. Die Schmerzempfind-
lichkeit innerer Teile; VIII. Die Empfindungen von Kitzel und Jucken;
IX. Zusammengesetzte Hautempfindungen und ihre Analyse ; X. Die Apper-
zeptionszeiten der Hautempfindungen; XI. Die Lokalisation 'der Haut-
empfindungen; XII. Die Subjektivierung und Objektivierung der Haut-
empfindungen; XIII. Die Physiologie der Hautsinne und das Gesetz der
spezifischen Sinnesenergien.
Den Schlufs des Bandes bilden die ebenfalls von W. Nagel behandelten
Lage-, Bewegungs- und Widerstandsempfindungen. Trotz der
erheblichen Schwierigkeiten, welche dieser umfangreiche mannigfach zu-
sammengesetzte Stoff der Darstellung noch besonders dadurch bietet, dafs
die Komponenten der hier vielfach komplexen Empfindungen häufig ihren
Ursprung in verschiedenen Organen haben, ist es doch eine dankbare
Aufgabe gewesen, den spröden Gegenstand einmal gründlich zu sichten
und möglichst übersichtlich auszuarbeiten. Dies ist in 8 Kapiteln nebst
zahlreichen Unterabteilungen geschehen : I. Die Lageempfindungen ; II. Die
Bewegungsempfindungen; III. Die Widerstandsempfindungen; IV. Theo-
retisches über die Bewegungs- und Lageempfindungen nicht-labyrinthären
Ursprungs, sowie über die Widerstandsempfindungen; V. Der Schwindel
und die Drehungsreflexe; VI. Erfahrungen über die Funktionen des
Labyrinths; VII. Theoretisches über die Funktionen des Labyrinths;
VIII. Anhang. Die Zentralorgane der Bewegungs- und Lageempfindungen.
P. Jensen (Breslau).
R. Sbmon. Die Mneme aU erhaltendes Primip im Wechsel des organisehen
Geschehens. Leipzig, W. Engelmann. 1904. S. I— XIV, 1—363.
Bereits E. Hering hatte auf einen gewissen Parallelismus, der zwischen
Gedächtnis und Vererbung besteht, hingewiesen und später hat dann
S. Butler die P>age genauer untersucht. Sbmon unternimmt es nun, dies
Problem in eingehendster Weise zu behandeln und sucht nachzuweisen,
dafe es sich bei den Vorgängen nicht um eine blofse Analogie, sondern um
Identität handelt.
Er führt folgendes aus: Ein Organismus befinde sich in einer be-
stimmten Lebensbedingung, einer „energetischen Situation". Ein Reiz wird
auf ihn ausgeübt und der Organismus dadurch in einen neuen Zustand
Literaturbericht. 109
gebracht. Hört der Reiz auf, so tritt der erste Umstand wieder ein
— synchrone Reizwirkung — oder aber die Rückkehr in den früheren Zustand
l&Tst einige Zeit auf sich warten — akoluthe Reiz Wirkung (Nachbilder).
Unter Umst&nden kann ein veränderter morphologischer Zustand die Folge
des Reizes sein. Der Zustand vor dem Reiz ist der „primäre Interferenz-
zustand", der nach dem Reiz der sekundäre. Beide sind nicht identisch.
Der Reiz hat vielmehr eine dauernde Einwirkung beim Körper hinter-
lassen, ein „Engramm", er hat „engraphisch" gewirkt. Die Summe der
Engramme in einem Organismus ist die „Mneme''. Engramme sind erblich,
es gibt infolgedessen eine ererbte und eine individuelle Mneme. An und
für sich ist jeder Teil des Organismus imstande, Reize und damit Engramme
aufzunehmen, doch hat sich immer mehr ein Organsystem, das Nerven-
system hierfür spezialisiert, ohne dafs es freilich ein Monopol hätte. Als
Beispiel für engraphische Wirkung sei angeführt: Ein junger Hund wird
von einem Knaben mit einem Steine geworfen. Es wirkt auf ihn ein : Der
optische Reiz des eich bückenden Knaben, — Reizgruppe a — und der mit
Schmerz verbundene Hautreiz des betreffenden Steines — Reizgruppe b.
Die Reizgruppe a, auf die er früher nicht reagierte, beantwortet er später
mit Fluchtbewegungen.
Reiz a löst die Erregung a aus, Reiz b die Erregung ß, Erregung
(a-|-/^) kann als Originalerregung nur durch (a+b) ausgelöst werden. Nach-
dem sich aber das Engramm (A-|-B) erzeugt hat, wird sie als „mnemische
Erregung'' bereits durch a allein ausgelöst, a wirkt „ekphorisch". Ekphorisch
wirkt die ganze oder partielle Wiederkehr einer „energetischen Situation".
Es kann das der Originalreiz, auch manchmal qualitativ oder quantitativ
etwas geändert, sein, es können aber auch Einflüsse sein, die sich zunächst
als Ablaufen bestimmter Zeit- oder Entwicklungsperioden darstellen
(chronogene und phasogene Ekphorien) wie beispielsweise diejenigen Zu-
stände im Stoffwechsel des pflanzlichen Organismus, die ekphorisch im
Frühjahr das Ausschlagen bewirken, oder die Zustände im menschlichen
Organismus, die zur Zeit der Mannbarkeit das Wachstum des Bartes ver-
ursachen. So sind denn allgemein alle ererbten Dispositionen als Engramme
aufzufassen.
Diese Grundgedanken werden nun im einzelnen ausgeführt und auf
alle möglichen Probleme angewandt. Es mufs hier auf das Werk selbst
hingewiesen werden, da die meist sehr schwierigen Deduktionen sich nicht
ffir den engen Raum eines Referates eignen. C. Zimmer (Breslau).
G. Pancongelli-Galzia. ftaelqnei remirqiies sv U mithode graphiqne. Die
neueren Sprachen 18 (9). 6 S. 1906.
Verf. empfiehlt grofse Vorsicht bei der Anwendung der graphischen
Methode zu experimental- phonetischen Zwecken. Je nach der Art des
schallauffangenden Mundstücks, der Länge der Schlauchleitungen, der Länge
des Schreibhebels usw. zeigen die von demselben Laut erhaltenen Kurven,
vie er durch eine Anzahl von Figuren belegt, einen völlig verschiedenen
Charakter. Unter Umständen haben sie keine Spur von Ähnlichkeit mit-
einander. Es gilt also stete Kontrolle der graphisch gewonnenen Resultate
mit den nach anderen Methoden gewonnenen. Ebbinohaüs.
110 Literaturbericht.
Arthur Kiesel. Die Welt des Skhtbaren. Leipzig, R. Voigtländers Verlag.
1905. 106 S.
In einer recht lesenswerten, kleinen Schrift führt K. in populärer
Darstellung die wichtigsten erkenntnistheoretischen und psychologischen
Prinzipien vor, nach denen das Sehen, bzw. die optische Wahmehmuni^
sich vollzieht. Er weist zuerst darauf hin, dafs die wirren Komplexe
räumlich mannigfaltig angeordneter und qualitativ verschiedener Emp-
findungen, als welche sich die Gegenstände dem Auge des Neugeborenen
oder des geheilten Blindgeborenen zunächst bieten, sich nach vielfach
wiederholten Sehübungen zu einer geordneten Gesichtswahrnehmung ver-
dichten. Auch die zeitlich aufeinanderfolgenden Empfindungskomplexe,
welche unser Gesichtsfeld, bzw. die Fovea centralis nacheinander ausfüllen,
werden zu Wahrnehmungen von Gegenständen bestimmter Gröfse und
Entfernung zusammengefafst und die hierbei ins Spiel kommenden Augen-
muskelempfindungen und vor allem die Kontrolle durch die sensiblen
Erregungen unseres mannigfach differenzierten und verschiedenartig lokali-
sierten Tastsinnes (Muskeln, Gelenke, Haut etc.) sind es, welche uns ver-
anlassen, die optischen Empfindungen bei der Wahrnehmung auf einen
aufsen befindlichen Gegenstand zu beziehen, zu projizieren. Die gedächtnis-
mäfsig angesammelten Bilder, welche bei späteren Gesichtseindrücken zum
Vergleich reproduziert werden und das Erkennen, die Wahrnehmung zu
einem aufserordentlich schnellen und leichten gestalten, bilden das empirisch
gewonnene Material, welches unsere ganze optische Seh- und Auffassungs-
weise immer wieder im späteren Leben beeinfiufst, jeden einzelnen je nach
der Art, wie seine individuellen optischen Erlebnisse ihn betroffen haben.
Kiesel betont, dafs das Sehen der einzelnen Menschen demnach ein
sehr verschiedenes sein mufs ; verschiedene Menschen, je nach Beruf, Rasse,
Lebensweise haben ganz verschiedene Gewohnheiten bezüglich der Details
der Empfindungskomplexe ihres Gesichtsfeldes, auf welche sie als wesentlich
ihre Aufmerksamkeit richten und welche anderen sie unter der Wahr-
nehmungsschwelle halten und vernachlässigen. Die begleitenden Gefühle
beeinflussen die Art der Wahrnehmung erheblich: es ist etwas anderes,
ob man einen Gegenstand vom technischen oder ästhetischen Standpunkt
betrachtet. Auch der Farbensinn ist verschieden, wobei es sich freilich um
angeborene und erbliche Abweichungen handelt. Auch die optischen
Täuschungen und die Nachbilderscheinungen führt K. als Beweise für das
subjektive Sehen, die Beobachtung von „Scheindingen" an. Freilich bleibt
in seiner Darstellung der erkenntnis theo retische Begriff seiner „wirklichen
Dinge" unklar und unerörtert. Aber alles läfst sich im Kahmen einer
populären und begrenzten Darstellung dieser schwierigen Probleme natür-
lich nicht bringen; das Gebotene enthält soviel des Interessanten und gut
Durchdachten, dafs es der Beachtung nur empfohlen werden kann.
H. Piper (Kiel).
H. Herzog. Experimentelle UAtenaohvngeii nr Physlelogle der Bewefiui(ff»
forg&lkge in der Hetlh&nt Engelmanna Archiv f. Physiol S. 418—464. 1905.
Mikroskopische Untersuchung der Froschnetzhaut ergab, dafs die Lage
des Netzhautpigmentes und der Kontraktionszustand der Zapfen erheblich
Literaturbericht 111
und typisch verschieden gefandeu wurde, je nach den Bedingungen, unter
denen das Tier sich während des Versuches befunden hatte. Während
unter normalen Bedingungen die Bewegungen der Zapfen und die Pigment-
wanderung sich stets in gleicher Bichtung, wenn auch nicht in gleichem
Tempo vollzieht, beobachtete H., dafs in Augen, welche einige Zeit nach
Zerstörung des Zentralnervensystems enukleiert und fixiert waren, maximale
Einwärtswanderung des Netzhautpigmentes (Lichtstellung) bei maximaler
Streckung der Zapfen (Dunkelstellung) auftrat. Die Pigmentwanderung
ging nie bis an die Limitans externa, sondern machte im Niveau der
Grenze zwischen Zapfenellipsoid und Myoid des Innengliedes Halt. H.
sieht den Zweck der Zapfenbewegung darin, dafs das vorwiegend licht-
empfindliche Zapfenellipsoid in den Bereich der stärksten Lichtwirkung
gebracht werden soll.
Wäime erzeugte die gleichen Veränderungen der Pigmeutlage und
des Kontraktionszustandes der Zapfen wie Licht; dabei vollzog sich die
Kontraktion schneller als die Pigmentwanderung. Auch Kälte wirkte im
selben Sinne; ihre Wirkung, namentlich auf die Zapfen (Kontraktion) hält
5 — 6 Stunden nach Wiedererwärmung noch vor. Auch mechanische Reize
der Haut (Aufbinden des sonst dunkel gehaltenen Frosches) wirken wie
Licht, Wärme oder Kälte. H. schliefst sich der Ansiclit Ekgslmanns an,
dafs Wärme, Kälte und mechanische Reize reflektorisch von der Haut aus
Pigment- und Zapfenbewegung beeinflussen. Hebzog sieht den Zweck der
Pig;mentwanderung 1. in der optischen Isolierung der Retinaelemente, 2. in
der Absorption strahlender Energie, welche in Wärme umgewandelt die
Erregbarkeit der anliegenden, lichtperzipierenden Netzhautelemente erhöht,
3. in einer Energieabsorption, welche zur chemischen Zersetzung des
Fuchsins verbraucht wird und die Netzhaut vor Überreizung schützt.
Die Zapfenkontraktion läuft bei mittlerer Belichtungsintensität in etwa
2 Vt Min. ab, 1 Min. ist so gut wie unwirksam, V2 auch bei starker Be-
lichtung. Rotes, grünes und blaues Licht führten gleichartige Veränderungen
herbei, blau indessen trotz geringerer Intensität bewirkte in derselben Zeit
ausgiebigere Zapfenkontraktion. Für alle Lichtarten ergab sich, dafs die
Gröfse der Zapfenkontraktion mit Intensität und Dauer der Reizung wuchs.
Da der Nachweis erbracht wurde, dafs die Dimensionen des Zapfen-
innengliedes sich vorwiegend mit der Intensität des Lichtreizes ändern und
dafs jedes farbige Licht bei geeigneter Intensität jede bestimmte Zapfen-
lange herbeiführen kann, so ist die Annahme unhaltbar, dafs jedem
bestimmten Kontraktionszustand eine qualitativ eigenartige, der Lichtart
entsprechende Erregung (bestimmte Farbenempfindung) zugeordnet sein
soll. Dagegen spricht auch der langsame Gang der Zapfenbewegung.
H. kommt zu dem Schlufs, dafs der Zapfenapparat als Hellapparat im
Sinne der KaiBsschen Theorie zu gelten habe und dafs der Kontraktions-
mechanismus der Zapfen eine Aus- und Einschaltvorrichtung sei, durch
ivelche der lichtperzipierende Zapfenteil (Ellipsoid und Aufsenglied) in den
Ort günstigster Lichtwirkung gebracht bzw. daraus entfernt werde.
H. Piper (Kiel).
114 Literaturberibht.
Gebiet räumlicher Form gewisse Analogien besteheni ist nun freilich kein»
neue Entdeckung. Auch Ref. hat sich verschiedentlich in dieser Richtung
ausgesprochen, auch einmal starken Widerspruch bei Stumpf damit erregt.
Doch scheint es ihm, dafs der Verf. uns der Lösung dieses Problems nicht
näher gebracht hat. Der Artikel erscheint als ein etwas kühnes Unter-
nehmen des Verf., auf sechs Druckseiten die Grundtatsachen der Ton>
Psychologie, mit einigen Grundtatsachen der allgemeinen Psychologie al»
Zugabe, in einer wissenschaftlichen Theorie zur Darstellung zu bringen.
Max Mstbr (Columbia, Missouri).
SiDNET Alsutz. Untemchnngeii tber IhrockpHiikte und ihre Analgesie. Skmidin.
Ärch. f. Physiologie 17, 86—102. 1905.
Nach einer Übersicht der Literatur über die Druckpunkte gibt Verf.
eine Beschreibung seiner eigenen Versuche zu denen er Thunbebos Glas-
fäden verwendet, die er nach den vom Ref. angegebenen Grundsätzen eicht.
Er bestätigt die Angaben des Ref. betreffend die Lage und Dichte der
Druckpunkte und ihre Schmerz losigkeit gegen Nadelstiche. Die Tatsache,,
dafs bei vereinzelten Druckpunkten der Einstich sofort oder verspätet
schmerzhaft ist, beweist nichts gegen die Verschiedenheit der Organe fflr
Druck- und Schmerzempfindung, die Verf. für bewiesen hält. Die Versuche
des Verf. zeichnen sich aus durch grofse Sorgfalt in der Ausführung.
M. V. Fbey (Würzburg).
Sedkey Albütz. Untersnchnngen über Schmenpnnkte nnd doppelte Sehnten»
empflndangen. Skandin. Arch. f, Physiol. 17, 414—430. 1905.
Nach einer Darstellung der Literatur über die Schmerzpunkte und die
doppelte Schmerzempfindung, geht Verf. auf seine eigenen Untersuchungen
ein. Dieselben haben ihn zu der Überzeugung geführt, dafs es (überein-
stimmend mit der Angabe des Ref.) auf der Haut Schmerzpunkte gibt,^
d. h. Punkte, die bei geeigneter Reizung ausschliefslich Schmerzempfindung
auslösen von stichartigem Charakter. Diese Empfindungen folgen dem
Reize unmittelbar. Die Dichte dieser Punkte ist sehr grofs.
In bezug auf die doppelte Schmerzempfindung, wie sie von Gad und
GoLDSCHEiDEB zuorst beschrieben worden ist, schliefst sich der Verf. den
Ansichten Thunbergs an (Skand, Arch. 12, 394) und hebt hervor, dafs die
verzögerte ' oder sekundäre Schmerzempfindung meistens durch einen rein
juckenden Charakter ausgezeichnet ist. Soweit sich bestimmte Punkte auf
der Haut auffinden lassen, die zur Erregung der sekundären Schmerz-
empfindung besonders geeignet sind, fallen sie im allgemeinen nicht zu-
sammen mit den oben beschriebenen Punkten für die primäre schmerz-
hafte Empfindung. M. v. Fbet (Würzburg).
C. Speabmav. Analysis of „Localieitien'S iUnstrated by a Brown-Siqnard Caae^
The British Journal of Fsychology 1 (3), S. 286. 1905.
Diese Untersuchung soll in erster Linie eine Erwiderung sein gegen,
die, neuerdings von 0. Föbstbb {Monatsschr, f, Psychiatrie u. Nesirol. 9, 1901)
verfochtene Theorie, dafs alle Lokalisation von Tasteindrücken letztlich auf;
Literaturhericht 115
Bewegungsempfindungen beruhe. Dieser Theorie standen die Fälle von
BROWN-S^QüAiKDscher Krankheit entgegen; die daraus erwachsenden Be-
denken glaubte FÖRSTER einfach dadurch abweisen zu können, dafs er die
Richtigkeit der Beschreibung bezweifelte und vermutete, bei quantitativ
genauer Messung würden Resultate herauskommen, welche mit seiner
Theorie übereinstimmen würden.
Spbarman hatte nun Gelegenheit, in der Nervenklinik zu Leipzig einen
Patienten zu untersuchen, der genau die Symptome der BROWN-SÄQUARDschen
Krankheit zeigte. Es ist ein Verdienst Spearmans diese Untersuchung
genauer und vollständiger durchgeführt zu haben als es bisher zu ge-
schehen pflegte, und auch viel genauer, als es Förster getan hatte. Der
wichtige Fortschritt dabei bestand darin, dafs Spearhan sich nicht einseitig
auf eine Art der Lokalisationsprüfung stützte und das auf diese Weise
sich zeigende Verhalten als Verhalten bei Lokalisation überhaupt be-
zeichnete; sondern er sagte sich von vornherein, daTs die verschiedenen^
gebräuchlichen Lokalisationsmethoden verschiedene Fähigkeiten und
Organe ins Spiel ziehen dürften, und dafs es daher gar nicht zu erwarten
sei, dafs die Resultate der einzelnen Methoden untereinander überein-
stimmten. Ebenso sei es möglich, dafs, während sich für die eine Lokali-
sationsart eine Abhängigkeit von den Bewegungsempfindungen zeigt, sich
für eine andere Lokalisationsart eine Abhängigkeit von der Hautsensibilität
konstatieren lasse usw. Es war also notwendig, die Beziehung jeder ein-
zelnen Lokalisationsart zur Bewegungs- und Hautsensibilität zu prüfen.
Dafür eignete sich besonders der Fall von BR0WN-S6QUABDScher Krankheit.
Denn bei einem solchen ist bekanntlich auf jener Seite des Körpers, auf
welcher das Rückenmark verletzt ist, die Bewegungsempfindlichkeit gestört^
die Hautempfindlichkeit aber mehr oder weniger intakt, auf der nicht ver-
letzten Seite hingegen die Sensibilität gestört und die Bewegungsempfind-
lichkeit intakt.
Um die Sensibilität einer Hautstelle zu prüfen, bestimmt Spearman
mittels der Haarmethode von v. Frey die Intensitätsschwelle. Die Be-
wegungsempfindlichkeit mifst er ebenfalls durch Bestimmung einer
absoluten Schwelle und zwar der Schwelle für passive Bewegungen bei
Beugung eines Gliedes im Gelenk mit der Geschwindigkeit von 1 Grade
in der Sekunde.
Zur Prüfung der Lokalisation gibt es nach Spearman zwei Haupt-
methoden: Erstens die Zirkelmethode E. H. Webers; der Verfasser ent-
schied sich für die sukzessive Applizierung der beiden punktuellen
Reize mit einer Zwischenpause von 1 Sekunde; um femer nicht die
Schwelle für die Unterscheidbarkeit der beiden Punkte, sondern für ihre
räumliche Trennung zu erhalten, liefs Spearman angeben, ob der zweite
Reiz höher oder tiefer zu liegen schien. Die zweite Hauptmethode der
Lokalisation bezeichnet der Verfasser als die der „spot-finding" oder „spot-
indicating"; sie besteht darin, dafs die Lage eines berührten Punktes
irgendwie kundgegeben wird. Das Letztere kann auf mehrfache Art
geschehen; es sind mindestens folgende drei wesentlich voneinander ver-
schiedene Arten zu unterscheiden: 1. „simple localisation" ; sie besteht
8*
:116 Literatw'hericht
darin, daTs der berührte Punkt mit der Zeigefingerspitse oder mit einem
8tift zu zeigen ist, bei geschlossenen Augen und ohne Berühmng der Haut.
2. ^,looking methode'S die von Volkmakn zuerst angewendete Methode; die
vorher berührte Stelle wird bei geöffneten Augen auf der Haut bestimmt,
ohne dafs die Haut berührt wird. 3. „groping methode*', die zweite von
E. H. Webbr vorgeschlagene Methode, bei welcher der berührte Punkt bei
geschlossenen Augen durch Betasten der Haut gesucht wird.
Indem Speabhan die genannten vier Lokaliflationsarten, sowie auch
die Sensibilitäts- imd die BewegungBschwelle für alle Glieder und Gelenke
der beiden Beine prüfte — Oberkörper und Arme waren durch die Krank-
heit nicht betroffen — zeigten eich folgende Beziehungen:
Bei simple localisation war mit einer Vergröfserung des mittleren
Fehlers der Lokalisation stets eine Herabsetzung der Bew^ungsempfind*
lichkelt verbunden, und andererseits war bei normaler Bewegungsempfind-
lichkeit der mittlere Fehler der Lokalisation fast so klein wie bei normalen
Individuen. Hingegen zeigte sich kein l^nlicher Parallelismus dieser
Lokalisationsart mit der Sensibilitatssch welle. Dieses Resultat würde also
mit FÖB6TEB8 Theorie vollkommen übereinstimmen.
Ganz anders aber gestaltete sich das Verhältnis der Lokalisation zur
SensibilitiU und zur Bewegnngsempfindlichkeit, als die lookin g- und die
groping- Methode angewendet wurden. Es war im allgemeinen dort,
wo die Sensibilität normal bzw. geschwächt war, auch der mittlere Fehler
der Lokalisation normal bzw. gröfser; hingegen gingen L<^uüisation und
Bewegungsempfindungen nicht Hand in Hand. Interessant ist die Beob-
achtung Spbarmans, dafs bei vereinigter looking- und groping - Methode, wo
Versuchsperson durch Hinsehen und Betasten der Haut die vorher be-
rührte Stelle bestimmte, nicht bessere Resultate erhalten wurden als bei
jeder Methode für sieh genommen; sondern dafs die Resultate der zu-
sammengesetzten Methode zwischen den Zahlen werten lagen, die für die
beiden einfachen Methoden erhalten wurden.
Der Lokalisationsvorgang bei der Zirkelmethode erwies sich als voll-
ständig unabhängig von der Bewegungsempfindlichkeit und ging stets
mit der Schärfe der Sensibilität parallel.
Die bei looking-, groping- und bei Zirkelmethode er-
haltenen Resultate widersprechen also durchaus der Föbstbr-
sehen Theorie. Dafs übrigens Föbstbb im Gegensatz zu Spbabuan bei
der looking -Methode die Lokalisation von der Bewegungsempfiindlichkelt
abhängig, von der HautsensibiUtät unabhängig gefunden hatte, erklärt
letzterer durch verschiedene Stärke der angewendeten Druckreize.
Spbabman sucht nun die von ihm erhaltenen Resultate genauer zu
diskutieren und zu erklären. Er hatte für verschiedene Lokalisations-
methoden verschiedene Resultate erhalten; es bestand daher die Aufgabe,
mit Hilfe der objektiven Resultate und mit Hilfe der subjektiven Analyse
die einzelnen Lokalisationsvorgänge so^R^ohl ihrem psychologischen, wie
auch physiologischen Teile nach zu eruieren.
Was zunächst die simple localisation betrifft, so findet Spxabman als
das Charakteristische des psychischen Vorganges, dafs der Ort der be-
LitertUurbericht 117
rOhrten Stelle und derjenige der zeigenden Fingerspitze unmittelbar
erkannt wird. Nicht die Lage irgendwelcher Körperteile wird vorgestellt,
keine Empfindungen in den Gelenken u. dgl. sind im Bewuffltsein; die
Lage der berührten Stelle und der Fingerspitze, ihre reine „thereness^
(Hierheit) relativ zum Körper und Kopf, wird mit einem Schlage unmittel-
bar erkannt
Spbabman fragt sich, wie dies möglich sei, und beantwortet diese Frage
in folgender Weise: Es ist zweierlei nötig: 1. dafs wir von der Lage aller
Glieder, vom Körper und Kopf bis zum berührten Gliede hin, Kenntnis
haben; diese Kenntnis nennt Speabman „articular messages''; 2. dafs wir
die Lage des berührten Punktes auf dem letzten einfachen Gliede kennen ;
diese Kenntnis wird durch die „negmental messages" geliefert.
Die segmental messages erhalten wir durch die Lokalzeichen der
Punkte des betreffenden einfachen Gliedes. Welcher Natur diese Zeichen
sind, erörtert Spbabman nicht. — Eine längere Auseinandersetzung widmet
er hingegen den articular messages. Er bespricht in Kürze die verschie-
denen Theorien Über den gitz der Lage- und Bewegungsempfindungen, und
kommt selbst zu folgenden Resultaten: Bei Bewegung sind es nicht die
Bewegangsemp findungen, welche die visuelle Vorstellung der Be-
wegung vermitteln, denn diese wären zu wenig differenziert ; sondern diese
Rolle spielen die nicht oder nur unvollkommen zur Apperzeption gelangen-
den blofs physiologischen Erregungen, welche durch die Bewegung
ausgelöst werden. Die, der visuellen Vorstellung der Lage zugrunde
liegenden Erregungen werden überhaupt nie bewufst ; Lage empfindungen
gibt ee also nicht; die sog. Lageempfindungen sind nichts anderes als
irgendwelche Hawt-, Muskelempfindungen usw., welche mit „thereness**
versehen, also lokalisiert sind. Die articular messages, welche als not-
wendige Faktoren zur Reproduktion der visuellen Lage- bzw. Bewegungs-
vorstellung vorhanden sein müssen, mögen ursprünglich, bei Bildung
der Assoziation bewufst gewesen sein ; die Apperzeption derselben ist aber
jedenfalla im entwickelten Zustand als überflüssiges Zwischenglied ent*
fallen baw. unvollkommen ausgebildet Spsaeman weist auch die Auffassung
ab, dalÜB die articular messages aller Gelenke zu einer Mischempfindung
verschmolzen seien, so dafs jede einzelne wenigstens als Komponente
in einer solchen G^amtemp findung ein psychisches Dasein hätte. —
Über den Sitz der articular messages will Spearman keine Entscheidung
fällen; nur das eine liefse sich sicher behaupten, dafs zur Erweckung
der Lagevorstellung einerseits und der visuellen Bewegungsvorstellung
andererseits keine verschiedenen, nämlich von verschiedenen, unabhängigen
Organen kommenden Erregungen in Anspruch zu nehmen sind ; denn Lage
und Bewegungsvorstellung seien stets gleichzeitig normal bzw. alteriert
Spbarmak gebraucht daher auch für beide Arten von Erregungen denselben
Auedruck: articular excitations.
Mag man diesen Erörterungen unbedingt oder nur teilweise zustimmen :
jedenfalls hat Spbabman das eine plausibel gemacht, dafs bei der simple
localisation die Lokalisation dort eine schlechtere ist, wo die Bewegungen
empfindungen stumpfer sind. Denn zur Bestimmung des Ortes brauchen
118 Litet-aturhericht,
wir irgendwelche Nachricht von der Lage unserer Glieder; nnd diese wird
dort unvollkommener Bein, wo auch unsere Erkennung von Bewegungen
und unsere Bewegungsempf in düngen mangelhafter sind.
Bei der Lokalisationsmethode von Volkmamn (looking) und der zweiten
Methode von E. H. Webxb (groping) findet Speabman durch subjektive
Analyse die Vorstellung des berührten Punktes durch reine „thereness*' als
Teilvorgang wieder, und zwar als erste unmittelbare Phase, bevor noch die
Haut betastet bzw. auf sie hingesehen wird. Zu dieser ersten Lokalisation
tritt nun bei beiden Methoden ein „mental image** hinzu, durch welches
die erste Orientierung korrigiert wird; bei der lookin g-Methode ist dieses
Vorstellungsbild visuell, bei der groping-Methode bezeichnet es Speabman
als ^taktil"; das letztere trete ferner später auf als das erstere, nämlich
erst beim Betasten der Haut von selten der Versuchsperson.
Für die Lokalisation eines Punktes innerhalb eines Bildes seiner Um-
gebung sind blofs die „segmental excitations'' nötig, welche, wie Spsabman
stillschweigend voraussetzt, mit der Sensibilitätsschwelle gleichzeitig und
in demselben Grade Alterationen unterworfen sind. Da nun bei looking-
und groping'Methode trotz der ersten simple localisation die schliefsliche
Entscheidung durch die Lokalisation innerhalb des Bildes vollzogen wird,
so müssen die bei den genannten Methoden auftretenden Fehler von der
Sensibilitätsschwelle abhängig sein. Wenn nun dennoch die beiden Lokali-
sationsmethoden an jenen Stellen, wo die simple localisation sehr geUtten
hatte, etwas schlechtere Resultate ergeben haben, so beweist dies nur, dafs
die erste Phase der Lokalisation nicht ganz ohne Einflufs war. Spearman
stellt sich diesen Einflufs so vor, dafs die Korrektur der ursprünglichen
Lokalisation um so genauer ausfallen könne, je richtiger diese Lokalisation
bereits sei.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit hinzufügen, dafs vielleicht indivi-
duelle Unterschiede bestehen, indem der eine sich mehr auf die erste, der
andere mehr auf die zweite Phase stützt. Aus einer solchen Differenz
würde sich die oben erwähnte Abweichung zwischen den Resultaten
FÖRSTERS und Spearmams erklären. Die Versuchsperson Försters müfste
sich mehr auf die erste, die Versuchsperson Spearmaks mehr auf die zweite
Phase gestützt haben.
Bei der looking-Methode zeigte sich die interessante Erscheinung, dafs
an dem Bein, an welchem die Bewegungsempfindungen gestört waren, die
Zehen öfter verwechselt wurden als am andern. Dies erklärt Spearman in
folgender Weise: Um eine berührte Stelle eines einfachen Gliedes auf
diesem zu lokalisieren, dienen uns die Lokalzeichen ; diese leisten hingegen
wenig für die Unterscheidung verschiedener einfacher Glieder, namentlich
wenn die letzteren anatomisch ähnlich sind wie die Zehen oder Finger oder
wie symmetrisch gelegene Glieder. Da nun bei Berührungen jener Glieder,
für welche die Bewegungsempfindungen und somit die articular excitations
geschädigt sind, auch häufiger Verwechslungen vorkommen, so liegt es
nahe zu schliefsen, dafs diese articular excitations zur Unterscheidung der
Glieder mit beitragen. — Auf dieselbe Weise erklärt Spearman auch die
Allochirie. Sie besteht darin, dafs Berührungen an die symmetrisch
Literaturbericht 119
gelegenen Stellen der anderen Körperhälfte lokalisiert werden, und zwar
sowohl von der rechten auf die linke Seite als auch umgekehrt. Da nun
I mit AUochirie stets Schädigung der Bewegungsempfindungen und umgekehrt
' mit der letzteren stets die Symptome der AUochirie verbunden sind, so
I liegt kein Grund vor, für die AUochirie eine andere Ursache anzunehmen,
j wie für die Verwechslung der Zehen. Eine weitere Bestätigung für seine
I Erklärung der AUochirie findet Speabman darin, dafs bei seinem Patienten
die Verwechslung zwischen rechter und linker Seite nach unten hin viel
häufiger wird und zugleich die Bewegungsempfindungen der weiter nach
' unten liegenden Gelenke viel stumpfer sind als die der oberen Gelenke.
Bei der Zirkelmethode findet Spbarman, dafs die Lokalisation mit Hilfe
einer direkten qualitativen Unterscheidung der beiden Reize ausgeführt
werde, auch bei längerer Pause. Ferner sei die Schwelle bei qualitativ
verschiedenen Reizen und bei Ermüdung gröfser, während unter denselben
Umständen die Lokalisationsschärfe bei looking- und groping-Methode nicht
leide. Diese Resultate erwähnt Speabman blofs, ohne vorläufig Genaueres
über die Versuche zu berichten. Rupp (Göttingen).
Diagnostische Assoziationsstadien. 5.^ Beitrag. Bleuleb. Bewnfstsein and
Assoziation. Joum, f. Psychol u. Neurol 6 (3), 126—154. 1905.
„Genau die gleichen funktionellen Gebilde und Mechanismen, die wir
Im Bewufstsein finden, sind auch aufserhalb desselben nachzuweisen, und
beeinflussen von da aus unsere Psyche ebensowohl, wie die analogen
bewufsten Vorgänge. In diesem Sinne gibt es unbewufste Empfindungen,
Wahrnehmungen, Schlüsse, Gefühle, Befürchtungen und Hoffnungen, die
eich von den gleich bezeichneten bewufsten Phänomenen einzig und allein
durch das Fehlen der Bewufstheitsqualität unterscheiden.** Insbesondere
sind auch die Wirkungen eines unbewufsten psychischen Vorganges die-
selben wie die des entsprechenden bewufsten. Handlungen, die erst
bewufst erfolgten, werden allmählich zu unbewuTsten, automatischen ; dafs
die entsprechenden Funktionen wesensgleich sind, geht auch daraus hervor,
dafs in pathologischen Fällen nicht eine ohne die andere gestört erscheint.
Daraus und aus der Plastizität der automatischen Handlungen folgt, dafs
sie nicht zu den Reflexen zu rechnen sind. — Bleulee führt dann eine
Reihe von Beispielen an für unbewuTstes Erkennen, unbewufste Über-
legungen und Schlüsse (z. B. die Wahmehmungsschlüsse), unbewufste Vor-
steUungen (bei mittelbaren Assoziationen), unbewufste Bewegungen (z. B.
beim Gedankenlesen). Auch die FäUe von „mehrfachen Persönlichkeiten"
beruhen darauf, dafs neben einer „oberbewufsten" Persönlichkeit eine An-
zahl von verschiedenen unbewufisten Gruppierungen vorhanden ist.
Da nun die unbewufsten Vorgänge unser Seelenleben genau so beein-
flussen wie die bewufsten, so ist „die bewufste Qualität, das Bewufstwerden
eines psychischen Vorganges" für die objektive „Betrachtung unserer
Psyche etwas durchaus Nebensächliches. Wir haben nur zu untersuchen:
^ Die früheren Beiträge sind besprochen in diesem' ZeitschHft 40,
8. 213/214; 41, S. 230—232; 42, S. 69—71.
120 lAteraturberickt
unter welchen Bedingungen sind psychische Vorgang« beWufst?" Dies«*
Bedingung ist nach Ansicht des Verf. die Assoziation mit dem Ichkomplez,
„d. h. mit denjenigen Vorstellungen , ^mpfindfmgeB, Strebungen, die im
gegebenen Moment unsere Persönlichkeit ausmachen*'. Auch die Ver-
doppelung der Persönlichkeit wird so erklärt: „wenn ein unbewufster
Komplex sich immer mehr Elemente des gewöhnlichen Ich angliedert
(anassoziiert), ohne sich mit dem Ich als ganzeiü zu verbinden, so wird er
schliefslich zur zweiten Persönlichkeit." — Das Wesen der Hypnose ist es,
dafs bestimmte psychische Funktionen gefördert oder gehemmt, zum Ich-
komplex in Beziehung gesetzt oder von ihm abgetrennt werden. — Im
Traum „schlagen die Assoziationen Wege ein, die sie im Wachen vermeiden".
Bas Ich wird daher aus anderen Teilkomplexen zusammengesetzt^ „es wird
also die Persönlichkeit eine andere". — So glaubt Verf. für mehrere bisher
noch ziemlich dunkle Phänomene zeigen zu können, dafs seine Theorie
geeignet sei, zu ihrer völligen Aufhellung zum mindesten einen Beitrag zu
liefern. LipäIank.
Edgar James Swift. Memory Of a COmplez SUllftll act. Amer, Journ, of
Fsychol 16 (1), S. 131—133. 1905.
Im Jahre 1902 hatte S. den Lernprozefs untersucht, der erforderlich
ist, mit einer Hand mit zwei Kugeln so zu spielen, dafs jeweilig der eine
gegriffen und geworfen wird, während die andere in der Luft ist. Zwei
von den damals für die Experimente angewendeten Versuchspersonen
wurden nach 21 bzw. 20 Monaten, nachdem das Spiel bis zum Können ein-
geübt war, wieder von S. auf ihre Fertigkeit geprüft. Nur in den ersten
paar Monaten der zwischenliegenden Zeit waren die Experimente einige
Male wiederholt worden, die übrige Zeit, in beiden Fällen mehrere Monate
über ein Jahr, waren die Versuchspersonen völlig aufser Übung gewesen.
Es zeigte sich, dafs sie, weit entfernt, an ihrer Fertigkeit etwas eingebüfst
zu haben eher bei den Wiederholungen der Experimente, das vorher Ge-
leistete an Vollkommenheit der Ausführung übertrafen. Aall (Halle).
Hekry Rutgers Mabshall. Premttation and Representation. Mind 15 (bl),
53-80. 1906.
Wie jede Reaktion der Materie Ursache ist, dafs die gleiche Reaktion
an der gleichen Materie kaum jemals in völlig gleicher Weise wiederkehren
wird, so stellt auch jede Reaktion der Nervenmasse unseres Gehirns oder,
was psychologisch dem entspricht, jede Vorstellung unserer Seele ein ein-
maliges, in seiner Eigenart einziges Ereignis dar und es war somit ein
Irrtum, wenn die ältere Psychologie annahm, es könne eine Vorstellung
(presentation), die wir gehabt, im weiteren Verlauf des psychischen Er-
lebens als eben die Vorstellung, die sie früher gewesen, aufs neue empor-
tauchen (representation). Steht dieser Sachverhalt fest, so wird man nicht
umhin können, noch einen Schritt weiter zu gehen: auch das, was wir
als einzelne Vorstellung anzusehen pflegen, ist in sich nicht eine Vor-
stellung, sondern eine Abfolge unzähliger Einzelvorstellungen , die von
Moment zu Moment sich verändern und verändern müssen, indem jeder
Literatwrbericht 121
n«u hinzukommende Moment neue Daseinsbedingnngen für den nächst-
folgenden schafft, — Im Gründe ist auch hiermit nur etwas Selbstverständ*
Hohes ausgesprochen, vorausgesetzt nftmlich, dafs Vorstellungen, wie alle
psychischen Ereignisse, für den Psychologen nichts anderes sind als eben
Ereignisse d. h. ein Werden und Vergehen und somit ein ständiger Wechsel.
Wenn aber M. weiterhin es unternimmt, diesen Sachverhalt auch in Schemen
nnd Formeln zum Ausdruck zu bringen, so überschreitet er damit sicherlich
die Grenze des Möglichen, um sich in blofsen Willkürlichkeiten zu verlieren:
denn willkürlich ist es beispielsweise, wenn er annimmt, dafs die Vor>
Stellung eines Momentes über diesen hinaus in der Weise fortdauere, dafs
sie im nächstfolgenden Moment einen ihrer Bestandteile eingebüfst habe,
wieder im nächsten zwei usw.; oder, daTs die Wahrnehmung eines Gegen-
standes („primäre Vorstellung^') immer von einer inhaltlich gleichen, wenn
auch unmerklichen „sekundären Vorstellung*' begleitet sei, weil letztere als
Erinnerung fortdauert, wenn die Wahrnehmung bereits verschwunden, usw.
PßANDTL (Weiden).
R. Wallasch£k. Psychologie and Pathologie der forstellung. Beiträge zur
Grundlegung der Ästhetik. Leipzig, J, A. Barth. 1905. X u. 323 S.
Verf. beabsichtigt, die psychischen Fähigkeiten, Empfindung, Vor-
stellung, Gefühl und Urteil in ihren Beziehungen zur Ästhetik zu unter-
suchen, indem er Ästhetik definiert als die Naturwissenschaft vom künst-
lerisch geniefsenden und produzierenden Menschen.
Seine Forschungsmethode soll die der physiologischen Psychologie
sein, doch auch das pathologische Gebiet in Betracht ziehen.
Im vorliegenden Werk wird zunächst die Vorstellung einer Unter-
suchung unterzogen. Im ersten Teil wird der Ausdruck der Vorstellungen
and seine krankhaften Veränderungen besprochen, im zweiten Teil das
Wesen und der Verlauf der Vorstellungen selbst.
Für die ersen Anzeichen geistigen Lebens erklärt Verf. die „Reflexe der
Empfindung"; er meint hiermit anscheinend nur solche Befiexe, die eine
Empfindung im Gefolge haben, Abwehrbewegungen, die zuerst zwar reiner
Beflexakt eind, aber allmählich zur bewufsten Empfindung kommen, nicht
selche, die wie der Pupillarreflex niemals zur Wahrnehmung gelangen. Aus
den bewnfst gewordenen Reflexen bilden sich die ersten Willkürbewegungen
aus und mit ihnen die Ansdrucksbewegungen und Gesten. Die ersten
Laute, Schreie und später die Worte bedeuten oft eine ganze Erzählung;
es entsteht innerlich zuerst ein ganzer Szenenkomplex, eine Summe
ananalysierter Vorstellungen als Grundlage der Gedanken, erst viel später
bildet sich die Analyse in Sätzen und in Worten in der Sprach entwicklung
des Kindes aus. Aus dieser ontogenetischen Entwicklung leitet W. den,
allerdings nicht neuen, Hauptgedanken seines Werkes ab, dafs in allen
Äusdrucksformen der Intelligenz das Allgemeine (der unanalysierte Vor-
stellungskomplex) früher auftritt als die Einzelteile. Verf. bespricht in
besonderen Kapiteln Sprache, Gesang, Lesen, Schreiben, Musik, Geste und
Aktion. In der Untersuchung dieser Verhältnisse schlägt W. einen der
psychologischen Entwicklung entgegengesetzten Weg ein, indem er von
den Elementen ausgeht und zum Allgemeinen fortschreitet. Da ihm die
122 Literaturhe^icht
Elemente der Sprache und der anderen Fähigkeiten am besten bei Gehirn-
krankheiten zerlegt erscheinen, geht er vom Pathologischen aus und räumt
in seiner Darstellung der Pathologie einen ungleich gröfseren Raum ein
als der Physiologie.
Die klinischen Fälle der Aphasie, Apraxie etc. sind mit einer für einen
Nichtmediziner anerkennenswerten Sachkenntnis und grofser Klarheit er-
<)rtert, mit etwas zu grofser Vereinfachung allerdings, weil in praxi die
Störungen sich nicht in dem engen Rahmen des Schematismus halten.
W. zieht aus seinen theoretisch gewonnenen Resultaten praktische Schlüsse,
die er als Lehrregeln verwendet. Da das Lesen nicht im Buchstabieren
besteht, gibt er den Rat, ein Kind zuerst kleine Worte, dann gröfsere Wörter
und später erst Buchstabenanalyse zu lehren. Ähnliche Lehrsätze gibt er
für den musikalischen Unterricht, da er aus Fällen von Aphasie, die mit
Amusie kombiniert sind, geschlossen hat, dafs auch die Melodie viel früher
von uns apperzipiert wird als die einzelnen Summanden, die Töne. W.
konstruiert aus der einheitlichen Auffassung einer Tonreihe als Melodie
die Notwendigkeit der Harmonie. Die durch Akzente hervorgehobeneu
Haupttöne der Melodie werden in Gedanken festgehalten und ergäben so
die Harmonie der Melodie. In der Melodie liege schon das Bedürfnis
nach Harmonie, die Harmonie sei das Wesen der Melodie. Ref. ist
dieser Auffassung schon verschiedentlich entgegengetreten, da seine mit
£. V. HoRMBOSTEL gemeinsam ausgeführten Studien exotische Musik erwiesen
haben, dafs es viele Völker gibt (Japaner, Türken, Inder u. a. m.), welche
völlig harmonielos musizieren, und dafs psychologisch kein Grund vorliegt,
ein latentes Harmoniegefühl anzunehmen oder gar zu postulieren. Weitere
musikalische Lehrregeln W.s über die Ausführungen der Etüden, über
Durchkomponieren etc. sind wertvoll und interessant, andere Bemerkungen
aber, z. B. über die Berufskrankheiten der Musiker, gehören ganz und gar
nicht in den Rahmen eines psychologischen Werkes. Was hat die Sykosis
der Geiger und das Ekzem der Flötenspieler mit der Psychologie der Vor-
stellung zu tun?
Im zweiten Teil seines Werkes untersucht W. die Vorstellungen selbst,
ihre Beschaffenheit und ihre Assoziation. Zuerst bespricht er die drei
bekannten Vorstellungstypen, auch hier wieder einen starken Schematismus
verratend. Wer experimentell-psychologisch gearbeitet hat und versucht
hat, durch tachystoskopische Versuche seinen eigenen Typus festzustellen,
weifs, wie enorm schwierig es ist, sich als einen akustischen, visuellen oder
motorischen Typus hinzustellen. W. verteilt aber die Vorstellungs typen
bereits auf die Nationen. Die anglikanische Rasse gehöre vorzugsweise
dem Gesichtstypus an (^Naturwissenschaft, Technik), die romanische neige
sich dem Bewegung8tyi)us zu (^Darstellungstalent, Formensinn, dramatische
Tendenz\ der Deutsche dem Gehörstypus (^Philologien oder jenem Gesichts-
typus, der in gedruckten Worten vorstellt ^Bücherwurm )(!!!).
W. untersucht das musikalische Vorstelhingsgebiet und dann das
Denken und Sprechen auf diese drei Typen hin. In der Auswertung der
musikalischen Vorstellnngstypen setzt Verf. den Gehörstypus nicht eben
hoch in der Wertskala; man finde durch ihn nicht leicht die Beziehung
Literaturhericht 123
sum übrigen Seelenleben. Historisch betrachtet, scheint ihm von dem
Bewegungstypus der gröfste EinfluTs auf die Tonkunst ausgegangen zu sein.
Die alte Streitfrage, ob man in Worten denkt oder in Anschauungen und
Bildern, glaubt W. leicht beseitigen zu können: Einige denken nach ihm
in Worten, andere nicht. In Worten denken die Motorischen; diejenigen
aber, die beim Lesen gruppenweise auffassen, bilden auch im Denken
Gruppen. Zum Beweise führt er an, dafs so viele Menschen im Augenblick,
wo sie ihre Gedanken wiedergeben sollen, über die Worte nicht verfügen.(I)
Er verwechselt anscheinend „Worte" mit kunstvoll und stilistisch gut
gebauten Sätzen.
Nach den Vorstellungstypen erörtert W. die Assoziationen der Vor-
stellungen, schliefst aber auch die Empfindungsassoziationen, die streng
genommen nichts mit dem Titel des Buches zu tun haben, in seine Be-
trachtungen ein. Den Hauptwert legt er auf die sekundären Emp-
findungen, die nicht durch einen äufseren Reiz auf das betreffende
Sinnesorgan ausgelöst werden, sondern durch primäre Empfindungen eines
anderen Sinnes. Er bespricht Fälle primärer Gehörsempfindung, denen
sekundär Licht- und Farbenempfindungen, Tast-, Temperatur-, Geruchs-,
Geschmacks- und Bewegungsempfindungen folgen. Nur in wenigen der
W.6chen Fälle scheinen wirkliche sekundäre Empfindungen vorzuliegen,
in den meisten handelt es sich nur um schwache sekundäre Vorstellungen,
einige Bind nur theoretisch nach Analogie konstruiert und wieder andere
sind weder als Sekundärempfindungen noch als Sekundärvorstellungen auf-
zufassen: Die Tendenz, aus dem Tick-Tack der Uhr Worte herauszuhören,
beruht ebensowenig auf einer sekundären Empfindung, wie die Gewohnheit
mancher Individuen, beim Hören von Musik Takt zu schlagen. Denn die
dabei entstehenden Bewegungsempfindungen sind nicht im obigen Sinne
Sekundärempfindungen, da zwischen ihnen und den primären Empfindungen
viele Zwischenstationen im sensiblen und motorischen Zentralapparat
liegen.
W. versucht, nachdem er die bisherigen Erklärungen der sekundären
Empfindungen als ungenügend abgelehnt hat, eine eigene Erklärung:
Manche Menschen besitzen eine ungleiche Dehnbarkeit der Blutgefäfse des
Geliirns; infolge dieser werden auch andere, nicht direkt durch die ent-
sprechenden Nerven erregte Hirnpartien gereizt, indem sie auf den erhöhten
Blutdruck als Reiz reagieren.
Mit dieser Theorie (!) glaubt W. zu erklären, dafs emotionale Erregung
die Photismen verstärke, zunehmendes Alter sie abschwäche, dafs die
sekundären Empfindungen temporär auftreten und in unberechenbaren
Kombinationen erscheinen. Er findet im Haschischrausch eine Bestätigung
seiner Theorie und hält eine Selbstbeobachtung Goethes, dafs Gegenstände
mit zurückgebeugtem Kopfe betrachtet einen farbigen Rand zeigen, für eine
Stütze seiner Erklärung. (Eine Beobachtung, die wahrscheinlich in den
Brechungsverhältnissen der verschiedenen Linsenpartien ihre Erklärung
findet und vor allem der wissenschaftlichen Nachprüfung bedarf. Der Ref.)
Zu W.8 Theorie mufs man nach Ansicht des Ref. eine stattliche Anzahl
von Hilfshypothesen machen:
124 Literaturberichi,
1. Dafs die Blntgefäfse des Gehirns sich anders verhalten als die Blnt*
gefttfse des übrigen Körpers.
2. Dafs nicht in allen, sondern nur in einzelnen Hirnpartien eine
stärkere Dehnbarkeit der Blntgefftfse besteht
3. Dafs durch eine Empfindung ein erhöhter Blutdruck im Gehirn
eintritt.
4. Dafs ein erhöhter Blutdruck im Gehirn einen Sinnesreiz abgibt.
5. Dafs die physiologisch groben Verhältnisse der Blutstauung den
feinen psychologischen Verhältnissen der Synästhesien parallel laufen.
Diese Hypothesen, speziell die zweite, zeigen die Unmöglichkeit. W.s
Erklärung als eine „Theorie*' zu betrachten.
W. mifst den sekundären Empfindungen eine grofse Bedeutung bei,
er erklärt sie für eine Lebensbedingung, denn nichts weniger als den
Instinkt führt er auf Sekundärempfindungen zurück. Er beweist dies an
einem Beispiel : Eine Kuh vermeidet das giftige Kraut Eine Kuh, die vom
(lenufs des giftigen Krautes gestorben ist, kann ihr diese Erfahrung nicht
vererbt haben. (Aber vielleicht eine nur krank gewordene Kuh?? Ref.)
Wenn aber der Anblick oder der Geruch des Krautes sekundäre Geschmacks-
empfindungen auslöst von der Art, als wenn das Kraut schon genossen,
wäre, dann könne man die Enthaltsamkeit des Tieres begreifen. „Der
Instinkt beruhe auf der antezipierenden Funktion sekundärer Emp-
findungen."!!) Es ist Ref. nicht klar, weshalb dem Geschmack eine so
dominierende Stellung vor den anderen Sinnen eingeräumt wird ; es könnte
doch auch die unangenehme primäre Geruchsempfindung zur Erklärung
genügen.
Nach den Assoziationen der Vorstellungen widmet W. ein Kapitel dem
Gedächtnis. Er unterscheidet reflektorisches und bewufstes Gedächtnis.
Gedächtnis ist nach ihm ein zurückgehaltener Imitationsreflex, der sich
mit anderen Reflexen oder deren Spuren verbunden hat. W. bringt Bei-
spiele aufserordentlicher reflektorischer Gedächtnisleistungen, welchen zwar
keine Erhöhung der geistigen Fähigkeiten zugrunde liegt, sondern bei denen
nur der Grad der Reproduktionsfähigkeit gesteigert ist. Den immerhin
geistigen Gewinn solcher Fähigkeiten erklärt W. mit der völligen Ein-
seitigkeit dieser Begabung auf Kosten anderer. W. geht noch einmal auf
seinen Grundgedanken ein, dafs das Ganze sich eher einprägt als die Teile
und gibt dementsprechend Anweisung für das Auswendiglernen speziell
auf musikalischem Gebiet W.s Ansicht, dafs Melodiegedftchtnis ohne
Harmonieverständnis unmöglich ist, mofs R. für unrichtig erklären, da es
ihm in zahlreichen Fällen gelungen ist, harmonielose exotische Melodien,
die er auch harmonielos zu hören gelernt hat, auch im Gedächtnis zu
behalten. Auch in der Auffassung des absoluten Tongedächtnisses muf»
Ref. dem Verf. entgegentreten. W. identiflziert absolutes Tongedäcbtnis
mit einem Erkennen von Obertonfamilien, innerhalb deren der Hauptton
leicht geschätzt wird. Die Schätzung des Haupttones hält Ref. für da»
eigentliche absolute Tongedächtnis, das andere wäre nur ein Klangfarben-
gedächtnis. Zwischen einfachen Stimmgabeltönen und obertonreichen
ungewohnten Klängen besteht in der Schwierigkeit der Höhenbearteilung
Literaturhericht. 125
kein Unterachied. Gewohnte Klänge werden natürlich leichter beurteilt
als ungewohnte.
Nach den physiologiechen Verhältuiesen der Vorstellung geht Verf.
noch auf die Krankheiten der Vorstellung ein, auf Zwangsvorstellungen,
Bausch und yerschiedene Formen des Wahnsinns. Er bespricht einige
französische Experimente über den EinfluDs der Musik auf Irrsinnige und
spricht ihr, den Experimenten zufolge, jeden Heilwert ab. Mit einer Be-
sprechung des natürlichen Schlafes und Traumes und der Hypnose schliefst
das Buch.
Es enthält eine reiche Fülle interessanten Materiales, das allen mög-
lichen, wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen, Quellen entstammt.
Wenn Verf. im Vorwort erklärt, seine Forschungsmethode sei die der
physiologischen Psychologie, dann kann Ref. nur annehmen, dafs er hier-
mit nicht die Methoden der experimentellen Psychologie gemeint hat, denn
das ganze Werk enthält nicht ein einziges, eigenes, systematisch auf-
geführtes psychologisches Experiment. Die gelegentlichen Selbstbeob-
achtungen können nicht als Experimente betrachtet werden.
Otto Abraham (Berlin).
F. Sghümank. Ptychol^gls^O StudtoB. Leipzig. Id04.
1. Abteilung: Beiträge Sir Analyse der fteslektswaknekwuigeA. 1. Heft.
160 S.
2. Abteilung: Beitrige ivT Ptyeholegle üer Zeilwatonehm&g. 1. Heft.
166 S.
Die beiden vorgenannten Hefte der ScHuuAKNSchen „Studien'^ enthalten
eine Keihe von Aufsätzen, die nach und nach in der ^jZeittchnft für Psycho-
logie und Physiologie der Sinnesorgane'^ erschienen und jetzt von Sch.
gesammelt noch einmal herausgegeben sind, „um sie im Zusammenhang
und in bequemer Form den Fachgenossen zugänglich zu machen". Das
Heft der ersten Abteilung wird ausgefüllt durch vier Abhandlungen:
^Einige Beobachtungen über die Zusammenfassung von Gesichtseindrücken
SU Einheiten'', „Znr Schätzung räumlicher GrötaeD**, „Der Sukzessivvergleich"
und „Zur Schätzung der Richtung*' ; die „Beiträge zur Psychologie der Zeit-
wahrnehmung'* enthalten drei Abhandlungen Schümanns „Zur Psychologie
der Zeit&nschauung", „Ein Kontaktapparat zur Auslösung elektrischer
-Signale in variierbaren Intervallen", „Zur Schätzung leerer, von einfachen
Schalleindrücken begrenzter Zeiten", denen sich eine Arbeit von KubtEbhabdt
anschliefst „Zwei Beiträge zur Psychologie des Bhythmus und des Tempo'*.
Die Sammlung wird, wie Schümann in dem kurzen Vorwort mitteilt, fort-
gesetzt werden durch weitere Untersuchungen auf den bezeichneten Gebieten,
die vom Herausgeber selbst oder unter seiner Leitung angestellt sind.
Auf den Inhalt der Abhandlungen im einzelnen einzugehen, dürfte
sich in diesem Zusammenhang erübrigen. Was das Unternehmen als
Ganzes anlangt, so hat sich Schümann meiner Meinung nach den Dank
wttter psychologisch interessierter Kreise erworben, indem er sich zum
Abdruck der Arbeiten in dieser Form entschlossen hat. Das Wesentliche
dabei ist dies, dafs es sich nicht um Spezialuntersuchungen über dies und
jenes handelt, sondern um Untersuchungen, die, wenn sie auch auf mehr
126 Literaturbericht
oder weniger verschiedene Fragen sich erstrecken, doch von einem einheit-
lichen Geist getragen sind nnd ein bestimmtes gemeinsames Ziel im Auge
behalten. Dies Ziel bestimmt 8ch. selbst als die experimentelle Erforschung
ilerjenigen psychischen Vorgänge, die bei der geistigen Verarbeitung der
Hinneseindrücke in Frage kommen. Dabei kommt es ihm vor allen Dingen
an auf die einwandfreie Feststellung der Tatsachen selbst im unmittelbaren
Erlebnis, speziell darauf, in der Feststellung der Tatsachen nur die Beob-
achtung selbst sprechen zu lassen und sie frei zu halten von jedem logi-
sierenden Rftsonnement. Die strenge Durchfahrung dieser — durch die
Resultate der Untersuchung schon genügend gerechtfertigten — Methode
gibt den „Studien"' meiner Meinung nach eine nicht zu unterschätzende
Bedeutung, die hinausgeht über diejenige, die sie für die speziell behandelten
Gegenstände der Gesichts- und Zeitwahrnehmung besitzen, eine Bedeutung
für die Frage der psychologischen Methode überhaupt und für die Grund-
legung der Psychologie als Wissenschaft. v. Asteb (München).
K. 81BGEL. Ober Ranmvorstelliuig und Ranmbegriff. Wissenschaftl. Beilage
zum 18. Jahresber. d. Philos. Gesellsch. an d. Univ. zu Wien. Leipzig,
Barth. 1905. 11 S.
In mustergültig knapper und präziser Form bringt dieser Vortrag auf
seinen elf Seiten eine Fülle anregender, teilweise ganz neu formulierter
Gesichtspunkte zur begrifflichen Scheidung von Kaum Vorstellung
und Raumbegriff. Nun ist es ja schon an sich verdienstlich, auf die Not-
w^eudigkeit dieser Scheidung wieder einmal mit allem Nachdruck hin-
gewiesen zu haben, ganz besonders erfreulich ist aber, dafs der Verf. mit
seiner Untersuchung von Kant ausgeht. Ist es doch für die Raumpsycho-
logie so verhängnisvoll geworden, dafs man den KANTschen Apriorismus
psychologisch anstatt logisch auslegte. So schien der Empirismus
sich mit mehr Recht auf Kant zu berufen als der Nativismns.
Nun ist freilich Kant selbst an den Mifsgriffen seiner NacMolger
diesmal nicht unschuldig In seine transzendentale Ästhetik, die doch auf die
Apriorität des Raumbegriffs abzielte, hat sich die Raumvorstelluns
mehrfach eingeschlichen, ohne dafs er diese Verquickung psychologischer
und logischer bzw. erkenntnistheoretischer Gesichtspunkte bemerkt hätte.
Dennoch ist es falsch, zu sagen, „Kant müfste sich eher für den Empirismus
entscheiden^ (S. ö). Der Verf. hat vielmehr selbst ganz richtig auf den
Punkt hingewiesen (S. 7), wo sich der Nativismus mit Recht auf Käst
beruft.
Durch die Annahme der Möglichkeit Nicht-Euklidischer Räume ist nun
das ganze Kapitel von der transzendentalen Ästhetik revisionsbedürftig
geworden und zugleich auch die Frage nach dem Verhältnis von Raum-
Vorstellung und Raumbegriff in ein neues Stadium getreten. Und zwar
sieht S. die erkenntnistheoretische Bedeutung der Nicht-
Euklidischen Geometrie eben darin, dafs sie n<len klarsten Beireis
liefert für die Differenz von Raumvorstellung und Raumbegriff, ja noch
mehr für die relative Unabhängigkeit des letzteren von der ersteren und
die Erkenntnis jenes Grades von Willkür, der der Bildung des Raunt-
begrifles innewohnt**. Denn sie zeigt, dafs „man nie durch die Anschauung
Literaturberickt 127
entscheiden kann, ob der anschaulich gegebene Raum ein ebener, sphärischer
oder pseudosphärischer ist. Dieselbe Raum anschau ung läfst sich begrifflich
als eben, sphärisch oder pseudosphärisch interpretieren".
Schliefslich wirft S. noch einen kurzen Blick darauf, in welcher Form
die KANTSche Problemstellung: „Wie sind synthetische Urteile a priori
möglich?" für die heutige Erkenntnistheorie wiederkehrt und kommt so
im Sinne Kants zu dem auch für die Raumpsychologie bedeutungsvollen
Schlufssatz, „dafs die Theorie, sofern sie von der Erfahrung unabhängig
und insofern willkürlich erscheint, von anderer Seite, etwa durch die Natur
der Grundfunktionen des menschlichen Geistes notwendig bestimmt sei".
AcKSBKNECHT (Stettin).
J. E. Bbaitd. The Sffect of Terbal Suggestion vpon the Estimatlon of Linear
Hagnltndes. Fsyckol Review 12 (1), 41-49. 1905.
Verf. stellte sich die Aufgabe, die Wirkung von Suggestionen auf die
GroDsenBchätzung von Linien experimentell zu bestimmen. Der Apparat
bestand hauptsächlich aus einem mattschwarzen Schirm mit zwei horizon-
talen. Übereinander angeordneten Schlitzen. Im unteren Schlitz wurden
die suggerierenden Mottos exponiert, im oberen zwei weiTse Pflöcke in
bestimmter Entfernung voneinander, die abzuschätzende Länge darstellend.
Vor diesem Schirm war ein zweiter Schirm, ebenfalls mit zwei Schlitzen,,
aber in solcher Anordnung, dafs man die hinteren Schlitze nie gleichzeitig-
sehen konnte. Darunter war ein Einschnitt, in den der Prüfling zwei
weitere Pflöcke einsteckte, in Übereinstimmung mit seinem Erhinerungs-
bild der gesehenen Entfernung.
Die folgenden Mottos wurden angewendet : Make short enough. Make
long enough. Don't make too long. Don't make too short. Make short.
Make long. Die sinnlose Buchstabenkombination Zwp f jvic bgzx asye. Und
der bedeutungslose Satz Life is real where. Die beiden letzten Mottos
wurden benutzt, um die Versuchsbedingungen ohne bestimmte Suggestion
denen mit Suggestion möglichst gleich zu machen. Das Motto wurde zu-
erst zwei Sekunden exponiert, dann die Pflöcke zwei Sekunden, schliefslich
wiederum das Motto. Im allgemeinen waren die vom Prüfling hergestellten
Entfernungen für Make short enough gröfser als für Make long enough.
Die Entfernungen für Make long waren gröfser als die für Make short;.
und die für Don't make too long waren gröfser als die für Don't make too
Short. Doch fanden sich individuelle Unterschiede und auch Unterschiede
bei demselben Prüfling zu verschiedenen Zeiten. Die Wirkung der Sug-
gestion war manchmal positiv, manchmal negativ.
Da die Wörter long und short an sich einen gröfseren Einflufs auszu-
üben schienen als die Bedeutung des Satzes, in dem sie vorkamen, so
wurden einige weitere Versuche in dieser Richtung angestellt. Diese Ver-
suche führten jedoch mit zwei der Versuchspersonen zu gar keinem Er-
gebnis. Eine dritte Person machte für short die Entfernung fast aus-
nahmslos gröfser, eine vierte die Entfernung für long gröfser. Es scheint
demnach, dafs die Wörter long und short allein einen Suggestiveinflufs
ausüben können. Doch hängt es von mannigfachen Umständen ab, welcher
Art dieser Einflufs ist. Interessant ist es noch zu bemerken, dafs die her-
128 LUeraturhericht
^eetellten Entfernungen tun eo kleiner zu sein scheinen, je bedeutungeloser,
uninteressanter das Motto ist. Dem Motto Life is real where schienen die
Prüflinge am allerwenigsten Interesse abzugewinnen, weniger noch als der
Bucbstabenkombination. Max Mbtxk (Columbia, Missouri).
Kaymond Dodgb. Ths IllvsiOA of Cleur Tision dviiBg Ejs Kovemeat Psydio-
logical BülUHn 2 (6), 8. 193—199. 1905.
Bei schneller Bewegung des Auges nehmen wir, solange die Bewegung
-dauert, keine neuen Bilder in uns auf, ohne uns aber andererseits einer
Verschmelzung der Gesichtseindrücke bewulst zu werden, welche doch die
notwendige Folge der raschen Bewegung sein müfste. Holt hatte zur
Erklärung dieser Tatsache die Hypothese einer zentralen Anästhesie bei
Augenbewegungen aufgestellt und dieselbe auf experimentellem Wege zn er-
weisen gesucht. Verf. weist nach, dafs Holts Experimente, tnlweise unzu-
verlässig, jedenfalls nichts zugunsten seiner Hypothese beweisen. Die Tat-
sache findet vielmehr ihre Erklärung, wenn man bedenkt, da£B ^nenyeits
die Nachbilder der Netzhautreizungen eine nicht unbeträchtliche Zeit in
gleicher Intensität fortdauern und eine gewisse Zeit vergeht, ehe die neuen
Beizungen zu voller Geltung gelangen, und andererseits, dals bei schnellen
Augenbewegungen unsere Aufmerksamkeit von vornherein nicht auf die
Eindrücke während der Bewegung, sondern eben nur auf den Ausgangs-
und Zielpunkt der Bewegung gerichtet ist. Pbaki>tl (Weiden).
L. Laübent. Les prooUis des Utenrs de ptnsief. Jaumal de FsycJiologie
normale et pathologique 2 (6) 481—495. 1905.
L. erklärt das Gedankenlesen auf geringer Entfernung ohne Berührung
<ies Führers und des Gedankenlesers durch Hyperakousie infolge gesteigerter
Aufmerksamkeit in Erwartung bestimmter willkürlicher oder unwillkarlicber
phonetischer Äuiserungen. Gboethüyssn (Berlin).
€. G. Jung. Experimentelle Beobachtungen über du KrinnernngSTemiögeiL
ZentralbL f. NeroenheWc, u. Psychiatr. 28 (196), 653—666. 1905.
Verf. schildert eine neue experimentelle Methode, das „Beproduktions-
verfahren". Es „besteht darin, dafs nach vollendeter Aufnahme der Asso-
ziationen noch einmal überprüft wird, ob sich die Versuchsperson erinnert,
wie sie auf die einzelnen Beizworte reagiert hat".
Wenn das Reizwort einen unlustbetonten Komplex anklingen läfst,
so sucht die Versuchsperson bewufst oder unbewufst diesen Komplex
zu verdrängen, also mit einem möglichst indifferenten Worte zu reagieren.
Es finden sich also bei solchen Reaktionen folgende Eigentümlichkeiten:
1. Verlängerung der Assoziationszeit,
2. Verlängerung auch der folgenden Assoziationszeiten, — da der
Gefühlston perseveriert,
3. Beziehung des Reaktionswortes zu dem Komplex, — da die Ver-
drängung gewöhnlich nur unvollkommen erfolgt,
4. Falsche Reproduktion des Reaktionswortes, — da dieses eben
gewissermafsen nur eine „Ausrede" war und infolgedessen schnell vergessen
wurde, — oder da man „mit Prädilektion das Unangenehme, resp. auch das
mit dem Unangenehmen Assoziierte" vergifst. — Verf. gibt beide Er-
Literaturbericht. 129
klärungen; nach Ansicht des Ref. wird man sich — wenn nicht allgemein,
«o doch in jedem Einzelfalle — für eine von beiden entscheiden müssen;
denn wenn das Beaktionswort eine „Ausrede" war, so war die entsprechende
Vorstellung eben nicht besonders unangenehm und nicht besonders fest
mit etwas Unangenehmem assoziiert.
Verf. weist an zwei pathologischen Fällen nach, dafs diese vier
Momente in der Tat sehr häufig zusammen auftreten, und zwar läfst sich
auch fast immer aus der Art der Keaktion oder durch weitere Auskünfte
der Versuchsperson der unlustbetonte Komplex selbst näher nachweisen.
LiPMANN (Berlin).
Hbunier. Dei rhm Stiriotypte. Journal de Psychologie norm, et pathol 2 (5),
S. 427—438. 1905.
Die Träume sind geistige Vorgänge, die dem BewufBtsein des Schläfers
bestimmte Zustände des Gemüts und des Gemeingefühls übermitteln.
Die Übertragung der Gemeingefühle knüpft an analoge oder ähnliche
subjektive Erinnerungen an, wenn solche vorhanden sind. Ist das nicht
der Fall, so wird vergleichbares Erinnerungsmaterial aus Anklängen der
objektiven Erfahrung und Mitteilung untergeschoben. — Den Gemüts-
zuständen wird die Traum Vorstellung dadurch angepafst, dafs ein Ereignis
«upponiert wird, dessen tatsächliches Ablaufen denselben Emotionszustand
hervorbringen würde. Die Beschränkung geschieht dadurch, dafs aus der
Erinnerung nur absolut Vergleichbares herangezogen wird: durch eine
geistige Kesonanz, die grundsätzlich Gleichklang voraussetzt. Die konforme
Erinnerung wird zur Dominante der Traumvorstellung, auch wenn sie
seinerzeit mit einer quantitativ viel geringeren Anteilnahme wahrgenommen
worden ist.
Aus diesem psychischen Mechanismus der Träume folgt die prinzipielle
Seltenheit stereotyper Träume. Zu ihrem Zustandekommen muTs sich der
. gleiche Anlafs unter den gleichen Bedingungen wiederholen: es muTs sich
eine bestimmte Traumursache ein für allemal unlöslich mit einem be-
stimmten Trauminhalt verbinden. In den Grenzen der geistigen Gesund-
heit erfüllen sich die dazu nötigen Voraussetzungen nur in der Jugend:
stereotype Träume können sich hier also nur an Erinnerungen der Jugend
binden: Dagegen giebt eine Beihe von Fsychopathischen Zuständen jene
Bedingungen im weitesten Umfange. Daher sind bei der Epilepsie, bei der
Hysterie, bei degenerativen Zuständen und im Fhasenwechsel des manisch-
depressiven Irreseins die stereotypen Träume eine häufige Erscheinung.
Ihr Auftreten rechtfertigt aber überhaupt und in allen Fällen die Annahme
einer Psychopathie, wenn ihr Inhalt nicht eben Jugenderinnerungen
reproduziert. W. Altsb (Lindenhaus).
Will S. Mokboe. leiUl Elements of Dreams. Jbiim. of Philos., Psycho!, etc.
2 (24), 8. 650-662. 1905.
Verf. hatte di« 65 Schülerinnen eines psychologischen Kurses ihre
Trftume von 6 aufeinanderfolgenden Nächten aufzeichnen lassen und mbri<
xiert hier die gelieferten Beschreibungen, hauptsächlich nach der Art der
ZeitBOhrift für Psychologie 43. 9
130 Literaturbericht.
Sinnes Wahrnehmungen, welche den Gregenstand des Traumes gebildet hatten
(Gesichts-, Tast-, Geruchs Wahrnehmungen usw.)- Prandtl (Weiden).
Jaxbs Ralph Jbwell. The Psychology of DreiBS. Anier. Joum. of Psycho-
logy 16 (1), S. 1-34. 1905.
Die Grundlage dieser Untersuchung bildet eine Reihe von Antworten»
die auf vom Verf. ausgesandte Fragebogen eingingen. Die Fragebogen
wurden vornehmlich an amerikanische Normalschulen geschickt. Mehr als
200 Träume von ungefähr 800 Individuen sind verwertet, weiter stellte eine
Anzahl reiferer Personen aus dem Bekanntenkreis des Autors, die Tage-
bücher führten, über das was sie geträumt hatten, diese dem Verf. zur
Verfügung.
Verf. gibt zu — was auch vorauszusehen war — dafs eine summarische
Zusammenstellung der auf die Fragen eingegangenen Antworten lange nicht
für die psychologische Erforschung des Gegenstandes so viel gibt wie eine
sorgfältige Prüfung und Vergleichung der mitgeteilten Trauminhalte. Von
der auf das Traumleben bezüglichen Literatur hat J. die deutsche nicht
weiter berücksichtigt. Die Untersuchungen Schernebs und Fbeuds sind
nicht erwähnt ; auch versucht der Autor keine neuen theoretischen Gesichts-
punkte einzuführen, sondern begnügt sich mit einem Referat der bisher
gelieferten Theorien.
Aus den Resultaten sei folgendes hervorgehoben.
Nicht ohne Erfolg werden gewisse Methoden angewendet, um unan-
genehmen Träumen vorzubeugen. — Das Pubertätsalter bedeutet, wie schon
von Mosso festgestellt, einen entschiedenen Wendepunkt, was den Inhalt
des individuellen Traumlebens betrifft ; ein sehr wenig entwickeltes Traum-
leben will der Autor bei einigen in ländlichen Umgebungen aufgewachsenen
Individuen skandinavischer und deutscher Herkunft gefunden haben. Die
motorische Aktivität im Schlafe zeichnet besonders das Kindesalter aus.
Alter, Ort und Nationalität scheinen für die Träume Bedeutung zu haben.
Sander träumen von den Ereignissen, die sie in besondere Erregung ver-
setzen, ziemlich unmittelbar, nachdem solche eingetreten sind; bald nach
dem Eintritt des erwachsenen Alters, treten solche Träume für eine Weile
nicht mehr auf; später, bei der reiferen Jugend und im vollerwachsenen
Alter, ist gewöhnlich der Abstand zwischen einem Ereignis und dessen
Reproduktion im Traume desto gröliser, je gröfsere Bedeutung das Ereignia
für das Individuum hat. Es scheint nach begründeter Annahme, als oh
die Träume vom Fallen und vom Fliegen nur nach der inneren Beurteilung
der BewuTstseinserregung verschieden sind. Das Urteilsleben gestaltet sich
in Ausnahmsfällen auch im Traume logisch. Man kann im tiefen Schlaf«
zustand wissen, dafs man träumt. Die Gefühlserregungen im Traum sind
zum grofsen Teil durch die organischen Empfindungen bestimmt. Die Ver-
mischung der Träume mit dem wirklichen Leben ist unter den Kindern
fast allgemein und kommt auch an jungen und erwachsenen Personen recht
häufig vor. — Der Einflufs der Träume auf das wirkliche Leben ist viel
höher anzusetzen, als man sich gewöhnlich vorstellt. — Es gibt keine
Äufserungsform des Bewufstseins im wachen Zustand, die nicht auch im.
Schlaf vorkommen könne. Aall (Halle).
Literatunberichz, 131
B SE LA GaASSRBis. U l^yeholOgle de l'argot Bevue phüos. 60 (9), 260—289. 1905.
Jede GeseUschaftsschicht hat eine oder je nach den Umständen mehrere
Sprechweisen. G. sucht die psychologischen Motive dieser verschiedenen
Sprechweisen za ergründen. Grobthutsbn (Berlin).
W. B. BoTCB GiBsoN. Predetemünatieft and PenoBal Indeafonr. Mind N. s.
15 (56), S. 494—606. 1905.
Ist die Wirklichkeit an sich schon vollkommen oder hängt der Grad
ihrer Vollkommenheit davon ab, was wir aus ihr erst machen? Ist es
möglich, den Widerstreit zwischen Wissen, das nur die Tatsachen der
Wirklichkeit, und unserem Wollen, das nur die eigenen Vorstellungen im
Gegensatz zur Wirklichkeit gelten lassen will, irgendwie auszugleichen? — Da
Verf. nicht befriedigt ist mit den Antworten, welche Hboel und in neuerer
Zeit McTagoart auf diese Frage gegeben, so versucht er die Lösung des
Problems aufs neue und zwar von psychologischer Seite aus. — Wissen
und Wollen stimmen beide darin miteinander ttberein, dafs sie zielbewufste
Tätigkeiten sind; während aber das Wissen sich damit begnügt zu wissen,
besteht das Wollen darauf, „die Wahrheit des Willens, aus dem es ent-
springt^" zum vollen Ausdruck zu bringen, d. h. zu handeln. £s gibt so-
nach nicht nur ein Wissen von Objekten als Objekten, sondern auch vom
Subjekt als Subjekt, — womit freilich Verf. sich in Gegensatz stellt zu
aller Methode der Wissenschaft und speziell auch der Psychologie. — Mag
auch alle Wahrheit in sich schon vollkommen sein, so wird sie es doch
auf jeden Fall für uns erst dann, wenn wir sie als vollkommen erkannt
haben. Und femer, während die Erkenntnis von Objekten die Wahrheit
als gegeben voraussetzt, ist die Selbstkenntnis die Kenntnis von einem sich
selbst Bestimmenden, noch zu Bestimmenden. — Bei diesen Sätzen haupt-
sächlich bleibt BoTCB Gebson stehen, ohne eine endgültige Antwort auf die
gestellte Frage zu geben. Pbakdtl (Weiden).
Th. Elbknhahb. Die Aifgabe einer Psychologie der Devtnig als Torarbolt fir
die fielsteiwUseisehafteil. GieTsen, Kicker. 1904. 26 S.
Dieser Giefsener Kongrefsvortrag gibt ein allgemeingehaltenes Pro-
gramm wünschenswerter Vertiefungen, deren die Psychologie der Deutung
über Scm.RTBKMACHBBs, BöGKHS und DiLTHBTs Theorie der Hermeneutik
hinaus bedürfe. £. definiert Deutung als den „Vorgang, in welchem wir
aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Geistiges erkennen und wiedergeben''
und grenzt sie von der Einfühlung und dem blofsen Verstehen ab. Er
verlangt namentlich, dafs die wissenschaftliche Methodenlehre neben der
Verstandesseite der Deutung auch die Gefühlsseite gründlicher würdige,
und statuiert ein dem körperlichen Lebensgefühl analoges „Gemeingefühl**,
welches sich z. B. bei der Auslegung geschichtlicher Einzeldenkmäler als
eine Art „historisches Totalgefühl" geltend mache. Auch die Mitwirkung
der Fantasie bei historischer Darstellung sei mehr zu betonen.
Ettlihobb (München).
J. A. Lkiobtoh. Seif amd Io^8olf In Prlmltlfe Izporlenoe. Journal ofFnüos.,
Ftyehol. and Scient Methods 2 (14), 372—376. 1906.
In ziemlich flüchtigen Umrissen deutet L. an, wie er sich die all-
9*
132 Literatlirbericht
mähliche Entwicklung des Selbstbewufstseins , in seiner Sprache aas-
gedrückt der im Bewnfsteein sich vollziehenden Scheidung von Ich und
Nichtich, in der Erfahrung des Kindes denkt. Leider unterlftfst er es dabei,
die Frage des Gegensatzes von Gefühl und Empflndungsinhalt (ein-
schliefslich der Organempfindungen) zu diskutieren, ohne deren eingehende
Erörterung es mir nicht möglich scheint, dem Problem des Selbst-
bewuTstseins wirklich näher zu kommen. In der zweiten Hälfte des Auf-
satzes werden die Begriffe ^^Erfahrung" und ,, Wissen" auseinander gestellt
und in ihrem Gegensatz charakterisiert. v. Astbb (München).
JtjNB E. DowivBT. formal Tariations in the Sense of Reallty. Psychological
Bulletin 2 (9), S. 297-299. 1905.
Verf. zeigt an einer Reihe von Beispielen, daCs das Wirklichkeits-
bewufstsein auch im normalen Leben und auch gegenüber Gegenständen
der Sinneswahmehmung häufigen Schwankungen unterliegt nnd mehr oder
weniger dem Bewufstsein des Nichtwirklichen Platz macht (z. B. im Zustand
der Schlaflosigkeit, der emotionellen Ermüdung usw.). Diese Erscheinungen
mit organischen Störungen in Zusammenhang zu bringen, gibt noch keine
befriedigende Erklärung derselben ; Verf. glaubt es daher mit Fällen sich zer-
streuender Aufmerksamkeit (diffused or distracted attention) zu tun zu
haben. — Ich denke, es sind Unterschiede zu machen. Da das Bewufstsein der
objektiven Wirklichkeit eines Gegenstandes durchaus ein anderes ist als
das der subjektiven Wirklichkeit meiner Wahrnehmung oder Vorstellung
und beide nebeneinander bestehen, so kann das erstere von wenigstens zwei
Bedingungen abhängen: einmal von gewissen Eigenschaften meiner Wahr-
nehmungen, welche dieselben als solche im Gegensatz zu blofsen Vor-
stellungen kennzeichnen, — Downet nennt sie density und solidity. Jede
Herabsetzung des Gesamtvorrates der psychischen Kraft, welche eine An-
näherung an den Zustand des Schlafes und des Traumes ist und die
Empfindungen zurückdrängt zugunsten der Welt der Phantasien, kann so-
nach Bedingung für das Bewufstsein der Nichtwirklichkeit werden. Eine
zweite mögliche Voraussetzung für dasselbe aber ist, dafs dem durch eine
Wahrnehmung oder Vorstellung wachgerufenen objektiven Wirklichkeits-
bewufstsein ein anderes objektives Wirklichkeitsbewufstsein hemmend
entgegentritt. Hierher gehört das Gefühl der Nichtwirklichkeit, welches
einem plötzlich über uns hereinbrechenden grofsen Schmerz oder einer
plötzlichen grofsen Freude anhaftet. Pbandtl (Weiden).
€h. H. Johnston. Tlie Preeeit State of tlie Psyclielegy of FeeU&g. Ffychth
hgical BuüeHn 2 (5), 161—171. 1905.
Eine Aufzählung von Aporien in der modernen Gefühlspsychologie.
In der Selbstbeobachtung bei Gefühl suntersu<;hungen liegt schon eine
Schwierigkeit. Sind Gefühle von Empfindungen klar zu unterscheiden
(Wundt), oder nicht (Münbterbebg, Royce, Titchener) ? Sind sie in Elemente
zerlegbar (Royce, Wundt), oder nicht (Lipps, Tawnby) ? Es ist ja festgestellt,
dafs bei Gefühlsexperimenten gewisse körperliche Veränderungen statt-
finden ; aber welchen Vorgängen ihre graphischen Darstellungen entsprechen,
ist in den meisten Fällen nicht klar. Was soll man mit Gefühlen anfangen.
Literaturbericht I33
wie mit Jamäs' „Gefühl der Beziehung" oder Kbügess „Gefühl der Gewifs»
heit und des Zweifels"? J. geht auf einige experimentelle Gefühlsunter-
Buchungen näher ein, u. a. auf die von Gbnt, Booas. Seine Ausführungen
sollen von neuem auf den unsicheren Stand der heutigen Gefühlspsycho-
logie hinweisen. Gboethuyben (Berlin).
K4TB Gordon. The Relation of Feellng to Dlscrimlnatlon and ConceptioB.
Joum. of Fhilos., Psychol. etc. 2 (23), S. 617-622. 1905.
Grundgedanke der Verf. ist, dafs es nur eine Art elementarer
psychischer Vorgänge gehe, nicht eine Mehrheit von solchen: dies deshalb,
weil es „natürlich^ immer nur ein Grundelement geben könne, — da Ein-
fachheit eines Bings und Verschiedenheit desselben von einer Mehrzahl
anderer Dinge nicht zugleich möglich sei. Bei der Wahl zwischen Wahr-
nehmungen und Gefühlen wird der Vorrang letzteren zugestanden, welche
allein elementar sind. Sie sind es, welche die Kontinuität des psychischen
Lebenszusammenhanges herstellen und insbesondere die Unterscheidung
verschiedener Wahrnehmungen bewirken. Den zweiten Teil des Themas
behandelt die Fortsetzung:
K. GoBDON. Feellng and Ooneeptlon. Ebda, 2 (24), S. 646--6Ö0. 1905.
GoRDON findet, dafs die Gefühle und die Begriffe in ihrer Funktion
sowohl (beide umfassen die Vergangenheit, beide bewirken, angeblich, die
Kontinuität des Bewnfstseins und ermöglichen das Zustandekommen unserer
Schätzungen (valuation), womit Verf. ebensowohl Vergleichungs- als Wert-
urteile meint) als auch in ihrem Inhalt (der Inhalt um so ärmer, je
umfassender der Begriff, je intensiver das Gefühl) völlig miteinander über-
einstimmen. Indes wird eine Angabe über die Beziehung der beiden Fak-
toren zueinander nicht gemacht. Pbandtl (Weiden).
DxTPBAT. La ^syche-physlolegle deg passlons dam la phUesophle andenae.
Arch. f. Gesch. d, Fhilos. 11 (3), 395—412. 1905.
Der Aulsatz, ein Auszug aus D.s „Theorie des passions dans la Philo-
sophie ancienne", stellt die Ansichten griechischer und römischer Philo-
sophen über die körperlichen Grundlagen und Begleiterscheinungen der
Leidenschaften dar. D. bringt diese Ansichten in Verbindung mit den
Theorien von Rebot, James, Lanos. Es scheint nicht angebracht, überall
da, wo von physiologischen Grundlagen oder Begleiterscheinungen der
Gemütsbewegungen die Rede ist, ohne klare Formulierung des modernen
Problems, Analogien mit solchen Theorien zu suchen.
Grojsthuysen (Berlin).
Masselon. Les riactleng affeetlves et Torlg Ine de la donlenr morale. Journal
de Psychologie normale et pathologique 2 (6), 496—513. 1905.
Mit DuxAS unterscheidet M. passive Traurigkeit und akuten seelischen
Schmerz. Bei seelischem Schmerz ist ebenso wie bei passiver Traurigkeit,
wie M. aus Beobachtungen an Melancholikern schliefst, Niedergeschlagenheit
infolge Verminderung der geistigen und organischen Funktionen vorhanden ;
bei seelischem Schmerz kommen aber andere Gefühle hinzu, eine be-
drückende Angst (angoisse), ein Gefühl der Ohnmacht, der Entmutigung.
X34 Literaturberichi.
Den ürtprung dieser Gefühle sieht M. darin, dalis der Deprimierte An-
strengungen macht, aus dem Zustand seiner Betäubung herauszukommen,
diese Strebungen aber an seinem geistigen und körperlichen Unvermögen
scheitern; die Hemmung seiner Strebungen in ihm erzeugt ein Gefühl
unruhiger Angst. Wie M. zugibt, genügt diese Hypothese nicht, um die
ganz spontan auftretende Angst bei Melancholikern zu erklären.
GsoETHUTSBir (Berlin).
V. GiGNoux. Le rtle d« Jvgemeit diif let phteoBteei affeetifs. Bewe phihs,
eo (9), 233-259. 1905.
G. will die „physiologische" Theorie der Gemütsbewegung mit der
„in tellektualist Ischen" Theorie versöhnen. Bestimmte Urteile erzengen
gewisse organische Reize, diese Beize wiederum verursachen Gemüts-
bewegning^n. Um die Möglichkeit, dafs Urteile organische Veränderungen
hervorbringen, zu begründen, beruft sich G. auf suggestive Vorgänge. Auch
in der subtilsten Gemütsbewegung will G. organische Reaktionen vorfinden.
Beim Anblick einer Statue hat unser Körper die Tendenz, die Bewegung
wiederzugeben, beim Anblick eines Bildes folgen unsere Augen der Zeichnung,
der Lichtführung ; bei rein geistigen Gemütsbewegungen wirkt die Gehim-
tätigkeit selbst gefühlserzeugend.
G. geht von der verkehrten Antithese, die Dumas aufgestellt hat,
zwischen physiologischer und intellektualistischer Theorie der Gemüts-
bewegung aus. Auf dem Boden des psycho-physischen Parallelismus, wäre
die Frage aber so zu stellen: kann der Gehirnprozels, der dem Urteil ent-
spricht, einen anderen Gehirnprozefs, der dem Gefühl entspricht, erzeugen»
oder mufs, wie G. meint, zwischen beiden ein peripherischer, oder, wie G.
auch meint, ein zerebro-nervöser Reiz eingeschoben werden? Der Beweis
für seine Behauptung in bezug auf die subtileren Gemütsbewegungen ist G.
nicht gelungen. Eine Theorie, die ästhetische Gefühle auf Augenmuskel-
empfindungen oder geistige Gefühle auf eine Art Gehimempfindungen
zurückführt — oder konsequenterweise beides wenigstens teilweise identi-
fizieren müfste — bedarf keiner Widerlegung. Grobthutsbn (Berlin).
£. Weber. Krltiflcbes und Bigenes «ber du Weinen bei Gemttsbewegug*
Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 28 (16. August) 613—622.
1905.
Nach einer Kritik der DAswiNSchen und WuNDTSchen Theorien des
Weinens bei Gemütsbewegungen gibt W. seine eigene Theorie : Bei Unlust-
affekten entsteht eine Beschleunigung und Schwäche der Herztätigkeit;
dadurch tritt eine venöse Blutstauung und Druckerhöhung in den kleinsten
BlutgefäTsen, also auch in den Kapillarnetzen des Auges ein. Dadurch wird
eine reflektorische Reizung der Tränendrüsen und TränenerguTs bewirkt.
Groethttysen (Berlin).
Bbenier des Montmorakd. Les iUU mystiqnet. Bevue phüos. 60 (Jahrg. 30, 7),
1—23. 1905.
jie Analyse von Selbstbeobachtungen mystischer Ekstatiker und eine
ferner Theorien, die die mystische Ekstase zu erklären suchen.
Literaturbericht. 135
Die mystische Ekstase ist nach M. nichts Pathologisches. Zur Erklärung
dienen Prozesse, die unter der Schwelle des Bewufstseins bleiben und sich
beim Erwachen in heilige Wünsche, scheinbar spontane Tugenden umsetzen.
Groethutsbn (Berlin).
G. Dumas. Pathologie du toirire. Revue philos. 59 (6), ö80->ö95. 1905.
D. fahrt zum Beweis seiner mechanischen Theorie des Lächelns
(cf. Revtie phüos, 1904. 1. Juli und 1. August) Fälle an, in denen eine
krankhafte Minderung oder Steigerung des Tonus der Gesichtsmuskeln
stattfindet. Photographien von Kranken, die an Gesichtsmuskellähmung
leiden, veranschaulichen den ersten Fall, von Kranken, die an Gesichts-
muskelkontraktion leiden, den zweiten Fall. Im ersten Fall erhält der
Gresichtsausdruck etwas Melancholisches, im zweiten Fall nähert er sich,
wenn die Gesichtsmuskelkontraktion eine nicht zu starke ist, dem Lächeln.
Der zweite Fall entspricht dem, in den früheren Aufsätzen beschriebenen,
durch elektrische Reizungen des Facialis verursachten Lächeln. Das
Lächeln ist also, so fafst D. zum Schlufs seine Theorie zusammen, die
leichteste Reaktion der Gesichtsmuskeln auf eine beliebige leichte Erregung
des Facialis. Durch diese Theorie soll keine vollständige Erklärung des
Sinnes, den das Lächeln im sozialen Leben erhalten hat, gegeben werden.
Gboethuysen (Berlin).
JoKASKEB VoLKBLT. Systam dOT ilihetik. I. Bd. München, C. H. Beck.
1905. XVni u. 592 S. geb. 12 Mk.
Volkelt kennzeichnet im Vorwort (S. IV) die Richtung seiner Ästhetik
durch mehrere „Sowohl-Alsauch". Er will den psychologisch-zergliedernden
Charakter der neueren ästhetischen Bemühungen mit „der tiefblickenden,
grofedenkenden, emporreifsenden Weise*^ der spekulativen deutschen Ästhetik
verbinden, er will der sinnlichen Seite des Ästhetischen, auch dem Anteil
der niederen Empfindungen, gerecht werden und doch daran festhalten,
dafs das Ästhetische erst innerhalb der höchsten, geistigsten Betätigungs-
kreise unseres seelischen Lebens zustande kommt, er sucht den Stimmungen
zu ihrem Rechte zu verhelfen und dabei doch den menschUchbedeutungs-
vollen Inhalt des Ästhetischen zur Geltung zu bringen. Auch methodo-
logisch ist seine Ästhetik gekennzeichnet durch den Versuch, psychologische
und normative Gesichtspunkte zu vereinigen. Indessen würde man dem
Werke Volkblts Unrecht tun, wollte man verkennen, dafs mit dieser weit-
herzigen, harmonisierenden Tendenz sich doch eine entschiedene Stellung-
nahme verbindet. Zwar dafs er die metaphysische Ästhetik, wenn nicht
ablehnt, so doch zurückdrängt, ist ihm mit allen neueren Ästhetikern aufser
Ed. V. HAJRTHAim gemein, aber schon die Ablehnung der soziologischen und
entwicklungsgeschichtlichen Methode trennt ihn von einer gröfseren Gruppe
modemer Schriftsteller. Sachlich kennzeichnet sich seine Ästhetik als
Inhaltsästhetik, femer — obwohl selbständige Normen anderer Art auf-
gestellt werden — überwiegend als Einfühlungsästhetik. Innig damit
zusammen hängt eine entschiedene Ablehnung des „l'art pour l'art" Stand-
punktes, eine Vorliebe für die höchsten, weitesten Inhalte des Ästhetischen,
die „Weltgefühle" wie Volkblt sie gelegentlich nennt. Dieser Standpunkt,
136 Literaturbericht
daza der Reichtum an verschiedenen Betrachtungsweisen, eine ausfOhrlich»
Auseinandersetzung mit fremden Meinungen, eine Fülle von Beispielen
geben dem Buche seine besondere Stellung. Unter allen mir bekannten
ästhetischen Werken enthält es die vollständigste systematische Darstellung
des Stoffes, die seit Ed. v. Habtmann versucht worden ist. Noch stärker
wird das vermutlich nach Erscheinen des zweiten Bandes hervortreten.
Während nämlich dieser erste Band in drei Abschnitte zerfällt, die als
methodische, beschreibende (d. h. psychologische) und normative Grund-
legung der Ästhetik bezeichnet werden, soll der zweite die Lehre von den
ästhetischen Grundgestalten (Anmutiges, Erhabenes, Schönes, Charakte-
ristisches usw.) die Lehre von der Kunst im allgemeinen, das Verhältnis
der Kunst zur Kultur, die Metaphysik der Ästhetik, die Ästhetik des Natur-
schönen und die Ästhetik der einzelnen Künste umfassen (vgl. S. 75—77).
Der methodische Standpunkt des ersten Abschnittes wurde bereits
gekennzeichnet. Im einzelnen sei erwähnt, dafs V. die experimentelle Be-
handlung psychologisch-ästhetischer Fragen zwar nicht grundsätzlich ab-
lehnt, doch aber auf ästhetische Vorfragen einfachster Art einschränkt
(S. 36). Den Einwand der Geschmacksverschiedenheit gegen eine wissen-
schaftliche Ästhetik sucht er durch Hinweis auf die fortschreitende Ent-
wicklung abzuwehren (S. 22). Über den Zusammenhang des beschreibenden
und des normativen Teiles äufsert er sich (S. 74): „Beide Abschnitte
gehören eng zusammen. Diese Zusammengehörigkeit geht soweit, dafs die
Abgrenzung des im ersten Abschnitt beschriebenen „seelischen Gebietes
erst durch den zweiten Abschnitt ihre Rechtfertigung findet'' . . . „Denn
erst durch das Ganze der Normen ergibt es sich, dafs die herangezogenen
seelischen Vorgänge ein eigenartiges, bedeutsames, allgemein-menschliches
Wertgebiet darstellen, das die ausgezeichnete Benennung des „Ästhetischen''
und eine besondere wissenschaftliche Behandlung verdient. Natürlich mufs
der Ästhetiker, indem er an den ersten Abschnitt herantritt, bereits die
Normen als Leitfaden für die Heraussonderung der zu beschreibenden
seelischen Vorgänge stillschweigend vor Augen haben". Für das Gresamt-
gebiet braucht V. ausschliefslich den Ausdruck „ästhetisch", d. h. er ver-
wirft mit Gboos die in der deutschen Ästhetik vielfach übliche Bedeutungs-
erweiterung des Wortes „schön" (S. 77 f.).
Im zweiten Abschnitt beginnt V. mit der ästhetischen Wahrnehmungs-
grundlage. Die Wahrnehmung (in der Dichtung wesentlich = Phantasie-
Anschauung) ist auf ästhetischem Gebiete ausgezeichnet durch geschärfte
Aufmerksamkeit, sinnliche Frische und meist durch ein gewisses Verlangen,
Hinstreben nach der Anschauung (S. 881). Der ästhetisch geringe Wert der
niederen Sinne wird vor allem aus ihrem „Stofflichkeitscharakter" d. h.
ihrer engeren Verbindung mit dem Wohl und Wehe unseres Leibes, nur
in zweiter Linie aus dem Mangel an Bestimmtheit, Ordnung und Bedeutsam-
keit abgeleitet (vgl. bes. S. 100 f.). Ausdrücklich wird (Kap. 3) auf die
reproduzierten Empfindungen hingewiesen, die das unmittelbar Empfundene
erst zum allseitig bestimmten Gegenstand ergänzen. Dazu gesellen sich
weiter „Bedeutungsvorstellungen" — und zwar solche stofflicher und
technischer Art (z. B. Marmor, Geigenton, Wort etc.) bei allen Künsten,
dingliche dagegen nur bei den darstellenden Künsten (Kap. 4). V. polemisiert
Literaturbe/icht 137
hier gegen die extreme Fassung der „BegrifElosigkeif* bei Kant, betont
aber, daOs im ttsthetischen wie im gewöhnlichen Verhalten die ausdrückliche
Bedentungsvorstellung oft durch das blofse ,3ekanntheit8gelahl" (8. 128 f.)
ereetst wird (Kap. 5). Im Gegensatz zu Fbchkbb schränkt V. den Anteil
lockerer Assoziationen wesentlich ein. „Nur insoweit die seelischen Funk-
tionen zur Anschauung hinstreben und sich ihr verfthnlichen, sind sie von
ästhetischem Belang'' (S. 135). »^Assoziierte Vorstellungen können für die
ästhetische Würdigung immer nur die Bedeutung eines Dazukommenden
haben ; sei es, dafs sie für das Verständnis des Gegenstandes nützlich sind,
sei es, daXs sie einen gewissen schönen ästhetischen Überflufs bilden"
(S. 140) (Kap. 6). — Nach einer kurzen Betrachtung der symbolischen Vor-
stellungen (Kap. 7) geht V. dann zu den Gefühlen über. Um diesen Ab-
schnitt recht zu verstehen, muTs man beachten, dafs V.s Gebrauch des
Wortes „Gefühl" von dem in der Psychologie üblichen abweicht. Alle die
unbestimmten, das ganze Selbst betreffenden seelischen Vorgänge und
Zustände, die Stimmungen, Gemütsbewegungen mit den in sie eingehenden
Empfindungen und Vorstellungen nennt V. Gefühle. £r unterscheidet die
Gefühle ausdrücklich von Lust und Unlust, die ihm eine „subjektive und
formale Betonung der seelischen Vorgänge" sind (S. 181 f.) Den Anregungen
£. V. IIabtxanns folgend teilt er die Gefühle in persönliche und gegen-
ständliche (in den Gegenstand hineinverlegte). Die persönlichen Gefühle
zerfallen in solche der Teilnahme (z. B. Mitleid) und Zustandsgefühle (z. B.
Niederdrückung, Erhebung) (S. 157 f.). V. sucht dann nachzuweisen, dafs
die Gefühle im ästhetischen Verhalten herrschen (8. Kap.). — Die besonders
durch WiTASBK neu angeregte Fra^e, ob die in die Gegenstände projizierten
Gefühle wirkliche Gefühle oder blofse Gefühlsvorstellungen seien, sucht
V. durch Unterscheidung mehrerer Fälle zu lösen. £s kommt vor, dafs es
sich um wirkliche Gefühle mit projizierender Nebenvorstellung handelt,
in anderen Fällen ist nur die „Gewifsheit der Möglichkeit eines bestimmten
Gefühles'' vorhanden, aber auch diese bedeutet mehr als blofse Vorstellung
von Gefühlen. Auch die Gefühle der Teilnahme sind auf ästhetischem
Gebiete abgeschwächt, nur die Zustandsgefühle haben ihre volle Stärke
(9. Kap.). — Die Lehre von den gegenständlichen Gefühlen fällt zusammen
mit der von der Einfühlung. Volkblt, dessen Verdienste auf diesem
Gebiete ja allbekannt sind, geht sehr ausführlich darauf ein (Kap. 10—14)
und zwar unterscheidet er die Einfühlung in menschliche Gestalten als
Einfühlung der eigentlichen Art von der „symbolischen" Einfühlung in
Untermenschliches. Die Einfühlung kommt z. T. mit Hilfe von Emp-
findungen des eigenen Leibes besonders Bewegungsempfindungen, z. T.
anmittelbar, z. T. assoziativ vermittelt zustande. „Das Ziel ist überall das
gleiche: Verschmelzung der sinnlichen Anschauung mit Stimmung, Strebung,
Afiekt, Leidenschaft. Die Wege dabin aber sind verschiedenartig" (282).
Bei der Betrachtung von „Illusion" und „Phantasie" (15. Kap.) unterscheidet
V. eine ganze Beihe verschiedener Fälle, in denen diese Worte z. T. augen-
scheinlich verschiedene Bedeutung haben. Das Kapitel gibt denen, die
geneigt sind, mit Illusion und Phantasie wie mit einfachen und einheit-
heben Begriffen zu operieren, eine beachtenswerte Lektion. Die Verstandes-
mäfsige Seite des ästhetischen Eindrucks wird als ästhetisches Beziehen
138 Literaturbericht.
und Gliedern (Kap. 16) behandelt. Bei der Abgrenzung der ästhetischen
gegen aufserästhe tische Lust spielen die Normen besonders deutlich mit.
Die eigentlich ästhetische Lust wird als sehr zusammengesetzt bezeichnet.
Im Mittelpunkt stehen die Lustarten, die den Grundnormen des Ästhe-
tischen entsprechen, die Lust der Einfühlung, die Lust am Menschlich-
Bedeutungsvollen, die Lust der Entlastung und die Lust an Gliederung und
Einheit. Dazu treten als allgemeingflltig aber minder wesentlich die
Funktionslust des ästhetischen Wahrnehmens und die Lust der Gefühls-
lebendigkeit. Andere Seiten des ästhetischen Wahrnehmens sind zuweilen,
nicht immer, lustbetont. Dahin gehören die sinnliche Lust des ästhetischen
Wahrnehmens, die Funktionslust des vorstellungsmäfsigen Verknüpfens,
die Lust am Vorstellungs- und Gefühlsinhalte des ästhetischen Gegen-
standes, die Lust an den assoziierten Vorstellungen und die Lust der
besonderen teilnehmenden und zuständlichen Gefühle^. (S. 3&5.) (17. Kap.) —
Mit einer kurzen Betrachtung der ästhetischen Urteile (18. Kap.) endet
dieser zweite Teil.
Der dritte Teil, die normative Grundlegung der Ästhetik, soll beweisen
dafs das bisher Zergliederte ein selbständiges, einheitliches und wesentliches
menschliches Wertgebiet darstellt. „Die ästhetischen Normen sind nichts
Geheimnisvolles und Mystisches; sondern sie fügen zu einem bestimmten
seelischen Tatbestande nur die weitere Bestimmung hinzu, daCs in ihm ein
bestimmtes, wesentliches Bedürfnis der menschlichen Natur seine Be-
friedigung findet." (S. 368.) Die ästhetischen Normen sind zunächst auf
Bewufstseins Vorgänge gerichtet, da diese jedoch durch den ästhetischen
Gegenstand hervorgerufen werden, so kann jede Norm sowohl eine psycho-
logische wie eine gegenständliche Form erhalten. Gegen den Übereifer des
Einheitsstrebens ankämpfend, behauptet V. eine Mehrheit ästhetischer
Normen. „Gäbe es nur eine einzige ästhetische Norm, so würde . . . damit
gesagt sein, dafs das eigentümlich Ästhetische einen einzigen, psychologisch
in sich zusammenhängenden Ursprungsort habe. Werden dagegen vier
voneinander unabhängige Normen angenommen, so bedeutet dies psycho-
logisch: in unserem Bewufstsein gibt es vier voneinander unabhängige Be-
dingungskreise, vier selbständige Ursprünge für das Hervorgehen des eigen-
tümlich Ästhetischen. Jeder Norm entspricht eine bestimmte, psycho-
logische Quelle des Ästhetischen." (S. 370—371.) Dabei fehlt aber dem
ästhetischen Gebiete nicht etwa jede Einheit, vielmehr kommt ihm Einheit
des Zieles und Wertes durchaus zu (1. Kap.). Die erste ästhetische Gnind-
norm wird in psychologischer Bezeichnung als gefühlserfülltes Anschauen,
als Einheit von Schauen und Gefühl (2. Kap.), in gegenständlicher als Ein-
heit von Form und Gehalt bezeichnet (B. Kap.). Form wird dabei als „Ober-
flächenerscheinung der Gegenstände", Gehalt als „erlebte Bedeutung der
Gegenstände" (S. 392) bestimmt. Diese Norm nun hat zwei Seiten, sie
fordert, dafs kein Gehalt ohne sinnliche Gestaltung und dafs keine Form
ohne Gehalt sei. Für den ersten Teil machen die Kunstzweige mit Vor-
stellungsüberschufs z. B. Geschichtsmalerei und Programmmusik Schwierig-
keiten, die eingehend erörtert werden (4. Kap.). Ferner verteidigt V. die
Phantasie-Anschaulichkeit der Dichtung ausführlich gegen Thbodor Mbtbb
(5. Kap.), ohne den Wert seiner Ausführungen zu leugnen. An Stelle der
Literaturbericht 139
Anschauung tritt nach Volkslt oft die „betonte GewiTsheit der Phantasie
Anschauungsmöglichkeit" (S. 417), femer werden Bewegungsempfindungen
des Lesers als „Phantasieleib von Stimmungen" (S. 419) herangezogen. Sie
beschreibt V. für Goethes Gedicht „Über allen Gipfeln ist Ruh" z. B. als
„leises Schweben in der Höhe; gegen den Schlufs hin: Ansatz zu leisem
Herabsinken" (S. 421). Die Forderung der gehalterfüUten Form führt zu
entschiedener Ablehnung der formalistischen Ästhetik (6. Kap.). — Der
Gehalt der untermenschlichen Gebilde wird nicht im Sinne des Objektivismus
als Verkörperung einer objektiven Idee, sondern wesentlich subjektivistisch
als unwillkürliche Vermenschlichung gefaTst (7. Kap.). Die zweite ästhetische
Grundnorm fordert gegenständlich gewendet, dafs der ästhetische Inhalt
menschlich bedeutungsvoll sei. „Der Gehalt eines Gegenstandes ist dann
menschlich bedeutungsvoll, wenn sich uns in ihm etwas von Zweck und
Wert des Menschlichen offenbart" (S. 462). Damit ist nichtssagender
und allzu sonderbarer Inhalt ausgeschlossen. Volkelt bekämpft die z. B.
von Gajrsiebe, Lotze und Lipps vertretene Einengung des ästhetischen
Inhalts auf das Gute (S. 467 f.), (8. Kap.). — Psychologisch läfst sich diese
Norm als Ausweitung unseres fühlenden Vorstellens bezeichnen (9. Kap.).
— Durch diese Norm hängt das Kunstwerk von der Welt- und Lebens-
anschauung des Künstlers ab. Man darf nicht eine bestimmte Lebens-
anschauung von der Kunst fordern, vielmehr ist deren Verschiedenheit ein
grofses Gut. (10. Kap.) — Bei der dritten Grundnorm geht V. wieder von
der psychologischen Fassung aus: Herabsetzung des Wirklichkeitsgefühls.
Wirklichkeitsgefühl haben wir bei Handlungen des Selbsterhaltungstriebes
und zwar haftet es hier ebenso am objektiven Widerstände wie an unserem
eigenen egoistischen Willen. Aber auch im sittlichen, religiösen, wissen-
schaftlichen Verhalten fehlt es nicht. An den Gösichts Wahrnehmungen
macht es sich als „stofflicher Charakter" geltend, der uns glauben macht,
hinter den Oberflächen stoffliche Körperlichkeit zu sehen. All dies fehlt
beim ästhetischen Verhalten und dadurch entsteht ein Kontrastgefühl der
Entlastung, das allem Ästhetischen seine Freiheit und Leichtigkeit gibt
(II. Kap.). Anders gefafst kann dies auch als ästhetische Willenlosigkeit
bezeichnet werden. Ausführlich erörtert V., in welchem beschränkten Sinn
ein unbestimmt gerichtetes Streben hier doch eintreten kann, und bespricht
die Grefahr einer Verunreinigung des Ästhetischen. Bei dieser Gelegenheit
wendet er sich gegen die Ableitung der Kunst aus dem Greschlechtsleben
(12. Kap.). — Der ästhetische Betrachter haftet an der Oberfläche — sein
Sehen ist stofflos — daher das Widrige der Wachsfiguren, die auf die Art
des Stoffes die Aufmerksamkeit lenken (13. Kap.). Auch folgt aus dem
Wirklichkeitscharakter des Erkennens die Erkenntnislosigkeit des ästhe-
tischen Verhaltens (14. Kap.). Gegenständlich spricht man dieselbe Grund-
norm aus, wenn man das Ästhetische als Welt des Scheines bezeichnet.
Der Gegenstand, so lebensvoll er ist, erscheint nicht als Wirklichkeit im
vollen Sinne. Darin besteht die allgemeine ästhetische Illusion (15. Kap.).
— Die vierte ästhetische Grundnorm läfst sich psychologisch als Steigerung
der beziehenden Tätigkeit (16. Kap.), gegenständlich als Einheit in der
Mannigfaltigkeit oder organische Einheit fassen (17. Kap.). Wie diese
Normen zusammenhängen int am besten aus der Zusammenfassung am
140 Literaturbericht.
Schlüsse (18. Kap.) zu erkennen : „Das ästhetische Betrachten und Greniersen
ist eine vielseitigere und gleichgewichts vollere Betfttigungsweise de«
Menschen als jede andere. Anschauen und Fühlen, Aufsenseite and Inner-
lichkeit kommen — gemäfs der ersten Norm — im ästhetischen Verhalten
80 gleichmäfsig kräftig und so innig eins zur Bestätigung wie sonst nirgends.
Der böse Dualismus der menschlichen Natur ist hier überwunden. Aber
auch das Willens- und Gedanken leben des Menschen entfaltet sich reichlich
auf ästhetischem Gebiete. Dabei aber bleiben ihm die Einseitigkeiten des
Handelns und Erkennens gänzlich ferne. Dafür sorgt die dritte Norm mit
ihrer Herabsetzung des Wirklichkeitsgefühles. Und auch die Intelligenz
mit ihrem formalen Verknüpfungs- und Einheitsbedürfnis kommt — gemäijs
der vierten Norm — zu ihrem Rechte, und auch in dieser Hinsicht handelt
es sich um keine unorganische Hinzufügung, um kein Nebenher, sondern
die Gliederung und Einigung ist nichts anderes als eine Ausgestaltung des
fühlenden Anschauens selber. So ist das ästhetische Verhalten eine In-
einanderbildung voll Beichtum und Wohlklang. Und um so wertvoller ist
dieses Gebilde, als sein Inhalt durch jene Gehobenheit ausgezeichnet ist,
die in der zweiten Norm durch das Menschlich-Bedeutungsvolle zum Aus-
druck gebracht wurde" (S. 58^—587).
Absichtlich habe ich das Referat des Gedankenganges nicht durch
kritische Bemerkungen unterbrochen, damit vor allem die Eigenart des
Werkes zur Geltung komme. Volkblt wendet sich in zw^ei Punkten gegen
die Anschauungen, die ich in meiner allgemeinen Ästhetik entwickelt habe,
erstlich gegen die Trennung der Ästhetik von der Psychologie und zweitens
gegen den Versuch, das ganze ästhetische Gebiet als Einheit zu fassen.
Doch ist beide Male der Gegensatz nicht so grofs, wie es auf den ersten
Blick erscheint. Auch' für Volkelt ist ja eine Einheit des ästhetischen
Gebietes vorhanden, auch er bestimmt sie als Einheit des Zweckes und
Wertes. Nun, eine andere Art von Einheit habe ich nie behauptet; nur
bin ich überzeugt, dafs diese Einheit auch als Grundprinzip der Begriff-
bildung, Darstellung und Anordnung zur Geltung kommen mufs. Ferner
gibt ja Volkblt zu, dafs die psychologisch zu beschreibenden Zustände
doch zunächst nicht psychologisch-deskriptiv, sondern durch die gemeinsame
ästhetische Bewertung eine Einheit bilden. Dann aber sind eben gerade
die Grundbegriffe nicht psychologisch. Dafs psychologische Hilfsbegriffe
eine grofse Rolle in der Ästhetik spielen, dafs ferner die genaue psycho-
logische Analyse der durch Wertgesichtspunkte als ästhetisch gekenn-
zeichneten Vorgänge eine wichtige und reizvolle Aufgabe ist, leugne ich
durchaus nicht. Dafs die Forderung, die gemeinsamen Eigenschaften aller
ästhetischen Wertungen zu Leitmotiven der Ästhetik zu machen, keine
blofse systematische Schrulle ist, sondern dafs ihre Befolgung oft allein
das Wesentliche finden lehrt, zeigt auch Volkeltb Werk an manchen Stellen
deutlich genug. So leitet er die Gleichberechtigung verschiedener Lebens-
anschauungen in der Kunst aus der Unbeweisbarkeit der Lebens-
anschauung ab. Dann müfsten doch aber erweislich falsche Bestandteile
der Lebensanschauung sich als Fehler am Kunstwerk geltend machen —
also z. B. müfste es uns stören, dafs im Mittelalter die Erde im Zentrum
der Welt gedacht und die ganze Welt auf dies Zentrum bezogen wird.
Litern tiirbeHcht 141
Nun 18t das bei rein ästhetischer Betrachtung nicht der Fall. Der Grund
jener Gleichwertigkeit liegt vielmehr darin» dafs rein ästhetisch das Kunst-
werk als geschlossenes Ganzes ohne Beziehung zur übrigen Welt gewertet
und angeschaut wird. Dabei fragt es sich nur, ob die darin herrschende
Anschauungsweise in sich geschlossen, zu dem Gegenstand passend, nach-
erlebbar sei — nicht ob die sie leitenden Sätze wahr seien. Sobald man
sich Yom rein ästhetischen Standpunkte entfernt, z. B. pädagogische Gesichts-
I punkte heranzieht, hört jene Gleichberechtigung auf ; nur in beschränkterem
I Umfang kann sie dann wiederhergestellt werden, indem man den aufser-
ästhetischen Wert der ästhetischen Erweiterung des Nacherlebbaren betont.
Wenn Yolkblts Werk weniger als z. B. Fechmbrs Vorschule der Ästhetik
unter solchen Entgleisungen leidet, so liegt das daran, dafs Volkjelt den
Wertgesichtspunkten überall gerecht zu werden sucht, obwohl er ihre
Eigenschaften und Beziehungen nicht, wie ich es anstrebe, zum Grund-
motive der ästhetischen Wissenschaft macht. Weit entschiedener mufs ich
gegen Volkslts Behauptung Protest erheben, dafs einer einheitlichen Norm
auch ein psychologisch einheitlicher Ursprung entspreche. Hier wird
deutlich, daüs der Gegensatz unserer Anschauungen ganz wesentlich auf
dem Gebiete der Psychologie liegt. Volkelt hat von der neueren Psycho-
logie vieles aufgenommen, aber daneben ist er geneigt, das seinem Werte
nach Einheitliche auf eine einheitliche psychologische Funktion zurück-
zuführen. Unter diesem Doppeleinflufs werden seine psychologischen Be-
griffe vielfach schwankend. Wenigstens mir ist es nicht gelungen, was er
unter „Gefühl", „Wahrnehmung", „Vorstellung", Assoziation" versteht, mir
ganz klar zu machen. Dazu kommt, dafs er vielfach das, was logisch als
Voraussetzung in einem bestimmten Vorgang gesetzt ist, auch als psycho-
logischen Bestandteil des betreffenden Bewufstseinszustandes ansieht.
VoLKBLT sucht dann diesen Fehler dadurch wieder gut zu machen, dafs er
sagt, diese Bestandteile seien in verdichteter, gefühlsmäfsiger Form vor-
handen. So wird bei der Einfühlung in Untermenschliches immer eine
Vermenschlichung und eine Abschwächung des Menschlichen — beides in
verdichteter Form — angenommen. In Wahrheit ist für uns die Auffassung
einer Form, Farbe, eines Klanges als ausdrucksvoll durchaus nicht not-
wendig mit der Annahme eines sich ausdrückenden menschenartigen
Wesens verknüpft — es ist also auch nicht nötig, dafs Vermenschlichung
und Abschwächung eintrete. Überhaupt vermisse ich bei der Psychologie
der Einfühlung das Ausgehen von dem allgemeinen Problem des Verständ-
nisses der Ausdrucksbewegungen.
Es schien mir im Interesse der Sache geboten, Art und Umfang meines
Gegensatzes gegen Volkelt scharf hervorzuheben. So wenig dieser Gegen-
satz mich hindert, unsere 'Ol)ereinstimmung in anderen Dingen freudig zu
begrüfsen, so wenig mindert er meine Hochachtung vor Volkelts reichem
Wissen und seinem vorurteilslosen, allseitig prüfenden, vom einzelnen zu
umfassender Systematik aufstrebenden Geist. J. Cohn (Freibürg i. B.).
H. Subeck. Übw wuikallMlie «taftthlilftg- ^^schr. f. Phihs, u, philos. Kritik 127
<1), 1-^17. 1906. .
Die ^Sänfühlung" besteht nicht darin, dafs das betreffende Musikstück
1 42 Liter a turberich t.
tataächlich gewisse Gefühle in uns erregt; sie kann darin, dafs es an-
schauliche Vorstellungen von Gefühlen in uns weckt, auch nur dann
bestehen, wenn es sich um Gefühle handelt, „die sich nach auTsen hin
(pathognomisch) am deutlichsten . . . kundgeben", nicht aber, wenn Gefühle
wie Neid, Ehrgefühl oder gar „Phantasiegefühle", für die wir nicht einmal
einen Namen haben, in Betracht kommen. Vielmehr kommt eine Einfühlung
dann zustande, wenn in der Wahrnehmung sich das gefühlsmftfsige und
das gegenständliche Moment das Gleichgewicht halten; nur dann vereinigen
sich die einzelnen gefühlsmäfsigen Betonungen zu einer Gesamtwirkung,
der Stimmung; nur dann können wir „das Wahrgenommene als Analogon eines
Beseelten'' auffassen. Dieser Gefühlszustand der Stimmung bewirkt nun,
dafs der wahrgenommene Gegenstand selbst uns als stimmungsvoll erscheint.
Wir fühlen also den Gegenstand in uns hinein, indem „wir mit der Vor-
stellung seines Inhaltes das eben als Stimmung bezeichnete in uns erleben".
Da der Gegenstand aber doch immerhin ein Aufsending bleibt, „so erscheint
dieses Äufsere als ein Durchseeltes, und wird dadurch ein Symbol des
Persönlichen". Diese „ästhetische Illusion*', nämlich dafs „die Kluft zwischen
Geistigem und Materiellem sich für den Augenblick wenigstens, schliefst"
ist der Grund für das Lustbetonte in der ästhetischen Stimmung.
Die aufserordentliche ästhetische Wirkung, speziell der Musik, ist
bedingt einmal dadurch, dafs hier „die Stimmung sich aus dem Gesamt-
effekt von Gefühlsqualitäten ergibt, die uns durch die Töne direkt (also
ohne den Umweg über bestimmte Dingvorstellungen) übermittelt werden",
— ferner dadurch, dafs „die überreiche Mannigfaltigkeit von Folgen und
Zusammenklängen der Töne ... in der Instrumentalmusik auch Inhalte
hervorbringen kann, deren gefühlsmäTsige Anmutung . . . individuell gar
nicht zu benennen, die also nicht weiter zu klassifizieren sind", dadurch
also, dafs die „musikalische Einfühlung ... in gewissem Grade schöpferischen
Charakter'^ hat. — Während mir sonst überall, — auch bei Werken der
Poesie und der bildenden Künste — durch die diskursive Zusammen-
fassung der Erscheinungen uns in das Wesen der Sache hineinzuversetzen
suchen müssen, wird uns allein bei der Musik diese Arbeit „wesentlich
abgekürzt und erleichtert, weil hier der Stimmungsgehalt durch die Art
seiner Erscheinung in Tönen, Akkorden, Tonfolgen viel direkter vermittelt
wird als irgendwo anders'' ; wir kommen somit in der Musik viel unmittel-
barer zur intuitiven Erfassung des betreffenden Kunstwerkes.
Es ist, wie gesagt, das Wesen der Einfühlung, dafs wir „das Wahr-
genommene als Analogon eines Beseelten'' auffassen; dieser Prozels ist
gleichfalls bei der musikalischen Einfühlung ein direkterer: in der Musik
darf der Geist „unmittelbar und ohne Mühe sich des Seelenhaften bewuTst
werden, der aus dem Kunstwerke der Töne zu ihm spricht und die Inhalte
seines eigenen Gefühlslebens in ihm anklingen lälst." — Unmusikalisch ist
derjenige, der es nicht liebt, mühelos das Wesen der Dinge zu erfassen,
dem „das BewuTstsein des Hindurchstrebens zum Kern durch die Schale"
„der wahre GuTs des Lebens" ist, dem daher „das Verhältnis der Gefühls-
welt zu den Tönen . . . deshalb belanglos ist, weil hier kein zu über-
windender Gegensatz von Umhüllung und Wesen mehr heraustritt". (Nach
Liieraturbericht 143
Ansicht des Ref. nennt man denjenigen unmusikalisch, der das Wesen des
Musikwerkes überhaupt nicht zu erfassen imstande ist> nicht den, der es
allzuschnell erfafst.) Lipmaivn (Berlin).
SiGM. Freud. Der Witi und seine Besiehang ivm Unbewnfsten. Leipzig
und Wien, Deuticke. 1905. 205 8.
Dieses bedeutende Werk ist eben so angenehm und anregend zu lesen,
wie schwierig zu referieren. Der Gang der Darstellung ist mehr unter-
suchend als systematisch, die Terminologie zum Teil eigenartig, eine Fülle
der wertvoUsten Gedanken verbirgt sich fast in fremden Zusammenhängen.
Eigentlich sollte man auch gar kein Referat davon geben, nur zum Lesen
Lust machen, denn jeder Psychologe und Ästhetiker wird sich mit Freud
auseinanderzusetzen und — mag er auch seine Theorien verwerfen — von
ihm zu lernen haben.
Es ist daher auch nicht meine Absicht, den Gedankengang Freuds
wiederzugeben, ihm Schritt für Schritt zu folgen, vielmehr will ich mich
begnügen, einige Hauptpunkte herauszuheben. Es ist ein Merkmal des
Witzes, dafs er gemacht, d. h. absichtlich erzeugt wird, um mitgeteilt zu
werden. Ferner ist für den Witz die häufige Verbindung mit einer Tendenz
oder einem wertvollen Gehalt bezeichnend. Je nach dem Vorhandensein
oder Fehlen dieser Faktoren kann man gehaltlose und tiefsinnige, harmlose
und tendenziöse Witze unterscheiden. Bei den tendenziösen bzw. tief-
sinnigen mischt sich eine Lust an der Tendenz bzw. am Gehalt mit der
Lust aa der Technik, die allen Witzen gemeinsam ist. Was an der Technik
des Witzes wesentlich ist, erkennt man durch Reduktion d. h. Verwandlung
des Witzes in eine Form, die den Gedanken unverändert läfst, aber nicht
mehr witzig ist. Nach der Technik unterscheiden sich die Witze in Wort-
nnd Gedankenwitz, eine Unterscheidung, die sich mit der vorerwähnten
nicht deckt sondern kreuzt Die beiden Lustquellen lassen sich nicht leicht
trennen ; wir überschätzen oft die Güte eines Witzes, weil uns der Gedanke
oder die Tendenz anzieht, und wir werten leicht, verführt durch die witzige
Form, einen Gedanken zu hoch. Unter den Tendenzen des Witzes sind
die obecöne (Entblöfsung) , aggressive, zynische (gegen gesellschaftliche
Institutionen, ethische und andere Forderungen gerichtet) und skeptische
(gegen die Behauptung des Besitzes der Wahrheit gerichtet) zu unter-
scheiden. Bei ihnen allen handelt es sich um Befriedigung unterdrückter
Triebe mit Hilfe des Witzes. In der Zote, für die bei niederen Volks-
schichten die Anwesenheit einer Frau Bedingung ist, wird der störende
Dritte durch die Witzeslust gewissermafsen zum Verbündeten gemacht, die
sexuell reizende Entblöfsung wenigstens in Gedanken vollzogen. Der
aggressive Witz tritt nur auf, wo das Schimpfen, sei es durch die Stellung
des Angegriffenen, sei es durch die Bildungshöhe des Angreifenden aus-
geschlossen ist. Das Gemeinsame der verschiedenen Witztechniken liegt
in einer Ersparnis an geistigem Aufwände. Beim Wortwitz ist dabei die
Ersparnis an Worten nicht die Hauptsache, sondern dafs an Stelle einer
erwarteten Gedankenverbindung eine blofse Wortassoziation tritt. Wo
der Witz verborgene und unerwartete Gleichheiten feststellt, handelt es
sich wie bei der Lust des Wiedererkennens ebenfalls um eine Ersparnis.
144 Litera turberich t.
Die Widersinnstechniken ermöglichen die Last am Unsinn durch Ersparnis
der Kritik. Das Kind macht and versteht keine Witze, aber es erfreut sich
am sinnlosen Spiel mit Worten. Wo diese Lust am Unsinn, die erste Vor-
stufe des Witzes, infolge der hemmenden Kritik nicht mehr zustande
kommt, sucht der Mensch sie sich indirekt zu verschaffen, dadurch, dafs
er der sinnlosen Zusammenstellung von Worten oder der widersinnigen
Anreihung von Gedanken doch einen Sinn gibt. So entsteht der Scherz,
die zweite Vorstufe des Witzes, die sich vom Witz dadurch unterscheidet,
dafs der Sinn des der Kritik entzogenen Satzes kein neuer oder auch nur
guter zu sein braucht. Als Scherz bezeichnet Fbbüd z. B. die Antwort
Rokitanskys auf die Frage nach dem Beruf seiner vier Söhne: zwei heilen
und zwei heulen (2 Ärzte u. 2 Sänger). Wie man sieht, ist die Grenze von
«Scherz und Witz fliefsend. Die Leistung und Eigentümlichkeit des Witzes
liegt nicht in ihm allein eigenen Lustquellen, sondern darin, innere
Hemmungen aufzuheben und durch sie unzugänglich gewordene Lustquelleii
ergiebig zu machen. „Die Psychogenese des Witzes hat uns belehrt, daCs
die Lust des Witzes aus dem Spiel mit Worten oder aus der Entfesselung
des Unsinns stammt, und dafs der Sinn des Witzes nur dazu bestimmt ist,
diese Lust gegen die Aufhebung durch die Kritik zu schützen'' (S. 110).
Diesen Schutz verleiht der gehaltvolle Witz dem dargestellten Gedanken,
der tendenziöse Witz der entblöfsenden , feindseligen, zynischen oder
skeptischen Tendenz. Die Witzeslust dient hier dazu, die Hemmung gegen
die Durchsetzung der Tendenz zu überwinden. „Es wird geschimpft, weil
damit der Witz ermöglicht ist. Aber das erzielte Wohlgefallen ist nicht
nur das vom Witz erzeugte; es ist unvergleichlich gröfser, um so viel
gröfser als die Witzeslust, dafs wir annehmen müssen, es sei der vorhin
unterdrückten Tendenz gelungen, sich etwa ganz ohne Abzug durchzusetzen.
Unter diesen Verhältnissen wird beim tendenziösen Witz am ausgiebigsten
gelacht." (S. 115). Der tendenziöse Witz stellt sich in den Dienst von
Tendenzen um vermittels der Witzeslust als Vorlust durch die Aufhebung
von Unterdrückungen und Verdrängungen neue Lust zu erzeugen.
Dieses ganze Verhalten des Witzes steht nun in Analogie zum Traum,
wie Frbud ihn auffafst. An jedem Tage werden von uns eine Fülle von
Wünschen und Tendenzen unterdrückt, diese bleiben in einer Mittellage
zwischen Bewufstheit und Unbewufstheit, die Fbbud als das VorbewuTste
bezeichnet. Im Schlaf werden diese Tagesreste ins Unbewulste versetzt.
Hier erfolgt eine Umbildungsarbeit, durch die es gelingt, die Hemmungen
zu überwinden; das so bearbeitete Traummaterial wird dann zur Wahr-
nehmung umgestaltet und so im Traume bewuTst. Die Analogie von Witz
und Traum bei allen offensichtlichen Verschiedenheiten liegt in dem Durch-
bruch unterdrückter Tendenzen mit Hilfe einer unbewuHsten Bearbeitung.
„Ein vorbewufster Gedanke wird für einen Moment der unbewulBten Über-
arbeitung überlassen, und deren Ergebnis alsbald von der bewufsten Wahr-
nehmung erfaJOst: (S. 141) Die Techniken des Witzes zeigen volle Analogie
zu den Techniken der unbewufsten Traumarbeit.
Die Einwände gegen diese Theorie werden sich zum Teil gegen die
Verwendung des Unbewufsten, zum Teil gegen die IntellektuaUsierong
LiteratuHmicht 145
f^afflUsbedingter VoniellnngBabläufe zu richten haben; aber rie werden,
wie ich glaube, mindestens beim Wits einen Kern von Fbeuds Theorie
l)estehen lassen.
Mit der Erklärung des Unterschiedes im Verhalten der witaigen Person
und derer, denen der Wits mitgeteilt wird, beschäftigt sich Fbsoo ein-
gehend. Doch ist es schwer, diese Bemühungen kurz wiederzugeben. Eine
interessante Vergleichung des Witzes mit anderen Arten der Komik be<
schliefst das wertvolle Buch. J. Cohn (Freiburg i. B.).
iBTDio Kore. Tht DümtmIIiUm of tk9 ReliglOM CMSfioMms. Fsyckol
Review Mm, 8up. 6 (4), Whole Nr. 27. 1905.
Wir haben hier eine Untersuchung der Quellen der Religion vom
genetisch-psychologischen Standpunkt aus, von welchem si^ als eine be-
sondere Form von Reaktion angesehen wird. Das Hauptproblem des Verf.
ist die Entstehung der religiösen Stellungnahme gegenüber der Welt in der
menschlichen Rasse. Sie ist eine Entwicklung von einem ursprünglichen
UDspezialisierten Typus der menschlichen Erfahrung. Moderne Naturvölker
werden vom Verf. viel benutzt mit der Absicht den wirklichen primitiven
Wilden darzustellen. Unter modernen Wilden entstehen religiöse Gebräuche
4arch die Bedrückungen des Lebensprozesses, wie die „tuboos*' der Austra-
lier. Es folgt daraus, meint der Verf., dafs alle religiösen Gebräuche ahn-
lichen bestimmten Zwecken dienten. Das ist aber doch nicht so ganz klar.
Sobald nun diese Vermittelungen bestimmter Zwecke ins soziale Bewufst-
sein emporsteigen, steigern sich auch ihre Werte, was sie dann in die
religiöse Kategorie hineinsetzt. Es folgt, dafs religiöse Werte sich aus allen
möglichen Formen des primitiven Lebens heraus entwickeln. Die Religion
ist eine gewisse Stellungnahme des lebenden Individuums Gott gegenüber.
Ist die religiöse Stellungnahme aber eine Spezialisierung des Lebens-
prozesses, so mufs sie auch in funktioneller Beziehung zu diesem Prozefs
«tehen. In anderen Worten: Ist das religiöse innere Bewufstsein eine all-
gemeine Eigenschaft des menschlichen Geistes? Ja können wir nur sagen,
wenn wir die Religion als ein soziales, nicht als ein individuelles Phänomen
ansehen. Der Inhalt des religiösen Bewufstseins ist überwiegend Gefühl
und instinktmäfsig. Dies hat zu der irrigen Annahme geleitet, dafs die
Vernunft nicht wichtig sei in der Erwerbung der Wahrheit. Aufserordent-
liehe physikalische und andere unverständliche Elemente sind nicht nur
möglich, sie sind in der Tat notwendig. Aber solche vermuteten Illumi-
nationen sind nur automatische Äufserungen des BewuHstseins.
W. W. Elwang (Columbia, Missouri).
J. D. Stoops. Tbe Psychology of Religion. Journ. of Philos,^ Psychol. etc.
2 (19), S. 512—519. 1905.
Über das Erwachen des religiösen Lebens (conversion) ; theologisclie
Spekulationen in psychologischer Sprache. Pbandtl (Weiden).
Ibtixo Kno. Tb« Real iid Pieude^sychology ef Religioi. Jaum. of Philo?.,
P9yehol. de. 2 (28), S. €22-626. 1906.
Gott, Unsterblichkeit und dergleichen Begriffe bezeichnen für den
Psychologen keine Tatsachen, sondern bedeuten nur die Auslegung und Be-
Zeltsobrift fOr Psychologie 48. 10
146 lAtercdurbericht
Wertung, welche der religiöse Mensch seinem inneren Zdst4ind gibt. Diesen
letzteren aus dem gesamten Zusammenhang der individuellen Erfahrungen
zu erklären, ist die Aufgabe der wahren Religionspsychologie. Danach kann
in dieser nicht die Rede sein von einem Teilnehmen am göttlichen Leben im
religiösen Zustand; derlei und die obengenannten Begriffe gehören in die
Metaphysik und Theologie, haben aber nichts zu tun mit psychologischer
Wissenschaft. Prandtl (Weiden).
Dromabd. bilde ptychologlqie et ellnlqve sur rfehoprazie. Journal de Psy-
chologie norm, et pathol 2 (3), S. 386—403. 1905.
Die Echopraxie ist die Übertreibung eines physiologischen Vorganges,
der auch beim Geistesgesunden immer nachweisbar bleibt. Auch bei ihm
ist jede Vorstellung einer Bewegung der Anfang einer Bewegung, die trotz
der entgegengesetzten Bewufstseinshemmung tatsächlich wenigstens in
leichter Andeutung stattfindet, wenn jener Vorstellung eine unmittelbare
Wahrnehmung zugrunde liegt. Es kommt dann zur Psychomotorischen
Induktion, wie in den „mouvements symboliques" von Gbatiolbt, in der
unwillkürlichen, gleichgerichteten Bewegung unseres Körpers beim Anblick
starker bewegter Gegenstände, und bei der reflektorischen Mimik, die der
begleitende Affekt meist besonders betont. Es gibt aber auch beim Geistes^
gesunden eine Echopraxie durch assoziative Gewohnheit : Dromard erinnert
an das echokinetische Gähnen und die häufige, unwillkürliche Wiederholung^
von Grufsstereotypieen.
Alle diese Erscheinungen sind obligate Folgen aus der kinästhetischen
Komponente der Bewegungs Wahrnehmung. Ihre Intensität bedingt die
Lebhaftigkeit der Vorstellung und ihr Energie wert ist meist so grofs, daf»
die dabei stattfindende geistige Wiederholung der Bewegung die Grenze
der reinen Subjektivierung überschreitet und eine aktive Nachahmung
wenigstens andeutet. Diese Nachahmung wird sofort verstärkt, wenn die
ihr entgegenstehenden Bewufstseinshemmungen aus irgend einem Grunde
nachlassen. Deshalb erscheint die Echopraxie auch beim Geistesgesunden
in allen Zuständen von Ermüdung, Zerstreuung und Affekt.
Deshalb gewinnt sie aber auch ihre grofse Bedeutung und Ausdehn ung^
unter pathologischen Verhältnissen, die die gleichen Bedingungen darbieten.
Dazu gehören neben dem hypnotischen Somnambulismus vor allem die
Psychasthenie, die Dementia praecox und der idiotische Blödsinn.
Bei der Psychasthenie kann der Tic eine Echopraxie aus assoziativer
Gewohnheit darstellen. Häufiger ist ihre direkte Form als Ausdruck der
grundlegenden Denivellierung der Persönlichkeit. Der Ablauf der
Echopraxie wird hier mit starker affektiver Note bewufst, er kann in
gewissen Grenzen durch den Willen unterdrückt werden. — Eine ganz,
besonders grofse, geradezu beherrschende und kennzeichnende Rolle spielt
die Echokinese bei einigen Zuständen, die der Psychasthenie nahe stehen (?) :
bei dem amerikanischen Jumping, bei den Latah- und Myriachitzuständea
der Malayen und Sibirier und — bei dem — wesensgleichen — Krankheitsbild
der „ Schaff trunkenheit d'Allemagne'' : vielleicht teilt uns D. gelegentlich
Näheres über diese merkwürdige Erscheinung mit.
Literaturhericht 147
Die Echopraxie in der Dementia praecox erinnert an die Stereotypie,
denn sie bleibt prinzipiell aufserhalb des Bewuiüstseins und des Willens
und trägt keinen Stimmungswert. Ihre Ursache ist die psychische Disso-
ziation, also ein Zerfall der Persönlichkeit, der jeder einmal ins Bewufst-
sein eingetretenen Vorstellung die Tendenz verleiht, sich dort zu behaupten.
Beim Idioten kann neben der echten Echopraxie eine Echopraxie „de
memoire"* vorkommen: eine bewufste „manie de Timitation". Die echte
Echokinese ist dagegen hier die direkte Folge der hochgradig beschränkten
Leifltungsfähigkeit, der Defektuosität der Persönlichkeit.
Das verbindende Moment aller dieser Zustände, die die Echopraxie
ermöglichen, sieht D. in der ihnen allen gemeinsamen vermehrten Lenk-
samkeit. Deshalb definiert er die Echopraxie geradezu als eine sehr ein-
fache und reine Form der Suggestibilität. W. Altee (Lindenhaus).
Hbbm AKN Planck. Das Problem der moralluhen Willeiufreihelt Archiv f.
systematische Philosophie 11 (3), S. 323—334. (1906).
Gleich ScHOPENHAüEE, von dem Planck ausgeht, hält er an der durch-
gängigen kausalen Bedingtheit der Willensakte fest. Freiheit ist ihm dem-
nach die Möglichkeit infolge äufseren oder inneren Auftauchens von Vor-
stellungen in bewufstem, nicht vom unmittelbaren Eindrucke bestimmtem
Entschlüsse Willenshandlungen vorzunehmen. Je mehr somit das unmittel-
bare Gefühl ausgeschieden ist, je mehr also Reflexion vorhanden ist, desto
grölser ist die Freiheit. Moralisch frei ist eine Handlung, wenn sie frei ist
von Gründen des äufseren Wohlergehens und nur bestimmt durch stärkere,
innere Motive des geistigen oder moralischen Lebens, durch rein moralische
oder selbstlose Motive. Soweit sind wir, wenn wir von der psychologischen
Fassung absehen, mit Planck eins. Widersprechen aber müssen wir ihm,
wenn er sagt, der Determinismus lasse regelmäfsig nur äufsere, egoistische,
nicht auch innere, selbstlose Beweggründe gelten. Das fällt dem Determi-
nismus nicht ein. Wir erinnern nur an die Darstellungen des Determinismus
von Beneke, Lifps, Winpelband, Pfisteb, dem Keferenten und anderen,
speziell bei der Begriffsbestimmung der sittlichen Freiheit. Übrigens selbst^
wenn diese Darstellungen, in denen die Kontroverse zwischen Indetermi-
nismus und Determinismus den Kernpunkt bildet, auch von jenen ,,inneren"
Motiven nicht reden würden, täte es nicht viel zur Sache — zu ihrer
Sache. Handelt es sich doch hier nicht sowohl um die Qualität der Motive,
sondern vielmehr darum, ob der Wille d. h. die menschlichen Willensakte
jederzeit und vollständig von Motiven bestimmt sind oder nicht. Es ist also
eine formale Frage, eine Frage nach der Form des Geschehens, ob nämlich
auch die Willenshandlnngen dem gesetzmäfsigen kausalen Zusammenhang
eingefügt sind oder davon eine Ausnahme machen. Gleichgültig bleibt es
in diesem Streit, ob die Motive egoistisch oder altruistisch sind. Und
widersprechen müssen wir Planck auch, wenn er weiter dem Determinismus
vorhält, er nehme dem Willen die selbst einen Inhalt herbeischaffende
Aktivität und verflache so dessen Selbstbestimmung zu einem blofs passiven
Bestimmtsein. Der Determinismus verurteilt das Ich keineswegs zur
Passivität, auch ihm gilt es als eine Kraft, als einer — und nicht der ge-
ringste — der Faktoren, die die Handlung herbeiführen. Übrigens klingt
10*
148 lAterahurbeneht
jene Wendung, fOr sich genommen, sUrk an den sogenannten relativen
Indeterminiamna eine« Kstma^ Scbkll^ GrTBBBLxr und nur des VerfassefB
-aoadrllckliche Versichernng, dafs alle Handinngen psychologisch notwendig
seien, schalst ihn daTor, dieser Grnppe der Halb-nnd-Halhen sngeiechnet
an werden. Den SchlnlB der Abhandhing bildet ein Hinweis auf das philo-
sophische System Kabl Plahcks, mit dem Vetf. sich im wesentlichen eins
fohlt. M. OPFim (MUnchen).
Ahqie L. KsLLooe. Tht PeiilMIttr •t A PfeyiMigkil GeuiteitieB •! RrMdM.
J<mmal af Fhih9opky, Ftyd^ohgy ßnd Säentifie^eiMk S (10), 8. 960-267.
1905.
Ausgehend von der übrigois nicht sutrelfenden — oder doch jetst
nicht mehr als frOher zutreffenden — Anncht» der Kernpunkt in dem
gegenwärtigen Streit um die Willensfreiheit liege in der Definition der
Freiheit als praktischer Wahrheit oder sozialer Notwendigkeit, setzt sich
Verf. mit Jambs und Müvbtbkbbso auseinander, welche, streng scheidend
zwischen Psychologie und Philosophie, auf dem Gebiet der ersteren den De-
terminismuB vertreten , auf dem der Metaphysik aber den Indeterminismus.
Kbllogo bekftmpft diese Theorie, tritt fflr den Determinismus ein und
glaubt einen Ausweg zu finden, wenn er Freiheit definiert als eine Be-
zeichnung für Intelligenz, Ordnung und Methode in unseren Handlungen.
M. Offmes (München).
G. Trüc. Um Ulititi ie U ctiMleMe attile. Bevue pkOo: 60 (9), 90O-313.
1906.
Die Verantwortlichkeit ist eine Illumon. Sie besteht ursprfinglicfa in
der Meinung, wir seien frei und unmittelbar die Urheber unserer Hand-
lungen. Bei Steigerung der geistigen Aktivität steigert sich das Identitftts-
bewufots^n derart, dafs wir ihm Tatsachen zuschreiben, in denen es nur
nnbez weifelbar gegenwärtig ist. Zwingt uns nun das gesellschaftüche Zu-
sammenleben, welches nach T. erst die Moral erzeugt, zu gewissen Hand-
lungen, so flbereehen wir die Notwendigkeit und glauben frei nach moralischen
Vorstellungen zu handeln und für unsere Handlungen verantwortlich zu sein.
Gaoarrnnrazir (Berlin).
PnuB Jakr. Let tälllllttoM dl BlfMl Beatal. Atti del V. Congreeso
Intemazlonale di Psicologia tenuto in Roma. Borna» Fonani. 1905.
8. 110—196. Auch: Bevue dm iditB. Octobie. 1905.
Die landläufige Anschanung bewertet die gtmdaelle Ausgestaltiuig der
Geistestäti^eit nach abgeschloesener Entwicklung als eine im wesentlichen
stationäre GrOfoe. Gegenüber dieser irrigen AuffMsnng betont iäxn die
Tatsache der kontinuierlichen geistigen Veränderung durch ebenso häufige
wie erhebliche Schwankungen in der Kraft, der Ausdehirang und der Voll-
kommenheit der psychischen Prozesse. Diese Schwankungen werden im
allgemeinen wenig berücksichtigt — sie vudienen aber tatsächlich die
gröfste Beachtung. Denn ihre subjektive Wahmehmmig und ihre Rück-
wirkung auf das BewuXstsein begründen eine grolse Reihe von viri*
i
■r
lAteruhfrherieht 149
erörterten Erscheinungen aus der normalen und der pathologischen Psy^
ehoiogie.
Dasu gehören gewisaa plötiliche ZnstandsUnderungen in der Hysterie.
Nicht die einfachen Formverschiebungen vom Typus des Transfert, die J.
im inneren Wesen der Hysterie begründet sieht, sondern die unvermittelten,
vollständigen Remissionen, in denen der ganze Zustand der Hysterie
momentan lar&cktritt. Solche radikale Änderungen der Be wufstseins a u s -
dehnung heben mit der Einengung des Bewufstsains und der Vorsteliungs-
Utigkeit auch die obligate Suggestibilitat auf; sie sind stets von starken
Glücks- und Kraftgefflhlen begleitet. Ihr Eintret^i erfolgt euweilen spontan
oder nach langer Ruhe, meist bindet es sich aber an Gemütsbewegungen
and Aufregungen jeder Art. Es kann aber auch in der Hypnose erzielt
werden: man kann also die 8nggestibilitftt durch die Suggestion selbst auf-'
heben und Kranken mit schweren geistigen Störungen eine normal funktio^
nierende Geisteetatigkeit verschaffen. Freilich nur für kurze Zeit; denn,
die Dauer dieser Schwankungen ist in der Regel sehr beschränkt.
Das gilt auch für die akuten psychischen Niveauänderungen in
psychasthenischen Zuständen. Eine klassische geistige Schwankung ist die
peycholeptische Krise: sie mufs als eine abrupte geistige Denivellierung auf-
gefafst werden. Entgegengesetzte Ausschläge bedeuten die „lichten Augen-
blicke'* der entwickelten Psychasthenie, in denen sich die „unzulängliche"
psychische Leistungskraft momentan zu einer objektiv und subjektiv voll-
endeten geistigen Geschlossenheit restituiert. Sie folgen besonders häufig
aus endogenen und exogenen Einflüssen auf den Stoffwechsel, sie schliefsen
sich bisweilen an ähnliche Anlässe wie die Remissionen der Hysterie: sie
sind aber nie hypnotisch erreichbar.
Andere Psychopathien, wie das manisch-depressive Irresein, zeigen
ähnliche Vorgänge in nicht minder scharfer Ausprägung.
Aber auch im normalen Geisteszustand finden sich prinzipiell ver-
gleichbare und bis zur RegelmäXsigkeit häufige Schwankungen von nicht
geringerer Ausdehnung. Denn sie überschreiten auch da die Grenzen des
Wesentlichen, indem sie das normale geistige Geschehen ins Pathologische
übersetzen. So begreift J. den Vorgang der Ermüdung: ihr Auftreten
bedeutet ihm im Grunde nichts anderes, als die Etablierung eines mehr
oder weniger ausgeprägten psychasthenischen Zustandes. Ähnlich inter-
pretiert er die Traumzustände : nur stellt er sie der Hysterie nahe, weil sie
gleich dieser auf einer weitgehenden konzentrischen Einengung des Be^
wulstseins beruhen. Und die gleiche Anschauung überträgt er schlieüslich
auch auf die emotionellen Zustände. Den psychischen Anteil des Syndroms^
das die gemütliche Aufregung, die Forderung einer unvorbereiteten An-
passung bei dem Gesunden hervorruft, sieht J. nicht mit der alten Lanos-
sehen Theorie in einer „extramotion'', in einer sekundären Rückwirkung
physiologischer Vorgänge aufserhalb des Bewufstseins , sondern in einer
direkten „intramotion'', deren psychischer Effekt bald als Beruhigung, bald
als Erregung hervortritt. Wovon diese entgegengesetzte Wirkungsmöglichkeit
eigentlich abhlUigt, läfst er leider unerörtert: zum Nachteil seiner Beweis-
führung, die in dem eventuellen psychischen Erregungszustand wieder die
150 Literatwrbericht
fandamentalen Grandzüge der Psychasthenie nachzuweisen sucht: die
Insuffizienz oder den Verlust der „Funktion der Wirklichkeit" durch eine
allgemeine Herabsetzung der allgemeinen psychischen Spannung, auf deren
Oszillationen Janet schliefslich überhaupt alle Schwankungen der Geistes-
tätigkeit zurückführt. W. Alteb (Lindenhaus).
H. Stasblmann. Gelttetkraikhait ud laturwitseucbilt MstMkraiUieit
iBd Sitte. Miteskrtakheit ud «eBiaUttt fiaislMknilüieit ud MUkul
München, Gmelin. 1905. 43 S. Mk. 1.
Verf. wünscht, daCs die physikalisch-chemische Betrachtungsweise in
der Psychiatrie zwecks Diagnostik und Therapie der Psychosen, besonders
in deren Frühstadien, mehr als bisher berücksichtigt wird. Das Handeln
Geisteskranker liegt aufserhalb der Adaptationsmöglichkeit an eine all-
gemeine Sitte; chemische und physikalische Methoden werden nach ihm
künftig die Frage beantworten, inwieweit der einzelne zur Bechenschaft
zu ziehen ist. Er erörtert dann die Beziehungen zwischen Geistesstörung
und Genialität und bespricht die naturwissenschaftlichen Faktoren des
Schicksals, der Beaktion der äufseren Welt auf den Menschen.
Ernst Schultzb (Greifswald).
H. Stadelmann. Du Wesen der Psychoie auf Gnidlige modener natirwisiei-
scbaitllcher AischtaiiBg- Heft V. Die Paraioia. Heft VI. Die Iftlepsle.
München, Gmelin. 1905. S. 18?— 277.
Im Bahmen eines Referats nicht wiederzugebende Ausführungen über
das Wesen und die Pathogenese der Paranoia und Epilepsie.
Ebnst Schultzb (Greif swald).
Fbanz Kbaheb. Die kortikale Tutllbraug. Monats9chr. f. Psychiatrie u.
Neuroloffie 19 (2), 129—159. 1906.
Zur reinen Tastiahmung können nur solche Falle gerechnet werden,
in denen die Sensibilitätsstörungen zu gering sind, als dafs sie die Störung
des stereognostischen Perzeptionsvermögens genügend erklaren könnten. Im
Gegensatz zu der Meinung mancher Autoren, die den Ausfall des Tast-
Vermögens stets auf einfache Sensibilitätsstörungen zurückführen wollen,
ist zu betonen, dafs es Falle gibt, in denen eine von den elementaren
Sensibilitätsstörungen unabhängige und selbständige, das Tastvermögen
aufhebende Störung vorliegt. Das ergibt sich vor allem aus einem Ver-
gleich der Fälle hochgradiger Sensibilitätsstörung peripherer Natur ohne
Tastiahmung mit Fällen geringer Empfindungsstörungen, die noch eine
Tastiahmung zeigen. In solchen Fällen ist neben der Tastlähmung häufig
die feinere Motilität in Form einer kortikalen Ataxie affiziert (Bevorzugung
der peripheren Extremitätenabschnitte). Unter den verschiedenen Emp-
findungsarten sind besonders die komplizierteren (Lokalisation, Bewegungs
empfindung usw.) gestört. Das sind diejenigen Wahrnehmungsqualitäten,
die — gegenüber den einfacheren Sensibilitätsarten (Berührungs-, Schmerz-
Temperatursinn etc.) — die stärksten Ansprüche an ihre zentrale Ver-
arbeitung stellen. Wo die höchste Leistung des Tastvermögens, die Fähig-
keit zur Bildung einer räumlichen Vorstellung von einem Gegenstande,
LUeraturbericht 151
snfgehoben ist, sind auch diese Wahrnehmungsakte in der Regel gestört,
«o dals also absolut reine Tastlähmungen nur aufserordentlich selten sind,
wenn sie überhaupt vorkommen.
Das Zustandekommen einer Tastlähmung hat man sich daraus zu
•erklären, dafs „die Verarbeitung der Wahmehmungselemente zum Tastbilde
Schaden gelitten haf*; es handelt sich um eine assoziative Störung, um
eine Lösung der betreffenden kortikalen Assoziationskomplexe (Bonhöffbb).
Obgleich die Wahmehmungselemente in genügender Weise perzipiert
werden, können diese nicht derart verarbeitet werden, „dafs das körperliche
Bild des betreffenden Gegenstandes zum BewnÜBtsein kommt". Den
wichtigsten Faktor in der Genese der Tastlähmung spielt offenbar eine
Schädigung der kompliziertesten Akte des Tastens, der Kombination der
Simultan- und der Sukzessiveindrücke.
Das Symptom der Tastlähmung weist auf eine kortikale Erkrankung
hin (Wsrnickb). Die Frage nach ihrer Lokalisation in der Binde läfst sich
nur allgemein dahin beantworten, dafs sie in naher Beziehung zur moto<
rischen Rindenprojektion der Hand stehen mufs, dafs beide Projektions-
felder aber nicht ganz identisch sein können.
Spiblmbyeb (Freiburg. i. B.)-
Adolf Mbteb, Aphula. Psychological BMetin 2 (8), S. '^1—277. 1905.
Mbtbb bespricht Wbbnickbs letzte grofse Veröffentlichung: „der apha^
•sische Symptomenkomplex^. In seiner Kijtik wiederholt er die Einwürfe
von Bastian und Dbjebinb. Darüber hinaus tadelt er besonders die unge-
nügende Berücksichtigung der partiellen und gemischten Sprachstörungen
und allgemein die viel zu weit gehende Schematisierung der Tatsachen.
W. Alteb (Lindenhaus).
B. Hknnebbbo. Ober viToUstiadige reine Worttanbheit Momtsschr. f. Psy-
chiatrie u. Neurohgie 19 (1 u. 2), 17—38 u. 169—179. 1906.
Die klinische Analyse eines seit mehreren Jahren stationären Falles
von unvollständiger reiner Worttaubheit gibt dem Verf. Veranlassung, einen
Überblick über den heutigen Stand der Lehre von der reinen Worttaubheit
in dieser Arbeit zu bringen. Diese Störung ist eine der seltensten Formen
aphasischer Herderscheinungen. Sie ist charakterisiert durch die Auf-
hebung des Wortlautverständnisses und durch die Unfähigkeit,
nachzusprechen und auf Diktat zu schreiben. Diese letzteren Symptome
«ind als notwendige Folgeerscheinungen des (ersten) Grundsymptomes auf-
zufassen.
Die reine Worttaubheit kommt in verschiedenen Graden der Aus-
bildung vor. Im vorliegenden Falle ist im wesentlichen das Lautverständnis
für kompliziertere Silben- und Wortgefüge aufgehoben (Satz- oder Rede-
taubheit) ; Vokale, Diphthonge, einzelne Konsonanten und einfache, häufigere
Worte werden meist richtig aufgefafst; Melodien werden nicht erkannt.
Solche Fälle reiner Worttaubheit haben ein allgemeineres psycho-
physiologisches Interesse vor allem deshalb, weil aus der Art des Defektes
(der Störung der primären Identifikation [Webmckb]) der Schlufs gezogeA
werden darf, dafs zwischen Hören und Verstehen (Wortsinn Verständnis)
152 LitenOuHteru^L
noch ein dritter geistiger Vorgmng eingeecfaoben ist: des Erkennen der
gehörten Worte (Wortlantvemtftndnis). Bevor es zu einem Verstftadni»
des Wortsinnes kommen kann, müssen die gehörten einzelnen Laute an*
sammengeschmolzen und au dem entsprechenden Wortklangbild verarbeitet
sein. Diese Fähigkeit der sensorischen Koordination ist in den reinen
FlUlen von Worttanbheit geschädigt, bzw. aushoben.
Die Worttanbheit kann dnrch eine peripherisch gelegene Laaion
(Acnsticns, Labyrinth, Mittelohr) bedingt sein. Fftr die Unterscheidung'
dieser peripheren Affektionen von den hier in Rede stehenden Fallen
zerebraler Worttanbheit ist in erater Linie der Nachweis maßgebend, dafa
das von Bkzold f flr das Verständnis der Sprache als erforderlich festgestellte
Gebiet der Tonreihe mit ausreichender Hördaner gehört wird. — Wo der
Sitz dieser zerebralen Herderkranknng ist, lalst sich mit Sicherheit noch
nicht sagen. Am wahrscheinlichsten ist es, dafs der Herd im Mark des
linken Schlafelappens liegt und hier die Höhrbahn und die Balken-
bahn unterbricht. Das sensorische Wortsentrum ist dadurch von den aua
der Peripherie kommenden Reizen isoliert. SnaLMBTaa (Freiburg i. B.).
Shefhbbd Ivobt Fbanz. The EaadicatitH af aa Aphasie. Journal of Fhüo^
sophy, Psychology and Scientific Methode 2 (22), S. 589—597. 1905.
Eine interessante Mitteilung Ober die systematisch geförderte und
kontrollierte Rückbildung einer embolischen Aphasie bei einem 57 jahrigen
Mechaniker. Die Aphasie war vorwiegend sensorisch, die Sprachstörung^
beim Anfang der Versuche noch hochgradig. Das Verständnis war wie da»
Nachsprechen und Spontansprechen auf wenige kurze Satze beschrankt; e»
bestand eine hochgradige Pan^hasie.
Die Reedukation erfolgte in 4 Versuchsreihen. Der Patient wurde
veranlaTst: 1. 10 Farbentafeln, 2. die Zahlen 1 — 10 (auf Tafelchen) zu unter*
scheiden, 3. einen kurzen Vers neu und 4. das Vaterunser wieder zu
lernen. AuTserdem wurde versucht, ihm ein par deutsche AusdrOcke fflr
vorgezeigte Gegenstände einzuflben.
Die Versuche geschahen oft, aber nicht regelm&fsig ; die Fehler wurden
sofort korrigiert, die Ergebnisse tabellarisch eingetragen. Sie zeigten einen
fast kontinuierlichen Fortschritt Bei der Erlernung der Farbenbeseich-
nungen stieg der Prozentsatz der Richtigbenennungen in 3 Monaten von
43,6 auf 96,1. Am schwierigsten blieb die Erkennung von rot, am leichtesten
wurde blau unterschieden. — Beim Zahlenlernen wuchs der Prozentsatz
der korrekten Anerkennungen in der gleichen Seit von 42,3 auf 98,6* o- -^^
schwierigsten war das Ansprechen von 10, am leichtesten verfügbar war 5.
Der Versuch mit dem Liedvers sollte aeigen, in wie weit eine Aneignung
zusammengesetzter Sprachbegriffe möglich war. Die Strophe wurde zwar
— erst durch Vorlesen, dann durch Selbstlesen der Niederschrift — gelernt»
aber doch nur sehr langsam und unvollkommen. Dagegen wurde das
Vaterunser nach 25 Lesungen völlig korrekt aufgesagt: der alte Besitz
war also sehr viel leichter wieder zu erobern. Das Erlernen der deutschen
Gegenstandsbezeichnungen gelang nur in engen Grenzen, aber es zeigte
doch, dafs selbst eine Etablierung ganz neuer Bahnen stattfinden konnte.
Aber auch sonst schien der graduelle Erwerb in seinem Mechanismus und
LittratwrberickL 153
Verlauf nicht einem Wiedererlangen einer früheren Leietnngsfähigkeit zu
entoprechen, sondern er glich weit mehr der Aneignung einer nenen Ge-
wohnheit. Daraus schliefst der Verf., dafs nicht die alten Wege wieder-
geöffnet, sondern neue Leitungen gebahnt wurden — durch ein vikariierendes
Eintreten der rechten Hemisphäre. W. Altbb (Lindenhaas).
Ka&l Ffebsdobf. Über ReäedriBg bei Benkbenmaag. Motiat$$chrift f, Psy-
chiatrie u. Neurologie 19 (2), 108—128. 1906.
Bei einigen Mischzuständen des manisch-depressiven Irreseins wurden
Symptomenbilder beobachtet, die sich durch das Nebeneinanderbestehen
von eigenartiger Affekt- und Denkhemmung und von motorischen auf die
Sprachbewegungsvorstellungen beschränkten Erregungen auszeichneten. Es
sind vor allem diejenigen Assoziationen von der Hemmung betroffen, deren
Auftauchen von der Affektnüance des „Interesses" begleitet ist. Die Kranken
stehen unter dem Einflufs eines inneren Kededranges, der sie zwingt, alles
Gehörte schon von ihnen selber Gesprochene innerlich noch einmal nach-
zusprechen, sich Worte zum wiederholten Hersagen zu suchen etc. „Die
Denkvorgänge und die Affektreaktionen sind nicht in toto und isoliert
gehemmt oder erregt, sondern die Hemmung betrifft einen Teil der Denk-
Prozesse und zugleich einen Teil der Affektreaktionen, während die Erregung
ebenfalls Denkvorgänge und die entsprechenden Affektreaktionen vereint
befällt." Spielmeyeb (Freiburg i. B.).
S. SouKHANOFF. PbobiB du regard. Joum. f. Psychol, u. Neural 6 (6 u. 6),
241— «47. 1906.
Die „Blickfurcht" d. i. die pathologische Scheu davor, von einem
anderen gesehen zu werden, ist nicht eine selbständige Erkrankung, sondern
nur ein Symptom, und zwar entweder einer angeboren neuropsychischen
Konstitution, die überhaupt durch Zwangsvorstellungen charakterisiert ist,
einer „Constitution id^o-obsessive", oder der primären juvenilen Demenz,
der Melancholie, der Paranoia. Lipmakn (Berlin).
TH.BRAUK. Die rettgitse Wabnbildttllg. Tübingen, Mohr. 1906. 74 S. Mk. 1,— .
Xach allgemeinen und zutreffenden Erörterungen über das Wesen, die
Ursachen, die Richtung, den Inhalt und Ausgang der Wahnbildung berichtet
Verf. unter ausführlicher Mitteilung von Einzelfällen über seine in einer
Irrenanstalt gemachten Beobachtungen ; dabei unterscheidet er, je nachdem
ob die Bildung der Wahnideen auf Trübung des Bewufstseins, auf psychische
Schwäche oder auf krankhaft gesteigerte Gefühlszustände zurückzuführen
ist oder ob sie ein Symptom paranoischer Krankheitsbilder abgibt.
Bei der zusammenfassenden Besprechung seiner Fälle macht er auf
den Irrtum vieler Laien aufmerksam, als ob die religiöse Wahnbildung für
den Kranken religiös-sittlich fördernd sei und ein dankbares Feld der Seel-
sorge erschliefse; sie kann vielmehr geradezu bedenklich werden durch
Massensuggestion oder Gewalttaten. Überspannte Religiosität kann die
Entstehung wahnhafter Ideen fördern, wenn sie nicht schon das Zeichen
beginnender Erkrankung ist. Eine sachverständige Behandlung wird alles
vermeiden, was direkt oder indirekt der religiösen Wahnbildung Vorschub
leisten könnte. Ebnst Schultzk (Greifswald).
154 Literaturbericht
S. TüRxxL. PiyebUtrlidi-lurliBiialiftitcte PrabloM. Leipsig und Wien,
Denticke. 1905. 72 S. Mk. 3.
Das vorliegende Heft erörtert drei verschiedene Fragen. Einmal
bespricht es die Kompetenz der ärztlichen Sachverständigen, die Frage der
Zurechnungsfähigkeit zu beantworten. Diese Frage wurde von Platnbb schon
1740 bejaht, während Kant bekanntlich die philosophische, nicht die medi-
zinische Fakultät herangezogen wissen wollte. Übrigens vertrat noch vor
90 Jahren ein Arzt (Costb) den Standpunkt, dafs über zweifelhafte psychische
Zustände jeder Mensch von gesundem Verstände eben so richtig urteilen
könnte, wie beispielsweise ein Pinbl oder ein Esquibol.
In einem zweiten Abschnitte geht er kurz auf die moderne Schule
ein, die mit dem vagen Begriff der Zurechnungsfähigkeit brechen will und
in der Reaktion der Gesellschaft auf antisoziale Handlungen nur eine
Sicherungsmafsregel erblickt.
Der letzte und ausführlichste Abschnitt beschäftigt sich mit den
gesetzlichen Bestimmungen des österreichischen Strafgesetzes über die
Zurechnungsfähigkeit und diskutiert eingehend die Anschauungen, die
seinerzeit für den Gesetzgeber bei der Formulierung der betreffenden
Paragraphen mafsgebend waren. Dafs sie nicht mehr zeitgemäfis sind,
erscheint nicht sonderbar, da das Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1803
bzw. 1852 stammt, und offenbare Härten werden vielfach nur vermieden,
indem der Sachverständige sich nicht um die oberstgerichtliche Inter-
pretation kümmert.
Einer Reform bedarf es also auch dort. Ernst Schultzs (Greifswald).
^TiBNNB Rabaud. HifMlti et digteiretceice. Journal de P^chologie 2 (4),
S. 308—327. 1905.
R. tadelt die verschwommene, sinnwidrige und Übertriebene Anwendung
der Ausdrücke Heredität und Degeneration, die ihren wirklichen Inhalt
allmählich völlig verwischt. Die Heredität gilt heute, wie die Degeneration,
als ein immanentes Prinzip der Entwicklung, als eine geheimnisvolle Kraft,
die den Charakter der Nachkommen mafsgebend beeinflufst: das ist eine
Verfälschung der prinzipiellen Bedeutung. Denn der Begriff der Vererbung
kann immer nur die einfache Tatsache des Weiterbestehens gewisser Eigen-
tümlichkeiten der Vorfahren bei den Nachkommen bezeichnen. Das Wesen
der Heredität wurzelt in ihrer biologischen Entwicklung; ihr Anfang ist
die Sprossung, die substantielle und konstitutionelle Kontinuität zwischen
2 Teilen ein und desselben Organismus. Dieser innere Zusammenhang
bleibt zunächst gewahrt, wenn sich die beiden Teile trennen: er gewähr-
leistet die Ähnlichkeit als den Ausdruck der Heredität, der grundlegenden
Ausdehnung und Fortdauer einer lebenden, besonders konstituierten Sub-
stanz unter der Form mehrerer gleichzeitigen oder aufeinanderfolgenden
Individuen. Ihr Umfang bleibt jedoch nicht unbeschränkt erhalten. Denn
die einzelnen Individuen sind in der Regel zu Anpassungen an verschiedene
Lebensbedingungen gezwungen: dabei wird durch den Erwerb neuer oder
die Abänderung alter Eigentümlichkeiten der Komplex jener Kontinuität
mehr oder weniger geschädigt. Es entsteht die Unähnlichkeit» die bis zur
Literaturhericht 155
Aufhebung der Heredität gehen kann: nnr in diesem Sinne darf man von
einer „Auflösung" der Vererbung sprechen. Die Verschiedenartigkeit hängt
aber immer ausschlieCslich von einem direkten £rwerb des Erzeugten ab:
sie hat mit der Heredität nur in so weit zu tun, als sie sie allmählich
Terschwinden läfst.
Bei allen höheren Wesen steht das Erzeugte in einer doppelten
Kontinuitäts Verbindung zu beiden Erzeugern. Das bedingt eine doppelte
Heredität, die sich entweder durch das Prävalieren der einen Seite
zum Schaden der anderen stärker betont, oder die sich durch
Summations- und Interferenzvorgänge differenziert. Dabei wird aber auch
in der Veränderung immer die direkte Fortdauer gewahrt: es handelt
sich um eine Zusammenstellung, nicht um eine Übertragung von Eigen-
tümlichkeiten, die wieder durch notwendige Anpassungen des Erzeugten
in mehr oder weniger grofsem Umfange beeinträchtigt werden können.
Das geschieht im allgemeinen um so mehr, je früher die Trennung der
Generationen stattfindet — um so schwächer wird also auch der Komplex
der Heredität: mit Ausnahme eines bestimmten Anteils der konstant ist,
weil er eine graduelle Veränderung bedingt: der Degeneration. R. ver-
steht die Entartung als einen besonderen anatomischen Zustand, eine durch
ituTsere Einflüsse bestimmte Beschaffenheit der lebenden Substanz, die
keine Veränderung darstellt, aber eine beginnende Abänderung mit einer
grundsätzlichen Unbeständigkeit von desintegrierender Tendenz: die „pr6-
alteration". Sie bleibt sich in ihrem Wesen immer selbst gleich und
gewinnt nur dadurch, dafs sie sich in der Zeugung mit einer anderen Ent-
artung kombiniert in jeder Generation eine neue Ausdrucksform. Sie
kann aus sich selbst heraus keine Eigentümlichkeiten schaffen. Dagegen
bedingt sie eine erhöhte Empfänglichkeit für äufsere Einwirkungen, denen
sie also das Individuum in erhöhtem MaTse unterordnet. In den Grenzen
einer adäquaten Entwicklungsmöglichkeit führt das nur zu immer kompli-
zierteren Anpassungen : hier bedingt die Degeneration also nur eine immer
stärkere Differenzierung der Persönlichkeit. Wird die durch sie verursachte
Empfindlichkeit des Individuums aber über jene Grenzen, über die vor-
gesehene innere Balanze hinaus durch äufsere Einflüsse in Anspruch ge-
nommen, 80 kann das nur auf Kosten des inneren Gleichgewichtes geschehen :
dann vermittelt die „Präalteration" eine „Alteration": die Krankheit, die
also nicht das notwendige und unmittelbare Produkt der Degeneration
selbst ist, sondern lediglich eine durch die Degeneration vermittelte Re-
aktion der ererbten und differenzierten Konstitution auf äufsere Einflüsse.
Das ist nur ein dürftiger Umrifs von Rabaüds Ausführungen, die mit
einem ungewöhnlichen Gedankenreichtum eine Fülle der geistvollsten
^Nutzanwendungen verbinden. Auch auf dem Gebiet des Nervensystems
sieht er die Heredität um so mehr verschwinden, je gröfser der Anteil der
Degeneration wird. Aber die Entartung allein kann auch hier weder Ver-
änderungen noch Krankheiten hervorrufen : sie vermittelt nur die äufseren
Einflüsse auf ihre inneren Angriffspunkte und akzentuiert ihre Wirkungen
nach ihrer besonderen lokalen oder allgemeinen Ausprägung.
W. Alteb (Lindenhaus).
156 Literatvrberidit
Alsxakdsb f. Cbambsblain. Primitire ItiriH ^^ ,jMrlif-Wtrit". Atner.
Jaum. of Fsych. 1% (1), 6. 119--ld0. 1906.
Der Verf. führt hier zerstreute Tatsachen von anthropologisch-paycho*
logischem Interesse vor; er bemerkt, daie die allgemeine Annahme einer
höheren Hörscharfe bei den Wilden oder den barbarischen Völkern nichl
begründet sei. Sonst ist der Artikel wesentlich philologischer Natur und
gibt aus der Folklore verschiedener Völker eine grofse Anzahl Belege für
die allgemeine Schätzung des Gehörssinnes; einige sprachpsychologieche
Beobachtungen sind verzeichnet. Aall (Halle).
G. s. Maschsstbe. KzpflrtiMiU om th6 Vireiecti?e Ideu %t Mei ui Wmiom.
Faychol Review 12 (l), 00-66. 1906.
Der Artikel beschreibt eine Wiederholung der Versuche Jastbows be*
treffend Unterschiede in der Häufigkeit von Vorstellungen bei Studierenden
männlichen und weiblichen Geschlechts. Jastbow liefs seine Studenten
100 Wörter (keine Sätze) so rasch wie möglich niederschreiben. Er sammelte
diese Wörter dann in 25 Gruppen. £r verglich die so entstandenen Listen,
um die Unterschiede der Geschlechter zu bestimmen. Die Verfasserin des
vorliegenden Artikels vergleicht nun ihre eigenen Ergebnisse mit denen
Jabtrows, wobei sich im ganzen Übereinstimmung herausstellt. Doch finden
sich auch kleinere Unterschiede. Z. B. sind Nahrungsmittel beim männ-
lichen Geschlecht etwas häufiger, kaufmännische Bezeichnungen beim weib-
lichen Geschlecht etwas häufiger, während bei Jastbow das Gegenteil der
Fall war.
Das Gesamtergebnis ist das folgende. 1. Die oberflächlichen Vor-
stellungen sind solche von gewohnten und interessanten Gegenständen.
Daher überwiegen Möbel und Dekorationsgegenstände bei Frauen, Werk-
zeug und Mineralien bei Männern. 2. Handlungen überwiegen bei Männern^
Zustände bei Frauen. Männer haben eine Neigung zum Gebrauch voa
Verben und Adverbien, Frauen zum Gebrauch von Hauptwörtern und
Adjektiven. 3. Zeit ist wichtiger für Männer, Baum für Frauen. 4. Das
Abstrakte ist häufiger bei Männern, das Konkrete und Beschreibung
] läufiger bei Frauen, ö. Männer finden Interesse in den Verhältnissen von
Gegenständen zu andern Gegenständen, Frauen mehr in der detaillierten
Analyse der Gegenstände selbst.
Im allgemeinen ist zu sagen, dafs Männer einen etwas reicheren Vor-
stellungsschatz zu besitzen scheinen als Frauen. Die weiblichen Studenten
lösten ihre Aufgabe in kürzerer Zeit als die männlichen. Ob dies jedoch
die Folge schnellerer Assoziation oder nur schnelleren Schreibens war,
konnte nicht festgestellt werden. Max Mbyeb (Columbia, Missouri).
J. H. TüFTs. The Indifidml and hU RelatiOB to Society as reiected in tke
British Ethics of the Eighteenth Century. Psychol Review Mon, Sup. 6 (2),
Whole Nr. 25. 58 S. 1904.
Im Jahre 1898 erschien in The University of Chicago Contributiona
to Philosophy eine kurze Abhandlung von Tcfts über das Verhältnis des
Individuums zur Gesellschaft im siebzehnten Jahrhundert, mit besonderer
Bücksicht auf Gesetze und politische Einrichtungen. Diese Arbeit wird
Literatmrberickt 157
nun fortgtsetat in einer hietoriechen und kritischen Behandlung der ethi-
schen Theorien von SH^rrsBUKT bie Adam Smith. Verf. beschreibt zunftchst
kun den allgemeinen Charakter des Lebens und Denkens im achtzehnten
Jahrhundert und entwirft dann ein Bild der Entwicklung des Moralbegrifls,
wie wir ihn bei den Ethikern dieser Periode finden. Er behauptet, dafs
die grofsen, richtunggebenden Krftfte des achtzehnten Jahrhunderts
industrieller und intellektueller Natur gewesen seien, die der vorher-
gehenden beiden Jahrhunderte dagegen religiöser und politischer Art.
„Nicht Kirche und Staat, sondern private und Geschäftsangelegenheiten
standen im Mittelpunkt des Interesses." Wechsel ökonomischer Verhält-
nisse und Wachsen des Wissens waren daher die Bedingungen, die auf
den ethischen Individualismus von Maitosville, Btttlbb, Hitme und ihren
Zeitgenossen bestimmten Elnflufs ausübten. Es ist dann selbstverständlich,
dafs Adam Smith als der „Interpreter of bis age" gilt. Wenn Eigeninteresse
die stärkste Naturkraft ist, so ist Smiths Theorie der Moralgefflhle in Über-
einstimmung mit seiner nationalökonomischen Theorie. Und der Begriff
eines iininteressierten Zuschauers, darstellend das altruistische Element
der menschlichen Natur, ist dann ein Produkt der kommerziellen Ent-
wicklang und des Fortschritts der allgemeinen Bildung. Das Individuum
ist das Geschöpf der sozialen Tendenzen.
Im ganzen genommen, Tufts Theorie ist interessant und der Haupt-
sache nach korrekt. Indessen, seine Behandlung der Zivilisation des acht-
zehnten Jahrhunderts läfst diese doch etwas einseitiger erscheinen als sie
tatsäclilich war. Die Ausbreitung des nationalen Einflusses und die Metho-
distenbewegung beweisen die Existenz politischer und religiöser Tendenzen,
die nicht vernachlässigt werden dürfen in einem kritischen Studium des
Verhältnisses des Individuums zur Gesellschaft, wie es sich in der britischen
Ethik der Periode abspiegelt. Der Artikel ist klar und anregend, scheint
aber von der gegenwärtig nicht ungewöhnlichen Tendenz beherrscht zu
sein, die Bedeutung ökonomischer Bedingungen für die Entwicklung anderer
Elemente der Zivilisation zu überschätzen. Elkin (Columbia, Missouri).
Jacqüss Stern. Ober die Reae. Archiv für Strafrecht und Strafprozefs 51 (6),
S. 1—10. 1904.
Im wesentlichen eine Wiedergabe Wilhelm STEBKScher Gedanken
(s. Kritische Grundlegung der Ethik als positiver Wissenschaft). Eine
wenig eingehende Auseinandersetzung mit Liepmanv vermag der Abhandlung
keinen eigenen wissenschaftlichen Wert zu geben. Gbobthtttsen (Berlin).
A. Grabowsky. Psychologische TatbesUndsdiagROttik. Beil. z. Allgem. Ztg.
15. Dezbr. 1905. Nr. 289.
Verf. referiert zunächst über die Arbeit gleichen Titels von Wbrt-
HBiMBB und Klein, deren Inhalt den Lesern dieser Zeitschrift durch die Be-
sprechung in Bd. 39 S. 222 bekannt sein dürfte. Alfbbd Gboss gab dann
den in dieser Schrift nur angedeuteten Ideen die Ausbildung für die
juristische Praxis. Gegen die Verwendung im Strafprozefs nun wendet
wietk Gbabowskt, erstens weil die Methode sich in den Rahmen der be-
158 Literatwrbericht
siehenden StPO. nicht einfttgen lasse, zweitens weil „bei intelligenten,
furchtlosen Personen sehr wohl eine vollkommene Simulation" möglich sei,
drittens weil zu einer nutzbringenden Verwendung der Methode eine hervor-
ragende kriminalpsychologische Vorbildung des Experimentierenden er-
forderlich sei. LiPMANN (Berlin).
F. GiBABD. 8v raxpreisioA mameriqne de riiMligoiM 4m esptees aiimilei.
Revue phüos. 00 (9), 290—299. 1905.
Ein Referat der Theorien von Mamoüvbier, Ch. Richbt, EüoAke Düboib,
die ein zahlenmäTsig feststellbares Verhältnis von Gehirngewicht und
Gewicht der organischen Masse eines Individuums, entsprechend der Ent-
wicklungsstufe der Intelligenz der Basse festzustellen suchen. G. schliefst
sich der Theorie an, die Dubois im Bulletin de la SocUU Anthrapologique 1897
entwickelt hat. Gboethutsen (Berlin).
Jaxes f. Fobteb. A Prelimlnary Study of the Psychology of the Eaglish
Sparrow. Amer. Joum. of Psychol 15 (3), S. 31»— 346.
Verf. will einen Beitrag zur Tierpsychologie liefern, indem er den
englischen Sperling, der in der kurzen Zeit von 40 Jahren in Amerika
heimisch geworden ist und schon deshalb ein besonders intelligenter Vogel
zu sein scheint, einer genaueren Beobachtung hinsichtlich seiner psychischen
Eigentümlichkeiten unterzieht. Er beobachtet Sperlinge in der Freiheit,
wie sie sich bei einer Futterstelle einfinden und sich ihrem Futter nähern.
Vor allem aber stellt er auch Versuche mit Sperlingen im Käfig an, Ver-
suche, deren Anlage im wesentlichen dieselbe ist wie bei den Experimenten,
die KiNNAHAN in seiner psychologischen Untersuchung von Affen gewählt
hat. Ihr Futter zu gewinnen durch öffnen eines Behälters oder durch
Suchen in einem Labyrinth, aus mehreren in einer Reihe aufgestellten
gleichen oder nach Form und Farbe verschiedenen Behältern denjenigen
herauszufinden, der das Futter enthält, das sind die Hauptaufgaben, die
PoBTEBS Sperlinge ebenso wie Kinnamans Affen zu lösen haben. Dabei soll
hauptsächlich konstatiert werden, ob und wie bald durch Übung eine
Besserung der Leistungen eintritt, indem etwa die Zeit, die zum öffnen
des Futterbehälters erforderlich ist, sich verkürzt oder indem die Tiere den
das Futter enthaltenden Topf aus den übrigen nach einer geringeren Anzahl
von Fehlversuchen herausfinden.
Die Ergebnisse seiner Versuche fafst Pobtbb selbst ungefähr in
folgenden Sätzen zusammen:
1. Was das öffnen des Futterbehälters und das Futtersuchen im
Labyrinth betrifft, so zeigen die Sperlinge in der Art und in der (xe-
schwindigkeit des Lernens grofse Ähnlichkeit mit anderen höher ent*
wickelten Tieren. Sie lernen sehr schnell durch Erfahrung.
2. Die Lernmethode der Sperlinge ist die der „mifslingenden Versuche".
Ein Zeichen des Vorausdenkens und zweckmäfsiger Wahl der Mittel zu
einem bestimmten Zweck liefs sich nicht beobachten.
3. Der Umfang ihrer Aufmerksamkeit ist anscheinend eng. Sie pro-
Liferaturhericht, 159
fitieren nur von den Erfolgen, die sich eng an eine darauf gerichtete Be-
mflhang anschliefsen.
4. Ihre Beharrlichkeit ist überraschend. Unaufhörlich bemühen sie
sich um das Gelingen des Versuchs, ihr Futter zu gewinnen.
5. Charakteristisch ist die Vorsicht der Tiere. Jedes neue und seltsame
Ding wird unter allen möglichen Vorsichtsmafsregeln geprüft. Sinnlose
Furcht liefs sich nie konstatieren.
6. Obwohl ihre Handlungen gröfstenteils ideomotorische sind, besitzen
sie doch die Fähigkeit, ihre Gewohnheiten rasch zu modifizieren. Sie unter-
scheiden kleine Verschiedenheiten am Apparat und richten ihre Handlungen
danach ein.
7. Versuche, die nach einem Intervall von 24 Stunden wiederholt
worden, lassen erkennen, dafs der Sperling ein verhältnismäfsig gutes
Gedächtnis hat, besonders wenn man die Resultate den Ergebnissen
gegenüberstellt, die Kinnaman bei seinen Gedächtnisversuchen mit Affen
gewonnen bat.
8. Die Versuche, bei welchen das Futter aus einem von verschiedenen
gleichen Behältern geholt werden mufste, zeigen, dafs der Sperling, wenn
er nicht geradezu zählen kann, jedenfalls ein sehr ausgeprägtes Lage-
bewufstsein hat. Formen konnten in den wenigen Versuchen, die mit
einem Sperlingsweibchen angestellt wurden, nicht unterschieden werden,
wohl aber die Farben rot, blau, grün und gelb.
Da die biologische Bedeutung dieser psychischen Eigentümlichkeiten
des englischen Sperlings hauptsächlich davon abhängt, ob dieselben nur
ihm oder auch anderen Vögeln zukommen, so stellt uns Verf. Parallel-
versuche mit anderen Vögeln und eine vergleichende Psychologie der Vögel
in Aussicht. Dübr (Würzburg).
M. A. THAirzits. L'orleitatiOl du pigeOB-foyageir. Bevue sdenüfique s^r. 5,
Vol. 2. Nr. 14 u. 15. 1904.
P. BoNKiEB. U qaestlon de l'orieitttlOA lointaine. Ebda. Nr. 27. 1904.
Der Verf. bespricht verschiedene Theorien über das Orientierungs-
vermögen der Brieftauben. Der Annahme von db Cyon, dafs sich die Tauben
durch ihren Geruch leiten lassen, stimmt er nicht zu, da der Geruchssinn
bei ihnen nur sehr schwach entwickelt ist. Den Einflufs des Windes läfst
er nur insofern gelten, als er die Schnelligkeit des Fluges begünstigt oder
vermindert. Auch glaubt er nicht, dafs die Brieftauben den Eisenbahn-
linien folgen. Denn er konnte beobachten, wie sie Bogen, die die Eisen-
bahn machte, abschnitten, auch wie sie einen Meerbusen, um den die
Eisenbahn herumfuhr, überflogen. Wohl aber gibt er de Cton recht, wenn
er annimmt, dafs bei der Orientierung der Brieftauben Überlegungsvorgänge
mit wirksam sind.
Der Verf. wendet sich sodann gegen die Theorie Bonniers, der annimmt,
dafs die Brieftauben ein gewisses Richtungsgefühl haben, vermöge dessen
sie sich bei einer Reise stets die verschiedenen Richtungsänderungen
merken und so die Richtung des Heimatsortes kennen. Er wendet hiergegen
160 LUeraturberickt
folgendes ein : Die Heimkehrfähigkeit wird dnrch das Wetter begünstigt oder
erschwert. Bei ungünstigem Wetter fliegen die Tauben nicht geradewegs
nach Hause» sondern suchen erst nach dem richtigen Wege. Ungünstiges
Wetter braucht nicht Sturm usw. zu sein, auch unter Umständen ist das
Wetter bei hellem schwachbewölktem Himmel, Sonnenschein und Westwind
ungünstig. Eine leichte Schneedecke macht es den Tauben unmöglich,
ihren Weg zu finden. Brieftauben, die erst falsch geflogen sind, finden
sich doch noch zurecht. Die Tauben finden den Bückweg auch nach
Monaten, unter Umständen nach Jahren. Auch Tauben, die beim Transport
geschlafen haben, finden sich zurück. In mancher Richtung finden sich
Tauben leichter zurecht, als in mancher anderen. Tauben finden sich in
Gegenden, aus denen sie stammen, leichter zurecht als in fremden, selbst
wenn sie hier lange trainiert sind. All diese Punkte sprechen gegen die
BoNNiBRSche Auffassung, dafs sich die Tauben durch ein Richtungsgefühl
leiten lassen.
Gegen diese Ausführungen Thanzi^' wendet sich nun BoimiBR in der
oben genannten zweiten Arbeit und verteidigt seine eigene Theorie, indem
er sie nochmals in kurzen Worten auseinanderlegt:
Die Fähigkeit, den Rückweg zu finden, ist nicht den Brieftauben allein
eigen, sondern alle Tiere, der Mensch nicht ausgeschlossen, besitzen sie in
höherem oder geringerem Grade. Nun hat man immer diejenigen Fälle
herausgesucht, bei denen die Fähigkeit im hohen Grade entwickelt ist und
hat bei ihnen etwas ganz Wunderbares gesehen, während man gut daran
getan hätte, zunächst die Erklärung für die einfachsten Fälle su suchen
und dann Schritt für Schritt weiter zu gehen.
Nun wendet er sich im einzelnen gegen die Vorwürfe ThakziIU und
zeigt, dafs die Fähigkeit der Orientierung dem Menschen zwar im geringeren
Grade, aber sonst genau in derselben Weise eigen ist, wie den Brieftauben,
und dafs dieselben Erscheinungen, wie Erinnerung an den Rückweg über
längere Zeit, geringere Orientierungsfähigkeit bei schlechtem Wetter usw.
usw., bei beiden Wesen auftreten. C. Zimheb (Breslau).
\
161
Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung.
Von
EbNST V. ASTEE.
Die folgende Abhandlung ist angeregt worden durch Schij-
MA2CN8 Untersuchungen der geometrisch-optischen Täuschungen.*
Sie ist ein Versuch, die Art psychologischer Analyse, die Schümann
den optischen Täuschungen gegenüber angewandt hatte, auf die
Frage der Tiefenwahmehmung durch den Gesichtssinn zu über-
tragen. Auch im einzelnen der Arbeit habe ich dabei mannig-
fache Anregungen und Hinweise durch Herrn Professor Schumann
erfahren, für die ich nicht versäumen möchte, ihm an dieser
Stelle meinen herzlichen Dank zu sagen.
1. Der Gegensatz des Nativismus und Empirismus
und das Problem der Tiefenwahrnehmung durch
den Gesichtssinn.
Für die Psychologie der Raumwahrnehmung durch den
Gesichtssinn — die entsprechende Frage bezüglich des Tast-
raumes soll im folgenden aufser acht bleiben — steht noch
immer im Vordergrund des Interesses die Frage, ob die Raum-
wahrnehmung angeboren oder durch Erfahrung allmählich ent-
standen ist, eine Frage, die bekanntlich durch die widerstreitenden
Theorien des Nativismus und Empirismus im entgegengesetzten
Sinn beantwortet wird. Im Gegensatz zu dieser genetisc]hen
Fragestellung beabsichtige ich im folgenden das Hauptgewicht
nicht auf eine Erklärung, sondern auf die reine Beschreibung
des tatsächlich Vorgefundenen oder Erlebten zu legen. Genauer
handelt es sich natürlich um eine mögUchst scharfe Charak-
' vgl. Zeit9chr. f. Psychologie 23, S. 1-32, 24, S. 1-33, 30, S. 241—291,
321-339, 3«, S. 161-185.
ZeitTOhrift für Psycholojcie 43. 11
162 Ernst V, Aster.
teristik und Bezeichnung derjenigen Wahmehmungsinhalte oder
Erlebnisse, die uns unmittelbar gegeben sind, wenn wir „den
Raum" oder räumliche Qualitäten wahrnehmen oder wahr-
zunehmen glauben.
Trotz dieser Verschiedenheit der mafsgebenden Fragestellung
knüpfe ich zunächst an den Gegensatz der nativistischen und
empiristißchen Raumtheorie in bestimmter Hinsicht an. Jede
genetische Theorie nämlich mufs schliefsHch doch von einer
Beschreibung des unmittelbar Gegebenen ausgehen, für das eine
genetische Erklärung gefanden werden soll, in diesem Fall also
von einer Charakteristik unserer Wahrnehmungseriebnisse, soweit
sie auf den Raum Bezug haben, sei es nun, dafs sie das Vor-
handensein oder Nichtvorhandensein solcher bestimmt charak-
terisierten Inhalte stillschweigend voraussetzt oder ausdrücklich
behauptet.
Betrachten wir nun die erwähnten gegensätzlichen Theorien
unter diesem Gesichtspunkt, so können wir, denke ich, zunächst
eine ziemhch weitgehende Übereinstimmung konstatieren. Erstens
dürfte gegenwärtig als ziemhch allgemein anerkannt gelten
können, dafs die zweidimensionale Ausdehnung unseres Gesichts-
feldes oder seiner Teile, wie es uns bei ruhendem Äuge gegeben
ist, die Ausdehnung nach Breite und Höhe eine letzte, nicht
weiter zurückführbare und unmittelbar gegebene Eigenschaft
dieses unseres Gesichtsfeldes ist, wie etwa die Farbe desselben
oder wie die Höhe und Stärke eines Tones. — Sind mit dieser
ersten einleuchtenden Tatsache der genetischen Erklärung ge-
wisse Schranken gesetzt^, ein Nativismus innerhalb dieser
Grenzen also keine Theorie mehr, sondern eine einfache Tat-
sache, so stehen wir dagegen sofort auf anderem Boden, wenn
wir zur dritten Dimension, zur Tiefe übergehen. Hier mufs dem
ersten Satz als ebenso sicher der zweite an die Seite gestellt
werden, dafs die Ausdehnung nach der Tiefe zu uns nicht in
gleicher Weise oder in gleichem Sinn als unmittelbare Eigen-
^ Die einzige Frage, die hier noch gestellt werden kann, ist die, ob
die gegenwärtige Anordnung im Nebeneinander der Teile unseres Ge-
sichtsfeldes — diejenige Anordnung, die dem Nebeneinander der gereizten
Netzhautstellen entspricht — als ursprünglich anzusehen oder ob sie sich
ipnto- oder phylogenetisch) aus einer anders gearteten entwickelt haL In
bezug auf diese Frage vertritt Lipps L, Psychologische StuUefi") auch hier
einen empiristischen Standpunkt.
Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung. 163
Schaft des Gesichtsbildes bei ruhendem Auge gegeben ist, wie
Höhe und Breite. Anders gesagt: wir betrachten Höhe, Breite
und Tiefe als gleichartige oder gleichwertige Richtungen, wie es
für uns im Begriff der „Dimension" bereits eingeschlossen liegt.
Die Gleichartigkeit von Höhe und Breite läfst sich nun un*
mittelbar an dem dem ruhenden Auge dargebotenen unbewegten
Gesichtsbild konstatieren, sie sind uns als gleichartige Richtungen
gegeben. DaTs dagegen die Tiefe als Dimension der Höhe und
Breite gleichartig ist, können wir nur dadurch konstatieren, dafs
wir die sich darbietenden Gegenstände nicht nur von einem,
sondern von mehreren Standpunkten aus betrachten, sei es in-
dem wir selbst oder indem die Gegenstände vor uns Bewegungen
ausführen ; nämlich solche Bewegungen, infolge deren die bisher
„perspektivisch verkürzt" oder „verschoben" gesehene Linie sich
in ihrer „wahren" Lage und Ausdehnung zeigt — d. h. in einer
Ebene vor dem Beschauer ausgebreitet erscheint. Nicht aus
einem gegebenen Gesichtsbild allein, sondern nur durch die
Kombination verschiedener Gesichtsbilder, die auf dieselben ob-
jektiven Dinge bezogen werden, insofern alßo durch „Erfahrung",
können wir das volle Bewufstsein der Tiefe gewinnen, der Tiefe
als einer Breite und Höbe gleichgeordneten Dimension. — Auf
der anderen Seite dagegen ist es wiederum eine unleugbare und
allgemein bekannte Tatsache, dafs in dem jeweils gegebenen
Gesichtsbild gewisse Momente enthalten sind, auf Grund deren
wir von einer Wahrnehmung der Tiefe sprechen, und die uns
zu mehr oder minder sicheren Urteilen über die Entfernung der
Gegenstände in der Richtung der dritten Dimension Anlafs
geben. In der näheren Char^teristik dieser Momente nun liegt
der eigentliche Gegensatz der nativistischen und empiristischen
Theorie, soweit er sich in der reinen Beschreibung äufsert.
Nach der Anschauungsweise des Nativismus haftet dem
jeweils Gesehenen von Haus aus ein bestimmtes Empfindungs-
moment an, das durch die direkte Entfernung des Gesehenen
vom Beschauer bedingt ist und uns infolgedessen ein unmittel-
bares Urteil über diese Entfernung ermöglicht. Wie es schon
im Begriff einer solchen Tiefenempfindung liegt, haben
wir in ihr eine letzte, nicht weiter zurückführbare und analysier-
bare Tatsache des psychischen Lebens zu erblicken. — Dagegen
wird das Vorhandensein einer solchen Tiefenempfindung vom
Empirismus geleugnet. Soweit der Empirist seine Analyse
11*
164 Em8t V. Aster,
des Gegebenen positiv durchführt, macht er dann im Gegensatz
zu jener angeblichen Tiefenempfindung innerhalb des Gesichts-
feldes aufmerksam auf Dinge, wie Überschneidung, Luft-
perspektive, Schattengebung usw., Tatsachen, die ich im folgen-
den als „indirekte Raumkriterien '^ zusammenfassen will; wozu
noch Momente aus anderen Empfindungsgebieten, Konvergenz-
und Akkommodationsempfindungen, gestellt werden.
Nativismus und Empirismus kommen sich schliefslich in
ihrer Auffassung des Gegebenen noch näher, wenn, wie es wohl
meist geschieht, die Tiefenempfindung als psychisches Korrelat
für die physiologische Verschmelzung der beim Sehen in beiden
Augen stattfindenden Reize betrachtet wird. Nach dieser Auf-
fassung ergibt sich unmittelbar, dafs die Tiefenempfindung nur
beim Sehen mit zwei Augen vorhanden sein kann ; in bezug auf
den räumlichen Eindruck beim monokularen Sehen, soweit er
eben für das Gesichtsbild besteht, wäre danach zwischen Nativis-
mus und Empirismus überhaupt kein Gegensatz mehr.
Es liegt mir daran, den Ausgangspimkt der folgenden, zu-
nächst rein beschreibenden Untersuchung so allgemein zu halten,
dafs er noch keine Stellungnahme in dem so bezeichneten
Gegensatz des Nativismus und Empirismus involviert. Ich
schränke deshalb einmal meine Fragestellung ein auf das Ge-
sichtsbild beim monokularen Sehen und füge im nächsten Para-
graphen noch eine weitere Einschränkung hinzu. Aulßerdem
aber möchte ich noch ausdrücklich betonen, dafs, wenn ich im
folgenden auf einige Erlebnisse hinzuweisen suche, die mir für
die Tiefenwahmehmung charakteristisch erscheinen, mit der An-
erkennung und Festlegung dieser Erlebnisse noch keineswegs
die „Tiefenempfindung" des Nativismus etwa abgelehnt ist. Es
könnte sein, dafs die Tiefenempfindung beim Sehen, das auf
einen Ausschnitt der Wirklichkeit gerichtet ist, sich mit
den von mir näher zu bezeichnenden Erlebnissen verbindet.
Nur dann wäre gegen den Nativismus Stellung genommen, wenn
man die beschriebenen Erlebnisse als allein mafsgebenden
Faktor der Raumwahrnehmung, insbesondere auch beim bin-
okularen Sehen, betrachtet. Ich halte nun eine solche Annahme
in der Tat für mögUch, komme jedoch auf sie und die ihr ent-
gegenstehenden Schwierigkeiten erst am Schlufs dieser Arbeit
kurz zu sprechen.
Beiträge zur Psychologie der Raumwahimehmung. 165
2. Der unmittelbare Tiefeneindruck.
Das uns jeweils gegebene Gesichtsbild wirklicher Gegen-
stände, das Bild z. B., das ich bei einem Blick aus meinem
Fenster erhalte, erscheint uns als nach der Tiefe zu ausgedehnt,
es macht uns einen räumlichen Eindruck. Die Frage, die ich,
wie am Anfang angedeutet, dieser Tatsache gegenüber stelle, ist
die nach der Charakteristik, nach der Beschreibung dieses am
Gesichtsbild haftenden unmittelbar erlebten räumlichen Eindrucks.
Wie schon gesagt, soll die Frage beschränkt sein auf den mon-
okularen Eindruck.
Der unmittelbare Tiefeneindruck, um dessen Be-
schreibung es sich hier handeln soll, ist zu unterscheiden einmal
von meinem Wissen, dieser von mir wahrgenommene Gegen-
stand sei ein dreidimensionales Gebilde, und zweitens von dem,
was ich weiter oben die indirekten Raumkriterien nannte. Was
den ersten Punkt anlangt, so genügt es darauf hinzuweisen, dafs
ich einen Tiefeneindruck gewinnen, dafs ich „Tiefe sehen" und
dabei genau wissen kann, dies von mir räumlich gesehene Gebilde
sei in Wahrheit nicht plastisch, sondern eben. Das ist der Fall
bei jeder perspektivischen Zeichnung.
Unter indirekten Raumkriterien verstehe ich solche
Momente, solche Färb- oder Formeigentümlichkeiten des uns ge-
gebenen Gesichtsbildes, durch das dieses Bild eine Änlichkeit mit
anderen früher gesehenen besitzt, die wir durch entsprechende
Erfahrungen als Erscheinungen dreidimensionaler Gegenstände
kennen gelernt haben (wobei ich natürlich nicht behaupte, dafs
die bezeichnete Ähnlichkeit mit früher Gesehenem uns als solche
irgendwie zum Bewufstsein komme). Dafs jedes räumlich auf-
gefafste Gesichtsbild solche Merkmale, von denen ich Über-
schneidung und Schattengebuug nur als besonders typisch nam-
haft machte, an sich trägt und an sich tragen mufs, wenn es
zum mindesten dem monokularen Sehen einen Tiefeneindruck
geben soll, bezweifle ich keinen Augenblick, aber das blofse Vor-
handensein dieser Raumkriterien ist nicht identisch mit dem
Tiefeneindruck des Gesehenen selbst, sondern nur eine Bedingung
für das Auftreten desselben.
Alles das ergibt sich ohne weitere Auseinandersetzungen,
wenn wir das Problem an einem speziellen Beispiel näher ent-
wickeln. In Figur 1 ist ein Rhombus gezeichnet. Wir können
166
Ernst V. Aftter.
Fig. 1.
diesen Rhombus einmal als Rhombus,
d. h. als planimetrisch-ebene Figur be-
trachten. Und wir können ihn ein anderes
Mal — ganz nach Willkür — räumlich auf-
fassen als perspektivisch gesehene stehende
oder liegende Platte, etwa die Seite ab
dem Beschauer am nächsten, ac sich von
ihm fort direkt in die Tiefe erstreckend.
Wem es gelungen ist, diese beiden Auf-
fassungen nacheinander zu vollziehen, in
dem Rhombus einmal die planimetrische
Figur und gleich darauf die perspektivische
Zeichnung zu sehen, der bemerkt ohne
weiteres, dafs das Bild, das er hier vor
sich hat, im einen und im anderen Fall ein durchaus anderes
Aussehen hat. Es sind dieselben vier Striche und dieselbe ein-
geschlossene Fläche, aber als Ganzes trägt die Zeichnung einen
anderen, ja einen grundverschiedenen Charakter. Die Frage, die
ich stelle, ist nun diese: worin besteht dies unmittelbar vor-
gefundene oder erlebte Moment, das die Zeichnung im einen und
anderen Fall zu einem verschiedenen Bilde macht? Bzw.: worin
besteht der eigentümliche Charakter, der dem Bild eignet, wenn
wir es als plastisches Gebilde auffassen?
Auch hier wird die plastisch-räumliche Auffassung ermöglicht
durch das Vorhandensein indirekter Raumkriterien: ich würde
die räumliche Auffassung nicht vollziehen, wenn ich nicht wüfste,
dafs aufrechte oder liegende Platten perspektivisch so auszusehen
pflegen, aber das blofse Bestehen dieser ÄhnUchkeit macht nicht
den räumlichen Eindruck aus, auf den ich oben hinzuweisen ver-
suchte, sie ist nur eine Bedingung dafür, dafs ich überhaupt auf
den Gedanken kommen kann, in dem Bild ein Räumliches zu
sehen und so jenen Eindruck in diesem Fall willkürlich zu er-
zeugen.
Ein Bewufstseinserlebnis beschreiben heifst zunächst, es mit
anderen verwandten Erlebnissen zusammen ordnen oder diejenige
Klasse von Erlebnissen bezeichnen, in die es gehört. Dem-
entsprechend verlasse ich im folgenden Paragraphen das vor-
liegende Problem, um ganz allgemein die Erlebnisklasse kurz zu
charakterisieren, die m. M. n. herangezogen werden mufs, um
Beiträge zur Psychologie dtt' Bautmvah-nelitmmg. \Q^
den spezifisch räumlichen Eindruck eines Gesichtsbilde% wissen-
schaftlich zu beschreiben.
3. Zur Psychologie der „Auf fassungsf ormen".^
Man zeichne sich eine Anzahl von Punkten auf gleich-
förmigen Hintergrund; beispielsweise in der Form einer Würfel-
sechs. Dann kann ich, wie jedermann weifs, mich diesen
6 Punkten gegenüber in verschiedener Weise verhalten. Ich
kann sie so auffassen, daä sie 3 übereinanderstehende Reihen
van je 2 oder dafs sie 2 nebeneinanderstehende Reihen von je
3 Punkten bilden. Je nachdem ich in der einen oder anderen
Weise die 6 Punkte zusammen ordne, sie „zur Einheit zu-
sammenfasse^, erhalte ich das eine oder andere Resultat.
Und je nachdem die eine oder andere Vereinheitlichung geschieht,
gewinnt das Bild der 6 Punkte für mich ein anderes Aussehen,
einen anderen Charakter, eine andere „Gestalt-" oder „Gesamt-
qualität". Wenn wir also davon sprechen, dals wir in dem ge-
gebenen Gesichtsbild diese oder jene Teile zur Einheit zusammen-
gfifafst haben, so deuten wir an, dafs das Bild für uns jetzt
diesen oder jenen eigentümlichen Charakter angenommen habe,
den jedermann unmittelbar erleben kann, und der einem anderen
Erlebnis Platz macht, wenn wir eine andere „Vereinheitlichung"
vollziehen.
Wir wollen für das Erlebnis, von dem hier die Rede war,
den Namen der Auff assungsforra gebrauchen. Wenn wir
von den verschiedenartigen Vereinheitlichungen der Teile eines
Gesichtsbildes reden, deuten wir hin auf wechselnde bestimmt
erkennbare Auffassungsformen des Gegebenen.
Neben diese erste Gruppe von Auffassungsformen treten
andere. Betrachten wir der Einfachheit halber eine der beiden
vertikalen Reihen von je 3 Punkten für sich, so können wir
beliebig den vorderen, mittleren oder letzten Punkt spezifisch
„beachten", durch die Aufmerksamkeit herausheben, innerlich
betonen oder zum Schwerpunkt der Figur machen. Wir können
ihn den beiden anderen Punkten über-, sie ihm unterordnen.
^ Man vergleiche zu diesem Paragraphen die angezogenen Abhand-
lungen von ScHUMAifN. Mit Nachdruck macht Lipfs in seinen psychologischen
Untersuchungen seit längerer Zeit auf die hier zu besprechenden Erlebnisse
aufmerksam, sonst haben sie m. M. n. in der Psychologie der Gegenwart
noch nicht diejenige Beachtung gefunden, die ihnen zukommt.
168 Ernst V. Äster.
Auch <j^ch diese wechselnde Über- und Unterordnung, durch
die verschiedenartige Bevorzugung der einzelnen Teile des Ge-
samtinhalts erhält der letztere einen eigentümlichen unmittelbar
erlebbaren Charakter, für den man treffend den Ausdruck Apper-
zeptions- oder Beachtungsrelief gebraucht hat. Auch das
jeweilige BeachtungsreUef stellt eine bestimmte Auffassungsform
im gegebenen Gesamterlebnis dar.^
Weiter: habe ich vor mir ein Ganzes, das sich aus einer
gröfseren Anzahl von Teilen zusammensetzt — eine Reihe von
5—10 Punkten etwa — so ist das Gebilde für mein Erleben ein
anderes, wenn ich es simultan erfasse und wenn ich es sukzessiv
durchlaufe. Auch dieser Gegensatz mufs als ein Gegensatz der
Auffassungsform gef afst und den vorher besprochenen Erlebnissen
angereiht werden.
Die angezogenen Tatbestände sollen natürlich nur Beispiele
aus dieser Klasse von Erlebnissen, die ich als Auffassungsformen
bezeichne, darstellen; ich beabsichtige nur einen Hinweis, keine
systematisch vollständige Aufzählung. Für den vorhegenden
Zweck, den Begriff der Auffassungsform zu illustrieren, werden
die erwähnten Beispiele genügen. Natürhch läfst sich, was hier
im Anschlufs an das Beispiel der 6 Punkte durchgeführt wurde,
mit Leichtigkeit auf jede andere aus Teilen bestehende Figur
übertragen.
EUnzuzufügen ist, dafs die verschiedenen Arten von Auf-
' ScHuxANN gebraucht in seiner Theorie der optischen Täuschungen
den Begriff der „Zuordnung''. Als einander zugeordnet wird man, meine
ich — auch mit Rücksicht auf die von Sch. betrachteten Fälle — , allgemein
die im Gesamtinhalt zur Einheit verbundenen Punkte, im Gregensatz za
den isolierten Teilen, bezeichnen können. — Man mulis sich hüten, etwa
die zur Einheit verbundenen einfach mit den beachteten und die isolierten
mit den unbeachteten Teilen eines Gesamtinhalts zu identificieren. Schon
das Beispiel der Würfelsechs verbietet dies, in bezug auf die es ohne
Schwierigkeit gelingt, mehrere gleichmälsig beachtete Einheiten gegen-
einander zu isolieren. Ebenso kann, wenn wir von gegebenen 3 Punkten
zwei gegen einen isolieren, der eine im Beachtungsrelief noch dieselbe RoUe
spielen wie die verbundenen zwei. Dagegen ist zum Begriff der Zuordnung
zu bemerken, dafs zum mindesten in den hier angeführten Beispielen, wenn
2 Punkte einander zugeordnet werden, auch die sie verbindende Strecke,
dieser Teil des weifsen Grundes also, eine nicht unbedeutende Rolle für
unser Bewufstsein spielt. Umgekehrt läfst sich leicht beobachten, daJjs die
Strecke zwischen den zwei zusammen gef afsten und dem dritten isolierten
Punkt für die Beachtung völlig zurücktritt.
Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung. 169
fassungsformen Kombinationen miteinander eingehen können bzw.
in dieser oder jener Weise stets kombiniert zu sein pflegen, sowie
dafs in diesen Kombinationen die gröfste Freiheit herrscht. Es
gibt sukzessive und simultane Einheiten, ich kann in einer
simultan oder sukzessiv erfafsten Reihe beliebige Elemente be-
tonen, andere unterordnen, andere ganz unbeachtet lassen, ich
kann innerhalb des Beachtungsreliefs sondern und vereinheit-
lichen usf.
Endlich noch eins. Es sei von 3 gleich weit entfernten
Punkten der mittelste durch Gröfse oder intensive Farbe besonders
eindrucksvoll gemacht. Dann werde ich ihn unwillkürlich den
beiden anderen überordnen und auch davon habe ich ein Be-
wufstsein, ich habe das Bewufstsein, dafs dies Beachtungsrelief
im Gegenstand, in den Punkten selbst begründet ist, dafs es
nicht rein „meiner Willkür" entspringt. Im Gegensatz dazu habe
ich das deutliche Bewufstsein, dasselbe Beachtungsrehef will-
kürlich hervorgerufen zu haben, wenn die 3 Punkte genau gleich
stark nnd gleich gefärbt sind. Ebenso gibt es natürliche und
willkürliche Einheiten — das nah aneinander Gelegene z. B.
fordert in höherem Grade zur Vereinheitlichung auf, als das weit
auseinander Liegende. Natürlich ist der Gegensatz, um den es
sich hier handelt, ein relativer, eine Auffassungsfonn ist mehr
oder minder gegenständlich bzw. willkürlich und kann für mein
Bewurstsein als solche gekennzeichnet sein.
Ich sagte am Schlufs des vorigen Paragraphen, die Aufgabe
der Beschreibung eines Erlebnisses laufe hinaus auf die Klassi-
fikation desselben. Abgesehen von dieser Klassifikation kann
eine „Beschreibung" von Erlebnissen natürlich nur noch in
einem hinweisenden Aufzeigen bestehen. D. h. ich versuche,
durch meine Worte den Hörer oder Leser in diejenige Lage zu
bringen, in der er den betreffenden Tatbestand selbst erleben
kann. In diesem Sinn bitte ich auch die obige „Beschreibung"
der Erlebnisse des Beachtungsreliefs, der Vereinheitlichung usw.-
aufzufassen.
4. Die spezifische Auffassungsform des Gesichts-
bildes beim Tiefeneindruck.
Wie aus dem bisher Gesagten schon hervorgegangen sein
wird, beabsichtige ich den unmittelbar erlebten Tiefeneindruck,
den wir einem Gesichtsbilde gegenüber gewinnen, mit einer be-
170
Ernst V. Aster.
stimmten Auffassmigsform dieses Bildes zu identifizieren. Je
nachdem diese Auffassungsform mehr willkürlich oder mehr im
Bilde angelegt erscheint, sprechen wir davon, dafs das Bild uns
einen dreidimensionalen Eindruck mache oder — wie im Fall
des Rhombus — davon, dafs wir es räumUch auffassen. Diese
spezifisch räumliche Auffassungsform nun genauer zu bestimmen
soll die Aufgabe dieses Paragraphen sein. Dabei mufs ich es
natürlich auch hier dem Leser überlassen, meine Beobachtungen
nachzuprüfen, ich bemerke nur noch, dafs sie durch entsprechend
angestellte Versuche an einer gröfseren Anzahl von Versuchs-
personen bestätigt wurden.
Ich gehe wiederum aus von dem gezeichneten Rhombus.
Man fasse die Figur einmal als ebenes Parallelogramm und dann
zum anderen Mal perspektivisch auf. Dann ergibt sich als erste
Beobachtung, dafs die ganze Fläche im ersten Fall im wesent-
lichen simultan, im Fall der räumlichen Auffassung
aber niemals simultan erfafst, sondern stets suk-
zessiv durchlaufen wird. Natürlich setzt dieses sukzessive
Durchlaufen nicht notwendig Augenbewegungen voraus, auch
bei starrer Fixation kann eine kurze Strecke jederzeit doch mit
der Aufmerksamkeit durchlaufen, die einzelnen Teile der Strecke
können nacheinander beachtet werden. Die gleichzeitige Auf-
fassung der Figur in allen ihren Teilen ist ein sicheres Mittel,
den räumlichen Eindruck zu zerstören und das Ganze wieder in
eine Ebene zu verlegen.
Dieses sukzessive Durchlaufen der Rhombenfläche findet
nun in bestimmten Linien statt.
In Figur 2 habe ich denselben Rhombus
dadurch verändert, dafs ich seine Fläche
mit Parallelen zur Seite ac durchzogen
habe. Bei einem Vergleich mit dieser
Figur mit der ersten wird man erkennen,
dafs sich hier die räumUche Auffassung
— ich meine diejenige räumHche Auf-
iassung, bei der die Seite ac sich vom
Beschauer aus direkt in die Tiefe erstreckt,
Seite ab also etwa vom gesehen wird —
leichter und unmittelbarer einstellt, dafs
sie für das Bild natürlicher erscheint, als
bei der leeren Rhombenfläche. (Eine
Beiträge zur Psychologie der Raumxcah-nthmxmg. 171
Beobachtung, die sich bei den oben genannten Versuchen
allgemein bestätigte.) Der Grund für die Tatsache nun ist
leicht zu bemerken: er liegt darin, dafs das vorher fest-
gestellte sukzessive Durchlaufen der Rhombenfläche bei der
räumlichen Auffassung in der Richtung dieser Linien erfolgt.
Die Linien sind also apperzeptive Hilfslinien, sie unterstützen
die räumliche Auffassung und lassen sie deshalb natürlicher,
dem Bilde angemessener erscheinen. — Man könnte hier
auf den Gedanken kommen, die in Frage stehenden Linien
wirkten als Schattengebung und legten aus diesem Grunde den
räumhchen Eindruck nahe. Um diesem Einwand gleich hier zu
begegnen, mache ich auf Figur 6 aufmerksam. Die stärker aus-
gezogenen Linien erscheinen der räumlichen Auffassung als
stehendes Kreuz. Auch hier wird der räumliche Eindruck durch
die parallele Strichelung verstärkt, es hätte aber keinen Sinn,
hier von Schatten zu reden, da kein schattenwerfender Gegen-
stand da ist. Im übrigen komme ich auf die Frage der Schatten-
gebung noch einmal zurück.
Wir können das bisher gewonnene Resultat noch allgemeiner
formulieren. Man sieht nämUch leicht, dafs, wenn mir der
Rhombus die perspektivische Ansicht eines wirklichen drei-
dimensionalen Gebildes, einer stehenden Platte etwa darstellt,
die gezogenen apperzeptiven Hilfslinien diesen Gegenstand als
Horizontale durchschneiden. So erhalten wir den Satz: Bei
der räumlichenAuffassung eines Bildes durchlaufen
wir die gegebene Erscheinung sukzessiv und zwar
folgen wir dabei denjenigen Geraden, die im wirk-
lichen dreidimensionalen Raum horizontal in die
Tiefegerichtetwären. Um Mifsverständnissen vorzubeugen,
bemerke ich ausdrücklich : wir brauchen uns bei der räumlichen
Auffassung keineswegs dessen bewufst zu sein, dafs diese Linien,
denen wir mit der Aufmerksamkeit folgen, solche Horizontale
sind oder darstellen, davon ist nicht die Rede, sondern nur von
der tatsächlichen Beschaffenheit der Linien in dieser Hinsicht.
Für den ausgesprochenen Satz läfst sich eine indirekte Be-
stätigung in der Tatsache gewinnen, dafs überall da, wo die
Erfassung der betreffenden Horizontalen erschwert, gestört oder
gehindert wird, auch für die räumüche Auffassung der be-
treffenden Figur sich Schwierigkeiten ergeben oder dieselbe ganz
unmöglich gemacht wird. Ich verweise zunächst auf Figur 3,
172
Ernst V. Aster.
die eine der vorigen entgegengesetzte Schraffierung des Rhombus
zeigt, sodann auf die zwei Kreisbögen in Figur 4. Die untere
FiR. 3.
Fig. 4.
Figur läfst sich leicht räumUch sehen als Tunnel oder Sattel
etwa so, dafs der Bogen ab vorn, de hinten ist, wobei die kurzen
Vertikalen die Rolle der Horizontalen spielen. Die beiden Bögen
der oberen Figur dagegen, in der die ausgezogenen Teile der
Radien die Auffassung der Horizontalen verhindern, werden
unter allen Umständen in einer Ebene gesehen. Andere hierher
passende Zeichnungen lassen sich leicht dadurch finden, dafs
man in perspektivischen Bildern einfacher körperlicher Gegen-
stände — eines Würfels oder Quaders etwa — störende Linien
oder Schraffierungen anbringt. Man wird dann bald bemerken,
dafs, solange die räumliche Auffassung andauert, die störenden
Verbindungen entweder ganz unbeachtet bleiben oder wenigstens
für das Bewufstsein stark zurücktreten. Bei einfacheren Figuren
kann ein unangenehmes Schwanken zwischen räumlicher und
ebener Auffassung die Folge sein, das der Figur selbst eine
gewisse Unsicherheit gibt.
Als eine wichtige Folgerung ergibt sich femer aus dem
Gesagten, dafs die Punkte einer perspektivisch verschobenen
Horizontalen für den Beschauer, solange er die räumliche Auf-
fassung vollzieht, eine Einheit — genauer einer sukzessive
Einheit — bilden, sie sind einander zugeordnet, sie hängen für
sein Bewurstsein untereinander enger zusammen, als mit den
Beiträge zur Psychologie der Baumwahrnehmung.
173
anderen Punkten der Fläche. Gleichzeitig aber bilden eine, wenn
auch wohl weniger innige Einheit für sich diejenigen Punkte,
die vom Betrachter gleichzeitig aufgefafst werden, also die
Punkte, die auf verschiedenen der gezeichneten Parallelen ge-
legen gleich weit vom Ausgangspunkt dieser einzelnen Parallelen,
also von den Grenzlinien ah und de entfernt sind. Dadurch
wird es verständlich, dafs wir gleichfalls eine Erleichterung der
räumlichen Auffassung gewinnen, wenn wir diese Punkte durch
gerade Linien verbinden, also statt der Horizontalen solche
Linien durch das Bild ziehen, die im Raum (sei es als Vertikale
oder ebenfalls in horizontaler Lage) auf den betreffenden Hori-
zontalen senkrecht stehen.
So entstand Fig. 5. Natürlich folgt die
Aufmerksamkeit hier nicht den gezeichneten
Linien selbst, sondern eben denselben Hori-
zontalen wie vorher. — Bedingt ist diese
zweite Zusammenordnung einmal dadurch,
dafs die Punkte, um die es sich handelt, wie
schon erwähnt beim Durchlaufen der Figur
gleichzeitig getroffen werden und zweitens
durch ein ihnen gemeinsames Moment, das
sich von selbst ergeben wird, wenn wir die
räumliche Auffassung vollständig charakteri-
siert haben. ^
Zunächst sei im Anschlufs an die bisherigen positiven Be-
stimmimgen noch ein negatives Moment ausdrücklich hervor-
gehoben. Wenn ich den Rhombus als diese planimetrisch-ebene
Figur betrachte, so spielen nicht nur die Seiten, sondern auch
die Fläche des Parallelogramms und im besonderen die einge-
schlossenen Winkel eine wesentliche Rolle. Man kann direkt
sagen: je zwei aneinanderstofsende Linien erscheinen wesentlich
als Grenzlinien des zwischen ihnen liegenden Winkels. Bei der
räumlichen Auffassung dagegen bleiben namentlich die Winkel
Fig. 5.
* Noch einen besonderen Vorteil bietet Fig. 5 der räumlichen Auf-
fassung insofern dar, als die in die Tiefe sich erstreckenden Linien, wie
a c, die wir sukzessiv durchlaufen müssen, um den räumlichen Eindruck zu
erzielen, hier als eingeteilte Linien erscheinen. Eingeteilten Linien
gegenüber aber besteht schon an sich, wie Schümann gezeigt hat, die Nei-
gung snkzessiv zu durchlaufen, womit jedenfalls auch die Überschätzung
derartiger Linien gegenüber uneingeteilten zusammenhängt.
174
Ertisi V. Aster.
SO gut wie gänzlich unbeachtet, die anstofsenden Linien erscheinen
wesentlich als Grenzlinien des zwischen ihnen liegenden Winkels.
Bei der räumlichen Auffassung dagegen bleiben namentlich die
Winkel so gut wie gänzlich unbeachtet, die anstofsenden Linien
erscheinen nicht an den Winkel und durch den Winkel anein-
ander gebunden. Es ist unmöghch, sich während der räumUchen
Auffassung von der Gröfse des gesehenen Winkels Rechenschaft
abzulegen. Auch hier kann man zeigen, dafs durch Betonung
der Winkelflächen die räumlich-perspektivische Auffassung einer
Figur gestört wird: man vergleiche mit dem stehenden Kreuz
in Fig. 6, von dem schon die Rede war, dieselben sich schnei-
denden Linien in Fig. 7. Wollen wir die letztere Figur über-
haupt räumlich sehen, so kann dies nur so geschehen, dafs wir
die Kreisbögen, die zur Auffassung der Winkel auffordern, ganz
unbeachtet lassen.
Noch ein Umstand fehlt, um die räumliche Auffassung voll-
ständig zu charakterisieren. Betrachten wir noch einmal den
Rhombus. Er werde räumlich aufgefafst, so dafs Seite ac vom
Beschauer fort sich als Horizontale in die Tiefe erstreckt. Dann
Fig. 6.
ist immer noch ein doppeltes möglich: es kann Seite ah oder
Seite rfc als dem Betrachter zugekehrt, als vordere Kante ge-
nommen werden, die Seite ac kann sich von a nach c oder von
c nach a in die Tiefe erstrecken. Je nachdem ich in dem Rhom-
bus die eine oder die andere Ansicht sehe, hat das Bild für mich
Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnchmung.
175
wiederum einen anderen Charakter, eine andere Gestaltqualität,
oder wie ich dafür jetzt wohl gleich sagen kann, eine andere
Auffassungsform. Besonders charakteristisch tritt dieser Unter-
schied hervor bei der bekannten ScHBÖDERschen . Treppenfigur
(Fig. 8) : ich glaube ein ganz anderes Bild zu sehen, ob die Figur
P'
z
^^
e^
Fig. 8.
sich mir als Treppe oder als überhängendes Mauerstück darstellt,
d. h. ob die eine oder die andere gebrochene Linie {ab oder cd)
sich als Vorderansicht darstellt. Mit einiger Übung kann man
es leicht dahin bringen, dafs die eine Ansicht nach Belieben fast
momentan in die andere umschlägt. — Wundt {Phys. Psydi. 2,
5. Aufl., S. 647) führt den Gegensatz auf einen Unterschied der
Augenbewegung zurück. Wir durchlaufen, meint er, die direkt
in die Tiefe sich erstreckenden Linien stets von vom nach hinten ;
auf unsere Rhombenfigur angewandt : gehen wir in unserer Auf-
fassung von a nach c über, so erscheint a, gehen wir umgekehrt
von c nach a, so erscheint c als der vordere Punkt. Diese Be-
hauptung wird meiner Meinung nach durch die Beobachtung
widerlegt: mir wenigstens ist es ohne Schwierigkeit möglich, die
fragliche Linie von c nach a zu durchlaufen und gleichwohl a
als vorderen Punkt zu sehen, und umgekehrt. Und zwar ist das
für mich bei unserem Rhombus ebenso der Fall, wie bei der
ScHBÖDEBschen Figur. Nebenbei bemerkt kann ich Wündt auch
darin nicht beistimmen, dafs er unter allen Umständen hier von
Augenbewegungen spricht, wie schon oben gesagt, kann meiner
Meinung nach sehr wohl ein Durchlaufen mit der Aufmerksam-
keit an die Stelle solcher Augenbewegungen treten.
Dagegen wird man leicht eine andere Beobachtung machen
können: wenn ich eine bestimmte der beiden möglichen räum-
lichen Auffassungen beim Rhombus gewinnen will, so kann ich
176 Ei-nst V. Aster,
dies dadurch erreichen, dafs ich diejenige Seite, die ich als die
vordere sehen will, mit der Aufmerksamkeit besonders heraus-
hebe, besonders beachte. Ebenso die entsprechende gebrochene
Linie der ScHBÖDEHschen Treppe, nur dafs ich meinen Zweck
hier noch leichter erreiche, wenn ich die ganze vordere Fläche
(die Treppe ist ja als Raumgebilde zwischen zwei parallele Flächen
eingeschlossen) einheitlich ins Auge fasse, d. h. in den Mittel-
punkt der Beachtimg rücke. Richte ich meine Bemühungen in
diese Richtung, so stellt sich die gewünschte Ansicht nach einiger
Zeit von selbst dar. Diese Beobachtung legt sofort die Ansicht
nahe, dafs es sich hierum ein bestimmtes Be ach tun gsre lief
der Figur handelt, dafs die Verschiedenheit der einen und anderen
Ansicht in einer Verschiedenheit des Beachtungsreliefs liegt. So
verhält es sich meiner Meinung nach in der Tat.
Sehe ich im Rhombus die Linie ab vorn, so wird die Linie ac
und die mit ihr parallelen Linien so sukzessiv durchlaufen, dafs
das Mafs der Beachtung, das die einzelnen Punkte
der Linien trifft, allmählich zu- bzw. abnimmt (je nach
der Richtung des Durchlaufens), der vorderste Punkt ist der am
meisten betonte, der Grad der Beachtung ist ein um so geringerer,
je weiter der Punkt vom Beschauer entfernt ist. Natürlich liegt
es uns nun nahe, wenn wir eine Linie sukzessiv durchlaufen, bei
denjenigen Punkten anzufangen, der für unsere Aufmerksamkeit
der am meisten hervortretende ist, insofern hat auch die Be-
hauptung WuNDTs ihr Recht, aber diese Richtung, in der wir die
Linie verfolgen, ist ein sekundäres Moment und kann, wie die
obige Behauptung zeigt, auch umgekehrt werden.^ Endlich
können wir auch für diese Auffassungsform im Bilde eine Hilfe
anbringen: durch stärkeres Ausziehen einer Grenzlinie w^ird die-
selbe unserer Aufmerksamkeit aufgedrängt und infolgedessen
leichter vorn gesehen, durch allmähliches An- bzw. Abschwellen
der in die Tiefe führenden Parallelen der Figur ebenfalls eine
bestimmte räumliche Auffassung nahe gebracht.
Zur Erklärung der Figur 5 bemerkte ich weiter oben, dafs
^ Wenn wir eine Linie von einem Endpunkt zum anderen mit dem
Blick verfolgen, so scheint ihr selbst für unseren Eindruck eine Bewegung
in dieser Richtung innezuwohnen — die Vertikale z. B., die wir von unten
nach oben durchlaufen, „richtet sich auf. Im vorliegenden Fall kann die
Linie für unser Bewufstsein sich von vorn in den Raum hinein, in die
Tiefe erstrecken oder aus der Tiefe auf den Beschauer zukommen.
Beiträge zur Psychologie der Raumiüah-nehmung. 177
die Punkte, die gleich weit von der vorderen oder hinteren Grenz-
linie des Parallelogramms entfernt sind, also in dieser Figur auf
einer und derselben Parallelen liegen, für uns eine Einheit bilden,
weil sie durch zwei gemeinsame Momente verbunden sind. Das
erste liegt darin, dafs sie beim Durchlaufen der Fläche gleich-
zeitig erfafst werden ; das zweite ergibt sich aus dem zuletzt Ge-
sagten : es sind Punkte, die durch das gleiche Mafs der Beachtung
ausgezeichnet sind. Und zwar liegen alle Punkte von „apper-
zeptiver Gleichwertigkeit" auf derselben Parallelen zur vorderen
und hinteren Grenzlinie.
Ich mufs bei diesem „räumlichen Beachtungsrelief" noch
einen Augenbhck verweilen, um einen möglichen Einwand, der
eine gewisse Schwierigkeit enthält, nicht unberücksichtigt zu
lassen. — Das Mafs der Beachtung, das die einzelnen Teile der
Figur trifft, soll ein geringeres sein für die weiter zurückliegenden
Teile. Dagegen kann man nicht mit Unrecht den Einwand er-
heben, dafs ich auch auf den entferntesten Teil einer solchen
Figur, auf die Linie cd etwa im Rhombus meine Aufmerksam-
keit gerade einstellen, ihn spezifisch herausheben und beachten
kann. Um die Sache genau zu formulieren: nicht dafs ich die
Liinie cd spezifisch beachten kann, ist für die gegebene Dar-
stellung eine Schwierigkeit, sondern eine spezifische Beachtung
dieser Linie unter Festhaltung derjenigen Auffassung, die die
Linie ab als vom, cd also als hinten vom Beschauer aus be-
trachtet, negativ ausgedrückt ein Beachten von cd, ohne dafs
entweder für unsere Auffassung eben dies c d zur vorderen Linie
wird oder aus dem räumhchen Zusammenhang überhaupt heraus-
tritt und isoliert erscheint. Ist es nun möglich, in dieser Weise
oder unter diesen Bedingungen eine solche Linie im Vorder-
grund des Bewufstseins spezifisch beachtet festzuhalten, so kann,
scheint es, der Gegensatz des immittelbar erlebten „vorn" und
^hinten" nicht auf den des mehr und minder Beachteten, des
Über- und Untergeordneten^ zurückgeführt werden.
Ich möchte nun in der Tat nicht bestreiten, dafs es inner-
halb gewisser Grenzen möglich ist, eine solche Aufmerksamkeits-
richtung durchzuführen und eine Zeitlang festzuhalten, aber ich
glaube, dafs gerade wer einen Versuch in dieser Hinsicht unter-
* Als „über-** und y,untergeordnet** bezeichnen wir die mehr und minder
beachteten Teile eines zur Einheit verbundenen Ganzen.
Zeitschrift für Fiychologie 49. 12
178 Ernst V, Aster,
nommen hat, mir meine Darstellung der Sachlage am ersten
bestätigen wird. Ich bitte den Gegner, speziell an unserem
Rhombus den Versuch anzustellen. Dann ergibt sich, wenn ich
richtig beobachte, zunächst, dafs die Aufgabe ihre nicht geringen
Schwierigkeiten hat. Es ist natürlich nicht schwer, die Linie cd
in den Mittelpunkt der Beachtung zu stellen, aber es ist schwer,
die vorherige räumliche Auffassung dabei festzuhalten. Und ich
stelle weiter nun die Frage an den Beobachter: ist, wenn die
Aufgabe soweit gelöst erscheint, als es möglich ist, die vordere
Linie ab für unser Bewufstsein in der Tat so zurückgetreten,
wie umgekehrt die Linie cd bei der „natürlichen" Auffassung,
d. h. bei derjenigen, für die ab vom und zumeist beachtet er-
scheint? Ich glaube, man wird mir zustimmen, wenn ich von
meiner Beobachtung ausgehend sage: nach wie vor drängt sich
die vomstehende Linie ab dem Bewufstsein auf. Oder um die
Sache noch anders auszudrücken. Ich sagte schon im zweiten
Abschnitt: es ist etwas für unser Bewufstsein durchaus Ver-
schiedenes, ob ich aus einer Reihe von Inhalten einen willkürlich,
vielleicht mit bewufster Willensanspannung durch die Aufmerk-
samkeit heraushebe und beachtend festhalte oder ob ich den
Eindruck habe, dieser Inhalt selbst zwinge mich so zu verfahren,
es sei das NatürUche, ihn so aufzufassen. Diesen Gegensatz
kann man auch hier hereinziehen: unter einer gewissen An-
spannung meines WoUens halte ich die Aufmerksamkeit auf die
Linie cd gerichtet, aber zugleich „drängt" sich die Linie ab dem
Bewufstsein auf, sie zwingt mich oder fordert mich auf, sie zu
beachten; ein Moment, das sich deutlich meinem Bewufstsein
kundgibt. Dasselbe kann man endlich auch so ausdrücken: Ich
kann den hinteren Teil einer solchen Fläche beachten, aber ich
habe das deutliche Bewufstsein, diese Beachtungsrichtung sei
invers. Dem tut es keinen Eintrag, dafs die ganze räumliche
Auffassung, wenn sie an dem Rhombus geübt wird, an sich will-
kürlich ist und sich für mein Bewufstsein auch so kundgibt —
habe ich die Auffassung einmal gewählt, so kann sie doch einen
Zwang auf mich ausüben, eine Forderung an mich stellen, so-
lange ich sie festhalte. Es ist auch meine freie Wahl Schach zu
spielen, tue ich es aber, so bin ich an den vorgeschriebenen
Gang der Figuren gebunden. Schliefshch behaupte ich mit Be-
stimmtheit: gelingt es, der Beachtung der hinteren Grenzlinie
cd diesen Charakter des Inversen und Willküriichen zu nehmen,
Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung. I79
80 ist auch die festzuhaltende räumUche Auffassung nicht mehr
vorhanden, sei es, dafs sie der entgegengesetzten oder einer
ebenen Ansicht Platz gemacht hat.
Zur Bestätigung können noch andere Beobachtungen heran-
gezogen werden. Ich sagte schon, dafs der Rhombus uns be-
sondere Schwierigkeiten darbietet, wenn wir jene inverse Rich-
tung der Aufmerksamkeit ihm gegenüber durchführen wollen.
Das nicht nur unwillkürlich sich aufdrängende, sondern auch
tatsächlich mit Bewufstsein festgehaltene Beachtungsrelief ist bei
einer so einfachen Figur in höherem Grade Bedingung für das
Bewufstsein dieser bestimmten räumlichen Richtung, als bei einer
Zeichnung, die von vornherein uns ausgesprochener als räum-
liches Bild anmutet. Man zeichne in dem bekannten einfachen
Schema das perspektivische Bild eines Würfels — man wird
finden, dafs es hier leichter ist, die Aufmerksamkeit auf eine
hintere Grenzkante einzustellen und den räumüchen Eindruck
dabei festzuhalten — die entsprechende vordere Kante drängt
sich deutlich auf, ohne dafs doch hier in dem Mafse die Gefahr
vorhegt, dafs das ganze Bild in die umgekehrte räumliche Ansicht
umschlägt oder ganz und gar eben wird. Das Ganze erscheint,
um einen Vergleich zu gebrauchen, weniger labil und es erfordert
daher eine geringere Willensanstrengung, die fraghche Auffassung
festzuhalten. In noch höherem Mafse gilt endUch dasselbe, wenn
wir an die Stelle der Zeichnung überhaupt einen Ausschnitt der
Wirküchkeit setzen. —
Ich glaube damit die Auffassungsform, die einem räumüch
gesehenen Gebilde als solchem eignet, vollständig charakterisiert
zu haben. Wenn wir ein gegebenes Bild räumhch-perspektivisch
auffassen, so durchlaufen wir dasselbe sukzessiv geleitet durch
die in die Tiefe führenden Horizontalen. Die zwischen den
Grenzlinien der Figur liegenden Winkelflächen treten dabei für
unser Bewufstsein völlig zurück. Endhch tritt für unser Beachten
die vom liegende Seite des räumlich gedachten Gebildes am
meisten in den Vordergrund, während das Mafs der den einzelnen
Punkten der Erscheinung geschenkten Beachtung um so mehr
abnimmt, je weiter der Punkt von der vorderen Grenzlinie oder
Fläche entfernt ist. Der eigentümliche Charakter des Bildes, auf
den wir in diesen Worten hingewiesen haben, ist das ihm an-
haftende räumUche, dreidimensionale Moment. Hat ein Bild wie
der oft erwähnte Rhombus diesen Charakter, diese Auffassungs-
12*
180 Ernst V. Aster.
form, 80 sagen wir: wir sehen es räumlich. Weiter können wir
an dem Bild selbst Veränderungen vornehmen — Andeuten der
parallelen Horizontalen, stärkeres Ausziehen der vorderen Grenz-
linie usw. — die gerade diese Auffassungsform erieichtem, auf
ihr Zustandekommen daher hinwirken. Je mehr dies der Fall
ist, um so mehr erhält die Auffassungsform für unser immittel-
bares Bewufstsein den Charakter des Natürlichen, Selbstverständ-
lichen, im anderen Fall des Willkürlichen. Je nachdem das eine
oder andere stattfindet, geben wir unserem Erleben Ausdruck,
indem wir sagen, dafs das Wahrnehmungsbild selbst uns einen
räumlichen Eindruck mache oder dafs wir es räumlich sehen
oder auffassen.
Vielleicht wird man nun das Ergebnis meiner Untersuchung
zugeben — bis auf einen Punkt. In der Eonsequenz der von
mir gebrauchten Worte liegt es bereits angedeutet, dafs ich die
beschriebenen Erlebnisse nicht blofs mit dem räumhehen Ein-
druck eines solchen Bildes, wie der Rhombusfigur, in irgend-
welchen äufseren Zusammenhang bringen, sondern dafs ich ihn
mit diesem Eindruck direkt identifizieren will. Und ich halte es
in der Tat für richtig, zu sagen: Der räumliche Eindruck eines
solchen Bildes, dem wir Ausdruck geben, indem wir von einem
„räumlich sehen" desselben sprechen, dieser Eindruck ist iden-
tisch mit der beschriebenen Auffassungsform. Vielleicht meint
man dagegen, jene Auffassungsform sei da, aber sie sei nur die
letzte Bedingung des eigentlichen räumlichen Eindrucks. Dann
wäre der räumliche Eindruck noch ein besonderes Erlebnis. Das
Vorhandensein eines solchen besonderen Erlebnisses nun kann
ich natürlich nicht widerlegen, aber mir scheint, die direkte
Beobachtung gibt uns kein Recht zu seiner Annahme. Es bleibt
also hypothetisch. Und die Notwendigkeit dieser Hypothese ver-
mag ich nicht einzusehen.
Auseinanderzuhalten ist freilich dreierlei: erstens meine
„Absicht", der Zeichnung gegenüber diese Auffassung zu voll-
ziehen, sowie die allmähliche Durchführung dieser Absicht, die
Bemühungen, die ich z. B. aufwende, um die eine gebrochene
Linie der ScHBÖDEEschen Figur in meinem Bewufstsein möglichst
hervortreten zu lassen. In diesem vorbereitenden Stadium ist
die Auffassungsform noch nicht da, noch nicht erlebt. Zweitens
die Auffassungsform selbst und drittens meine Behauptung, dafs
ich nun das Bild räumlich sehe. Für diese Behauptung ist die
Beiträge zur Psychologie der Baumtcahrnehmutig, JgJ
Au£fas8UBg8forni freilich „Bedingung^' und jene Bemühungen
und Vorbereitungen werden wir in jedem Sinn als Vorbedingungen
für das Zustandekommen des räumüchen Eindrucks bezeichnen
können und müssen.
Vielleicht meint man Bchliefslich, es fehle für die aufgestellte
Behauptung noch ein ^experimentum crucis'', d. h. es müsse
noch gezeigt werden, dafs, wenn wir einer beliebigen Figur gegen-
über einmal zufällig gerade diese Auffassung vollziehen, wir uns
auch dann veranlafst fühlen, imsere Auffassung eine räumliche
zu nennen, von einem Räumlichsehen der Figur zu sprechen.
Demgegenüber möchte ich nur noch darauf hinweisen, dafs die
Auffassungsform, die ich hier charakterisiert habe, eine ganz
bestimmte unter unzählig vielen mögUchen ist. Wir werden
kaum je in die Lage kommen, gerade diese Auffassimgsform
— man denke nur an die allmähliche Abnahme der auf die
Teile der sukzessiv durchlaufenen Linien fallenden Beachtung —
zufällig zu vollziehen. Damit fällt die Möglichkeit fort, sich auf
diesem Wege von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Be-
hauptung zu überzeugen.
5. Konsequenzen für die Wahrnehmung wirklicher
Körper und für die künstlerische Wiedergabe des
Raumes.
Dieselbe Auffassungsform, die im vorigen Paragraphen an
der räumhchen Auffassung einer möglichst einfachen geo-
metrischen Figur demonstriert wurde, können wir mit leichter
Mühe wiederfinden, wenn wir zur Wahrnehmung eines Aus-
schnitts der wirklichen körperlichen Welt übergehen und auf die
Art und Weise achthaben, wie wir uns in unserer Auffassung
diesem gegenüber verhalten. Ich mache nur kurz aufmerksam
auf allbekannte Tatsachen. Jedermann weifs, wie anregend es
für die räumliche Auffassung ist, wenn sich durch die gesehene
Landschaft hindurch ein Weg oder ein Bach in die Tiefe er-
streckt, einen wie starken, auch für das monukulare Sehen
unaufhebbaren räumlichen Eindruck uns die geradewegs in die
Tiefe führende Strafse oder ein Kirchenschiff macht, dem wir
mit dem Blick folgen. Weg und Bach sind die vom Beschauer
in die Tiefenrichtung wegführenden Horizontalen. Eine ganze
Reihe solcher Leitlinien ist beim Blick in die Strafse vorhanden,
sie werden gebildet durch die Linien des Fufsbodens, die Grenze
182 Erngt r. Aster.
des Trottoirs, die Spitzen der Laternen, die Kronen der Bäume,
die Firste und Fensterreihen der Häuser usw. (Natürlich sind
diese Horizontalen bei der umfassenderen Gröfse des Bildes nicht
mehr unter sich sämtlich parallel wie in den einfachen geo-
metrischen Figuren, sondern gegeneinander geneigt.)
Auf der anderen Seite geben alle Vertikalen im Bild, die
senkrechten Linien der Häuser, die Latemenpfähle, die auf der
Strafse gehenden Menschen usw. Apperzeptiouslinien der zweiten
Art an die Hand, wie sie Figur 5 zeigte, d. h. Zusammenordnungen
solcher Punkte, die gleich weit von der Ebene des Beschauers
entfernt sind imd daher wie oben bemerkt eine Einheit zweiter
Ordnung bilden. Die allmähliche Abnahme in der Gröfse dieser
Vertikalen, die perspektivisch bedingte Verkleinerung — man
denke an die Bäume einer Allee — ist eine unmittelbare objek-
tive Bedingung für die allmähliche Abnahme der ihnen zukommen-
den Beachtung, für die Abstufung der innerlichen Betonung, also
für die Eigentümlichkeit des Beachtungsreliefs, von der am Schlufs
des vorigen Paragraphen die Rede war.
Hinzuzufügen ist nur eins: an die Stelle jeder einzelnen in
die Tiefe führenden Linie, der wir bei der Betrachtung einer
solchen geometrischen Figur folgen, von denen im vorigen Para-
graphen gesprochen wurde, treten hier ganze Reihen entsprechen-
der Linien. Auch diese Reihen von Horizontalen und ebenso
von vertikalen Linien, die dadurch ausgezeichnet sind, dafs sie
(als Vertikale) gleich weit von der Ebene des Beschauers oder
(als Horizontale) gleich hoch über der Ebene des Fufsbodens
stehen, schliefsen sich zu Einheiten zusammen, sie bilden für
uns Ebenen.^ Eine solche Ebene ist zunächst einmal die Fufs-
bodenebene selbst, des weiteren denke man an die unzähligen
hintereinander stehenden vertikalen und übereinander liegenden
horizontalen Ebenen, die durch die sich entsprechenden Linien
der beiden sieh gegenüber stehenden Häuserreihen bestimmt
werden. Durch eine solche Schar sich schneidender Ebenen also
^ Für die vertikalen Linien ergibt sich dies schon von selbst aus den
Prinzipien des vorigen Paragraphen: die Punkte der vertikalen Linien
bilden für uns eine Einheit ihrer apperzeptiven Gleichwertigkeit wegen.
In den geometrischen Figuren nun liegen alle Punkte von apperzeptiver
Gleichwertigkeit auf einer und derselben Linie — in einem Ausschnitt der
Wirklichkeit auf einer und derselben Ebene.
Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehnmng, 183
werden wir in das räumlich gesehene Bild hinein und in die
Tiefe geleitet.
Aus dem Gesagten ergeben sich von selbst Vorschriften für
die künstlerische Darstellung des Raumes und der Körperlichkeit
— Vorschriften, die von den Malern aller Zeiten instinktiv befolgt
worden sind. Der Maler mufs uns durch Apperzeptionslinien
bzw. Flächen in den ideellen Raum seines Bildes hineinführen,
sei es nun, dafs diese Linien durch Naturobjekte, die die Land-
schaft durchziehen, oder durch den Gang des Lichtes oder durch
Gruppen von Menschen gebildet werden, die ihrerseits durch
Handlung und Bewegung in einer entsprechenden leitenden Ver-
bindung stehen. Dies Hineinführen in den Raum mufs ein gleich-
mäfsiges sein, d. h. die Apperzeptionslinien müssen sich ohne
Schwierigkeit zu entsprechenden Ebenen zusammenschhefsen.
Sonst erscheint der Raum an einer Stelle flach, an der anderen
tief. Im besonderen darf kein einzelner Teil aus der vorderen
Bildebene hervorragen. Geschieht dies doch, sagen wir etwa mit
einem Arm, so liegt die entstehende Störung darin, dafs das
gleichmäfsige sukzessive Hineinschreiten in das Bild verhindert
wird: von der vorderen Bildebene gehen wdr sukzessiv in den
Raum hinein, durchlaufen also von vorn nach hinten, sind aber
gleichzeitig gezwungen, um den Arm aufzufassen ihn von hinten
nach vorn zu durchlaufen, also eine Bewegung in umgekehrter
Richtung zu vollziehen. Dasselbe störende Moment tritt ein,
wenn die Wiedergabe einer Landschaft durch den Maler oder
Photographen von einem zu nahen Standpunkt erfolgte, d. h. von
einem Standpunkt, auf dem das Auge verschiedener Einstellungen
bedarf, um die näheren und entfernteren Teile der wirklichen
Landschaft deutlich zu sehen. Das Bild zerfällt alsdann in zwei
Teile, von denen wir den einen (entfernteren) von vorn nach
hinten, den anderen aber von hinten nach vorn durchlaufen.
Um ein allmähliches und gleichmäfsiges Hineingleiten in die
Tiefe zu ermöglichen, darf der Maler die Aufmerksamkeit nicht
durch zu scharf umrissene Konturen oder scharf abgegrenzte
Farbflecke festhalten, die Betrachtung würde in diesem Fall eine
ruckweise werden. Hier liegt die wichtigste Aufgabe der Licht-
führung im Bilde: die Modellierung der Körper wird gegeben
durch Flächen, deren Grenzen durch das daräber geleitete ge-
meinsame Licht ineinander übergehen und die dadurch in die
allgemeine Tiefenbewegung hineingezogen werden. Im Gegen-
184 ^rnst V. Aster.
satz dazu wird mit grell abgesetzten Farben und Konturen ge-
arbeitet, wo der räumliche Eindruck vermieden ist und vermieden
werden soll : man denke an das Ornament oder an fignrale Dar-
stellungen, wie wir sie etwa an japanischen Malereien kennen.
Noch eins sei ausdrücklich hervorgehoben. Als ich von
unserer Figur 2 sprach, von dem durch parallele Linien zer-
schnittenen Bhombus, verwahrte ich mich dagegen, dafs man
diese Parallelen etwa als Andeutung einer Schattierung auffasse
und darauf ihre raumgebende Wirkung zurückführe. Diese Auf-
fassung liegt deshalb nahe, weil wir in einer Zeichnung tatsäch-
lich den Schatten wesentlich durch eine solche Art von Schraf-
fierung anzugeben pflegen. Man denke speziell etwa an die
Wiedergabe eines Zylinders: wir deuten die beschattete Seite an
durch Striche, die der Rundung des Körpers folgen, also model-
lierend wirken. Darin liegt an sich ein Problem: in der Natur
ist ims doch der Schatten keineswegs in solchen Strichen, sondern
in einer einfachen, mehr oder minder tief en Dunkelheit gegeben ;
wie kommen wir dazu, ihn in dieser Weise darzustellen? Die
Lösung des Problems liegt sehr nahe: wir „stilisieren" in der
Wiedergabe des Schattens, d. h. wir benutzen sie, um gleichzeitig
Apperzeptionslinien zur Anregung des räumlichen Sehens anzu-
bringen. Die schraffierenden Linien, die der Rundung des
Zylinders folgend seine beschattete Seite markieren sollen, sind
Linien, die am Körper entlang als Horizontale in die Tiefe führen.
Also nicht die parallelen Linien wirken raumgebend, weil sie die
Wiedergabe eines Schattens sind, sondern in der Wiedergabe eines
Schattens pflegen wir uns solcher Linien zu bedienen, weil sie
an sich raumgebend wirken, d. h. die spezifisch räumliche Auf-
fassungsform nahelegen.
Ich möchte diesen Paragraphen nicht schliefsen, ohne einer
Bestätigung zu gedenken, die das hier Erörterte von einer Seite
erhält, der man feines Gefühl für räumliche Wirkung ganz ge-
wifs nicht absprechen wird. Ich denke an das Buch Adolf
Hiu)EBRANDs „Das Problem der Form in der bildenden Kunst**.^
Ich zitiere aus dem Buch nur wenige Stellen, die ich wohl nach
dem Gesagten nicht näher zu erläutern brauche.
„Unsere Vorstellung erfafst den Raum, indem sie in der
vollen Ausdehnung unseres Sehfeldes eine Bewegung nach der
* 3. Aufl., Strafsburg 1901.
Beiträge zur Psychologie der Raunmahrnehmung. 185
Tiefe ausführt, nach der Tiefe strebt. Wenn wir uns Einzel-
körper in diesen Raum gestellt denken, so bilden dieselben so-
zusagen Widerstände gegen diese allgemeine Tiefenbewegung,
Flächenerscheinungen, die nicht weichen. Durch die allgemeine
Tiefenbewegung erhalten sie jedoch Volumen, und, je nachdem
diese Flächenerscheinung bestimmt präzisierte Merkmale besitzt,
an denen die Tiefenbewegung hingleitet, erhalten sie plastische
Form."
„Auf diese Weise werden alle räumhchen Beziehungen und
alle Formunterschiede von einem Standpunkte aus sozusagen
von vom nach hinten abgelesen."
. . . „Die erste und zweite Dimension steht als Flächen-
erscheinung der dritten Dimension als Tiefenbewegung entgegen.
!Es handelt sich also in der Darstellung um die Anregung zu
dieser einzigen, einheitlichen Tiefenbewegung. . . . Von der Er-
scheinung mufs die Anziehungskraft ausgehen, welche die Vor-
stellung stark nach der Tiefe zieht. Das Wesen der einheitlichen
Darstellung liegt demnach darin, dafs ihr eine einheitliche
Anziehungskraft nach der Tiefe innewohnt." (a. a. o. 8. 56, 56.)
6. Perspektivische Gröfsen- und Winkelschätzung.
Wenn wir unseren Rhombus einmal als ebene Figur und
einmal als räumliches Bild betrachten, so erscheint uns im
letzteren Fall unweigerlich die in die Tiefe sich erstreckende
Linie (ac) erheblich länger. Die Täuschung ist aufserordentlich
frappant imd solange die räumliche Auffassung anhält ganz un-
überwindlich. Wir „sehen" die Linie länger. Es genügt nicht,
wenn man sich, was zunächst wohl das Nächstliegende ist, zur
Erklärung dieser Tatsachen auf die „früheren Erfahrungen" be-
ruft, die uns eben „gezeigt haben", dafs perspektivisch gesehene
Strecken in Wirklichkeit länger sind, als wir sie sehen. Auf
jeden Fall haftet an der perspektivisch gesehenen Strecke selbst
ein Moment, das uns zur Änderung unseres Gröfsenurteils ver-
anlafst — wir wissen nicht nur, die Strecke ist gröfser, sondern
wir „sehen" sie gröfser oder glauben sie gröfser zu sehen. ^
* Von allen Fällen, in denen ein blofses „Vl^issen" vorliegt, sehe ich
in diesem ganzen Paragraphen grundsätzlich ab. Um ein Beispiel anzu-
führen: ich stehe auf einem hohen Berge und wundere mich über die auf-
fallende Kleinheit der unten gehenden Menschen; trotzdem „weifs" ich, dafs
186 Ernst V. Aster.
Vielleicht ist dies Moment durch frühere Erfahrungen bedingt
oder wenigstens zum Teil dadurch bedingt, die erste Aufgabe
aber ist, nach diesem Moment selbst zu fragen.
Ich sehe nun zunächst von dieser Wirkung früherer Er-
fahrungen ganz ab und suche den Grund für die Änderung des
Gröfsenurteils in einem Moment der räumlichen Auffassungs-
form, ohne jedoch diesen Faktor für den einzigen erklären zu
wollen.
Es ist eine seit langem bekannte optische Täuschung, dafs
eine vertikale Linie gegenüber einer gleich langen horizontalen
überschätzt wird. Für diese Täuschung hat Schümann, wie mir
scheint mit Recht, als letzten Grund die Tatsache verantwortlich
gemacht, dafs wir eine vertikale Linie sukzessiv von unten nach
oben durchlaufen, während die Horizontale simultan erfafst wird.
Jene Auffassungsform ist die für die vertikale Linie natürliche,
ihr anhaftende, für unser Bewufstsein durch sie bedingte, nicht
von uns willkürlich vollzogen. Damit wu'd nun die Vertikale
für uns zu einer Linie, der eine bestimmte Richtung eignet,
eine Richtung von unten nach oben, im Gegensatz zur Horizontalen,
die eine in sich ruhende Linie ist, d. h. gar keine bestimmte
Richtung besitzt. Ist nun damit für unser Bewufstsein allgemein
auch eine Überschätzung der in dieser Richtung gehenden Länge
der Vertikalen verbunden, so ist klar, dafs für die von vom in
die Tiefe gehende Linie etwas Entsprechendes gelten mufs. Wie
die Vertikale von unten nach oben „sich aufrichtet", so „erstreckt
sich" die in die Tiefe gerichtete Linie von vom nach hinten
oder umgekehrt, d. h. wie wir jene von unten nach oben, so
durchlaufen wir diese von ihrem einen zu ihrem anderen Ende.
In Figur 9 habe ich genau denselben Rhombus wie in
Figur 2, aber um einen Winkel von 90 Grad gedreht, gezeichnet,
so dafs die vorher vertikale Linie ab jetzt für den Beschauer
eine horizontale Lage einnimmt. Vergleicht man diese Figur
mit der früheren, so bemerkt man ein Doppeltes. Dem zum
diese Menschen durchaus keine Zwerge, sondern so grofs sind wie ich.
Hier liegt ein Wissen vor, weil die Überzeugung von der Richtigkeit meines
Gröfsenurteils, mit dem Tatbestand, den ich da sehe, gar nichts zu tun hat.
Wenn ich im Gegensatz zu Fällen dieser Art im Text von einem „Sehen"
der Gröfse gesprochen habe, so heifst das genauer: Das Gröfeenurteil ist
für das Bewufstsein unmittelbar an den gegebenen oder gesehenen Tat-
bestand gebunden, es wird im Hinblick auf denselben abgegeben.
Beiträge zur Psychologie der Raumwahmehmung.
187
Vergleich herangezogenen allgemeinen Gegensatz von horizontaler
und vertikaler Linie gemäfs erscheint in Figur 2 die Linie ab
gröfser als in Figur 9. Aufserdem aber erscheint die Tiefe der
letzten Figur gröfser als die der ersten, die Linie ac also und
ihre Parallelen in Figur 9 länger als in Figur 2. Bei genauerem
Zusehen wird man dann noch entsprechend der ScHUMANNschen
Beobachtung konstatieren können, dafs in Figur 2 auch die hier
vertikal liegende Linie ab von unten nach oben sukzessiv durch-
laufen wird, in Figur 9 dagegen als Horizontale simultan auf-
Figur 9.
gefafst ist. (Dieses sukzessive Durchlaufen ist von dem Verfolgen
der Linien in die Tiefe hinein leicht zu trennen und findet,
wenn ich recht beobachte, unabhängig von diesem statt. Wir
gehen, scheint mir, zuerst die Linie ab von unten nach oben
durch und folgen dann den über die Fläche verstreuten ac
parallelen Geraden in die Tiefe. Freilich ist das Verhältnis
beider Bewegungen durch direkte Beobachtung nicht ganz leicht
zu bestimmen.) Hierin liegt eine Bestätigung des vorher Gesagten.
Die Bewegung nach der Tiefe erscheint intensiver, wenn sie nicht
einer Bewegung von unten nach oben, sondern einer in ruhender
Lage auf gef afsten Horizontalen gegenübersteht, das sich Erstrecken
in die Tiefe der gesehenen Fläche macht uns einen stärkeren
Eindruck, wenn sie die einzige ausgesprochene Richtung der
Fläche ist und nicht mit der vertikalen Richtung kollidiert. Wie
wir die Täuschung, in der uns die Vertikale gröfser erscheint
als die gleichlange Horizontale, dadurch wegbringen können, dafs
wir die Horizontale von einem zum anderen Ende durchlaufen,
wodurch sie für unser Bewufstsein zugleich der Vertikalen ähnlich
wird — die Ähnlichkeit liegt eben in der nun gemeinsamen
Auffassungsform — so können wir auch den Unterschied der
Figur 2 und 9 verschwinden lassen, wenn wir in Figur 9 ab
sukzessiv durchlaufen oder in Figur 2 simultan auffassen. Im
188 JSrnst V. Aster.
ersteren Fall machen uns beide Rhomben den Eindruck aufrechtr
8tehender, im zweiten Fall den Eindruck horizontal liegender
Platten.
Ich verlasse diesen Punkt, um zu anderen Fällen perspektivi-
scher Gröfsenschätzung überzugehen, in denen ebenfalls die
räumliche Auffassungsform von Bedeutung ist. Es ist eine be-
kannte Tatsache, dafs wir die gesehene Gröfse zweier Gegen-
stÄnde, die sich in verschiedener Entfernung von unserem Auge
befinden, sehr schwer vergleichen können. Es ist kaum möglich,
zu sagen, was gröfser gesehen wird, der in einer Entfernung von
10 cm gehaltene Federhalter oder der Ofen in der Ecke des
Zimmers. Immer drängt sich störend die wirkliche Gröfse des
gesehenen Gegenstandes dazwischen, d. h. das Urteil wird nach
dieser Richtung abgelenkt. Experimentell ist dies bestätigt
worden durch G. Mabtiüs\ der von seinen Versuchspersonen
verschieden lange und verschieden weit entfernte Stäbe auf ihre
wahrgenommene Länge hin vergleichen liefs.
Zum Teil wenigstens ist für diese Tatsache ganz sicherlich
der Umstand verantwortlich zu machen, dafs wir von dem einen
zum anderen Vergleichsobjekt, wenn sie sich in verschiedenen
Entfernungen vom Auge befinden, in den uns bekannten in die
Tiefe gehenden Horizontalen übergehen. — Angenommen wir
haben zwei Linien in derselben Ebene, die wir auf ihre Länge
hin vergleichen wollen. Beide sind eine Strecke weit voneinander
entfernt, so dafs wir zum Zweck des Vergleichs von einer zur
anderen übergehen müssen. Ist nun der Längenunterschied
nicht sofort in die Augen fallend, so pflegen wir darauf zu achten,
ob die eine Linie von der anderen um ein Stück überragt ^vird.
Sind die Linien gleichgerichtet, so gehen wir daher von der
einen zur anderen in Parallelen über, die auf dem Endpunkt
der Linien senkrecht stehen (in den punktierten
Linien der Figur 10, wenn a und b die zu vergleichen-
den Linien sind) und sehen zu, ob bei diesem Über-
gang auf der zweiten Linie ein Stück heraus-
geschnitten wird, oder umgekehrt zwischen den
Endpunkten dieser zweiten Linie und den Parallelen
noch ein freier Raum bleibt oder endlich beide
Flg. 10. zusammentreffen. Wenden wir dies nun an auf
* Wundts Philosophische Sttidiefi 5, S. 601 ff .
Beiträge zur Psychologie der Baumwahmehmung. 189
Gegenstände, die sich in verschiedener Entfernung vom Auge
befinden, so werden wir hier durch die räumliche Auffassung
verhindert, in den entsprechenden Parallelen vom einen zum
anderen überzugehen, also bei der „Projektion" des einen
Bildes auf das andere, wenn ich mich so ausdrücken darf
(natürlich handelt es sich nicht um eine absichtliche Konstruk-
tion), die wahrgenommene, sog. scheinbare Gröfse des zuerst
betrachteten Bildes festzuhalten. Anstatt dessen gehen wir fort
in den bekannten Horizontalen, die, wie ebenfalls bekannt, im
Gesichtsfeld nicht mehr parallel sind, sondern perspektivisch ver-
schoben, je weiter wir sie in die Tiefe verfolgen, um so mehr
sich einander nähern, um am Horizont sich zu vereinigen. Gehen
wir also z.B. vom näheren zum ferneren Objekt über, so schneiden
die Linien, in denen wir das erste auf das zweite übertragen,
auf dem zweiten ein Stück heraus, das nicht gleich dem Bilde
cles ersten, sondern kleiner als dieses und zwar so grofs ist, wie
das nähere Objekt uns in der Entfernung des anderen erscheinen
würde. Stützt sich nun darauf unser Gröfsenurteil, so ist klar,
dafs wir in diesem Urteil nicht das Gröfsenverhältnis der un-
mittelbar gegebenen Bilder, sondern das der wirklichen Gegen-
stände gewinnen. Um ein Urteil über die Gröfse der ersteren
zu gewinnen, müssen wir die räumliche Auffassung selbst über-
winden, darin liegt die Schwierigkeit dieser Aufgabe. Und auch
wenn wir uns in dieser Hinsicht bewurstermafsen Mühe geben,
gleitet die Aufmerksamkeit doch immer wieder ab in die Richtung
der Horizontalen hinein, die Parallele nähert sich ihr an und
wir erhalten ein Gröfsenverhältnis, das zwischen dem der wirk-
lichen und der scheinbaren Gröfsen liegt. ^
Der Weg, den wir bei diesem Vergleich wider unseren
' Eine bekannte optische Gröfsen tauschung entsteht, wenn man eine
Reihe von Linien, deren Gröfse stufenweise zunimmt, gleichmäfsig unter-
einander zeichnet uifd unter der letzten, gröfsten, in gleichem Abstand eine
gleichlange Strecke anbringt. Bei einem Vergleich dieser beiden Strecken
wird die letzte unterschätzt. Die Erklärung, die Schümann (a. a. O. Bd. 30,
8. 248 ff.) für diese Täuschung gibt, beruht auf demselben Prinzip, wie die
obenstehende Interpretation der perspektivischen Schätzung: Durch die
L&ngenzunahme der sukzessiv durchlaufenen Strecken wird die Aufmerk-
samkeit veranlafst, in schrägen Linien nach aufsen an den Endpunkten
der untersten Vergleichslinie vorbeizugehen, während für gewöhnlich beim
Vergleich gleichlanger Strecken die Linien, in denen wir von einer zur
anderen flberg^en, die Endpunkte verbinden — s. o.
190 Ernst V. Äster,
Willen einschlagen und der uns daher zu einem anderen, als
dem beabsichtigten Ergebnis führt, wird im übrigen in sehr
vielen Fällen von uns in durchaus zweckentsprechender Weise
benutzt, um die wirkliche Gröfse zweier Gegenstände zu ver-
gleichen, die wir in verschiedener Entfernung vor inis sehen,
eine Aufgabe, die ja auch praktisch von ungleich gröfserer
Wichtigkeit ist, als die Vergleichung scheinbarer Gröfsen. Will
ich z. B. wissen, wie sich zwei Menschen, die in verschiedener
Entfernung vor mir auf der Strafse gehen, in ihrer Gröfse zu
einander verhalten, so gehe ich in den einschliefsenden Hori-
zontalen vom einen zum anderen fort. Die untere Horizontale
ist mir durch den Fufsboden gegeben, die obere ziehe ich vom
Kopf des mir Näheren und sehe zu, ob sie über dem Scheitel
des zweiten Menschen hingeht, ihn berührt oder imterhalb des-
selben schneidet Aus demselben Grunde bemerken wir zunächst
nicht oder kaum das allmähliche Kleinerwerden des Menschen,
der sich in gerader Linie von uns entfernt; wir folgen ihm
mit dem Blick in der Horizontalen, die von seinem Scheitel be-
schrieben wird.
Um nicht einseitig zu erscheinen, möchte ich nun aber an
dieser Stelle noch ausdrücklich bemerken, dafs, für so wichtig
ich die Auffassungsform für unsere perspektivische GröCsen-
schätzung halte, ich sie doch nicht allein dafür verantwortlich
machen möchte. Die Ansicht, die ich zu Anfang zunächst zu-
rückwies, dafs ein unmittelbarer Einfiufs früherer Erfahrungen
vorliege, wenn sich unser Urteil über die Gröfse perspektivisch
gesehener Gegenstände eher nach der wirklichen Gröfse dieser
Gegenstände, als nach der „scheinbaren", d. h. tatsächlich ge-
sehenen ihrer Bilder richte, trifft in gewisser Weise doch einen
richtigen Punkt; und ich möchte an der Hand eines Beispiels
aus anderem Gebiet wenigstens andeuten, in welcher Hinsicht
eine solche direkte Einwirkung der Erfahrung meiner Meinung
nach in der Tat vorhanden ist.
Es wird wohl jedem schon einmal vorgekommen sein, dafs
er beispielsweise in der Nacht ein Geräusch gehört hat, von dem
er zunächst nicht weifs, was es ist und woher es kommt. Es
scheint ein ziemlich weit entferntes lautes Stampfen, Knarren
und Scharren zu sein. Mit einemmal leuchtet uns eine Einsicht
auf: es ist das Nagen einer Maus im eigenen Zimmer, wie wir
jetzt deutlich erkennen. Mit dem Augenblick nun, in dem uns
Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung. 191
diese Erkenntnis kommt, hat das Geräusch, das genau dasselbe
Geräusch ist wie vorher, einen anderen Charakter. Es ist nicht
mehr laut, sondern leise. Das heifst natürlich nicht, dafs sich
die Intensität des Geräusches selbst, diese Eigenschaft des Schalls
geändert hat, wohl aber der Eindruck, den mir diese Intensität
macht. Das Geräusch machte mir erst den Eindruck eines
lauten, jetzt den eines leisen Geräusches.
Dieser absolute Gröfsen- oder Intensitätseindruck, den mir
das Gehörte macht und den man nicht näher beschreiben, son-
dern nur erleben kann, ist, wie man aus dem angeführten Bei-
spiel sieht, nicht nur von der zur Zeit wahrgenommenen Lautheit
des gehörten Schalls abhängig, sondern auch von der Art, wie
wir dem gegebenen Inhalt gegenübertreten, von den früheren
Erfahrungen also, die wir an verwandten Inhalten gemacht
haben. Das Nagen einer Maus haben wir als ein unter allen
Umständen leises Geräusch kennen gelernt, von dem stampfenden,
dröhnenden Schritt einer Menschenmenge dagegen wissen wir,
dafs sein Geräusch nur unter besonderen Bedingungen, nämlich
für den Fernstehenden, von geringer Intensität oder Lautheit
ist. Diese Abhängigkeit von der Art, wie wir den Gegenstand
betrachten oder unseren bisherigen Erfahrungen eingliedern, hat
einmal zur Folge, dafs, wenn wir denselben Inhalt erst als einen
entfernten Gegenstand dieser und dann als einen näher befind-
lichen Gegenstand von jener anderen Art auffassen, mit diesem
Wechsel der Auffassung auch der absolute Gröfseneindruck sich
ändert. Das war im angeführten Beispiel der Fall. Andererseits
folgt eben daraus eine natürlich nur relative Unabhängigkeit
dieses Gröfseneindrucks von den Veränderungen, die mit dem
in Rede stehenden Inhalt selbst vor sich gehen, nachdem wir
ihn einmal als Gegenstand einer bestimmten Art erkannt und
eingeordnet haben, solange wir eben diese Einordnung festhalten.
Daher wird der unmittelbare Gröfseneindruck innerhalb gewisser
Grenzen unverändert bleiben, wenn der Gegenstand, auf den er
sich bezieht (natürlich unter der Voraussetzung, dafs wir ihn
nach wie vor als „denselben Gegenstand" betrachten), seine Ent-
fernung und demgemäfs auch seine scheinbare Intensität oder
Gröfse allmählich wechselt.
Was ich hier mit Absicht zunächst am Beispiel einer Inten-
sität entwickelt habe, gilt nun ebenso für die extensive Gröfse,
für die räumliche Gröfse oder Ausdehnung. Auch hier müssen
192 Em8t V. Aster.
wir von einem unmittelbaren Gröfseneindruck sprechen. Und
da dieser Gröfseneindruck in sehr vielen Fällen das abgegebene
Gröfsenurteil unmittelbar beeinflulst, so vermittelt er in der Tat
einen Einflufs früherer Erfahrungen auf dieses Gröfsenurteil ; ein
Einflufs, der sich einerseits darin zeigt, dafs wir in unserem
Urteil über die wirkliche Gröfse in verschiedener Entfernung
gesehener Gegenstände uns durch die scheinbare Gröfse der
wahrgenommenen Gesichtsbilder nicht beirren lassen, sowie darin,
dafs, wenn wir über diese scheinbare Gröfse allein urteilen
wollen, unser Urteil nach der Richtung der wirklichen Gröfsen-
Verhältnisse hin abgelenkt wird, wie es am Anfang dieses Para-
graphen ausführlicher auseinandergesetzt wurde. Auf den Ein-
flufs dieses unmittelbaren Gröfseneindrucks möchte ich auch
andere wohlbekannte Tatsachen zurückführen, wie die scheinbar
gigantische Gröfse naher (regenstände im Nebel und die schein-
bare Kleinheit weit entfernter Dinge in der klaren G^birgsluft
— Tatsachen, die mit dem Beispiel der Tonintensität, mit dem
ich diese Erörterung begann, eine gewisse Verwandtschaft haben.
Eine nähere Ausführung dieser Dinge gehört indessen nicht .
mehr in den Rahmen dieser Arbeit.^
An diesen Exkurs über die Gröfsenschätzung schUefsen sich
von selbst einige Bemerkungen über die perspektivische Winkel-
schätzung und den Einflufs, den wir auch hier der räumlichen
Auffassungsform zusprechen müssen. Ich erwähnte weiter oben,
dafs bei der räumlichen Auffassung des Rhombus die zwischen
zwei anstofsenden Linien liegende Winkelfläche für unsere Auf-
merksamkeit völlig zurücktritt und dafs es uns daher ganz un-
möglich ist, zu gleicher Zeit ein Urteil über die Gröfse dieses
Winkels zu gewinnen. Wir können diese negative Feststellung
noch durch eine positive ergänzen: der Winkel erscheint uns
während wir die Figur räumlich sehen, nicht als ein spitzer bzw.
stumpfer Winkel von der Gröfse, wie er da gezeichnet wurde,
sondern als rechter Winkel. Das heifst wiederum nicht etwa:
^ DaTs aufserdem noch, wie man hier und da hehauptet hat, ein
direkter Zusammenhang zwischen Entfernung des Objekts and wahr-
genommener Bildgröfse bestehe, dafs also die Bildgröfse mit wachsender
Entfernung des Objekts eine direkte physiologisch bedingte Vergröfserung
erfalire, kann ich nur für durchaus unwahrscheinlich halten. Jedenfalls
müfsten, um eine solche Behauptung zu rechtfertigen, neue experimentelle
Tatsachen ins Feld geführt werden.
Beiträge zur Psychologie der Baumwahrriehmung.
193
wir ^wisee»^, dafs rechte Winkel perspektivisch lEädi als Bpiüate
oder Stümpfe zeigen, sondern wir glauben den rechten Winkel
tu se-hen. Um diese Tatsache zu yerstehen, muTs man sich
überzeugen, dafs dem rechten Winkel 4Üs solchen ebenfalls eine
gane bestimmte Auffasstcngsform eignet.
Um dies zu illustrieren, verweise ich (im Anschlufs an
ScmiMAim) auf die drei Winkel in Figur 11 und 12.
Fig. 11.
Fig. 12.
Beide Zusammenstellungen unterscheiden sich auf den ersten
Blick dadurch, dafs in Figur 11 der rechte Winkel eine deutlich
vom spitzen wie vom stumpfen Winkel unterschiedene eigenartig
selbständige Winkelform neben jenen beiden darstellt, während
in Figur 12 eigentlich nur die beiden Formen des spitzen und
stumpfen Winkels deutlich unterschieden sind und der rechte
Winkel nur als eine Übergangsform zwischen beiden erscheint;
wir fühlen uns angesichts dieser Zeichnung gar nicht versucht,
dem Winkel von 90® eine besondere Stellung einerseits gegen-
über denjenigen von 30, 40, 50® imd andererseits gegenüber
denen von 100, 120, 130® anzuweisen. Eine Folge dieser Tat-
sache, auf die Bohumann aufmerksam macht, ist es, dafs wir in
der Darstellung der Figur 12 den rechten Winkel schwer heraus-
erkennen, er wird im allgemeinen als spitzer bezeichnet.
Daraus ergibt sich zunächst, dafs die eigentümhche Auf-
fassungsform, die den rechten Winkel als solchen auszeichnet,
Zeitschrift für Psychologie 48. 13
194 £ni«f V. Aster.
nur zutage tritt, wenn wir dem Winkel die Lage der Figur 11
geben. Diese Lage nun ist dadurch bezeichnet, dafs der eine
der beiden Schenkel eine ausgesprochene vertikale, der andere
eine horizontale Richtung einschlagt Das Hervortreten dieser
Richtungen ist es, das unsere Auffassung des Winkels beherrscht;
um ihretwillen sprechen wir davon, dafs im rechten Winkel die
sich schneidenden Geraden ^aufeinander senkrecht stehen". Indem
nun die Aufmerksamkeit sofort auf die Linien selbst und ihre
entgegengesetzte Richtung gelenkt wird, tritt die Winkelfläche
für unsere Auffassung vollständig zurück. Zugleich erhalten die
beiden Schenkel des rechten Winkels eine relative Selbständigkeit
auch gegeneinander. Dagegen erscheinen die Schenkel des spitzen
sowohl wie die des stumpfen Winkels im wesentlichen nur als
Begrenzungslinien der eingeschlossenen Winkelfläche und zugleich
als durch diese Fläche aneinander gebunden. Die Auffassungs-
form des rechten im Gegensatz zu der des spitzen und stumpfen
Winkels zeichnet sich also dadurch aus, dafs die in ihrer diver-
gierenden Richtung aufgef afsten und verselbständigten Seiten im
Vordergrund des Bewufstseins stehen, während die Winkelfläche
cwischen ihnen keine Rolle spielt. Dazu mag noch kommen,
dafs der eine Schenkel als Vertikale aufgefafst — d. h. wie wir
es bei Vertikalen zu tun pflegen, von unten nach oben durch-
laufen wird, während die andere Linie dagegen die „ruhende"
Horizontale darstellt. Tragen wir diese AuflEassungsform jetzt
an die Winkel der Figur 12 heran, so gelingt es leicht, auch hier
den rechten Winkel zu „sehen".
Gehen wir nun zurück zum räumlich aufgefafsten Rhombus,
so läfst sich leicht zeigen, dafs durch die räumliche Auffassung
der tatsächlich spitze Winkel bei c bzw. der stumpfe Winkel bei
a eine Auffassungsform erhält, die in allen Punkten der für den
rechten Winkel charakteristischen Auffassungsform entspricht.
Ich stellte, wie man sich erinnern wird, schon vorhin fest, dafs,
wenn wir von der räumlichen zur ebenen Auffassung des Rhombus
übergehen, die Winkelfläche, die vorher gänzlich unbeachtet blieb,
als charakteristische Einheit heraustritt und die beiden Linien
als Grenzlinien dieser Fläche erscheinen. Dafs für die räumliche
Auffassung diese Linien auch gegeneinander verselbständigt sind,
ergibt sich schon aus ihrer verschiedenen Richtung und aus der
RoUe, die die Verschiedenheit dieser Richtung für unser Bewufst-
sein spielt, wenn auch die vertikale hier durch die in die Tiefe
Beiträge zur Psychologie der Raumwahmehmung. 195
gehende Liide ersetzt wird. Endlich verlangt die Tiefenrichtung,
wie die Vertikale, das sukzessive Durchlaufen.
Die gemeinsame Auffassungsform nun macht es ohne weiteres
verständlich, dafs der spitze Winkel in räumlicher Auffassung
eben als rechter uns erscheint. Ebenso ergibt sich daraus, dafs
eine besondere Schwierigkeit bestehen mufs, spitze Winkel als
solche perspektivisch darzustellen. In der Tat wird in der per-
spektivischen Ansicht ein spitzer Winkel nur glaublich, wenn
eine starke Bewegung in die Tiefe schon gegeben ist, in die er
hineingezogen wird ; wenn er also zu vorhandenen rechten Winkeln
in Gegensatz tritt, da ja die räumliche Bewegung, wie wir ge-
sehen haben, nur durch die perspektivische Darstellung rechter
Winkel gewonnen werden kann. Andererseits liegt wieder eine
gewisse Gefahr für den Zeichner oder Maler darin, dafs er Winkel,
die in Wirklichkeit rechte sind, in allzu starker perspektivischer
Verschiebung wiedergibt : es macht sich dann der ausgesprochen
spitze oder stumpfe Winkel als Gegengewicht gegen die räum-
liche Auffassung geltend, d. h. er legt dem Beschauer nahe, ihn
eben als spitzen und stumpfen Winkel und nicht in der Weise
des rechten aufzufassen. Das ist der Fall z. B. wenn ein Gebäude
von einem zu nahen Standpunkt auf ebener Erde aufgenommen
wurde. Ich erinnere an das bekannte „Stürzen" der Linien auf
Photographien dieser Art, das eine so unangenehme Unsicherheit
in die räumliche Auffassung hineinbringt.
Mit dieser Winkelauffassung hängt endUch noch ein Punkt
zusammen. Ich erwähnte mehrfach die in der Lehre von der
Perspektive elementare Grundtatsache, dafs die für die räumliche
Auffassung so wichtigen Horizontalen in perspektivischer Ansicht
nicht mehr parallel, sondern gegeneinander geneigt gesehen
werden. Auch hier besteht ein Gegensatz zwischen dem was
wir wirklich sehen und dem, was wir zu sehen glauben: die im
Oesichtsbild gegen den Horizont hin zusammenlaufenden Linien
scheinen uns doch deutlich parallel zu sein. — Die Erklärung
dieser Tatsache ist der für die Winkeltäuschung gegebenen genau
entsprechend. Auch die parallelen Linien (speziell die horizontal
oder vertikal gerichteten) haben eine bestimmte Auffassungsform
die genau ebenso bei den perspektivisch gesehenen Linien trotz
ihrer Neigung wiederkehrt. Schumann beschreibt diese Auf.
fassungsform, indem er sagt, bei einem Paar vertikal oder hori-
zontal gerichteter Parallelen seien die einander gegenüberliegenden
13*
196 Ernst V. A$ter.
Punkte, die Endpunkte jeder auf beiden Parallelen eenkredit
stehenden Verbindungdinie also, einander zugeordnet. Dieee
Zuordnung besteht nun 2;wi8chen den entsprechenden Punkten
der perspektivisch gesehenen Horizontalen genau so vermöge der
Einheit, die die appereeptiv gleidiwertigen und simultan auf-
gefarsten Punkte in der räumlichen Auffassung bilden. Objektiv
ist diese Zuordnung angedeutet bew. angeregt dtu^ch jede Vertikale
im Bilde '(vgl. die Ausführungen des vorigen Para^aphen).
7. Die Entstehung der räumlichen Auffassungsform.
Ihre Bedeutung für das binokulare Sehen.
Im Aoschlufs an das im vierten Paragraphen gewonnene und
in den letzten Abschnitten zur Verständlidimachung einer Reihe
von Tatsachen benutzte Resultat drängt sich nun vor allen Dingen
die Frage auf: wie kommen wir dazu, diese Auffassungsform
als räumliche zu bezeichnen? Genauer gesagt: wie kommen
wir dazu, wenn wir einem gegebenen Inhalt gegenüber diese
Auffassung vollziehen, dem in der Behauptung Ausdruck zu
geben, dafs wir nun den betreffenden Gegenstand, wie z. B. den
Rhombus, räumlich sehen?
Diese Frage ist eine Frage der genetischen Psychologie.
Wir verlassen also mit ihr das im wesenthchen bisher einge-
haltene Gebiet der reinen Beschreibung.
Die Frage ist beantwortet, wenn es uns gelingt, zu zeigen»
dafs für jeden wirküch dreidimensional ausgedehnten Gegenstand
gerade diese Auffassungsform die natürliche ist oder dafs sie uns
noch schärfer ausgedrückt durch einen solchen Gegenstand auf-
gezwungen wird. Verhält sich dies so, ist jede Auffassung eines
wirküch - räumlichen Gegenstandes notwendigerweise so und
nicht anders beschaffen, dann ist es damit auch verständlich,
dafs das Vorhandensein dieser Auffassungsform uns genügt, um
von einer „Wahrnehmung" der dritten Dimension zu reden. Eine
weitere Erklärung dieses Tatbestandes ist dann weder möglich
noch erforderlich. — Dafs sich dies nun in der Tat so verhält,
dafs diese von uns als räumlich bezeichnete Auffassungsform
durch die Dreidimensionalität der betrachteten Gegenstände selbst
direkt bedingt ist, läfst sich leicht einsehen. Ich brauche hier
gröfetenteils nur an Dinge zu erinnern, die schon im Lauf dieser
Abhandlung Erwähnung gefunden haben.
Was zunächst das sukzessive Durchlaufen der sich in die
Beiträge zur Psychologie der Baumtcah-nehmung. 197
Tiefe erstreckenden linien a];igeht, so ist diese Tatsache un-
schwer als notwendige Folge des binokularen Sehens zu begreifen.
H&It man einen Federhalter so vor sich, dafs seine Länge direkt
nach der Tiefe zuweist und betrachtet das Objekt mit beiden
Augen, so sieht man bei starrer Fixation nur einen Punkt des
Halters einfach, alle anderen doppeh ; wobei zugleich der erfolgten
EUnsteUung wegen der einfach gesehene Teil der Linie an Schärfe
und Deutlichkeit der Umrisse die anderen übertrifft. Will man
also überhaupt eine solche Linie als £inheit in allen Teilen deut-
lich und klar vor sich haben, so ist man auf das sukzessive Er-
fassen angewiesen. Natürlich ist das sukzessive Durchlaufen in
diesem Fall mit Augenbewegungen verbunden, es ist jedoch nicht
weiter verwunderUch, dafs diese Augenbewegungen, wo sie nicht
mehr notwendig sind, wie bei zweidemensionalen Darstellungen
räumlicher Objekte durch die blofse Bewegung der Aufmerksam-
keit ersetzt werden. Übrigens sind wir auch beim einäugigen
Betrachten einer Linie, die sich in die Tiefe erstreckt, auf ein
sukzessives Durchlaufen mehr oder minder angewiesen, da ja
das Auge immer nur für den jeweilig fixierten Punkt akkommo-
diert ist.
Um die Tatsache zu verstehen, dafs wir uns gerade die
Horizontalen eines räumlichen Gegenstandes aussuchen, um
ihnen mit dem Bück zu folgen, muTs man sich zunächst gegen*
wärtig halten, dafs die Horizontale schon in jedem reinen Flächen-
bild eine sehr bedeutsame RoUe für unsere Auffassung spielt;
sie ist für uns die wichtigste Orientierungslinie. Davon kann
man sich bei jeder geometrischen Figur, wie schon bei jedem
leeren Blatt Papier überzeugen. Die Figur steht auf der Hori-
zontalen, gruppiert sich symmetrisidi um dieselbe, und zeichnen
wir sie mit Willen oder au» Versehen so, dafs sie zur mafs-
gebenden Horizontalen des Blattes oder der Tafel in keinem
solchen Verhältnis steht, so erscheint sie dem Betrachter sofort
ale schief, d. h. sie erhält eine ganz bestimmte Richtung für die
Auffassung, in der sie sich erstreckt, und es fällt der Winkel
auf, den diese Richtung mit der mafsgebenden Horizontalen
bildet. (Eine einzige Ausnahme macht aus leicht verständlichen
Gründen der Kreis, in dem kein Radius oder Durchmesser aus*
gesogen ist.) Will man diesen Eindruck vermeiden, so bleibt
nichts anderes übrig, als bewufst und absichtlich von den Kon«
turen des Blattes, auf dem die Zeichnung sich befindet, zu ab«
198 Ernst V. Aster.
strahieren. Und wenn uns dies gelungen ist, so erscheint uns
die „Richtung**, nach der sich die Figur vorher „erstreckte" und
die mit der Horizontalen einen Winkel bildete, nunmehr selbst
als Horizontale, auf der sich die Figur aufbaut oder um die sie
sich gruppiert. Man kann diese Beobachtungen leicht nach-
prüfen, wenn man ein Dreieck auf ein rechteckiges Stück Papier
zeichnet — einmal so, dafs die eine Seite des Dreiecks mit der
horizontalen Seite der Unterlage gleichgerichtet ist imd einmal
so, dafs beide Richtungen divergieren.
Spielen nun die Horizontalen in der Auffassung des in einer
Ebene ausgebreiteten Bildes eine so wichtige Rolle, so müssen
wir uns auch an diese Horizontalen halten, wenn wir uns im
Raum orientieren wollen. D. h. genauer: wir sehen ein per-
spektivisch verschobenes Bild, z. B. eine rechteckige Fläche in
perspektivischer Ansicht. Sollen wir uns nun über das Gesehene
überhaupt orientieren, sollen wir es richtig bestimmen, sollen wir
es z. B. als rechteckige Fläche, d. h. als dasselbe wiedererkennen,
was in einer Ebene gesehen dieses bestimmte uns wohlbekannte
Aussehen zeigte, so müssen wir vor allem die Linien zu erfassen
suchen, nach denen unsere Auffassung jenes ebene Grebilde „kon-
struierte **. Das Heraussuchen der perspektivisch gesehenen Hori-
zontalen also mufs entstehen, sobald wir uns mit Hilfe des
Gesichtsbildes im Raum zu orientieren suchen, denn es ermög-
licht allein ein unmittelbares Wiedererkennen der in einer Ebene
gesehenen Bilder in der perspektivisch verschobenen Form.
Auf den dritten Punkt, der die räumliche Auffassung
charakterisiert, das Zurücktreten der spitzen oder stumpfen
Winkelfläche, brauche ich hiemach wohl nicht näher einzugehen,
es dient unmittelbar demselben Zweck der Orientierung im Raum,
dem Zweck, dajs perspektivisch Gesehene dem entsprechenden in
einer Ebene gesehenen Bild möglichst ähnlich zu machen.
Um sich die Entstehung dieser Momente der Auffassungs-
form anschaulich zu machen, denke man sich eine bestinunt um-
rissene Fläche aus der ebenen allmählich in die perspektivische
Ansicht übergeführt, etwa die vordere Seite eines Würfels, die
man im Auge behält, während der Würfel gedreht wird. Die
allmählich kontinuierliche Veränderung der Ansicht, die uns ver-
anlafst, in dem sich Verändernden nicht verschiedenerlei, sondern
eines und dasselbe zu sehen, führt uns ebenso unwillkürlich dazu,
die charakteristischen Formen der langsam ihr Aussehen wechseln-
Beiträge zur Psychologie der Baumwahmehmung, 199
den Figur nach Möglichkeit festzuhalten bzw. das Veränderte
(Winkelfonn) zu ignorieren.
Was endlich das eigentliche Beachtungsrelief in der räum-
lichen Auffassungsform betrifft, so braucht wohl keine besondere
Erklärung dafür gegeben zu werden, daTs das Nähere innerhalb
des Gesichtsbildes sich der Aufmerksamkeit in höherem Grade
aufdrängt als das Entferntere. Schon die gröfsere Schärfe und
Deutlichkeit der Umrisse, die gröfsere Masse der Erscheinung
in der Nähe und das allmähliche Verschwimmen von Farbe und
Form in der Feme mufs ja dahin wirken. Wie sehr uns dies
Verhältnis selbstverständhch geworden ist, sieht man daraus,
dafs wir das doch von räumlichen Verhältnissen hergenommene
Bild des ^Hintergrundes'' auch in Fällen anwenden, in denen
wir wissen, dafs es sich um keinen räumlichen Unterschied,
sondern nur um den Gegensatz des Beachteten imd Unbeachteten
bzw. des mehr oder minder Beachteten handelt : im Schachbrett,
sagen wir, heben sich die weifsen Felder vom schwarzen Hinter-
grunde ab u. dgl. m.
Endlich möchte ich hervorheben, dafs auch für das Zustande-
kommen der räumlichen Beachtungsreliefs das Sehen mit zwei
Augen ein günstiges Moment darstellt. Man stelle einen Würfel
so vor sich hin, dafs die vordere Fläche sich gerade in der Mitte
des Gesichtsfeldes befindet. Dann sieht bekanntlich das linke
Auge noch ein Stück der linken, das rechte ein Stück der rechten
Seitenfläche. Daher sind, wenn wir mit beiden Augen sehen,
rechte wie linke Seitenfläche ein wenig sichtbar. Aber beide
gehören nur dem Gesichtsfeld je eines Auges an und erhalten
daher gegenüber dem scharfen, deutlich und klar hervortretenden
Bild der beiden Augen sichtbaren Mittelfläche etwas Unsicheres,
Schwankendes, Verwaschenes. Ein Unterschied in der Beachtung
ist die notwendige Folge.
Das Resultat der bisherigen Untersuchung dieses Paragraphen
können wir, denke ich, kurz dahin zusammenfassen, dafs die
Wahrnehmung räumlich ausgedehnter Gegenstände, insbesondere
wenn wir hinzunehmen, dafs diese Wahrnehmung mit beiden
Augen geschieht, diejenige Auffassungsform, die wir in den
vorhergehenden Abschnitten als spezifisch räumliche erkannt und
bezeichnet haben, tatsächlich notwendig macht.
Hier ist nun der Ort, noch einmal auf die Position des
Nativismus und auf seinen Gegensatz zum Empirismus
200 £m9f V, A^ttr.
zurückzukommen^ von dem ich- im Anfang dieser Abhandlung
ausgegangen bin.
Per Nativismua behauptet, wie man sieh erinnern wird, das
Vorhandensein einer beeonder^i Tiefenempfindung beim
binokularen Sehen, physiologisch bedingt durch die Verschieden-
heit der Bilder auf beiden Netzhäuten. Mit Recht kann sich
der Nativismus für diese Behauptung auf zwei Dinge berufen:
auf den Umstand, daCs wir durch zwei Augen zweifellos ein
deutlich plastischeres Bild des Gegenstandes erhalten als wir es
haben, wenn wir das eine Auge sehliefsen, und die damit zu-
sammenhängende experimentell bestätigte Tatsache, dafa unser
Urteil über räumliche Entfernungen beim binokularen Sehen ein
sehr viel sichereres und genaueres ist. Die Schwäche seiner
Position bleibt dagegen für den Nativismus, daCs seine Tiefen^
empfindung immer etwas Hypothetisches behält; wür erfahren
nicht recht, worin sie denn nun eigentlich bestehen soll.
Im Ansdilufs daran möchte ich zum SehluTs wenigstens die
Möglichkeit andeuten, auch die Tiefenempfindung des Nativismus
ganz durch die räumliche Auffassungsform zu ersetzen. Der
Vorzug, den das Gesichtsfeld beider Augen vor dem einäugigen
hat, bestände dann nur noch darin, dafs erstere der räumlichen
Auffassungsform günstigere Anhaltspunkte darbietet. Welches
diese unterstützenden Momente im einzelnen sind, darauf brauche
ich hier nicht noch einmal zurückzukommen. Ihre durch die
Gewohnheit unterstützte Wirkung bestände darin, dals uns an*
gesichts des binokularen Gesichtsfeldes ein simultanes Erfassen
des Gregebenen, eine andere als die spezifisch räumliche Zu«
sammenordnung und Beachtung so gut wie unmöglich ge*
macht würde, dafs also die räumUche Auffassungsform in ganz
besonderem Mafse an dem Gesehenen selbst zu haften schiene,
für unser Bewufstsein als unabtrennbare Eigenschaft zu ihm
gehörte. Als Gegensatz könnte man hinzufügen, dafs beim
Sehliefsen des einen Auges im Gegenteil die Vermeidung der
räumüchen Auffassung in gewisser Weise erleichtert werde : Das
gleichmäfsig dunkle Gesichtsfeld des geschlossenen Auges spielt
ja für uns während der Betrachtung auch eine gewisse Rolle,
es wirkt ähnlich wie ein leichter Schleier, den wir über das Ge-
sehene breiten und der die gleichmäfsige Verbindung und simul*
tane Erfassung aller Teile desselben erleichtert. Dazu kommt
die plötzliche Verkleinerung des Gesichtsfeldes, die in derselben
Beiträge zur Psychologie der Baumicahmehmung. 201
Richtung wirkt. Eine Bestätigung dafür läge in der Beobachtung,
dab, weim wir das eine Auge schliefsen, das Gesichtsbild uns
meist nicht sofort, sondern erst nach einer kleinen Weile flacher
erschBint: die Änderung der Auffassungsform stellt sich erst
allmählich ein.
Nicht verschweigen will ich, dafs ich in dieser Vermutung
lebhaft bestärkt worden bin durch das vor nicht allzu langer
Zeit von der Firma Zeifs in Jena unter dem Namen „Verant"
in den Handel gebrachte Stereoskop für das einäugige Sehen.
Ohne mich auf eine nähere Beschreibung des für die Psychologie
recht bedeutsamen Instruments hier einlassen zu wollen, bemerke
ich nur, dafs man in dem Apparat die Photographie einer Land-
schaft oder eines Gebäudes durch eine lanse betrachtet. Diese
Linse ist so konstruiert und vor die Photographie gebracht, dafs
wir ein virtuelles verzeichnungsfreies Bild derselben erhalten,
und zwar wird dieses Bild dem Auge tmter denselben Umständen
(Schatten, Gröfse, Deutlichkeit) dargeboten, unter denen es vom
Orte des Aufnahmeobjektivs aus die Gegenstände selbst erblicken
würde. Der Erfolg zeigt nun^ dafs wir durch den Veranten mit
eiaem Auge ein geradezu frappant plastisches Bild des Geseheneu
erhalten. Ich weifs nicht, wie sich die nativistische Theorie mit
diesen Beobachtungen abfinden will: nur dadurch, dafs der
Photographie gegenüber die gleichen Bedingungen geschaffen
werden, unter denen das Auge beim Anblick der Objekte selbst
steht, steigt der plastische Eindruck derart auffallend. Übrigens
sprechen die Beobachtungen durch den Veranten ebenso wie
gegen die Tiefenempfindung auch gegen den EinfiuTs von be-
sonderen Konvergenz- und Akkommodationsempfindungen, auf
die der bisherige Empirismus bekanntlich mehr oder minder
Wert legte, und die im übrigen mit der nativistischen Tiefen-
empfindung den Nachteil des Hypothetischen gemeinsam haben.
(Damit ist natürlich nichts gesagt gegen die durch die jeweilige
Konvergenzstellung oder Akkommodation der Augen bedingten
Faktoren des Gesichtsbildes selbst: sie können sehr wohl raum-
gebende Bedeutung haben, d. h. zur räumlichen Auffassung ver-
anlassen, wie das ja weiter oben für das Doppeltsehen genügend
betont wurde.)
Besonders interessant ist ferner der folgende Verantversuch,
den mir Herr Prof. Schümann vor kurzem bei einem Besuche
des Berliner Instituts zeigte. Bringt man vor jedes Auge eine
202 Enist V. Äster.
Verantlinse, so kann man nun den beiden Augen zwei genau
identische Photographien darbieten und erhält trotzdem sofort
den vollen plastischen Eindruck. Wäre die Tiefenempfiindung
ursprünglich an das Sehen mit disparaten Netzhautstellen ge«
bunden, so müfste beim erstmaUgen Sehen mit identischen Stellen
ein Hindernis für die Tiefenwahmehmung gegeben sein, das
höchstens durch Übung überwunden werden könnte. Tatsächlich
stellt sich aber das plastische Sehen sofort bei der ersten Be-
trachtung ein.
Positiv gesprochen scheint mir aus den Verantversuchen mit
Sicherheit hervorzugehen, dafs in bezug auf die Tiefenwahr*
nehmung zwischen monokularem und binokularem Sehen nur
ein relativer Unterschied besteht. Ein solcher aber liefse sich
wohl auf die oben angegebene Art erklären.
Nehmen wir dies an, so ergibt sich in grofsen Zügen etwa
folgendes Bild einer Entstehung der Tiefenwahmehmung durch
den Gesichtssinn.
Gegeben ist uns das Gesichtsfeld als zweidimensional aus*
gedehnte Mannigfaltigkeit. Gehen wir nun aus von einem be-
stimmten in diesem Gesichtsfeld gegebenen Inhalt — ich wähle
als Beispiel die vordere Fläche eines Würfels — , so lernen wir
durch bestimmte Erfahrungen das Gesehene als ein räumhch
ausgedehntes, als einen im Raum, also nach drei Dimensionen
verschiebbaren Gegenstand kennen. Die Erfahrungen, durch die
wir diese Einsicht gewinnen, bestehen darin, dafs, wenn wir
bestimmte Bewegungen unseres Körpers ausführen, das gesehene
Quadrat sich in eine Reihe bestimmter anderer Bilder — schief-
winkliger parallelogrammartiger Figuren, die durch die wechselnde
Beschattung zugleich einen bestimmten Farbcharakter erhalten —
verwandelt, die wir sämtlich als verschiedene Ansichten, Er-
scheinungen oder wie man sich nun ausdrücken will „desselben**
Gegenstandes betrachten. Ein Gegenstand im dreidimensionalen
Raum ist ein Gegenstand, um den wir „herumgehen" oder den
wir von verschiedenen Seiten anschauen können. Indem wir
nun diese Erfahrungen machen, streben wir danach, uns im
Raum zu orientieren, d. h. in den perspektivischen Ansichten
das ursprüngliche Quadrat unmittelbar wiederzuerkennen, ohne
erst eine Drehung oder Bewegung des Körpers ausführen zu
müssen. Aus diesem Streben ergibt sich von selbst, wenn wir
die Eigentümlichkeiten des binokularen Gesichtsfeldes (Doppel-
Beiträge zur Psychologie der Raumwalimehmung, 203
bilder; relative Undeutlichkeit des nur mit einem Auge Ge-
sehenen usw.) noch hinzunehmen, die eigentümhche Auffassungs-
form, von der hier die Rede war. Den einfachen Gesetzen der
Assoziation gemäfs wirkt endlich, nachdem wir einmal diese
Erfahrungen gemacht haben, wie ich sie hier am Beispiel der
Würfelfläche geschildert habe, in Zukunft eine solche parallelo-
grammartige Figur als „indirektes Raumkriterium ^ und es stellt
sich daher bei ihrem Anblick sofort auch die räumliche Auf-
fassungsform wieder ein.
Indem sich nun diese Auffassungsform für die Wahrnehmung
räumlich ausgedehnter Gegenstände notwendig herausstellt, wird
sie zum Zeichen oder Merkmal dieser räumlichen Ausdehnung.
D. h., wo sich diese Auffassungsform uns aufdrängt, „wissen"
wir, das Gesehene ist räumlich; und geben diesem Wissen in
entsprechendem praktischen Verhalten oder in entsprechenden
Urteilen Ausdruck. Dabei kann es freilich sein, dafs wir das
deutliche Bewufstsein der „Subjektivität" diese Auffassungsform
haben, das Bewufstsein, dafs wir sie absichtlich hervorgerufen
haben. Dann fällt jenes Wissen fort — anstatt zu sagen, der
Gegenstand sei räumlich, sagen wir dann : wir sehen ihn — will-
kürUch — räumlich ; wie es bei unserem Rhombus der Fall war.
Endhch kann es vorkommen, dafs das unmittelbare Bewufstsein
ans die räumliche Auffassungsform nicht als willkürlich, sondern
als im Gegenstand selbst liegend erkennen läfst; die Erfahrungen
aber, für die dies Erlebnis Zeichen oder Merkmal ist, stellen
sich nicht ein, wir können von dem Gegenstand nicht von ver-
schiedenen Seiten die entsprechenden verschiedenen Ansichten
gewinnen oder wissen im Voraus, dafs dies nicht der Fall sein
wird, dafs der Gegenstand also nur flächenhaft ausgebreitet ist.
In diesem Fall reden wir von räumücher Illusion, unter be-
sonderen Umständen von räumlicher Darstellung.
(Euigegangen am 6. Juli 1906.)
204
(Aus dem psychologischen Institut der Universität Göttingen.)
Über subjektive Mitten verschiedener Farben auf
Grund ihres Kohärenzgrades.
Von
Siegfried Jacobsohn, (f )
(Schlafs.)
§18. Die Faktoren, welche im Sinne derBeharrungs-
tendenZjUnddie jenigen, welche in entgegengesetzter
Richtung wirken.
Ich komme zu den Faktoren, welche teils im Sinne des
Festhaltens an dem biaher gefällten Urteile, im Sinne der sog.
Beharrungstendenz, teils in entgegengesetzter Richtung wirken.^
Ich beginne mit den letzteren.
Die Erwartung * gleicher Kohärenz auf beiden Seiten spielte
bei meinen Versuchen keine sehr grofse Rolle. Dennoch hatten
die Beobachter frühzeitig das Gefühl, in der kritischen Zone,
d. h. nahe der SteUe, an der sie das Urteil „unentschieden^
fällen müfsten, zu sein. Um sie nicht vom Anfang eines Ver-
suches an unsicher zu machen, und um zu verhindern, dafs sie
aus „Besorgnis, die Grenze zu überschreiten^ (K. K.), aus „Furcht,
sich zu verrennen" (M.) das Urteil „unentschieden" zu früh ab-
gäben, mufste bei jedem Versuche immer sehr weit entfernt von
der Zone der Unentschiedenheit mit dem auf- oder absteigenden
Verfahren begonnen werden. Bei der Annäherung an die Gegend
des „unentschieden" bemerkte der Beobachter dann, wenn er
* Auf die Ausführungen auf S. 93, nach denen die Angleichung in
einer dieser beiden Richtungen wirkt, falls die Versuchsperson nicht die
Gegenprobe macht, sei hier verwiesen.
■ Über den Einflufs derselben bei Angells Versuchen s. S. 88.
über subjektive Mitten ^r8ö?iied, Farben auf Gr%md ihres Kohärenzgrades. 205
auch schon zu Anfang des Versuches in der kritischen Zone zu
sein geglaubt hatte, immer deutlicher, dafs der Unterschied der
Kohlüfenzgrade beider Beiten doch noch ziemlich grofs sei. Die
Änderangeln, welche der Versucfasieiter an der mittleren Scheibe
Yomabm, durften jedesmal nur klein sein, weil die Versuche'
person sonst unsicher wurde und infolgedeasen das Urteil „\m*
entochieden'^ zu früh hätte abgeben können. M. z. B. erklärte^
er bereue sofort, wenn er zw^mal hintereinander „viel kleiner*'
gesagt habe, er gewinne dadurch gar nidit an Zeit^ weil er
nach der dann vorgenommenen gröüseren Veränderung der
msMeren Scheibe erst sehr lange prüfen müsse. Natürlich war
die Stufengröfse in der kritischen Zone am kleinsten, doch da
dieselbe ziemlich grofs war, glaube ich nicht, dafs die Versuchs-
personen auf Grund der Verminderung der Stüfeugröfse „unenir
schieden^ urteilen konnten, eher mögen sie darin einen Ansporn
zu noch sorgfältigerer Prüfung empfunden haben. Die Aus-
führung eines Versuches stellte an die Ausdauer und Aufmerk-
samkeit der Versuchspersonen mehr als gewöhnliche Anforde-
rungen. Bei Versuchspersonen, die denselben nicht gewachsen
sind, kann es leicht geschehen, dafs sie, um endlich mit einem
Versuche fertig zu werden, „unentschieden" sagen, bevor sie bei
sorgfältiger Prüfung dazu berechtigt wären. Diese Gefahr ist
um so gröfser, je stärker die Ermüdung der Versuchspersonen
ist. Am Schlüsse der Sitzung war die Ermüdung der Beob-
achter oft recht beträchtlich, und wenn auch die subjektive
Sicherheit des Urteils bei Ja. im Laufe der Sitzung zuzunehmen
pflegte, so fühlte sich dagegen Sch., zumal als im Sommer grofse
Hitze im Dunkelzimmer herrschte, durch das Urteilen so ange-
strengt, dafs er trotz einer Erholungspause nur mit grofser Un-
sicherheit am Ende der Sitzung zu urteilen imstande war. In-
folge der Ermüdung war es unmöglich, die Versuche allgemein
noch länger, als es schon geschah ^, auszudehnen, um mehr Urteile
an jedem Versuchstage zu erhalten.
Entgegen den im vorstehenden genannten Faktoren wirken
* Wenn ein Beobachter das Urteil „viel kleiner" gefällt hatte, wurde
an der mittleren Scheibe eine gröfsere Veränderung vorgenommen, als wenn
er nur „kleiner** gesagt hatte.
• Je nach der Schwierigkeit des Falles und dem Charakter der Ver-
suchspersonen dauerten die 8 Doppel versuche V« bis l'/i Stunden, die vier
bei Herrn Professor M. im Maximum 55 Minuten.
206 Siegfried Jacobsohn, (f)
folgende im Sinne des Festhaltens an dem bisher gefällten
Urteile.
1. Es bildet sich dadurch, dafs zwei Scheiben im Gegensatz
zu den beiden anderen — die mittlere Scheibe ist hierbei doppelt
gezählt — bis zur Erreichung eines gewissen Punktes sozusagen
von selbst zusammentreten, eine gewisse Übung heraus, gerade
diejenigen, welche anfänglich leichter zusammengingen, auch
dann noch leichter zusammenzufassen, wenn es ohne diesen
Übungsfaktor nicht mehr der Fall wäre.^ Dieser Einflufs der
Übung wird noch dadurch gesteigert, dafs die beiden Scheiben
geringerer Kohärenz zu Anfang eines Versuches oft überhaupt
nicht als Paar aufgefafst werden. „Wenn zwei Scheiben sehr ähn-
lich sind", erklärte C-, „so urteile ich vorschriftswidrig oft, indem
ich nur diese beiden zusammenfasse, ohne den Unterschied der
anderen beiden messend beachtet zu haben".*
Ebenso meinte Ka.: „Wenn man das Urteil schnell abgibt,
betrachtet man hauptsächlich die beiden Scheiben, welche sich
leichter zusammenfassen lassen," und Sch. erklärte, als sich zu
Anfang eines Versuches die beiden linken Scheiben am leich-
testen kollektiv vereinigen liefsen: „In diesem Falle werde ich
* K. K. empfand diesen Einflufs der Übung, denn er sagte: „Ich bin
gewohnt, von den einander am nächsten stehenden Farben auszugehen, sie
bilden einen gewissermafsen einheitlichen Komplex, der zwar im Laufe
des Versuches allmählich uneinheitlicher wird, aber eben, weil ich immer
von ihm ausgehe, nicht in dem Mafse, als mir der andere einheitlicher
wird.** Das würde wohl bewirken, meinte er, dafs sich seine Urteile im
auf- und absteigenden Verfahren kreuzen; denn er sei „sich bewufst, dafs
es ihm durch die Gegenprobe, die er stets mache, nicht vGllig gelinge,
diesen Einflufs zu vermeiden".
' In ähnlicher Weise äufserte sich S. J.
' Wenn C. hinzufügte: „Meine Urteilsausdrücke beziehen sich daher
immer auf das Paar mit dem anfänglich kleineren Unterschiede/' so ist zu
bemerken, dafs sich die ausschliefsliche Anwendung des Ausdruckes „kleiner"
(„rechts kleiner" oder „links kleiner**) bei ihm erst allmählich herausgebildet
hatte, wenn auch seine Bevorzugung frühzeitig eingetreten war. Ebenso
war es Sch. ergangen. Dagegen brauchte Ka. mit wenigen Ausnahmen am
Anfang des Versuchszyklus stets den Ausdruck „gröfser" („rechts gröfser"
oder „links gröfser"), jedoch nach Einführung der Ausdrücke „schwerer"
und „leichter" stets den Ausdruck „leichter**. Die oben angeführte Be-
merkung von Ka. ist bei Benutzung des Ausdruckes „leichter** gefallen.
IL, K. K. und M. bedienten sich ausnahmslos der Ausdrücke „kleiner* und
^leichter**, A. und Ja. ebenso ausnahmslos des Ausdrucks „gröfser**.
über snbjeklive Mitten verschied. Farben auf Crrund ihres Kohärenzgrades. 207
mir gar nicht bewufst, dafs das rechte Farbenpaar schlecht zu-
sammenzufassen geht, sondern die linken beiden Scheiben
treten einfach zusammen.^ Man erklärt also oft zu Anfang eines
Versnches den Kohärenzgrad des einen Paares für gröfser, nur
weil die Seitenscheibe des anderen Paares vollkommen heraus*
fällt. Dieser dem Einflüsse des absoluten Eindruckes verwandte
Vorgang beschränkt die Übung im Zusammenfassen der beiden
Scheiben geringerer Kohärenz.
2. Bei der Annäherung an die Gegend der Unentschiedenheit
schwanken die Versuchspersonen häufig frühzeitig, ob die Schwierig-
keit des Zusammenfassens bei dem einen Paare ebensogrofs wie
bei dem anderen oder gröfser als bei diesem sei; dafs sie aber
nicht kleiner sei, können sie mit Sicherheit angeben. Wäre es
in solchem Falle gestattet, „unentschieden" zu urteilen, so würde,
da bei dem auf- und bei dem absteigenden Verfahren das Urteil
„unentschieden" verhältnismäfsig früh gefällt wurde, der Bereich
dieses Urteiles allzugrofs sein. Deshalb bestimmte die Instruktion,
dafs dieses Urteil nur abgegeben werden dürfe, wenn die Ver-
suchsperson völlig im unklaren darüber wäre, auf welcher Seite
möglicherweise eine gröfsere Kohärenz bestände. Diese Instruktion
kann in Verbindung damit, dafs die Versuchsperson im Verlaufe
des Versuches die Annäherung an die s. M. zunehmen sieht, den
Beobachter veranlassen, selbst in Fällen beginnender Unsicherheit,
mit dem Urteil „unentschieden" noch zurückzuhalten in der
Hoffnung, den Punkt der Kohärenzgleichheit später noch besser
zu treffen.^
3. Diese Hoffnung findet gelegentlich eine Unterstützung
durch „das Bewufstsein, dafs man voriges Mal mit mehr Be-
friedigung „unentschieden" gesagt hat." Daher wartet die Ver-
suchsperson jetzt länger mit diesem Urteil „um mit der alten
Befriedigung „unentschieden" sagen zu können" (C).
4. Von dieser Art der Beharrungstendenz, die aus dem „Be-
dürfnis der Versuchsperson, sicher abzuschlielsen" (M.), hervor-
geht, ist wohl zu unterscheiden diejenige, welche aus Nachlässig-
keit entspringt.
^ Die Erwägnng, ob nicht bei einer weiteren Veränderung der mittleren
Scheibe die Kohftrenzgleichheit beider Seiten noch besser getroffen würde,
kehrte, trotz des Bestrebens, ansschliefslich den gegebenen FaU zu be-
urteilen, bei C. häufig wieder.
208 Siegfried Jacdbsohn. (f)
5. Diejenige Seitenscbeibe , welche sieb am Anftmg einei
Verßtiches am schwersten mit der mittleren Sdieibe koUektiv
auffassen läTst, fällt durch ihren grofsen qualitativexi Unterschied
von den beiden übrigen Scheiben leicht sehr anf . Sie f&ilt um
so mehr auf, als die mittlere Scheibe dadurch, dafis scie xu Anfang
jedes Versuches qualitativ der anderen Seitenscheibe nAber steht,
auf der ihr qualitativ femer stehenden besonders gut sichtbar
die Kontrastfarbe hervorruft. Da nun, wenn eine Seitenacheibe
besonders auffällt, ihr die mittlere Scheibe zur Erreichung der
Kohärenzgleichheit sehr angenähert werden muüs \ so wirkt der
Umstand, daTs sich die eine Scheibe qualitativ allein stellt, dabiii,
dafs das Urteil „unentschieden^ verhältnismäfsig spät gefällt
wird.*
Die im Sinne der Beharrungstendenz wirkenden Faktoren
waren bei meinen Versuchen nicht selten von gröfserem Ein-
flüsse als diejenigen, welche in entgegengesetzter Bichtung wirkten.
So war die Kreuzung der bei dem auf- und absteigenden Ver-
fahren gewonnenen Werte deutlich ausgeprägt bei Herrn Professor
Müller, der gewifs sehr vorsichtig und langsam urteilte und
selbst erklärte, er würde nicht so viel Zeit zum Urteil brauchen,
wenn er nicht die Beharrung in der kollektiven Auffassung
fürchtete. Dieses Beispiel zeigt am besten, dafs die „Beharrungs-
tendenz" bei diesen Versuchen anders beurteilt werden muls als
bei dem Heben von Gewichten und manchen anderen Versuchen.
§ 19. Die Faktoren, welche die Gröfse der mittleren
Variation bestimmen. — Das Gedächtnis.
Könnte man die s. M. ohne Fehlerquellen mit idealer G^
nauigkeit bestimmen, so müfsten die Resultate der Versuche auf-
und absteigender Art um einen mit der Unterschiedsschwelle
^ 8. S. 88ff.
' Entsprechend gab Ka., als er Unterschiedsgleichungen zwischen 360®
Karmin und (270« Grün Nr. 3 + 90« Karmin) anstellte, an: Ist die mittlere
Scheibe „ursprünglich der roten Seitenfarbe sehr ähnlich, so bleibt das
betreffende Urteil länger bestehen, als wenn man von der entgegengesetzten
Seite kommt. Das liegt daran, dafs einem dann das Grünliche im Gegen-
satz tVL den beiden roten Scheiben als besonders auffällig in die Augen
springt. Andererseits, wenn die mittlere Scheibe ursprünglich selbst der
grünen nahe steht, so springt die rote Scheibe wegen ihrer starken Farbig*
keit besonders in die Augen, man mufs sich deshalb mit der Farbt^eit
der Mitte ihr sehr annähern".
über subjdctive Mitten verschied, Farben auf Gnmd ihres Kohärenzgrades, 209
wachsenden Betrag voneinander abweichen. Da die Unterschieds-
schwelle bei Farbenschwachen gröfser als bei Farbentüchtigen
ist, mülste die Variation bei jenen gröfser als bei diesen sein.
Bei Mischung einander sehr ähnlicher Farben müfste sie eben-
falls gröfser sein als bei Mischung sehr unähnlicher Farben, da
bei jenen die Unterschiedsschwelle gröfser als bei diesen ist.^
Prinzipiell liefse sich dagegen allerdings die Möglichkeit geltend
machen, dafs es eine Reihe von Nuancen der mittleren Farbe
geben könnte, die, obwohl sie ganz verschieden aussähen, sich
gleich leicht mit den beiden Seitenfarben vereinigen liefsen.
Diesen Fall sollte man daran erkennen, dafs keine Kreuzung der
Urteile eintritt und die Variation, wenn man die Versuche des
auf- und absteigenden Verfahrens zusammenf afst, besonders grofs
ist. Bei meinen Versuchen scheint dieser Fall nicht eingetreten
zu sein, es fand vielmehr häufig Kreuzung der Urteile statt.
Räumliche Ungleichmäfsigkeiten der drei Scheiben, wie sie
in der Auffassung derjenigen Versuchspersonen bestehen, bei
denen die drei Scheiben je nach dem Grade ihrer Eindringlichkeit
Terschiedene scheinbare Entfernungen vom Beobachter besitzen,
müssen ebenso wie der Wechsel in der Stärke der Nachbilder
und des Kontrastes zur Steigerung der V^ariation beitragen, weil
sie das Urteilen erschweren. Da alles, was das Urteilen er-
schwert, auch bei den gewissenhaftesten und nicht ermüdeten*
Versuchspersonen eine Zunahme der Variation bewirkt, ist es
' Aus dem oben genannten Grunde kann man daraus, dafs die mittlere
Variation bei einer ünterschiedsgleichung gröfser ist als bei einer anderen,
Ton derselben Versuchsperson hergestellten Unterschiedsgleichung, nicht
achliefsen, dafs auch die Schwierigkeit des Urteilens bei jener Ünterschieds-
gleichung gröfser als bei dieser ist. Nur wenn die zur Herstellung der
8. M. dienenden Farben dieselben geblieben sind, kann die Zu- oder Ab-
nahme der Gradzahl der mittleren Variation bei ein und derselben Ver-
suchsperson zur Orientierung darüber dienen, ob die Schwierigkeit des
Urteilens zu- oder abgenommen hat. Natürlich darf man auch dann nur
mit Vorsicht Schlüsse über die Schwierigkeit des Urteilens aus der Gröfse
der mittleren Variation ziehen, weil bei einem Wechsel der Lage der s. M.
die ünterschiedssch welle nicht dieselbe bleibt.
' Bei M. fanden die Versuche, da er am Tage keine Zeit hatte, abends
zwischen 8V4 und 10 V2 Uhr statt; er war dabei sehr abgespannt. Bei den
anderen Beobachtern war die Versuchszeit nach Möglichkeit so festgesetzt,
da£B die Versuchspersonen während derselben möglichst wenig ermüdet
waren.
Zeitacbrift ftir Psychologie 43. 14
210 Siegfried Jacobsohn, (f)
von Wichtigkeit zu wissen, wann das Urteilen am schwierig-
sten ißt.^
In der vorliegenden Literatur ist, ohne dafs über den Urteils-
modus Näheres mitgeteilt wird, vielfach angegeben, daTs die Ver-
gleichung übermerkUcher Empfindungsunterschiede bei sehr
kleinen und sehr grofsen Unterschieden besonders schwierig ist.*
Ebenso erklärte der Beobachter C. bei meinen Versuchen an
Tagen, an denen ihm das Zusammenfassen je zweier Farben
sehr leicht wurde, dafs er, eben weil ihm auf beiden Seiten
das Zusammenfassen auffallend leicht falle, ziemlich unsicher
sei beim Vergleichen der Schwierigkeiten des Zusammenfassens.
Er fügte hinzu : „Bei dem anderen, heute nicht vorgekommenen
Extrem, wo die Zusammenfassung zweier Farben sehr schwer ist,
besteht eine ganz ähnliche Schwierigkeit des Vergleichens."
Zu einem teilweise anderen Resultate bezüglich der Schwierig-
keit des Urteilens gelangten K. K. und S. J.' Als sie Unter-
schiedsgleichungen anstellten, bei denen infolge allmähhch
wachsenden Ersatzes der einen Seitenfarbe durch die andere der
Unterschied der beiden Farben, zwischen denen die s. M. zu
finden war, immer mehr verkleinert wurde — so kleine Unter-
schiede, wie Neiglick in Anwendung zu bringen suchte, kamen
^ Infolge der Unterschiede in der Schwierigkeit des Urteilens teilten
meine Versnchspersonen C, Ka. und Soh. wiederholt unabhängig voneinander
die Unentschiedenheitsurteile in zwei Klassen, nach C.s Ausdruck in
1. „solche mit Befriedigungscharakter,'' d.h. solche, die „mit dem Ge-
fühle der Befriedigung darüber" verbunden sind, „dafs man den Punkt
getroffen hat, an dem sich die beiden Seiten gleich leicht susammenfassen
lassen" ;
2. „solche, mit gequältem Charakter," d. h. solche, die verbunden sind
„mit dem quälenden Gefühle, dafs man nicht weifs, wie man urt-eilen soll
und nur aus Verzweiflung „unentschieden" urteilt'*.
" Vgl. z. B. betreffs kleiner Unterschiede im Gebiete des Gesichts*
Sinnes Neiglick in Philos. Studien 4, 8. 54 und Amrnt ebenda 16, S. 169, be-
treffs grofser Unterschiede in demselben Gebiete Nbiolick ebenda 4, S. 44,
betreffs des Tongebietes Stumpf in Zeiischr. f. Pgychol u. Physiol. 1, 8. 420,
sowie seine Tonpsychologie S. 129, betreffs des Zeitsinnes bei kleinsten
Intervallen Meümann in Philos. Studien 9, 8. 266.
* Bei den Unterschiedsgleiehungen, welche diese beiden Beobachter
herstellten, kamen einerseits kleinere (s. die in den §§ 3 und 5 aufgeführten
Versuche), andererseits wohl auch gröfsere (s. die im § 6 aufgeführten Ver-
suche) Farbenunterschiede vor als bei allen anderen Unterschiedsgleichungen,
die ich herstellen liefs.
über subjektive Mittai verschied. Farben auf Orund ihres Kohärenzgrades. 211
bei meinen Versuchen nicht vor — , fiel K. K. das Urteilen
immer leichter, je kleiner die Unterschiede wurden.^ Als dagegen
bei der Herstellung einer s. M. unter Benutzung einer auf den
Seitenkreiseln nicht vorhandenen Farbe die Unterschiede der
Farben sehr grofs wurden, erklärte K. K. nicht nur das Urteilen
für „unheimlich schwer*'*, für „eine Marter", sondern er erklärte
sich schliefslich sogar bei Anwendung der Kohärenzmethode
aufserstande , „ein überzeugtes Urteil zu fällen".* Mir selbst
erschien das Urteilen bei sehr kleinen Unterschieden recht an-
strengend infolge der ununterbrochen hohen Aufmerksamkeits-
anspannung, die nötig ist, da man sich fortwährend in der
kritischen Zone bewegt und die Unterschiede infolge ihrer Klein-
heit nur bei angestrengter Aufmerksamkeit bemerkt, aber eigent-
lich schwierig fand ich das Urteilen nicht. Schwierig erschien
es mir bei grofsen Unterschieden. Dann fiel die Erleichterung
des Urteilens, welche das Hinüberlaufen der mittleren Scheibe
' Entsprechend sank die mittlere Variation bei K. K., während auf
dem mittleren Kreisel die zur Herstellung der Mitte dienenden Farben bei-
behalten wurden, von 6^,0 in der Unterschiedsgleichung zwischen je 360®
Karmin und Grau t auf 3o,l (oder 3*3) bei Ersatz von 90« (oder 180») des
Seitengrau durch die Farbe und sogar auf 1^,9, als der betreffende Ersatz
270 • erreichte.
Ebenso sank die mittlere Variation bei K. K. von 12^0 in der Unter-
schiedsgleichung zwischen je 360 <^ Karmin und Grün Nr. 3 auf 6^,4 (oder
4^,7), als unter Beibehaltung derselben zur Herstellung der Mitte dienenden
Farben der Unterschied der Scheiben durch Zumischung von 90« Karmin
Eur grünen (oder von 180« Grün Nr. 3 zur karminfarbenen) Seitenfarbe
VMTingert wurde.
' In Übereinstimmung mit dieser Selbstbeobachtung steht es, dafis die
mittlere Variation bei K. K. von 3« 3 in der Unterschiedsgleichung zwischen
360« Karmin und (180« Grau t + 180« Karmin) auf 6^0 stieg, als unter
Beibehaltung des Karmin und Grau t zur Herstellung der s. M. der Unter-
schied der Farben dadurch vergrOfsert wurde, dafs die 180 « des Grau t auf
dem einen Seitenkreisel durch ebenso viele Grade des Grau Nr. 4 ersetzt
wurden.
Dagegen stimmt mit dieser Selbstbeobachtung nicht überein, dafs die
mittlere Variation bei K. K. von 6«,6 auf 5«,0 und dann auf 3«,4 sank, als
nach Herstellung der s. M. zwischen je 360« Karmin und Grau t erst 90«
und dann 180« des Grau t auf dem einen Seitenkreisel durch Grün Nr. 1
ersetzt wurden, während die s. M. weiter ausschliefslich mittels Karmin
tmd Grau t hergestellt wurde.
* Aue diesem Anlais versuchte K. K., wie S. 80 f. angegeben wurde, nach
der Methode der Farbenbänder zu urteilen.
14*
212 Siegfried Jaeobsohn. ff)
zur dritten mit sich brachte, fort^, and die Vereinigung zweier
Scheiben zu einem Paare war auf beiden Seiten so gewaltsam,
dafs ich nicht leicht wuTste, wo sie es am meisten war. Dann
erschwerten die Nachbilderscheinungen das Urteilen in hohem
Grrade. Dann war die Leichtigkeit der Paarbildung, wenn sie
durch die Qualitätsunterschiede der drei Farben beeinflulst wurde,
eine wesentlich andere, als wenn die Eindringlichkeit einer Farbe
sehr empfunden wurde. Besonders diese in verschiedener Rich-
tung wirkenden Einflüsse, welche die Qualität der Farben und
ihre Eindringlichkeit auf die kollektive Auf&ssung ausübten,
liefsen mich bei aller Anstrengung oft kaum zu einer Ent-
scheidung darüber kommen, wo die Mitte liege, während ich bei
kleinen Unterschieden das Gefühl hatte, dafs man die Mitte
ziemlich genau bestimmen könne, wenn man nur genügend auf-
merksam sei.^
Dafs die Schwierigkeit des Urteilens mit der Gröfse der
Unterschiede zunimmt, glaube ich auch bei der Versuchsperson
Ja. beobachtet zu haben. Möglicherweise ist es auch C. so er-
gangen, nur dafs er nicht ausdrücklich einen Unterschied gemacht
hat zwischen anstrengend infolge der erforderten Aufmerksam-
keitsanspannung und schwierig im engeren Sinne. Nur bei
grofsen Unterschieden geschah es mitunter, dafs meinen Versuchs-
personen das Urteilen im Laufe der Versuchsstunde trotz fort-
' 8. S. 86f.
' Mit den oben angeführten Selbstbeobachtungen stimmt das Fallen
und Steigen der mittleren Variation bei den von mir angestellten Be-
stimmungen der s. M. überein. Es sank die mittlere Variation bei mir,
während die zur Herstellung der Mitte dienenden Farben beibehalten wurden,
von 5^,8 in der Unterschiedsgleichung zwischen je 360® Karmin und Gran t
auf 4»,6 als 90», und auf 3« 9, als 180®, und schliefslich auf 2®,2, als 270*
des Seitengrau durch Karmin ersetzt waren. Die mittlere Variation sank
ferner bei mir von 4®,1 in der Unterschiedsgleichung zwischen je 360*
Karmin und Grün Nr. 3 auf 2*^,0 (oder 2®, 4), als unter Beibehaltung der zur
Herstellung der s. M. dienenden Farben der Unterschied der Seitenfarben
durch Zumischung von 90® Karmin zur grünen (oder von 180® Grün Nr. 3
zur karminfarbenen) Seitenfarbe verringert wurde.
Die mittlere Variation stieg bei mir von 3®,9 in der Unterschieds-
gleichung zwischen 360® Karmin und (180® Grau t +180® Karmin) auf 4^,7
und dann auf 10®,2, als unter Beibehaltung des Karmin und Grau t zar
Herstellung der s. M. der Unterschied der Farben dadurch vergrölsert
wurde, dafs die 180® des Grau t auf dem einen Seitenkreisel durch Grau
Nr. 4 und dann durch Weifs ersetzt wurden.
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Orund ihres Kohäremgrädes, 213
schreitender Übung immer schwerer wurde, ohne dafs ihre Er-
müdung merklich gestiegen war. Sie bemerkten immer mehr
Faktoren, die ihr Urteil beeinflussen wollten, und wurden beim
Urteilen nach Kohärenz bald mehr zur Eindringlichkeitsmitte
(wenn ich mich kurz so ausdrücken darf), bald zur Helligkeits-
mitte oder zur reinen Qualitätsmitte hingezogen. Hieraus begreift
sich, wenn eine Versuchsperson (K. K.) trotz bisher bewiesener
Aufmerksamkeit plötzlich erklärte, bisher falsch geurteilt zu
haben, und wenn Ja., als er die s. M. von Grün h und Orange
bestimmen sollte, das Urteilen anfangs für leicht hielt, dann
aber erklärte, es „tritt der Fall ein, dafs sich zwei Scheiben in-
folge ähnlicher Farbigkeit leichter zusammenfassen lassen als die
beiden anderen, dafs sie sich aber infolge grofser Verschieden-
heit ihrer Eindringlichkeit schwerer zusammenfassen lassen als
die beiden anderen. Durch die Verschiedenheit der Farbigkeit
mid Eindringlichkeit wird das Urteil fast unmöglich gemacht."
Ob man den Schwierigkeiten des Urteilens dadurch entgehen
kann, dafs man sich die Farbe zu merken sucht, bei der man
zuerst das Urteil „unentschieden^ gefällt hat, ist eine interessante,
das Gedächtnis betreffende Frage. ^ Die Erinnerung an frühere
UrteUsfäUe wird dadurch erleichtert, dafs infolge des Kontrastes
die Färbung der beiden Seitenscheiben je nach dem Tone der
mittleren Scheibe eine verschiedene ist. So ist z. B. bei Ver-
suchen über die Unterschiedsgleichung zwischen Karmin und
Grau die graue Seitenscheibe um so grünlicher, je mehr Karmin
die mittlere Scheibe enthält; wollte man sich eine bestimmte
^ Bei einem mit Herrn Professor Müller gelegentlich angesteUten
Versache blieb die Genauigkeit, mit der er sich eine Farbe merkte, hinter
derjenigen zurück, mit welcher er nach Kohärenz urteilte. M. hatte am
Schlüsse des ersten Versuchstages , welcher der Unterschiedsgleichung
zwischen Rotgelb und Grau t gewidmet war, bei einem Versuche des auf-
steigenden Verfahrens „unentschieden'' geurteilt, als 203® Rotgelb auf der
mittleren Scheibe vorhanden waren. Er wurde aufgefordert, sich diese
färbe zu merken, dann wurde unter Beibehaltung derselben Raumlage
— es war die zweite — die mittlere Scheibe im absteigenden Verfahren
80 lange geändert, bis M., ohne die Kohärenzmethode zu Hilfe zu nehmen,
glaubte, dieselbe Farbe wieder vor sich zu sehen. Dies geschah, als die
mittlere Scheibe 183® Rotgelb enthielt, d. h. um 20® weniger als die Farbe,
welche er sich merken sollte. Die mittlere Variation dagegen betrug bei
M. für die zweite Raumlage des ersten Versuchstages bei Anwendung der
Kohärenzmethode nur 6,4®.
214 Siegfried Jacobsohn, (f)
Färbung der mittleren Scheibe merken, so würde der Grad der
Grünlichkeit, den die graue Seitenscheibe bei dem betreffenden
Farbentone der mittleren Scheibe annimmt, das Wiedererkennen
des Farbentones der mittleren Scheibe erleichtem. Wahre kollektive
Auffassung jedoch schränkt die Mitwirkung des Gedächtnisses
sehr ein. Denn bei ihr ist die Aufmerksamkeit der Versuchs-
person nicht auf das Merken der mittleren Farbe gerichtet,
sondern ganz und gar durch die Vergleichung der Kohärenz in
Anspruch genommen. Durch den Wechsel der Raumlage, welcher
nach jedem Doppelversuche stattfand, wird die Erinnerung an
frühere Urteilsfälle ganz besonders erschwert. Selbst Sch., der
gesagt hatte, er müfste bei dem zweiten Versuche jeder Raum-
lage sehr ankämpfen gegen die Tendenz abzuwarten, bis der im
voraufgehenden Versuche beim Urteil „unentschieden" gebotene
Reiz wieder geboten würde, erklärte, diese Tendenz nicht zu
haben, sobald die Raumlage gewechselt würde, jeder Wechsel
der Raumlage gäbe ihm etwas ganz Neues. ^
Mitunter weichen die Mittelwerte beider Raumlagen sehr
voneinander ab, während die mittlere Variation bei jeder Raum-
lage klein ist. Man darf daraus nicht schliefsen, daTs sich die
Versuchsperson zwei Farben, eine für jede Raumlage, gemerkt
hätte. Wohl mag es dem Beobachter zu schwer fallen, die Farbe,
welche er sich nach dieser Annahme bei der einen Raumlage
eingeprägt haben soll, in der anderen wieder zu erkennen, doch
ist es etwa leichter, zwei Farben bei dem ständigen Wechsel der
Raumlagen zu behalten als eine? Diese Annjdime ist ebenso
überflüssig wie willkürlich. Denn die Abweichungen der Mittel-
werte beider Raumlagen lassen sich auch in anderer Weise ver-
stehen.
Unterschiede im Funktionieren der die Augen nach rechts
und nach links drehenden Muskeln, seien sie nun durch ana-
tomische Defekte oder Übung bedingt, können ihre Ursache sein.
Wird nämlich das Urteil wesentlich durch das Hinüberlaufen
der mittleren zur dritten Scheibe beim Hinübersehen zu dieser
bestimmt, so wird, wenn man z. B. durch Lesen eine gröfsere
Übung erworben hat, die Augen von links nach rechts als um-
' Ebenso bemerkte 8. J., es „scheint durch den Wechsel der Raum-
lage die Mitwirkung des Gedächtnisses sehr beschränkt zu werden". Be-
sonders bei Ja. finden sich zahlreiche Bemerkungen, die zeigen, wie stark
er den Wechsel der Raumlage jedesmal empfand.
über subjektive Mitten veischied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 215
gekehrt zu bewegen, eine gröfsere Kohärenz des rechten Paares
vorgespiegelt werden. In solchem Falle wird man z. B. bei Ver-
suchen über die Unterschiedsgleichung zwischen Karmin und
Grau bei der ersten Raumlage, bei der die graue Seitenscheibe
rechts steht, weniger Grau zur s. M. benötigen als bei der zweiten
Raumlage, bei der die graue Seitenscheibe links steht.^ Femer
kann dadurch, dafs der Ärmel des Versuchsleiters immer an
derselben Stelle sichtbar^ war, ein Raumfehler hervorgerufen
worden sein. Weil sich aufserdem die S. 88 erwähnten sub-
jektiven räumlichen Ungleichmäfsigkeiten in der Stellung der
drei Scheiben nicht in beiden Raumlagen gleich stark bemerkbar
zu machen brauchen^, kann sowohl die Lage der s. M. wie die
mittlere Variation bei beiden Raumlagen verschieden sein.
Eine gewissenhafte Versuchsperson wird, wenn sie Erinne-
rungen an die eigenen früheren Urteile hat, stets danach streben,
sich nicht durch dieselben beeinflussen zu lassen. Die Instruktion
verlangte von den Beobachtern nicht, dafs sie sich bemühten,
gleichmäfsige Ergebnisse in bezug auf die Lage der s. M. zu
erreichen, gleichmäfsig sollte nur die Sorgfalt sein, mit der die
Beobachter in jedem einzelnen Falle die Kohärenz prüften. Wenn
Ka. bei Versuchen über die Unterschiedsgleichung zwischen Blau
und Grau t die Meinung äufserte, dafs er am Schlüsse der Sitzung
anders als am Anfange derselben geurteilt habe, weil die graue Seiten-
scheibe im Laufe der Versuche immer mehr hervorgetreten sei *,
* Umgekehrt brauchte Ja. mit Ausnahme der Versuche über die Unter-
Bchiedsgleichungen zwischen Orange und Grau t stets von der in der ersten
Kaumlage links stehenden Farbe bei der ersten Raumlage weniger zur s. M.
aia bei der zweiten Raumlage, d. h. es wurde ihm die Zusammenfassung
der beiden linken Scheiben leichter als die der beiden rechten. Ebenso
erging es H. mit einer unbedeutenden Ausnahme an dem ersten der beiden
Versuchstage, an denen sie die s. M. zwischeu Karmin und Grau Nr. 19
bestimmte. Dieselbe Tendenz, wenn auch weniger ausgeprilgt, zeigte S. J. ;
vergleicht man nämlich in den Tabellen die Mittelwerte der beiden Raum-
lagen, so findet man, dafs S. J. von der auf der linken Seitenscheibe be-
findlichen Farbe in 21 Fällen eine kleinere und nur in 8 Fällen eine gröfsere
Gradzahl zur s. M. gebraucht hat, als er von derselben benötigte, wenn
diese rechts stand.
« 8. S. 44.
' Sie taten es nicht für S. J.
* Diese Beobachtung Ka.s war richtig; denn von durchschnittlich
117,^9 bei den vier Vor versuchen stieg infolge der Eindriuglichkeitszunahme
der grauen Seitenscheibe der Graugehalt der s. M. auf durchschnittlich
130,^6 bei den letzten vier Versuchen derselben Sitzung.
216 Siegfried Jacobsohn, (f)
Bo entsprach das mit diesen Worten ausgedrückte Bestreben
Ka.8, unbekümmei't um Erinnerungen an frühere Urteilsfalle,
jeden einzelnen Fall für sich zu prüfen, ganz meinen, mit Hilfe
der Instruktion immer wieder von neuem eingeschärften dies-
bezüglichen Versuchsabsichten. Findet man grofse Unterschiede
in den Resultaten der beiden Versuchstage eines Beobachters
bei verhältnismäfsig geringer Variation an jedem einzelnen Ver-
suchstage, so ist man noch nicht zu der Annahme gezwungen,
dafs sich die Versuchsperson im Laufe einer Sitzung durch das
Gedächtnis bestimmen liefs. Denn wenn, wie wir gesehen haben^
psychische Schwankungen im Laufe einer Versuchsstunde auf-
treten \ so kann es nicht wundernehmen, dafs der psychische
Habitus verschiedener Versuchstage, wie er sich in den Urteilen
ausdrückt, mitunter grofse Abweichungen aufweist. Würde man
den aus den Resultaten beider Versuchstage abgeleiteten Mittel-
wert der s. M. der Berechnung der mittleren Variation zugrunde
legen, so würde man keine Rücksicht auf eine an beiden Ver-
suchstagen etwa vorhandene Verschiedenheit des psychischen
Habitus nehmen. Es ist deshalb in den Tabellen die mittlere
Variation für jeden Tag gesondert angegeben worden.
Anhang: Tabellen.
Erläuterung zu d^en Tabellen.
Die Überschrift jeder TabeUe gibt diejenigen Farben an, welche bei
den Unterschiedsgleichungen zwischen den betreffenden Farben als Seiten-
farben dienten. Wo eine Farbe in der Überschrift ohne Angabe einer
Gradzahl genannt ist, erstreckte sie sich anf dem betreffenden Seitenkreisel
über alle 360 ».
Die subjektive Mitte ist, wenn nichts anderes angegeben, durch
Mischung der in der Überschrift genannten Farben hergestellt worden.
Die Zahlen, welche die Tabellen aufführen, bedeuten die zur s. M. benötigten
Grade derjenigen Farbe, welche in der Überschrift zuerst genannt ist. Sie
sind, wenn nichts anderes angegeben ist, durch die bezügliche Gradzahl
der in der Überschrift an zweiter Stelle genannten Farbe auf 3Ö0** zu
ergänzen.
Die erste Raumlage (R) ist dadurch charakterisiert, dafs in ihr die-
jenige Farbe links steht, die in der Überschrift zuerst genannt ist. In der
zweiten Raumlage steht dieselbe Farbe rechts.
» 8. S. 210 über den Wechsel im Urteilen bei K. K.
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Chrund ihres Kohärenzgrades. 217
Die mittlere Variation (A) ist fttr den Mittelwert jeder Baumlage be-
sonders berechnet.
Tabelle 16 nimmt eine gesonderte Stellung ein, sie bezieht sich nicht
auf die Unterschieds-, sondern auf die Eindringlichkeitsgleichungen und
gibt in Graden den Schwarzzusatz an, den die eindringlichere der beiden in
der Überschrift genannten Farben empfangen mufste, damit ihre Ein-
dringlichkeit bis zu der der anderen Farbe herabgesetzt würde.
Tabelle 1.
Karmin — Grau Nr. 19.
Be-
obachter
I R
A
HB
A
Durchschnitt aus
lu.IIJB A
M.
1. Tag
2. Tag
106,7
116,1
14,0
4,7
116,4
109,9
5,1
7,3
111,1
113,0
9,6
6,0
H.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
110,9
90,8
87,1
9,3
8,9
22,3
113,1
87,2
96,3
6,2
12,7
17,5
112,0
89,0
91,7
7,8
10,8
19,9
6. J.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
88,9
93,7
86,6
15,6
4,4
3,7
91,7
98,8
90,1
15,1
6,2
10,1
90,3
%,2
88,3
15,3
5,3
6,9
Durchschnitt
1 90,1
4,0
94,5
8,1
92,3
6,1
Tabelle 2.
Karmin — Grau t
Be-
Durchschnitt aus
obachter
I R
A
II R
A
IU.IIJB
A
M.
1. Tag
2. Tag
211,1
189,8
15,3
13,3
194,8
193,0
12,5
5,8
202,9
191,4
13,9
9^
Durchschnitt
200,4
14,3
193,9
9,1
197,2
11,7
H.
1. Tag
2. Tag
157,3
150,4
6,5
11,3
162,3
154,0
4,5
10,0
159,8
152,2
5,5
10,6
Durchschnitt
153,8
8,9
158,1
7,3
156,0
8,1
8. J.
1. Tag
2. Tag
120,3
122,5
4,8
6,2
132,2
126,6
8,2
4,1
126,2
124,5
6,5
5,1
Durchschnitt
121,4
5,5
129,4
6,1
125,4
5,8
K. K.
1. Tag
2. Tag
144,5
167,7
6,3
4,1
146,7
172,5
5,6
10,5
145,6
170,1
6,0
7,3
Durchschnitt
156,1
5,2
159,6
8,0
157,8
6,6
;' A
i3ir.^''0tL t^'s'Ji^ßf .• u —
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192^ 5,6
\hut h4/),/,»U
mr,
U,l
1^,«
7^
191,1 6,3
Tabelle 4.
IKMI" KMriiiln (270» Grau t + 90» Karmin).
Mit
nliiM'lilMl
i. «
5.4
Ü.9
4a
11. B
190,6
219,3
304,9
313,1
313»3
A
Durchschnitt ans
I. u. IL ß A
l\ U.
\ Tun ' iim.i
2,9
1,6
191.8 4,1
218.9 2,0
2,3
3.8
9,7
«y7
205,4 3,1
214,2 2,3
212,8 6,9
l^uvh^viuuU 5iU»S
:J.v> ili:i
2l3y6 4^»
\ \
A L :lI1Ä A
J»-.'
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades, 219
Tabelle 6.
)» Karmin— (90® Grau t + 27ü<> Karmin).
Be-
obachter
I. E.
A
II. R '
A
Durchschnitt aus
I. u. II. R A
K K.
1. Tag
2. Tag
326,7
329,4
1,6
2,0
324,7
328,8
2,2
1,7
325,7 1,9
329,1 1,8
8. J.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
328,1
308,5
309,8.
1,8
2,6
2,2
326,7
313,0
309,8
1,9
1,7
2,3
327,4 1,9
310,8 2,2
309,8 2,3
Durchschnitt
309,2
2,4
311,4
2,0
310,3 2,2
Tabelle 7.
(190O Karmin + 170» Grau t) und (350» Grau t + 10» Karmin).
Be-
obachter
I. R
A
IL R
A
Durchschnitt aus
I. u. II. R A
S. J.
1. Tag
2. Tag
87,5
90,1
88,8
1,8
3,3
2,5
88,9
89,5
4,0
6,9
88,2 2,9
89,8 4,6
Durchschnitt
89,2
4,9
89,0 3,7
Tabelle 8.
(180<> Karmin -f 180« Grün Nr. 3) — 360» Grün Nr. 3.
Be
Durchschnitt
aus
obachter
I. R
A
U. R
A
I. u. II. R
A
K. K.
1. Tag
2. Tag
94,5
98,9
3,0
7,8
94,9
101,7
2,9
6,0
94,7
100,3
3,0
6.4
Durchschnitt
96,7
5,4
98,3
4,0
97,5
4.7
S. J.
1. Tag
2. Tag
90,8
85,7
3,1
2,1
94,7
87,2
2,7
1,9
92,8
86,4
89,6
2,9
2,0
Durchschnitt
88,3
2,6
90,9
2,3
2,4
Ka.
1. Tag
2. Tag
95,2
93,0
2,4
2,6
94,5
93,2
1,4
1.4
94,9
93,1
1,9
2,0
Durchschnitt
94,1
2,5
93,9
1,4
94,0
1,9
220
Siegfried Jacohsohn. (f
Tabelle 9.
Karmin — Grün Nr. 3.
Be.
obachter
I. fi
A
II. R
A
Durchschnitt aus
I. u. n. Ä A
K. K.
1. Tag
2. Tag
195,5
178,3
11,0
11,6
194,2
178,2
12,4
13,0
194,8 11,7
178,2 12,3
S. J.
Durchschnitt i 186,9
1. Tag 195,8
2. Tag 190,6
11,3
3,8
4,5
186,2
200,1
203,4
12,7
4,7
3,6
186,5 12,0
197,9 4,2
197,0 4,0
Durchschnitt
193,2
4,1
201,7
4,1
197,5 4,1
Tabelle 10.
)• Karmin— (270» Grün Nr. 3 + 90« Karmin).
, Be-
Dnrchschnitt
ao8
obachter
I. R
A
II.fi
A
I. u. U. B
A
K. K.
1. Tag
2. Tag
210,1
209,2
ö,7
4,8
211,6
204,6
7,4
7,6
210,8
206,9
6.5
6,2
Durchschnitt
209,6
5,2
208,1
7,5
206,9
6,4
8. J.
1. Tag
2. Tag
226,2
233,6
1,4
2,0
233,0
237,9
äi
229,6
236,7
1,7
2,4
Durchschnitt
229,9
1:7
235,5
2,4
232,7
2,0
Ka.
1. Tag
2. Tag
209,1
213,2
4,2
3,1
211,1
215,4
6,9
6,6
210,1
214,3
5.6
4,8
Durchschnitt
211,1
3,7
213,2
6,7
212,2
6,2
Tabelle 11.
Karmin — Grau t
unter Mittenfindung ausschliefslich mittels
Karmin und Grau Nr. 4.
Be-
obachter
I. R
A
II. R
A
Durchschnitt aus
I. u. II. R A
S. J.
1. Tag
2. Tag
172,8
1873
8,4 156,1
12,3 161,6
5,2
17,1
164,5 6,8
174,5 14,7
Durchschnitt
180,1
10,4
158,9
11,1
169,5 10,7
über subjektive Mitten verschied. Farben auf Chrund ihres Kohärenzgrades. 221
Tabelle 12.
)<> Karmin— (180* Grau Nr. 4 + 180» Karmin)
unter Mittenfindung ausschliefslich mittels
Karmin und Grau t.
Be-
obachter
I.R
A
5,1
3,3
II. R
A
Durchschnitt
I. u. n. B
aus
A
K. K.
1. Tag
2. Tag
214,3
222,4
219,1
226,0
6,2
5,5
216,7
224,2
ö,7
4,4
S. J.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
218,3
211,3
218,0
4,2
5,4
6,4
222,5
226,2
226,3
5,9
4,1
3,1
220,4
218,7
221,6
5,0
4,8
4,7
Durchschnitt
214,6
5,9
225,7
3,6
220,2
4,7
Tabelle 13.
360» Karmin — (180» Weifs + 180» Karmin)
unter Mittenfindung ausschliefslich mittels
Karmin und Grau t.
Be
obachter
I. R
A
II. R
A
Durchschnitt aus
I. u. II. R A
8. J.
I.Tag
2. Tag
177,4
177,4
9,6
13,3
189,0
188,5
11,4
6,7
183,2 10,5
182,9 10,0
Durchschnitt
177,4
11,4
188,7
9,0
183,1 10,2
Tabelle 14.
360» Karmin — (270« Grau t + 90» Grün Nr. 1)
unter Mittenfindung ausschliefslich mittels
Karmin und Grau t.
Be-
obachter
I. R
A
II. R
A
Durchschnitt aus
I. u. II. R A
,KK.
1. Tag
2. Tag
139,7
128,2
2,4
8,1
140,5
128,6
3,7
ö,6
140,1 3,1
128,4 6,9
Durchschnitt
133,9
5,3
134,5
4,6
134,2 6,0
222
Siegfried Jacobtohn. (f)
Tabelle 15.
360« Karmin — (180« Grau t + 180« Grün Nr. 1)
unter Hittenfindnng aaMchlieTiilich mittek
Karmin nnd Gran t.
obachter
I. R
6,4
3,4
n. B
A
Durchschnitt aas
L n. n. jB A
K. K.
1. Tag ' 85,4
2. Tag . 95,9
79,5
96,6
1,1
3,9
82,6 3,3
96,2 3,6
Dnrchschnitt
90,6
M
88,1
2,5
1 89,4 3,4
Tabelle 16.
EindriBrllehkeitg-eieieliiuigeB.
Orange und Gran t.
Beobachter
Schwarz
A
zum Orange
C.
214,3
15,3
Ja.
241,7
16,7
A.
116,0
8,2
8CH.
201,2
7,9
Ka.
165,6
13,6
Blan und Grau t
Schwarz
zum Grau
A
C.
Ja.
A.
SCH.
Ka.
105,8
— 0,5*
226,5
— 168,4»
149,4
25,9
35,6
9,7
13,1
3,6
Rot und Ori
singe
Schwarz
zum Orange
A
C.
Ja.
A.
8CH.
Ka.
103,7
87,0
208,1
114,1
123,8
38,8
31,2
7,2
19,0
12,6
(
Grrün h und
Grau t.
Schwarz
zum Grün
A
C.
Ja.
132,1
228,5
12,3
31,7
Rot nnd Grau t.
Beobachter
Schwarz
A
zum Rot
C.
104,3
33,1
Ja.
150,3
11,7
A.
49,0
44,7
SCH.
30,5
23,7
Ka.
127,7
6,2
Violett und Grau t.
Schwarz
zum Grau A
c.
154,8
12,8
Ja.
128,5
10,7
A.
255,2
3,0
SCH.
186,7
31,0
Ka.
195,5
7,0
Violett und
l Blau.
Schwarz
zum Blau
A
C.
291,5
11,0
Ja.
162,3
31,6
A.
148,0
5;8
SCH.
285,6
15,6
Ka.
136,6
10,4
Ja.
Grün h und Orange.
Schwarz
zum Orange A
I 233,0 I 18,7
» Das negative Vorzeichen bedeutet, dafs die blaue, nicht die grauo
Scheibe den Schwarzzusatz erhalten hat.
über gubjektive Mitten verschied. Fachen auf Qrund ihres Kohärenzgrades, 223
Tabelle 17.
Orange — Grau t.
Be-
obachter
I. E
A
IL B
A
Durchschnitt aus
I. u. II. R A
C.
1. Tag
2. Tag
180,7
188,9
8,3
3,8
188,8
186,8
10,6
6,8
184,7
187,8
9,4
5,3
Ja.
Durchschnitt
I.Tag
2. Tag
184,8
144,7
135,2
6,0
10,3
13,0
187,8
140,8
132,9
8,7
7,1
7,5
186,3
142,8
134,0
7,3
8,7
10,3
A.
Durchschnitt
I.Tag
2. Tag
13y,9
155,3
154,9
11,7
9,8
3,4
136,9
139,2
165,3
7,3
9,5
7,4
138,4
147,3
155,1
151,2
241,3
247,6
9,5
9,6
5,4
SCH.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
155,1
236,5
249,7
6,6
7,2
5,9
147,2
246,0
245,6
8,5
13,7
9,3
7,5
10,4
7,6
Ka.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
243,1
159,7
183,8
6,5
13,8
4,8
245,8
156,0
185,7
11,5
5,3
6,0
244,4
157,8
184,7
9,0
9,6
6,4
Durchschnitt
171,7
9,3
170,8
6,7
171,3
7,5
Tabelle 18.
Bot — Gran t.
Be-
obachter
I. R
A
ILA
A
Durchschnitt aus
I. u. IL B A
C.
1. Tag
2. Tag
229,3
224,7
12,1
8,3
217,3
228,8
6,6
4,4
223,3
226,7
9,3
6,4
Ja.
Durchschnitt
I.Tag
2. Tag
227,0
191,8
156,0
10,2
10,5
15,7
223,0
215,2
164,7
5,6
ö,l
17,0
225,0
203,5
169,8
7,9
7,8
16,3
A.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
173,4
200,5
195,7
13,1
2,5
4,1
189,9
196,3
193,3
11,1
5,3
1,4
181,7
198,4
194,5
12,1
3,9
2,8
8CH.
Ka.
Durchschnitt
I.Tag
1. Tag
2. Tag
198,1
337,2
240,5
230,7
3,3
7,2
9,0
4,7
194,8
327,5
241,7
233,0
3,4
4,2
6,8
4,0
196,4
332,3
241,1
231,8
3,3
6,7
7,9
4,3
Durchschnitt
235,6
6,8
237,3
6,4
286,5
6,1
224
Siegfried Jacobtohn. (f)
Tabelle 19.
Blau — Qrau t.
Be-
obachter
I.R
A
IL R
A
Durchschnitt aus
I. u. II. R A
C.
1. Tag
2. Tag
237,7
256,8
7,7
5,8
236,0
254,3
10,7
5,3
236,8
255,5
9,2
5,5
Ja.
Durchschnitt
I.Tag
2. Tag
247,2
234,0
217,3
6,7
12,7
20,3
245,1
243,3
234,7
8,0
17,0
11,4
246,2
238,7
226,0
7,4
14,8
15,8
A.
Durchschnitt, 225,6
1. Tag 1 242,7
2. Tag 1 247,6
16,5
2,4
5,1
239,0
248,3
246,4
14,2
6,3
2,9
232,3
245,5
247,0
15,3
4,4
4,0
SCH.
Ka.
Durchschnitt
1. Tag
1. Tag
2. Tag
245,1
263,9
247,0
231,4
3,8
7,2
4,2
4,4
247,4
262,2
244,9
229,2
4,6
6,2
5,7
2,4
246,2
263,0
246,0
230,3
4,2
6,7
4,9
3,4
Durchschnitt
239,2
4,3
237,0
4,1
238,1
4,2
Tabelle 20.
Violett — Grau t.
Be-
Durchschnitt ans
obachter
I. B
A
II. JB
A
I. u. IL B
A
C.
I.Tag
238,6
2,4
246,0
3,7
241,8
3,0
2. Tag
247,8
4,1
251,2
9.5
249,6
6,8
Durchschnitt
243,2
3,2
248,1
6,6
246,6
4.9
Ja.
1. Tag
225,6
6,9
236,8
6,8
230,7
6,3
2. Tag
189,8
14,7
2103
16,9
200,0
15,8
Durchschnitt
207,7
10,8
223,0
11,3
215,3
11,1
A.
I.Tag
264,3
3.8
258,3
2,4
261,3
2,9
2. Tag
267,8
3,6
269,8
8,6
268,8
3,5
Durchschnitt
266,0
3,4
264,0
3,0
265,0
3.2
8CH.
I.Tag
208,3
9.1
216,5
11,2
211,9
10.1
2. Tag
237,2
4,2
237,0
0,8
237,1
2,5
Ka.
1. Tag
234,8
5,1
242,2
1,7
238,5
3,4
Durchschnitt
236,0
4,6
239,6
1,2
237,8
2,9
über subj^Hve Mitten verschied. Farben auf (hrund ihres Kohärcnzgrades, 225
Tabelle 21.
Rot — Orange.
Be-
obachter
I. R
232,3
245,7
A
II. R
A
Durchschnitt aus
I. u. II. R A
C.
I.Tag
2. Tag
10,3
3,8
231,9
236,3
6,7
2,2
232,1
241,0
8,6
3,0
Ja.
Durchschnitt
I.Tag
2. Tag
239,0
205,6
1903
7,1
7,3
6,3
234,1
208,8
199,9
4,4
9,2
1,8
236,5
207,2
195,1
6.7
8,2
4,0
A.
Darchschnitt
1. Tag
2. Tag
197,9
230,3
230,8
6,8
6,6
3,6
204,4
232,6
228,1
6,5
6,4
9,1
201,1
231,4
229,5
6,1
6,5
6,3
SCH.
Kl.
DurchBchnitt
1. Tag
I.Tag
2. Tag
230.5
173,3
232,8
234,9
4,5
6,9
6,3
6,6
230,3
181,2
.228,8
233.8
7,3
11,6
8,0
6,8
230,4
177,2
230,8
234,4
6,9
9,2
6,6
6,2
Durchschnitt
233,8
6,4
231,3
7,4
1 232,6
6,4
Tabelle 22.
Violet t — Blau.
Be-
.
Durchschnitt aus
obachter
I. B
A
II. R
A
I. u. II. R
A
C.
1. Tag
164,6
3,7
159,2
2,8
161,8
3,2
2. Tag
163,3
7,2
164,6
6,0
163,9
6,1
Durchschnitt
163,9
5,4
161,8
3,9
162.9
4,7
Ja.
1. Tag
160,3
5,6
177,3
4,1
168,8
4,8
2. Tag
141,7
6,7
155,0
, 3,8
148,3
6,2
Durchschnitt
161,0
6,1
166,1
4,0
158,6
5,0
A
1. Tag
161,8
3,1
159,8
3,9
160,8
3,5
2. Tag
158,3
6,9
162,4
3,6
160,3
4,7
Durchschnitt
160,0
4,5
161,1
3,7
160,6
4,1
ScH.
1. Tag
137,2
6,9
130,8
9,7
134,0
7,8
1. Tag
161,7
4,2
167,7
4,3
169,7
4,3
Ka.
2. Tag
161,4
4,9
149,8
3,0
160,6
4,0
Durchschnitt
156,6
4,6 1
153,7
3,7 1
156,1
4,1
Zeitschrift fdr Psychologie 43.
15
226
Siegfried Jacobsohn, (f)
Tabelle 23.
Grün h — Grau t.
Be-
obachter
I. E
A
II. JB
A
Durchschnitt aus
I. u. II. JR A
C.
1. Tagi
2. Tag
188,3
199,9
3,9
8,4
188,0
196,4
7,3
3,6
188,2
198,2
5,6
6,0
Ja.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
194,1
141,5
147,2
6,2
10,7
12,3
192,2
161,8
148,5
5,0
5,8
15,8
193,2
151,7
147,8
5,8
8,3
14,1
Durchschnitt
144,3
11,5
155,2
10,8
149,7
11,2
Tabelle 24.
Grün h — Orange.
Be-
obachter
I. R
A
n,R
A
, Durchschnitt aus
1 1. u. II. R A
C.
1. Tag
2. Tag
147,9
158,4
9,9
4,4
149,0
158,7
4,3
10,2
148,6
158,5
7,1
7,3
Ja.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
153,2
162,3
126,8
7,2
13,7
6,8
153,8
172,4
140,8
7,2
6,6
14,3
153,5
1 167,4
( 133,6
7,2
10,1
10,6
Durchschnitt
144,6
10,3
156,4
10,5
1 150,6
10,4
Tabelle 25.
Rotgelb — Grau t.
Be-
obachter
I. R
A
II. R
A
Durchschnitt aus
I. u. II. R A
M.
1. Tag
2. Tag
222,9
188,6
7,9
10,7
190,3
184,9
6,4
5,6
206,6
186,8
7,1
8,2
H.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
205,7
161,1
159,9
9,3
5,9
5,5
187,6
172,2
166,0
6,0
8,7
4,2
196,7
166,6
163,0
7,6
7,3
4,9
8. J.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
160,5
138,2
134,1
5,7
7,5
4,4
169,1
143,7
141,7
6,4
6,9
6,2
164,8
140,9
137,9
6,1
7,2
5,3
Durchschnitt
136,1
5,9
142,7
%P
139,4
6,2
über siibjektive Mitten verschied. Farben auf Qrund ihres Kohärenzgrades. 227
Tabelle 26.
Karmin — Rotgelb.
Be-
obachter
I. R
A
II. E
A
Durchschnitt ans
I. u. II. B A
M.
1. Tag
2. Tag
163,9
165,0
14,9
13,5
165,6
181,1
10,4
10,8
164,7
173,1
12,6
12,2
H.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
164,4
140,6
135,2
14,2
4,1
6,6
173,4
156,0
157,8
10,6
7,0
8,3
168,9
148,3
146,5
12,4
5,5
7,4
8. J.
Durchschnitt
1. Tag
2. Tag
137,9
129,5
125,8
5,3
4,0
6,8
156,9
144,7
138,8
7,6
9,9
2,8
147,4
137,1
132,3
6,5
6,9
4,8
Durchschnitt
127,6
5,4
141,7
6,4
134,7
5,9
Tabelle 27.
Helligkeit der s. M.
n Beziehung zum arithmetischen und geometrischen Mittel
der Seitenhelligkeiten.^
1
1
arith-
metisches
H.-Mittel
geo-
metrisches
H.-Mittel
tatsächliches
H.-Mittel
Abweichu
arith-
metischen
H.-Mittel
ngen vom
geo-
metrischen
H.-Mittel
Karmin — Grau Nr. 19 (zu Tabelle 1).
M.
91,6
81,9
76,1
- 6,8
H.
95,2
84,0
72,9
-11,1
8.J.
100,3
87,0
76,0
-11,0
Karmin — Grau t (zu Tabelle 2).
M.
142,1
141,8
141,2
^ 0,6
H.
145,6
145,5
146,4
+ 0,8
Karmin — Grau Nr. 4 (zu Tabelle 3).
M.
188,5
180,1
172,9
- 7,2
8. J.
197,2
191,5
194,3
- 2,9
+ 2^
Karmin — Grün Nr. 3 (zu Tabelle 8).
K.K.
160,2
159,5
159.7
- 0,5
+ 0,2
^ Die Zahlen bedeuten Grade WeiTs.
Zur Erleichterung der Übersicht ist, wenn die Helligkeit der s. M.
unter dem geometrischen Mittel der Seitenhelligkeiten liegt, ihre Differenz
mit dem arithmetischen Mittel nicht aufgeführt worden, ebensowenig wie
ihre Abweichung Tom geometrischen Mittel, wenn die Helligkeit der s. M.
über dem arithmetischen Mittel der Seitenhelligkeiten liegt.
15*
228
Siegfried Jacobsohn, (f)
M
1
arith-
metisches
H.-Mittel
geo-
metrisches
H.-Mittel
tatsächliches
H.-Mittel
Abweichungen vom
arith- geo-
metischen metrischen
H.-Mittel H.-Mitt©l
3600 Karmin — (270® Grün Nr. 3 + 90« Karmin) (
zu Tabelle 9).
K.K.
166,5 1
156,1 1 157,8 1 + 1,3
(1800 K
armin + 180« Grün Nr. 3) — 360o Grün Kj. 3
(zu Tabelle 10).
K.K.
167,7
167,5 1 167,0 1
Orange— Grau t (zu Tabelle 17).
- 0,5
0.
168,1
167,3
168,7 1 + 0,6 '
Ja.
162,3
161,9
159,8 1
- 2,1
Ka.
166,6
165,0
164,9
- 0,1
Rot—Grau t (zu Tabelle 18).
C.
112,9
106,1
103,2
- 2,8
Ja.
109,0
100,3
106,6
- 0,4
+ 8,3
Ka.
117,3
112,2
106,6
- 6,6
Blau — Grau t (zu Tabelle 19).
C.
83,5
48,5
58,5
- 25,0
+ 10.0
Ja.
81,7
42,6
61,5
— 20,3
+ 18,9
Ka.
84,7 •
51,9
63,1
— 21,6
+ 11,2
Violett— Grau t (zu Tabelle 20).
C.
91,9
70,0
70,2
— 21,7
+ o;2
Ja.
91,2
68,3
79,3
- 11,9
+ 11,0
Ka.
95,1
76,6
77,0
-18,1
+ 0,4
Rot — Orange (zu Tabelle 21).
C.
129,5
117,1
112,2
- 6,0
Ja.
119,7
107,2
113,4
- 6,3
+ 6,3
Ka.
131,4
122,2
117,3
- 4,9
Violett — Blau (zu Tabelle 22).
C.
23,9
22,4
23,1
- 0,8
+ 0,7
Ja.
21,4
19,2
20,3
- 1,1
+ 1,1
Ka.
28,3
26,2
26,8
- 1,5
+ 0,6
Grün h — Orange (zu Tabelle 24).
C.
172,7
172,3 i 174,5
+ 1,8
Ja.
161,9
161,5 j 163,7
+ 1,8
Rotgelb — Grau t (zu Tabelle 25).
M.
141,1
140,7
140,1
- 0,6
über subjektive Mitten verschied, Farben auf Crrund ihres Kohärenzgrades. 229
Leider hat der Verfasser der vorstehenden Abhandlung
seine Untersuchungen nicht weiter führen können, da ein früher
Tod seinem Leben ein Ende setzte. Wir haben in dem Ver-
storbenen einen Mitarbeiter imd Freund verloren, der trotz des
schweren Leiden, mit dem er in heldenhafter Weise Jahre hin-
durch rang, allen, die ihn gekannt haben, als ein Muster
geistiger Frische und voller Hingabe an die Wissenschaft in
Erinnerung bleiben wird.
Professor Dr. G. E. Müllbb.
(Eingegangen am 20. Juli 1906,)
230
Literaturbericht.
A. BiKXT. L'ime et le etr^. Paris, Flammarion. 1905. 288 8.
„Ce livre est un long effort pour ^tabiir une distinction entre ce qa*on
appelle l'esprit et ce qn'on appelle la mati^re.'' Zu diesem Zwecke wird
zuerst die Materie besprochen, und nachgewiesen, dafs wir von der
Aufsenwelt nur unsere Empfindungen kennen, da doch dieselbe erfahrungs-
gemftffl nicht anders als durch Vermittlung des Nervensystems sich uns
offenbare. Mit dem Namen „äulsere Gegenstände*' werden bisweilen die
gegebenen Empfindungskomplexe selbst, bisweilen auch deren „causes
provocatrices" bezeichnet; von den letzteren können wir allerdings mit
Sicherheit wissen, dafs sie bestehen, nicht aber, was sie sind; auch die
geometrischen und mechanischen Qualitäten gehören nur dem Empfindungs-
komplez, nicht der zugrunde liegenden Wirklichkeit an. Darum ist diese
Wirklichkeit („l'X de la mati^re") nicht Gegenstand der wissenschaftlichen
Untersuchung, sondern hat sich diese auf die Erforschung der Beziehungen
zwischen den Empfindungen zu beschränken. — Was sodann den Geist
anbelangt, wird zuerst auf den Gegensatz zwischen Erkenntnisgegenständen
und Erkenntnisakten hingewiesen, und sodann bemerkt, dafs von den
Erkenntnisgegenständen nicht nur die Empfindungen, sondern auch die
mit denselben wesensgleichen Vorstellungen, und vielleicht (nach der
LANOB-JAMESschen Theorie) selbst die Gefühle eben von derjenigen Natur
sind, durch welche sich die materiellen Erscheinungen (also zwar nicht
„rx de la matiöre'', aber doch alles, was wir von der Materie erfahren)
auszeichnen. Es seien also alle Erkenntnisgegenstände (das Wahrgenommene,
Vorgestellte, Gefühlte) der Materie zuzurechnen, dagegen dem Geiste blo(s
die Erkenntnisakte (das Wahrnehmen, Vorstellen, Fühlen), welche der Verf.
unter dem Namen Bewufstsein („conscience") zusammenfafst. Dagegen sei
der Begriff des Geistes ebensowenig demjenigen des Subjekts (einem sich
auf einen Erkenntnisgegenstand beziehenden Refiexionsprodukt) gleich-
zusetzen, wie durch die Verstandeskategorien zu bestimmen (da kein Grund
vorliege anzunehmen, dafs die kategorialen Beziehungen den Gegenständen
erst vom Bewufstsein zuerteilt werden). Von den Erkenntnisgegenständen
sei anzunehmen, dafs sie auch ohne Bewufstsein fortexistieren können;
dagegen sei ein BewuDstsein ohne Gegenstände undenkbar. Das Arbeits-
gebiet der Psychologie endlich sei dahin zu bestimmen, dafs dieselbe gewisse
Gesetze erforsche, welche sämtlich oder zum gröfseren Teile Gesetze der
Vorstellungen (Assoziationsgesetze) und also nach dem Vorhergehenden
Literaturbeticht 231
Gesetze materieller Erscheinungen sind, sich aber von den sonstigen Gesetzen
materieller Erscheinungen wesentlich durch ihren teleologisch-adaptativen
Charakter unterscheiden. — Das dritte und letzte Buch bespricht die Ver-
bindung von Geist und K6rper. Indem der Verf. diese beiden Namen
nach den obigen Begriffsbestimmungen deutet, also unter „Geist" den
Erkenntnisakt, und unter „Körper" den Erkenntnisgegenstand (genauer:
den Erkenntnisinhalt) versteht, gelingt es ihm mit leichter Mühe nachzu-
weisen, dafs diese beiden unzertrennlich zusammengehören, dafs insbesondere
dem Geiste nur eine unvollständige, gleichsam virtuelle Existenz zukommt
(ähnlich wie nach Kant den apriorischen Denkformen), und dafs demnach
der Geist weder als etwas selbständig neben dem Körper Bestehendes, noch
als der Schöpfer der körperlichen Welt, noch als ein Produkt körperlicher
Ursachen, noch endlich als eine Parallelerscheinung zum Körper gedacht
werden kann; womit denn Dualismus, Idealismus, Materialismus und
Parallelismus für widerlegt gelten. Diesen Theorien stellt der Verf. schlieüs
lieh seine eigene, ausdrücklich nur als eine Hypothese vorgetragene, gegen-
über. Die Hauptschwierigkeit des Problems von der Beziehung zwischen
Geist und Körper erblickt er in der Tatsache, dafs einerseits das Bewufst-
sein durch Gehimprozesse bedingt erscheint, und dafs andererseits in diesem
Bewufstsein nicht die Gehimprozesse selbst, sondern deren äufsere Ursachen
zur Wahrnehmung gelangen. Um diesen Sachverhalt zu erklären, nimmt
der Verf. an, dafs in der sensorischen Nervenerregung zwei Bestandteile
vorkommen : ein konstanter, welcher von der Natur des nervösen Apparates
herrührt, und ein variabler, in welchem sämtliche Eigenschaften des reiz-
aussendenden Objektes vertreten sind. Das Bewufstsein wirke nun wie
ein Dialysator: es vernachlässige, wie auch sonst, den konstanten Bestand-
teil, und lasse den variabeln Bestandteil hervortreten, demzufolge denn
dieser ausschliefslich zur Wahrnehmung gelangt. Damit sei zugleich erklärt,
dafs die motorische Nervenerregung unter allen, und die sensorische unter
einigen Umständen unbewufst bleibt: in jenem Falle fehle das variable
Element, und in diesem sei es entweder auf ein Minimum herabgesetzt
(Abstumpfungserscheinungen) oder es finde eine Verspätung in der Analyse
statt (Ablenkung der Aufmerksamkeit).
Das ist der Hauptinhalt des geistreichen Buches; wo es ein Werk
BiNBTS gilt, wird es kaum nötig sein hinzuzufügen, dafs die klare und
elegante, anschauliche und anregende Art der Darstellung dem Leser manchen
genufsreichen Augenblick bereitet. Dennoch drängt sich auch manche Frage
auf. Was zuerst die Art und Weise betrifft, wie der Verf. zwischen Geist
und Körper unterscheidet, so ist allerdings das Definieren schliefslich Sache
der Willkür : ob man die leere Form des Bewufstseins der gesamten übrigen
Wirklichkeit — , oder ob man das gegebene Bewufstsein in seiner Totalität
den nichtgegebenen äufseren Ursachen der Empfindungen gegenüberstellen
will, darüber läfst sich höchstens aus Zweckmäfsigkeitsrücksichten eine
Debatte führen. Aber eben die Zweckmäfsigkeit der BufBTschen Schnitt-
weise vermag ich durchaus nicht einzusehen. Er selbst legt (S. 4) seiner
Untersuchung folgendes Kriterium zugrunde: „on doit chercher la man!-
festation de Tesprit, s*il existe, sp^cialement dans le domaine des faits dont
s*occupe la Psychologie, et la manifestation de la mati^re dans le domaine
232 Literaturbericht.
oü travaillent les physiciens"; während aber die zweite der obenerwähnten
Einteilungen diesem Kriterium vollständig entspricht, würde sich nach der
ersteren, vom Verf. vorgetragenen, die Psychologie nur für einen ver-
schwindenden und aufserdem noch wenig scharf begrenzten Teile wirklich
mit Psychischem beschäftigen. Nun wendet allerdings Butkt gegen jene
zweite Einteilung ein, dafs man eben von den Ursachen der Empfindungen
(seinem „X de la mati^re") nichts wissen könne, und dafs also nach ihr die
Naturwissenschaft ihren Gegenstand verlieren und sich in Psychologie auf-
lösen müTste. Aber diese Meinung ist wohl nicht ganz richtig. Die Gesetz-
lichkeit, welche die Naturwissenschaft untersucht, ist eben nicht in Ver-
hältnissen zwischen den Empfindungen, sondern (auch nach Binsts Meinung)
in Verhältnissen innerhalb jenes „X de la mati^re'' begründet, und spiegelt
sich in der Aufeinanderfolge der Empfindungen blofs gelegentlich ab; von
jenem X und seiner Gesetzlichkeit ist uns demnach zwar auf direktem
Wege keine absolute, wohl aber eine relative Kenntnis erreichbar, und die
Naturwissenschaft hat mit der Vervollständigung dieser relativen Kenntnis
für ungemessene Zeiten noch vollauf zu tun. Auch lälst sich die bloüs in
ihrer Abspiegelung gegebene Gesetzlichkeit des X von der eigenen Gesetz-
lichkeit der Empfindungen (wie sich dieselbe etwa in den Kontrast- und
Hemmungserscheinungen offenbart) wenigstens prinzipiell vollkommen
scharf trennen, und ist sie auch tatsächlich in der Wissenschaft stets, mit
mehr oder weniger klarem Bewufstsein, von derselben getrennt worden.
Bis auf weiteres finde ich also keinen einzigen Grund, die alte und allgemein
angewandte Unterscheidung zwischen Geist und Materie durch eine neue
zu ersetzen. — Noch bedenklicher als die BiNBTschen Begriffsbestimmungen
an und für sich scheint mir die Art und Weise, wie er dieselben seiner
Kritik der verschiedenen Welthypothesen zugrunde legt Denn diese Welt-
hypothesen haben doch sicher mit dem „Geiste*' und der „Materie", welche
sie entweder selbständig existieren oder auseinander hervorgehen oder sich
parallelistisch entsprechen liefsen, nicht die Form und den Inhalt des Be>
wufstseins, sondern vielmehr das ganze Bewufstsein und die in den Emp-
findungen sich offenbarende, an sich aber aufserbewuTste Wirklichkeit
gemeint ; wenn also der Verf. dieselben unter Voraussetzung seiner eigenen
Begriffsbestimmungen bekämpft, so bekämpft er eben Windmühlen. — Und
was nun schliefsllch seine eigene Theorie betrifft, so sieht es fast danach
aus, als ob er bei der Begründung derselben seiner eigenen ausdrücklichen
Anerkennung des „X de la matiäre" doch wieder untreu geworden wäre.
Allerdings hat er dieses X als unerkennbar aus der Wissenschaft verbannt,
aber damit ist es doch nicht aus der Welt geschafft worden ; vielmehr bleibt
es nach wie vor, auch wenn wir übereinkommen nicht weiter darüber zu
reden, die wahre und echte, einzige Ursache unserer Empfindungen. Wir
dürfen allerdings fortfahren, uns die Ursache unserer Baumwahrnehmung
als den mit allen Empfindungsqualitäten ausgestatteten realen Baum vor-
zustellen (ähnlich wie wir auch nach Kopbrniküs uns die Sonne als bewegend
vorstellen): wir müssen uns aber bewufst bleiben, dafs alle jene Emp-
findungsqualitäten erst nach dem Nervenprozesse auftreten, und daCs wir
vor demselben eben nichts weiter als das „X des Baumes" zu setzen be-
rechtigt sind. Wenn dem aber so ist, wie kann dann ein Problem darini
Literaturbericht 233
liegen „que la conscience, öveill^e directement par une ondulation nerveuse,
ne pergoive pas cette ondnlation, mais per^oive k sa place Tobjet extörieur"
(S. 249)? Als wirklich existierend haben wir nichts weiter vorauszusetzen
als das X des äufseren Gegenstandes, das X des Nervenprozesses und den
resultierenden Empfindungskomplex; der Empfindungskomplex aber ist,
wie BmBT ausdrücklich betont hat, ebensowenig als ein Abbild des X des
äuüseren Gegenstandes, wie als ein Abbild des X des Nervenprozesses zu
denken; sondern er verhält sich zu beiden blofs als die Wirkung zu ihrer
indirekten bzw. direkten Ursache. Man kann also mit durchwegs gleichem
Rechte sagen, daüs sich das X des Nervenprozesses, wie dafs sich das X
des äufseren Gegenstandes in der gegebenen Empfindung uns bemerklich
mache; nur macht sich ersteres selbstverständlich uns in anderer Weise
bemerklich, als wenn es, statt unmittelbar die Empfindung zu erzeugen,
ähnlich wie das zweite durch Vermittlung des X des Auges und des X
eines zweiten Nervenprozesses eine Empfindung erzeugte. Was wir also
damit meinen, wenn wir sagen, dafs wir beim Sehen eines Baumes eben
den Baum und nicht den Nervenprozefs sehen, ist nichts weiter als dieses :
dafs wir etwas anderes sehen als wir sehen würden, wenn das X des
Nervenprozesses sich durch ähnliche Vermittlungen, wie jetzt das X des
Baumes, uns bemerklich machte. Oder mit anderen Worten: in der Emp-
findungswelt sind alle X durch ihre sinnlich vermittelten Wirkungen ins
Bewufstsein vertreten, und da das X des Baumes ein anderes ist als das X
des Nervenprozesses, so müssen auch die Empfindungen, welche diese
beiden X vertreten, verschieden aussehen. Damit ist, wenn ich richtig
sehe, das vom Verf. gestellte Problem als ein blofses Scheinproblem nach-
gewiesen, und die von ihm vorgetragene Hypothese überflüssig geworden;
das zurückbleibende Problem aber, wie die von der empirischen Forschung
einmal innerhalb des Bewufstseins, sodann in der Welt der X und endlich
zwischen beiden Welten festgestellten Abhängigkeitsbeziehungen zusammen
bestehen können, m. A. n. das eigentliche, sehr reelle und sehr schwierige
Problem von der Beziehung zwischen Geist und Körper, — dieses Problem
ist vom Verf. nicht berührt worden. Hbymans (Groningen).
P. BoNNisR. T a-t-U nne p8y€hologie hvinaliief Rev. scientifigue. ö. Serie.
4, S. 641—644. 1905.
Der Verf. wendet sich mit seiner Frage, die genauer lauten sollte:
„Giebt es eine besondere Psychologie des Menschen ?'^ gegen den psycho-
logischen „Anthropozentrismus", der sich in doppelter Form geschichtlich
darstelle, dem zentripetalen und dem zentrifugalen. Jener sage von jedem
lebenden Wesen „est, ergo cogitat'', erhöhe also das organische Gesamt-
niveau, um den Menschen möglichst hoch zu stellen. Dieser tue das Gegen-
teil, um den Menschen desto höher zu stellen. In Wirklichkeit gebe es
so wenig eine „menschliche Psychologie**, wie es eine besondere menschliche
Pathologie, Physik oder Chemie gebe. Es sei wohl richtig, dafs jedes
lebende Wesen „denke", aber der Nachdruck liege darauf, dafs es denke
„tel qu*il est, et pas autrement^'. „La psychologie est la domaine subjectif
qui est au centre de notre Physiologie, comme Thomme a ^t^ longtemps
au centre de Tunivers."
234 LiteraturberidU.
Damit ist natürlich trotz alier Geistreichigkeit nichts Nenee gesagt.
So lange wir eben auf diese „subjektive Domftne'' angewiesen sind und
uns in ihr leidlich zurechtzufinden glauben, wird alle Psychologie in dieser
oder jener Form anthropozentrisch bleiben mflssen.
Die feulletonistisch pointierende Darstellungs weise lAÜst vermuten, dafs
es dem Autor selbst nicht darum zu tun war, der Frage von allen Seiten
gerecht zu werden. Immerhin hätte er sich seine billigen Ausfälle gegen
jeden metaphysischen Ausbau der Philosophie sparen können.
AcKEBKNECHT (Stettin).
F. Arnold. Tbe Ullity of Mental Life. Journal of Fhilos., Fsychol. and Scient
Methods 2 (18), 487—493. 1905.
Der Verf. macht den Versuch, die — sukzessive und simultane —
Einheit des Bewufstseins zu analysieren. Im besonderen verteidigt er
die ,,Assoziationspsychologie" gegen den Vorwurf, dafs sie eine falsche
„atomis tische'* Betrachtung des Seelenlebens involviere. Freilich müsse
man den Begriff der Assoziation richtig fassen: Wir erleben nicht Inhalte
und Assoziationen zwischen den Inhalten als getrennte Faktoren, sondern
wir erleben eine Einheit und zum Zwecke der wissenschaftlichen Be-
trachtung lösen wir diese Einheit auf in Ideen, Gefühle etc. auf der einen
und assoziative Verbindungen dieser Elemente auf der anderen Seite.
V. AsTEB (München).
Paul Schultz. Gehirn und Seele. VIII, 189 S. Leipzig, Barth. 1906. M. 5,60,
geb. M. 6,60.
Das Werk enthält die von Prof. P. Schultz während einer Reihe von
Jahren gehaltenen öffentlichen Vorlesungen.
Vor drei Jahren hatte der Verf. die eingehend behandelte und be-
deutend erweiterte Einleitung in dieser Zeitschrift veröffentlicht und in
derselben in der Hauptsache sein philosophisches Glaubensbekenntnis, die
unbegrenzte Hingabe an Kant8 transzendentalen Idealismus entwickelt.
Damals auch hatte er die weitere Herausgabe dieser Abhandlungen in
Aussicht gestellt, doch eine jahrelang seine Kraft erschöpfende Krankheit
raffte ihn schnell dahin, ehe er zu der Verwirklichung dieses Gedankens
kam. So konnten dieselben nur herausgegeben werden in der Fassung, die
er ihnen als Vorlesungen gegeben und mancherlei wäre wohl, hätte er
selbst sie veröffentlicht, unter seiner bildnerischen Hand in andere Form
gekleidet worden. Daher dürfen sie auch der Lage der Sache nach auf
unbedingte Vollständigkeit keinen Anspruch erheben, aber auch so ver-
mögen sie durch die Eigenart der Behandlung des Stoffes den Leser zu fesseln.
Wenn der Verf. dieselben auch als populär-wissenschaftliche bezeichnet,
da sie für Hörer aller Fakultäten offen standen, so bringt er doch darin
eine solche Fülle spezieller, besonders nervenphysiologischer Fragen, da&
wohl auch Fachleute sie mit Interesse verfolgen werden.
Nach den einleitenden Worten über die Grenzen der Naturerkenntnis
stellt er sofort den erkenntnis theoretischen Gesichtspunkt dar, unter
welchem er den Stoff behandeln und welche Vorstellung von dem all-
gemeinen Verhältnis von Materie und Bewufstsein er seinen beeondereä
lAteraturbericht 235
naturwissenschaftlichen Betrachtungen zugrunde legen will. Das ist der
KANTsche transzendentale Idealismus und auf dieser Grundlage fufsend,
f afst er das Verhältnis von Gehirn und Seele als zeitlich psycho-physischen
Parallelismus auf, dessen naturwissenschaftlichen Nachweis er dann weiter
durchzufahren versucht. Dahei geht er zunächst von dem Seelenbegriff
aus, wie er in den verschiedenen philosophischen Systemen behandelt
wurde, die allein auf Hypothesen aber das Wesen der Seele begründet, der
nur mit Tatsachen rechnenden Naturwissenschaft eine befriedigende Antwort
über das Problem nicht zu geben vermögen. Dann wendet er sich der
Überlegung zu, worin das Geistige besteht und ob dasselbe nur auf den
Menschen beschrankt sei oder auch den Tieren zukomme.
Zunächst wirft sich dabei die Frage nach dem Unterschied von Mensch
und Tier auf, die entsprechend der DABWiKschen Lehre dahin beantwortet
werden mufs, dafs derselbe kein Wesensunterschied, sondern nur ein
gradueller sein kann, der in dem dauernd aufrechten Gang und der Aus-
bildung der Sprache bedingt ist. Um den geistigen Entwicklungsgang des
Menschen zu verstehen, mufs man von dem Seelenleben der Tiere aus-
gehen. Bis zu einem gewissen Grade kommen diese zur Bildung von All-
gemeinvorstellungen und AsBoziationsvorgängen, wie an einigen charakte-
ristischen Beispielen erläutert wird. Das Seelenleben der höheren Säugetiere
hat sich dann stufenweise zu demjenigen des Menschen entwickelt.
Dieses darzutun wird die ganze organische Stufenleiter von den
Elementarorganismen an behandelt, der Aufbau des Nervensystems, der
Keflezbögen, die Entwicklung des Gehirns besprochen und die Instinkt-
handlungen als vererbte Beflexhandlungen erklärt. Wie nach dem bio-
genetischen Grundgesetz von Habckel die Entwicklungsgeschichte des
Individuums eine abgekürzte Wiederholung der Entwicklungsgeschichte
des Stammes darstellt, so gilt dasselbe auch für einzelne Organe und
besonders für das Gehirn, dessen Anatomie und Physiologie bei den
Wirbeltieren und dann vornehmlich dem Menschen nun eingehend wieder-
gegeben wird.
Die stetige Zunahme des Gehirns in der Tierreihe veranlafst nun
weiter Betrachtungen über das absolute und relative Hirngewicht als MaTs-
Stab für die Höhe der Intelligenz, über den Einflufs von Geschlecht und
Rasse und führt zu einer Kritik der Phrenologie Galls. Dieser schliefst
eich dann ein Überblick an über die Verrichtungen des menschlichen
Gehirns und die moderne Lokalisation der Himoberfläche, die Assoziations-
zentren und das Grenzgebiet von geistigem Gesund- und Kranksein. Eine
kurze Behandlung der Halluzinationen und Illusionen, der Theorien des
Schlafes und Traumes und der Hypnose schliefst den Gang der Abhandlungen.
Ist aus dem ganzen Aufbau schon die interessante Auffassung des
Themas zu ersehen, so gewinnt der Inhalt noch ganz besonders durch die
gewandte, vielfach dichterische Sprache und die klare Darstellungsweise.
So dürfte auch das geschriebene Werk, wie es bei den gesprochenen
Vorlesungen eine Reihe von Jahren hindurch der Fall war, bald einen
grofsen Freundeskreis gewinnen. H. Beyer (Berlin).
236 Literaturbericht
A. H. PiERCE. Inferrod Conscions States and the Eqnallty Axiom. Journal of
Philos,, Fsychol. and Scient. Methoda 2 (6), 160—165. 1905.
Der Verf. wendet sich gegen das, was er das „STUMPF-SiouTsche Argu-
ment'' für das Vorhandensein anbemerkbarer Empfindungen bzw. Emp-
findungsunterschiede nennt. Die genannten Autoren gehen aus von dem
Fall, dafs von drei ihrer Intensität nach nah aneinander liegenden Emp-
findungen (Tönen) die zwei äufsersten — Si und S^ — deutlich unter-
Bcheidbar sind, während jede derselben auch bei schärfster Anspannung
der Aufmerksamkeit keinen Unterschied gegen die mittlere Empfindung
82 mehr erkennen läTst. Nach dem bekannten Grundsatz „sind zwei Dinge
einem dritten gleich, so sind sie auch untereinander 'gleich" müfste
81 >=s Si sein. Da dies nach Aussage unseres unmittelbaren Bewufstseins
nicht der Fall ist, mufs auch zwischen 81 und St bzw. 8^ und 5, ein, wenn
auch für uns nicht mehr bemerkbarer unterschied bestehen. P. bekämpft
diese Argumentation, indem er sich gegen das herangezogene, mathematische
Axiom wendet: Das Axiom sei so gar nicht gültig, es müsse genauer lauten:
8ind zwei Dinge unter bestimmten Bedingungen einem dritten gleich, so
sind sie untereinander gleich, vorausgesetzt, daTs noch dieselben Bedingungen
vorliegen. Es sei aber nicht notwendig, dafs beim Vergleich des 8i mit i^
dieselben — physiologischen — Bedingungen vorhanden sind, wie beim
Vergleich von Si und 8^. — In dieser Form vermag Ref. die Schlüssigkeit
des Einwandes nicht einzusehen. Wenn zwei Inhalte gleich sind, so gilt
für sie das fragliche Gleichheitsaxiom, ganz gleichgültig, ob sie das eine
Mal unter diesen, das andere Mal unter jenen Bedingungen stehen. Nur
dann können die „Bedingungen" des Vergleichs in Betracht kommen, wenn
das 81 in dem Moment, in dem es mit 8^ verglichen wird, durch die neu
eintretenden physiologischen Bedingungen eben selbst ein anderes wird,
als es vorher war, da es mit 8^ zusammengestellt wurde. Das wäre ein
möglicher, aber freilich hypothetischer Gedanke.
Etwas anders liegt die Sache freilich, wenn F., wie er es gelegentlich
tut, seinem Gesetz die Form gibt: Zwei Inhalte, die einem dritten gleich
erscheinen, erscheinen nur so lange einander gleich, als dieselben
Bedingungen des Vergleichs vorliegen. Dies Gesetz gilt freilich, aber es
hat mit dem mathematischen Gleichheitsaxiom nichts zu tun und bedeutet
keineswegs eine Einschränkung seiner Gültigkeit. Nur könnte P. — was
wohl in der Konsequenz seiner Worte liegt, aber nicht deutlich aus-
gesprochen ist — hinzufügen, es habe keinen Sinn, bei Empfindungsinhalten,
die einer objektiven Messung nicht zugänglich sind, noch von „Gleichheit"
zu reden, — das „Gleichsein" könne hier eben nur noch die Bedeutung
des „Gleicherscheinens" haben. v. Aster (München).
M. Marage. SeisibiUti speciale de Poreille phyiiologiqne po«r certaines
TOyeUes. Comptes rendm 140, 87—90. 1905.
— Contributlon i Vitaüe de Torgane de Gort i. Ebda. 732—734.
— Ponrqnoi certains sonrda-maets entendent mienx les sons graves qve les sois
algu. Ebda. 780—781.
1. Verf. bestimmte auf freiem Feld mit Hilfe einer Vokalsirene die
Hörschwellen für die fünf Hauptvokale bei 125 m Distanz. Das Energie-
Literaturberickt 237
minimum, das eben noch genügte, um den Vokal hörbar zu machen^ liegt
für jeden Vokal bei einer bestimmten Tonhöhe, nahe dem Eigenton des
Vokals. Hieraus erklärt sich, warum beim Gesang der Vokal der Höhe
des Melodietones angepafst wird (geringster Energieaufwand und gröfste
Tragfähigkeit); femer, warupa Redner die Vokale a und o bevorzugen:
e und i tragen nur in hoher Lage, u (Eigenton C2, Energieminimum bei
C = -Olö kgm) ist in normaler Stimmlage zu anstrengend. Weiter schliefst
Verf. aus seinen Versuchen, dafs es für Hörschärfeprüfungen unerläfslich ist,
Schwingungen von bestimmter Art und bekanntem Grundton zu ver-
wenden.
2. Verf. wiederholte die bekannten HENSBNschen Versuche an Mysis,
die von Helmholtz für seine Resonanzhypothese in Anspruch genommen
wurden. Stimmgabeltöne und Vokale auf verschiedener Tonhöhe (Vokal-
sirene) wurden zu einem kleinen Wasserbehälter geleitet, in dem sich
die Crustacee befand. Eine Vibration der Schwanzhärchen des Tieres
konnte auch dann nicht beobachtet werden, wenn die Tonintensität die für
das menschliche Ohr auf grofse Entfernung gültige Schwellenenergie (s. o.)
übertraf. Bei Versuchen mit Trompeten tönen (Hensbn hatte ein cornet ä
pistons benützt) zeigte sich zwar eine Bewegung der Härchen, doch liefs
sich keine selektive Wirkung der verwendeten Tonhöhen (d, und C4)
erkennen.
3. Die Versuche wurden auch auf andere Tiere, denen Gehörorgane
fehlen, ausgedehnt. Serpula (ein Borsten wurm) zog ihre Tentakeln sofort
ein, wenn der Vokal u auf hi erklang; die Reaktion blieb (bei gleichem
Vokal und gleicher Energie) bei &2 und b^ aus. Ähnlich reagierte Cyona
intestinalis. Krabben, denen die globi abgetragen wurden, berühren beim
Erklingen tiefer Töne augenblicklich die verletzte Stelle mit den Beinen.
Verf. stellt diese Beobachtungen in Parallele mit dem Befund, dafs manche
Taubstumme, denen die Sprachperzeption vollständig fehlt, den (synthe-
tischen) Vokal u auf /i bei einer Energie von 0-005 kgm noch wahrnehmen,
e auf fi und i auf f^ dagegen nicht, wie grofs auch die Intensität sei. Es
handelt sich hier offenbar ebenso, wie bei den Tierversuchen, um Tast-
empfindungen. Als praktische Eonsequenz ergibt sich, dafs nach der Form
der Hörschärfekurve diejenigen Taubstummen erkannt werden können, bei
denen Hörübungen von vornherein aussichtslos sind.
HoRNBOSTEL (Berlin).
V. FoRTi und B. Barrovecchio. Ein weiterer Beitrag rar KenntBis des Yibratieis-
gefflhlfl. Medizinische Klinik. 1905. Nr. 34.
Verf. untersuchten drei Patienten, die eine Dissoziation der Sensi-
bilitätsarten nach dem syringomyelitischen Typus zeigten. Das Vibrations-
gefühl war nur in den Zonen erloschen, wo der Tastsinn aufgehoben war,
während es völlig ungestört blieb, wo nur Schmerz- und Temperatur-
empfindung aufgehoben waren. Neben entschiedenen Störungen von
Schmerz- und Temperaturempfindung waren Tastsinn und Vibrosensibilität
intakt.' Erhaltung, Herabsetzung und Aufhebung des Vibrationsgefühls
stimmten mit denjenigen des Tastsinnes völlig überein, während die
Störungen von Schmerz- und Temperatursensibilität verschieden waren.
238 lAteraturbericht.
Das Verhalten des Vibrationsgefühls Eeigte in allen drei Fällen die auf-
fallendste Analogie mit denjenigen des Tastsinnes, -während es sich von
dem der Schmerz- und Temperaturempfindung wesentlich unterschied.
Alles spricht dafür, dafs Tastsinn und Vibrationsgefühl ÄuTserungen einer
einzigen Sensibilitätsart sind. Umpfsnbach (Bonn).
w. Mo DoüGALL. On a lew lethod for tb0 Stvdy of GoictrrMt letttal Operitioiis
and of lental Fatigae. Bntish Journal of Psychology 1 (4), 435—445. 1905.
Die Vorrichtung, welche Verf. beschreibt, läfst mit gleichmäfsiger
Schnelligkeit einen Papierstreifen rotieren, auf dem Versuchsperson nach
Vorschrift irgendwelche bestimmte Zeichen anzubringen hat. Gleichzeitig
setzt auf dem Streifen ein Schreibstift auf, welcher auf diesem eine gerade
Linie zieht, solange er nicht durch einen Zug an einer Seidenschnur aas
seiner Normallage gebracht wird und alsdann irgend welche Kurven
beschreibt. Letzteres kann durch eine Reaktion der linken Hand bewerk-
stelligt werden, so dafs es also möglich ist, auf demselben Papierstreifen
unmittelbar übereinander den Verlauf zweier verschiedener gleichzeitiger
Tätigkeiten zu notieren und daraus die Wirkungen der Konkurrenz, der
£rmüdung, geistiger Getränke usw. unmittelbar abzulesen.
Pbandtl (Weiden).
F. N. Halbs. Materials for tbe Psycho-Goaetle Theory of Gomparlsoi. British
Journal of Fsychology 1 (3), 205—239. 1905.
Da auf dem Gebiete der Kinderpsychologie noch wenig oder nichts
zur psychogenetischen Untersuchung der Vergleichungsurteile geschehen
ist» so beschränkt sich Verf. auf die Ausdrucksmittel der primitiven Wort-
sprachen sowie der Gebärdensprache der Taubstummen sowohl als unzivlli-
sierter Völker, erzielt aber auch so ein reichhaltiges Material mit bestimmt
ausgeprägter GesetzmäTsigkeit, die um so bedeutsamer erscheint, als ein
Parallelismus der Entwicklung auf beiden Gebieten nicht zu verkennen ist.
Danach äufsert sich auf der untersten Stufe der Entwicklung die Ver-
gleichung zweier Gegenstände in einfacher Bejahung der in Frage gezogenen
Eigenschaft bei dem einen, und in einfacher Verneinung derselben bei
dem anderen Gregenstand („Opposition"). Unmittelbar fortgebildet erscheint
diese Ausdrucksweise, wenn der Taubstumme die (absolute oder relative)
Gröfse eines jeden der zu vergleichenden Gegenstände nacheinander durch
eine eigene Gebärdebewegung angibt und den Unterschied der beiden
Gröfsen unmittelbar aus dem Unterschied der Bewegungen erkennen läfst,
oder wenn in der Wortsprache die einfache Bejahung durch den Zusatz
verstärkt wird, dafs nur dem einen Gegenstand die fragliche Eigenschaft
zukomme („Exclusion"). Weiterhin vereinen sich dann wieder Gebärden-
und Wortsprache, indem die Gröfise des einen Gegenstandes (der Grad
seiner Eigenschaft) als gegeben gesetzt und die des anderen dann daraus
abgeleitet oder an ihm als einem MaCsetab gemessen wird („Separation*^).
Daneben kann in der Wortsprache noch die besondere aus der Exklusion
weitergebildete Form treten, in welcher der Urteilende die beiden Gegen-
stände als nebeneinander befindlich denkt und alsdann von dem «inen
Literaturbericht 239
derselben eine verneinende oder bejahende Aussage macht („Apposition").
Eine leiste Stufe der Entwicklung ist es, wenn, in der Gebärdensprache
sowohl als den primitiven Wortsprachen, ein eigenes Zeichen für die
Begriffe Mehr und Weniger eingeführt, somit zur Komparation die Gradation
hinEugefttgt wird. Prandtl (Weiden).
F. C. Frbmch. The RelattoA of Psycbolq;! to the PhUosophy of RelisioiL
Journal of Fhilos,, Fsychol. and Sdent. Methods 2 (26), S. 701—707. 1905.
Frsnch erblickt in der Annahme von James (,The Varieties of Beligious
Experience^j, dafs im menschlichen Greistesleben und zwar in dessen unter-
bewufsten Vorgängen ein Eintreten des Übersinnlichen erfolge, einen Wider-
spruch mit dem wissenschaftlichen Charakter der Psychologie, sofern diese,
ebenso wie die Naturwissenschaft, nur einen geschlossenen Zusammenhang
natürlicher Vorgänge kenne, und sofern die psychologische Form der
religiösen Erlebnisse auch bei anderen Erscheinungen des geistigen Lebens
sich finde. Damit sei die Realität eines Übersinnlichen, eines vernünftigen
Weltgrnndes, nicht bestritten, für die vielmehr gerade der rationale, gesetz-
mäfsige Charakter der äufseren und inneren Erfahrung einen Erweis liefere.
M. ScHEiBB (Leipzig).
8. Frbud. Brtchstfick einer Hysterie-Analyie. Monatsschr. f. Psychiatrie u.
Neurol 18 (4 u. 5), 8. 285—309, 408-467. 1906.
F. geht von der Ansicht aus, dafs die Verursachung der hysterischen
Erkrankungen in den Intimitäten des psychosexuellen Lebens der Kranken
gefunden wird, und dafs die hysterischen Symptome der Ausdruck ihrer
geheimsten verdrängten Wünsche sind. Die Vertiefung in die Probleme
des Traumes ist eine unerläfsliche Vorbedingung für das Verständnis der
psychischen Vorgänge bei der Hysterie und den anderen Psychoneurosen.
Fb. glaubt schon 1900 in seinem Buche „Die Traumdeutung" nachgewiesen
zu haben, dafs Träume im allgemeinen deutbar sind, und dafs sie nach
vollendeter Deutungsarbeit sich durch tadellos gebildete an bekannter Stelle
in dem seelischen Zusammenhang einfügbare Gedanken ersetzen lassen.
Der Traum stellt einen der Wege dar, wie dasjenige psychische Material
zum Bewufstsein gelangen kann, welches kraft des Widerstrebens, das sein
Inhalt rege macht, vom BewuIiBtsein abgesperrt, verdrängt und somit
pathogen geworden ist. Der Traum ist einer der Umwege zur Umgehung
der Verdrängung, eines der Hauptmittel der sogenannten indirekten Dar-
steUnngsweise im Psychischen.
Das vorliegende Bruchstück aus der Behandlungsgeschichte eines
hysterisehen Mädchens soll nun zeigen, wie die Traumdeutung in die
Analyst) eingreift. F. behauptet, jeder Traum sei ein als erfüllt dargestellter
Wunsch; die Darstellung sei eine verhüUende, wenn der Wunsch ein ver-
dringter, dem Unbewufsten angehOriger sei, und auüBer bei den Kinder*
titamen habe nur der unbewufste oder bis ins Unbewufste reichende Wunsch
die Kraft, einen Traum zu bilden. Ohne verallgemeinern zu wollen, meint
Verf.; „Ein ordentlicher Traum steht gleichsam auf zwei Beinen, von denen
das eine den wesentlichen aktuellen Anlafs, das andere eine folgenschwere
240 Literaturbericht
Begebenheit 'der Kinderjahre berührt. Zwischen diesen beiden, dem Kinder-
erlebnis und dem gegenwärtigen, stellt der Traum eine Verbindung her,
er sucht die Gegenwart nach dem Vorbild der frühesten Vergangenheit
umzugestalten. Der Wunsch, der den Traum schafiEt, kommt ja immer aus
der Kindheit; er will die Kindheit immer wieder von neuem zur Realität
erwecken, die Gegenwart nach der Kindheit korrigieren."
In der vorliegenden Analyse sucht Fs. zu beweisen, wie die Traum-
deutung zur Aufdeckung des Verborgenen und Verdrängten im Seelenleben
verwendet werden kann. Umpfbnbach (Bonn).
A. Pick. Zur Aialyte der Elemente der Anmsle. Monatsschr. f. Psychiatrie u.
Neurol 18 (1), S. 87—96. 1906.
Auf Grund musikpsychologischer Studien kennen wir als an den
Tönen zu unterscheidende Faktoren: die Qualität, resp. Stellung in der
Tonreihe, die sogenannte Höhe und den Gang der Melodie, Intensität und
Stärke, Klangfarbe, Rhythmus. Dazu kommt noch der Gefühlsausdruck.
P. erweist nun zunächst an klinischem Material das Vorkommen von
Störungen dieser einzelnen Faktoren im Bereiche der Amusie. Das klinische
Material ist bisher nicht sehr grofs. Die Sache selbst gehört in den Rahmen
der aphasischen Störungen. P. glaubt durch Zusammenfassen des bisher
auf diesem Gebiete Vorhandenen die klinische Lehre von der Aphasie, die
jetzt an 'einem gewissen toten Punkt angelangt sei, über diesen hinaus-
zubringen. Brissattd hat bereits Störungen der Intonation als Aphasie
d'intonation als etwas Besonderes aus den Erscheinungen der Aphasie
herausgehoben, wobei er hauptsächlich den expressiven Teil der Sprache
im Auge hatte. Doch gilt dies auch vom impressiven Teil, wie P. durch
eigene einschlägige Tatsachen beweist. Auch in der Intensität der Sprache
kommen Störungen vor. Die aphasischen Störungen sind noch einer viel
weitergehenden Analyse fähig, und von einer Verwertung der dadurch nach-
gewiesenen Einzelsymptome ist eine weitere theoretische und praktische
Vertiefung des Studiums jener Störungen zu erhoffen.
Umpfekbach (Bonn).
R. LiPscHiTz. Z«r itlelogie der lelaneholie. Manatssdir. f. Psychiatrie u.
Neural 18 (3 u. 4), S. 193—221, 358-381. 1905.
L. hat sich der Mühe unterzogen, 351 Fälle von Melancholie nach der
ätiologischen Seite hin zu gruppieren und mit den betreffenden Angaben
der Literatur zu vergleichen. Unter den ca. 30000 Aufnahmen der letzten
5 Jahre befanden sich 1,2% Melancholische im Sinne Zishens, und zwar
0,35% Männer und 2,89% Frauen. Die stärkere Beteiligung der Frauen
sucht L. im Organismus der Frau selbst» nicht in äuTseren Ursachen. Dafs
das Maximum der Häufigkeit mit der Zeit des Klimakteriums zusammen-
fällt, macht es wahrscheinlich, dafs es sich hierbei um einen direkten
ätiologischen Zusammenhang mit der Rückbildung der Geschlechtsorgane
handelt, um eine durch die Involution bedingte Erhöhung der Disposition.
Umpfbnbach (Bonn).
241
Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen.
Von
Prof. Th. Ziehen in Berlin.
3. E. Mach.
Gegenüber dem logischen Standpunkt Schuppes hebt sich
der physikalische Eenst Machs sehr scharf ab. Um so beachtens-
werter ist, dafs beide in vielen erkenntnistheoretischen Fragen
nnter sich und mit Avenariüs übereinstimmen. Im folgenden
will ich versuchen auch gegenüber den MAcnschen Lehren meine
Erkenntnistheorie, die bei mancher Übereinstimmung in vielen
wesentlichen Punkten abweicht, zu rechtfertigen. Die Schrift
Machs, die für seine Erkenntnistheorie namentlich in Betracht
kommt, ist:
Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des
Physischen zum Psychischen. Jena, 6. Fischeb. 1. Aufl. 1886,
2. Aufl. 1900, 3. Aufl. 1901, 4. Aufl. 1903. Mir war leider nur
die 1. und die 4. Auflage zugänglich. Der oben angegebene
Titel ist derjenige der 4. Auflage; der erste erschien unter dem
Titel „Beiträge zur Analyse der Empfindungen". Ich werde im
folgenden stets die 4. Auflage zitieren, wofern nichts anderes
ausdrücklich bemerkt ist, und zwar kurz als „A. d. E." Dazu
ist dann noch in letzter Zeit das grofse Werk „Erkenntnis und
Irrtum", Leipzig, J. A. Baeth 1905 gekommen, welches ich kurz
„E. u. I." zitieren werde. ^
Auch die zahlreichen physikalischen und physiologischen
Arbeiten Machs sind reich an erkenntnistheoretischen Ausblicken.
Ich werde sie im folgenden stets mit vollem Titel zitieren.
^ Ein groÜBer Teil dieses Manuskripts war bereits fertig gestellt» als
dies nene Werk erschien.
Zeitschrift für Psychologie 43. IB
242 Th. Ziehen,
a) Der erkenntnistheoretische Fundamental-
tatbestand bei Mach.
Der Fundamentalbestand für Mach ist „eine geringe Zahl
von gleichartigen Elementen", die in bald flüchtigerer, bald
festerer Verbindung vereinigt sind (A. d. E. S. 17). Mach fügt
dann selbst hinzu, man nenne diese Elemente gewöhnlieh
Empfindungen, er ziehe aber vor, kurzweg von Elementen zu
sprechen, da in der Bezeichnung „Empfindungen" bereits eine
einseitige Theorie liege. Er unterscheidet femer sofort 3 Arten
von Elementarkomplexen, nämlich (ebda. S. 7)
1. Elementarkomplexe ABC . . ., welche man gewöhnlich
Körper nennt;
2. den Komplex KLM . . ., der unser Leib heifst und ein
durch Besonderheiten ausgezeichneter Teil der ersteren ist, imd
3. den Komplex er, /?, y . . ., d. h. den Komplex von Willen,
Erinnerungsbildern usw.
Ich kann mit dieser Statuierung des erkenntnistheoretischen
Fundamentalbestandes fast vollkommen übereinstimmen. Die
Elementarkomplexe ABC entsprechen meinen t- und ©-Empfin-
dungen, die Komplexe KLM meinen v- Empfindungen. Ich
gebe dagegen nicht zu, dafs mit der Bezeichnung „Empfin-
dungen" eine einseitige Theorie verknüpft ist. Wie ich bereits
in einer früheren Auseinandersetzung erörterte, ist jede Be-
zeichnung für die uns gegebenen sinnlich lebhaften Erlebnisse
Mifsverständnissen ausgesetzt.^ Das Wort Erscheinung weckt
den Nebengedanken an ein extrapsychisches Ding, welches er-
scheint, das Wort Empfindung den Nebengedanken an ein in-
dividuelles Ich, welches empfindet. Der erkenntnisiheoretische
Fundamentaltatbestand mufs von beiden Nebengedanken frei-
gehalten werden. Erwägt man aber, dafs die sinnlich lebhaften
Erlebnisse sich absolut decken mit dem, was in der Psychologie
als Empfindung bezeichnet wird, dagegen keineswegs mit dem,
was in der Naturwissenschaft als Erscheinung bezeichnet wird,
da bei einer solchen fast stets bereits viele individuelle Zutaten
weggedacht sind, so scheint mir die Bezeichnung Empfindung
^ Die Ursache, weshalb sprachliche Bezeichnungen für diese all-
Umfassenden Erlebnisse des erkenntnistheoretischen Fundamentalbestandes
fehlen, liegt offenbar darin, dafs für unser Denken und unsere Verständi-
gung gerade immer ein Herausgreifen eines Teils oder eines Einzelnen in
erster Linie in Betracht kommt.
Erkenntnistheoretische Äu8einander8etzu9tg€n. 243
bei weitem vorzuziehen. Es bedarf nur eben der ausdrücklichen
Hinzufügung, daTs die Bezeichnung keinerlei hypothetisches Ich
involviert. Die MACHsche Bezeichnung Elemente und Elementen-
komplexe erscheint mir schon deshalb unzweckmäfsig, weil die
Zerlegung in relativ wenige einfache Bestandteile, welche der
Bezeichnung zugrunde liegt, für das zu Bezeichnende vom all-
gemeinsten erkenntnistheoretischen Standpunkt aus durchaus
unwesentlich ist.
Ebensowenig kann ich Mach beistimmen, wenn er den
Unterschied zwischen den -42? C- und den a/?y-Elementen nur in
der Art ihrer Verbindung findet. Dieser Unterschied besteht
auch xmabhängig von allen Verbindungen mit anderen Elementen.
Jetzt sehe ich eine Kose, im folgenden Augenblick stelle ich sie
vor. Der Unterschied ist vor allem ein qualitativer. Wir be-
zeichnen ihn als sinnUche Lebhaftigkeit. Er ist nicht definierbar,
sondern nur erlebbar. Gewifs sind auch die Bedingungen des
Auftretens für Empfindung und Vorstellung verschieden, aber
ebenso gewifs ist dies nicht, wie Mach behauptet, der einzige
Unterschied. ^
Endlich übersieht Mach, wenn er die Gefühle schlechthin
zu den Empfindungen rechnet, die psychologische Tatsache, dafs
sie teils mit ABC- bzw. -K'Li/- Elementen, teils mit a^^y- Ele-
menten verbunden sind (sensorielle und intellektuelle Gefühlstöne).
Ich halte es für notwendig, dafs auch in dieser Beziehung der
erkenntnistheoretische Fundamentalbestand genau so dargestellt
wird, wie ihn die psychologischen Tatsachen darbieten.
Vollständig stimme ich wieder mit Mach überein, wenn er
das Ich aus dem erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand
völlig streicht.^
Es versteht sich bei der Anschauung Machs geradezu von
selbst, dafs er die Introjektion verwirft, wie dies Avenaeius,
Schuppe und ich getan haben.* Nur wenn er statt dessen von
* Vgl. meine Erkenntnistheorie S. 60 ff. Vgl. auch Mach, E. u. I. S. 20.
* Als eine „provisorische Fiktion" wird es E. u. I. S. 13 bezeichnet.
' Historisch bemerke ich noch, dafs Mach die Introjektion niemals so
klar wie Avenabius und Schuppe als Hauptquelle vieler erkenntnis-
theoretischer Irrtümer erkannt hat. Implicite enthält wohl schon die
1. Auflage seiner Analyse der Empfindungen (1885/86) die Verwerfung der
Introjektion oder, wie Mach es jetzt ausdrückt, die Beseitigung der Extra-
jektion. Schuppe hat die Introjektion bereits 1870 bekämpft. Avenamus
16*
i
244 Th. Ziehen.
einem engeren oder stärkeren Zusammenhang der Empfindungen
im Ich spricht, bedarf diese übrigens vorläufige Behauptung
einer näheren und klareren Feststellung (siehe unten).
b) Der Unterschied und das Verhältnis des
Physischen und Psychischen.
In der Auffassung dieses Unterschieds und Verhältnisses
weichen Machs Ansicht und die meinige weit voneinander ab,
viel weiter, als es bei oberflächlicher Betrachtung scheint. Mach
glaubt, dafs das Physische imd das Psychische identisch ist. Er
formuliert dies etwa folgendermafsen : wenn ein A, z. B. das Grün
oder, wie ich sagen würde, die individuell bestimmte Grün-
empfindung eines Blattes gegeben ist, so kann ich entweder
seine Abhängigkeit von anderen Empfindungen äufserer Reize
BCDE oder seine Abhängigkeit von dem Netzhautprozefs XYZ
(ich würde sagen dem kortikalen Prozefs in der Sehsphäre) unter-
suchen ; dasselbe identische A ist im ersteren Fall physikalisches,
in letzterem psychisches Element. Ich glaube demgegenüber,
dafs das A, so wie es uns gegeben ist, ausschliefslich ein
psychisches Element ist, und stütze die Berechtigung der Be-
zeichnung „psychisch" darauf, dafs es mit allen den individuellen
Zufälligkeiten, sog. Täuschungen usw. behaftet ist, welche nach
der herkömmlichen Bezeichnungsweise das Psychische charakteri-
sieren. Das A hängt einerseits von BCDE und andererseits von
X YZ ab ; sowohl ß CD E wie X YZ sind nur als Empfindungen
gegeben. Durch diese doppelte Abhängigkeit spaltet sich A je-
doch nicht, es bleibt, wie Mach selbst sagt, eines und dasselbe.
Diese doppelte Abhängigkeit würde an sich noch niemals zu
einer doppelten Auffassung des -4 (als eines physikalischen und
eines psychischen Elements) führen, geschweige denn berechtigen.
Mach ist hier mit seiner, erkenntnistheoretischen Analyse auf
halben Wege stehen geblieben. Ich führe diese Analyse in
folgender Weise zum Ziel. Die gegenseitige Abhängigkeit des A
von BCDE ergibt die Kausalgesetze, diese sind nur ein Ausdruck
dieser gegenseitigen Abhängigkeit von ABC DE, Diese Kausal-
hat in seiner Schrift aus dem Jahr 1876 „Philosophie als Denken der Welt
gemäfs dem Prinzip des kleinsten Kraftmafses'' (2. Aufl. 1903, namentlich
8. 53 ff.) die Introjektion noch nicht überwunden.
Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen, 245
gesetze^ ergeben sich exakt jodoch nur nach bestimmten Um-
formungen oder Reduktionen der ABC DE, d. h. nach Ehmina-
tion zahlreicher individueller Eigentümlichkeiten der ABCDE-
Anders die Abhängigkeit zwischen A einerseits und dem him-
phj Biologischen Prozessen X YZ andererseits. Diese Abhängigkeit
ist eine doppelte. Sie zerlegt sich in 2 prinzipiell ganz ver-
schiedene Abhängigkeiten. Erstens ist nämlich der himphysio-
logische Prozefs XYZ von dem A abhängig, populär ausgedrückt :
er wird hervorgerufen von dem A. Diese Abhängigkeit gehorcht
ganz denselben Kausalgesetzen wie die gegenseitige Abhängigkeit
der ABCDE untereinander. Wie die letztere ist sie exakt auch
nur dann festzustellen, wenn ich sowohl das A wie die X YZ in
bestimmter Weise umgeformt oder reduziert habe, d. h. wieder
die individuellen Eigentümlichkeiten eliminiert habe. Solange
mir nur die Empfindung des grünen Blattes in ihrer perspekti-
vischen Verkürzung, in ihrer Beeinflussung durch die zwischen-
liegenden Luftschichten und namentlich durch den Zustand
meines Nervensystems gegeben ist, und solange mir auch die
Empfindung der Sehrinde nur als eine graue aus Ganglienzellen
und Fasern zusammengesetzte Schicht gegeben ist, wiederum
behaftet mit zahllosen individuellen Eigentümlichkeiten und Zu-
fälligkeiten, besteht ein exakter Kausalzusammenhang nicht. Ich
mufs erst alle diese individuellen EigentümUchkeiten eliminieren,
mit dem Physiker an Stelle der Blattempfindung und der Rinden-
empfindung ^ ein von diesen Zufälligkeiten befreites Etwas setzen,
um die kausalen Veränderungen exakt gesetzmäfsig vom Blatt
bis zur Rinde verfolgen zu können. Diese erste Abhängigkeit
zwischen A einerseits und X YZ andererseits entspricht also ganz
der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen AB CDE untereinander.
Dafs sie nicht gegenseitig ist wie die letztere, d. h. dais nicht
auch die X FZ nach dem Kausalgesetze A verändernd beeinflussen,''
erklärt sich aus der Lage von XYZ in unserer Schädelkapsel;
diese Lage erklärt uns gerade nach den Kausalgesetzen ohne
weiteres, dafs die X YZ nicht oder fast nicht kausal verändernd auf
A wirken können.* Prinzipiell ist dieser Unterschied keineswegs.
^ Biese Gesetze sind auch mit den Kräften der Physik identisch. Es
ist noch ein Rest von Scholastik, wenn wir die Kräfte als „Ursachen" von
Bewegungen oder Veränderungen bezeichnen.
' Binde im Sinne des Gen. objectivus.
' Eine Ausnahme bieten z. B. unsere bewufsten, sog. „willkürlichen"
Bewegungen.
246 ^- Ziehen,
Auch unter den ABCDE ist die Abhängigkeit nicht immer
gegenseitig. Die verändernde kausale Wirkimg von B auf A
kann sehr grofs sein, während die verändernde kausale Wirkung
von A auf B zu Null herabsinkt. Die Sonne schmilzt den Schnee,
während der Schnee auf die Sonne keine oder fast keine Wirkung
ausübt. Aufser dieser ersten Abhängigkeit, welche mit der kau-
salen innerhalb der ABCDE identisch ist, ergibt aber die
Analyse sofort noch eine zweite, die prinzipiell verschieden ist.
Unter dem Einflufs von XYZ ändert sich A, Wenn mein Seh-
organ X YZ (im weitesten Sinne) farbenblind ist, ändert sich A.
Wenn ich ein blaues Glas vorsetze und damit die Kausalwirkungen
von A abweichende Veränderungen von X YZ hervorrufen, ändert
sich A, Diese Abhängigkeit ist von der kausalen verschieden.
Sie entspricht nicht den Kausalgesetzen, sondern der spezifischen
Energie der Sinneszentren (im weitesten Sinne). Der wesentUche
Unterschied liegt darin, dafs diese Veränderungen des A nicht
Funktionen der Zeit sind. Der Sonnenstrahl JB, der den Schnee
A schmilzt, braucht dazu eine bestimmte Zeit; ganz ebenso auch
der von dem Schnee A ausgesendete Lichtstrahl, der eine Ver-
änderung (Erregung) in meiner Sehsphäre XYZ hervorruft.
Anders bei der 2. Abhängigkeit. Wenn in meiner Sehsphäre eine
beliebige Veränderung eintritt, so ist mit dieser Veränderung
sofort auch die Veränderung des A gegeben. Die Veränderungen
in der Hirnrinde nehmen kürzere oder längere Zeit in Anspruch,
aber mit einer Veränderung der Hirnrinde ist sofort, in absolutem
ParalleUsmus auch die Veränderung des A gegeben. Diese zweite
Abhängigkeit, welche zwischen A einerseits und XYZ anderer-
seits besteht, habe ich als Parallelgesetzlichkeit ^ bezeichnet. Sie
ist einseitig,* insofern nur A sich imter dem Einflufs von XYZ,
nicht aber XYZ unter dem Einflufs von A verändert. Im Be-
•reich der Parallelgesetzlichkeit ist A stets die abhängige V^ariable,
während im Bereich der Kausalgesetzlichkeit A bald die abhängige
bald die unabhängige Variable und meistens im einen Fall
das eine, im andern das andere ist. Und auch damit ist die
erkenntnistheoretische Analyse nicht erledigt. Es ergibt sich
nämlich nun sofort noch, dafs die obenerwähnten, zur exakten
Darstellung der Kausalgesetzlichkeit erforderlichen Reduktionen
^ Sie ist das Tatsächliche an dem sog. psychophysischen Parallelismus.
' Daher habe ich auch von Rückwirkungen gesprochen im Gegensatz
zu den kausalen primären Einwirkungen der ABCDE auf die XYZ.
ErkenntnistheoreHsche Auseinandersetzungen. 247
oder Eliminationen, welche oben noch nicht näher bestimmt
werden konnten, vollständig zusammenfallen mit der Ausschaltung
eben jener Einflüsse der Parallolgesetzlichkeit.
Damit ist auch erst der wichtigste Ursprung der Unter-
scheidimg des Psychischen und Physischen aufgedeckt. Auch
der naivste Mensch vollzieht die soeben angeführten Reduktionen
oder Eliminationen, allerdings unvollständig, unsystematisch und
oft auch unrichtig. Schon die einfache Tatsache, dafs die
optischen AB CD usw. verschwinden, wenn ich die Augen schliefse,
zwingt efne solche primitive Reduktion geradezu auf. Das Redu-
zierte (die Reduktionsbestandteile) hat man als das Physische
bezeichnet. Die Erkenntnistheorie bestätigt diese Reduktionen
und berichtigt und vervollkommnet sie zugleich mit Hilfe der
Naturwissenschaft. Abgeschlossen sind diese Reduktionen nie-
mals, da wie die Erforschung der Naturgesetze, so auch die Er-
forschung der Parallelgesetze schwerlich jemals vollständig ge-
lingen wird. Die erkenntnistheoretische Reduktion ist von der-
jenigen des naiven Bewufstseins insofern nur graduell verschieden.
In anderer Beziehung befreit sie uns allerdings auch von einem
naheliegenden Irrtum des naiven Bewufstseins, dem Irrtum näm-
lich, als seien diese Reduktionsbestandteile etwas ganz Heterogenes,
welches als Physisches oder Materie dem Psychischen entgegen-
gesetzt werden müfste. Mit der Reduktion ist gar kein quali-
tativ neues Attribut gewonnen worden, sondern nur eine be-
stimmte Komponente, die mehr oder weniger individuelle
Parallelwirkung, eliminiert worden. Es liegt sonach zu einer
solchen gegensätzlichen Gegenüberstellung oder zur Konstruktion
eines ganz heterogenen physischen Etwas nicht die geringste
Berechtigung vor.^
Damit stellt sich das Verhältnis des Psychischen zum
Physischen doch ganz anders dar als in der Darstellung Machs.*
Nachdem ich nunmehr den Unterschied der MACnschen imd
^ Ich erinnere hier auch daran, daüs dieser Gegensatz nicht stets in
dieser Schärfe bestand, sondern im wesentlichen erst durch die Stoiker
und das Christentum eingeführt worden ist. Vgl. Zibhbn, Über die all-
gemeinen Beziehungen zwischen Gehirn und Seelenleben, Leipzig 1902.
* Wie wenig Mach den Unterschied zwischen den Parallelgesetzen und
den Naturgesetzen erkannt hat, ergibt sich z. B. auch aus Mech. in ihrer
Entw. S. 493, wo er die unwesentliche Verschiedenheit des Hungers und
der chemischen Affinität usw. betont.
248 Th, Ziehen.
meiner Darstellung scharf gekennzeichnet habe, würden die
Argumente pro und contra zu vergleichen und damit eine Ent-
scheidung zwischen den beiden Auffassungen herbeizuführen
sein. DaTs rein logische Argumentationen zu einer solchen Enir
Scheidung ungeeignet sind, bedarf heute keines Beweises mehr.
Es kann sich nur darum handeln, die beiden Auffassungen nach-
und mitzudenken und zu vergleichen, welche die gesamten
empirischen Daten vollständiger und widerspruchsloser^ in all-
gemeinen, möglichst einfachen^ Sätzen wiedergibt. Legt man
diese Kriterien ' zugrunde, so glaube ich, dafs meine Atiffassung
den Vorzug verdient. Die MACHsche Auffassimg* ist unvollständig :
sie berücksichtigt die tatsächhche totale Verschiedenartigkeit der
Abhängigkeiten zwischen den ABC DE . . . XYZ nicht und
verweist uns statt dessen in unklarer Weise nur auf die Ver-
schiedenheit von BCDE einerseits und XYZ andererseits, zu
denen A in Abhängigkeitsbeziehungen steht.
In einem in den Ann, d, Naiurphilos. erscheinenden Aufsatz
habe ich neuerdings den Wesensunterschied zwischen den beiden
Gresetzlichkeiten, der Natur- und der Parallelgesetzlichkeit noch-
mals erörtert und die Wege zur Feststellimg der Parallelgesetze
gezeigt. Ein oberes, allerdings hypothetisches Parallelgesetz habe
ich an derselben Stelle zu entwickeln versucht.
Mach hat seine erkenntnistheoretischen Anschauungen
nirgends systematisch weiter ent¥^ckelt. Nur ip zwei Richtungen
hat er einen weiteren Ausbau versucht, nämlich bezüglich der
* Aus der Vollständigkeit und Widersprucbslosigkeit ergibt sich ohne
'weiteres auch das AvENABiussche Kriterium (Kr. der r. Erf. Nr. 848): die
Haltbarkeit, d. h. die Erfüllung von Erwartungen.
' Diese Einfachheit entspricht dem MACHSchen Prinzip der Ökonomie
des Denkens. Über die Geschichte dieses Prtnzipes ist P. Volkmakn zu
vergleichen.
' Auch die von RiSMAiiii für die Naturwissenschaft gegebene Definition
„als Versuch die Natur durch genaue Begriffe aufzufassen*' (Ges. math.
Werke und wissensch. NachiaTs, Leipzig, 1876, S. 489) deckt sich mit diesen
Kriterien.
*• Auch Machs letztes Werk (£. u. I. S. öff.) bringt in diesem Punkt
keinen Abschlufs, Er drückt sich nnr wesentlich vorsichtigeT aus, indem
er nicht mehr das Psychische und das Physische identisch setzt, sondern
nur behauptet (S. 9\ dafs beide gemeinsame Elemente enthalten. Auch
findet sich hier die Bemerkung (^S. 21\ dafs das Empfinden zugleich physisch
und psychisch sei.
ErkcnntnxBtheoreixBche Auseinandersetzungen. 249
Zeit- und Raumanschauung. Auf diese beiden Punkte wird sich
daher meine folgende Auseinandersetzung speziell noch richten.
Zum Schlufs werde ich dann noch kurz auf die MAcnsche Auf-
fassung des Massenbegriffes, soweit sie erkenntnistheoretisches
Interesse hat, eingehen.
c) Zeitanschauung nach Mach.
Mach knüpft seine wichtigsten Erörterungen über die Zeit-
anschauung an eine Kritik der NEWTOKschen Zeitlehre an (Die
Mechanik in ihrer Entwicklung, 4. Aufl., 1901, S. 232). Aufser-
dem ist er in seinem neuesten Werk nochmals auf die Zeitfrage
zurückgekommen (E. u. I. S. 415 ff.). Ich lege dem Folgenden
zunächst vorzugsweise seine ältere Darstellung zugrunde.
Mach verwirft die NEWTONsche Lehre, derzufolge zwischen
einer absoluten (wahren, mathematischen) und einer relativen
(scheinbaren, gewöhnlichen) Zeit zu unterscheiden ist. Ins-
besondere wendet er sich gegen die Annahme einer „absoluten
Zeit" ; er behauptet : „wenn ein Ding A sich mit der Zeit ändert,
so heifst dies nur, die Umstände eines Dinges Ä hängen von
den Umständen eines anderen Dinges B ab" (S. 233). Ebenso
heilst es in E. und L, S. 426: „in physikalischer' Hinsicht sind
Zeit und Raum besondere^ Abhängigkeiten der physikalischen
Elemente voneinander. Hierin liegt meines Erachtens der Grund-
irrtum der MACHschen Zeitlehre. Schon ein ganz einfaches Bei-
spiel lehrt, dafs die MACHsche Erklärung zu weit ist oder, wenn
M. den Nachdruck auf die Besonderheit der Abhängigkeit
legt, ganz unbestimmt ist, da diese Besonderheit nicht angegeben
wird. Die Stellung eines zweiarmigen Hebels hängt von der
Achsenreibung, der Länge der Hebelarme und den beiden
Gewichten ab. Trotz dieser gegenseitigen Abhängigkeit ist keine
Zeit gegeben. Jedes beliebige statische Verhältnis beweist
uns dasselbe. Die Zeit kommt — populär ausgedrückt — erst
hinzu, wenn die Gleichgewichtslage eine bestimmte Zeit dauert.
Daraus ergibt sich ganz unzweideutig, dafs die einfache Abhängig-
keit schlechthin jedenfalls zur Erklärung der Zeit nicht genügt.
* ^Physikalisch" ist hier im Gegensatz zu phj'siologisch gemeint.
* Die Beifügung des Wortes „besondere" unterscheidet diese Erklärung
von der älteren, Mach kommt aber auf die Besonderheit dieser Abhängigkeit,
wie sie im folgenden sich ergeben wird, nicht zu sprechen.
>
260 Tli, ZUlien
Aber andererseits ist die MACHsche Definition auch zu eng : es
ist nämlich die von ihm geforderte Abhängigkeit nicht immer
notwendig. Man denke sich eine isoUerte, von anderen Dingen
in keiner Weise beeinflufste Kugel A, die in beliebigem Rhythmus
die Farbe ihrer Oberfläche ändert. Sicher müfsten wir diesem
Prozefs einen zeitUchen Verlauf zuschreiben, obwohl das Ding A
hier vollkommen isoliert ist, also keinerlei Abhängigkeit von
anderen Dingen vorliegt. Mach wird hiergegen einwenden, dafs
ein solcher Prozefs nicht tatsächlich vorkommt. Demgegenüber
mufs ich jedoch hervorheben, dafs uns in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle zunächst gerade solche scheinbar unbeein-
flufste, isolierte zeithche Prozesse gegeben sind, und dafs wir
erst nachträglich die physikalischen Abhängigkeiten festgestellt
haben. Nun ist ja allerdings die Annahme zulässig, dafs diese
physikalischen Abhängigkeiten durchgängig, d. h. allgemein
vorhanden sind. Deshalb ist es jedoch ohne besonderen Beweis
nicht zulässig, diese durchgängige physikahsche Abhängigkeit
einfach mit der physikalischen Zeit zu identifizieren. Das Onus
probandi hegt hier offenbar Mach ob. Die Zeit spielt bei vielen
physikaUschen Abhängigkeiten eine Rolle, aber sie ist mit diesen
Abhängigkeiten nicht identisch.
Ich will zur Illustrierung dieser Sätze noch ein anschauliches
Beispiel geben. Eine Kugel bewege sich geradlinig unter dem
Einflufs einer Kraft K mit beschleunigter Geschwindigkeit. Für
diese Phase könnte man die MACHsche Zeitauffassung noch
eventuell gelten lassen. Nun höre im Augenblick x die Kraft
K plötzUch auf zu wirken. Dann wird die Kugel der Trägheit
zufolge sich mit der im Augenblick x erlangten Endgeschwindig-
keit gleichmäfsig geradlinig fortbewegen. Die Abhängigkeit von
K ist geschwunden. Sollen wir nun wirklich dieser Fortbewegung
keine Zeit mehr zuschreiben ? Der Charakter der Bewegung hat
sich geändert, aber die Zeit ist doch nicht weggefallen. Mach
wird auch hiergegen vielleicht einwenden, dafs es unzulässig sei
bei der Beobachtung der Kugel die Abhängigkeit von der Lage
der Erde (Mech. in ihrer Entw. S. 233) unbeachtet zu lassen,
und dafs die letztere Abhängigkeit auch während der 2. Phase
der Kugelbewegung vorhanden sei. Demgegenüber würde ich
fragen : also, wenn wir auf einer unbewegten, von anderen Welt-
körpem nicht umgebenen Erde uns befänden, würde plötzlich
die Zeit für die 2. Phase jener Kugelbewegung verschwinden?
Erkenntnistheoretische Äuseiiianderseizungen, 251
Ich glaube, auch Mach würde Bedenken tragen, diese Frage zu
bejahen.
Mach könnte auch fragen, warum ich nur Exempla ficta
— ficta, insofern eine tatsächUch niemals vorhandene Isolierung
des als Beispiel gewählten Prozesses vorausgesetzt wird — bei-
bringe. Der Grund hegt in der oben bereits hervorgehobenen
durchgängigen allgemeinen Abhängigkeit der physikahschen
Prozesse, selbst der entferntesten, untereinander. Wenn das aber
genügte, um die Zeit mit dieser allgemeinen gegenseitigen Ab-
hängigkeit zu identifizieren, so könnte man jede andere allgemeine
Eigenschaft der Dinge (z. B. Temperatur) mit demselben Recht
mit dieser Abhängigkeit identifizieren. Das Onus probandi läfst
sich also nicht abschütteln.
Ich fasse diese Erörterung dahin zusammen: es gibt
erstens Abhängigkeiten AB ohne Zeit und zweitens
auch Zeit ohne Abhängigkeiten; ergo ist die Zeit
nicht mit der Abhängigkeit AB identisch, und die
Ändern ngvon^mit derZeit darf nicht identifiziert
werden mit der Abhängigkeit AB.
Recht hat Mach hingegen natürlich insofern, als er behauptet,
dafs eine „absolute Zeit" „an gar keiner Bewegung abgemessen
werden kann" (S. 234). Es erhebt sich vielmehr jetzt auch für
uns die Frage, welchen Sinn Newtons absolute Zeit etwa hat,
nachdem Machs Zeitaüffassung sich nicht bewährt hat.
Der erkenntnistheoretische Fundamentaltatbestand ist uns
bereits als eine Sukzession von Empfindungen und Vor-
stellungen gegeben. Die Zeitlichkeit ist sonach eine allgemeine
Eigenschaft des ursprünglich Gegebenen. Eine leere Zeit^
existiert nicht. Bei dem erkenntnistheoretischen Prozefs der
Reduktion haftet die Zeithchkeit am Reduktionsbestandteil. Sie
erweist sich dabei von der KausalgesetzUchkeit vöUig unabhängig.
Wo sie in den Kausalgesetzen figuriert, ist sie stets die unab-
hängige Variable. Irgend eine Definition oder Erklärung für sie
zu geben ist selbstverständhch ganz ausgeschlossen. Man kann
die zeitliche Ordnung, die Sukzession nur durch Erleben kennen
lernen, nicht aus irgendwelcher Definition.
Damit ist schlechterdings bereits die Allgemeinauffassung
' Offenbar schwebte Newton eine solche leere Zeit bei seiner absoluten
Zeit vor.
252 Th, Ziehen.
der physikalischen Zeit erschöpft. Nur zwei auch von Mach
besprochene Einzelbeziehungen bedürfen noch einer besonderen
Besprechung: erstens die Richtung und zweitens das Mafs
des Zeitablaufs.
Ich beginne mit der Richtung des Zeitablaufs. Mach
sagt in bezug auf diese (Mech. in ihrer Entw., 4. Aufl., S. 235):
„Wenn wir sagen, dafs die Zeit in einem bestimmten Sinn ab-
läuft, so bedeutet dies, dafs die physikalischen (und folglich
auch die physiologischen) Vorgänge sich nur in einem bestimmten
Sinn vollziehen. Alle TemperaturdiflEerenzen, elektrischen Diffe-
renzen, Niveaudifferenzen überhaupt werden sich selbst über-
lassen nicht gröfser, sondern kleiner. Betrachten wir zwei sich
selbst überlassene, sich berührende Körper von ungleicher
Temperatur, so können nur gröfsere Temperaturdifferenzen im
Erinnerungsfelde mit kleineren im Wahrnehmimgsfelde zu-
sammentreffen, nicht umgekehrt. In allen diesem spricht sich
durchaus nur ein eigentümlicher tiefgehender Zusammenhang
der Dinge aus." Auch dieser Argumentation kann ich nicht
beistimmen. Die von Mach angezogene entropische Nivellierungs-
tendenz aller physikalischen Prozesse ist eine höchst interessante
Tatsache der Kausalgesetzlichkeit in ihrer Beziehung zum Zeit-
ablauf, d. h. in ihrer Abhängigkeit von t, sagt aber über den
Ablauf von t selbst gar nichts aus. t würde ebenso „ablaufen",
auch wenn diese Nivellierungstendenz nicht bestände. Wir
können sie wegdenken, ohne in unserer Vorstellung des Zeit-
„ablaufs" irgend etwas ändern zu müssen.^ Die Behauptung,
dafs der Ablauf der Zeit in einer bestimmten Richtimg mit
dieser bestimmten Richtung der physikalischen Vorgänge iden-
tisch sei, schwebt ganz in der Luft.
An Stelle der MACHschen Argumentation ist vielmehr folgende
zu setzen. In der gegebenen, als nicht weiter erklärbar einfach
hinzunehmenden Sukzession der physikalischen Vorgänge (richtiger
der Reduktionsbestandteile) zeigt sich eine merkwürdige Ab-
hängigkeit von t t selbst läuft überhaupt nicht ab, schon des-
halb, weil es vöUig inhaltlos ist. Nur unseren Empfindungen
und Vorstellungen und den physikalischen Vorgängen als deren
* An sich iet diese Probe mit dem Wegdenken gewifs nicht ent-
scheidend, aber sie zeigt uns gewifs soviel, daTs die MACHsche Identifikation
zweifelhaft und beweisbedürftig ist, und nun bleibt noch dazu jeder Be-
weis aus.
Erkenntnistheoretische Auseinandeisetzungen. 253
Reduktionsbestandteilen kommt ein „Ablauf" zu. Dieser Ablauf
der physikalischen Prozesse bedeutet aber, wenn wir die später
zu erörternden quantitativen Beziehungen einstweilen beiseite
lassen, zunächst nur die Sukzession in einer bestimmten Reihen-
folge, nämlich derjenigen, die uns tatsächlich gegeben ist. In
den Gesetzen, die wir aus dieser Reihenfolge abstrahiert haben,
•und die, wie wir dann sagen, diese Reihenfolge bestimmen, zeigt
sich mm eine merkwürdige allgemeine Beziehung zu t, die jetzt
etwas genauer erörtert werden soll.
Fällt eine Kugel aus der Höhe Xj in senkrechter Richtung
unter dem ausschliefslichen Einflufs der Schwerkraft g und ohne
jede Anfangsgeschwindigkeit, so läfst sich für jedes t nach dem
bekannten Fallgesetz die Höhe -X, angeben, bis zu welcher die
Kugel nach den bez. t Sekunden gefallen ist. Bei vollständig
gegebener Anfangssituation und bekanntem Gesetz läfst
sichjede <- Situation (Folgesituation, Schlufssituation) berechnen.
Letztere ist, wie wir etwas mifsverständlich sagen, „eindeutig
bestimmt".* Wir wollen nun die Frage umkehren: Vollständig
gegeben sei die Schlufssituation der Kugel in -Xg, also vor allem die
auf der Höhe X^ erlangte Endgeschwindigkeit v; femer sei bekannt,
dafs unter dem ausschliefslichen Einflufs der Schwerkraft g durch
Fall in senkrechter Richtung ohne Beteiligung einer Anfangs-
geschwindigkeit der Punkt X^ erreicht worden ist ; dann können
wir auch rückläufig für jedes kleinere t die Höhe X berechnen:
sie ist „eindeutig bestimmt" (s = -^ <^|, und wir können ebenso
auch die bestimmte Höhe X^ angeben, in welcher der Fall be-
gonnen hat (s ^ ^j. In diesem speziellen Beispiel läfst sich
also nicht nur die Folgesituation aus der Ausgangssituation,
sondern auch diese aus jener ableiten. Auch die Wirkung hat
in diesem Fall nur eine eindeutig bestimmte Ursache.- Die
^ Dies Eindeutig-bestimmt-sein bedeutet tatsächlich nichts anderes, als
dafs tatsflrchlich die Dinge immer nur eine Veränderung (nicht zugleich
zwei) durchmachen, und dafs diese Veränderung einzigartig ist (im Sinne
von Pbtzoldt).
• Auf die MACHsche Kritik des Ursachenbegriffs (vgl. auch E. u. I.
S. 273 ff.) kann ich hier nicht eingehen. Viele Einwände Maohs fallen,
wenn man, wie dies unerläfslich ist, als Ursache stets die Gesamt Situation
im Augenblick 1 (streng genommen die „Welt"situation) und als Wirkung
die Gesamt Situation im Augenblick 2 bezeichnet.
>
254 TIl Ziehen.
Berechenbarkeit ist für fortschreitende und für rückschreitende
^'s ganz ebenso gegeben.
In der übergrofsen Mehrzahl der Fälle trifft dies jedoch
nicht zu. Schon wenn ich in dem soeben angeführten Beispiel
der Kugel eine bestimmte Anfangsgeschwindigkeit a gebe, ge-
staltet sich die Berechenbarkeit für fortschreitende und für rück-
schreitende <'s verschieden. Für fortschreitende f 's, bei gegebener
Anfangssituation und bekanntem Gesetz ist sie noch immer ganz
ebenso vorhanden (5 = o^ -|- ^tA- Für rückschreitende ^*s hin-
gegen, also bei gegebener Schlufssituation (oder gegebenem v) und
bekanntem Gesetz läfst sich die Anfangssituation nicht berechnen :
sie ist nicht eindeutig bestimmt. Ebensowenig kann ich be-
rechnen, wo sich vor beliebigen t Sekunden die Kugel befunden
hat. Sowohl die Gleichung * v =^ a -^ gf wie die Gleichung
s := at + ^ t^ enthalten zwei Unbekannte und sind daher nicht
auflösbar. Die rückläufige Berechenbarkeit fehlt hier also. Nur
die fortschreitenden fs ergeben eindeutig berechenbare Situationen.
Damit ist in der Tat erfahrungsmäfsig eine merkwürdige
Beziehung der Kausalgesetze zur f-Reihe festgestellt. Dies hat
jedoch gar nichts mit der Richtung des Ablaufs der t-Reihe zu
tun — die letztere läuft überhaupt nicht ab — , sondern es handelt
sich nur um eine merkwürdige Eigenschaft des Ablaufs der
physikalischen Prozesse mit Bezug auf die ^Reihe. Da die so-
eben besprochene Beziehung hiernach auch gar nichts zur Er-
klärung der /-Reihe beitragen kann, so erscheint auch das all-
gemeine Programm einer künftigen Mechanik, welches Mach
S. 269 andeutet, ganz unausführbar. Die von Mach speziell
hervorgehobene allgemeine Nivellierungstendenz der physika-
lischen Vorgänge mit wachsenden t ist schon deshalb von ge-
ringerer Bedeutung, weil nicht alle physikahschen Vorgänge auf
Niveaudifferenzen beruhen oder wenigstens zurzeit noch nicht
sich auf solche zurückführen lassen.^ Jedenfalls ist aber auch
* f bedeutet hier die seit Beginn des Falles verflossene Zeit, t eine
variable bis zum Erreichen der Höhe X, verflossene Zeit.
* Der Versuch Machs, die Geschwindigkeit als einen physikalischen
Niveauwert zu deuten i^Mech. in ihrer Entw. S. 357», scheint mir nicht ge-
lungen ; wenigstens könnte die Geschwindigkeit nur in ganz anderem Sinne
als Xiveauwert aufgefalst werden als s. B. die Temperatur.
Erkenntnistheoretische Äuseinatidersetzungen. 255
diese Eigenaxtigkeit weder mit t identisch noch zur Erklärung
von t oder auch nur zur Erklärung einer bestimmten Ablaufs-
richtung von t irgendwie geeignet. Auch hier handelt es sich
nur um eine interessante Beziehung der Kausalgesetze zur f-Reihe.
Gegen das verführerische Gleichungsbild, welches Mach j
S. 235 u. 536 (Mech. in ihrer Entw.)^ einführt, sind bei dieser m
Sachlage gleichfalls erhebliche Bedenken gerechtfertigt. Unter
den gleichzeitigen Dingen bestehen an sich überhaupt keine durch
Gleichungen ausdrückbaren gesetzlichen Beziehungen (abgesehen
natürlich von den rein geometrischen). Die Gesetze der Statik,
welche man vielleicht gegen diese Behauptung ins Feld führen
könnte, geben uns nicht an, warum eine bestimmte Lage besteht,
sondern nur, warum sie sich nicht ändert. Alle in Gleichungen
ausdrückbaren Gesetze beziehen sich auf die Sukzession zweier
Situationen, und diese Sukzession wird im Sinne der oben durch-
geführten Überlegungen für wachsende fs eindeutig bestimmt.
Stillschweigend enthalten daher auch alle Gesetze t Das Gesetz
der statischen Momente für den Hebel lautet freilich in der üb-
hchen Form: p^Z^ =zp^l^^ so dafs von t nicht die Rede ist. Der
Sinn des Gesetzes ist jedoch ein anderer, nämlich folgender:
wenn das Verhältnis p^ l^ = p^ \ besteht, so jfindet mit wachsendem
t keine Lageveränderung statt.* Die VeränderHchkeit der Natur
beruht nicht, wie Mach glaubt, darauf, dafs die Zahl der
Gleichungen, denen n Gröfsen genügen, kleiner ist als «, sondern
darauf, dafs bislang ein AUgemeinzustand nach Analogie des
p^ l^ =p^l^ noch nicht erreicht ist.^
Zweitens wäre das Mafs des Zeit„ablaufs" zu besprechen.
Es ist zweifellos, dafs ein absolutes Zeitmafs nicht existiert. Ich
glaube auch nicht, dafs Newton bei seiner absoluten Zeit an ein
solches gedacht hat. Ein solches könnte ganz im Sinn der ab-
' Vgl. auch Die Prinzipien der Wärmelehre S. 325.
* Dies steht mit den Erörterungen S. 249 natürlich nicht in Widerspruch,
Dort hiefs es : mit einer gegenseitigen Abhängigkeit, wie sie das Hebelgesetz
in seiner statischen Fassung ausdrückt, ist die Zeit noch nicht gegeben.
Jetzt heifst es: der Sinn des Gesetzes geht dahin, dafs, wenn in diesem
Fall ein Zeitablauf hinzukommt, keine' Lage Veränderung eintritt.
' Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant zu erwägen,
dafs ein homogener zentrierter Zustand (im Sinne etwa der LAPLACEschen
Theorie) niemals zu der jetzt uns gegebenen asymmetrischen, nicht zen-
trierten Welt hat führen können. Er ist als Anfangssituation — in der
üblichen Fassung wenigstens — ausgeschlossen.
»
256 ^^*- Ziehen.
soluten Marseinheiten von Gauss doch eben nur aus den beiden
anderen Grundeinheiten (Masse und Länge) abgeleitet sein. Eine
solche Ableitung ist aber bekanntUch nicht möglich.^ Im übrigen
ist nicht abzusehen, weshalb irgend ein bestimmter in der Zeit
ablaufender Prozefs vor irgend einem anderen den Namen eines
absoluten verdienen und deshalb als absolutes Zeitmafs Ver-
wendung finden sollte. Mach hat (Prinz, d. Wärmelehre S. 338 ;
vgl. auch Mech. in ihrer Entw. S. 237) die Ansicht ausgesprochen,
dafs die Entropie des Weltalls, wenn sie überhaupt bestimmt
werden könnte, eine Art absoluten Zeitmafses darstellen würde.
Dabei müfste aber die Endlichkeit des Weltalls in räumhcher
Beziehung vorausgesetzt werden und damit ein absolutes Raum-
mafs, Voraussetzungen, die jedenfalls nicht unbedenklich sind.
Man kann diese Überlegung auch durch den Satz ausdrücken :
der Zeitablauf selbst vollzieht sich als Reihe ohne bestimmtes
Mafs, man darf dabei nur nicht vergessen, dafs ein leerer Zeit-
ablauf eben gar nicht existiert. Will man sich doch ein Bild
von der Zeit losgelöst von den Objekten machen, so wäre höch-
stens ein Vergleich mit der Reihe der Zahlen statthaft, ein
Vergleich, der allerdings im Hinblick auf die psychologische Er-
werbung der Zahlvorstellungen mehr als einen Vergleich bedeutet.
Auch die Zahlenreihe läuft ohne fixierte Geschwindigkeit ab,
auch die Zahlen sind nur Eigenschaften der Objektreihen usf.
d) Raumanschauung nach Mach.
Mach unterscheidet in seinem Hauptwerk (A. d. E.) den
geometrischen Raum und das System unserer Raumempfindungen,
den physiologischen Raum. Er nimmt an (S. 140), dafs unsere
geometrischen Begriffe sich durch räumliche Vergleichung der
Körper, der -45Cuntereinander ergeben, dafs dagegen unsere
Raumempfindungen durch die Abhängigkeit der Elemente ABC
^ Die bekannte HELMHOLTzsche Ableitung einer Zeiteinheit aus der
dritten KspLERSchen Kegel bzw. aus dem Gravitationsgesetz (vgl. Wiss. Abb.
2, S. 996) kann nicht als eine solche gelten, da sie die Gravitationskonstante
enthält, die selbst dreidimensional ist. Dabei möchte ich bemerken (vgl.
auch VoLKHANN, Einführung in das Studium d. theoret. Physik usf. Leipzig
1900, S. 102), dafs die Längeneinheit in der Attraktionsformel I - ^^ * j mit
dem l der Dimensionsformeln nicht schlechthin identifiziert werden darf.
ErkenntnistheoretUche Auseinandersetzungen. 257
von den Elementen unseres Leibes KLM bestimmt sind.^ Es
empfiehlt sich bei der Diskussion dieser Lehre die einzekien
Sätze, aus welchen sie zusammengesetzt ist, zu trennen.
Erstens behauptet Mach, dafs besondere Raumempfin-
dungen existieren, während ich mit vielen anderen nur räumliche
Eigenschaften der Empfindungen gelten lasse. Mach teilt
geradezu z. B. die Gresichtsempfindungen in Farbenempfindungen
und Raumempfindungen ein. Dabei gibt er selbst zu (S. 84),
dafs beide wohl voneinander unterschieden, aber nicht isoliert
voneinander dargestellt werden können. Aber auch mit dieser
Einschränkung ist die MACHsche Einteilung der Gesichtsempfin-
dungen in Farbenempfindungen und Raumempfindungen irre<
führend, weil bei ihr die Tatsache nicht zum Ausdruck kommt,
dafs die Farbenempfindung ausschUefslich ein Spezialfall der
Gesichtsempfindung ist, während Raumempfindungen auch den
Berührungsempfindungen und den kinästhetischen Empfindungen,
wahrscheinlich sogar allen Empfindungen zukommen. Die Gegen-
überstellung hätte daher lauten müssen „Qualitätsempfindungen
und Raumempfindungen", und hierfür war alsdann im Hinblick
auf ihre von Mach selbst zugestandene ' Untrennbarkeit zu setzen :
„Quahtät und räumliche Anordnung als Eigenschaften der Emp-
findung".
Zweitens behauptet Mach, dafs die Raumempfindung in
bestimmter Weise „mit motorischen Prozessen zusammenhängt"
(A. d. E. S. 105), dafs die willkürKche Augenbewegung ganz oder
teilweise die Raumempfindung zu ersetzen vermag und mit ihr
gleichartig ist (ebd. S. 105 imten), dafs der Wille, Blickbewegungeu
auszuführen, oder die Innervation (?) die Raumempfindung selbst
ist (ebd. S. 107 u. 129 u. 137). Erläuternd ist hierzu noch zu
bemerken, dafs Mach besondere zentral entstehende Innervations-
^ Die Darstellung Machb in seinem letzten Werk (E. u. I. S. 331 ff.)
bringt nichts wesentlich Neues. Die Bemerkungen S. 337 ff. über das Ver-
hältnis des geometrischen Raumes zum physiologischen sind in vielen Be<
siehungen sehr aufklärend, nur ist die Erklärung der Raumempfindungen aus
Organempfindungen (S. 339) eine Diallele und sonach mifslungen. Das ein-
zelne Elementarteilchen müfste eine Selbstempfindung seiner Lage haben 1
Übrigens gibt Mach zu, dafs er nur eine physiologische Umschreibung des
psychologisch Beobachteten gibt; indes sind solche Selbstempfindungen der
Lage alles andere eher als eine zweckmäfsige physiologische Umschreibung.
Hier rächt sich eben das Fehlen der Erkenntnis des Parallelgesetzes.
> Z. B. auch A. d. E. S. 142.
Zeitsohrift f&r Psychologie 4t. 17
258 Th. Ziehen.
empfindungen nicht annimmt (ebd. S. 136) und die Willens-
bewegung im Prinzip, wie ich, als eine „durch Erinnerungen
modifizierte Reflexbewegung" (S. 133) auffafst. Leider kann ich
mich den soeben angefühi-ten Sätzen Machs gröfstenteils nicht
anschliefsen. Dafs bei unserer empirischen Orientierung im
Raum motorische Prozesse eine Rolle spielen, ist richtig. Die
bekannte BBOWN-LoTZEsche Hypothese^ über die Bedeutung der
Bewegungsvorstellungen für die Lokalisation der Empfindungen
gibt diesen Zusammenhang der Raumeigenschaft der Emp-
findungen und der motorischen Prozesse wahrscheinlich richtig
wieder. Der von Mach behauptete Zusammenhang existiert
hingegen meines Erachtens nicht. Mach stützt sich dabei in
letzter Linie auf folgenden S. 105 von ihm beschriebenen Ver-
such.* Wenn ich ein Objekt A fixiere, so dafs es sich auf der
Macula lutea in m abbildet, so erscheint mir ein oberhalb A
gelegenes Objekt B^ welches sich auf der Netzhaut in einer be-
stimmten Tiefe xmterhalb der Macula lutea z. B. in g abbildet,
in einer gewissen Höhe. Erhebe ich nun den Blick und fixiere
z. B. ein zwischen A und B gelegenes Objekt (7, so kommt daa
Netzhautbild von B nicht mehr auf g^ sondern auf eine Netz-
hautstelle zwischen m und g, etwa h zu liegen. Entspricht nun
dieser aufwärts gerichteten Verschiebung des Netzhautbildes dea
Objektes B von g nach h eine abwärts gerichtete Scheinbewegung^
des Objektes B oder bleibt B ruhig? Mach behauptet, dafs B'
ruhig bleibt, und schliefst eben hieraus, dafs die willkürliche
Augenbewegung, im Gegensatz zu reflektorischen und passiven
Augenbewegungen, die Höhenempfindung ganz oder teilweise zu
ersetzen vermag, mit ihr gleichartig ist, kurz gesagt, algebraisch
mit ihr sumnaierbar ist. Demgegenüber mufs ich durchaus be-
streiten, dafs B seine frühere Höhe beibehält, also ruhig bleibt.
Da es sich um indirektes Sehen handelt, ist die Beobachtung
natürlich erheblich erschwert, indes bei einiger Übung erscheint
mir das Ergebnis doch ganz unzweifelhaft: B senkt sich.
Aufserdem beweist auch wohl die Tatsache, dafs nach dem
Wechsel des Fixationspunktes Objekte oberhalb C im Sehraum
^ Es ist vielleiclit nicht überflüssig hervorzuheben, dafs schon Bbrkblbt
und Htjue diese Bedeutung der Bewegungsvorstellungen angedeutet haben.
' Bei der Wiedergabe des Versuches habe ich die Buchstaben-
bezeichnungen zur Erleichterung des Verständnisses etwas anders als Mach
gewählt.
Erketintnistheoretische Atuettiandersetzungm, 259
hinzugekommen sind, welche vor dem Wechsel des Fixations-
pimktes nicht sichtbar waren, schon genügsam, dafs B sich gesenkt
haben mufs. Es besteht also gar keine Nötigung, wie Mach S. 137
sagt: anzunehmen, dafs die Raum werte unseres Sehraumes auch
von den Koordinaten des Blickpunktes abhängen. — Der zweite
von Mach angegebene Versuch (S. 106) ist nach meiner Er-
fahrung überhaupt nicht in exakter und konstanter Weise aus-
zuführen. Je nachdem die Kittmasse sich den Augäpfeln an-
schliefst, und je nachdem der Blickversuch nach rechts mehr oder
weniger forciert wird, fällt der Versuch verschieden aus. Auch
James ist der zweite MACHsche Versuch nicht gelungen. Für die
Behauptung Machs, dafs bei willkürlichen Augenbewegungen
keine Verschiebung der Objekte eintrete, beweist er übrigens
überhaupt nichts. Endhch gibt Mach einen dritten Versuch an
(S. 107), dessen Ausfall ich bestätigen kann, während ich ihn
ganz anders deute. Betrachtet man in einem recht dunklen
Zimmer ein Licht A und führt dann eine rasche Blickbewegung
nach einem tieferstehenden Licht B aus, so scheint A einen rasch
verschwindenden Schweif nach oben zu beschreiben. Mach be-
hauptet, der Schweif sei ^.selbstverständlich ein Nachbild, welches
erst bei Beendigung oder kurz vor Beendigung der Blickbewegung
zum Bewufstsein komme, jedoch, was eben merkwürdig sei, mit
Ortswerten, welche nicht der neuen Augenstellung und Inner-
vation, sondern noch der früheren Augenstellung und Innervation
entsprechen.^ Ich halte den bezüglichen Schweif gar nicht für
ein Nachbild, sondern einfach für die Scheinbewegung des Lichtes
A, welche infolge der Verschiebung seines Bildpunktes notwendig
so eintreten mufs. Übrigens hat auch Lipps die MACHsche Deutung
angefochten. Dabei gebe ich gerne zu, dafs in dem ersten Mach-
schen Versuch gelegentlich unter dem Einflufs der Vorstellung
des gewöhnlich mich umgebenden festen Erdraumes mit fest-
stehenden Objekten von der Scheinverschiebung des Objektes
abstrahiert wird — wir haben genug derartige Beispiele, in
welchen wir Scheinverschiebungen mit Hilfe der Vorstellung
eben ihrer Scheinbarkeit ignorieren — , aber das ist eine sekundäre
Vorstellungsarbeit, welche mit dem einfachen Empfindungsprozefs
nichts zu tun hat. Unsere Bewegungsvorstellungen sind in
gewissem Sinne den Höhenempfindungen summierbar, keineswegs
aber unsere bewufsten Bewegungen als solche.
Auch die Beziehungen der Kopf bewegungen zur räumlichen
17*
260 Th, Ziehen.
Lokalisation hat Mach meines Erachtens nicht richtig wieder-
gegeben. Mach untersucht zuerst den übrigens tatsächlich fast
niemals verwirklichten Fall, dafs bei einer Kopfdrehung ohne
absichtliche Fixation eines Objektes die Augen wie reibungslose
träge Massen an der Drehbewegung sich nicht beteiligen, und
behauptet, dafs hierbei die Objekte ruhig bleiben (S. 108). Ich
mufs hier wiederum die tatsächliche Richtigkeit der Beobachtung
bestreiten. Für mich erfolgt bei demselben Versuch meist eine
sehr deutliche gegensinnige Scheinbewegung der Objekte. Tat-
sächlich wird nämUch der Hergang gestört durch die bekannten
begleitenden, vorwiegend im Sinne der Kopfdrehung erfolgenden
Augenbewegungen; aufserdem wird der Bulbus infolge von Reibung
bei der Drehung des Kopfes doch wohl auch etwas mitgeschleppt.
Die begleitenden Augenbewegungen sind im übrigen bei will-
kürlichen Kopfbewegungen ziemUch kompliziert. Nicht selten
eilt sogar eine gleichsinnige Augenbewegung überkompensierend
der Kopfbewegung voraus und mufs dann zum Teil wieder rück-
gängig gemacht werden, seltener entspricht sie der Kopfbewegung
wenigstens annähernd. Andererseits können zuweilen auch
Fixationsbewegungen nicht so vollständig unterdrückt werden, wie
es die Versuchsanordnung vorschreibt. Ein zu Anfang des Ver-
suches in der Fixationslinie gelegenes Objekt übt zuweilen doch
einen Fixationsreiz während der Kopfbewegung aus, so dafs
Innervationen erfolgen, die der letzteren gegensinnig sind. Dazu
kommt schliefshch der oben bereits erwähnte korrigierende Ein-
flufs unserer Bewegungsvorstellungen, wie sie in diesem Fall der
Vestibularapparat vermittelt. So erklärt sich, dafs der Versuch
sehr inkonstant ausfällt, dafs zuweilen auch die entgegengesetzte
Scheinbewegung beobachtet wird oder unter dem Einflufs von
Bewegungsvorstellungen vom Beobachter in der Vorstellung kon-
struiert wird. Jedenfalls ist der Versuch ganz ungeeignet die
prinzipielle Frage der Bedeutung der räumlichen Eigenschaften
der Empfindung irgendwie aufzuklären. Übrigens scheint Mach
in seinem neuesten Werk (E. u. I.) auf diese ganze hier unter 2
besprochene Auffassung der Raumempfindungen (als identisch
mit Innervationen) verzichtet zu haben oder wenigstens kein
Gewicht mehr zu legen. Was er freiüch jetzt an die Stelle setzt,
kann ich, wie oben (S. 267, Anm. 1) erörtert, erst recht nicht aner-
kennen.
Nach meiner Auffassung gehören gerade die räumlichen
Erkenntniatheoretische Auseinandersetzungen. 261
Eigenschaften der Empfindung durchweg dem Beduktionsbestand-
teil an. Da meine Erkenntnistheorie nun gar keine Projektionen
oder Exteriorisationen der Empfindungen kennt und braucht, so
ist das Suchen nach einer „Erklärung" der räumUchen Eigen-
schaften überhaupt ganz widersinnig. Es handelt sich nur
darum festzustellen, wie die Zuordnung des einzelnen kortikalen
Elements zu einem bestimmten Raumelement entstanden ist.
Aber auch diese Frage findet vom Standpunkt meiner Erkenntnis-
theorie eine befriedigende Antwort. Der Angriffspunkt der
Parallelreflexion eines zentralen Elements v wird
Im allgemeinen durchweg Fall für Fall bestimmt
durch den Ort des jeweils auf v wirkenden Reizes.
Ist z. B. ein Lichtreiz (im Sinn eines Reduktionsbestandteils),
und wirkt dieser auf ein Element v der Sehsphäxe (wiederum
im Sinn eines Reduktionsbestandteils), so findet die Reflexion im
Sinn des Parallelgesetzes von v auf o statt : das v ist im Augenblick
dem zugeordnet. Alle Schwierigkeiten der nativistischen und
empiristischen Theorien scheinen mir hiermit sich wesentUch zu
vermindern. Nativistisch ist meine Theorie nur etwa insofern, als
sie der Empfindung eine von allen physiologischen Prozessen
unabhängige primäre räumliche Anordnung zuschreibt, nati-
vistisch freilich in einem ganz anderen Sinn als die übUchen
nativistischen Theorien. Die räumliche Anordnung der Emp-
findung braucht nicht erst auf den mystisch -unbegreiflichen
Wegen, welche der Empirismus vorschlägt, zu entstehen, imd
sie ist doch auch keine wunderbare angeborene Eigenschaft der
Rindenelemente. Die Zuordnung zwischen dem einzelnen
Reduktionsbestandteile und dem Rindenelement ist in meiner
Theorie allerdings nur empirisch gegeben. Sie wechselt auch
fortwährend, insofern dasselbe Rindenelement bald von jenem
bald von diesem, bald von einem hier bald von einem dort
gelegenen Objekt (Reduktionsbestandteil) gereizt bzw. erregt
wird. Damit fällt die Klippe fort» an der die seitherigen
sogen, nativistischen Theorien sämtUch scheiterten: die häufigen
Ungenauigkeiten und Veränderlichkeiten der räumlichen Pro-
jektion. Bei meiner Erkenntnistheorie existiert eine solche Pro-
jektion nicht, da eine Introjektion nicht existiert; die Anordnung
der Empfindung ist primär gegeben im Reduktionsbestandteil,
und die Zuordnung im Sinn des Parallelgesetzes ist von den
empirischen Erregungsbeziehungen abhängig, aus deren mannig-
262 Th. Ziehen.
fachen UDgenauigkeiten und Veränderlichkeiten uns die Un-
genanigkeiten und VeränderHchkeiten der Parallelzaordnang ohne
weiteres yerständlich werden. Die Anordnung nach Dimensionen
ist unveränderlich. Die Zuordnung ist phylogenetisch und onto-
genetisch geworden und in gewissen Grenzen veränderlich.
Wenn die Rückenhaut von drei Nadelspitzen berührt wird, die
miteinander bestimmte Winkel bilden und voneinander um be-
stimmte Abstände entfernt sind, so wird behauptet, dafs die
taktile Empfindung diesem Tatbestand nur sehr ungenau ent-
spricht oder mit anderen Worten die Zuordnung ungenau ist.
Indes liegt diese Ungenauigkeit gar nicht in der taktilen Empfin-
«dung als solcher, sondern im wesentUchen nur in der Über-
setzung in optische Vorstellungen. Diese ist mangels
Übung und speziell mangels gemeinschaftlicher Mittelglieder in
Form von Bewegungsvorstellungen ^ (inkl. optischer Tastempfin-
dungen) ungenau, nicht aber die taktile Empfindung als solche.
Auch die Tatsache der WEBEBschen Tastkreise stellt sich von
diesem Standpunkt aus etwas anders dar. Wenn zwei Nadelspitzen
innerhalb eines Tastkreises aufgesetzt werden und, wie man
sagt, als eine empfunden werden, so kommt die letztere Un-
genauigkeit bzw. Fehlerhaftigkeit im wesentlichen erst dadurch
zustande, dafs ich von der Versuchsperson die Übersetzung ihrer
Berührungsempfindung in optische Vorstellungen verlange. Dies
„Verlangen" liegt schon in der Tatsache, dafs bei diesen Ver-
suchen allenthalben das wissentliche Verfahren angewendet wird,
' sie liegt schon in der Frage : wieviel Nadelspitzen sind es gewesen?
Aber auch, wenn wir — von der optischen Übersetzung* ganz
abgesehen — nur die Angabe der Zahl der Berührungen ver-
langen, so ist dies bereits eine Übersetzung in Vorstellungen,
und die Ungenauigkeit der Antwort beruht im wesentlichen auf
der Ungenauigkeit dieser Übersetzung. Freilich kommt dazu
ein weiteres Moment. ' Es ist sehr wahrscheinlich, dafs die ein-
zelne Nervenfaser die aufgenommene Erregung nicht vollständig
* Also nur bei dieser Übersetzung, nicht bei der Lokalisation selbst
spielen diese assoziierten Bewegungsvorstellungen eine Bolle.
' Die erhebliche und interessante Rolle, welche ich diesen optischen
Übersetzungen zuschreibe, ergibt sich schlagend aus den langwierigen
Untersuchungen, welche ich mit Prof. Sakaki im letzten Jahr angestellt
habe und welche von letzterem demnächst ausführlich veröffentlicht werden.
• Deshalb wurde schon oben hinzugefügt: „im wesentlichen".
Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen. 263
und ausschliefslich auf ein kortikales Element überträgt, und es
ist aufserdem sicher, dafs ein Hautreiz wie ein Nadelstich in der
Regel nicht nur eine, sondern mehrere Nervenfaserendigungen
der Haut reizt. Damit mufs selbstverständUch die Genauigkeit
der Zuordnung eine weitere Schädigung erfahren.
Auf dem Gebiet der Gesichtsempfindungen sind genau die-
selben Überlegungen anzustellen, nur kommen für das Doppel-
auge, da viele optische Reize auf beide Netzhäute wirken, noch
einige Erklärungsschwierigkeiten hinzu, welche nicht nur psycho-
logisch, sondern auch erkenntnistheoretisch das gröfste Interesse
beanspruchen.
Hier handelt es sich nämlich erstens um den Fall, dafs auf
zwei sog. „identische" Stellen beider Netzhäute bzw. die ent-
sprechenden zentralen Elemente a und a verschiedene Reize
einwirken, also um den sog. Wettstreit der Sehfelder. Die. Be-
obachtungstatsachen stimmen hier durchaus mit dem überein,
was meine Erkenntnistheorie fordert: infolge der Supraposition
der Reflexionen, welche von a und a ausgehen, kommen Misch-
empfindungen zustande. Ebenso erklärt sich die weitere Tat-
sache, dafs die bez. Empfindungen sich zuweilen auch ablösen
oder verdrängen, statt sich zu mischen, sofort aus den Erörte-
rungen S. 81 ff. meiner Erkenntnistheorie.
Zweitens handelt es sich um den Fall, dafs ein und der-
selbe Reiz y auf zwei ,.nicht-identische" Netzhautstellen bzw. die
entsprechenden ebenfalls als „nicht-identisch" anzusehenden zen-
tralen Elemente c und d'^ wirkt, ein Fall, wie er z. B. in sehr
einfacher Weise bei einer Augenmuskellähmung* gegeben ist.
Bekanntlich tritt in diesem Fall sog. Doppelsehen ein, und dieses
kann nur, wenn die Lähmung nicht sehr erheblich ist oder,
anders ausgedrückt, der Lagenunterschied zwischen c und d' von
der Identität nicht zu weit entfernt ist, allmählich korrigiert
werden, so dafs schliefslich die beiden Bilder wieder verschmehsen.
Wären die Parallelzuordnungen absolut und unveränderlich wie die
Kausalbeziehungen, und hätte speziell das S. 261 in gesperrtem Druck
^ Ich will die Stellen der linken Netzbaut durch lateinische Buch-
staben ohne Strich, die korrespondierenden der rechten durch lateinische
Buchstaben mit Strich bezeichnen. Als das gelähmte Auge nehme ich im
folgenden stets das rechte an.
* Auch eine passive Bewegung eines Auges oder eine Schieloperation
kann als Beispiel genommen werden.
264 3^. Ziehen,
angeführte Parallelgesetz strenge und ausschlielsliche Gültigkeit,
so müfste offenbar auch nach der Lähmung die Reflexion von
d' auf y erfolgen, und Doppelsehen könnte nicht eintreten. Nun
sind aber die Parallelzuordnungen, wie die ganze Entwicklungs-
geschichte lehrt, geworden^ und von empirischen Faktoren
beeinfluTst. Infolge einer phylogenetisch entstandenen, ererbten
Anlage und einer ontogenetischen Gewohnheit ist die Reflexions-
richtung von rf' nicht nur von der Lage des jeweils auf d' ein-
wirkenden Reizes abhängig, sondern auch in gewissen Grenzen
an die Reflexionsrichtung von d gebunden — in gewissen
Grenzen, da ja die Beobachtung lehrt, dafs eine allmähliche
Korrektur des Doppelsehens innerhalb gewisser Grenzen möglich
ist. Ob bei der in Rede stehenden ontogenetischen Gewohnheit
Bewegungsvorstellungen eine Rolle spielen, ist für diese Erörte-
rung gleichgültig.*
Damit kehre ich zu Mach zurück. Ich hoffe wenigstens so-
viel gezeigt zu haben, dafs meine erkenntnistheoretischen An-
schauungen sich mit den Tatsachen der physiologischen Optik
mindestens ebensogut vereinigen lassen als diejenigen Maghs.
Ich gehe nunmehr zu den Erörterungen Maohs über den
absoluten Raum über, welche M. wie die analogen bereits
besprochenen Erörterungen über die absolute Zeit an eine Kritik
der NEWTONschen Lehren anknüpft (Mech. in ihrer Entw., 4. Aufl.
S. 237 ff.). Mach verwirft auch den absoluten Raum und die
absolute Bewegung der NEWxoNschen Lehre und zwar aus folgen-
den Gründen : es seien blofse Gedankendinge, die in der Erfahrung
nicht aufgezeigt werden könnten ; wenn wir die Beziehung eines
Körpers K zu anderen Körpern A, B, C . , , , weglassen würden,
so könnten wir überhaupt nicht wissen, wie sich K dann bei
Abwesenheit von J., JB, C . . . . benehmen würde ; auch würde
uns jedes Mittel fehlen, das Benehmen des Körpers K zu be-
urteilen u. s. f. (vgl. S. 240).
Demgegenüber hätte ich etwa dasselbe zu wiederholen, was
ich bezüglich der absoluten Zeit auseinandergesetzt habe; jetzt
'Sie stellen insofern geradezu das fortschreitende Prinzip gegenüber
dem überwiegend konservativen Prinzip der Kausalität dar.
' Zur Entscheidung dieser Frage bedürfte es namentlich auch wieder-
holter Kontrolluntersuchungen Über das Vorhandensein sensibler Kerven-
fasern in den Augenmuskeln und in der TsMOMschen Kapsel und über
passive Bewegungsempfindungen der Augäpfel bei Blinden.
Erketintnistheoretiache Auseinandersetzungefi. 265
will ich in etwas anderer Form diese Sätze nochmals für den
Raum entwickeln. Der Begriff des absoluten Raumes ist durch
die NBWTONsche Definition nicht eindeutig bestimmt. Man kann
darunter sehr verschiedenes verstehen. Bezeichnet man als ab-
soluten Raum einen solchen, für den ein bestimmtes, nicht auf
Vergleichung von wenigstens 3 Körpern beruhendes absolutes
Raummafs vorhanden sein soll, so ist ein solcher absoluter
Raum ein Unding. Ebenso ist ein absolutes räumliches Ko-
ordinatensystem mit einem absoluten Nullpunkt nicht weniger
widersinnig als ein absoluter Null- oder Anfangspunkt der Zeit.
Versteht man hingegen unter einem absoluten Raum nur die
Tatsache, dafs den Reduktionsbestandteilen als solchen räumliche
Eigenschaften zukommen, welche von der Relativität der Parallel-
prozesse unabhängig sind, so ist gegen einen solchen absoluten
Raum nichts einzuwenden. Er ergibt sich sogar bei dem Elimi-
nationsverfahren als eine notwendige Reduktion. Das Beispiel
der zwei Körper K und K\ welche sich nach der Richtung ihrer
Verbindungslinie Beschleunigungen erteilen, die ihren Massen
m und m' verkehrt proportional sind, wird meines Erachtens von
Mach mit Unrecht angeführt. Er behauptet, dafs nur durch die
Anwesenheit noch anderer Körper festgestellt werden könne, dafs
die Beschleunigung nach der Richtung der Verbindungshnie
stattfinde (also im Sinn der Annäherung). Demgegenüber hebe
ich hervor, dafs — bei bekanntem Gesetz — die Richtung der
Beschleunigung sich auch ohne andere Körper eindeutig daraus
ergibt, dafs die Beschleunigung mit der Zeit zunimmt, woraus auf
die Tatsache der Annäherung zu schHefsen ist. Nur die räumliche
Messung der Bewegung ist uns unmöglich, solange ein 3. Bezugs-
körper fehlt. Ebensoweit reicht auch die Beweiskraft des be-
rühmten NEWTONschen Argumentes und Versuchs, demzufolge
z. B. Zentrifugalkräfte nur bei absoluten und nicht bei relativen
Rotationsbewegungen auftreten. Meines Erachtens ist hiermit in
der Tat bewiesen, dafs der Reduktionsbestandteil des rotierenden
Körpers Veränderungen seiner räumlichen und zeitlichen Eigen-
schaften erfährt, d. h. eine Bewegung (im weitesten Sinn) aus-
führt, zu deren näherer Bestimmung d. i. Messung allerdings
Bezugskörper notwendig sind. Allerdings hat Mach Recht, wenn
er behauptet, dafs wir niemals und nirgends eine absolute Ruhe
imd eine absolute Bewegung beobachten, aber dies teilen beide
mit allen Reduktionsvorstellungen: sie gehören nicht den Emp-
266 ^TÄ. Zühen.
findungen an, sondern sind Vorstellungen, zu denen wir durch
Reduktion der Empfindungen gelangen. Die Richtigkeit und
Notwendigkeit der Reduktion wird aber durch die von Newton
hervorgehobene Beobachtung an rotierenden Körpern erhärtet.
e) Der Massenbegriff Machs in erkenntnis-
theoretischer Beziehung.
Auch der Massenbegriff ist von meinem Standpunkt das
Ergebnis einer erkenntnistheoretischen Reduktion, allerdings ein
viel unabgeschlosseneres ^ als z. B. der Raum- und Zeitbegriff.
Mach hat das sehr grofse Verdienst, diese Reduktion von allem
Mystischen entkleidet zu haben. Das Massen Verhältnis ist nichts
anderes als das negativ umgekehrte Verhältnis der Gregen-
beschleunigungen (Mech. in ihrer Entw. S. 228 u. S. 279). Frei-
hch wird dabei, wie Boltzmann mir mit Recht hierzu bemerkt
zu haben scheint,* der Satz der Gleichheit der Wirkung und
Gegenwirkung vorausgesetzt. Indes scheint mir damit kein Ein-
wand gegen die MACHsche Analyse gegeben zu sein, da dieses
Prinzip empirisch auch unabhängig von dem Massenbegriff fest-
steht. Vom erkenntnistheoretischen Standpunkt wird man sich
jedoch nunmehr weiter fragen müssen, ob der MACHsche Satz nur
angibt, wie wir zum Massenbegriff gekommen sind und wie wir
die Masse jederzeit messen können, ob er also nur den Reduktions-
prozefs und eine Mefsregel angibt, oder ob er auch das Wesen
des Reduktionsbestandteiles bereits erschöpft und sonach als eine
abschUefsende Reduktion zu betrachten ist. Die letztere Alter-
native trifft offenbar nicht zu, sofern wir sicher mit dem Massen-
begriff die Gesamteigenartigkeit eines bestimmten Raum-
elements zu einer bestimmten Zeit nicht erschöpft haben. Es
sind also noch weitere bzw. andere Reduktionen erforderlich. In
der Tat ist ja die Physik fortgesetzt mit solchen weiteren Re-
duktionen (Atomistik, Energetik usw.) beschäftigt, denen die Er-
kenntnistheorie in keiner Weise vorzugreifen fähig ist.
^ Dies geht schon aus den mannigfachen Weiterbiidungs versuchen
(Atomtheorie usw.) hervor.
' Über die Grundprinzipien und Grundgleichungen der Mechanik,
Vorles. an der Clark üniversity 1899 (auch Pop. Schriften, Leipzig 1905,
S. 293).
Erkefintniatheoretische Auseinandersetzungen, 267
.Dem grofsen Lebenswerk Machs konnte ich in diesen Aus-
einandersetzungen nicht gerecht werden. Zum Teil liegt es auf
nicht-erkenntnistheoretischem Gebiet, zum Teil hat es wenigstens
zu den von mir vorgeschlagenen erkenntnistheoretischen An-
schauungen, welche ich hier zu verteidigen wünschte, keine Be-
ziehungen. Nur eine vorbildliche Eigenschaft der MACHschen
Forschungsweise, soweit sie erkenntnistheoretisch ist, möchte ich
hier zum Schlufs noch hervorheben. Allenthalben vergleicht
Mach die physikalischen und die psychologischen Vorgänge und
Gesetzlichkeiten. Hierin erblicke ich die eigentliche Aufgabe der
Erkenntnistheorie. Man hat sie lange Zeit auf das Eiiacken
leerer Nüsse angewiesen, indem man von ihr Gewifsheitstheorien
u. dergl. Handlangerdienste für legitimationsbedürftige meta-
physische Systeme verlangte. Eine lösbare und wichtige Auf-
gabe findet sie nur in jenem Vergleich physikalischer und psycho-
logischer Tatsachen, der in der Binomie meiner Erkenntnistheorie
wiederkehrt und der viele Untersuchungen Machs in vorbild-
licher Weise auszeichnet.
(Eingegangen am 19. August 1906.)
268
Über Nachempfindungen
im Gebiete des kinästhetischen und statischen Sinnes.
Ein Beitrag zur Lehre vom Bewegungsschwindel
(Drehschwindel).
Von
Dr. Hans Abels (Wien).
Einleitung.
Der Anstofs zu den vorliegenden Untersuchungen lag in
Beobachtungen und Studien über Seekrankheit, die Verfasser in
längerer Tätigkeit als Arzt des österreichischen Lloyd reichlich
anzustellen Gelegenheit hatte. Mufs doch die Seekrankheit, wie
jetzt ziemlich allgemein angenommen, als eine Form des Be-
wegungsschwindels bezeichnet werden, wenn auch, wie ich selbst
glaube, die übUche Definition des letzteren in einigen Punkten
zu erweitern wäre, um diese Subsmnmierung zu gestatten. Doch
wie dem immer sei, Seekrankheit und Bewegungssehwindel ge-
hören sicher innig zusammen, und Momente die bei dem einen
Erscheinungskomplex eine ausschlaggebende Rolle spielen, dürfen
bei dem anderen keineswegs vernachlässigt werden.
Die zwei Momente nun, die sich bei der Beobachtung der
Seekrankheit zuerst aufdrängen und die in der Physiopathologie
dieser Aflektion eine hochwichtige Bedeutung einnehmen, sind:
erstens die auTserordentlichen individuellen Unterschiede
und zweitens der fast noch bedeutsamere Einflufs der Ge-
wöhnung. Die individuelle Verschiedenheit besteht darin, daCs
es einerseits Menschen gibt, die nie die geringste Anwandlung
von Seekrankheit verspüren, an dem anderen Ende wieder solche,
die, selbst wenn sie durch ihren Beruf dauernd an das Seelebea
gefesselt sind, niemals völlig frei davon werden, und daTs schlieüs-
Uch das Gros der Menschen unzählige Zwischenstufen zwischen
I
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 269
diesen beiden Extremen repräsentiert. Die Gewöhnung aber
äofsert sich dadurch, dafs die bei einem Individuum aufgetretenen
Erscheinungen auch bei Gleichbleiben der Stärke der Schaukel-
bewegungen innerhalb von Stunden oder Tagen bedeutend nach-
zulassen pflegen, um bei künftigen derartigen Gelegenheiten, falls
die Zwischenpause keine allzulange ist, nicht mehr in derselben
Intensität aufzutreten. Jedenfalls aber erfolgt die Angewöhnung
bei einer zweiten derartigen Probe ungleich schneller. Diese
Tatsachen sind jedem, der einige Zeit zur See tätig war, geläufig,
ebenso wie allen ernsteren Autoren über Seekrankheit, wenn sie
auch zumeist nicht genügend gewürdigt werden.
Wenden wir uns nun dem Bewegungs- und in specie dem
Drehschwindel zu, so sehen wir, dafs hier eben dieselben beiden
Momente, namentlich aber das zweite eine höchst bedeutsame
Bolle spielen, dafs ihnen aber kaum irgendwelche Beachtimg
geschenkt wurde, weil von dem Standpunkte der bisherigen
Theorien wenig damit anzufangen war. Denn betrachtet man
wirklich die Tatsachen der Schwindelgewöhnung einigermafsen
näher, und sieht man also, dafs der eine Mensch unter denselben
Umständen heftigsten Schwindel bekommt, unter denen der andere
völlig frei davon bleibt, und noch mehr, dafs ein und der-
selbe Mensch, der ursprünglich während und nach einer gewissen
Bewegung (im allgemeinen Drehbewegung) die ausgesprochensten
subjektiven und objektiven Symptome des Drehschwindels auf-
gewiesen hat, im Laufe von Stunden oder längstens Tagen in
einen solchen sich verwandeln kann, der unter denselben Um-
ständen nicht die geringsten Schwindelerscheinungen verspürt
oder darbietet, so mufs man allerdings zu der Überzeugung ge-
langen, dafs der Schwindel weder auf einer spezifischen und
inhärenten Funktionseigentümlichkeit der mit dem Vestibular-
apparate in Verbindung tretenden peripheren oder zentralen
Nervenpartien und noch viel weniger auf einer mechanischen
Unvollkommenheit des die Reize aufnehmenden Endapparates
im statischen Organ beruhen könne, da hierin sich unmögUch in
so kurzer Zeit eine grundsätzliche Wandlung vollziehen könnte.
Ohnehin befindet sich die gegenwärtig zumeist gemachte
Annahme von der langen Nachdauer einer durch momentane
Drehbeschleunigung erzeugten Empfindung im strikten Gegen-
satze zu allen unseren übrigen Erfahrungen in der Sinnes-
physiologie, wohingegen bei Verfolgung des oben teilweise an-
270 ÄafW Abels,
gedeuteten Weges man zu Anschauungen über die Drehempfindung
(und den Drehschwindel) gelangt, die in wohltuender Überein-
stimmung mit den bezüghch der anderen Sinnesgebiete gültigen
stehen.
Es wird unsere Aufgabe sein, nach einer kurzen Darlegung
der bisherigen Entwicklung der Hypothesen, die bei entsprechen-
der Würdigung obiger sowie anderer bisher unbeachteter Tat-
sachen sich ergebende Anschauung in systematischer Form dar-
zulegen, wobei allerdings gerade alle komplizierteren Experimente
über Drehschwindel und ihre Ausdeutung auf den Schlufs auf-
gespart werden müssen. Ist es doch, wie ich glaube, eben dem
Umstände, dafs man unmittelbar von diesen, ich möchte sagen,
unphysiologischen, d. h. mit den gewöhnlichen Lebens-
bedingungen des Organismus in Widerspruch stehenden Versuchen
ausgehend, das normale Verhalten der Drehempfindung er-
schliefsen zu können glaubte, zuzuschreiben, dafs man zu wider-
spruchsvollen Annahmen über dieselbe gelangte.
Es ist hier der Ort, um die Möglichkeit von Mifsverständ-
nissen vorweg abzuschneiden, nachdrücklich darauf hinzuweisen,
dafs durch die folgenden Untersuchungen in keiner Weise die
MACH-BREüEBsche Theorie von der Bewegung perzipierenden
und statischen Funktion des Vestibularapparates, von der Be-
einflusisung desselben durch Gravitation, Zentrifugalkraft und
überhaupt jede Art von Beschleunigung irgendwie tangiert wird,
für welch letztere Sätze ich im Gregenteile neue Beweise zu
liefern hoffe.
Ebenso ist es nötig, zwei weitere Begriffsabgrenzungen bzw.
Festlegungen vorzunehmen, um das Arbeitsgebiet der folgenden
Untersuchungen klarer abstecken zu können. Vor allem werden
wir uns mit dem Zustandekommen des eigentlichen Schwindel-
gefühles nicht direkt zu befassen haben. Erwähnt sei nur, dafs
dasselbe nach den berufensten Autoren (Mach, Hitzig, Ewald,
Nagel) durch Zusammentreffen nicht übereinstimmender Emp-
findungen des statischen Sinnes, des optischen Apparates und
des kinästhetischen Sinnes gegeben sei. Eine mit dem tatsäch-
lichen Bewegimgszustande des Organismus in Widerspruch
stehende Bewegungsempfindung (z. B. Drehempfindung nach
Rotation) erzeugt, solange kontrollierende Sensationen von Seiten
anderer Sinnesorgane nicht vorhanden sind, oder auch in dem-
selben Sinne einer Täuschung unterliegen, kein oder nur unbe-
über NacJiempfindungen im Gebiete des kinästl^etkchen u. statischen Sinnes. 271
deutendes Gefühl des Verwirrtsems und demgemäfses Unbehagen,
welches sich hingegen bei Vorhandensein solcher widersprechender
Sensationen sofort einstellt und eventuell bis zum Ekel steigert.
Nur dieses Gefühl des Verwirrtseins bezeichnet der Sprach-
gebrauch als Schwindel und mit Recht, da offenbar auch nur in
diesem Falle jener aus dem Konflikte widersprechender
Sensationen entspringende komplizierte Prozefs vorliegt. Die
einfache Bewegungstäuschung hingegen z. B. das Gefühl des
Bewegtseins bei tatsächlich ruhendem Körper haben wir eigent-
lich kein Recht schon als solches dem Schwindel zuzurechnen.
Ebenso nimmt auch Hitzig ^ den entsprechenden konträren Fall
vom Schwindel aus, wenn man nämlich trotz fortdauernder gleich-
mäfsiger Progressivbewegung (z. B. im Eisenbahnwaggon) keine
Bewegungsempfindung hat. Es müssen also, wenigstens theo-
retisch, Bewegungstäuschung und Schwindelempfin-
dung schärfer als dies bisher üblich war, getrennt werden. In
Wirklichkeit begegnen wir allerdings aus leicht ersichtlichen
Gründen relativ selten gefälschten Bewegungsempfindungen, die
völlig frei von Schwindelgefühlen sind, so dafs wir, wenn auch
unsere Besprechung zunächst nur den ersteren gelten soll, nicht
gänzlich von letzteren werden abstrahieren können.
Ebenso haben wir die Absicht von der diffizilen und strittigen
Frage möglichst abzusehen, ob bei den hier einschlägigen Ver-
suchen und Beobachtungstatsachen die Dreh empfin düng des
Primäre sei, ob also die zugleich mit ihr auftretenden reak-
tiven Bewegungen der Augen, des Kopfes oder ganzen
Körpers erst von jener Empfindung ausgelöst werden, oder ob
jene auf diesem beruhe oder schliefslich beides durch einen dritten
Vorgang erzeugt werde.* Uns genügt es zu konstatieren, — imd
dies mufste auch den bisherigen Bearbeitern unseres speziellen
Gebietes genügen, da darüber hinaus unsere sichere Kenntnis
nicht reicht — dafs bei den hier zu betrachtenden Versuchen,
^ £. Hitzig. Der Schwindel. Spez. Pathol. u. Therap., herausgegeben
von NoTHNAGBL 12, II. T., II. Abt. Wien 1898, S. 25.
* Einigen sehr bemerkenswerten A!:^fschlur8 hierüber geben die Beob*
achtungen von Baeany. Siehe diesbezüglich in seiner neuesten Arbeit:
Untersuchungen über den vom Yestibularapparat des Ohres reflektorisch
ausgelösten rhythmischen Nystagmus und seine Begleiterscheinungen.
Monaisschr, f. OhrenheUk. 40, die interessanten Ausführungen S. 211 u.
S. 276.
272 -H«w» ^^€^'
wann immer wir in der Lage sind, beide Seiten des Reizerfolges
zu beobachten oder durch verläfsliche Analogie zu kontrollieren,
im allgemeinen stets beides nebeneinander und parallel oder
einander ersetzend zu konstatieren ist. Die Worte Drehschwindel
und Nachschwindel werden denn auch von den meisten Autoren
in dem Sinne gebraucht, dafs sie bei Experimenten an Tieren
zunächst die objektiven Bewegungserscheinungen, bei Beob-
achtungen am Menschen, speziell sich selbst, zunächst die auf-
tretenden Empfindungen damit bezeichnen.
Wir werden also im Interesse der Einfachheit der Darstellung
häufig nur von der Empfindung sprechen, ohne die sie begleiten-
den Reaktionsbewegungen der Augen usw. jedesmal ausdrücklich
zu erwähnen, und es wird an den Deduktionen nichts geändert
durch den Umstand, dafs allerdings zuweilen die primäre Dreh-
empfindung nur undeutlich oder gar nicht zum Bewufstsein ge-
langt. In dieser Beziehung verhält sich der statische Sinn ganz
analog dem Unästhetischen, dessen Nachrichten uns allerdings
bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit bewufst orientiert sein
lassen über die Stellung und Bewegung unserer Glieder, für
gewöhnlich jedoch zur Regulierung unserer Bewegungen ver-
arbeitet werden, ohne dafs alle Einzelstufen der Bewegung zu
unserem Bewufstsein gelangen. Diese Art der Verwertung der
Nachrichten des statischen wie des kinästhetischen Sinnes ge-
reicht uns, wie Gab ausführt^, natürUch nur zum Vorteile, da
durch stetes Bewufstwerden derselben die Aktionen nur weniger
prompt und unsicherer werden müfsten. Wenn also in manchen
selbst der subjektiven Experimente bei gewissen Versuchs-
bedingungen die primäre Drehempfindung zurücktritt gegenüber
den reaktiven Bewegungen z. B. der Augen und den dadurch
ausgelösten sekundären Erscheinungen wie Gesichtsschwindel, so
ist dies für uns irrelevant aus dem schon erwähnten Grunde,
weil wir nicht die Abhängigkeitsverhältnisse der beiden Seiten
des Reizerfolges voneinander, sondern des Reizerfolges
als Ganzen — gleichgültig ob von auTsen oder innen betrachtet
— vom Reize, und zwar vorzüglich in zeitlicher Beziehung,
zu analysieren haben werden.
^ Gab: Die statischen Funktionen des Ohres. Handbach der Ohren
heilkunde von Schwartse. I.
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 273
Grundtatsachen. Machs Hypothese.
Unser Thema beschränkt sich den letzten Ausführungen zu-
folge im wesentlichen auf die im Gebiete der Bewegungs-
empfindungen auftretenden Täuschungen und zwar namentUch
die bierher gehörigen Nachempfindungen; in erster Linie und
als Hauptzielpunkt unserer Untersuchung werden wir die nach
Drehbewegungen auftretende Drehempfindung zu betrachten
haben.
Die Grundtatsachen dieses Gebietes hat in klarster und ein-
fachster Form zuerst Mach festgelegt. Wir wollen dieselben,
seiner Darstellung folgend, zunächst kurz wiedergeben.^
Die Versuchsperson wird in einem Papierkasten, also bei
Abschlufs des optischen Kontaktes mit der Aufsenwelt, in einer
beliebigen Stellimg jedoch in gut unterstützter Lage des Körpers
um eine vertikale Achse in Rotation versetzt. „Jede Dreh-
bewegung wird sofort dem Sinne nach und der beiläufigen
Gröfse nach erkannt. Erhält man aber einige Sekunden lang
die Rotation gleichförmig, so hört allmählich das Gefühl der
Drehung ganz auf. Es tritt das Gefühl einer entgegengesetzten
Drehung auf, wenn man den Apparat sich selbst überläfst, so
dals er einen verzögerten Gang annimmt. Dies Gefühl der
Gegendrehung wird äuTserst heftig, wenn man den Apparat
plötzUch anhält, und dauert je nach der Stärke der Rotation
allmählich abnehmend einige Sekunden." „Man empfindet
also nicht die Winkelgeschwindigkeit, sondern die
Winkelbeschleunigung." „Wird der Apparat IV«— 2
Sekunden nach dem Anhalten plötzlich wieder in demselben
Sinne in Bewegung gesetzt, so verschwindet das Gefühl der
Gegendrehung, welches in der Pause auftritt. Die durch eine
Winkelbeschleunigung erzeugte Drehempfindung hat also eine
beträchtliche Nachdauer und kann durch eine entgegengesetzte
Winkelbeschleunigung aufgehoben werden." „Solange man sich
ruhig verhält, ist die Rotationsachse nach dem Anhalten auch
immer die Achse der scheinbaren Gegendrehung." Diese bei
allen Versuchen bestehende Abhängigkeit der Richtung der
Scheinbewegung von der Stellung des Kopfes, eine Abhängig-
keit, die schon dem älteren Dabwin und Purkinje bekannt war.
^ £. Mach: Grundlinien der Lehre von den Bewegnngsempfindungen.
Leipzig 1875. S. 26fl.
Zeitschrift fttr Psychologie 43. 18
274 Sans AbeU,
drückt Mach noch in folgender anschaulicher Weise aus: y,Man
kann sozusagen mit der nachdauemden Drehempfindung den
Kopf in eine beliebige Lage bringen und die Achse der schein-
baren Drehung, welche durch die anfangliche, wirkliche Drehung
bestimmt ist, macht alle Bewegungen des Kopfes mit, ihre Lage
im Kopfe ist unveränderlich." Ebenso wie die Richtung der
Scheinbewegung ändert sich konform der Stellung des Kopfes
auch die Richtung der reaktiven Bewegungen der Rumpf- und
Extremitätenmuskulatur und dementsprechend die Erscheinungen
des Tastschwindels. ^
Die zweite Grundtatsache, die von Mach in seinen Versuchen
festgelegt wurde, besteht darin, dafs ein in einem Kasten ein-
geschlossener Beobachter — der sich jedoch diesmal in einiger
Entfernung von der Rotationsachse befindet, also eine sogenannte
Karussellbewegung durchmacht — nachdem die Winkelge-
schwindigkeit eine konstante geworden ist und das Drehgefühl
aufgehört hat, konstant samt dem Kasten in geneigter Stellung^
zu sein glaubt und zwar mit dem Kopfe von der Rotationsachse
weg. „Man empfindet die Richtung der resultierenden Massen-
beschleunigung und hält diese für die Vertikale." Ein in dem
Kasten aufgehängtes Pendel, das je nach der erreichten Rotations-
geschwindigkeit und der entsprechenden Zentrifugalbeschleunigung^
etwa um 10 — 20 ** seithch ausschlägt, hält man während der
Rotation für vertikal, den Kasten und sich selbst aber für schief.
Was nun die Deutung der angeführten Tatsachen, in erster
Linie des uns vorzüglich interessierenden ersten Grundphänomens
anbelangt, so haben wir schon darauf hingewiesen, dafs Mach
hieraus die beiden Folgerungen zieht, 1. dafs es die Winkel-
beschleunigung ist, die die Drehempfindung auslöst, und
2. dafs diese Empfindung viel länger anhält als die Beschleunigung
selbst. „Denn sehr bald nach Unterbrechung der Drehung werden
alle Massenbeschleunigungen aufgehört haben, während man
noch immer eine Bewegung empfindet." ^ Das nach einer
Rotation auftretende Gefühl der Gegendrehung wird also auf-
gefafst nicht als veranlafst durch irgend welche mit der Dauer
jener Drehung im Zusammenhang stehende Vorgänge, sondern
als ausgelöst lediglich von der die Rotation beschliefsenden
» Mach a. a. 0. S. 95, 96.
« Mach a. a. 0. S. 28.
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästJietischen u. statischen Sinnes. 27&
negativen WlBkelbeschleiinigang, wobei jedoch obigem Prinzipe
entsprechend die Drehempfindung zeitlich die auslösende Be-
schleunigung bedeutend überdauern würde. Die Ursache dieser
eigentümUchen Erscheinung verlegt Mach, wie aus mehrfachen
Stellen der zitierten Schrift hervorgeht, in den nervösen Apparat,
in die periphere Nervenleitung oder wahrscheinlicher das der-
selben zugehörige Zentrum, welche Nervenapparate zum Unter-
schiede von den den anderen Sinnesorganen zugeordneten die
Eigenschaft besitzen sollten, schon auf einen momentanen Beiz
hin eine Empfindung von recht wesentlicher Dauer zu vermitteln.
Über die höchst auffallende und auch von Mach selbst mehrfach
erwähnte Divergenz eines solchen Verhaltens gegenüber allen
anderen Tatsachen der Sinnesphysiologie sucht Mach a. a. O.
S. 116 durch folgende Erwägung hinwegzukommen: „Man kann
sagen, die Beschleunigung erregt die fortdauernde Empfindung
einer Cresch windigkeit." „Teleologisch ist dies leicht zu be-
greifen, denn es handelt sich hauptsächUch darum, eine Vor-
stellung von der Geschwindigkeit zu erlangen, in welche
wir bei der Bewegung geraten sind."^ Andererseits verkennt
Magh selbst durchaus nicht die aus dieser supponierten eigen-
tünüichen Sonderstellung hervorgehenden Schwierigkeiten und
meint daher, dafs „unser Erklärungsprinzip jedenfalls nur provi-
sorisch ist".*
Es sei nun — zugleich auch zur Vereinfachung der späteren
Ausführungen — gestattet, hier sogleich einige Bemerkungen
über die Grundlagen dieses „provisorischen" Erklärungsprinzips
anzuknüpfen. Zuvörderst ist ohne weiteres ersichtlich, dafs beim
Zustandekommen desselben folgende aprioristische Annahme eine
gewisse Rolle gespielt hat. Dafs ein im Innern des Organismus
befindliches und zur Registrierung von dessen Bewegungen be-
stimmtes Perzeptionsorgau zimächst nur auf Beschleunigungen
ansprechen kann, war ja klar. „Die mechanische Wechselwirkung
^ Einzuwerfen wäre hier sofort, dafs bei den doch ebenso häufigen
und lebenswichtigen Progressivbewegungen (Gehen, Laufen, Springen), wie
bekannt, keine deutliche Nachdauer der betreffenden Empfindungen nach-
zuweisen ist, ohne dafs hierunter die Vorstellung von der dabei erreichten
Geschwindigkeit Schaden leidet.
» Mach: Physikalische Versuche über den Gleichgewichtssinn des
Menschen. Sitzungsberichte der kaiserl. Akademie der Wissenschaften in
Wien 1873. Bd. 68. lU. Abt. 8. 1^5.
18*
276 ^<^^ Abels.
der Massen besteht in gegenseitiger Beschleunigung. Es
hat also von vornherein eine grofse Wahrscheinlichkeit, dals
blols Beschleunigungen empfunden werden. ^ ^ Dafür sprach
auch die alltägliche Erfahrung, dafs man selbst von bedeutenden
Geschwindigkeiten, mit denen sich der eigene Körper fortbewegt,
z. B. im Eisenbahnwaggon bei Ausschlufs der Gesichtswahr-
nehmungen nach Gröfse sowohl wie nach Richtung keinerlei
Empfindung hat, solange die Bewegung eine gleichförmige ist,
Beschleunigungen also ausgeschlossen erscheinen. Ist nun auch
der Grundsatz, dafs ein derartiges mit einem mechanisch wirken-
den Endapparate versehenes Sinnesorgan unmittelbar nur auf
Beschleunigungen reagieren kann, vom physikaUschen Stand-
punkte unzweifelhaft richtig, so ist dabei doch in physiologischer
Hinsicht die Möglichkeit vorhanden, wie wir später des Ge-
naueren auszuführen haben werden, dafs „Geschwindigkeit^ und
zwar Winkelgeschwindigkeit das Substrat einer Empfindung
abgebe.
Ein weiteres bemerkenswertes Faktum besteht darin, dafs,
wie Mach a. a. O. S. 28 sich selbst ausdrückt, die dem grölsten
Teile der Versuche zugrunde liegenden Erscheinungen „dem
Gebiete des sogenannten Drehschwindels angehören". Schwindel
ist nun etwas, das nach allgemeiner wie medizinischer Sprachs-
resp. BegrifEsfassung zum mindesten dem Grenzgebiete des
Physiologischen und Pathologischen zuzurechnen ist. Dafs es
aber, wie schon einmal betont, sehr prekär erscheint, gerade aus
diesem Gebiete die wichtigsten Daten für die Grundlinien der
Physiologie eines Sinnesorganes zu holen, wird uns um so klarer,
wenn Mach a. a. 0. S. 31 weiterhin sagt: Die Empfindungen
der Drehung sind viel auffallender* (als diejenigen der Pro-
gressivbewegung) und führen in Form des Drehschwindels
leichter zu Täuschungen.* Und doch hat sicher die Be-
stimmung eines Sinnesorgans nichts zu tun mit der Leichtigkeit
zu Täuschungen zu führen; die Deutlichkeit und Exaktheit der
von ihm vermittelten Empfindungen und damit die Wertung des
Sinnesorgans stehen vielmehr im allgemeinen mit dieser Leichtig-
keit, Täuschungen zu veranlassen, geradezu im umgekehrten
Verhältnisse.
^ Mach: Grundlinien usw. S. 22.
' Im Original nicht gesperrt gedruckt.
über Nachempfindwigen im Gebiete des hitiästhetischefi u. statiscJien Sinnes. 277
Der merkwürdigste Umstand aber und ein für den Charakter
des gegebenen Erklärungsprinzips als „provisorischen" sicher in
hohem Grade mitbestimmender ist der folgende. Mach vergleicht
in einem eigenen Kapitel die Bewegungsempfindungen mit den
anderen Sinnesempfindungen und bespricht die im Bereiche der
letzteren zu beobachtenden positiven und negativen Nachbilder.
Die Erscheinungen von dem zweiten (negativen) Typus bringt
er mit dem Umstände in Verbindung, dafs „einem konstanten
Reiz in der Regel eine an Stärke abnehmende Empfindung ent-
spricht, dafs aber mit der Erschöpfung des Organs Folgezustände
eintreten, durch welche das Organ seinen ursprüngHchen Zustand
wieder zu gewinnen sucht". ^ Nun konstatiert Mach an ver-
schiedenen Punkten seiner Untersuchungen, dafs die Bewegungs-
empfindung auch bei fortdauernder Beschleunigung also fort-
dauerndem Reize Erschöpfung in ausgiebigem Mafse nachweisen
läfst, indem gleichbleibenden Reizintensitäten abnehmende Emp-
findungsstärken entsprechen. Trotzdem mufs er von seinem
Erklärungsprinzipe aus in den zusammenfassenden Stellen seiner
Darstellung diesem Satze von der Erschöpfung der Bewegungs-
empfindung bei fortdauerndem Reize schroff den anderen gegen-
überstellen : „Beim Erlöschen des Reizes zeigt sich keine negative
Phase der Bewegungsempfindung".*
Wir werden diesem Widerspruche in unseren Untersuchungen
Rechnung zu tragen haben und seine Lösung wird eine unserer
wichtigsten Aufgaben sein.
Bbeuers Hypothese.
Bbeueb, von denselben Grundtatsachen und denselben teleo-
logischen Betrachtungen ausgehend, sucht zur Erklärung das
physikalische Verhalten des Endapparates heranzuziehen. Auch
er nimmt an, dafs die Empfindung einer momentanen Be-
schleunigung eine bedeutende Nachdauer habe, und sagt darüber
in seiner neuesten Arbeit folgendes : ^
Während diese Nachdauer bei anderen Sinnesorganen die
Übereinstimmung zwischen Objekt und Empfindung stört und
» Mach a. a. O. S. 56.
« Mach a a. O. S. 64 u. S. 124.
• J. Bbbusb: Studien Ober den Vestibularapparat. Sitzungsberichte
der kaiaerl. Akademie der Wissenschaften in Wien, Bd. CXII, Abt. III,
1903, S. 3.
278 -Saw« Abels.
darum möglichst eingeschränkt wird, ist sie bei Empfindung der
Drehung die wesentliche Bedingung dieser Übereinstimmung.
Während das positive Nachbild beim Gehör kaum existiert und
beim Gesichte für mäfsige Intensität des Reizes nur Bruchteile
von Sekunden andauert, währt es Minuten, bis die Drehungs-
empfindung erloschen ist, welche an den plötzlichen Beginn und
an das Ende einer längeren Rotation anschUefst. Eine Theorie
der Drehungsempfindung hat also zu erklären, worauf diese lange
Nachdauer der Beschleunigungserregung beruht."
Dieses vermeintliche, mit allen anderen sinnesphysio-
logischen Tatsachen im Widerspruche stehende Verhalten führt
nun Bbbuer in seiner diesem Spezialproblem gewidmeten Hypo-
these, die allerdings im Laufe der Zeit gegenüber den fort-
schreitenden Kenntnissen über das physikalische und histologische
Verhalten des Bogengangsystems einige Wandlungen erfahren
hat, auf eine grobe mechanische Unvollkommenheit
des Endapparates zurück, der zufolge dem Nerven schon
stets sozusagen gefälschte, mit den Erregungs Ursachen,
i. e. den Beschleunigungen , durchaus nicht parallel
gehende Nachrichten übermittelt werden. Wir stellen nun-
mehr die BfiEüBÄsche Hypothese im wesentlichen mit seinen
eigenen Worten dar, und zwar empfiehlt es sich zur Veranschau-
lichpng des dabei ausschlaggebenden Gedankenganges auch die
ersten Fassungen derselben zu berücksichtigen.
„Jeder häutige Bogengang mit der seine beiden Mündungen
verbindenden Partie des Utrikulus bildet eine kreisförmige an
einer Stelle erweiterte, mit Flüssigkeit gefüllte Röhre. Wird ein
solcher Röhrenring geradlinig fortbewegt, so bedingt die Träg-
heit des Wassers keine Verschiebung desselben gegen die Röhren-
wände .... Wenn aber ein solcher Flüssigkeitsring statt einer
geradlinigen Bewegung eine Kurve in seiner Ebene beschreibt,
so bleibt das Wasser um den Betrag seiner Winkeldrehung
zurück, d. h. es verschiebt sich längs der Röhrenwände, es strömt
in der Röhre." ^ „Hätte ich einen solchen Röhrenring mit
Flüssigkeit gefüllt und mit irgend einem Apparate versehen
(etwa in der Art des Hämatachometer von Vieeordt), welcher
Richtung und Geschwindigkeit des Strömens der eingeschlossenen
* J. Breueb: Über die Funktion der Bogengänge des Ohrlabyrinthee.
Medizin. Jahrbücher. Wien 1874. S. 79.
über Nachenipfindungen im Gebiete des kinästhetische^i u. statischen Sinnes. 279
Flüssigkeit anzeigt, so würden die Angaben dieses Apparates
jede bei der Bewegung der Röhre geschehene Abweichung von
der geraden Richtung, jede Drehung des Röhrenringes in seiner
Ebene anzeigen und zu messen erlauben; verbände ich drei
solche mit Indikatoren versehene Röhrenringe miteinander, so
dafs sie in verschiedenen Ebenen orientiert wären, so würden
die Angaben des Apparates erlauben bei beliebiger Bewegung
desselben im Räume die geschehene Winkeldrehung nach
Richtung und Grölse zu bestimmen.''^ „Ein solcher Indikator
liegt uns aber vor Augen in den Ampullarendigungen des
Akustikus. Mikroskopische Haare ragen in die Endolymphe
hinein als Ausläi^er eigentümlicher Epithelzellen, die anderer-
seits mit Ausläufern der Ampullamerven in Verbindung, deren
Endorgane bilden."*
„Wenn ein mit Flüssigkeit gefüllter Röhrenring seine
Drehung begiont, so macht, wie wir gesehen haben, die Flüssig-
keit eine relativ rückläufige Bewegung. Dauert die Drehung
an, so wird die lebendige Kraft dieser Strömung nach und nach
durch die Reibung und Adhäsion an den Röhrenwänden auf-
gezehrt werden, natürlich um so rascher, je enger die Röhre ist,
und die Flüssigkeit bewegt sich dann mit dem Ringe in gleichem
Sinne und gleicher Geschwindigkeit; das System ist dann in
innerer Ruhe. Hält der Röhrenring nun plötzlich in seiner
Drehung inne, so hat doch die Flüssigkeit die lebendige Kraft
ihrer Bewegung; sie wird ihrem Beharrungsvermögen folgend,
so lange im Sinne der früheren Drehung des Ringes weiter-
strömen, bis auch die lebendige Elraft dieser nachläufigen
Bewegung durch die Adhäsion aufgezehrt ist. Übertragen wir
dies auf die Bogengänge und verbinden wir es mit unserer An-
nahme, dafs jede Strömung der Endolymphe in uns die Vor-
stellung erzeugt, wir würden in der Ebene des betreffenden
Ganges und in dem (der Strömungsrichtung) entgegengesetzten
Sinne gedreht. Es ergibt sich daraus als notwendige Konsequenz
unserer Annahme, dafs wir nach länger anhaltender Drehung
unseres Kopfes in irgend einer Ebene beim Stillhalten die
Empfindung haben müssen, wir würden in derselben Ebene im
entgegengesetzten Sinne zurückgedreht."'
^ J. Bsetteb: Über die Funktion der Bogengänge des Ohrlabyrinthe».
Medizin. Jahrbücher. Wien 1874. S. 79.
« Ebda. S. 80. » Ebda. S. 92.
280 -Ha»» ^b<^'
„Wie ein System von in sechs verschiedenen Ebenen ge-
stellten Röhrenringen eine Drehung so analysiert, dafs in jedem
Binge die Komponente wirksam wird, die der Stellung der
Ebene des Ringes zur Drehebene entspricht, so wird auch die
nachläufige Bewegung in den verschieden gestellten Bogen-
gängen verschieden stark sein ; daraus dann der obigen Annahme
nach die für jede Drehebene anders bestimmte, aus jenen Einzel-
perzeptionen resultierende Vorstellung einer Drehung des Kopfes
entstehen. Und zwar ist diese Vorstellung die einer rück-
läufigen, der früheren Drehung entgegengesetzten Bewegung,
denn die Strömungen in den Bogengängen sind nachläufige, mit
der Kopfdrehung gleichsinnige.
Da Strömungen in Röhrenringen relativ zur Wand gleich
bleiben, in welche Stellung wir auch den Ring bringen mögen,
so muls auch die scheinbare Drehung, bei Stellungsveränderung
des Kopfes, diese Veränderung mitmachen." ^
Gegenüber den solchergestalt entwickelten Anschauungen,
die in ähnlicher Form auch Bbown ausgesprochen hatte *, wurde
von Mach und Rosenthal eingewendet, dafs eine länger dauernde
Strömung der Lymphe bei den Reibungsverhältnissen und
Dimensionen der häutigen Kanäle undenkbar sei, und Bbeueb
anerkannte die Richtigkeit dieser Einwendung.* Er erörtert
Maghs Erklärungsversuch mittels eines eigenartigen zentralen
Vorganges und fährt dann fort : *
„Ich möchte eine rohere aber fafslichere Vorstellung vor-
schlagen.
Die Endolymphe übt jedenfalls, auch wenn ein länger
dauerndes Strömen derselben unmöglich ist, durch ihr Trägheits-
moment bei jeder Beschleunigung auf die nervösen Endorgane
der Ampulle, die Hörhaare, einen momentanen Druck aus. Wir
müssen wohl annehmen, dafs der erregende Vorgang im Nerven-
endapparate, hier im Hörhaare, darin besteht, dafs diese gebogen
und dadurch die Druck- und Spannungsverhältnisse in ihm ge-
ändert werden. Solange (innerhalb kurzer Zeiträume) diese
Änderung dauert, dauert wohl auch der Erregungsvorgang in
* Ebda. 8. 93 u. S. 94.
■ Journal of Anatomy and Phyaiology 8.
' J. Breuer: Beiträge zur Lehre vom statischen Sinn. Medizin. Jahr-
bücher. Wien 1875. 8. 124.
* Ebda. 8. 125.
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetiachen u. statischen Sinnes. 281
der zugehörigen Nervenfaser und die dadurch bedingte Empfin-
dung. Sollten wir aber annehmen, dafs die Wirkung des Lymph-
druckes auf die Gestalt der Hörhaare eine momentan ver-
schwindende sei, so würden wir diesen eine sehr hohe Elastizität
zuschreiben, denn sie müfsten dann augenblicklich ihre frühere
Gestalt wiederherstellen. Es scheint mir nun unschwer, sich
vorzustellen, dafs sie eine solche Elastizität nicht besitzen, und
dafs sie nach einem momentanen Stofs der Endolymphe, resp.
der Otolythen nach der Richtung des Stromes sozusagen ver-
bogen bleiben.
Bei den gewöhnlichen kurzen Drehbewegungen folgt dem
Stofse der Endolymphe in der einen Richtung beim Bewegungs-
anfang, alsbald der Gegenstofs in der entgegengesetzten Richtung
beim Bewegungsschlusse. Die noch verbogenen Haare würden
durch diesen Gegenstofs, der ja nie stärker sein kann, als der
Anfangsstofs, in die normale Stellung zurückgeführt werden.
Erfolgt dieser Gegenstofs nicht, d. h. dauert die Bewegung des
Kopfes gleichmäfsig fort, so gewinnen die Haare erst durch ihre
eigene Elastizität langsam ihre ursprüngliche Gestalt wieder; bis
diese hergestellt wird, haben wir, entsprechend und proportional
der Verbiegung derselben, also in abnehmender Intensität, die
Vorstellung einer Bewegung. Dasselbe geschieht am Schlüsse
einer Bewegung, wenn diese lange genug gedauert hat, dafs die
Wirkung des Anfangsstofses schon ausgeglichen ist, und nun
keine Verbiegung der Nervenfasern mehr zu kompensieren ist.
In diesem Falle erfolgt die Verdrückung der Haare nach der
entgegengesetzten Richtung, und wir haben dementsprechend
die Empfindung einer der ursprünglichen entgegengesetzten
Bewegung."
In seiner neuesten Arbeit nun, in der Bbeueb unter anderem
wertvolle Studien über die Einwirkung des Kokains auf die
AmpuUamerven und neue Untersuchungen über gesonderte elek-
trische Reizung der einzelnen Ampullen bringt, kommt Bbeueb
auf Grund eigener und fremder Untersuchungen über den feineren
Bau des Endapparates in der Ampulle zu einer abermals modi-
fizierten Anschauung. Er sagt mit Bezug auf die oben an-
geführte Hypothese:^
^ J. Bbeusb: Studien über den Vestibularapparat. Sitzungsberichte d.
kaiserl. Akad. d. Wissenschaften in Wien, Bd. 112, Abt. 3, 1903.
282 JJan« Abels.
„Die hier entwickelte Vorstellung hat das Mifsliche, dafs sie
"den Erregungsvorgang der Nerven in das Zellhaar verlegt; dieses
"aber ist em Kutikulargebilde und es ist gewifs nicht wahrschein-
lich, dafs es mit dem Nerven in so direktem Zusammenhang
stehe, dafs seine Deformierung selbst Grundlage der Nerven-
erregung sei.
Weiter wird hier vorausgesetzt, dafs die Haare voneinander
•unabhängig, nebeneinander stehen, wie die Getreidehalme auf
dem Felde oder wie kurzgeschnittenes Kopfhaar. Dies aber
scheint mit den Bildern nicht zu stimmen, welche man bei der
mikroskopischen Untersuchung mit den jetzt übHchen Methoden
vom Endapparate der Ampullen gewinnt."
Die Haare flottieren nämlich nicht, wie es für die früher
geschilderten Vorgänge nötig wäre, frei in der Endolymph-
flüssigkeit, sondern „mit üblichen Härtungsmitteln behandelte
häutige Ampullen zeigen, dafs alle Zellhaare des Nervenepithels,
durch eine nun erstarrte Zwischenmasse verklebt, verschieden
geformte, aber bei jeder Tierspezies für jede einzelne Ampulle
konstante Gebilde darstellen," die sogenannte Cupula terminalis,
„die äuTseren Konturen derselben sind scharf und rein; sie fallen
zusammen mit dem Verlaufe der peripherst gelegenen Zellhare
Ebenso fällt ... die obere Grenzfläche des Gebildes mit den Spitzen
der Zellhaare zusammen." ^
„Die Cupula wird durch den Stofs des im Kanal verschobenen
Endolymphringes als Ganzes verschoben." „Da die Cupula aber
durch die Zellhaare an der Crista befestigt ist, so wird die Ver-
lagerung durch die Haare gehemmt; diese selbst aber werden
gespannt. Diese Streckung und Spannung betrifft aber nur die
unterste Strecke der Haare zwischen Epithel und Cupula in der
Länge von 0,01 bis 0,02 mm (eine Region nämlich, in der nach
Bbbüers histologischen Befunden die Zellhaare frei von Zwischen-
substanz sind, welche demgemäfs nicht bis an die Oberfläche der
Crista reichen soll); das Ausmafs der möglichen Verschiebung
der Cupula ist also sehr klein." *
„Ist nun bei einer Kopfdrehung durch den Stofs oder Druck
der Endolymphe die Cupula einer Ampulle verschoben worden,
so erfolgt meistens alsbald der Gregenstofs, welcher das Anhalten
» Ibid. S. 6 u. 7.
« Ibid. S. 11.
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 283
der Drehung begleitet; denn die allermeisten Kopfdrehungen
sind ja von sehr kurzer Dauer. Dieser dem ersten entgegen-
gesetzt gerichtete Endolymphstofs führt die Cupula in ihre
normale Lage zurück und hebt damit die Spannung der Haare
und den Zug auf, der während der Drehung auf die Epithelien
gewirkt hat.
Handelt es sich aber nicht um eine km*ze, sondern um den
Beghm einer länger anhaltenden Drehung, so erfolgt jener Gegen-
stofs der Lymphe nicht und die Herstellung des normalen Zu-
standes wird nur durch die elastischen Kräfte der gespannten
Haare, Deckplatten und wie wir sehen werden durch die Re-
traktion von Schleimbändern und -Tropfen^ bewirkt.
Diese Kräfte sind offenbar minimal und es braucht längere
Zeit, bis die Cupula wieder in ihrer normalen Lage über dem
Cristarücken schwebt.
Solange dies nicht der Fall ist, besteht die abnorme Spannung
der Haare und der Zug an den EpitheUen und solange wird auch
die Empfindung der Drehung erzeugt. Ist bei fortdauernder
Drehung die Normallage der Cupula hergestellt, so erfolgt durch
die Trägheit der bewegten Endolymphe der momentane Nach-
stofs derselben; dieser verlagert die Cupula wieder nach der
anderen Seite und während sie langsam in die Normalstellung
zurückgeführt wird, besteht die Empfindung einer der früheren,
realen, entgegengesetzten Drehung: Drehschwindel."*
Es liegt uns ferne in eine Kritik der Darlegungen Breuers
eingehen zu wollen, wenn auch ein Hauptpunkt in dem histo-
logischen Verhalten, welcher für die BREXjERsche Hypothese, wie
er selbst erklärt, eine conditio sine qua non darstellt — wir meinen
das Freibleiben der untersten Stücke der Zellhaare von Zwischen-
substanz — nach den Befunden anderer Autoren und bei anderen
Tierspezies durchaus nicht unbestritten ist. Wir werden hiervon
-um so mehr Abstand nehmen, als das vermeintliche Problem,
auf den durch eine momentane Beschleunigung erzeugten Er-
regungsvorgang eine länger dauernde Empfindung zurückführen
zu müssen, nach der Art unserer Fragestellung überfiaupt gröfsten-
teils in Wegfall kommt.
Nur auf einen Punkt, nämlich das Verhältnis der Breueb-
^ Im Original nicht gesperrt.
« Ibid. S. 13 u. 14.
284 Ha?»9 Abels,
sehen Hypothesen zu den auffallenden Fakten der Gewöhnung
an Drehschwindel, müssen wir an dieser Stelle kurz ein-
gehen, insofern es gerade die hier bestehende Unvereinbarkeit
war, die den wesentlichen Anstofs zu vorliegender Untersuchung
gegeben hat.
Die ursprüngliche Ansicht von Beeueb und Bbown, der-
zufolge beim Anhalten einer längeren Drehbewegung ein durch
die Trägheit hervorgerufenes länger dauerndes Nachströmen des
Endolymphringes bestehen sollte, als Ursache für den Nach-
schwindel, liefs natürlich keinerlei Erklärung des Gewöhnungs-
phänomens zu.
Bei der nächsten Fassung seiner Hypothese machte Bbeue»
den, wenn auch sehr vorsichtigen, Versuch, eine Erklärung für
die „grofse Adaptionsfähigkeit, welche das Organ der Bewegungs-
empfindungen sicher hat," zu geben, indem er sagt:^
„Ich glaube nun in allen diesen Fällen es für denkbar halten
zu dürfen, dafs unter dem Einflüsse häufiger in der sonst imge-
wohnten Richtung erfolgender und nicht durch Gegenstofs kom-
pensierter Endolymphstöfse (bei ungewohnten, länger dauernden
Bewegungen) sich allmähUch die Elastizität der Hörhaare steigere,
dieselben rascher ihre normale Gestalt wieder gewinnen und
dementsprechend die Dauer der Bewegungsnachempfindung, des
Schwindels abnehme."
Ich mufs gestehen, dafs es mir und soweit ich sehe auch
anderen sehr schwer fällt, sich vorzustellen, dafs die sogenannten
Hörhaare, also EpitheUalgebilde in so kurzer Zeit, im Laufe von
Tagen oder selbst nur Stunden eine derartige Änderung ihrer
Wesens- und Funktionseigenschaften erfahren sollten, wie wir sie
sonst höchstens bei einzelnen Bestandteilen des Zentralnerven-
systems anzunehmen geneigt sind.
Im Rahmen der neuesten Fassung von Breuers Hypothese,
wonach die im Anfange oder am Ende einer langen Dreh-
bewegung erfolgende Verschiebung der Cupula durch die mini-
malen elastischen Kräfte eines Schleimtröpfchens * langsam wieder
ausgeglichen werden soll, bleibt für die „grofse Adaptionsfähig-
keit", die Breuer in der früheren Arbeit selbst betont, absolut
keine ErklänmgsmögUchkeit, da man wohl von einer „Tränierung"
' Mediz, Jahrbuch 1875, S. 126.
* Studien über den Vestibularapparat 8. 25.
über Nachempfindungen im Gebiete de» JdnästhetiscJien ic. statischen Sinnes. 285
eines Schleimtröpfchens in bezug auf seine Elastizität nicht gut
sprechen kann ; und Bbetiee gibt diesen äufserst schwerwiegenden
Mangel seiner Hypothese stillschweigend zu, indem er die Ge-
wöhnung in seiner neuesten Arbeit gar nicht erwähnt. Nicht
verschweigen können wir, dafs auch sonst die Annahme eines
Schleimtröpfchens als wichtigsten agierenden Faktors in dem
mechanischen, reizaufnehmenden Apparate eines Sinnesorganes,
das wir uns doch mit der in einem Organismus überhaupt er-
reichbaren Promptheit funktionierend vorzustellen gewohnt sind,
entschieden uns eine ganz singulare Stellung einzunehmen scheint.
Wenn wir nun auf Grund eigener Beobachtungen und Ver-
suche sowie zahlreicher von anderen, meist auf diesem Gebiete
sehr versierter Autoren stammender Forschungsergebnisse es ver-
suchen, eine Darstellung der Nachschwindelerscheinungen zu
Uefem, die zugleich, wie schon bemerkt, die Physiologie des
statischen Sinnes in einigen wichtigen Punkten der Physiologie
der anderen Sinne um ein BeträchtUches annähert, so werden
wir das Kapitel der komplizierteren Schwindelerscheinungen so-
wie der Gewöhnung als eines der verwickeltsten erst in Angriff
nehmen können, nachdem wir das Verhalten der Drehempfindimg,
öamentlich in zeitlicher Beziehung, erst an klarer liegenden,
jedoch bisher in diesem Sinne wenig ausgewerteten Versuchs-
ergebnissen studiert haben.
Oalyanisclier Schwindel und Nachschwindel.
Nachdem schon Pübkinje^ die Folgeerscheinungen einer
galvanischen Durchströmung des Schädels in querer Richtung
beschrieben, hat Hitzig * die ersten eingehenderen Untersuchungen
auf diesem Gebiete angestellt. Seine Ergebnisse lauteten : Galva-
nischer Schwindel entsteht nicht durch momentane Ströme,
«ondem nur, wenn galvanische Ströme von merkUcher Dauer
durch den Kopf geleitet werden. Die Versuchsperson schwankt
mit dem Kopfe oder ganzen Körper bei der Kettenschliefsung
nach der Seite der Anode. Die Gesichtsobjekte zeigen während
^ PiTRKiNjE. Med. Jahrbuch d. österr. Staates 6. 1820.
• Hitzig. Über die beim Galvanisieren des Kopfes entstehenden
Störungen der Mnskelinnervation und der VorsteUungen vom Verhalten
im Räume. Beicherts u. Du Bois-Reymonds Archiv. 1871.
286 -Sa»» ^A^^'
der Stromdauer eine entgegengesetzte Scheinbewegong, d« h. sie
scheinen wie ein aufrechtes, dem Gesichte paralleles Bad von der
Anode zur Kathode zu kreisen. Diese Scheinbewegungen werden
durch den unbewuTsten Augennystagmus bedingt. Die zuckende
Phase desselben geschieht in der Richtung des positiven Stromes,
die langsame Bewegung im umgekehrten Sinne. Die Ver-
schiebung der Netzhautbilder durch den letzteren Akt, wird, da
die Bewegung unbewufst geschieht, auf die Gegenstände bezogen
und erzeugt die Scheinbewegung, die der ruckartigen Bewegung
entsprechenden Bilder werden überhaupt nicht perzipiert. Nach
der Öffnung der Kette konnte Hitzig folgende Erscheinungen
konstatieren : Schon nach Einwirkung so schwacher Ströme, dafs
deren Schlufs oder Stromdauer keinerlei Wirkung erzeugte, wurde
nachträglich eine mehr minder ausgesprochene Unsicherheit über
das räumliche Verhalten des eigenen Körpers oder der aufser-
halb gelegenen Dinge jedoch ohne Scheinbewegung von be-
stimmter Richtung beobachtet Bei starken Strömen (während
deren Stromdauer übrigens die Erscheinungen eine allmähliche
Abschwächung erfuhren) erfolgte auf Öffnung der Kette Schwanken
und Gefühl des Gedrehtwerdens nach der Kathodenseite, und
diese Empfindung hielt manchmal geraume Zeit an.
Die Resultate späterer von anderer Seite wiederholter Unter-
suchungen können wir hier übergehen, da sie nur in nebensäch-
lichen Punkten, namentlich in der Beurteilung der Scheinbewegung
des eigenen Körpers abweichen, und di\ für uns zunächst nur
jene zuletzt erwähnten Erscheinungen i. e. die nach dem Auf-
hören eines galvanischen Stromes auftretenden, von Interesse
sind. Erst in der Arbeit von Jensen (Über den galvanischen
Schwindel. Pflüg er s Archiv 64) finden wir die hierauf bezüg-
lichen Fakten in dankenswertester Präzision, ebenso wie sämtliche
bei der galvanischen Reizung objektiv zu eruierenden Tatsachen
untersucht und erörtert. Jensen verteidigt den zuerst von Bbböeä
aufgestellten, von vielen anderen Autoren (Ewai^d, Kbeibl,
PoLLAK u. a.) bekräftigten Satz, dafs der galvanische Schwindel
von elektrischer Erregung des Labyrinthes abhänge, gegenüber
den Einwürfen Steehls, der an normalen und labyrinthlosen
Tauben und Fröschen keine Differenz im Verhalten gegenüber
dem galvanischen Strome gefunden haben wollte. Jensen stellte
nun in seinen exakten Untersuchungen an normalen und labyrinth-
losen Tauben fest, dafs man die Erscheinimgen des eigent-
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetiachen u. statischen Sinnes. 287
liehen galvanischen Schwindels von den sogenannten
Nebenreaktionen unterscheiden müsse, ^elch letztere auch
schon Ewald erwähnt, ohne sie genauer zu beschreiben. Jenskn
weist nach, dafs es diese und nur diese im allgemeinen ruck-
artig verlaufenden Nebenreaktionen (Jeksek nennt sie daher auch
Zackungsreaktionen) sind, welche bei normalen und labyrinth-
losen Tauben in gleicher Weise vorkommen und zwar zumeist
erst bei etwas höheren Stromstärken als die ersten eigentlichen
Schwindelreaktionen. Ihre Entstehung wird durch Narkose-
versuche mit Wahrscheinlichkeit auf die direkte Reizung moto-
rischer Zentren zurückgeführt.
Im Gegensatze hierzu stehen die nur bei normalen Tauben
auftretenden, dem Kopfnystagmus (Breuer) bei Botationen fast
in allen Punkten analogen Erscheinungen, die Jensen zum Unter-
schiede von den sehr passageren Nebenreaktionen Dauer-
reaktionen nennt. Sie bestehen in einer mit geringer, ziem-
lich gleichförmiger Geschwindigkeit ausgeführten Neigung des
Kopfes und zwar beim Kettenschlufs nach der Anoden-, bei der
KettenöfEnung nach der Kathodenseite. Sowie diese Neigungen
eine gewisse Gröfse erreicht haben, so werden sie von gegen die
Mittellinie gerichteten nystagmusartigen Zuckungen unterbrochen.
Der einzige Unterschied gegenüber dem Kopfnystagmus bei
Botationen ist, wie Jensen a. a. 0. S. 191 sagt, der, „dafs im vor-
liegenden Falle der Winkel, welcher den Reaktionsphasen ent-
spricht, jeweils gröfser ist als derjenige der Nystagmusphasen,
so dafs der Kopf in jeder Reaktionsphase sich dem Neigungs-
maximum mehr nähert. Erst nachdem das letztere erreicht ist,
werden bei den wenigen noch verlaufenden Nystagmusbewegungen
die Winkel der beiden Phasen gleich. Im erreichten Neigungs-
maximum kommt der Kopf ganz allmählich zur Ruhe, indem
der Nystagmus schwächer und seltener wird." Die Off nungs-
dauerreaktion unterscheidet sich von der Schliefsungsdauer-
reaktion (abgesehen natürlich von der entgegengesetzten Richtung)
in gar nichts, als dafs sie erst bei etwas gröfserer Stromstärke
auftritt und in dem räumlichen Ausmafse stets hinter dieser
zurückbleibt, während sie ihr dem Charakter nach vollkommen
gleicht. Die Zeitdauer der Öffnungsdauerreaktion kann schon
bei Stromstärken von 0,35-0,5 Milli-Ampöres 15 Sekunden be-
tragen, bei 1,5 Milli-Ampöres sogar eine Minute. Jensen steht
nicht an, diese Erscheinungen als einen galvanischenNach-
288 ^an» '^^«^*
schwinde! in völlige Analogie zu dem Nachschwindel
nach Rotationen zu bringen.
Das Vorhandensein eines typischen galvanischen Nach-
schwindels ist bis jetzt unseres Wissens für eine Theorie des
Schwindels im allgemeinen nicht verwertet worden. Dies ist um
so auffallender, als ja die erste, unmittelbarste und, wie uns
scheint, völlig zwingende Folgerung aus jenen Tatsachen die ist,
dafs zur Erklärung eines solchen, nach einer für die Lebens-
bedingungen des Organismus abnormen Reizung zurückbleibenden
Nachschwindels auf eine vermeintliche Unvollkommenheit des
unter gewöhnUchen Bedingungen die mechanische Energie auf-
nehmenden und der Nervenendigung als Reiz übermittelnden
Endapparates nicht rekurriert werden kann. Denn es wird wohl
niemandem einfallen, sich vorzustellen, dafs durch den gal-
vanischen Strom die Bogenflüssigkeiten in Rotation versetzt, die
sogenannten Hörhaare verbogen oder die Cupula verschoben
wurde. Vielmehr ist es klar, dafs der elektrische Reiz direkt
die Nervenendigung (eventuell Sinneszellen) trifft. Wir sind also
zur Erklärung d i e s e s Nachschwindels einzig und allein auf das
Gebiet des Nervenapparates verwiesen. Und es wird sich allerdings
dann sofort die Frage erheben, ob der völUg analoge und ebenfalls
auf abnorme Reizung hin auftretende Nachschwindel im Grefolge
von Rotationen auf gänzlich verschiedenen Gründen beruhen sollte.
Wenn wir nun an die Deutung des galvanischen Schwindels
herantreten, so müssen wir zunächst folgende MögUchkeit ins
Auge fassen. Es wäre denkbar, wenn auch von vornherein sehr
unwahrscheinlich, dafs die ganzen Erscheinungen des Nach-
schwindels nur vom Öffnungsschlage des galvanischen Stromes
abhängen, und demgemäfs durch eine Eigentümlichkeit der mit
dem Vestibularapparat in Verbindung stehenden Teile des
Nervensystems bedingt wäre, ähnlich wie sich etwa Mach vor-
stellte, dafs eine momentan erregte Drehungsempfindung sowie
ihre motorischen Begleiterscheinungen eine bedeutende Nach-
dauer besitzen sollten. Abgesehen davon, dafs eine solche An-
nahme in der Sinnesphysiologie ohne jede Analogie dastünde,
ist sie für unseren Fall schon aus folgenden Gründen zu ver-
werfen. Die SchUefsungsdauerreaktion müssen wir notwendig
als eine Folgeerscheinung des fortdauernden galvanischen
Stromes auffassen, und nicht etwa nur des Stromschlusses.
Halten sie doch bei nicht zu geringen Stromstärken während
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes, 289
der ganzen Stromdauer an, wenn auch langsam sich abschwächend.
Ein Erlöschen kommt „bei stärkeren Strömen und mangelnder
Gewöhnung", wie Hitzig bemerkenswerterweise angibt, nicht
vor. Die allmähliche Abschwächung der Wirkung während der
Stromdauer werden wir aber ohne weiteres nach dem Vorgange
von Ewald und Jensen mit der Tatsache in Verbindung bringen,
dafs man auch bei mehrmaligen aufeinanderfolgenden Versuchen
am selben Tiere bald zu höheren Stromstärken greifen mufs, um
gleiche Wirkungen zu erzielen, dafs also die EmpfängUchkeit
für elektrische Reizung sich abstumpft. Wenn also ein an-
haltender Reiz Erscheinungen einer bestimmten Art hervor-
ruft, so ist es kaum angängig, Dauererscheinungen vollkommen
identischer Art (nur von entgegengesetztem Vorzeichen), die
nach dem Aufhören jenes Reizes auftreten und oft recht lange
anhalten, einem momentanen Reize (dem Öffnungsschlage)
zuzuschreiben. Wir müssen vielmehr für die Erklärung des
galvanischen Nachschwindels auch nach einer andauernden
Ursache fahnden. Ob nun diese im Nervenapparate zu suchende
Ursache als Überreizung oder Ermüdung (mit Beziehung auf die
oben erwähnte rasche Erschöpfbarkeit für elektrische Reize) oder
als reparatorischer Zustand aufgefafst wird, ob die subjektive
Empfindung etwa als negatives Nachbild bezeichnet werden soll,
ist zxmächst ziemlich gleichgültig. Wohl aber können wir mit
höchster Wahrscheinlichkeit den Satz aufstellen: Der gal-
vanische Nachschwindel mufs von einem im Nerven-
apparat durch einige Zeit anhaltenden Folgezustand
der nach Art und Dauer abnormen Reizung abhängen.
Um nun die oben erwähnte Möglichkeit, sich den galvanischen
Nachschwindel als blofs vom Öffnungsschlage hervorgebracht
vorzustellen, völUg zu vernichten und zu gleicher Zeit jene
Deutung des rotatorischen Nachschwindels zu beseitigen, welche
annimmt, er sei nur durch eine momentane Reizung (beim An-
halten der Rotation) hervorgebracht, wäre es natürüch von
gröfster Wichtigkeit, wenn es gelänge, den Nachweis zu erbringen,
dafs die momentan erregte Drehungsempfindung oder die ihr
zugeordneten motorischen Reaktionsbewegungen den Reizungs-
akt nicht wesenthch überdauern.
Im folgenden Abschnitt wollen wir diesen Nachweis versuchen,
(Schlufs folgt.)
Zeitschrift für Psychologie 43. 19
290
Besprechung.
W. A. Lay. Experimentelle Didaktik. Ihre Gnmdlegnnf mit besonderer Rftck*
siebt anf Hnskelsinn, Wille nnd Tat. I. Allgemeiner Teil. 2. Aufl. Leipzigs
Nemnich. 1905. 595 S. Mk. 9,00.
„Wider Erwarten schnell wurde die 1. Auflage vergriffen", schreibt der
Verf. in dem neu hinzugefügten Vorwort (S. X) der vorliegenden „2. Auflage".
Ein Vergleich dieser sog. „neuen Auflage*' (S. XVIII) mit der ersten ISM
jedoch nicht den geringsten Zweifel darüber bestehen, dafs es sich nur um
eine Titelauflage handelt. Ein für das „Vorwort zur ersten und zweiten
Auflage" eingeschobener Druckbogen und eine Änderung des Inhalts-
verzeichnisses — wozu allerdings die im Text stehen gebliebenen Über-
schriften der „1. Auflage'' sehr schlecht passen — bilden die einzigen Ver-
änderungen dieser „neuen Auflage". Natürlich sind auch die samtlichen
zahlreichen Druckfehler der „1. Auflage" und — das Druckfehlerverzeichnia
wieder mit erschienen.
Die „erste Auflage*' ist in dieser Zeitschrift 35, S. 307 ausführlich und im
allgemeinen zutreffend besprochen, unter anderem auch als „Exzerpt und
Kompilation" (S. B12) bezeichnet worden. Eine eingehende Beschäftigung
mit dem Buch, auf die ich durch psychologisch-didaktische Studien geführt
wurde, hat mich jedoch erkennen lassen, dafs nicht nur grobe, ober-
flächliche Kompilationen, sondern in sehr vielen Teilen geradezu
Plagiate vorliegen.
Das trifft vor allem für den Abschnitt über die „Triebbewegungea
und Spiele des Kindes" (S. 45 — 104) zu, der mit Ausnahme weniger Seiten
fast wörtlich K. Gboos, Die Spiele der Menschen, Jena 1899, entnommen
ist. Die Quelle wird nicht genannt. Dafs Lay S. 46 bei der Definition des
Spiels den Namen Gboos erwähnt, läüBt doch nicht im geringsten erkennen,,
dafs dessen eben genanntes Werk die „Quelle" des ganzen Kapitels
bildet. Erst auf S. 50 Anm. 5 heifst es, nachdem schon fünf Seiten aus-
geschrieben worden sind: „Groos a. a. 0. S. 62", ohne dafs jedoch vorher
der Titel angegeben wäre. Die Disposition des Gaoosschen Werkes l&Tst
sich bei Lay bis ins einzelne verfolgen. Durch eine Gegenüberstellung des
Textes der Vorlage und der Ausführungen des Verf.s gewinnt man einen
deutlichen Einblick in die Arbeitsweise Lays.
Bespreckwng.
291
Lat schreibt 8. 45 (ohne An-
ftihrangszeichen] :
„Nach Pbrez darf en wir annehmen,
dafs ein Kind von 2 Monaten schon
Lust über die Berührung empfand,
als es sanft gestreichelt wurde. Mit
3 Monaten sucht das Kind sich durch
Bewegungen jenes Lustgefühl der
Berührung selbst zu verschaffen."
Bei Gboos steht S. 8:
„Nach PjBrbs kann man annehmen,
dafs ein Kind von 2 Monaten, das
sanft gestreichelt wird, schon Lust
über die Berührung empfindet. Von
diesem Moment an wäre dann die
Möglichkeit gegeben, dafs ei9 sich
den Berührungsreiz durch seine Be-
wegungen SU verschaffen sucht."
Als Quelle zitiert dann Lat in der Fufbnote einfach das von Gboos
8. 8 u. 9 angeführte Werk : B. Pbbbz, Les trois premi^res annöes de l'enfant.
5. td. Paris 1892. S. 38 u. 46. Oder vgl.
Lat 8.46 : „Nach Stallet Hall wird
die Nase nicht blofs betastet, sondern
manchmal mit deutlichen Zeichen
von WlTsbegier in an ,investigating
way' gezupft und gerieben.'^
Gboos 8. 9 : „. . . sagt Stanlet Hall,
wird sie (die Nase) doch mit deut-
lichen Zeichen von Wifsbegier be-
tastet und manchmal auch ,in an
investigating way' gezupft und ge-
rieben."
Auch hier führt Lat als Quelle nicht etwa Gboos an, sondern das von
Gboos zitierte Werk: 8tanlet Hall, 8ome Aspects of the early Sense of
Seif. American Journal of Psychol 9, Nr. 3. 1898. In dieser Weise ist der
ganze Abschnitt aus Gboos ausgeschrieben worden.
Für eine etwaige Nachprüfung, durch die man erst ein deutliches Bild
von dem aufserordentlichen Umfang dieser Abschreiberei gewinnt, sind in
der nachfolgenden Übersicht die bei Lat und Gboos sich entsprechenden
Seiten angeführt. Die einigen Seitenzahlen beigefügten Namen zeigen an,
da£8 Lat den Titel des von Gboos benutzten und bei ihm in Fufsnoten
regelrecht zitierten Werkes des betreffenden Autors unverglichen einfach
von dort übernommen hat, wodurch der Anschein erweckt wird, als ob
ihm die zahlreich angeführte Spezialliteratur direkt als Quelle gedient hätte.
(Dafs die wissenschaftliche Gepflogenheit, sekundäre Quellen auch als solche
zu kennzeichnen, Lat nicht unbekannt ist, zeigt die erste Fufsnote auf
S. 76, wo die verfängliche Entlegenheit eines Werkes von Lombboso den
Verf. zu der Zitation „Nach Lombboso, zitiert von Gboos a. a. 0. 8. 276"
gezwungen zu haben scheint.) Vgl.
Lat:
Seite öl
„ 64,66
„ 66
„ 67
„ 68
„ 69
„ 70
„ "ja
« 74
Gboos:
Seite 63, 64 (Jahbs), 67, 73.
„ 96, 97, 101—107.
„ 116, 117, 120, 121, 275, 122.
„ 123 (Pbetbb), 124, 125 (James).
„ 126, 128 (Pbetbb).
„ 129, 130 (SoüBiAu), 131—134, 138, 140.
„ 141, 147, 142.
„ 7, 217 (Lazabus), 218.
„ 220, 222, 224, 226—228, 233.
236, 248, 269, 261.
19*
292
Besprechung.
Seite 261, 250, 254.
„ 276, 276 (Emminghaus), 277.
„ 278, 286, 284, 287, 286 (Pollock).
„ 289, 302, 803 (Schneider).
„ 372 (Tracy), 373.
„ 374, 376, 377 (Sioismund), 379 (Pbbyeb).
„ 387, 377, 388-391.
„ 393, 392 (Baldwin), 404.
„ 414, 413 (Nachtioal).
„ 432, 434, 435, 450, 451.
„ 436.
„ 444 (Baldwin).
„ 416 (Joüpfroy).
., 421, 420.
„ 423.
„ 425 (Stricker), 427, 424, 428 (Contempwary J3metr).
„ 427, 428 (der engl. Text bei Groos von L. tibersetzt).
„ 419 (Th. Lipps), 428, 429.
Wie Iftcherlich und unsinnig das durch die bei Lay beliebte Um-
stilisierung der Vorlage entstehende Produkt werden kann, möge ein Bei-
spiel zeigen. Groos schreibt S. 129: „Schon der einjährige Läu£ling hebt
alle Steinchen auf, um sie fortzuschleudern . . .'' Daraus macht Lay
S. 69: „Schon das dr ei jährige (I) Kind hebt Steinchen auf, um sie fortzu-
schleudern ..."
AuTser diesem Abschnitt über die Triebbewegungen hat Lay noch aus
dem Werke von Groos die Ausführungen auf S. 292 und 301 ff. ohne
Quellenangabe herübergenommen. Vgl.
Seite 75
n
76
t»
77,
78
7»
79
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82
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92
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94
»»
96
»»
96
»»
97
98
99
Lay S. 292 (ohne Quellenangabe
und Anführungszeichen):
„Bei Natur- und Kulturvölkern
sind Knaben und Jünglinge eifrig
bestrebt, mannhaft die Schmerz-
reaktion zu unterdrücken. Der Indi-
aner erträgt standhaft die schmerz-
lichen Narbenzeichnungen, der Stu-
dent das Zunähen der Schmisse,
und Grofs und Klein suchen bei
den Wechselfällen des Spiels die
Gefühlsän&erungen der Unlust zu
unterdrücken."
Groos S. 212:
„Die Selbstbeherrschung bei körper-
lichem Schmerz gUt überall als ein
Zeichen der Mannhaftigkeit und
wird sowohl von den Natur-
völkern als auch von unseren
Knaben und Jünglingen eifrig
. . . geübt. Das ruhige Ertragen
der schmerzlichen Narben-
bezeichnungen bei so vielen
primitiven Stämmen, die Stand-
haftigkeit des Indianers . . ^
die Selbstüberwindung des 8ta-
denten, der beim Flicken
seiner Schmisse Scherze macht
und die scheinbare Gleichgültig^
keit bei den Wechselfälien des
Hasardspieles geböreii hierher.*
Besprecßiung.
293
Die Erörterungeü Lays über das Einlernen von Bewegungshemmangen
(S. 301 ohne Quellenangabe) stehen fast wörtlich bei Gboos S. 211, 213, 214.
Die sich dort findenden Quellenangaben für die angeführten Spiele hat
Lay weggelassen. Zu S. 138 u. 139 vgl. Gboos S. 180 u. 182.
Ebenso flüchtig und sorglos sind die beiden Abschnitte über den sog.
„Muskelsinn'' (S. 10—32) kompiliert, zum Teil wörtlich ausWüNDTS Fhysiol,
Psychologie, 4. Aufl. abgeschrieben.
Lay S.13 (ohne Erwähnung WuNDTß,
nur unter Angabe der bei Wundt sich
findenden Originalquellen) :
„Leydbn und Bbbnabd(I) fanden,
dafs bei Störungen der Hautempfind-
lichkeit die Empfindlichkeit für das
Heben von Gewichten in normaler
Weise (I) fortbestehen kann und be-
haupteten wieder die Existenz von
Innervationsempfindungen. Sie glaub-
ten sich hierzu um so mehr be-
rechtigt, als man gefunden hatte,
dafs in Fällen, wo die Muskeln atro-
phisch geworden und durch den
elektrischen Strom nicht mehr reiz-
bar waren, die Wahrnehmung der
Stellung und Bewegung der Glieder in
einem gewissen Grade erhalten blieb."
Aus Wü»DT hat Lay auch die
Wundt a. a. O. I* S. 427:
„Lbydbn und Bbbnhabdt fanden, dafs
bei Sensibilitätsstörungen der Haut
die Empfindlichkeit für das Heben von
Gewichten in normaler Gröfse fortbe-
stehen kann. Beide Beobachter sahen
in dieser Tatsache einen Beweis für
die Existenz zentraler Innervations-
empfindungen, um so mehr, da auch
in solchen Fällen, wo die Muskeln
atrophisch geworden waren und
ihre elektrische Reizbarkeit verloren
hatten, noch die Wahrnehmung der
Stellung und Bewegung der Glieder
in einem gewissen Grade erhalten
geblieben war."
Spezialliteratur unkontrolliert über-
nommen, wobei dann die seltsamsten Versehen vorgekommen sind, wie die
Verwechslung des französischen Physiologen Ol. Bsbnabd mit M. Bbbnhabdt,
wodurch im Text ein Widerspruch entsteht (S. 13, Anm. 4). Die Zitate
Tbbndblenbübo (S. 12), Abnold, Bebnabd, Vibchow (auch bei Wxrtnyr fälschlich
Bd. 67 statt 47), Archiv /". Fsychiatrie und Raubbb (S. 13, Anm. 1, 2, 3, 4 u.
S. 14) stammen sämtlich aus Wundt (4. Aufi., I, S. 427).
Zu Lay S. 18, 19 vgl. Wundt U* S. 24, 27, 28, 32 u. Anm. 1.
Das Kapitel über „Die Aufmerksamkeit und ihre Bewegungen'' (S. 134ff .)
ist ein Exzerpt aus der 1. Aufl. von Ribot, Psychologie de l'attention und
gröfstenteils nur eine wörtliche, dazu noch mangelhafte Übersetzung der
Vorlage.
Ohne Quellenangabe schreibt Lay
S. 136:
„Es wird allgemein angenommen,
dafs im Zustande der Aufmerksam-
keit die beteiligten Zentren des
Gehirns eine erhöhte Blutzufuhr auf-
weisen, die eine Erweiterung der
betreffenden Blutgefäfse zur Voraus-
setzung hat. Diese wird herbei-
geführt von vasomotorischen Nerven,
Bei Ribot heifst es etwas ausführ-
licher S. 22:
„II est extrömement probable et
presque universellement admis, que
l'attention ... est accompagn^e de
l'hyperh^mie locale de certaines par-
ties du cerveau . . . Cette hyperh^mie
locale a pour cause une dilatation
des artäres qui a elle-mäme pour
cause l'action des nerfs vasomoteurs
2d4
Bupr^kwng.
die vom Willen nnabhftngig sind,
aber anter dem EinfluTs von €tomüte-
bewegnngen stehen. Mosso u. a.
haben experimentell nachgewiesen,
daijs die leichteste and fiflchtlgste
Gemütsbew^fang yermehrte Blut-
zufahr nach dem Gehirn verursacht."
sur les tuniques musculaires des
art^res. Les nerfs vaso-moteurs de-
pendent du grand sympathique, qui
est Boustrait k Taction de la Toloat^,
mais qui subit toutes les influences
des ^tats affectifs. Les expMenees
de Mosto, entre autres, montrent qui
r^motion la plus l^g^re, la plus fugi-
tive, cause un afflux de sang au
cerveau."
Vgl. weiter bei Lay und Bibot die Seiten 135:21; 196:22—24, 27;
137:3(V-32; 138:38; 139:47 (beginnt Chap. IL L*attention rolontaiie);
140 : 99; 142 : 62 (Was Lat ohne Quellenangabe über die Beobachtung Pbbxe'
sagt, steht hier mit Angabe der Quelle; sogar die darauf folgenden päda-
gogischen Erörterungen stammen aus der Vorlage), 143 : 41 ; 144 : 109. Lats
Darlegungen Aber die krankhafte Ausartung der Fähigkeit der Aufmierk-
samkeit (8. 149 ff.) sind ein dürftiger Auszug aus dem 3. Kap. Rmors: Les
^tets morbides de Tattention (8. 115, 117, 120, 124, 162, 163). Vgl.
Lat S. 149 (ohne Quellenangabe):
„Kinder und viele Frauen sind
zerstreut. Sie sind nicht fähig, eine
gewisse Zeit einen Gegenstand zu
fixieren oder bei einer Vorstellung
zu verweilen, sondern gehen unauf-
hörlich von einem Dinge zum andern,
vcm einer Vorstellung zur andern
über und wenn sie auch noch so
unbedeutend ist. Sie sind in einem
Zustand beständiger Unruhe . . ."
8. 150: „Die motorischen Apparate
sind immer anormal durch Läh-
mungen, Krämpfe, Muskelsteifigkeit,
Epilepsie oder einen Automatismus,
der endlos dieselben Bewegungen
wiederholt ..."
In ähnlicher Weise ist das folgende Kapitel über „Assoziation und
Assimilation '^ (S. 154 — 164) aus Ziehen, Leitfaden der physiol. Psychologie,
Baldwin, Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse, und
MÜNSTEBBEBG, Grundzüge der Psychologie, zusammengeschrieben worden.
Aus Ziehen (a. a. O. 8. 173) stammen die Ausführungen auf 8. 154 u. 155,
die zum Teil fast wörtlich der Vorlage entnommen sind, ohne daCs dieselbe
genannt wird. Vgl.
Rebot 8. 115:
„II (die Zerstreuung) se rencontre
fr^quemment chez les enfants et chez
les femmes . . . incapable de se fixer
d*une mani^re quelque peu stähle, qni
passent incessamment d'une id^e k
une autre, au grö des changements
les plus fugitifs de leur hnmeur on
des ^vönements les plus insignifiants
dans leur milieu. G'est un ^tatper-
p^tuel de mobilit^ . . ."
8. 161: „ ... II präsente toujours
des anomalies: paralysies, convul-
sions, contractures, Epilepsie ou un
automatisme bom^ qui r^pete sans
fin les m^mes mouvements . . ."
Lat 8. 156:
„So oft der Komplex a und b er-
regt wird, findet eine Miterregung
der von ihnen ausgehenden Bahnen
statt. Man mufs annehmen, dafs . . .
Ziehen 8. 173:
„So oft a und b zugleich erregt
wurden, fand eine Miterregung der
von a und 6 ausstrahlenden Bahnen
statt ... die Folge der öfteren Er-
Be9pre(^Hng. 296
durch Wiederholung die Bahn aus-
gesehliffen werde . . /'
regung . . . Wird sein, dafs die Bahn
ab ^auBgeechliffen^ wird . . /'
Das Zitat bei Lat aus Passt (S. 158) steht bei Baldwin S. 288. Der
psychologische Vorgang des Wiedererkennens wird von Baldwin (S. 293) mit
fast genau denselben Worten erklärt. Lat setzt (S. 161) in dem Beispiel nur
für „Pfirsich '^ Apfel und ändert dementsprechend die Anfangsbuchstaben p
in o(I). Die Nennung BALDwiNsauf S. 161 läfst eine derartige Benutzung
seines Werkes durchaus nicht erkennen. Wenn Baldwin S. 289 sagt : ,,Wir
können alle diese Elemente . . . unter das allgemeine Prinzip der Gewohn-
heit bringen . . /', so schreibt Lat 6. 160: ,|Die Assimilation läfst sich
meiner Ansicht nach(I) unter das allgemeine Prinzip der Gewohnheit
bringen.'' Die Erörterungen über die biologische Bedeutung des Wieder-
erkennens (S. 162), die Latb geistiges Eigentum zu sein scheinen, sind auch
ohne Quellenangabe mit unerheblichen Änderungen der Vorlage ent-
nommen. Vgl.
Lat S. 162:
„Ein Hund, der die Peitsche seines
grausamen Herrn zum ersten Male
sieht, erhalte Prügel. Wenn er die
Peitsche wieder sieht und erkennt,
so stutzt er, fürchtet sie und flieht
oder will fliehen . . . Das Fliehen
des Hundes entspricht aber dem
Überleben desjenigen Geschöpfes,
das zum Leben geeignet ist. Daraus
erkennen wir die grofse biologische
Bedeutung des Wiedererkennens.''
Baldwik S. 2991:
„Ein Hund, der die Peitsche zum
ersten Mal sieht, erhält seine Prügel.
Das nächste Mal jedoch sieht er die
Peitsche, er erkennt sie mit dem
unmittelbaren Trieb zu stutzender
Aufmerksamkeit, Furcht und Flucht
. . . Ich brauche nicht hinzuzufügen,
dafs das Fliehen des Hundes vor
seinem grausamen Herrn (vgl. Lat
oben) dem Überleben desjenigen Ge-
schöpfs, das zum Leben geeignet ist,
entspricht."
Aus MÜN8TEBBEB0 Stammt nicht nur der unter Anführungsstriche ge-
setzte Satz auf S. 160, sondern auch die voraufgehenden Ausführungen
über die motorischen Elemente in der Assimilation (vgl. Mvnsterbbbg S. 551).
Über die Quelle Lats für die S. 251 ff., 323 ff., 584, 589-^91 gegebenen
Ausführungen vgl. diese Zeitschrift 35, S. 312.
Der Abschnitt „Didaktische Experimente über Anffassungs typen"
(8. 251 ff.) ist entnommen aus Stebn „Über Psychologie der individuellen
Differenzen", ohne dafs die Quelle auch nur mit einem Worte erwähnt
wäre. Durch die Quellenangabe bei Lat S. 251 Anm. 1: „Binbt, Psycho-
logie individuelle. La description d'un objet. AnnSe psychol 8, S. 296—832.
1896", wird der Eindruck erweckt, als ob das von Stbbn benutzte und
zitierte französische Werk auch von Lat benutzt worden sei. Nicht nur
die Beschreibung der Experimente Bikets hat Lat fast wörtlich der Arbeit
Stxbnb entnommen, sondern auch die von Stebn gegebene Charakterisierung
und Klassifizierung der Typen, sowie dessen Kritik der BiKETSchen Ver-
suche. Latb eigene Arbeit beschränkt sich auf die Übersetzung der Schüler-
anfsätze, die Stkbh im Original wiedergibt.
Aus demselben Werk stammen die Ausführungen Lats über die
„mental tests" (S. 589 ff.), wo ebenfalls Stebns Name nicht erwähnt wird.
296
Besprechung.
Dagegen ist auch hier wieder die Quellenangabe „La Psychologie indivi-
duelle. AnnSe psychol 2, S. 464. 1896", aus Stbbn (S. 36 u. Nr. 60 der
Bibliographie) übernommen. Das Schlimmste jedoch ist, dafs Lat die
,,mental tests'' empfiehlt, ohne irgend einen der vielen Gründe Stebns gegen
ihre Anwendung auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu entkräftigen.
Was Lat jedoch aus der Kritik Sterns pafst, übernimmt er fast wörtlich,
um es als sein geistiges Eigentum auszugeben. Vgl. z. B.
Lay S. 590 (ohne Quellenangabe):
„Bei diesem Vorschlage wird das
Binnesleben nicht beachtet; die
beiden Psychologen begründen dies
mit der Tatsache, dafs die psychi-
schen Differenzen der Individuen
um so gröfser und um so deutlicher
zu erkennen sind, je höher die see-
lischen Funktionen stehen.*'
Stebn a. a. O. S. 36:
„Es fehlt merkwürdigerweise ganz
das Empfindungsleben, was BoniT
und Hbnri mit dem an sich richtigen
Satze begründen, dafs die psychi-
schen Differenzen um so bedeutender
und deshalb leichter erkennbar seien,
je höher die seelischen Funktionen
stehen."
Das Zitat aus Kbabpelin (Lay S. 406) ist unverglichen der Vorlage
(Stebn, Psychol. der individuellen Differenzen S. 120) entnommen. Wie
sklavisch Lay beim Ausschreiben seiner Vorlage gefolgt ist, mögen zwei
Beispiele zeigen. Bei Ebbinghaus, Grundzüge d. Psychologie, 1. Aufl., S. 674
heilst es: „. . . Bei weitergehender Übung im Lesen aber nehmen die
Zahlen immer noch weiter ab. Ich selbst lese 100 derartige Worte in etwa
16 Sek.", und Lay schreibt S. 324 (ohne Anführungszeichen): „Bei weiter-
gehender Übung im Lesen nehmen die Zahlen noch weiter ab; ich selbst (I;
lese 100 Worte desselben Textes in 17 Sek."
Die Wiederholung der Überschrift bei Lay auf S. 354 „Schnelligkeit
des Lernens** von S. 350 „Geschwindigkeit des Lernens" erklärt sich
psychologisch dadurch, dafs Lay bei Ebbinghaus S. 648 im Text „schnelles
Lernen "* gelesen hat und schon die S. 350 (nach Ebbinghaus S. 641) gesetzte
Überschrift vergessen hatte.
Der Abschnitt über den Willen als biologische Erscheinung (S. 356 ff.)
ist ein Plagiat aus Münsterbebg, Grundzüge d. Psychologie. In welcher
Weise die Vorlage ausgeschrieben worden ist, möge eine Probe zeigen.
Lay schreibt ohne Anführungs-
striche oder Quellenangabe S. 357:
„Die Fliege legt ihre Eier auf
Stoffe, die der auskriechenden Larve
<lie geeignete Nahrung liefern. Das
Experiment beweist, dafs es be-
stimmte chemische Diffussionen (1)
sind, die die Muskelkontraktionen,
die zum Legen der Eier erforderlich
sind, reflektorisch auslösen, die z. B.(! j
vom Fleisch, nicht aber vom Fette
ausgehen.'*
Bei Münsterberg S. 465 liest man:
„Die Fliege legt ihre Eier auf
solche Stoffe, in denen die aus-
kriechenden Larven die passende
Nahrung finden; das Experiment
zeigt, dafs es bestimmte chemische
Diffusionen sind, die in der Fliege
die zur Eiablage führende Muskel-
kontraktion reflektorisch auslösen,
chemische Diffusionen, die yom
Fleisch etwa, aber nie vom Fett
ausgehen."
Besprechung, 297
In solcher Weise ist das ganze Kapitel abgeschrieben worden, ohne
dafs der Name Münstbrbergs auch nur ein einzigesmal genannt wird.
Man vgl.
Lay:
Münstebberg:
Seite 356
Seite 464.
„ 357
»
464, 466, 465.
, 358
»
466-468,
:
, 359
yy
467, 471.
:
, 360
*
470—473 u. MüNSTERBBRO, „Die Willenshandlung" S. 42 ff.
, 361
»
474, 475.
, 362
»
475-477 u. „Willenshandlung*' S. 45, 47, 48.
„ 363
j»
477 u. „Willenshandlung** S. 52 ff.
„ 364
II
47&-479.
„ 365
»
479—481.
Die Angabe Lays (S. 357) über die Beobachtungen Lobs, Bethes,
Verwobns u. a. stehen bei Mümsterbbrg S. 464; die Titel der Werke sind
dem Literaturverzeichnis bei Münsterbbrg (S. 482) entnommen.
Eine ebenso ungeschickte wie kritiklose Kompilation ist das folgende
Kapitel „Der Wille als physiologisch-psychologische Erscheinung^^ (8. 368 ff.).
Der erste Teil des Abschnittes über „Prüfungen und Zensuren**
(S. 456 ff.) entstammt fast wörtlich einem Aufsatz von C. Andbeab „Zur
Psychologie der Examina" {Zeitachr. f. päd. Fsychol. 1899, S. 113 ff.). Zitiert
ist die Arbeit erst 10 Seiten später (S. 467) und zwar nur als „Andbeab,
Psychologie der Examina 8. 126". Dem Leser bleibt überlassen zu erraten,
dafs Lay damit den Aufsatz in jener Zeitschrift meint. Auch das Zitat
aus Wähle (Lay S. 465) findet man bei Andreae S. 117. Weitere Beispiele
der „Quellen'' Lays zu geben, verbietet der Raum.
Es ist selbstverständlich, dafs ein in solcher Weise zusammen-
geschriebenes Buch auch den bescheidensten Ansprüchen, die in bezug auf
Angabe der Quellen, Form der Zitate, Stil usw. an eine wissenschaftliche
Arbeit zu stellen sind, nicht genügt. Auf die Wiedergabe einer für einen
anderen Zweck angefertigten Zusammenstellung der zahlreichen Fehler und
Mängel, die Lays Arbeit in dieser Hinsicht zeigt, mufs ich des Raummangels
wegen verzichten. Einige Beispiele mögen genügen. Die meisten Literatur-
angaben hat der Verf. uuverglichen aus seiner Vorlage übernommen; sie
sind sehr oft falsch, fast immer aber unvollständig und unzuverlässig.
Dieser Umstand wiegt um so schwerer, als Lay in seinem Artikel „Ex-
perimentelle Didaktik" in Reins Encykl. Handbuch d. Pädag. VIII, Erster
Ergänzungsband S. 313 aufser auf seine eigenen Schriften nur auf die in
diesem Werk angegebene Literatur verweist. Autoren w^erden zitiert
„a. a. O.", ohne dafs der Titel des Werkes vorher genannt worden ist
(S. 48 Anm. 1, 50 Anm. 5 u. ö.). Der Fehler erklärt sich durch flüchtiges
Ausschreiben der „Quelle". Auflage und Bandzahl werden oft ausgelassen,
so dafs die betreffenden Zitate wenn überhaupt, nur nach langem Suchen
zu finden sind (vgl. S. 88, wo Bd. III fehlt und S. 110). Falsch ist die
Bandzahl S. 13 Anm. 3, 144, 439 Anm. 2, die Seitenzahl S. 342, 441 u. ö.
Angaben wie Andbeab, Psychol. d. Examina (S. 467) oder Chrisman, Paido-
296 Besprecfmng.
logie (S. 583) und eine Reihe ähnlicher, sind ohne nähere Bezeichnung
natürlich vollst&ndig anbranchhar.
Von allen durch AnfQhrungsstriche eingeschlossenen Zitaten ist
fast kein einziges wortgetreu; manche sind so entstellt, dafs sie unver-
ständlich oder vollkommen widersinnig werden. 8. 298 heifst es „Wenn
wir uns das Nervensystem . . . wie ein System von Flüssigkeiten (!)
vorstellen . . ."; in der Quelle (Münsterbebo) steht „FlOssigkeitsbetten"; oder
S. 320 „Die Prämissen zum Wollen (I) sind uns zur Gewohnheit ge-
worden . . ", während bei Siowabt richtig steht: „Die Prämissen zu
wollen ist uns zur Gewohnheit geworden", was auch allein Sinn hat.
Andere Zitate werden willkürlich geändert; so setzt der Verf. 8. 113 statt
„Empfindungen^^ einfach ,,Bewegungen" und läfst S. 182 „Optiker" fort usw.
An Schreib-, Druck-, Rechenfehlern und ähnlichen Flüchtigkeiten habe
ich Über fünfzig gezählt. Fremdwörter und Eigennamen sind oft mit Kon-
sequenz falsch geschrieben z. B. Dentriten (S. 35, 36 — in der Vorlage
(Verwohn) richtig — , 294), Difussion (S. 110 u. 357). Die Flüchtigkeit des
Verf.s erstreckt sich sogar auf die im „Führer durch den Rechtschreib-
unterricht (3. Aufl. S. 97 u. 98) gegebene und hier wiederum verwertete
Fehlerstatistik, aus der Lay seine didaktischen Forderungen ableitet, indem
in 6 von 8 Fällen die Durchschnittsfeh 1er zahl rein numerisch falsch be-
rechnet ist. Diese zum Teil bedeutenden und das Endresultat modifizieren-
den Rechenfehler haben sich durch alle drei Auflagen des „Führers" ge-
halten und sind auch in die im Anschlufs an Latb Versuche entstandene
ausgedehnte pädagogische Literatur Übergegangen (so auch in die Tabelle
bei LoBSiBN, Zeitschr. f. Phüos. u. Fädag., 1903, S. 143).
Jedoch nicht nur für die Form, sondern ganz besonders auch für den
Inhalt des Werkes ist die Arbeitsweise seines Verf.s verhängnisvoll ge-
worden. Dem ganzen Werk fehlt der einheitliche Aufbau, was der Verf.
auch selbst empfunden zu haben scheint, da er in der vorliegenden
„2. Aufl." das Inhaltsverzeichnis nach gröfseren Gesichtspunkten geändert
hat, obwohl im Text die Überschriften der „1. Aufl.*' stehen geblieben sind.
Die psychologische Terminologie ist verworren, da bald die termini des
einen, bald die davon abweichenden des anderen Autors aus der Vorlage
übernommen sind.
Es ist um so bedauerlicher, dafs das Werk so überaus sorglos und
oberflächlich gearbeitet ist, als man seiner Tendenz (vgl. diese Zeitschrift
215, S. 311 ff.) im allgemeinen zustimmen mufs.
H. C. CoBDSKN (Halle a. S.).
299
Literaturbericht.
JosBF EisBNMsiER. UlltemcIiVIlgei SV HelUgkeitsftage. Halle a. S., Niemeyer.
1905. 66 S.
Im ersten Teile der Abhandlung weist N., sich im wesentlichen Hkbing,
auch AuBSBT, Helmholtz, Ebbinghaüs u. a. anschlieDsend , nach, dafs die
Schwarzempfindung so gut ein positiver Bewufstseinsinhalt, eine echte Emp-
findung ist, wie irgend eine andere Gesichtsempfindung. Insbesondere wird
der Beweis mit aller Gründlichkeit gegen Fick durchgeführt, dessen
Kriterien gegen den positiven Charakter der Schwarzempfindung nach der
Reihe als unhaltbar dargetan werden.
Der zweite Teil behandelt die Frage, was unter „Helligkeit" einer
Gesichtsempfindung zu verstehen ist. Zunächst wird daran erinnert, dafs
unter Intensität einer Empfindung nur das Quantum derselben verstanden
werden kann, ihre Extensität (Kant). Je geringer die Intensität derWeifs-
empfindung wird, desto gröfser wird die der Schwarzempfindung. Helligkeit
und Intensität sind demnach keineswegs identische Begriffe, sondern die
Helligkeit hat irgendwie mit der Ähnlichkeit zum Weifs zu tun. Hsamo,
welcher diese Gedanken zuerst konsequent aussprach und durchführte,
läfst eine Weüjskomponente in jeder Empfindung enthalten sein, und die
Helligkeit soll wesentlich von deren GrOfse abhängen, während die Dunkel-
heit, ebenfalls ein positives Empfindungsmerkmal, durch den Wert der
Schwarzkomponente bestimmt ist. Dazu kommt, dafs nach Hebing jede Farbe
eine spezifische Helligkeit hat, welche vom Gelb durch Bot und Grün zum Blau
abnimmt. Mithin hängt nach Hbbing die Helligkeit einer Gesichtsempfindung
von dem spezifischen Helligkeitswert der Komponenten ab und von dem
Werte mit dem jede Komponente in einer Empfindung enthalten ist.
Eisbkhammbb wendet sich in diesem letzten Funkte gegen Hbbing, indem
er nachweist, dafs die spezifische Helligkeit einer Farbe nicht als deren
Weifswert definiert werden kann, da die reinen Farben kein WeiTs oder
Schwarz enthalten sollen, trotzdem aber die Helligkeit mitbestimmen.
Es kommt vielmehr darauf hinaus, „dafs die Helligkeit aller Gesichts-
qualitäten in der Verwandtschaft oder Ähnlichkeit mit Weifs, die Dunkelheit
in der Ähnlichkeit mit Schwarz zu suchen sei'^ Das gemeinsame Merkmal
aller Gesichtsempfindungen, die „Helligkeit", wird bezüglich der ver-
schiedenen Farbenqualitäten nicht auf teilweise Gleichheit zurückgeführt,
sondern auf die Vergleichbarkeit nahestehender Spezies einer Gattung, der
Gesichtsqualitäten. Der farbige Beetandteil einer Empfindung ist für sich
300 Literaturbericht
der Extensität nach variabel und beeinflurst die Helligkeit bzw. Dunkelheit
durch sich, nicht durch seinen Weifswert.
Die Helligkeit hat, wie in Teil 3 im Anschlufs an Ebbinohaüs erörtert
wird, so wenig wie irgend ein anderer psychischer Vorgang den Wert einer
in Einheiten mefsbaren Gröfse. Es gibt hier nur ein gleich, gröüser oder
kleiner, aber keine Antwort auf die Frage, wieviel gröfser oder kleiner.
E. sucht freilich für die Helligkeitsunterschiede der Schwarz- Weifsreihe
dem Gröfsenbegriff Gültigkeit zuzusprechen, indessen (nach Ansicht des
Ref.) ohne Erfolg. Der Vergleich verschiedener Farben, auch über dem
Umwege durch das WeiTs, läfst sich, wie E. erneut darlegt, in keiner Weise
messend bewerkstelligen.
Das Resultat der ganzen Untersuchung fafst E. dahin zusammen:
1. „Sowohl die absolute Helligkeit bzw. Dunkelheit, wie auch die Helligkeits-
bzw. Dunkelheitsunterschiede sind nur innerhalb der Graureihe wahre
Gröfsen und sind unabhängig von der Gröfse der Weifs- bzw. Schwarz-
komponenten. 2. Bei allen anderen Gesichtsqualitäten kann nur in ganz
uneigentlichem Sinne von der Gröfse der absoluten Helligkeit bzw. Dunkel-
heit und der Helligkeits- bzw. Dunkelheitsunterschiede gesprochen werden,
insofern nämlich jede Qualität in bezug auf Helligkeit bzw. Dunkelheit
irgend einem Grau gleichsteht und die Gröfse der absoluten Helligkeit
bzw. Dunkelheit oder die Gröfse der Helligkeits- bzw. Dunkelheitsunter-
Bchiede der entsprechenden Graunuancen stellvertretend eintreten können."
Man ersieht aus dem Bericht, dafs die Erörterungen Eisenmeiebs aus-
Bchliefslich die psychologische Analyse der Gesichtsempfindungen betreffen
und die Frage der Abhängigkeit der Empfindungen von Lichtreizen in
keiner Weise zum Gegenstand haben. H. Piper (Kiel).
T. R. Robinson. Stereoscopic Yision and ito Relation to Inteiuity tnd aaality
of Light Sensation. First Article: Stereoscopic Vision and Intensity. üni-
versity of Toronto Studies, Psyckological Series 2 (2), S. 39—81. 1904.
Die Untersuchung geht von den Befunden Fechnbrs und Aubsrts aus,
dafs bei Vorhalten eines Rauchglases vor ein Auge das binokulare Gesichts-
feld eine gewisse Verdunkelung erfährt, sich aber beim Schliefsen des mit
dem Glase armierten Auges wieder aufhellt (Fechnebs paradoxer Versuch),
und dafs der Verdunkelungseffekt in gleicher Stärke durch ein bestimmtes,
schwach absorbierendes Glas und ein bestimmtes stark absorbierendes Glas
hervorgebracht wird (konjugierte Punkte). Geht man in der Reihe stark
absorbierender Gläser zu immer weniger absorbierenden über und sucht
zu jedem aus der Reihe schwachabsorbierender dasjenige auf, welches den
gleichen Verdunkelungseffekt hat, so zeigt sich, dafs die letzteren zunehmend
stärker absorbierend ausfallen; die Absorptionsvermögen der konjugierten
Gläserreihen konvergieren also bis zu einem „Minimumpunkt*' und das
diesem entsprechende Absorbens bewirkt die gröfste Verdunkelung des
binokularen Gesichtsfeldes; die Helligkeit hat ihr Minimum.
Robinson beantwortete in früheren Versuchen folgende Frage : da einer-
seits das Gesichtsfeld beider Augen bei gleicher Lichtstärke beider Ketz-
hautbilder um einen gewissen Betrag heller ist als das eines Auges, da
andererseits beträchtliche Herabsetzung der Lichtstärke des Bildes eines
Literaturbericht. 301
Auges eine Verdankelung des binokularen Gesichtsfeldes zur Folge hat, so
mufs es zwischen den monokularen Reiz werten, welche verdunkelnde und
denjenigen, welche aufhellende Wirkung auf das binokulare Gesichtsfeld
ausüben, einen „Indifferenzpunkt" geben, einen Wert monokularer Ver-
dunkelung, bei welcher die Helligkeit des Gesichtsfeldes so ist, als wenn
das verdunkelte Auge überhaupt nicht mitsähe. Welches sind diese Werte
bei verschiedenen absoluten Beleuchtungsstärken? Es ergab sich, dafs bei
geringer Reizstärke des Hellauges ein relativ grofser Bruchteil dieses Reizes,
dem anderen Auge zufliefsend, weder aufhellend noch verdunkelnd wirkte, bei
grofsen Reizstärken bedurfte das Dunkelauge eines geringeren Bruchteiles.
Das Verhältnis der Reizstärken von Hell- und Dunkelauge, bezüglich des
Indifferenzpunktes ist also kein für alle Intensitäten konstantes, nach
Robinson auch nicht bezüglich des Minimumpunktes (contra Fbchner und
Attbbrt). 2. Die Stärke des Reizung des Dunkelauges mufs im Vergleich zu
der des Hellauges recht erheblich sein; sie mufs mindestens V? bis Vi Ö©
nach den Bedingungen) der Reizstärke des Hellauges betragen, um für die
Helligkeit der Gesichts Wahrnehmung ohne Effekt zu sein.
R. fragt sich nun, ob auch der stereoskopische Effekt einer Doppel-
aufnahme, deren Einzelbilder verschieden lichtstark sind, erst zustande
kommt, wenn die relative Lichtstärke des dunkleren Bildes die Schwelle
(Indifferenzpunkt) passiert hat, bei welcher es das binokulare Gesichtsfeld
aufhellend beeinflufst. Es ergab sich: 1. dafs die Minimallichtstärke des
lichtschwächeren Bildes, welches noch stereoskopischen Effekt zuliefs, mit
der Lichtstärke des helleren Bildes im gleichen Sinne, aber nicht pro-
portional variierte (letzteres contra Fechner und Aübert); 2. dafs sehr
geringe Lichtstärken des lichtschwächeren Bildes genügten, um stereo-
skopische Wirkungen zuzulassen (bei sehr grofsen Intensitäten Vioo bis Viooo»
bei schwachen Vö bis Vz der Lichtstärke des helleren Bildes); 3. wenn auch
„Indifferenzpunkt'' und Schwelle für stereoskopischen Effekt bezüglich der
Art der Abhängigkeit von der absoluten Intensität sich analog verhalten,
so liegen sie doch sehr weit voneinander. Der stereoskopische Effekt ist
bei Bildern möglich, welche den paradoxen Versuch sicher ausfüren lassen.
R. versucht — mit aller Reserve — eine Erklärung seiner Befunde zu
geben; er meint, ein Teil der im stärker belichteten Auge durch den Reiz
aktivierten Energie käme dem anderen schwachgereizten zu Hilfe, um das
körperlich Sehen zu ermöglichen, dies könne dann aber bei geringen Reiz-
stärken nur auf Kosten der Helligkeit geschehen (paradoxer Versuch). Beim
Monokularsehen käme die Energieverwendung zur Erzielung der Stereo-
skopie nicht in Frage, daher die gröfsere Helligkeit bei dieser Sehweise.
Ehe R. zu seinen Versuchen über stereoskopischen Glanz übergeht,
erörtert er die Faktoren für das Zustandekommen des Glanzes im all-
gemeinen, namentlich erinnert er an die Theorie Wundts, nach welcher
solche Objekte glänzen, die Licht teils regelmäfsig, teils diffus reflektieren
und infolgedessen jedem Auge ein anderes Bild von Helligkeitsverteilung
geben. Die Helligkeitsunterschiede, welche identische Netzhautstellen
treffen, wirken teils durch Kontrast, teils durch Tiefenwirkung, welch
letztere sich bei Augenbewegungen steigern kann und das wesentliche
Moment für die Glanzwirkung abgibt. Der auch monokular erhältliche
302 Literaturberieht
Metallglanz hängt nach Kibsohhamks Theorie, wdche B. ausführlich zitiert,
von kleinsten monoknlaren paralaktischen BUdverftndeningen ah, die beim
Betrachten kleinster reflektierender Flachen schon durch kaum merkliche
Schwankungen der Akkommodation und Fixation bedingt sein können.
Anknüpfend an den bekannten Versuch, daüs Stereoskopbilder Glanz
zeigen, wenn das eine Einzelbild schwarz auf weifs, das andere wei£9 auf
schwarz gezeichnet, beobachtet werden, suchte B. nun festzustellen, welche
Helligkeitsdifferenz zwischen beiden als Minimum erforderlich ist, um
Glanzeffekt zu geben. Jedes Bild konnte durch Episkotister verdunkelt
werden. Es ergab sich 1. dafs das eine Bild wenigstens 1 Vs bis 3 mal heller
sein mufste als das andere, wenn die binokulare Kombination Glanz haben
sollte (Minimum); 2. dafs bei einem Verhältnis der Helligkeiten von etwa
1:1800 der Glanzeffekt verschwand (Maximum); 3. um guten Glanz zu
zeigen, konnte das Helligkeitsverhaltnis Weifs zu Schwarz zwischen
9,64:62,6 und 375,69:920 wechseln; Urteile der letzten Art hatten gewisse
Schwierigkeiten. H. Piper (Kiel).
B. BouRDON. L'itat actael de la qnestioa du seu nrasaiUlre. Revue
scientifique 2, Nr. 4 u. 6. 1904.
Verf. gibt eine Übersicht über die Ansichten, die heute über die
Empfindungen der Bewegungen, Lage unserer Glieder in bezug auf deren
physiologische Grundlage herrschend sind. Die dem inneren Ohr ent-
stammenden Empfindungen sowie die sogen. Innervationsempfindungen,
deren Existenz doch recht zweifelhaft ist, schliefst er von seiner Be-
sprechung aus.
Für die Kenntnis von den Bewegungen unserer Glieder kommen zu-
nächst die durch Dehnung und Druck auf der Haut entstehenden Emp-
findungen in Betracht. Jedoch zeigt die gut erhaltene Bewegungsemp-
findung bei völliger Anästhesie der Haut, daDs letztere keine allzu grofee
Rolle spielen kann.
Der Ursprung der Bewegungsempfindungen liegt vielmehr, wie Gold-
8CHBIDEB einwandfrei gezeigt hat, in den aus den Gelenken stammenden
Empfindungen; jedoch sind es nach des Verf. Ansicht nicht nur die Über-
züge der Gelenke, aus denen die Sensationen stammen, sondern auch, die
an den Gelenken ansetzenden Bänder und die unter der Haut gelegenen
Organe, welche die Gelenke umgeben.
In bezug auf die Empfindungen, welche uns die Schwere vermitteln,
kann sich Verf. nicht der Ansicht Gk)u>8CHEn)BBs anschliefsen , dafs man
zwischen den durch ein aufgelegtes Gewicht hervorgerufenen Empfindungen
und denen des Widerstandes scharf unterscheiden müsse, er führt vielmehr
beide Empfindungen auf die der Anstrengung zurück, welche in den Sehnen
ihren Sitz hat.
Die Lageempfindungen haben ebenfalls ihre anatomische Grundlage
in den Gelenken und den an ihnen ansetzenden Bändern. Jedoch spielen
hier wohl auch Empfindungen mit, welche aus der Dehnung und Faltung
der Haut stammen.
Zum Schlüsse formuliert Verf. noch einmal die den ganzen Gegenstand
Literaturbericht 3Ö3
betreffenden Probleme und gibt eine genane Abgrenzung und Beschreibung
der einzelnen hierbei in Betracht kommenden Phfinomene.
MosKiswicz (Berlin).
J. E. Wallace Wallin. Optical Illnsioiis of Reversible Perspective: a Volume
of Historical and £xperimental Besearches. Princeton. 1905. 330 8.
Bei dem grofsen Umfange der vorliegenden Untersuchungen und der
Fülle der darin enthaltenen, zum grölsten Teil eigens aufgestellten Versuche
mag hier natürlich von einer detaillierten Wiedergabe ihres Inhaltes ab-
gesehen werden.* Dagegen werde ich die theoretischen Folgerungen W.s
wiederzugeben versuchen und die experimentellen Instanzen anführen, die
nach seiner Ansicht für die auch von ihm vertretene „Sensation theory*'
zu sprechen scheinen. Als eine solche Instanz gilt nach W. zunächst die
Tatsache, dafs es möglich ist, eine Beziehung herzustellen zwischen dem
jeweiligen Beiz und der zugeordneten »impression', und dafs diese Beziehung
eine exakte quantitative Bestimmung zuläfst. Diese angebliche Tatsache
soll nach den Mitteilungen des Verf. zeigen, dafs die ursächlichen Momente
der Illusionen, wie solche durch W. geprüft worden sind, nicht von „vague,
general, unmensurable psychic constituents, like the Imagination or judgmenf'
abhängig sein können, wiewohl natürlich den individuellen Verschieden-
heiten (S. 97, 135) ein breiter Spielraum offen gelassen wird.
Die Störungen an den Vorstellungen sind auf periphere Ursachen
zurückzuführen — in dem speziellen Fall optischer Täuschungen natürlich
auf Störungen des „Netzhautbildes" und dessen Entstehungsbedingungen.
Als erstes Merkmal für den sensorischen Ursprung der geometrisch-optischen
Täuschungen führt also W. die Abhängigkeit der Täuschung vom Beize
an und betont es gegen die Urteilstheorie mit voller Schärfe. Er ist aber
dabei nur solange im Bechte, als er die Urteilstheorie bekämpft. Denn die
von ihm behauptete Abhängigkeit der Täuschung vom Beize besteht für
die geometrisch-optischen Täuschungen nicht im geringsten: diese stellen
sich ein oder schwinden ohne jede Änderung der vorhandenen Sinnesreize.
Dies glaubt Bef. in seinen Untersuchungen zur Psychologie des Grestalt-
erfassens (vgl. Untersuchungen zur Gegenstandstheorie u. Psychologie hrsg.
von A. Mbinono Nr. V) zur Genüge sichergestellt zu haben. Auüserdem
sind a. a. O. § 19 ff. auch noch weitere Kriterien angeführt und deren
^ Das Werk zerfällt in zwei Hauptabschnitte: eine geschichtlich
geordnete Zusammenstellung der vorhandenen Vorarbeiten auf dem Gebiete
optischer Täuschungen mit besonderer Berücksichtigung der rein perspek-
tivischen und eine Darstellung der eigenen Untersuchungen, welche folgende
Kapitel umfasst: (I) New figures; Nature of experimental records, (II) Per-
spectivity in momentary exposures correlations, (III) Distance and size
estimations, growt of Visual forms and incidental Suggestion s, (IV) Acco-
modation and the third dimension. Distance equation of white and black
rods. Fixation an reversion tests, (V) The effect of Suggestion upon per
spectivity with school children, (VI) The duration and alternation of per
spective reversions, (VII) Perspective presentations and practice.
304 Literaturberidit.
Galtigkeit experimentell nachgewiesen, welche die Unabhängigkeit der
geometrisch'Optifichen Tänschnngen vom allfiüligen Sinnesreize anXser
jeden Zweifel setzen dürften. NatOrlich maus man aber nicht, wie W. zu
glaaben scheint, allein für die Urteilstheorie eintreten, wenn man sich
für berechtigt hält, gegen eine ,,sensorische Theorie" der optischra
Täuschung Stellung nehmen zu müssen. Es liegt vielmehr (wie dies Ref.
a. a. O. gezeigt zu haben glaubt) die Möglichkeit vor, die vorliegenden Tat-
sachen der optischen und übrigen Täuschungen weder durch Heranziehung
der nicht einmal genau fafsbaren Urteils theorie noch der sicher unhaltbaren
sensorischen Theorie und dennoch ohne Übertretung des Vorstellungs-
gebietes dem Verständnis näherzurücken. Bei der knappen Raumbemeesung
eines Berichtes kann natürlich auf diesen Punkt nicht nochmals ein-
gegangen werden. Auch hier, wie dies weiter unten öfters der Fall sein
wird, mufs sich Ref. mit dem Hinweis auf einschlägige, teils eigene, teils
anderwärtige Untersuchungen begnügen.
Zur weiteren Begründung seiner sensorischen Auffassung optischer
Täuschungen führt auch W. die Tatsache an, dafis die Illusionen noch fort-
bestehen, wenn man von ihnen auch Kenntnis hat. Die Kenntnisnahme
solcher Täuschungen vermag nur unsere Benennung der allAlligen
psychischen Daten, nicht aber deren Natur (304) zu bestimmen. Der Um-
stand aber, dafs eine Täuschung trotz unseres besseren Wissens weiter be-
steht, besagt nur, dafs sie keine Urteils-, nicht aber, dafs sie eine £mp-
f indungstäuBchung ist, — wie dies W. zu glauben scheint. In der Tat
sind solche Täuschungen, wie Ref. im Hinblick auf die Ergebnisse seiner
bereits angeführten Untersuchungen berechtigterweise behaupten zu dürfen
glaubt, weder Urteils- noch Empfindungs- sondern Produktions-
täuschungen, das heifst m. a. W. sie beruhen auf Anomalien, die sich dann
im Vorstellungsvorgange einstellen, wenn auf Grund von Sinnesdaten ein
realitätsloser Gegenstand, wie z. B. eine räumliche Gestalt erfafst wird.
Im übrigen soll nach W. für die sensorische Theorie hauptsächlich
die „empirische Korrelation^* zwischen Illusion und Bewegung der Augen
sprechen, wofür die Müller - LvEKSchen Figuren, die Figuren aus super-
ponierten Segmenten Wundts, die mit horizontalen oder senkrechten
Parallelen ausgefüllten Vierecke u. ä. (wie Streckentäuschungen, veränder-
liche Richtungstäuschungen u. gl. M.) günstige Instanzen darstellen sollen.
Natürlich aber nur soweit, als man, wie dies bei W. der Fall zu sein scheint,
die Gegeninstanzen zu dieser Auffassung unberücksichtigt läfst. Als eine
solche kommt hauptsächlich, von den sonstigen Unzulänglichkeiten der
Augenbewegungs theorie gegenüber den zu erklärenden Tatsachen ganz ab-
gesehen (vgl. darüber die Untersuchungen des Ref. a. a. O. § 27), der
empirisch festgestellte Mangel einer konstanten Korrelation zwischen
Täuschungsrichtung und Art der Augenbewegungen in Betracht
(vgl. darüber C. H. Judd, The Mülleb-Lybb Illusion, Psych, Review Monograph.
Supplem.VII. 1. S. 55—82; E. H. Camrron a. W. M. Stbble, The Poogbk-
DOBPP Illusion, ebenda S. 82—112, C. H. Judd a. H. C. Coxjbten, The Zollkeb
IllvLBion, ebenda S. 112 — 139, und letztlich S. M. Stbatton: Simmetry ,Linear
Illusions* an the Movements of the Eye. Psych. Review XIII Nr. 2. S. 82—96).
Die de facto gefundene partielle Korrelation zwischen Augenbewegungen
lAteraturbericht 305
und Tänschungsrichtung beim Betrachten der MuLLBB-LTBBSchen Figur ist
aber nach der Meinung des Bef . auf folgende Art su verstehen : Die Augen-
bewegungen sind ihrer praktischen Bedeutung fflr das Leben nach haupt-
sftchlich dazu da, um das direkte, deutlichste Sehen rasch zu vermitteln.-
Sind nun wie bei den zwei Typen der MüLLKR-LYEBschen Figur die Schenkel
einmal nach innen, ein andermal nach auXisen gewandt, so wird natür-
licherweise zum deutlichen Sehen sämtlicher Figurenkomponenten eine
Überschreitung der Hauptlinienendungen mit dem Blick wohl erforderlich,
wenn die Schenkel nach aufsen gerichtet sind, indes sie ausbleiben
kann, wenn die Schenkel nach innen gewendet sind. Obwohl aber ein
solches Verhalten der Augenbewegungen nicht jedesmal, d. h. bei jedem
Versuch, anzutreffen ist, bleibt die T&uschung trotzdem bestehen und
zwar auch dann, wenn die Richtung und Grölse der Augenbewegungen der
Natur und Gröfse der Täuschung wiedersprechen, — ein deutliches
Zeichen für die nebensächliche Rolle der leider allzuoft immer wieder
herangezogenen Augenbewegungen für das Entstehen geometrisch-optischer
Täuschungen.
Als Gegenstück zur motorischen Konzeption der optischen Täuschungen
und deren weiteren Begründung wird natürlich das Schwinden der Täuschung
als angebliche Folge der Fixation angeführt. Auch dieser Hinweis bewährt
aber seine Beweiskr^t leider nur, solange man die sicheren Erfahrungen
unberücksichtigt läfst, die die Aufrechterhaltung der optischen Täusclj^ungen
bei momentaner Exposition der Figuren auTser Zweifel setzen (vgl.
darüber vor allem Einthoveh in Pflüg er 8 Archiv für die ges, Physiologie
71, S. 34). Wie der Einflufs der Fixation, der sich wohlgemerkt sowohl
in einer Täuschungs er höhung als einer -Herabsetzung kundgeben
kann, zu verstehen sei, hat Ref. in seinen bereits angeführten Unter-
suchungen klarzustellen versucht (a. a. O. IV).
Zu den physiologischen Teilursachen wird von W. natürlich auch die
Irradiation hinzugerechnet mit dem Hinweise auf Münstbbbbbg und Lehmann.
Auch ein Einflufs von Linsenanomalien und des indirekten Sehens, wie
einen solchen Stöhb und Einthoven festzustellen glaubten, berührt W.
sympathisch. Unglücklicherweise sind aber auch bezüglich des Anteiles
dieser Momente an dem Entstehen optischer Täuschungen die teilweise
gleichzeitig mit den Untersuchungen Wallins erschienenen, experimentellen
Widerlegungen der Positionen Münstbbbbbgs, Lehmanns und StÖhbs durch
die Arbeiten von Witasek und Benüssi-Libl überzeugender als die Be-
gründung derselben durch die genannten Autore (vgl. zu Münstebbero und
Lehmann, Bentjssi-Liel : Die verschobene Schallbrettfigur in Unters, zur Geg.
u. Psych., hrsg. v. A. Meinono VI und die Besprechung {diese Zeitschrift
41, S. 204 f.) des Ref. über Lehmann: „Irradiation als Ursache geometrisch-
optischer Täuschungen^; zu Stöhbs Auffassung Witasek: „Die Natur der
geometrisch-optischen Täuschungen", diese Skitschrift 10).
Auch der Einflufs der relativen Lage und Gröfse der Figuren auf die
resultative Täuschung soll nach der Meinung des Verf. auf Grund einer
sensorischen Theorie „leicht** verständlich sein. Allerdings aber nur, solange
man die Bedeutung des subjektiven vorstellungsmäfsigen Verhaltens der
Zeitschrift für Psychologie 43. 20
305 lAt^r^tmrixndä.
Ve nuthrn penon meht m wfirdigen geiemt, und keine Gelegenheit
giriiabt hmL die ünwesentlichkeit der Ldige sowie übertimpt aller mlaerer
Reixbedingnngen für da« Entatriien optiacher Täoaeliiingen, vem nur be-
wümrnU aobjektire 'an anderer Stelle mit A- nnd G-Beaktmi beaeielmete)
Voralellangabedininingen konstant gehalten werden, selbst an fiberprnfen
''rf^ darüber des Bef. ^Experimentelles fiber VofstellnngsinadiqnaUieit I.*^
diete ZeÜMchrifi 12. 8. 22 ff^ nnd .Die Psrchologie in Italien'* ^Sammebeferat]
im Ardnv f. d. getarnte Ffychologie 7, 8. 141 . Bezfi^ch der Übnng auf
dem Gebiete optischer Täasefanngen, Ton welcher aach WAixnr, wie Junn
Tor ihm nar eine Anisemng kennt, nikmlich die Herabsetxnng der
Tftnschnng. neigt W. ebenfalls m einer physiologischen Dentnng derselben
hin. Vielleicht wird er anch diese Angelegenheit für weniger erledigt
halten, wenn er dav^Hi Kenntnis nehmen wird, daÜB. wie Ref. wiederholt
gexeigt hat fArekiv f. d. ges. P9ych. 6, 8. 126—127 nnd Unten, zur Geg. iL
F$yek, hrsg. v. Mscfose V, § ^ff-.s zwei Ühangs&olserangen anantreffen
sind, von welchen nur die eine im Sinne der Herabsetz an g, die andere
aber im Sinne der Erhöhung. der Täoschong wirkt, wobei noch zn
bemerken ist, dafs die Reizbedingangen für beide Formen der Übung,
wie überhaupt für das Zastandekommen der Täuschungen selbst ganz,
unwesentliche Bestimmungen sind.
Nach dieser — wie wir gesehen haben — kaum haltbaren Begründung
seiner Sensationstheorie zur Erklärung optischer Täuschung, wendet
sich W. zur theoretischen Auffassung der perspektivischen Täuschungen
und der von ihm untersuchten und teilweise neu erfundenen Täuschungs^
figuren. Darfiber sind die Details im Originale nachzusehen. Auch für
diese Figuren soll sich die sensorische Deutung bewähren ; zugunsten dieser
Auffassung sollen Momente, wie die Allgemeingültigkeit der in Rede stehen-
den Illusionen und ihre Abhängigkeit von gegebenen Übungsbedingungen
sprechen; weiter die Tatsache, dafs die „trügerischen" Vorstellungen, was
Unmittelbarkeit, Spontaneität und Klarheit anlangt, nicht im geringsten
hinter den „un trügerischen"* zurückbleiben. Sie bestehen trotz unseres
Wissens, und ist ein grofser Aufwand von Übung nötig, um eine domi-
nierende Perspektive zu überwinden. Auch gelingt die Überwindung durch
Übung dort besser, wo weniger ausgesprochene Fixationsmotive vorliegen.
Immerhin sind ihre Wirkungen von kurzer Dauer; die ursprüngliche ri^er-
spektive'^ gewinnt bald wieder die Oberhand, ein Zeichen, dafs die Gründe
hierzu nicht in einer „Vorstellungslaune'' zu suchen sind (310). Auch ist
die Art der Fixation bedeutend mafsgebender als die Phantasiebetätigung
des Subjektes und hängt die Art des perspektivischen Auffassens von den
verschiedenartigsten „physikalischen" Bedingungen (Beleuchtung, Linsen,.
Entfernung usw.) ab.
Aus alledem ergibt sich für W. der Schlufs, dafs die Umkehrung auf
bestimmten retinalen Bedingungen beruhen, die die Reize zu beeinflussen
vermögen. Dafür sollen hier und da eintretende „Distorsionen", die auf
eine Verschiedenheit der retinalen Zustände hinweisen, sprechen, aufser-
dem die Verschiedenartigkeit des perspektivischen Wirkung verschiedener
Figuren in bezug auf Dauer, Entfernung (75), Umkehrungszeit (242 ff.},
Suggestibilität (229), Auffälligkeitsgrad eines besonderen perspektivischen
Literaturbericht 307!
Motives (82. 241), die gröfsere oder geringere Bedeutung der Fizatioiuh
richtung (Kap. XU), manche Unterschiede beim monokularen und bin*
okularen Sehen (114, 118, 122, 126, 157). Gegen eine Urteilsauf fassang spricht
auch die Abhängigkeit der Illusionen von äulseren Bedingungen, die Ver-
schiedenheit der Umkehrungszeit für je ein Auge (157), die Bedeutung der
Konvergenz für manche Detailerscheinungen (146) und der Einflufs des
Gesichtswinkels (löO, 312). Doch verlangt die Umkehrung kaum eine-
bestimmte Lage deis Netzhautbildes und haben daher die Fixationslinien
keine so hohe Bedeutung (812). Umkehrungen sind aufserdem auch jlm
indirekten Sehen (284 f.) möglich und werden durch verschiedene
Meridiane verschieden beeinflufst. Dartiber aber liegen seitens Walliit keine
Messungen vor.
So anregend die Versuche — speziell die Bestimmungen der Perspek-
tivenbeharrlichkeit und der Überwindung einer perspektivischen Auffassung
durch willkflrliches Vorstellen der entgegengesetzten Perspektive — sind,
die W. in seinen Untersuchungen mitteilt, um so weniger vermögen, wie
oben angedeutet wurde, seine theoretischen Ausführungen zu überzeugen.
Er geht, wie erwähnt, von der Voraussetzung aus, die geometrisch-
optischen und die perspektivischen Täuschungen seien ,psychologisch'
gleicher Natur; glaubt weiter nachweisen zu können, dafs erstere „Emp-
findungstäuschungen" sind, und verwendet dann diese vermeintliche
Erkenntnis auch für das Verständnis der perspektivischen Illusionen,
eigentlich nur im Hinblick auf die übrigens auch nicht so durchschlagende
Bedeutung der Fixation, Beleuchtung und Bewegung des Auges für das
Zustandekommen und den Wechsel des perspektivischen Eindruckes. Bef.
hat bereits oben auf die Gründe hingewiesen, die eine Auffassung der
geometrisch -optischen Täuschungen als „Empfindungstäuschungen'' nicht
gestatten; hier mufs er noch des weiteren hinzufügen, dafs auch die
Gleichstellung von geometrisch -optischen Täuschungen, genauer Gestalt-
täuschungen oder inadäquaten Gestaltvorstellungen und perspektivischen
Täuschungen nicht frei von jedem Bedenken sein dürfte. Schon der
Umstand, dafs für das Erleben einer perspektivischen Täuschung das
Gegebensein einer „Annahme*' wesentlich erscheint, weist darauf hin, dafs
die psychologische Sachlage eine ganz andere ist als bei den üblichen
geometrisch-optischen Täuschungen, wo der ganze Vorgang das Vorstellungs-
gebiet nicht überschreitet. Dafs eine , Annahme' beim Erleben eines Per-
spektiveneindruckes wirklich dabei ist, dürfte aber niemand bezweifeln
wollen, der auch nur ganz flüchtig bei einem der von W. angestellten
Versuche Selbstbeobachtung übt. Auch ist in Erinnerung zu rufen,
dafe das eigentliche „äufsere" Beizmaterial bei perspektivischen Um-
kehrungen doch unverändert bleibt, dafs die Bewegung der Augen
etwa vom oberen zum unteren Ansatzpunkt der Diagonale bei der Würfel-
figur, als solche gleichwertig ist mit der Bewegung vom unteren
Punkt zum oberen, — zu einem Akkommodations- oder Konvergenzwechsel
bietet sich aber, da die Zeichnung auf einer Ebene aufgetragen ist,
keine Gelegenheit und somit auch keine zum assoziativen Wachrufen einer
Tiefenvorstellung durch eine bestimmte Akkommodations- oder Kon-
20*
308 Literaturbericht
vergenzveränderung. Es erscheint daher natürlicher anzunehmen, dals die
perspektivische „Vorstellang" (oder, wie an anderer Stelle Ref. sa seigen
versuchen wird, „Annahme") selbst das Frühere und Unmittelbare sei, und
dafs die Fixation nur soweit von Bedeutung ist, als das zunächst Betrachtete
auch — in den meisten Fällen wenigstens — näher zu sein scheint.
Alles N&here über die Details der Ergebnisse W.s behält sich Bef . bis
nach durchgeführter Kontrolle der Hauptversuche W.s vor.
Bbnussi (Gras).
I. F. K1S8OW. Ober die geemetrlteh-optüielieB Ttisehnngei. Archiv für die
gesamte Psychol. 6, 8. 289—905. 1905.
II. L. BoTTi. Ell Beitrag nr Keuitiis ier TarUbeli geemetriieh-eptisdiei
StrecketttlnfclraBgeB. Ebenda, S. 906—316.
I. 1. Eine Gerade erscheint länger, wenn sie an einem ihrer Enden
durch einen zu ihr senkrechten Strich begrenzt ist. Da Verf. ,,über genaue
Wertangabe*' nicht verfügt, „muls'' er sich „auf die allgemeine Bemerkung
beschränken, dafis er die Erklärung für diese und ähnliche Tatsachen im
Bewegungsmechanismus der Augen sucht" (290). So können auch beim
Vergleichen „Änderungen^* eintreten, „die das Auge zur Ruhe oder Bewegung
zwingen" (291). Warum aber und ob überhaupt bei der Vergleichung von
. mit Yi > B niit ruhigem; bei der Vergleichung von
"ff
Täuschung
bsoU als eil
standen w
nicht zum
B mit 71; , dagegen mit bewegtem Auge erfafst werden soll, ist
nicht zu ersehen (291). Immerhin räumt K. ein, dafs die Tatsache der
scheinbaren Verkürzung von A und C auch durch andere Motive mit-
bestimmt werden könne.
2. Die scheinbare Vergröfserung einer begrenzten Geraden nimmt ab,
wenn man* die Begrenzungslinie verlängert: So ist die
Täuschung bei A geringer als bei B. Dieses Zurückgehen
eine Kontrastwirkung im Sinne Wumxrs ver-
werden. Die scheinbare Verlängerung wird
zum Verschwinden gebracht.
A ' ^ Ist die Normalstrecke beiderseits durch Senkrechte
begrenzt, so bleibt die scheinbare Verlängerung, solange
die Senkrechten eine bestimmte Gröfise nicht überschreiten, bestehen (293).
Werden die Senkrechten deutlich gröfser, so tritt ein Wechsel in der
scheinbaren Gröfse der Normalstrecke ein. Dies, nach EL natürlich, weil
beim Vergleichen bald die eine bald die andere Strecke mit relativ ruhendem
oder bewegtem Auge erfafst wird (293). Der Wechsel konnte auch von
Schümann (Beiträge zur Analyse der Gesichts Wahrnehmung. 1904. S. 102).
Aufser dieser Erklärung gibt es für E. offenbar keine. Dals K. sich von
einer Urteilstäuschung bisher nicht hat überzeugen können, wird ihm
Bei um so mehr glauben, je weniger er sich mit der Bewegungstheorie
einverstanden erklären kann.
3. Bei ^ erscheint b am längsten, weil diese Gerade am
Literaturbericht 309
meisten auffällt und der Blick in dieser Richtung leichter wandert
Auch zwischen b und c tritt ein Grölsenwechsel ein, bald erscheint b,
bald c als die gröfsere Gerade, weil der Blick „relativ leicht von einer
Strecke xur anderen hinüber wandern kann*' (295). Eine perspektivische
Dentung lehnt K. mit der Begründung ab, dafs die Täuschung auch bei
Versuchspersonen besteht, die die Figur nicht perspektivisch erfassen. Er
hätte hinzufügen können, dafs perspektivische Annahmen das Aussehen
des Angeschauten nicht zu verändern imstande sind.
4. Bei 5' ^ , erscheint a grOfser, als wenn b fehlt. Wird b
besonders lang, so nimmt die scheinbare Verlängerung ab. Abschlielsend
berührt K. die sogenannte MüLLBB-LTSRsche Kontrastfigur. Dafs diese
Täuschung nicht auf eine Kontrastwirkung zurückgehe, meint K. im Hin-
blick auf den Umstand mit Recht behaupten zu dürfen, dafs, während bei
einseitiger Begrenzung durch eine kleinere Gerade immer eine Ver*
längerung vorgetäuscht wird, bei einseitiger Begrenzung durch eine gröfsere
Gerade die Normalstrecke immer noch, wenn auch geringfügig über-
schätzt wird, die beiderseitig durch gröfsere Geraden begrenzte, aber zu
unsicheren widersprechenden Ergebnissen führt. Dafür, dafs hierbei die
Normalgerade doch schlieÜBlich unterschätzt werde, macht auch K.
nochmals den Umstand verantwortlich, dafs beim längeren Hinschauen eine
ruhige Fixation der mittleren Strecke begünstigt wird (300) und die Be-
wegung über diese hinaus gehemmt wird. Dagegen überschreitet die
Augenbewegung die Abgrenzungsstelle bei einseitiger Begrenzung. Im
Grunde stellt sich diese Figur als ein Spezialfall zweier MuLLSB-LTBBScher
Konfluxionsfiguren mit den Schenkeln nach aufsen dar. Auch bei diesen
Figuren tritt eine relative Abschwächung der scheinbaren Verlängerung
bei übermäfsiger Länge der Schenkel ein. Nach Wuin)T, und daher natürlich
auch nach K., als Folge einer Hemmung der Augenbewegungen. Warum
eine analoge Abschwächung bei sehr langen Schenkeln der entgegen-
gesetzten Figur nicht eintritt, wird nicht zu erklären versucht, auch nicht
die Erfahrungen berücksichtigt, denen zufolge die Täuschungen von Augen-
bewegungen ganz unabhängig zu sein scheinen. Der Versuch des Ref.,
diese und ähnliche Erscheinungen durch den Hinweis auf Gesetze des
Gestaltvorstellens einheitlich dem Verständnis näher zu rücken, wird eben-
sowenig berücksichtigt, als die von ihm gegen die Augenmuskelntheorien
geltend gemachten Einwände. K. begnügt sich mit der Anführung der
hier gemeinten Untersuchungen des Ref. beim Terminus „Konfluxion**.
II. Wie KiBSOw an Wunbt, so lehnt sich B. an Kiesow, zur Deutung
einiger von ihm untersuchten Figuren. Diese ergeben einige Variationen
der auch in der Arbeit K.s erwähnten Strecken täuschungen. Eine nähere
Untersuchung der Sachlage behält sich B. vor. Bbnxjssi (Graz).
E. Th. ERDKAinv. Drei Beltrige n eiior allgeBetieB Tlimie der Begriffe.
Leipzig, Mutze. 1904. 26 S.
Verf. versteht unter einem Begriffe folgendes: 1. Ein Begriff ist wieder-
holbar. 2. Er ist umgrenzt, stellt eine relative Einheit ein Ganzes dar.
310 Literaturbericht.
• 3. Er ist von einer zusammengesetzten Gefühlsqualität begleitet, einer
' Kombination von Dasselbigkeit und Bekanntheit.
Meistens ist der Begriff an ein Wort gebunden, aber nicht immer.
Einer Reihe solcher eingeübter, wiederholbarer., umgrenzter Funktionen,
eben dieser Begriffe, entsprechen entweder überhaupt keine Worte oder
eine Anzahl von Worten, ganze Sätze. Solche Gebilde sind in der Psycho-
logie als Gestaltsqualitäten und Gesamtvorstellungen beschrieben. Solche
Worte sucht Verf. näher unter Anlehnung an Avenabius* Lehre von den
Koordinationssystemen zu beschreiben. Ein Koordinationssystem ist eine
funktionelle Verbindung mehrerer Partialsysteme. Es gibt simultane und
sukzessive Eoordinationssysteme, je nachdem die Partialsysteme gleichzeitig
oder in fester Aufeinanderfolge ablaufen.
Zu ersteren, den simultanen, gehören die Raumbilder, die Körper, die
Begriffe von bestimmten Ortschaften, die musikalischen Intervalle, die
einzelnen Silben, das Ich.
Zu den sukzessiven Koordinationssystemen gehören alle eingeübten
Tätigkeiten, als Melodien, alle mehrsilbigen AVorte, alle Veränderungen oder
Vors tellungs Inhalte, Vorgänge, Prozesse, alle bewufsten und unbewufsten
Gewohnheiten, die Zeitabschnitte, z. B. ein Tag, ein Monat. Auf Koordi-
nationssystemen beider Art beruhen alle sprachlichen Begriffe.
Die logische Bedeutung der Merkmale beruht auf der Gröfse ihres
Übungswertes, ist also biologisch bestimmt.
Darauf, dafs ein Partialsystem Glied mehrerer Koordinationssysteme
ist, beruht die Verwandtschaft der Begriffe.
Die Inhalte menschlicher Aussagen, d. h. die Sätze sind auch Koordi-
nationssysteme beider Art.
In einem zweiten und dritten Abschnitte werden dann diese Be-
trachtungen an einzelnen Begriffen, deren Inhalte Gefühlswerte und zeit-
liche Gestaltsqualitäten sind, sowie ganz kurz an den Begriffen des Ver-
stehens und Begreifens fortgesetzt. Moskiewicz (Berlin).
-H. Kleinpetsb. Die Erkeuitiitotlieorie der Ittarfoncbiiig der 9ei;aiwart.
Leipzig, J. A. Barth. 1905. 156 S. |
Kleinpetsb hat sich entschieden um die Philosophie der Gegenwart
ein Verdienst erworben, indem er in vorliegendem Buch die Anschauungen
derjenigen erkenntnistheoretischen Richtung, die im wesentlichen durch
die Gedanken £. Machs begründet und bestimmt worden ist, in knapp
zusammenfassender Form dargestellt hat. Es ist das um so mehr zu
begrüfsen, als sich die Mehrzahl unserer Naturforscher zu dieser Richtung
mehr oder minder ausgesprochen zu rechnen pflegt^ ohne dafs man doch
' bisher eine einheitliche Darstellung dieser Art besessen hätte.
K. geht aus von einer Analyse des Begriffs der Erkenntnis selbst
Danach stellt sich ihm die Erkenntnis dar als ein psychischer Vorgang in
einem einzelnen Individuum, der genauer als auf einen bestimmten Zweck
gerichtete WUlenshandlung bestimmt werden muCs. Dieser Zweck ist
letzten Endes kein anderer als der, die vom einzelnen gemachten Er-
fahrungen der Gesamtheit mitzuteilen und dadurch den anderen unan-
genehme persönliche Erfahrungen zu ersparen. Es folgt unmittelbar aus
Litnaturbericht. [ 311
dieser Bestimmung, dafs wir streben müssen, jenes Ziel auf dem einfachsten
Wege zu erreichen, dafs also die Erkenntnis sich durch die Rdcksicht auf
das bekannte „Prinzip der Ökonomie des Denkens'* leiten lassen muls.
Daraus, dafs die Erkenntnis nur als Einzel Vorgang im Individuum ver-
wirklicht sein kann, folgt. ihre Relativität und die Bindung aller Erkennt-
nisse an die allgemeine Voraussetzung einer gleichen Anlage der Menschen.
Die Tatsachen selbst, um deren Mitteilung bzw. „einfachste Beschreibung"
es sich für die Wissenschaft handelt, sind der einzig unmittelbar gewisse
Ausgangspunkt jeder Erkenntnis. — Die gesamte Erkenntnis wird eingeteilt
in formale und historische Erkenntnis. Die historische Erkenntnis im
strengsten Sinn besteht in der Feststellung bestimmter historischer Einzel-
fakta» bestimmter einzelner Erfahrungen. Diese Fakta treten uns entgegen
als etwas Gegebenes, von unserem Willen Unabhängiges. Dagegen hat es
die formale Erkenntnis im eigentlichen Sinn des Worts nur mit willkürlich
von uns gebildeten Begriffen zu tun, deren Eigenschaften sie systematisch
auseinanderlegt. Formale Wissenschaften dieser Art sind Logik und
Arithmetik. Die grofse Mehrzahl aller Wissenschaften, im besonderen
Physik und Chemie sind weder rein formal noch rein historisch, sie
benutzen die gegebenen und konstatierten Tatsachen, aber sie treten an
diese Tatsachen mit willkürlich gewählten Voraussetzungen heran, also mit
formalen Sätzen, von denen wir von vornherein nicht wissen können, wie-
weit die Tatsachen sich in sie schicken werden. Zu diesen Voraussetzungen
gehört z. B. die, dafs, was der' einzelne zu bestimmter Zeit und an
bestimmtem Ort beobachtet hat, unter denselben Bedingungen von ihm
oder anderen wiedergefunden werden wird. Durch Kombination dieser
willkürlichen Voraussetzungen mit den gegebenen Tatsachen entstehen die
eigentlichen Naturgesetze. Aufser jenen Definitionen und diesen Natur-
gesetzen gibt es nach K. keine wissenschaftlichen Behauptungen, alle sind
entweder der einen oder der anderen Klasse zuzuzählen.
Hier ist vielleicht der Punkt, der am deutlichsten die Einseitigkeit
der ganzen Auffassung zeigt. Die Grundsätze der Logik und Arithmetik
sollen lediglich den Charakter von Definitionen besitzen. Es soll zur
Definition der Gleichheit etwa gehören, bzw. aus ihr abzuleiten sein, dafs
wenn ein A gleich einem B, dann auch B gleich A ist. Aber die Definition
der Gleichheit läfst sich nur auf einem einzigen Wege geben: durch den
Hinweis auf das jedermann bekannte Erlebnis, in dem wir die Gleichheit
zweier Tatbestände erfassen oder erleben. Indem wir dies Erlebnis haben,
wissen wir zugleich, dafs das, was wir hier erleben, von der Beihenfolge
in der Betrachtung der Elemente unabhängig ist — aber dies Bewufstsein
ist nicht identisch mit dem Erlebnis der Gleichheit, kann also auch nicht
aus dem Begriff der Gleichheit „hergeleitet" werden. Ebensowenig ist es
eine blolse willkürliche Annahme, es hat gar keinen Sinn, es durch Er-
fahrungen prüfen zu wollen ; seine absolute Gültigkeit hat nichts zu tun
mit der relativen Geltung eines empirischen Gesetzes, das immer durch
widerstreitende Erfahrungen widerlegbar bleibt, wenn wir auch diesen
Widerstreit in vielen Fällen, um das Gesetz aufrecht zu erhalten, durch
Hilfsannahmen beseitigen. -> Wie mit diesem Grundsatz so steht es auch
mit den Axiomen der Logik, etwa mit dem Satz, der den eigentlichen Sinn
312 Litei'aiurhericht.
des Identitätsgesetzes abgibt : ist ein Satz wahr, so ist er es nicht hier und
jetzt oder für ein bestimmtes Individuum, sondern immer nnd überall,
sowie für jeden. Der Begriff der „Wahrheit" kann nur ebenso definiert
werden, wie der der Gleichheit: durch den Hinweis auf das Erlebnis der
Wahrheit, auf das innerliche Zustimmen oder Jasagen. Und im Wesen der
Wahrheit gründet jener Satz, ohne aus ihrer ,,Definition'' herleitbar zu sein.
Daraus ergibt sich ferner, dafs die „Relativität" der Wahrheit ein leeres
Wort ist.
Auf der Grenze der formalen und historischen Wissenschaften steht
nach K. die Geometrie einschliefslich verwandter Erscheinungen. Sie hat
es zunächst zu tun mit selbstgemachten, willkürlich gebildeten Gregen-
ständen, insofern sie ihre Sätze an Phantasiebildern beweist. In dieser
Beziehung stehe sie auf einer Stufe mit den formalen Wissenschaften, die
es ja auch mit willkürlich gebildeten Begriffen zu tun haben, und ent-
wickle nur, was sich aus den nach bestimmten Regeln erdachten Phantasie»
bildern ablesen läfst. Sobald sie aber die Voraussetzung mache, dafs diese
Phantasiebilder in der Wirklichkeit vorkommen, dafs die wirklichen Drei-
ecke, Quadrate etc. den in der Phantasie des Mathematikers erdachten ent-
sprechen, werde die Geometrie Naturwissenschaft und stelle damit Be-
hauptungen auf, die der Bestätigung durch direkte Messung bedürften. Dafs
die reine unangewandte Geometrie von unserer Willkür abhängig sei, zeige
die Möglichkeit mehrerer Geometrien. Die nichteuclidische Geometrie
sei ein ebenso berechtigtes geometrisches System wie die Euclidische, so-
lange wir nur bei unseren Phantasiebildern bleiben und nicht zu den
wirklich ausmefsbaren Gebilden der Wahrnehmung übergehen. — Zur
Kritik braucht man, glaube ich, nur die Frage auf zuwerfen, wie das
Phantasiebild einer LoBATSCHSFSKijschen Geraden wohl aussehen mag.
Erstaunlich ist auch die Behauptung, dafs wir nie imstande wären, an den
wirklich gezeichneten Gebilden die räumlichen Verhältnisse mit solcher
Schärfe zu erfassen, wie an den Schöpfungen unserer Phantasie. Soviel
ich sehe, unterscheiden sich die Phantasiebilder von den wirklich gesehenen
Gestalten genau umgehrt durch geringere Schärfe, schwankende Umrisse
und Mangel an Klarheit.
Schliefslich verstehe ich nicht, warum K. überhaupt einen solchen
Wert auf die „willkürlich gebildeten Phantasiebilder" als Grundlagen der
Greometrie legt. Bei Cormblius, dessen „Psychologie" er verschiedentlich
mit Achtung zitiert, hat diese Beziehung einen ganz bestimmten Sinn:
C. versucht die Allgemeinheit der geometrischen Sätze darauf zu
gründen, dafs sie sich an Phantasiebildem demonstrieren lassen, mit Rück-
sicht auf die symbolische Funktion dieser Bilder, die sie zum Repräsentanten
aller der Art nach gleichen Gebilde stempelt. K. betont dagegen immer
nur unsere Willkür beim Erschaffen der Phantasiebilder, die doch, soviel
ich sehe, sich eben nur darauf bezieht, dafisi wir willkürlich jetzt und hier
ein solches Bild hervorrufen können, uns aber keineswegs erlaubt, Bilder
hervorzuzaubern, die nicht Abbilder bestimmter gesehener Figuren oder
gewisse Kombinationen solcher darstellen. — Das BewuDstsein der Willkür
spielt überhaupt bei K. eine Rolle, der ich nicht zu folgen vermag: so soll
es unmöglich sein, solche psychischen Tatsachen einer Kausalerklärung zu
Literaturbericht 313
unterwerfen, die wie die Denkakte, sich für unser Erleben a s willkürlich
oder spontan kennzeichnen.
Alles in allem: mir scheint die K. Schrift wird der Mannigfaltigkeit
der Tatsachen der menschlichen Erkenntnis nicht gerecht, weil sie allzu-
sehr vom Beispiel der Physik aus die Dinge ins Auge fafst. Um in ihrer
eigenen Redeweise zu sprechen, die MACH-E^LBiNPETEBSche Erkenntnistheorie
ist eine hypothetische Darstellung des Wesens und der Aufgabe der Er-
kenntnis, die sich durch Einfachheit auszeichnet, die aber doch allzu
einfach ist, um für die komplizierte Natur der Erkenntnistatsachen eine
wirkliche Abbildung abgeben zu können. v. Aster (München).
Chr. D. Pflaüm. Die iifgabe wisseBMhifUicher isthetlk. Arch, f. syst. PAOes.
10, 43a-480. 1904.
Ästhetik ist Wissenschaft, sie ist ebensowenig wie irgend eine andere
Wissenschaft normativ, sie hat es mit Werten zu tun und zwar ist sie (477)
„Erkenntnis der rein intensiven Wertungen von Geistesinhalten". Der
Begriff „rein intensiv" ist dabei in dem vom Bef. in seiner allgemeinen
Ästhetik definierten Sinne gebraucht. Diese These erläutert Pflaum durch
eine Übersicht über frühere Deflnitionsversuche und bekundet dabei ein
reiches historisches Wissen. In dieser Materialsammlung ist der Hauptwert
des Aufsatzes zu sehen; wenigstens kann Bef. nicht finden, dafs die
Definition selbst in ihrer etwas unbestimmten Gestalt einen wesentlichen
Fortschritt darstellt. J. Cohn (Freiburg i. B.).
G. VoBBRODT. Zu Religloispiychologle: Prinilpiei ud Pathologie. Theol.
Studien u. Kritiken, herausg. von Proff. E. Kautzsch u. E. Haupt, Gotha.
1905—1906. S. 237—303.
Der Aufsatz knüpft an an den auch in dieser Zeitschrift 38, S. 74 f.
besprochenen Vortrag von Joh. Naumann über die Frage: Ist lebhaftes
religiöses Empfinden ein Zeichen geistiger Krankheit oder Gesundheit?
sowie an eine ÄuTserung desselben Autors, der in Verteidigung seiner
Positionen des Vortrages in einem Artikel der „Christlichen Welt"* 1904, 40,
8. 938 f. den Beweis versucht, dafs „alles geistige und alles religiöse Leben
von Krankheit durchsetzt sei''. Diese letztere Bemerkung scheint der ander-
weiten Auffassung von Naumann zu widerstreiten, die auch der Bezensent
dieser Zeitschrift hervorhebt, nämlich, dafs eine starke religiöse Anlage nicht
eine Minderwertigkeit, sondern eine Mehrwertigkeit mit allen Vorzügen
und Mängeln einer solchen sei. Auch sonst liegen bei Naumann Wendungen
und Forderungen vor, die den modernen Psychologen ernstlich befremden
müssen, deren Nachprüfung jedoch die in Deutschland fast gar nicht, im
Ausland aber kräftig emporgewachsene Religionspsychologie anregen können.
Daher werden in Anlehnung an die Äuüserungen von N. die in der
Überschrift angedeuteten zwei Gesichtspunkte erörtert: I. Zur Psychologie
der Religion und zwar die Fragen: 1. Bewufstseinsinhalt oder auch
Form? sowie ob man von 2. Beligiöser Empfindung? als solcher
reden dürfe. IL Religion und Geisteskrankheit und zwar 1. Religion
nicht Ekstase, 2. Verhältnis von Religion zum Wahn.
314 Literaturhericht
Unter den Prinzipienfragen * der Beligionspsychologie, die von französisch
nnd englisch redenden Gelehrten öfter aufgegriffen sind, dürfte die Erörterung
wichtig sein über das vieldeutige und in der Theologie wie der gesamten
Wissenschaft häufig zitierte Verhältnis von Inhalt und Form. Die Natur-
. Wissenschaft bevorzugt in den Formelementen usw. sichtlich die Form^ der
Theologie steht der Inhalt derart voran, dafs darüber die Form der psy-
chischen Vorgänge vernachlässigt oder gar verachtet wird. Es kommen
bei derlei Überlegungen drei von mir aufgewiesene Hauptfälle in Frage,
nämlich 1. der Inhalt theologischer Erörterungen, sowie die Form des zu-
gehörigen Gefühls, 2. der Gegensatz von Inhalt und Form erstreckt sich
auf Religion und übriges Geistesleben, 3. die CJnterscheidungslinie läuft
durch den Bewufstseinsinhalt des Religiösen und den zugeordneten Vor-
gang. Ohne Zweifel unterscheiden sich nicht nur Fall 2 . je von 1 und 3,
sondern auch die letzteren beiden untereinander, sofern im Fall 1 der
Gedanke an Gott auch ästhetisch oder verstandesmäfsig verarbeitet werden
kann, in Fall 3 nur spezifisch-religiös in Betracht kommt. Die Lösung der
aufgedeckten Schwierigkeiten wird zugleich mit Bezug auf die in der
modernen Theologie überwiegenden Erkenntnisfragen versucht durch
schärfere Darlegung des psychologischen Bereiches der Religion.
Ferner wird der Begriff der Empfindung, der immer mehr zur Um-
schreibung gewisser Funktionen der höheren Zentren sich einschleicht, auf
die von der Psychologie festgelegte Domäne der niederen Sinnessphäreu
* Bei dem auf Drängen eines Freundes durch mich vom 12. — 15. Juni
d. J. abgehaltenen Religionspsychologischen Kursus ist u. a. die
Er6/terung der Prinzipienfragen fortgesetzt. Begriff und Umfang der Re-
ligionspsychologie sowie deren Stellung im Bereich der Psychologie waren
der Ausgangspunkt der Verhandlungen, bei denen namentlich auch die
Frage, ob die Experimentaluntersuchungen der ausländischen Religions-
psychologie möglich und nötig seien, von den Teilnehmern bejaht wurde:
im Sinn der Fragebogenmethode wurde — nicht von mir — eine Probe
vorgelegt; übrigens dürfte sich aufser der letzteren noch manche andere
Methode aus der Ezperimentalpsychologie auf die Rellgionspsychologie
übertragen lassen. Aufser der Psychotechnik der Seelsorge, des Kon-
firmandenunterrichts sowie der Predigt und anderen Kapiteln der an-
gewandten Religionspsychologie wurde die Psychobiologie in religions-
psychologischer Bedeutung behandelt: wenn die Psychologie heute sichtlich
zur biologischen Fundamentierung strebt, so ist die theoretische Biologie
auf breitester Basis der Botanik, Zoologie und Psychologie auszubauen
(vgl. aufser den Arbeiten von Dbiebch und Gebr. Rbinke den umfassenden
Schwanengesang von Ed. von Habtuank, das Problem des Lebens, Sachsa
1906). Die Lektüre des Aufsatzes über die Sozialpsychologie der Predigt
aus The American Journal of Religions Psychology and B^ucation herausgeg.
von Stanley Hall I, S. 288 ff. (der erste abgeschlossene Band ist von mir
besprochen in Habnack- Schübers Theol. Literaturz. 1906, Nr. 7) gab den
Teilnehmern des Kursus eine Probe der ausländischen Religionspsychologie.
Näheren Bericht über den Kursus werden einzelne theologische Zeitschriften
geben.
Literaturbd'icht 315
edngeschränkt, sowie die Bedeutung der sogenannten Empfindung für die
. höheren Zentren bestimmt. Auch die- Vagheit des Gefühls bßi Naumann
gibt AnlafSy die in meinen „Beiträgen £ur religiösen Psychologie" an-
gefangenen Erörterungen über diesen Punkt fortzusetzen, indem statt einer
blols formellen Einteilung der Gefühle ein Schema versnobt wird . 1. der
Vorbedingungen, 2. der Funktionalität.
Der zweite Hauptabschnitt betrachtet die Beligion unter dem Gesichts-
punkt der Ekstase, die zunäclist rein psychologisch, bzw. psychiatrisch in
Auseinandersetzung mit Kraspblin und Ach^lis gewürdigt wird, deren mehr-
deutiger Typus jedoch sich für die Beligion als völlig unzutreffend erweist.
Für das Verhältnis von Beligion zum „Wahn*' selbst werden die Bedingungen
und Symptome beiderlei Seelentatsachen erörtert, dann aber die Beligion
als noch zu wenig beachtetes Therapiemittel gegen den Wahn begründet
und ^omit der psychobiologische Faktor der Beligion als einer „inner-
adaptation", wie die amerikanische Beligionspsychologie es angibt, betont.
Selbstanzeige (Alt-Jefsnitz).
M. Offner. Willensfreiheit, Znrechnviig vad Yerantwortmig. Leipzig, Barth.
1904. 103 S. Mk. 3,—.
Verf. geht davon aus, dafs frei sein immer bedeutet frei sein von
etwas und dafs man daher immer nur von einem Freisein in gewissen
Beziehungen reden kann, während man gleichzeitig in anderer Beziehung
unfrei ist. So ist das menschliche Handeln frei zu nennen, wenn es von
keinen äufseren, dem Physischen angehörigen Faktoren, also z. B. Lähmung,
Fesselung der Glieder, sondern nur von den psychischen, im Willen gelegenen,
Motiven abhängig ist. So ist denn auch die Freiheit des Willens — um
diese Freiheit allein handelt es sich bei der Frage nach der Willensfreiheit —
derjenige Zustand, in dem man das will, was in seiner wahren und unver-
änderten Natur liegt, und in dem man nicht nur nicht von äufseren Ein-
flüssen, sondern auch nicht von Momenten bestimmt wird, die die eigene
Individualität beeinflussen.
So ist nicht nur der Erwachsene, sondern auch das Kind, der Idiot,
der Verbrecher frei, insofern in ihrem Handeln sich ihre Natur kundgibt.
Unfrei ist der Hypnotisierte, da sein Wille von einem anderen beeinflufst
wird, unfrei der Soldat, insofern er in einem durch Drill beigebrachten
blinden Gehorsam handelt; unfrei der Tobsüchtige und Fieberkranke, bei
denen die Krankheit die normale Persönlichkeit zerstört hat. Nach dieser
klaren und bestimmten Definition wendet sich Verf. der Frage zu, ob
Determinismus oder Indeterminismus bestehe. Unter' ersterem versteht er
die eindeutige Bestimmtheit aller Willenshandlungen durch die äufseren
Umstände und den durch Vererbung, Anlage, Erziehung usw. entstandenen
Charakter, der Art, dafs bei gleichen äufseren und inneren Umständen
immer dieselbe Willenshandlung resultieren mufs. Der Indeterminismus
hingegen spricht den Willenshandlungen die Eindeutigkeit ab, in dem Sinne,
dafs zwar nicht oft aber doch manchmal bei gleichen äufseren und inneren
Bedingungen zwei verschiedene Willenshandlungen erfolgen können.
Bei der Entscheidung zwischen beiden Standpunkten mufs zunächst
316 Literaturbericht,
festgestellt werden, dafis der Indeterminismas das Kausalgesetz preisgibt»
ferner mit dem Energiegesetz in Konflikt kommt, dafs alsdann im Seelen-
leben Regellosigkeit und Zufall herrseben müfsten.
Ferner wäre jedem Schlüsse von der Handlung eines Menschen auf
dessen Charakter die Berechtigung genommen. Denn wenn gerade die
bedeutungsvollen Entschlüsse frei sind, d. h. nicht mit Notwendigkeit aus
seinem Charakter hervorgehen, dann darf ich auch nicht von diesen Ent-
schlossen auf seinen Charakter schliefsen. Sind andererseits die bedeutungs-
losen, nebensächlichen Handlungen frei, so kann man den Menseben nicht
f flr die bedeutungsvollen Handlungen verantwortlich machen. Allen diesen
Schwierigkeiten, in die sich der Indeterminismus mit Notwendigkeit ver-
wickelt, entgeht man, wenn man sich zum Determinismus bekennt, was
Verf. auch rückhaltlos tut. Die nächste Frage ist naturgemäfis die, wie vom
Standpunkte des Determinismus das doch tatsächlich vorhandene Freiheits-
■ gefühl zu erklären ist.
Verf. unterscheidet hierbei drei Formen, in denen dieses Gefühl auf-
tritt: vor, bei und nach dem Willensentscheid. Das Freiheitsgeffihl nach
der Tat besagt: wir hätten auch anders handeln können. Aber da wir doch
immer nur Tatsächliches, nie aber Mögliches erleben können, so kann
dieses Gefühl nur bedeuten, dafs uns zwar eine grofse Reihe von Gründen,
die uns gerade zu dieser Handlung veranlafsten, bekannt waren, aber doch
auch Gründe in uns auftauchten, die eine andere Handlung hätten herbei-
führen können. Unterstützt wird dieses Freiheitsgefühl durch die an uns
oft erlebte Tatsache, dafis wir bei scheinbar gleichen Umständen zu ver-
schiedenen Zeiten verschieden gehandelt haben. Da wir uns der ausschlag-
gebenden Momente nicht bewufst geworden sind, entsteht in uns die Über-
zeugung, wir hätten so oder so handeln können. Wir würden vielleicht
ein zweites Mal in demselben Falle anders handeln, da wir doch die Folgen
gewisser Handlungen besser voraussehen können, als das erste Mal. Ähnlich
liegt der Tatbestand vor der Willensentscheidung.
Verf. hätte hier noch auf einen von Windblband neuerdings mit Recht
hervorgehobenen Punkt aufmerksam machen können, dafs nämlich das
Freiheitsgefühl vor der Tat zum groÜBen Teil Freiheit des Handelns und
nicht des WoUens bedeutet; d. h. in der Überzeugung besteht, dafs ich,
wie ich mich auch entscheiden werde, imstande bin, entsprechend zu
handeln.
Wenn man nun einwendet, dafs man im Falle einer eindeutigen Ver-
knüpfung zwischen Motiv und Willensentschlufs diese Notwendigkeit doch
während der Tat erleben müfste, so bemerkt Verf. ganz richtig, daCs es
überhaupt unmöglich ist, die Notwendigkeit zu erleben, da diese ja gar
nicht in den Vorgängen selbst liegt, sondern nur durch unsere Betrachtungs-
weise in sie hereingetragen wird.
Dafs das Freiheitsgefühl überhaupt nicht entscheiden kann über die
Frage, ob Determinismus oder Indeterminismus, zeigt das Beispiel dee
Hypnotisierten, der, obwohl doch im höchsten Grade determiniert, sich
doch durchaus frei fühlt. Nachdem so Verf. den Determinismus gegen alle
Angriffe verteidigt hat, zeigt er, dafs alle ethischen Begriffe, Reue, Scham etc.
sich durchaus mit dem Determinismus vertragen, ja ihn geradezu verlangen.
Literaturbericht. 317
Ebenso steht es mit dem Begriff der Zurechnung. Zurechnen kann
ich einem anderen nur etwas, wenn diese die vollständige Ursache dieser
zugerechneten Tat ist; die Zurechnung verlangt also geradezu, dals die
Tat jedes Menschen völlig determiniert ist durch die in diesem Menschen
liegenden Eigenschaften. Zurechnung und Determinismus fordern also
einander gegenseitig. Zurechnungsfähig ist dann der Mensch, der sich so
betätigen kann, wie es seiner wahren Natur seinem Charakter entspricht,
nur ein solcher Mensch kann für seine Handlungen verantwortlich gemacht
werden, und verantwortlich fühlt sich auch der Mensch nur für die Hand-
lungen, die aus seiner eigensten Natur entsprungen, und die ihm in keiner
Weise aufgedrungen sii^d«
So kann denn Verf. zum Schlüsse mit Recht sagen, dafs Verantwortung,
Zurechnung, Determinismus einander nicht nur nicht ausschliefsen, sondern
geradezu einander tragen und halten. Moskiewicz (Berlin).
H. GoMPBBz. Ober die Walfficbeinllclikeit der WUlententscheidungen. Ein
empirischer Beitrag zur Freiheitsfrage. Sitzungsbericht der Kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften in Wien. 1904. Bd. 149. 17 S.
Verf. will, unabhängig von jeder metaphysischen Theorie des Deter-
minismus oder Indeterminismus vom rein empirischen Standpunkte einiges
zur Frage nach der Wahrscheinlichkeit von Willensentscheidungen bei-
tragen.
Er stellt dabei folgende Überlegung an.
Unter Motiv versteht Verf. die Vorstellung eines Effektes, die nicht
von aufsen gegeben ist, sondern der alle subjektiven willensbestimmenden
Momente anhaften, kurz, ein Motiv ist der Träger einer motorischen Tendenz.
Einem solchen Motive kommt eine bestimmte Lebhaftigkeit zu, die als Mafs
für die willensbestimmende Kraft oder das Mafs des Motives gelten kann.
Tritt nun ein Konflikt mehrerer Motive, also ein Schwanken ein, so
ist der Vorgang folgender:
Das eine Motiv setzt mit dem Maximum seiner Lebhaftigkeit ein,
sinkt dann infolge Ermüdung nach einiger Zeit ab, während jetzt das
zweite Motiv bis zum Maximum seiner Lebhaftigkeit ansteigt, bis es nach
einiger Zeit wieder absinkt, um dem ersten Motive wieder Platz zu machen.
Es besteht also kein Konkurrieren, sondern ein Alternieren der Motive.
Eine einfache Zeichnung ergibt nun mathematisch, was die Erfahrung
bestätigt, dafs die Herrschaftsphasen dieser Motive in bezug auf ihre Dauer
sich verhalten wie ihre Maximalstärken.
Dieser Prozefs des Schwankens wird nun durch die Willensentscheidung
beendet, die die in dem Moment ihres Eintretens herrschende Effektvor-
stellung realisiert.
Der Inhalt einer Willensentscheidung hängt also davon ab, in die
Herrschaftsphase welches Motives diese Entscheidung fällt.
Eine Abhängigkeit zwischen dem Prädominieren eines der beiden
Motive und dem Zeitpunkte besteht nun nicht, es handelt sich hier viel-
mehr um das Zusammentreffen zweier voneinander völlig unabhängiger
Kausalreihen. Dies ist aber das Gebiet des Zufalles und der Wahrschein-
lichkeitsbestimmung. Je länger ein Motiv verweilt, um so wahrscheinlicher
318 Literaturbericht
ist es, dafs der Zeitpunkt der Entscheidung in die Herrschaftsphase dieses
Motives fällt; und da die Dauer der einzelnen Motive abhängig ist von
ihrer Stärke, so verhalten sich die Wahrscheinlichkeiten für die Realisierung
zweier Motive durch die Willensentscheidung wie ihre Stärken. Es ist
daher sehr wahrscheinlich, dafs das stärkere Motiv auch siegt, aber nicht
notwendig.
Dieser Gedankengang, dafs das stärkere Motiv zwar mit grofser Wahr-
scheinlichkeit aber nicht notwendig siegt, findet nach des Verls Ansicht
seine Bestätigung in der täglich zu machenden Erfahrung, dafs wir bei
einem Menschen, dessen Gesinnung wir sehr genau zu kennen glauben,
irgend eine Handlung im gegebenen Falle nie mii absoluter, sondern nur
mit einer gewissen Zuversicht erwarten und dafs tatsächlich oft die besten
Menschen einmal eine schlechte Handlung begehen und umgekehrt.
Es kann nach des Ref. Meinung nicht zugegeben werden, dafs dieser
Gedankengang stichhaltig ist.
Es ist unmöglich, anzunehmen, dafs das Dominieren eines Motives
unabhängig ist von dem Eintreten der Willensentscheidung. Was ist denn
überhaupt diese Willensentscheidung, wenn sie nicht von den Motiven
beeinfiufst wird? Dann hätte ja ein Abweichen der einzelnen Gründe, ein
Überlegen überhaupt keinen Zweck, wenn der Wille doch nicht sich nach
den Motiven richtet. Indem Verf. den Willen unabhängig von den Motiven
sich entscheiden läfst, setzt er ja seine Freiheit schon voraus, die er erst
beweisen will. Also eine petitio prinzipiil Auch das Schema, das Verf.
aufstellt, besteht, wie die Erfahrung lehrt, nicht zu Recht. Es besteht kein
blofses Alternieren der Motive ; alles Überlegen vor der Entscheidung besteht
doch gerade darin, möglichst viel positive Momente für das eine Motiv
herbeizuschaffen und das entgegengesetzte Motiv zu entkräften, es wächst
also die Stärke des einen Motives auf Kosten des anderen und die Ent-
scheidung tritt ein, wenn die hemmende Wirkung des einen Motives durch
eine gleich stark treibende Kraft des anderen aufgehoben ist und diese
noch einen Überschufs an solcher treibenden Kraft besitzt.
Verf. definiert selbst das Motiv als den Träger der motorischen Ten-
denzen, d. h. doch jedes Motiv will sich in die Handlung umsetzen, wenn
es nicht von entgegengesetzten Motiven gehemmt wird. Alles Überlegen
besteht also im Fortschaffen solcher Hemmungen, indem durch das Nach-
denken die hemmenden Gründe entweder als nicht stichhaltig erwiesen
werden, oder Gesichtspunkte herbeigebracht werden, die die Realisierung
eines Motives trotz aller Hemmungen wünschenswert erscheinen lassen.
Es werden also entweder die Kräfte des einen Motives gestärkt oder die
des entgegenstehenden vermindert. In dem Augenblick aber, wo ein Motiv
stark genug ist, die Hemmungen zu überwinden, setzt es sich in die Tat
um; das folgt ohne weiteres aus der Definition, die Verf. dem Motiv gibt,
als dem Träger einer motorischen Tendenz.
Damit ist aber erwiesen, dafs der Zeitpunkt der Willensentscheidung
wohl abhängig ist von den einzelnen Motiven. Wovon sollte er auch sonst
abhängig sein, und grundlos kann er doch nicht eintreten!
Damit ist auch gegeben, dafs es nicht möglich ist, den Motivenkonflikt
so darzustellen, dafs die Motive sich abwechselnd folgen. Es ist in gewisser
Literaturbericht. 319
Weise allerdings ein Konkurrieren und kein Alternieren. Die Motive
wandeln sich doch im Laufe der Überlegung immerfort, und solange noch
die einzelnen Motive nacheinander im Bewufstsein auftreten, besteht noch
ein vorbereitendes Überlegen, bis ein Motiv so stark ist, dafs es die anderen
nicht mehr neben sich duldet.
Ich entscheide mich doch im allgemeinen nicht deshalb, weil ich von
aufsen dazu getrieben werde, etwa weil der Zug abfährt, oder weil die
Spannung so grofs ist, dafs mir die Geduld reifst, wie Verf. es als das'
Alltägliche hinzustellen scheint — und der Determinismus ist gewifs der
letzte, der so etwas behauptet — sondern ich entscheide mich doch, weil'
ich das eine für richtiger halte zu tun, als das andere.
Dafs wir nun allerdings nie mit Sicherheit die Handlungen eines
Menschen voraussagen können, was gewifs niemand leugnen wird, oder
richtiger gesagt, dalJB wir uns oft irren, denn schliefslich erwarten wir von
einem guten Menschen doch auch immer gute Taten, das brauchen wir
nicht dadurch zu erklären, dafs zwei voneinander unabhängige Kausalreihen
in diesem Menschen ablaufen; viel ungezwungener erklärt es sich doch
dadurch, dafs wir den Charakter eines Menschen eben nie genau ergründen,
und dafs wir nie sagen können, welche Bedeutung die von aufsen auf ihn.
eindringenden Ereignisse für ihn besitzen. Moskeewicz (Berlin).
£. KoDENWALDT. Avfftabme des geistigen Inventars Gesunder als Mafutab ftr
Defaktprflfangen bei Kranken. Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neural, 17.
Erghft. S. 17—84. 1905.
Gegenstand der diesmaligen Untersuchung waren 174 Kekruten des
Leib-Kürassier-Regiments Nr. 1 in Breslau, und handelt es sich nur um
Kenntnisprüfungen, nicht Intelligenzprüfungen. Auf die Untersuchungen
kann hier nicht näher eingegangen werden. Das Besultat ergibt einen Tief-
stand des geistigen Inventars, eine solche Fülle nicht erwarteter Defekte
in grofsem Prozentsatz, wie sie bisher in der psychiatrischen Literatur
niemals angenommen wurde. Es folgt aus den vorliegenden Untersuchungen
jedenfalls für die Psychiatrie, dafs eine reine Prüfung des Wissensdefektes
nicht verwendbare Resultate ergibt, denn jeden Defekt des Wissens kann,
man auch beim Gesunden erwarten. Aus der Art der Reaktion glaubt R.
aber folgendes schliefsen zu dürfen: Aus der Art, wie die betreffenden
Leute über ihren Besitzstand orientiert oder nicht orientiert sind, läfst sich
vorsichtig eine Scheidung zwischen Begabten und Unbegabten machen.,
Wissen und Begabung will R. nicht irgendwie übereinbringen, findet aber
doch nach den Tiefpunkten eine Übereinstimmung. Wer auffällig grofse
Defekte, lange Gesam tunters uchungszeiten aufweist, ist meist auch im
praktischen Leben dumm. Auf das Fehlen einiger wichtig erscheinender
Begriffe, wie „Unterschied" und ,. Gegenteil" legt R. weniger Gewicht. Da-
gegen scheint ihm bei der Beurteilung der Begabung wertvoll, wie weit die .
Untersuchten verstehen, sich bei gleichen Begriffen aus einer gewohnten
Denkrichtung in eine andere zu versetzen, z. B. beim Rückwärtsherzählen
der Monate. Umfvekbach (Bonn).
320 Literatvrbericht
M. isssBLur. Assoiiattoisven«6lie M eii«m foreBsIseh begitoelitetom Falle ?oi
epileptischer tteisteSftAnug. Monatuekr, f. Pgychiatrie u, Neurol, 18. Erghft.
S. 419-446. 1905.
Die Versuche sind dadurch von grolsem Interesse, dafs sie 6V2 Jahre
auseinander liegen und sich im grofsen ganzen decken. Das für die
Assoziations weise der Epileptiker Charakteristische findet sich auch hier:
die Ärmlichkeit des Vorstellungsschatzes, Stereotypien und Perseverationen,
der egozentrische Charakter der assoziativen Verbindungen etc. Auffallend
ist auch in diesem Fall die grolse Einförmigkeit der Keaktion und die
frappant hohe Zahl der Wiederholungsphftnomene. Fast durchweg wurde
mit Adjektiven reagiert. Interessant ist, dafs eine beträchtliche Anzahl
von Assoziationen in ganz gleicher Form nach BVs Jahren wiederkehren.
Es kann sich hierbei natürlich nicht um eine mechanische Fixation handeln.
Solche Reaktionen können nach I. nur als durch die spezielle Individualität
bedingte aufgefafst werden. Umpfenbach (Bonn).
W. V. Bbchtbbew. Ober elie Form der Ptraphisie. Monatsschr. f. Fsychiatrir
u. Neural 18 (6), S. 525-632. 1905.
Verf. weist hier an der Hand von zwei Krankengeschichten auf Fftlle
von Paraphasie hin, die nicht selten die transkortikale Aphasie begleiten,
jedoch auch selbständig auftreten können. Kranke dieser Art merken selbst
nicht, wenn sie Worte verwechseln, dafs ihre Worte den Begriffen nicht
entsprechen und anderen daher unverständlich sind. Solche Fälle möchte
B. als transkortikale Paraphasien oder Dissymbolien unterscheiden. Hier
ist der Sprachapparat der Kontrolle der Begriffe entzogen, es besteht also
eine Störung der Leistungen, die die höchsten Begriffszentren mit den
Sprachzentren verbinden. Die Sprache ist hier unbehindert, aber sie
erscheint als eine Reihe sinnlos assoziierter, bisweilen auch falsch zusammen-
gesetzter Wörter und bleibt deshalb anderen unverständlich.
In den beiden Fällen von B. handelt es sich höchstwahrscheinlich
um einen Erweichungsherd der linken Hemisphäre, wobei hauptsächlich die
Leitungen zwischen den höheren Begriffszentren und dem motorischen
Sprachzentrum betroffen sind, letzteres ist verschont geblieben.
Umpfenbach (Bonn).
H. Oppenheim. Psychotherapeutische Briefe. Berlin, Karger. 1906. 44 S
Ein vortr^iches Büchlein für Nervöse und solche, die sich mit ihrer
Behandlung zu befassen haben. Besser als es durch aligemein gehaltene
Darstellungen und Anleitungen möglich sein dürfte, lehrt es das Wesen
der Psychotherapie durch konkrete Beispiele kennen, nämlich durch eine
Anzahl von Briefen an Patienten, in die vielfach die Auseinandersetzungen
der Sprechstunde verwebt worden sind. Sie zeigen uns anschaulich, wie
ein erfahrener und gebildeter Praktiker es anfängt, die Kranken von ihren
Autosuggestionen oder den selbstgeschaffenen Folgen ihrer Eigenbeobachtung
zu befreien, sie trotz ihres Widerstrebens wieder Glauben und Vertrauen
zu sich selbst gewinnen zu lassen und ihnen dadurch ihre Leistungs-
fähigkeit wieder zu geben. Ebbinohaus (Halle).
321
Beiträge zur speziellen Psychologie
auf Grund einer Massenuntersuchung.
Von
G. Heymans und E. Wieesma.
Zweiter Artikel.
2. Oesehlechtsanlage und Erblichkeit.
Das im vorigen Paragraphen zusammengestellte und geordnete
Material gestaltet und erfordert eine weitere Bearbeitung. Schon
eine oberflächliche Durchmusterung der auf die einzelnen Fragen
dich beziehenden Zahlen läTst es nämlich als wahrscheinUch
erscheinen, dafs, neben der väterhchen und mütterlichen Erblich-
keit, noch ein weiterer selbständiger charakterbestimmender Faktor
in der Geschlechtsanlage gegeben ist. Diese Wahrscheinlich-
keit ist nicht schon unmittelbar in der Tatsache enthalten, dafs
bestimmte Eigenschaften bedeutend öfter bei Männern als bei
Frauen vorkommen und umgekehrt: denn es könnte ja sein, dafs
solches einfach in dem Gegebensein gleicher Verhältnisse bei der
älteren Generation, in Verbindung mit dem bereits festgestellten
Überwiegen der gleichgeschlechtlichen Erblichkeit, begründet
wäre. Dafs z. B. in den Familien, auf welche unsere Unter-
suchung sich bezieht, von den Töchtern fast 61 "/oi von den
Söhnen dagegen kaum 45 ^Iq als „emotionell^ (Frage 9) bezeichnet
wurden, könnte einfach daran hegen, dafs auch die Mütter weit
mehr emotionell sind als die Väter (59 '% gegenüber 45,5 %), und
dafs nun jene Mütter ihre Emotionahtät vorzugsweise auf die
Töchter, diese Väter ihre Nichtemotionalität vorzugsweise auf die
Söhne vererbt hätten. Dafs sich aber die Sache nicht so einfach
verhält, läfst sich aus den vorliegenden Ergebnissen, mit gröfserer
oder geringerer Deutlichkeit, direkt nachweisen. Es würde
nämlich die vorgetragene Erklärung nur dann als eine genügende
Zeitschrift lür Psychologie 43. 21
322 ö. Heytnans wid E. Wiersnia.
anerkannt werden können, wenn (in dem angeführten BeiBpiel)
das Übergewicht der emotionellen Töchter und der nicht-
emotionellen Söhne ausschliefslich in den Familien mit über-
wiegend emotionellen Müttern vorkäme, w&hrend in den (weniger
zahlreichen) FamiUen mit überwiegend emotionellen Vätern auch
die Söhne mehr emotionell wären, und zwischen den Söhnen
und Töchtern aus Eltern von gleicher Emotionalität kein durch-
gängiger Unterschied sich feststellen liefse. Eben dies ist aber
nicht der Fall. Ohne Zweifel ist die betreffende Ungleichheit
am gröfsten bei den Kindern von nichtemotionellen Vätern und
emotionellen Müttern (Emotionalität bei 38^/© der Söhne, bei
63% der Töchter); aber sie findet sich auch in den Familien»
wo Vater und Mutter beide emotionell (62 % ^dl^ 71 7ti)i beide
unsicher (36 % und 38 7o) oder beide nicht emotionell sind (36 \
und 49%); und sie fehlt selbst nicht bei den Kindern von
emotionellen Vätern und nichtemotionellen Müttern (41 *7.i und
61 *7o). Wir dürfen also mit Sicherheit schliefsen, dafs die Töchter
aus den untersuchten Familien, auch abgesehen von der
gröfseren oder geringeren Emotionalität der Väter
und Mütter, in höherem Grade emotionell beanlagt sind als
die Söhne; was vermutlich wohl auf entfernteren ErbUchkeits-
beziehungen beruhen wird, aus den vorliegenden Daten aber
nicht weiter erklärt werden kann. Und durchwegs analoge»
wenn auch bald mehr bald weniger deutUch ausgesprochene
Regelmäfsigkeiten ergeben sich, wenn wir die früher vorgeführten
Tabellen durchmustern, in welchen die auf alle sonstige Fragen
sich beziehenden Antworten zusammengefaTst worden sind.
Aus diesem Sachverhalt ergibt sich nun die Frage, ob ea
nicht möglich sein sollte, das Mafs zu bestimmen, in
welchem einerseits die Geschlechtsanlage, ab*
gesehen von allen direkten väterlichen und mütter*
liehen Er blichkeitseinflüssen, und in welchem
andererseits eben diese väterlichen und mütter^
liehen Erblichkeitseinflüsse die Entstehung be-
stimmter Charaktereigenschaften mitbedingen. Diese
Frage ist zustimmend zu beantworten. Halten wir uns für die
vorläufige Orientierung wieder an das obige Beispiel, so ist zu*
nächst klar, dafs, wenn erstens die vorliegenden Antworten
unbedingt zuverlässig wären, und wenn zweitens keine anderen
Einflüsse als Geschlechtsanlage und väterliche und mütterliche
Beiträge zur apetieüen Psychologie auf Ghrund einer Maasenunter suchung. 323
Erblichkeit auf die Charakterbildung eingewirkt hätten, die
Frequenz, mit welcher in den einzelnen Gruppen emotionelle
und nichtemotionelle Söhne und Töchter vorkommen, eine direkte
zahlenmäfsige Bestimmung des Maises, in welchem jene drei
Einflüsse gewirkt haben, gestatten würde. Wir dürfen nämlich
annehmen, dafs in den Fällen, wo die Frage nach der Emotio-
nalität weder für den Vater noch für die Mutter beantwortet
worden ist, diese beiden sich ebensowenig nach der einen wie
nach der anderen Richtung merkHch vom Durchschnitt entfernen *
und also auch weder in der einen noch in der anderen Richtung
den Grad der Emotionalität bei ihren Kindern durch Vererbung
merklich beeinflufst haben. Es würden demnach in diesen Fällen
(die Gruppe ?-? der Tabelle IX) unter den erwähnten Be-
dingungen überhaupt keine Erblichkeitseinflüsse, sondern nur
der Einflufs der Geschlechtsanlage wirksam sein, und das Mafs
dieser Wirksamkeit würde sich aus den vorliegenden Zahlen
direkt ablesen lassen. Sodann würden sich aus den Ergebnissen
für andere Gruppen, wo entweder nur für den Vater oder nur
für die Mutter die gestellte Frage beantwortet worden ist, mittels
einfacher Subtraktion ebenso direkt die Wirksamkeit der Erblich-
keitseinflüsse quantitativ bestimmen lassen; und aus den so
gewonnenen Werten müfsten sich die für die übrigen Gruppen
gewonnenen Resultate im voraus genau berechnen lassen. — Nun
sind aber tatsächlich jene beiden Bedingungen gewifs nicht erfüllt :
die Antworten werden teilweise subjektiv gefärbt sein, und es
werden auf die Charakterbildung, aufser Geschlechtsanlage und
Erblichkeit, noch viele andere Faktoren eingewirkt haben; auch
^ Diese Annahme scheint uns gestattet, weil erstens unsere Bericht-
erstatter ausdrücklich ersucht wurden, sich zur Beschreibung eine Familie
auszuwählen, deren Mitglieder in zwei Generationen sie genau kannten,
und weil zweitens auch in der Tat fast überall die Anzahl der beantworteten
Fragen eine genaue Bekanntschaft mit der betreffenden Person beweist;
demzufolge denn in den meisten Fällen das Unbeantwortetlassen einer
Frage wohl als ein Zeichen dafür gelten darf, dafs bei der betreffenden
Person wenigstens stärkere Ausschläge nach einer oder der anderen Seite
sich nicht feststellen llefsen. Sollte aber auch in einigen Fällen das Fehlen
einer Antwort auf völliger Unkenntnis der Sachlage in bezug auf die gestellte
Frage beruhen, so ist von diesen Fällen doch anzunehmen, dafs sie ent-
weder in die grofse Masse der anderen verschwinden, oder dafs die darin
vorliegenden Abweichungen vom Durchschnitt sich nach dem Gesetze der
grofsen Zahlen kompensiert haben.
21*
324 ö- Heymans und E. Wiersma.
ist von allen diesen störenden Umständen zwar zu erwarten, dafs
sie sich im grofsen und ganzen, nicht aber, dafs sie sich voll-
ständig und exakt kompensiert haben. Unter diesen Umständen
läfst sich also in bezug auf das Mafs der Wirksamkeit der drei
bekannten Faktoren keine volle Gewifsheit, sondern nur eine
gröfsere oder geringere Wahrscheinlichkeit erzielen: es ist für
jede der 9 vorliegenden Gruppen auf Grund der Untersuchungs-
ergebnisse eine Gleichung aufzustellen, und es sind dann aus
diesen 9 Gleichungen die walirscheinlichsten Werte der drei darin
vorkommenden Unbekannten nach der Methode der kleinsten
Quadrate zu berechnen. Für sämtliche Fragen, welche, wie die
vorliegende, zwischen zwei entgegengesetzten Abweichungen vom
Durchschnitt die Wahl lassen, findet diese Berechnung folgender-
weise statt:
Mit dem Namen Geschlechtsanlage bezeichnen wir
die mit dem Geschlecht gegebene stärkere oder
schwächere Anlage zumAuftreten einer bestimmten
Eigenschaft, und messen dieselbe durch die hypothetisch zu
ermittelnde relative Häufigkeit, in welcher jene Eigenschaft bei
den Angehörigen des betreffenden Geschlechts auftreten würde,
wenn alle sonstigen das Auftreten dieser Eigenschaft oder ihres
Gegenteils begünstigenden Einflüsse fehlten (den Geschlechts-
koeffizienten G). Ebenso nennen wir väterlichen bzw.
mütterlichen Erblichkeitseinf lufs die Verstärkung
oder Abschwächung, welche jene Anlage durch das
Vorkommen der betreffenden oder der entgegen-
gesetzten Eigenschaft beim Vater bzw. bei der
Mutter erfährt, und messen dieselbe durch die Zu- oder Ab-
nahme jener auf der Geschlechtsanlage beruhenden Häufigkeit,
welche in denjenigen Fällen, wo der Vater bzw. die Mutter die
betreffende oder die entgegengesetzte Eigenschaft besitzt, bei
Abwesenheit aller sonstigen das Auftreten dieser Eigenschaft oder
ihres Gegenteils begünstigenden Einflüsse sich ergeben würde
(väterlich er bzw. mütterlicher Erblichkeitskoeffi-
zient V3I). Durch Hinzufügung eines kleinen « oder t zu den
betreffenden Buchstaben deuten wir an, dafs es sich speziell um
die Geschlechts- oder Erblichkeitsverhältnisse bei den Söhnen
bzw. bei den Töchtern handelt: es stellt also beispielsweise
Gt den Geschlechtskoeffizienten bei den Töchtern, Ms den mütter-
lichen Erblichkeitskoeffizienten bei den Söhnen vor. Endlich
Beiträge zur spezielleti Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung. 325
soll p für je eine der Gruppen von Familien, welche wir früher
überall in bezug auf jede Eigenschaft unterschieden haben, die
Anzahl der Söhne bzw. Töchter vorstellen, bei welchen die
betreffende Eigenschaft nach den Ergebnissen unserer Enquete
tatsächlich vorkommt, und n die Gesamtanzahl der Söhne bzw.
Töchter aus dieser Gruppe. Dann gelten, wenn wir die Gruppen
in der nämlichen Ordnung vorführen, wie in Tabelle IX und in
den sonstigen gleich eingerichteten Tabellen geschehen ist, all-
gemein folgende Bedingungsgleichungen (in welchen, je nachdem
sich die Untersuchung auf die Söhne oder auf die Töchter
richtet, nach obigem die Buchstaben (r, V und M noch mit dem
Zeichen s oder t zu versehen sind):
G-\-V — M=
G-\-V =
2
*
n,
's
G—V-{-M=^*
G — V = ^«
n.
G +M=
'»
w,
G -M=^
G =-^
Mittele einer einfachen Berechnung ergeben sich hieraus
(wenn dem verschiedenen Gewichte der vorliegenden Daten durch
Multiplikation der Glieder je einer Gleichung mit dem ent-
sprechenden y'n Rechnung getragen wird) die Normalgleichungen :
(i:n)G + (n,+n,4-n,-n, -«g — n.) V +
+ (»I +»» + «e — »4 — »»7 — »9) -M'= ^P
(n, +n, +«4 — n, -«g — »»») G^+ (»i +"« +«i+»»« + «» +«») ^+
+ (♦»! - «4 — «« + «!.) ^=Pi +Pi +P4 -P«—Ps —P»
(«l+»»8+»a — «4 -«7 — »:.) G+(«, —»4 — «6+»»») ^ +
+ («1 + »« + »4 -f «e + »7 + «») ^ = Pi +P» +1»« —Pi —P: - P»
326 (^' Heymaru und E. Wiertma.
welche ohne weiteres die Ermittlung der wahrscheinlichsten
Werte von 6?, F und M gestatten.
Wie oben bemerkt wurde, gilt dieses Schema nur für die-
jenigen Fragen, welche zwischen zwei entgegengesetzten
Eigenschaften die Wahl lassen (1, 2a, 2b, 3, 5, 8, 9, 10, 12,
13, 14, 15 a, 15 b, 16, 17, 19, 20, 22, 25, 26, 27 a, 28, 29, 30, 31,
32, 34, 37, 39, 40, 42, 44, 46, 47, 48, 50, 54, 58, 59, 66, 67, 68,
69, 73, 74 a, 74 b, 83, 84, 85, 89 a, 89 b und 89 c); für die anderen,
welche nur nach dem Vorkommen einer Eigenschaft sich
erkundigen (4, 24, 38, 51b, 75, 76, 78, 79, 81, 88b und 90) wird
die Sache bedeutend einfacher, da hier nur vier Gruppen v<hi
Familien zu unterscheiden sind, und demnach auch nur vier
Bedingungsgleichungen aufgestellt werden können:
G =?^
aus welchen folgende Normalgleichungen hervorgehen:
(v^T) G + K + n,) V+{n,-^ v^)M=2p
(n, +n,)6 + (n, +n,) V + n, M =A +Ä
(n, +n3)(? + w, V-\-in,+n^)M = p, + p.
Dagegen wird die Sache komplizierter bei denjenigen Fragen,
welche zwischen mehr als zwei Eigenschaften die Wahl
lassen (6, 7, 11, 18, 21, 27b, 35, 41, 43, 45, 49, 51a, 52, 53, 55,
56, 57, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 70, 71, 72, 77, 80, 82, 86, 87 und 88 a).
Hier würde eigentlich, je nach der Anzahl jener Eigenschaften,
eine Berechnung mit 7, 9 oder mehr Unbekannten stattfinden
müssen; es läfst sich aber, um Zeit und Mühe zu ersparen, das
Problem in mehrfacher Weise vereinfachen. Wenn nämlich,
wie meistenteils der Fall ist, jene Eigenschaften eine Stufenreihe
bilden, so kann man (wie bereits in unserer früheren Abhand-
lung geschehen ist) entweder die Vertreter der Mittelstufe den
Fraglichen beizählen und blofs die äufseren Stufen einander
gegenüberstellen (z. B. Fr. 43: aufsergewöhnliches — gutes oder
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Qrund einer Massenuntersuchung, 327
fragliches — schlechtes Gedächtnis), oder die Abweichungen
vom Durchschnitt nach einer Seite zusammenzählen und sie
den Abweichungen vom Durchschnitt nach der anderen Seite
gegenüberstellen (z. B. Fr. 61: demonstrativ — fraglich — ver-
schlossen oder Heuchler; Fr. 61a: geizig oder sparsam — frag-
lich — flott in Geldsachen oder verschwenderisch). Die erstere
Methode wird offenbar den Vorzug verdienen, wo die beiden
äufseren Stufen gleich zahlreich, die zweite, wo eine derselben
nur durch wenige Individuen vertreten ist; beide machen es
möglich, kompliziertere Fälle auf das erstere der obigen Schemata
zurückzuführen. — Aufserdem können aber die betreffenden
Fälle noch in einer anderen Weise der Rechnung zugängUch
gemacht werden, nämlich so, dafs man abwechselnd je eine der
Eigenschaften, welche in der Frage unterschieden werden, für
die Gruppenbildung ausschliefsUch in Betracht zieht; also jedes-
mal 4 Gruppen unterscheidet, je nachdem die in Betracht ge-
zogene Eigenschaft bei beiden Eltern, beim Vater, bei der Mutter
oder bei keinem der Eltern vorkommt, und dann für jede der
unterschiedenen Eigenschaften gesondert untersucht, in welcher
Häufigkeit sie bei den Kindern aus jeder Gruppe sich findet.
Unterscheidet also die Frage zwischen n Eigenschaften, so
kommen n- Sätze von je 4 Bedingungsgleichungen heraus,
welche nach dem oben an zweiter Stelle dargestellten Schema
zu behandeln sind. — Wie leicht ersichtlich, hat diese letztere
Methode im Vergleiche mit der ersteren den Vorteil, dafs sie
eine detailliertere Einsicht in die vorliegenden Verhältnisse ge-
stattet; dagegen den Nachteil, dafs sie mit kleineren Anzahlen
arbeitet und demnach weniger zuverlässige Resultate verspricht.
Wir haben tiberall, wo die Fragestellung es ermöglichte, die
beiden Methoden in Anwendung gebracht, um die Ergebnisse
der einen dru^ch diejenigen der anderen kontrolheren zu können ;
im Interesse der Raumersparnis und der Übersichtlichkeit sind
aber im folgenden meistenteils nur die Resultate der ersteren,
gröberen aber zuverlässigeren Methode mitgeteilt, und diejenigen
der zweiten nur dann hinzugefügt worden, wenn sie irgendwie
geeignet erschienen, über die vorliegenden Verhältnisse ein
klareres Licht zu verbreiten.
Endlich gibt es noch drei Fragen (23, 33, 36), in bezug auf
welche besondere Umstände vorliegen (für 23 der Mangel an
Daten für die mütterliche ErbUchkeit, für 33 und 36 der Einflufs
328 ö^- Heymans und E. Wiernma.
von Anlagen oder Erzähltalenten anderer Art als die eben unter-
suchten), infolge deren eine etwas modifizierte Problemstellung
nötig wurde; wir kommen darauf an Ort und Stelle zurück.
Schliefslich ist noch zu bemerken, dafs wir nach obigem
überall, wo das neungliedrige Schema (S. 325) Anwendung fand,
die hereditären Wirkungen entgegengesetzter Eigenschaften (wie
etwa emotionell und nichtemotionell) als gleich und entgegen-
gesetzt betrachtet haben; also von der Annahme ausgegangen
sind, dafs beispielsweise ein emotioneller Vater die Chancen
seiner Kinder auf Emotionalität um gleichviel steigert, wie ein
nichtemotioneller Vater diese Chancen herabdrückt. Die jedes-
mal für F und M gefundenen Werte beziehen sich also nur auf
den Durchschnitt aus diesen beiden Wirkungen; wir haben ge-
glaubt, uns mit diesem Durchschnitt begnügen zu müssen, um
nicht genötigt zu sein, wieder mit zu kleinen Gruppen zu ar-
beiten.
Wir gehen jetzt dazu über, in bezug auf die einzelnen
Fragen (für deren Wortlaut jedesmal nach der betreffenden
Seite aus unserem ersten Artikel in Bd. 42 dieser Zeitschrift ver-
wiesen wird) die für ff, F und M erhaltenen Werte in Reih und
Glied geordnet vorzuführen. Die den betreffenden Angaben vor-
hergeschickten Worte „Methode I" bzw. „Methode II" bedeuten,
dafs die Berechnung nach dem oben S. 325 angegebenen neun-
gliedrigen bzw. nach dem S. 326 angegebenen viergliedrigen
Schema stattgefunden hat.
I. Bewegungen und Handeln.
Frage 1 (Bd. 42, S. 87). Methode I
beweglich und geschÄftig: Gs = 0,461 Gt = 0,480
y, = 0,108 Vt = 0,078
Mm ■= 0,061 Mt = 0,071
gesetzt und ruhig : G» = 0,610 Gt = 0,472
F* = 0,080 Yt = 0,068
M, = 0,045 Mt = 0,078
Das bedeutet also: von den Söhnen sind, abgesehen von
direkten Erblichkeitseinflüssen, 46,1 % zur Beweglichkeit und
51 " zur Ruhe, von den Töchtern 48 7« zur Beweglichkeit und
47,2 ®/„ zur Ruhe veranlagt. Die Anlage zur Beweglichkeit er-
höht sich, wenn der Vater bzw. die Mutter beweglich ist, bei
den Söhnen mit 10,8 bzw. 6,1 "/o, bei den Töchtern mit 7,8 bzw.
Beiträge zur speziellen PsycJiologie auf Grund einer Massenuntersuchung. 329
7,1^/0; und ebenso die Anlage zur Ruhe, wenn der Vater bzw.
die Mutter ruhig ist, bei den Söhnen mit 8 bzw. 4,5 7oi und bei
den Töchtern mit 6,8 bzw. 7,8 7,, •
Von Geschlechteswegen sind also die Söhne etwas mehr zur
Ruhe, die Töchter etwas mehr zur Beweglichkeit veranlagt. Dem
entsprechen die Prozentsätze, welche sich aus dem unverarbeiteten
Gresamtmaterial ergeben:
Von den Vätern sind 36®/o beweglich, 58% ruhig
„ „ Müttern „
38%
n
66%
„ „ Söhnen „
420/0
n
54%
. n t, Töchtern „
«•/.
n
50%
Von s&mtlichen Mftnnern „
40 »/o
n
'66%
„ „ Frauen „
42«/,
n
52%
Die väterlichen und mütterUchen Erblichkeitskoeffizienten
verhalten sich, wie auf Grund unserer früheren Untersuchung
(Bd. 42, S. 88) zu erwarten war: es herrscht überall, mit Aus-
nahme der Vererbung der Beweglichkeit auf die Töchter, die
gleichgeschlechtliche Erblichkeit vor. Wir werden auf diese
(mehr oder weniger vollständige) Übereinstimmung zwischen den
früher direkt aus dem Rohmaterial, jetzt durch Berechnung ge-
wonnenen Ergebnissen nicht jedesmal wieder zurückkommen,
sondern nur bedeutendere Abweichungen verzeichnen.
Frage 2 (Bd. 42, S. 89).
a) Mafs der Tätigkeit (s. Bd. 42, S. 89 ') Methode I
eifrig: Gm = 0,480 Gt = 0,53ö
Vb = 0,138 Vi = 0,053
Mm = 0,081 Mt = 0,169
faul: a. = 0,155 Gt = 0,151
Vm = 0,033 Vt = 0,024
Mm = 0,045 Mt = 0,070
* Dafs bei der vorliegenden Frage nicht mit Unrecht, statt eine ein-
fache Stufenfolge stets eifrig — zeitweise eifrig — fanl anzunehmen, die
zweifache Unterscheidung nach Mafs und Konstanz der Tätigkeit eingeführt
wurde, erhellt aus den nach Methode II gewonnenen Zahlenwerten. Die-
selben weisen aus, dafs die Faulheit der Eltern in weit gröfserem Mafse
die Wahrscheinlichkeit zeitweise eifriger, als die Wahrscheinlichkeit stets
eifriger Kinder herabsetzt; sowie auch, dafs die Stets-eifrigkeit der Eltern
weit mehr die Gefahr vermindert, zeitweise eifrige, als die andere, faule
Kinder zu bekommen.
s.
n
61%
yt
,, 22»/.
T.
tt
12%
»
« 17%
Mä.
M
1S%
J>
.. 18%
Fr.
7t
78%
w
.; 1*%
330 (r. Heymans utid E. Wierama.
b) Konstanz des Maises der Tätigkeit. Methode I
steto eifrig oder faul : Qg = 0,638 Gt = 0,690
Vi = 0,116 Vi = 0,046
Ms = 0,030 Mt = 0,086
zeitweise eifrig: G$ = 0,327 Gt = 0,282
Vs = 0,110 7/ = 0,064
Ms = 0,023 Mt = 0,081
Es zeichnen sich also die Töchter vor den Söhnen sowohl
durch ein gröfseres Mafs der Tätigkeit wie durch eine gröfsere
Konstanz dieses Mafses aus, was den aus dem Rohmaterial zu
gewinnenden Projentverhältnissen entspricht: '
von den V. sind 86% stets eifrig, 9% zeitweise eifrig, S% faul
„ „ Mü. „ 87 /^ „ „ 9 /o „ „ 1 Iff „
7®'*
7 0/
» »> * /o »f
„ 5% „
Frage 3 (Bd. 42, S. 90). Methode I
beschäftigt: Gs = 0,437 Gt = 0,582
Vs = 0,101 7< = 0,036
Ms = 0,064 Af« = 0,095
bequem: Gs = 0,475 Gt = 0,350
7, = 0,068 Vt = 0,028
Ms = 0,072 3f< = 0,083
Übereinstimmend die Prozentsätze aus dem Rohmaterial:
von den V. sind 62% beschäftigt, 29 \ bequemlich
., „ Mü. „79% . 14%
41%
36 o/o
I» 23 /o „
Frage 4 (Bd. 42, S. 91). Methode II
vernachlässigen verpflichteter Arbeiten: Gs = 0,171 Gt = 0,091
Vs = 0,086 Vt = 0,069
Ms = 0,138 Mi == 0,175
s.
f>
52 0/.
T.
>»
65»;,
Mä.
>»
6&%
Fr.
i>
70%
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Orund einer Massenunter suckung. 331
Prozentsätze aus dem Kohmaterial :
von den V. sind 10% geneigt, verpflichtete Arbeiten zu vernachlässigen
„ „ Mü. „ 4^,0
S.
T.
Mft.
Fr.
18%
11%
15%
8%
Frage 5 (Bd. 42, S. 91). Methode I
aufschieben : G» = 0,408 0/ = 0,340
Vs = 0,052 Vt = 0,035
Ms = 0,027 Mt = 0,107
angreifen: G» = 0,418 Gt = 0,491
V» = 0,081 Vt = 0,037
M, = 0,072 Mt = 0,151
Aus dem Rohmaterial;
von den V. sind 28% geneigt zum Aufschieben, 63% zum Angreifen
Mü.
S.
T.
Mä.
Fr.
18%
37%
27%
32%
24%
67 "/o „
49% „
&8% „
54% „
62% „
Frage 6 (Bd. 42, S. 92). Methode I
leichtverzagt: G^, = 0,239 G/ = 0,239
F. = 0,077 Vi = 0,066
M» = 0,012 Mt = 0,139
starrsinnig: G» = 0,201 Gt = 0,171
r, = 0,065 Yt = 0,020
M, = 0,043 Mt = 0,017 ^
Die nahezu gleiche Tendenz der beiden Geschlechter zum
Leichtverzagtsein und die gröfsere Tendenz des männlichen Ge-
schlechts zum Starrsinn werden durch die aus dem Rohmaterial
gewonnenen Prozentverhältnisse bestätigt :
^ Die Berechnung nach Methode II weist aus, dafs in der Tat zwischen
„leichtverzagt" und „starrsinnig" d^r deutlichst ausgesprochene Gegensatz
vorliegt.
„ Mü.
„ 24»/.
„ 8.
» T.
„ 24«/,
„ 26«/,
,. Mft.
„ Fr.
„ 24%
„ 25»/,
13«/.
19%
17 7.
IS«/.
15%
G,=
0.471
Vt =
0,083
Mi =
0,094
G, =
0,420
Vt =
0,077
M,=
0,100
332 6?. Heynians und E. Wiersma.
von den V. sind 23% leichtverzagt, 46% beharrlich, 16% starrsinnig
45 %
42 «0
42 0/,
» 43 /o „
>} 43 /q „
Frage 7 (Bd. 42, S. 93). Methode I
impulsiv : Gs = 0,414
Vs = 0,098
Ms = 0,042
bedächtig oder Prinzipienmensch ^ : 0$ = 0,486
Vm = 0,104
Ms = 0,065
Prozentsätze aus dem Rohmaterial:
von den V. sind 27% impulsiv, 56% bedächtig, 11% Prinzipienmensch
„ „ Mü. „ 39% „ 44% „ 5%
„ „ 8. „ 37% „ 47% „ -7%
„ „ T. „ 44% „ 39% „ 6%
„ „ Mä. „ 34% „ 50% „ 8%
V „ Fr. „ 42% „ 41% „ 6%
Frage 8 (Bd. 42, S. 94). Methode I
resolut: G, = 0,478 Gt = 0,508
Vs = 0,082 . Vt =- 0,117
M» = 0,038 Mt = 0,089
unentschlossen f 6?« = 0,307 Gt = 0,311
F« = 0,067 Vt = 0,083
Ms = 0,025 Mt = 0,090
Prozentsätze aus dem Rohmaterial:
von den V. sind 61 % resolut, 29 % unentschlossen
Mü.
>»
49%
»
30%
S.
»>
60%
»
29%
T.
w
5B%
9^
27%
Mä.
f1
60%
i>
29%
Fr.
iJ
53 7o
J>
28%
* Die Zusammenfassung dieser beiden Gruppen wird durch die nach
Methode II gewonnenen Zahlenwerte gerechtfertigt, indem sich heraus-
stellt, dafs die Bedächtigkeit der Eltern der Impulsivität der Kinder ent-
gegenwirkt, dagegen ihrer Grundsätzlichkeit eher förderlich ist, und um-
gekehrt.
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Chruiid einer Massenuntersuchung. 333
Wie man sieht, ist die gröfsere Resolutheit der Frauen aus-
schhefslich ein Privilegium der jüngeren Generation.
IL Gefühle.
Frage 9 (Bd. 42, S. 95). Methode I
emotionell : G« » 0,423
?, = 0,107
M, = 0,065
nicht emotionell: G» = 0,443
Vs = 0,089
Ms = 0,059
Aus dem Rohmaterial:
Gl = 0,574
Vi = 0,061
Mt = 0,077
Gl = 0,300
Vt = 0,037
Mt = 0,048
von den V. sind 46% emotionell, 38®/o nicht emotionell
Mü. „ 590/0 „ 25% „
S. „ 45% „ 41% „
T. „ 61% „ 28% „
Mä. „ 45% „ 400/0 „
Fr. „ 60 0/0 „ 270/, „
Frage 10 (Bd. 42, S. 95). Methode I
heftig :
kühl und sachlich:
G, = 0,428
Vs = 0,083
Ms = 0,074
Gs = 0,417
Vs = 0,091
Ms = 0,091
Gt = 0,427
Vt = 0,066
Mt = 0,070
Gt = 0,353
Vt = 0,076
Mt = 0,107
Die nahezu gleiche Anlage beider Geschlechter zur Heftig-
keit, und die stärkere Anlage des männUchen Geschlechts zur
Kühle und Sachlichkeit im Gespräch werden durch die aus dem
Bohmaterial gewonnenen Prozentzahlen bestätigt:
von den V. sind 40 o/^, heftig, 41 0/^ kühl und sachlich
Mtt.
S.
T.
Mä.
Fr.
38 0/0
43%
43%
42 0^
41%
36%
42%
36%
42%
Frage 11 (Bd. 42, S. 96). Methode I
reizbar :
Gs = 0,412
Vs = 0,058
Ms = 0,069
Gt = 0,449
Vt = 0,067
Mt - 0,041
334 ^' Heymans und E. Wienma.
^tmütig oder nicht in Zorn zn yersetzen*:
G, r= 0,490 Gt = 0,477
V, = 0,064 Vt = 0,066
M, = 0,072 Mt = 0,067
Die Prozentsätze ans dem Rohmaterial lassen vermuten, dais
die stärkere Anlage der Franen zur Reizbarkeit sich auf die
jüngere Greneration beschränkt:
von den V. sind 41 % reisbar, 49 % gatmfltig, 2 ® ^ nicht in Z. zu yersetzen
„ ., Mü. „ 37 /u ^ 52 „ 3 ,Q „ n n n »
SQQ Ol AQ 0/ 9 0'
T Üio/ IAO' 9 Of
,, „ Fr. „ 41 • o f> 49 ^ ^ 2 /q
ft IT »
Frage 12 (Bd. 42, S. 97). Methode I
kritisch: G, = 0,414 Gt = 0,408
F. = 0,082 Vi = 0,031
AT, = 0,060 Mt = 0,053
idcaliflierend: Gs = 0^247 G< = 0,312
V, = 0,089 Vi = 0,030
3f, = 0,039 Mt = 0,059
Aus dem Rohmaterial:
von den V. sind 36 % kritisch, 33 % idealisierend
„ „ Mü. „ 34 % „ 37 •/o „
Jt **■ /O »I ^^ lo »
« >.> T. „ 41 /o „ 31 /© „
„ „ Ma. „ 400/, „ 28%
Frage 13 (Bd. 42, S. 98). Methode I
mifstranisch: G* = 0,238 Gi = 0,234
F, = 0.069 Vt = 0,043
Jf, = 0,034 Mt = 0,053
gntglänbig: G, = 0,371 Gr = 0,406
F. = 0,132 Vt = 0,080
J6 = 0,056 Mt = 0,072
^ Methode II ergibt Zahlenwerte, nach welchen das 6ar-nicht-in-Zorn«
zn-versetsen-sein sich fast ebeBSo nahe mit der Reisbarkeit wie mit der
Gutmütigkeit berühren würde. Doch ist bis auf weiteres ammnehmen, daÜB
dieses Resultat nur der sehr geringen, störenden Umständen einen groisen
EinfluTs gestattenden Anzahl (29) der Angehörigen jener ersteren Gruppe
zuzuschreiben sein wird.
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Qrund einer Massenuntersuchung. 335
Aus dem Rohmaterial:
von den V. sind 17% miTstranisch, 43 \ gutgläubig
„ „ Mü. „ 26% „ 47%
S.
T.
Mft.
Fr.
21%
21%
20%
23%
42%
44%
42%
45%
Frage 14 (Bd. 42, S. 98). Methode I
tolerant: G» = 0,6ö2
V» = 0,072
M* = 0,129
intolerant: Gs = 0,192
Vi = 0,046
Mi = 0,099
Gt = 0,686
Vt = 0,053
Mt = 0,104
Gt = 0,113
Vt = 0,017
Mt = 0,040
Au8 dem Rohmaterial:
von den V. sind 82% tolerant, 10% intolerant
„ „ Mü. „ 79% „ 11%
w >i T. „ 79 % „ 7 % „
„ „ Mä. „ 80«/o „ 9%
„ „ Fr. „ 79% „ 8%
Frage 15 (Bd. 42, S. 99).
a) Eonstauz oder Wechsel der Stimmung (s. Bd. 42, S. 100).
Methode I
wechselnd: G» = 0,371
Vm = 0,051
Mi = 0,063
konstant: Gs = 0,597
Vi = 0,056
Mi = 0,055
Gt = 0,363
Vt = 0,070
Mt = 0,049
Gt = 0,624
Vt = 0,063
Mt = 0,050
b) Vorwiegen von Lust- oder Unluststimmungen. Methode I
heiter: Gs = 0,293
Vi = 0,138
Mi = 0,113
schwermütig : Gi = 0,053
Vi = 0,013
Mi = 0,024
Gt = 0,359
Vt = 0,164
Jf< = 0,168
Gt = 0,055
7/ = 0,019
Mt = 0,021
336 ^- Seymans und E. Wiersma.
Hiermit übereinstimmend ergibt die direkte Untersuchung
des Rohmaterials eine gröfsere Frequenz der Heiterkeit bei den
Frauen, und eine gleiche Frequenz des Stimmungswechsels bei
beiden Geschlechtern in der jüngeren Generation ; aufserdem ein
merkliches Überwiegen der gleichmäfsig ruhigen Stimmung bei
den Männern:
von den V. sind 31 ^/^ heiter, 4 % schwermütig, 35 ®/o wechsehid, 28 ^/o ruhig
., ,. MO.
,. 34%
6%
V
29%
25 o/o
„ ,. s.
.. 37 0/0
^•o
»»
33»^
2-2 0/0
»J JT -*••
„ ^So/o
4%
?'
330/0
16«/.
„ „ M».
„ 350/0
4%
»t
34o;o
24o,„
,. „ Fr.
„ 41*/.
t»
5%
»»
31»/«
200/o
Interessant sind hier die Ergebnisse der Methode 11. Die-
selben weisen aus, dafs die Heiterkeit bei den Aszendenten nicht
nur der Schwermut, sondern auch der wechselnden und der
gleichmäfsig ruhigen Stimmung bei den Deszendenten ausnahms-
los entgegenwirkt, während umgekehrt die Schwermut bei den
Aszendenten nicht nur die Schwermut, sondern auch die
wechselnde und die gleichmäfsig ruhige Stinmiung bei den Des-
zendenten begünstigt, und nur zur Heiterkeit im ausgesprochenen
Gegensatze steht.
Frage 16 (Bd. 42, S. 101). Methode I
ängstlich : Gs = 0,257 Gt = 0,251
Vm = 0,094 Vt = 0,126
Ms = 0,047 Mt = 0,085
leichtmütig: Gs = 0,443 Gt =^ 0,382
Vs = 0,082 Vt =- 0,078
Ms = 0,071 Mt = 0,063
Prozentsätze aus dem Rohmaterial:
von den V. sind Sd\ ängstlich, 28®/o leichtmütig
„ „ Mü. „ 37 «/o „ 23%
s.
»»
270/0
W
430/0
T.
>»
270/0
?»
370/0
Mä.
f>
300/0
11
38»/.
Fr.
iy
31"/.
11
32»/.
Beiträge z%ir apeeieüef^ Ftychologie auf Grund einer Maasenuntersuchung. 887
III. Sekundärfünktion.
Frage 17 (Bd. 42, S. 102). Methode I
schnell getrOstet: Q$ = 0,384
7* = 0,137
M, = 0,114
Unge unter dem Eindruck: G» = 0,168
Vs = 0,064
Ms = 0,061
Prozentsätze :
Gt = 0^19
Vt = 0,106
Mt = 0,092
Gt = 0,250
Vi = 0,066
Mt = 0,077
«von den V. sind 46 % schnell getröstet, 21 % lange unter dem Eindmek
„ „ Mü. „ 29% „ „ 43% „
n ,. 8. „ 400/, ^ ^^ 16 0/^ ,,
„ „ M&. „ 42% „ „ 18% „
„ „ Fr. „ 32% „ „ 31% „
Frage 18 (Bd. 42, S. 102). Methode I
sogleich versöhnt: G$ = 0,437
7. = 0,126
Mi = 0,093
Gt = 0,446
Vt = 0,096
Mt = 0,083
«inige Zeit verstimmt oder seh werversöhnlich ^ :
G, = 0,434 Gt = 0,431
Vi = 0,130 Vt = 0,102
Mi = 0,097 H^ = 0,083
Die m diesen Zahlen sich ausdrückende gröfsere VersöhnUch-
keit des weiblichen Geschlechtes läTst sich am Rohmaterial nur
bei der jüngeren Generation feststellen:
' Die Berechnung nach Methode II weist ans, dafs die Noch-einige-
Zeit- Verstimmten und die Schwerversöhnlichen zusammengehören, dem*
entsprechend wir die frühere Zusammenschlagnng der Verstimmten mit
4en Fraglichen (Bd. 42, S. 103) durch die im Texte gebotene Kombination
-ersetzt haben. Jene Kombinationsweise ergibt folgende Zahlen :
sogleich versöhnt ; Gt = 0,361
Vi = 0,140
Mi = 0,147
schwerversöhnlich : G« = 0,170
Vi = 0,081
Mi = 0,036
Zeitschrift für Psychologie 43.
Gt = 0,382
Vt = 0,114
Mt == 0,093
Gt = 0,169
Vt = 0,079
Mt = 0,064
22
888
G, Heymans und E, Wiersma.
Ton den V. sind 42 % sogleich versöhnt, 29 % noch einige Zeit verstimmt
Mü.
»
38»/.
» it
33% „
»»
8.
»»
41'/.
tt V
31% „
M
T.
t>
43«/.
11 »
31% „
»»
Mä.
»>
42%
1) 11
30% „
»>
Fr.
ti
41%
11 11
32% „
JT
20% BchwerrersOhnlich
17%
l>
14%
>»
13%
11
16%
»»
15%
•>
age
19 (Bd.
42, S. 103).
Methode I
wechselnd :
G, = 0,221
Oi =
0,270
V, = 0,034
Vi =
0,039
M, = 0,041
M,=
0,061
beharrlich :
O, = 0,541
Gt =
0,589
V. = 0,077
Vt =
0,070
M, = 0,117
M,=
0,095
Dem Rohmaterial zufolge gilt die gröfsere Beharrlichkeit der
Frauen in ihren Zuneigungen nur für die jüngere Generation:
von den V. sind lb% wechselnd, 74<>/o beharrlich
„ „ Mü. „ 20«/o „ 660/,
„ „ S. „ 18 0/0 „ 65 0/,
„ „ T. „ 22 o/o „ 67 0/,
„ „ Mä. „ 17*/o „ 68 0/,
„ „ Fr. „ 210/, „ 66 0/,
Frage 20 (Bd. 42, S. 104). Methode I
alte Erinnerangen : Gg = 0,353
Vm = 0,102
16 »0,065
neue Eindrücke: Gw = 0,355
Vt = 0,060
16 = 0,059
Gt = 0,369
Vt = 0,085
Mt = 0,101
Öt = 0,340
Vt = 0,018
Mt = 0,117
Das Rohmaterial macht wahrscheinhch, dafs sich das Ver-
hiltnis zwischen den Geschlechtsanlagen von der älteren bis zur
jüngeren Generation umgekehrt hat:
Beiträge tiir speziellen Psychologie auf Grnnd einer Massenuntersnchung, 339
von den V. sind 69% f. alte Erinnergn., 13% f. neue Eindrücke interees.
„ Mü. „ 680/, „ „ „ 15 0/, „ „
„ 8. „ 45 Iq „ ,, „ 290/, j^ ^^ ,^ ^^
T 47 0/ 97 0/
»f ^' n ^' lo fi if •» «• /o »» »» »? M
„ Mä. „ 63% „ „ „ 24% „ „
„ IT. „ rv) /q „ „ „ 21 Iq „ „ „ ,^
Frage 21 (Bd. 42, S. 105). Methode I
Steckenpferde: Gt = 0,198 Gt = 0,200
V, = 0,040 F^ = 0,074
M, = 0,088 Mt = 0,099
leicht zu bereden: G$ = 0,144 ö< = 0,154
V, == 0,009 Vt = 0,016
3f, = 0,043 Mt = 0,025 >
Prozentsätze aus dem Rohmaterial:
V. d. V. 8. 330, Steckenpferdreiter, 50 0/, f. n. A. zugängl., 7o/, leicht z. bereden
,,Mü.„ 350/0 „ 330/0 „ , 170, „ „ ,
„ „S. „ 22% „ 510/, ^ „ 140/0 ,, „
. „T. „240/0 „ 440/0 „ „ 140/0 , „ „
,.Mä.„ 260/0 „ 510/0 „ „ 110/, ^ ^ ^
,.,Fr. „28o/o „ 400/0 „ „ 150/0 „ „ ,
Die nahezu gleiche Anlage beider Geschlechter zur leichten
Beredbarkeit scheint also auch erst ein Produkt jüngerer Zeit zu
sein; dagegen zeigt sich die gröfsere Anlage zur Steckenpferd-
reiterei bei den Frauen, sowie die gröfsere Zugänglichkeit für
neue Auffassungen bei den Männern in beiden Generationen.
* Die Berechnung nach Methode II ergibt einen viel deutlicher aus-
gesprochenen Gegensatz zwischen Steckenpferdreiterei und leichte Bered-
barkeit einerseits, Zugftnglichkeit für neue Auffassungen andererseits, als
zwischen Steckenpferdreiterei und leichte Beredbarkeit. Offenbar haben
wir es hier wieder mit dem bekannten Zusammenhang zwischen Auto- und
Heterosnggestibilität zu tun. — Legen wir der Berechnung nach Methode I
jenen ersteren Gegensatz zugrunde, so ergeben sich folgende Zahlen :
Steckenpferde oder leicht zu bereden : G» = 0,863 Gt = 0,363
Vs = 0,052 Vt = 0,066
Mm = 0,023 Mt = 0,096
für neue Auffassungen zugänglich: Gs = 0,603 Gt = 0,466
V* == 0,062 Vt = 0,065
Ms = 0,029 Mt = 0,104
22*
340 ^- Hey maus und E, Wie^^sma.
Frage 22 (Bd. 42, S. 106). Methode I
veränderungssüchtig : G» = 0,451 Qt = 0,465
F,== 0,095 F< = 0,029
lf* = 0,070 lf/= 0,081
Gewohnheitsmensch: &« = 0,240 G<= 0,267
7, = 0,113 F«= 0,061
Jtf, = 0,116 Jif< = 0,112
Auch hier ist die geringe Verschiedenheit in den Geschlechts-
anlagen charakteristisch für die jüngere Generation, wie die
Prozentsätze aus dem Rohmaterial ausweisen:
von den V. sind 17 ^/o verftnderungssüchtig, 63 \ Gewohnheitsmensch
„ „ Mü. „ 26o/o „ 490/0
„ « S. „ 390/, , 32«/o
„ n T. „ 430/, „ 31%
„ n Mä. „ 31% „ 43%
„ „ Fr. „ 370/, „ 38%
Frage 23 (Bd. 42, S. 106).
Wie oben (S. 327 — 328) bemerkt wurde, lassen sich hier, infolge
des Fehlens von Daten in bezug auf die mütterliche Erblichkeit,
unsere gewohnten Methoden nicht anwenden, sondern mufs eine
andere, und zwar eine viel einfachere Berechnungsweise dafür
eintreten. Unterscheiden wir nämlich jetzt, statt der Väter und
Mütter, die Väter mit mehrfachem und mit einmaligem Berufs-
wechsel, und stellen wir die entsprechenden väterlichen Erblich-
keitskoeffizienten vor durch V bzw. F^, während G wieder den
Geschlechtskoeffizienten für mehrfachen oder einmaligen Berufis-
Wechsel bedeutet, so haben wir vier Sätze von Gleichungen nach
folgendem Schema:
GA-V =^
G =^
aus welchen sich also jedesmal die drei Unbekannten ohne
weiteres ermitteln lassen:
mehrfacher Berufswechsel: Gs = 0,112 Gt = 0,043
V's = 0,014 V't = — 0,015
Vs =0,180 Vt =0,136
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Mcuisenunteriuchung. 34 1
einmaliger Berufswechsel: Gm = 0,122 Gt = 0,056
V, = 0,060 VU = 0,000
Vs = 0,046 Vt = 0,074
Also, wie sich erwarten liefs, starke und regelmäfsige Erblich-
keit des (hauptsächlich von Temperaments- und Charaktereigen-
schaften abhängigen) mehrfachen Berufswechsels, schwache und
unregelmäfsige Erblichkeit des (vielfach durch äufsere Umstände
bestimmten) einmaligen Berufswechsels. Aufserdem stärkere An-
lage zu beiden bei den Söhnen, was den Prozentsätzen aus dem
Rohmaterial entspricht:
,von den V. haben 3% mehrfach, 12% einmal den Beruf gewechselt
„ „ 8. „ 12»/,
13%
n n n
r, n T. „ b'U
6%
n n n .
„ „ Mft. „ 9»/,
13%
n n n
Frage 24 (Bd. 42, S. 107).
Methode II
gTofse Pläne: Q, = 0,174
Gi = 0,084
V. = 0,148
Vi = 0,067
M, = 0,149
Mt = 0,299
von den V. Bind 12% oft mit grofsen Plänen beec
„ „ Mü. „ 6»/, ,
n
n n
» » 8. „ 20»/, ,
n
» »
„ „ T. „ 11% „
n
n T»
„ „ Mft. , 17% „
n
» n
„ „ Fr. „ 9% „ ,
n
» n
Frage 26 (Bd. 42, S. 107).
Methode I
ferne Zukunft: G. = 0,315
Gt = 0,281
V, = 0,089
Vi = 0,058
M. = 0,070
Mt = 0,072
sofortige ReenlUte: G, = 0,869
Gt = 0,316
V. = 0,075
Vi = 0,048
M, = 0,087
Mt = 0,097
Prozentsätze :
V. d. V. sind 47 »/o mehr durch Znkunft, 24% mehr durch sof. Res. beeinflufst
» » Mtl. „ ^T\ rt w » 22% „ „ „ „ n
j» »» 8- n ^*/o n n n^/on nun n
„ „ T, „ 30% „ ,, „ 30 /q „ „ „ „ n
n n Mä. » 39% „ „ „ 30% „ K n n n
1» » ^» n ^^Vo n n » 27 % „ „ „ „ „
342 ^- Seymans und E. Wiergma.
Frage 26 (Bd, 42, S. 108). Methode I
Übereinstimmung: 0$ = 0,600 Gt = 0,520
V, = 0,094 Vt = 0,074
Mt = 0,134 Ut = 0,110
Widerspruch: 9$ = 0,186 Gi = 0,163
F, = 0,054 Vt = 0,060
M, = 0,028 Jf/ = 0,011
Prozentsätze :
von den V. bei 69®/© Übereinstimmung, bei lb% Widerspruch
„ , Mü.„ 62% „ „ 12%
. « S. , 620/, ^ ^ 140/^
. . T. „ 62% , „ 13%
„ „ Mä.„ 65% , „ 14%
, „ Fr. „ 62% „ „ 12%
IV. Intellekt und Verwandtes.
Frage 27 (Bd. 42, S. 109).
a) Auffassungsvermögen. Methode I
leichte Auffassung: Gt = 0,447 Gt = 0,444
V» = 0,194 Vt = 0,121
Mi = 0,065 Mt = 0,148
schwere Auffassung: G, = 0,069 Gi = 0,086
V, = 0,013 7/ = 0,022
M» = 0,017 Jf/ = 0,048
b) Verstand. Methode I
verständig: G, = 0,428 Gt = 0,384
Vi = 0,142 Vt = 0,098
Jf, = 0,044 Mt = 0,098
oberflächlich oder dumm : Gi = 0,232 Gt = 0,272
Vi = 0,018 7/ = 0,058
Mi = 0,029 Jf/ = 0,058
Entsprechend die Prozentsätze aus dem Rohmaterial:
V. d. V. sind 60 % leicht auffassend, 60 % verständig, 13 % oberflächl., 2 % dumm
„ „Mü., 49% „ „ 45% „ 23% „ 5% ,
„ „ S. , 59% „ „ 61% „ 18% „ 4% ,
, , T. , 57% „ „ 44% „ 19% „ 5% ,
„ „Mä., 59% „ „ 54% , 16% , 3% ,
„ „ Fr. „ 52% „ „ 45% „ 20% „ 5% „
Beiträge twr speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuehung. 349
Frage 28 (Bd. 42, S. 111). Methode I
Menschenkenner: Qs = 0,421 Gt = 0,348
V, = 0,093 Vt = 0,060
M, = 0,118 Mt => 0,093
nicht Menschenkenner: Gt = 0,269 Gt => 0,311
Vs = 0,065 Vt == 0,067
Mi = 0,062 Mt = 0,079
Prozentsätze :
von den V. sind 67 ^/o Menschenkenner, 2i% nicht
, . Mü. „ 40«/p „ 28% „
n n S. „ 47% „ 240/, „
. n T. „ 370/, ^ 290/, „
„ „ Mft. „ 510/, ^ 24o/o ,
„ , Fr. „ 380/, ^ 280/, ,
Frage 29 (Bd. 42, S. 112). Methode I
praktisch: G, = 0,575 Gt = 0,583
y, = 0,104 Vt = 0,060
Mm = 0,068 ilf< ^ 0,068
unpraktisch: Gi = 0,218 Gt = 0,223
Fi = 0,070 Vt = 0,037
M, = 0,028 Mt = 0,049
Prozentsätze :
von den V. sind 72 o/, praktisch, 14 o/, unpraktisch
, „ Mü. , 670/, ^ 160/,
„ n 8. „ 670/, ^ 160/^
, „ T. „ 650/, ^ 170/^
, „ Mä. „ 690/, ^ 150/^
„ „ Fr. „ 660/, ^ 170/^
Frage 30 (Bd. 42, S. 112). Methode I
weitblickend: G» = 0,552 Gt = 0,524
Vm = 0,140 Vt = 0,072
3f, = 0,068 Mt = 0,118
beschränkt: G» = 0,220 &/ = 0,265
Vi = 0,091 Vt = 0,078
ACi == 0,069 Mt = 0,099
t44 ^- JJ^ytno'ns und E. Wiersma.
Prozents&tze :
von den V. sind 67% weitblickend, 18% beschrftnkt
, , Mü. , 44«/o „ 30%
n « S. , 64% , 16%
„ . T. „ 67% , 22%
„ „ Mä. „ 66% , 16%
„ , Fr. „ 62% „ 25%
Frage 31 (Bd. 42, S. 113). Methode I
selbfltftndig: Q» = OjMS Ot = 0,496
V* = 0,125 Vt = 0,118
Ms = 0,061 Mt = 0,109
Nftchsch Walser: Q» = 0,266 G< = 0,906
Vm = 0402 Vt = 0,076
If« = 0,026 Mt = 0,066
Proients&tze aus dem Rohmaterial:
▼on den V. sind 69 % selbständig, 13 % Nacbschwätaer
„ „ Mo. „66/0 „ 24/0 „
„ „ 8. „ 64% „ 20%
, , T. „ 59% „ 24%
„ „ Mä. „ 66% „ 18%
„ „ Fr. „ 58% „ 24%
Frage 32 (Bd. 42, S. 113). Methode I
entschieden: &, = 0,509 Gt = 0,479
F. = 0,056 Vi = 0,040
Mm = 0,046 Mi = 0,112
bedingungsweise: G, = 0,226 Gt = 0,206
F. = 0,033 Vi = 0,027
Mm = 0,044 Jf< = 0,061
Prosentsätse :
Toa den V. taTsem sich 52% entschieden, 27% bedingungsweise
n Mtt.
rt
n «•/,
r»
22»/,
n 8.
••
.. 58»/,
•t
21%
, T.
•^
. ä«»/.
•»
18%
- M«.
t»
» 58»/,
w
2S%
n ^
w
, 49%
V.
»•;
Frage 33 (Bd. 42, S. 114).
Bei dieser Frage findet die Berechnung wesentlich nadi
Methode 11 statt; nur mnfs hier, da neben dem Emflnls des
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Chrund einer Massenuntersuchnng. 345
gleichnamigen Talentes auch der Einflufs sonstiger Talente bei
den Eltern zu ermitteln versucht wurde, jedesmal eine vierte,
den hierauf sich beziehenden Erblichkeitskoeffizienten vorstellende
Unbekannte T eingeführt werden.
•) Mathematisches Talent: Q, = 0,109
6, = 0,013
r, = 0,322
V, = 0,127
M, = 0,490
Ml = 0,987'
TV = 0,009
Ti = 0,030
Prozentsätze :
von den V. haben 15**/, mathematischee Talent
„ „ Mü. „ 1%
11 11
„ „ 8. „ 17«/.
11 11
„ „ T. „ 5%
11 •?
„ „ Mft. „ 16%
11 11
., „ Fr. „ 3%
11 11
b) Sprachtalent: Q, = 0,086
Gl = 0,074
V, = 0,176
Yt = 0,211
M, = 0,187
Mt = 0,403
T, = 0,009
Tt = 0,046
Prozentsätze :
von den V. haben 14
•/o
Sprachtalent
„ „ Mfl. „ 10
•/.
11
„ „ 8. „ 13
%
11
„ „ T. „ 16
%
11
„ „ Mft. „ 13
•/»
11
„ „ Fr. „ 14
•/.
11
«) Murikalisches Talent: G, = 0,077
Qt = 0,087
V. = 0,277
. Yt = 0,271
M, = 0.422
Ml = 0,405
T. = 0,110
Tt = 0,118
Prozentsätze :
TOn den V. haben 13% musikalisches Talent
„ „ MO. „ 12%
11 11
„ « 8. „ 19%
11 ♦»
„ „ T. „ 21%
11 11
„ „ Mä. „ 17%
11 11
„ „ Fr. „ 18%
11 11
' Diese Zahlen sind unzuverlftssig: s. Bd. 42, S. 115.
346 ^ BqfmamM mmd K Wlarmm.
d- Zetdienuleftt: G« = OjOI3 Gt = OSBA
y, = 0,^6 Ff == 0a42
Um = 0.131 Mt = 0334
Tm = 0.064 Ti = aOI2
ProzeniBftize:
ron den V. haben 10*« Zeichentalent
. . Mft. ., 4%
.. , S. . 10%
. - T. -, 7%
.. . Mt . 10%
^ ^ Fr. ^ 6»,
e Schriftetellerbchee Talent: G< = O.OeO Gi = 0.038
F, = 0.174 Ff = 0,181
16 = 0,0741 Mt = aia5
r. = 0,014 r« = 0,014
Prozentsätze :
Ton den V. haben 10 *« schiiftstellerischee Talent
••
.. 3Itt. ,.
6%
^
•«
r
- s. „
. T. „
9%
•»
•»
9*
,. M*. .
. Fr. „
9\
7\
»1
f) Talent fOr Schaaapiellnmst:
(?* =
F.=
16 =
r, =
0,026
0,274
0,224
0,039
Gl = 0,038
Fl = 0,206
16=0,358
Tt = 0,044
Prozentsätze :
Ton den V. haben 4% Talent fflr Schanspielkaniit
>f » "• ff " /o w »? »•
f »> Mä. ,, 5 /0 ,. „ „
g) Talent der Nachahmung: Q* = 0,0ö5 Gi = 0,040
V» = 0,218 Vt = 0,283
16 = 0,189 16 = 0,341
T» = 0,090 Tt = 0,066
Beiiräge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung 347
Prozentsätze :
von den V. haben 1\ Nachahmungstalent
„ „ Mü. „ 50/0
V » S. „ 12 7o ,.
»» »♦ ^* M 1^ /o ff
. ,, Mft. „ 10 o/o
»f » Fr. „ 8®/o ^,
Frage 34 (Bd. 42, S. 119). Methode I
witzig: G» = 0,424 Gi = 0,428
y, = 0,071 7/ = 0,085
M, = 0,101 Ml = 0,102
nicht witzig: G» = 0,275 Gt = 0,300
Vs = 0,039 F< = 0,061
Ms = 0,121 iJf/ = 0,103
Prozentsätze :
von den V. sind 44% witzig, 30% nicht
Mü.
»
26«/.
M
38»/.
8.
M
430/.
>»
28%
T.
»
«•/.
M
30%
Mä.
»?
tö^U
»>
29%
Fr.
»f
36%
>»
33%
Frage 35 (Bd. 42, S. 119). Methode I
gespr&chig oder Gesprächsführer: ^ Gi = 0,640 Gt = 0,649
7, = 0,041 Vi = 0,068
Ms = 0,081 lf< = 0,111
^ Die Berechnung nach Methode II weist aus, dafs die Gesprächigkeit
der Eltern nicht nur der Neigung zur Schweigsamkeit, sondern auch der
Neigung, sich der Führung des Gesprächs zu bemächtigen, entgegenwirkt
und umgekehrt, während andererseits die hereditäre Beziehung zwischen
der Schweigsamkeit und der Neigung, sich der Führung des Gesprächs zu
bemächtigen, nach beiden Richtungen eine vorwiegend positive ist. Wenn
wir dementsprechend die Führer des Gesprächs und die Stillen zusammen
den Gesprächigen gegenüberstellen, so ergeben sich folgende Zahlen:
gesprächig: Gs = 0,560 Gt = 0,624
Vs = 0,060 Vt = 0,053
Ms = 0,100 Mt = 0,119
Gesprächsführer oder still: Gs = 0,345 Gt = 0,264
Vs = 0,045 Vi = 0,044
Ms = 0,091 Ml = 0,074
Die Paradoxie jenes Resultates läfst sich teilweise heben, wenn man über-
legt, dafs sowohl der Stille wie der Führer des Gesprächs, statt sich für
die Worte anderer zu interessieren, seinen eigenen Gedanken nachhängt;
nur dafs der eine dieselben für sich behält, während der andere sie änfsert.
348 G- Seymans und E, Wienma.
still und in sich gekehrt: G» = 0.255
F. = 0,018
M» = 0,075
<?« = 0,232
F< = 0,049
Jt6 = 0,081
Prozentsätze :
den Y. aind 64% geeprftchig, 12% geneigt,
„ Mtt. . 71% „ 5% „
8. d. F. d. Gespr.
. S. „ 64%
. T. . 70%
•»
8«; .
6% -
»•••?••• •«
., Mft. ^ 64%
r Fr. . 70%
9% -
6% „
lÖ«, 8tiU
15 •, „
19% „
15% _
18«. .
15 r, „
Frage 36 (Bd. 42, S. 120l
Hier liegen die Sachen genau so wie bei Frage 33 (S. 344 — 345) ;
es ist also fär jedes Erzähltalent, neben den anf dieses besondere
Talent sich beziehenden Erblichkeitskoeffizienten V und If, noch
ein weiterer Erblichkeitskoeffizient E zu berechnen, welcher den
hereditären EinfluTs sonstiger Erzähltalente bei den EUteru auf
das in Untersuchung stehende Erzähltalent der E^inder zur Dar-
stellung bringt.
a) Anekdoten: Qt = 0.173 Gi = 0,101
F. = 0.209 Tt = ai28
J6 = 0.196 Mi = ai64
E, = 0.010 Et = 0.022
Prozentsätze :
von den V. sind 26% gote Anekdotenenthler
» , M(L ^ 11% .
. ., S. .. »% «
.. ^ T. .. 16% .,
- .. Ml. .. 2o^. ..
^ .. Fr. .. 14»« ..
b- Längere Geeehichten: Gm = a046 Gt -= a028
V, = ai37 Vi = ai43
Ms = ai4o Mi = 0J46
£, = 0.087 Et = a062
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung, 349
Prozentsätze
•
von den
V.
Mü.
sind 19%
11 11
11 11
S.
T.
11
11
lä-/.
11%
11 11
11 11
Mä.
Fr.
11
11
14»/,
12«/,
sind 19% gute Erzähler von längeren Geschichten
11 11
11 11
11 11 11
11 11 11
11 11
11 11
11 11
11 11 11
11 11 11
1 11 11
c) Selbsterfundene Geschichten: Gs = 0,027
V* = 0,061
M, = 0,119
Es = 0,026
Gt = 0,085
Vt = 0,200
Mt = 0,248
Et = 0,070
Prozentsätze :
von den V. sind 11% gute Erzähler selbsterfundener Geschichten
„ „ Mü. „ 13% „
w
Fl » 8- j) 6'/o n n
„ « T. „ 17% ,
„ „ Mä. , 8% n
, „ Fr. , 16% „
n
Frage 37 (Bd. 42, S. 122).
Methode I
weitschweifig: G» = 0,181
y, = 0,062
Mi = 0,036
Gt = 0,187
Vi = 0,039
Mt = 0,056
bündig u. sachüch: G» = 0,520
7. = 0,069
M^ = 0,089
Gt = 0,476
Vt = 0,074
Mt = 0,090
Prozentsätze:
von den V. Bind 21% weitschweifig, 64% bflndig und sachlich
Mtt.
Mft.
Fr.
„ 27%
n 157.
. 177«
177.
21%
36%
667.
60%
66%
46%
Frage 38 (Bd. 42, S. 123). Methode ü
liAaflges Auftischen der nftmlichen Geschichten: 0-$ ^ 0,050 Ot = 0,026
V, = 0,084 Vi = 0,062
M, = 0,203 M, = 0,191
350 ^- Heymans und E. Wiermna.
Prozentsätze :
von den V. tischen 29^0 häufig die nämlichen Geschichten auf
„ „ Mtt. „ 157o „ „ r « n
n n *-• n "/onn n n Ji
„ y, Mä. » ^< /o » n I» n n
TTr 100/
Frage 39 (Bd. 42, S. 123).
Hier ergibt Methode I unzuverlässige Resultate,* weil (be-
sonders bei den Frauen) die Grenze zwischen „nicht'' und
„fraglich" sich praktisch oft unmöglich bestimmen läfst Bessere
Auskunft verspricht die Behandlung nach Methode II:
öffentliche Reden: G» = 0,187 Gt = 0,051
F, = 0,168 Vi = 0,037
M, = 0,106 Mi = 0,(B4
Prozentsätze :
von den V. können 42®/« leidlich öffentliche Reden halten
MO.
n
4%
8.
n
27 7o
T.
n
7»/«
Mä.
»1
32%
Fr.
n
ß'/o
Frage 40 (Bd. 42, S. 124). Methode I
gnter Beobachter: G» = 0,470 Gt = 0,460
r. = 0,100 Vt = ojyi2
M* = 0,145 Mt = 0,143
schlechter Beobachter: G, = 0,186 Gi = 0,210
V, = 0,056 Vi = 0,049
Mm = 0,0-45 Mi = 0,031
Prozentsätze :
von den V. sind 53% gute, 18% schlechte Beobachter
n
„ Mü. „ 53% „ 15%
T» »
r
„ S. „ 57% „ 17%
R n
1
„ T. „ 54% „ 18%
n »
«
„ Mä, „ 55% „ 17%
JJ r
•1
„ Fr. „ 54% , 17%
1» a
> öffentliche Reden: G« = 0,256
Gi = a066
Vs = 0,094
Vf = 0,083
J6 = - 0,019
M, == — 0,004
nicht: G. = 0,423
Gt = 0,312
Vs = 0,077
Fl = 0,088
16 = 0,118
Jff = 0,323
Beiträge zur 8pezieüen Psychologie a\if Qrund einer Massenuntersuchung. 351
Frage 41 (Bd. 42, S. 125). Methode I
sehr gutes musikalisches Gehör: G» = 0,204 Gt = 0,210
Vs = 0,113 Vt = 0,057
Ms = 0,141 Mt = 0,163
schlechtes musikalisches Gehör : Gs = 0,210 Gt = 0,169
Vi = 0,209 Vt = 0,116
.W, = 0,212 Jtf/ = 0,139»
Prozentsätze:
▼on den V. haben 1S% ein sehr gutes, 42% ein gutes, 30% ein schl. m. G.
„ „ Mft. „ 120/0 „ „ „ 460/, ^ ^ 230/, „ „ , „
» « S. « 177o . . „ 450/, „ „ 270/, , , „ ,
» jj T. „ lo /o „ „ „ o2 /, „ „ 19 Iq „ „ „ „
„ „ Mä. „ 16 o/o „ „
„ „ Fr. „ 160/, ^^ ^^
Frage 42 (Bd. 42, S. 126). Methode I
geschickt: Gt = 0,486 Gt = 0,605
Vs = 0,094 7/ = 0,067
Ms = 0,093 Mt = 0,115
ungeschickt: Ö« = 0,225 Gt = 0,156
Vs = 0,061 F< = 0,057
Ms = 0,017 iV< = 0,037
Die weit gröfsere Greschicktheit der Frauen wird durch die
Prozentsätze aus dem Rohmaterial, für die ältere noch mehr als
für die jüngere (reneration, bestätigt:
von den V. sind 52 o/, geschickt, 200/, ungeschickt
44%
11
V
27% „
»
11
f?
Ö0%
11
11
20% „
11
11
11
Mü. „ 72%
»
6%
8. „ 68%
»?
19%
T. „ 70%
11
11%
Mä. „ 56%
11
20%
Fr. „ 71%
11
9%
' Nach den Ergebnissen der Methode II scheint doch die Bezeichnung
„gut" im Sinne unserer Berichterstatter etwas Aber dem Durchschnitt zu
liegen, da die hereditären Beziehungen gut-schlecht überall negativ, die-
jenigen gut-sehr-gut dagegen vermischt verlaufen. Fassen wir dem-
entsprechend die sehr gut und die gut Beanlagten in eine Gruppe zu-
sammen, so kommen folgende Zahlen heraus:
sehr gutes od. gutes mus. Gehör: Gs = 0,513 Gt = 0,636
Vs = 0,160 Vt = 0,106
Ms = 0,155 Mt = 0,124
schlechtes musikalisches Gehör: Gs = 0,359 Gt = 0,244
Vs = 0,140 Vt = 0,098
Ms = 0,144 Mt = 0,094
362 ^- SeymariB und E. Wiersma.
Frage 43 (Bd. 42, S. 126). Methode I
aufsergewöhnliches Gedächtnis : Ot = 0,105 Gt = 0,070
Vi = 0,142 Vt = 0,093
Ms =: 0,074 Mi = 0,079
schlechtes Gedächtnis; G, = 0,079 Gt = 0,070
V, = 0,075 Vt = 0,027
Ms = 0,002 Mt = 0,116
Prozentsätze :
▼. d. V. haben 17% ein anfsergew., lb% ein gutes, 4% ein schlechtes G«d
„ „ Mä. „ 11% „ „ 74% „ „ 9% „ „ „
1} )> S» >» 12 /o M » 75 /o „ „ 7 /o „ „ „
» n T. „ o /o „ „ 78 /q „ >f 7 /q „ „ ,^
M » ^^* »» ^^ /o f> »I '^ /o W »» " /o M M «»
w M Fr. „ 9% „ „ <6 /0 „ „ 8 /o „ „ „
V. Neigungen.
Frage 44 (Bd. 42, S. 258). Methode I
auf gutes Essen und Trinken haltend: G« = 0,504 Gt = 0,323
V. = 0,142 Vi = 0,088
M, = OSm Mt = 0,141
nicht auf gutes Essen u. Trinken haltend: G» = 0^283 Gt = 0,411
Vm = 0436 Vt = 0,108
Ms = 0,114 Mt = 0^86
Die viel geringere Neigung zur Grastronomie bei den Frauen
zeigt sich in gleicher Weise in den Prozentsätzen für beide
Generationen :
von den V. halten 43 ®o ^^ gutes Essen und Trinken, 37% nicht
„ „ Mfl. „ 90*0 n n n n » ^%
• S. , 49», „ „
»»
a»
30%
T 31 •
w
M
«%
9
^
38«.
» *> **• j» 31 „ „ „
W
-
«•..
Frage 45 (Bd. 42, S. 259). Methode I
Tnnkenhold oder regelmaüng: G« = 0^46
Gl
= ao66
Vs = 0414
r.
= 0.088
Jtf. = a00ft
it,
= 0^048
dann und wann oder nie: 6s = 0,530
Gt
= 0^499
V, = 0^06
r,
= €UD14
IG == 0.174
au
= 013»»
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Orund einer Massenuntersuchung. 358
Prozentsätze :
V. d. V. sind 3 \, Trunkenbolde, trink. 31 \ regelm., 50% dann u. wann, iS\ nie
„ „Mü.„ 0%
R 10/
>» >» *^* » *■ /o >»
TOO/
„ „ • w ^ /O t»
„ „Ma. „ 27,
,Fr.
0»/.
3%
n
«7,
99
»»
>f
307. n
20%
99
67 7o
»
»
ff
ll*/. »
20/.
»
467.
W
f>
ff
307. „
28«/.
M
667,
»1
W
ff
127. „
37.
»
467.
»
ff
ff
307. ,.
Frage 46 (Bd. 42, S. 260). Methode I
ausschweifend: G» = 0,146 Gt = 0,034
7, = 0,057 7< = 0,020
Mi = — 0,003 jMi = 0,004
enthaltsam: G, = 0,332 Gt = 0,228
7* = 0,113 Vt = 0,160
if, = 0,259 Mt = 0,386
Prozentsätze :
von den V. sind 67.
aasschweifend, 697,
enthaltsam
„ „ MO.
27.
»
69%
ff
„ « 8.
ll"/.
n
58%
ff
„ ,. T.
27.
n
68%
ff
„ „ Mä.
9*/.
rj
62%
ff
» „ Fr.
27.
»
62%
f»
Frage 47 (Bd. 42, S. 260). Me&ode I
mit sich zufrieden:
nicht mit sich zufrieden:
Gs = 0,391
Vs = 0,095
M» = 0,067
Gs = 0,818
7, = 0,108
M» = 0,071
Gt = 0,247
Vt = 0,106
Mt = 0,080
Gt = 0,408
Vt = 0,098
Mt = 0,082
Die Prozentsätze ergeben einen bedeutsamen Unterschied
jswischen den Frauen der älteren und der jüngeren (reneration:
von den V. sind 35 % mit sich zufrieden, 31 7o nicht
IJ
„ Mü. „
29 7, ,
»?
» s. „
397. .,
>»
„ T. „
267, „
t1
„ Mft. „
37 7. ,
t1
« Fr. „
27 7. „
ZeitMhrin »r Fiydiologie 43.
32
/o ff
31
% „
40
/o fr
31
•/. „
37
•/, „
354
G. Heymana und E. Wiersma.
Frage 48 (Bd. 42, S. 261). Methode I
eitel und gefallsüchtig: Gm = 0/287
V, = 0,059
Ms = 0,064
iiiifseres wenig beachtend : Gm = 0,348
Vm = 0,136
Ms = 0,0J2
Gl = 0,364
Vt = 0,018
Mt = 0,134
Gt = 0,271
Vt = 0,098
Mt = 0,136
Nach den Prozentsätzen ist die gröfsere Gefallsucht den
Frauen in beiden Generationen eigen:
von den V. sind 10 % eitel und gefallsüchtig, 61 % umgekehrt
„ Mü. „ 16o/o „ „ „ 490/0
„ 8. „ 23% „ „ ^0/-
„ Mfe. „ 19/0 „ „
„ Fr. „ 250/0 ,. „
370/0
öOo/o
420/0
Frage 49 (Bd. 42, S. 262). Methode I
ehrgeizig: Gs = 0,327 Gt = 0,286
Vt = 0,122 Vt = 0,106
Ms = 0,060 Mt = 0,089
sich im Hintergrunde haltend: Gs =0,1722 Gt = 0,207
Vs = 0,078 Vt = 0,071
Ms = 0,067 Jlf r = 0,079 ^
Prozentsätze :
T. d. V. s. 330/0 ehrgeiiig, 24 0/0 gleichgült., 19 0/0 geneigt s. i. Hintergr. z. halt.
„ Mü. „ 250/0
„ 8. „ 34 /o
„ T. „30%
„ Mft. „ 36«/,
„ Fr. „ 28<>/o
16«/,
26%
24»/.
26«/.
21»/.
32 %
16»/.
20%
17%
26%
Frage 50 (Bd. 42, S. 263). Methode I
geldsüchtig: ö. = 0,274 ff« = 0,139
V, = 0,099 Vt = 0,038
M, = 0,106 Mt = 0,036
aneigennatzig: ff< = 0,343 ff< = 0,432
V. = 0,122 Vt = 0,089
M, = 0,206
M, = 0,186
' Nach Methode II liegt in der Tat zwischen diesen beiden Eigen«
Schäften der stärkste Gegensatz vor.
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer MoMetmntersuchung. 355
Die gröfsere Uneigennützigkeit der Frauen bewährt sich in
beiden Generationen:
von den V. sind 24% geldsttchtig, 43% nneigennfitzig
„ MO. „ 13% „ 60%
„ S. „ 21% „ 46%
,, T. „ 12% .. 52%
„ Mft. „ 22% „ 44%
,. Ft. „ 12% „ 51%
Frage 51a (Bd. 42, S. 263). Methode I
geizig oder sparsam: 0$ = 0,362
Gt = 0.465
V, = 0,091
Vt = 0,078
M» = 0,064
Mt = 0,157
flott oder verschwenderisch: Gs = 0,526
Gt = 0,405
V» = 0.091
Vt = 0,092
Ms = 0,053
Mt = 0,017
Prozentsätze :
Ton den V. sind 2 % geizig, 44 % sparsam
.41%
flott, 2% verschwe
„ „ Mü. „ 3% ., Ö6% „
29%
„ 2%
M „ S. „ H% „ Sb% „
41%
„ 10%
. „ T. „ 2o/o „ 46% „
34%
„ 6%
,. „ Mä. „ 3% „ 38% .
41%
. 7%
.. ., Fr. ., 2% ,. öOo/o „
32%
„ 5%
Frage 51b (Bd. 42, 8. 263). j
Methode 11
oft in Schulden: Gs = 0,055
Gt = 0,009
Vs = 0,098
Vt = - 0,034
Ms = 0,119
Mt = 0,078
Prozentsätze :
von den V. befinden sich 3% oft in Schulden
M ?; Mü. „ ,, 2 /q „ „ ,,
»T ?> '-'• >» 11 " /O 11 11 11
T t ®/
11 11 ■*■• M >» *■ /o >» >» »
„ ,, Ma. „ „ Iq „ „ „
Fr 1 ®y
Frage 52 (Bd. 42, S. 265). Methode I
herrschsüchtig
Gs = 0,173
V, = 0,116
Ms = 0,062
(?/ = 0,234
Vt = 0,065
Mt = 0,103
23*
356 ^- Heymans und E. Wiersma.
lenkbar: Gm = 0,136 Gt == 0,136
r. = 0,006 Vt = 0X)22
Jtf, = 0.(©6 16 = 0.046»
Wie die Prozentsätze auszuweisen scheinen, ist die grolsere
Herrschsucht des weiblichen, und die gleiche Lenkbarkeit beider
Geschlechter erst ein Produkt der neueren Zeit:
V. d. V. sind 24 ^o herrechsüchtig, 55 •« geneigt Freih- x, taflsen, 12% lenkb.
„ Mfi. „23». „ «•.,
n
»
17%
„ S. „ 19». .. 03«^.
»•
»
13%
.. T. „ 25 •„ „ 47».
»>
«f
13%
„ M«. . 21% . 54%
*i
f"
13*,.
.. Fr. , 34». ., 46%
-
-
15%
Frage 53 (Bd. 42, S. 266). Methode I
streng oder i&rtlich und sorgsam*: G, =
0,235
Gi
= 0,286
r. =
0,075
Yt
= 0,024
J6 =
Qf&l
Mi
= 0,002
geneigt viel Freiheit ru lassen: Gs =
0.156
Gt
= 0,121
F. =
: 0,087
Vi
= 0,(B3
U,=
= 0,047
Mi
= 0.006
Bei der Beurteilung der Prozentsätze ist auf den Umstand
zu achten, dafs für die Angehörigen der jüngeren Creneration,
welche zum gröfseren Teil noch keine Kinder haben, die Rubrik
„fragUch^ aufserordentlich stark vertreten ist:
' Die Berechnung nach Methode II ergibt einen ansgeeprocheiieii
G^ensmti zwischen der Neigung, jedem seine Freiheit zu lassen einerseits,
und der Herrschsucht oder der Lenkbarkeit andererseits, während die
heredit&re Beziehung zwischen Herrschsucht und Lenkbarkeit naheso gleich
oft positiv wie negativ ist Auch hier wird wieder an den Znaamw^^nhang
zwischen Auto- und Heterosuggestibilitftt zu denken sein. — Folgen wir
jener Andeutung, so gewinnen wir nach Methode I folgende Zahlen:
herrschsüchtig oder lenkbar: G, = 0,338 Gi = 0,384
Vm = O.OiO Vt = 0,016
Ms = 0.'^Ö2 Mt = 0,038
jedem seine Freiheit lassend: Gm = 0,516 Gt = 0^468
Vm = 0,105 Vi = 0,054
Af. = - 0,010 Mi = 0,054
* Diese Kombination wurde bevorzugt, weil die Berechnnng nach
Methode II den stärksten Gegensatz zwischen freiheitlicher und Bftrtlicher.
einen weniger starken zwischen freiheitlicher und strenger, nnd den
•ch wachsten zwischen strenger nnd zärtlicher Eraiehnng anzeigt.
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Qrund einer Massenunterstichung. 367
von den V. üben 24 ®/o strenge, 2b % zärtliche, 42 % freiheitliche Erziehung
MO. „
18%
S. „
9 7.
T. „
7%
Ma. „
14 7o
Fr. „
11%
50 O/o
17 «/o
22%
20%
33%
29%
13%
12%
23%
18%
Frage 54 (Bd. 42, S. 267). Methode I
gütig gegenüber Untergebenen: Ot = 0,616
V» = 0,122
nicht gütig gegenüber Untergebenen
Prozentsätze :
Ms = 0,081
G» = 0,071
F, = 0,000
Ms = 0,029
Gl = 0,670
Vt = 0,124
Mt = 0,044
Gt = 0,123
Vt = 0,050
Mt = 0,026
von den V. sind 86% gütig, 5% nicht gütig gegenüber Untergebenen
„ „ Mü. „ 83% „ 13% „
j» 11 ". „ 77 Iq „ 5 /o „ „
11 11 T. „ 80% „ 6% „
„ „ Mä. „ 80% „ 5% „
Fr.
81 %
9%
Frage 65 (Bd. 42, S. 268). Methode I
mitleidig und hilfsbereit: Gs = 0,505
Vs = 0,107
Ms = 0,130
egoifitiBch oder grausam ^: Gs = 0,305
Vs = 0,082
Ms = 0,091
Gt = 0,643
Vt = 0,082
Mt = 0,090
Gt = 0,166
Vt = 0,029
Mt = 0,048
Das stärkere Mitleid und der geringere Egoismus der Frauen
wird durch die Prozentsätze für beide Generationen bestätigt:
von den V. sind 75 % mitleidig, 14 % egoistisch, % grausam
Mü. „ 83% „ 9% „ 0% „
S. „ 67% „ 18% „ 1% „
T. „ 76% „ 11% „ 0% .,
Mä. „ 70% „ 16% „ 1% „
Fr. „ 79% „ 10% „ 0%
' Diese Kombination wird durch die verschwindend geringe Anzahl
der „Grausamen'^ nahe gelegt.
358 Ö« Heymans und E. Wiersnia.
Frage 56 (Bd. 42, S. 269). Methode I
persönlich tätig: G, = 0,124 Gt = 0,190
Vs = 0,086 Vt = 0,100
Ms = 0,063 Mt = 0,174
in keiner Weise tfttig: G, = 0,171 Gt = 0,109
Vs = 0,072 Vt = 0,016
M, = 0,088 Mt = 0,074 »
Prozentsätze :
von den V. sind 32®/o persönlich, 40% durch Geldbeiträge, 11% nicht tätig
, „ MO. „ 26% „ 37% „
„ , S. „ 15% „ 31% ,
n n T. „ 24% „ 27% „
„ „ Mä. „ 21 /q „ 34 ,0 ^
Frage 57a (Bd. 42, S. 270). Methode I
politisches Interesse: Gs = 0,500
V, = 0,154
Jtf, = 0,013
kein politisches Interesse : G» = 0,241
\\ = 0,079
16=0,030
Prozentsätze :
von den V. haben 84 ®o politisches Interesse, 12^,0 nicht
, „ Mü. „ 2S\ „ r, 32% ,
» „ S. . 62% „ . 18% .
» r T. „ 27% „ „ 30 ,0 ,,
, , Mä. „ 70% , „ 16% ,
r r IT- » ^*'« •♦ w 31*0
Frage 57 b (Bd. 42, S. 270). Methode I
radikal: G* = O.IW Gt = 0,125
r, = 0.100 Vt = 0,050
Ms = 0,039 Jtfi = 0,060
konservativ: Gs = 0,066 Gt = 0,038
T', = 0,131 Vt = 0,067
3f, = 0H>17 Mt = 0,111
1»
ö%
n
14%
r
10%
n
13%
n
»•/o
le I
Gt =
: 0,215
Vt =
0,084
Mt =
0,124
Gt =
0,296
Vt =
0,0(3
Mt =
0,120
' Die Berechnung nach Methode II ergibt einen absoluten GegenBmU
swiBchen persönlicher Tätigkeit und vollständiger Abstinenz aof philmn-
thropischem Gebiet, einen weniger ausgesprochenen Gegensatz zirischen
persönlicher Tätigkeit und blolsem Geldbeisteuem. und kaum noch einen
Gegensatz zwischen bloCsem Geldbeisteuem und vollständiger Ahetinenx.
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuckung, 360
Prozentsätze :
von den V. ßind 9% radikal, 56% gemäTsigt, 19% konaervativ
, , MO. „ 3% „ 12% , 12%
„ „ 8. „ 18% „ 36% „ 9%
, , T. , 12% , 10% „ 5%
„ „ Mä. „ 15% „ 43% , 12%
, „ Fr. „ 8% , 11% „ 8%
Frage 58 (Bd. 42, S. 271). Methode H
politisch tätig: G, = 0,108 Gf = 0,027
Vs = 0,041 Vt = 0,001
Ms = 0,014 Mt = 0,009
Prozentsätze :
von den V. sind 12 % politisch tatig
„ „ Mü. „ 1%
n p "• n * 10 n n
T 9 01
„ „ Mä. „ 9%
n « Fr. p 2% „ „
Frage 59 (Bd. 42, S. 272). Methode I
patriotisch: G, = 0,273 Gt = 0,233
Vs = 0,143 Vt = 0,124
Ms = 0,101 Af< = 0,160
nicht patriotisch: Gs = 0,416 Gt = 0,322
F, = 0,138 Vt = 0,129
M, = 0,114 If/ = 0,147
Prozentsätze :
von den V. sind 42% patriotisch, 32% nicht
„ „ Mö. „ 28% „ 28% r
„ „ 8. „ 29% „ 40% „
„ „ T. „ 25% , 30% „
, „ Mä. „ 34% „ 37% ,
. . Fr. „ 280/, ^ 29% „
Frage 60 (Bd. 42, S. 273). Methode I
G» = 0,594 Gi
Vs = 0,073 Vi
Ms = 0,061 Mt = 0,100
natürlich: Gs = 0,594 Gt = 0,590
7, = 0,073 Vt = 0,047
9f^ G. Heymans und E. WicrBma.
gMwungen oder gesiert': O.
V,
M,
Prozentsätze :
II II II
111
Vt = 0,027
Ml = 0,092
von
den V. Bind 740/,
„ Mü. „ 71%
natürlich^
n
, 16%
17%
gecwungen, 6%
6%
n
n
„ 8. » 66%
„ T. „ 66%
21%
18«/.
7%
» 117,
n
II
. M». „ 69%
„ Fr. , 68%
n
197.
18%
6%
97.
Frage 61 (Bd. 42, S. 274). Methode I
demonstrativ: G» = 0,439 Gt = 0,444
V, = 0,060 Vi = 0,083
Ms = 0,016 Mt = 0,048
▼erechloBsen oder Heuchler«: Gm = 0^3 Gt = 0,319
V, = 0,049 Vt = 0,043
M, = 0,026 Mt = OfTS
Prozentsätze :
von den V. sind 43% demonstrativ, 36% verschlossen, 1% Heuchler
„ „ Mü. , 34% „ 36% „ 1% „
n n S. „ 44 /q „ 34 /q „ 1 /q „
„ . T. „ 46% „ 30% , 1%
„ „ Mft. „ 44% „ 36% „ 1% n
„ , Fr. „ 41% „ 32% „ 1%
Frage 62 (Bd. 42, S. 274). Methode I
ehrlich hervortretend: G» = 0,684 Gt = 0,652
Vi = 0,116 Vt = 0,063
Ms = 0,076 Mt = 0,081
diplomatisch oder intrigant»: Gs = 0,260 Gt = 0,225
Vs = 0,069 Vt = 0,066
Ms = 0,058 Mt = 0,064
^ Die Zusammenfassung von „gezwungen^' und „geziert*' in eine Gruppe
wird durch die nach Methode II berechneten hereditären Beziehungen durch*
gängig gerechtfertigt.
* Methode II ergibt eine stärkere Verwandtschaft der Heuchler zu
den Demonstrativen als zu den Verschlossenen und einen maximalen
Gegensatz zwischen den beiden letzteren ; doch ist die Zahl der als Heuchler
Bezeichneten so gering, dafs die Zusammenfassung derselben mit den
Demonstrativen oder den Fraglichen die obigen Resultate kaum merklich
beeinflufst.
' Methode II ergibt sehr innige Beziehungen zwischen diesen beiden
Eigenschaften, und einen ausgesprochenen Gegensatz beider zum ehrlichen
Hervortreten.
Beiträge zw speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung, 361
Nach den Prozentsätzen zu urteilen, ist die gröfsere Ehrlich-
keit der Frauen eine Errungenschaft neuester Zeit:
von den V. sind 73% ehrlich, 16% diplomatisch, 1% intrigant
„ „ Mü. „ 70o/o „ 16% „ 4%
„ „ S. „ 69% , 17% „ 2% „
„ „ T. „ 72% , 13% „ 3%
„ „ Mä. „ 71% „ 17% „ 2% ,
„ , Fr. „ 71% „ 14% „ 3%
Frage 63 (Bd. 42, S. 275). Methode I
vollkommen glaubwürdig: (?.« = 0,516 G< = 0,575
y,== 0,113 7/ = 0,1 12
J/, = 0,121 3/< = 0,104
übertreibend, aasschmückend oder lügnerisch * : fr* = 0.377 Gi = 0,338
r,==. 0,085 yr = 0,083
A/, = 0,097 Jtf< = 0,089
Nach den Prozentsätzen scheinen die Frauen auch in der
WahrheitsHebe erst in der jüngeren Generation die Männer über-
flügelt zu haben:
V. d. V. sind 65% glaubw., 15% übertreib., 12% ausschmück., 2% lügnerisch
„ „ Mü.„ 63% „ 17% „ 8% „ 4%
. « S. „ 6U% „ 12% „ 15% „ 4%
3 /o »»
4%
3%
Gt = 0,654
Vi =■ 0,064
Mt = 0,154
Gl = 0,119
Vt = 0,033
Mt = 0,059
^ Der gemeinschaftliche Gegensatz dieser drei Merkmale zur Glaub-
würdigkeit, sowie ihr gegenseitiger Zusammenhang, wird durch die Resultate
der Methode II sichergestellt; allerdings ist dieser Zusammenhang ein
bedeutend engerer zwischen „ausschmückend" und „lügnerisch", als zwischen
„übertreibend" und „ausschmückend" oder „übertreibend" und „lügnerisch".
Dies war zu erwarten: die Übertreibung ist meistens ein Produkt über-
mäTsiger Gefühlswertung, während das Ausschmücken gewöhnlich bei kaltem
Blute stattfindet.
* Die Berechnung nach Methode II bestätigt die vorgenommene
Gruppierung, insofern die hereditären Beziehungen zwischen „unbedingt
»I » *• »
6Ö0/0 „
15%
);
9
'lo
„ „ Mä. „
62 »/o „
l-'»/.
Jt
14
%
» II Fr. „
65»/, „
16 7o
>J
9
%
Frag
:e 64 (Bd.
42, S.
277). :
Methode I
unbedingt zuverlässig
: Gs
= 0,541
Vs
= 0,143
Ms
= 0,131
Grenzen des Gesetzes oder unehrlich*
: G,
= 0,287
Vs
= 0,115
Mi
= 0,087
362
G. Htymana und E. Wiersma.
Die Prozentsätze ergeben eine merklich grölsere Zuverlässig-
keit der Frauen in beiden Generationen:
V, d. V. sind 83 »/o unbed. zuverl., 11 »/o ehrl. ino. d. Gr. d. Ges., 1% unehrL
„ Mü. „ 86 7o „ „ 4% „ „ „ ., 1%
S.
T.
Mä.
Fr.
76o/„
82 o/o
78%
83 o/o
11 7o
4%
11%
4%
17o
0%
1%
1%
Frage 65 (Bd. 42, S. 278). Methode I
warm oder konventionell: G$ = 0,185 Gt = 0,336
Vs = 0,117 Vi = 0,126
Mm = 0,096 Ml = 0,193
Spötter oder gleichgültig: G» = 0,6ö0 Gt = 0,512
Vs = 0,160 Vt = 0,119
Ms = 0,067 Ml = 0,192
Die Prozentsätze aus dem Rohmaterial bestätigen die stärkere
Religiosität des weiblichen Geschlechts in den beiden Grenerationen:
V. d. V. sind 26 o/o warm, 2S% konvent. religiös, 50/0 Spötter, 33 0/0 gleichgültig
„„Mü.„ 340,0 „ 300,, ., „ 10/^ „ 250/0
S.
Mft.
Fr.
13%
200.0
n%
260'
300,,
13 «^
230/0
18%
260,0
OO'
"
Q 0/
ö /o
70/
51%
39%
45%
330,0
Frage 66 (Bd. 42, S. 279). Methode 1
Kinderfreund: Gs = 0,443 Gt = 0,594
Vs = 0,119 Vi = 0,053
Ms = 0,125 Mt = 0,156
nicht Kinderfreund: Gs = 0.180 Gi = 0,144
Vs = 0,028 Vi = 0,018
Ms = 0,042 Mt = 0,064
Prozentsätze :
von den V. sind 64 0, Kinderfreund, 16 Oo nicht
Mü.
. 72»,
11%
S. ,
. 59».
14%
T. .
.71%
9%
Ma. .
. 60»,
1*%
Fr. .
.71%
10»,
luverllfcsstig'' und „ehrlich Innerhalb der Grenien des Geeetaes'* überall
negativ, diejenigen iwischen „ehrlich innerhalb der Grenzen des Gesataes**
and „unehrlich** dagegen eben80 oft positiv als negativ sind.
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung. 363
Frage 67 (Bd. 42, S. 279). Methode I
Tierfreund: Gs = 0,495 Gt = 0,429
Vs = 0,134 Vi = 0,166
Ms = 0,096 Mt = 0,146
nicht Tierfreund : G$ = 0,226 Gt = 0,262
Vs = 0,067 Vt = 0,097
Ms = 0,090 Mt = 0,112
Prozentsätze :
von den V. sind 61 % Tierfreund, 25 7o nicht
„ Mö. „ 48 o/o „ 25 0/, ^^
V s- „ 550/, „ 190/0 „
V T. „ 510/, ^^ 200/, „
„ Mä. „ 540/, „ 210/, „
n Fr. „ 50 0/, ^^ 220/, „
Frage 68 (Bd. 42, S. 280). Methode I
Höhergestellte: (?, = 0,157 G« = 0,196
Vs = 0,077 Vt = 0,115
Ms = 0,127 Mt = 0,153
Niedrigergeßtellte : Gs = 0,150 Gt = 0,090
Vs = 0,065 Vt = 0,022
Ms = 0,068 Mt = 0,070
Prozentsätze :
den V. gehen 18 0/, vorzugsw. mit Höher-, 10 0/, mit Niedrigergest. um
Mü. „ 210/, „ „ 10 0/^
8.
T.
Mä.
Fr.
17%
22 0/,
22 0/,
14%
8%
13%
9%
Frage 69 (Bd. 42, S. 281). Methode I
verschieden: G, = 0,154 0/ = 0,162
Vs = 0,081 Vt = 0,090
Ms = 0,024 Mt = 0,016
gleich: Gs = 0,607 Gt = 0,628
Vs = 0,146 Vt = 0,155
Ms = 0,095 Mt = 0,068
Prozentsätze :
V. d. V. verhalt, sich 90/, verschieden, 82 0/, gleich geg. Höher- u. Niedrigergest.
?i 820/, ^^ ^^ ^^
7fto/
j> 790/, ,. ,, „
7Q0/
80% ,. ,.
Mü.
ti
,. 8%
S.
11
„ 8%
T.
}>
„ 8%
Mä.
»;
„ 8»/o
Fr.
t»
,. 8%
364
6. Heymans und E. Wiersma.
Frage 70 (Bd. 42, S. 281). Methode I
mutig: G, = 0,465
Gl = 0,397
V, = 0,102
Vi = 0,095
M, — 0,063
Ml = 0,117
furchtsam oder feig': Qt = 0,300
Gl = 0,387
V, = 0,062
Vi = 0,087
M. = 0,056
Ml = 0,117
Prozentsätze :
von den V. sind 43 "/o mutig,
30«/, furchtsam, 1°/, fei
,. „ MO. „ 39 »/o „
32»/,
ö% „
„ ., S. „ 480/0 „
27 0/,
a'A. „
„ „ T. ,. 42»/, „
350/0
3»/« „
„ „ Mä. „ 46 7« .,
280/0
•» 2 /o J
„ „ Fr. „ 40 »/o ,,
m\
40/0 ,
Frage 71 (Bd. 42, S. 282).
Methode I
Vergnügungssucher: Q» = 0,281
Gt = 0,304
V. = 0,118
Vi = 0,131
M. = 0,1 ('.2
Mt = 0,169
einsiedlerisch: G, = 0:127
Gt =- 0,039
V. -- 0,017
Vt = 0,056
M. = 0,04«
Mi = 0,026«
Prozentsätze :
von den V. sind 24 % Vergnflgnngssucb
ler, 65 «/o
häuslich, 6»/o ei
,. „ Mü. „ 19«/,
69 o/o
„ 67o
„ „ S. „ 32 »/o
49*/o
,, n^
„ „ T. „ 35<>/„
520/0
„ 50/0
„ „ Mä. „ 29''/„
560/,
. i07o
., „ Fr. „ 29%
68 0/0
11 6%
* Die Zusammengehörigkeit von „furchtsam" und „feig" wird durch
die Berechnung nach Methode II durchgängig bestätigt.
* Nach den Ergebnissen von Methode II stehen sich Vergnügungs-
sucher und Häusliche schroff gegenüber, während zwischen VergnOgungs-
suchern und Einsiedlern, sowie auch zwischen Häuslichen und Einsiedlern,
neben den negativen auch positive hereditäre Beziehungen vorliegen. Für
jenen ersteren Gegensatz ergibt Methode I;
Vergnügungssucher: G» = 0,383 Gt = 0,436
Vs = 0,064 Vi = 0,088
Ms = 0,064 Mi = 0,107
häuslich: G» = 0,397 Gt = 0,4'>2
Vs = 0,086 Vt = 0,048
Ms = 0,110 Mi = 0,125
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Ghrund eitler Massennntersuchung. 365
Frage 72 (Bd. 42, S. 283). Methode I
Beden über Sachen : ö, = 0,345 Gt = 0,260
Vi = 0,275 Vt = 0,077
Mi = 0,164 Mt = 0,192
Beden über sich selbst: Gi = 0,107 Gt = 0,088
Vi = 0,066 Vt = 0,004
Mi = 0,034 Mt = 0,053 ^
Die Prozentsätze zeigen bedeutsame Unterschiede an zwischen
den beiden Geschlechtem und den beiden in Untersuchung ge-
nommenen Generationen:
V. d. V. reden 61®/o vorzugsw. üb. Sachen, 7% Ob. Pers., b% üb. sich selbst
„ Mü. „ 250/, ^, ^^ 370/^ ^^ 6%
„ S. „ 53% „ „ 10% „ 6%
« T. „ 330/0 „ „ 260/, ^^ go;^
„ Mä. „ 56o/o „ „ 90/, „ 60/,
» Fr. „ 300/, ^^ ^^ 300/^ ,, 70/^
Frage 73 (Bd. 42, S. 284). Methode I
Liebhaber: Gi = 0,305
Vi = 0,153
Jf, = 0,014
Gt = 0,181
Vt = 0,089
Mt = 0,104
abgeneigt: Gi = 0,198
Vi = 0,164
J£, = 0,152
G/ = 0,324
Vt = 0,112
Mt = 0,332
Prozentsätze :
von den V. sind 17 0/, Liebhaber,
„ . Mü. „ 50/,
53 0/, abgene
62 0/,
V »» °' 11 ^ /o
34 0/,
66% „
„ „ Mft. „ 22%
„ „ Fr. „ 7»/o
11
11
41%
68% M
Frage 74a (Bd. 42, S. 286).
Methode I
viel lesen: G, = 0,468
V. = 0,0«8
M. = 0,017
ffr = 0,494
7/ = 0,042
Mt = 0,111
wenig lesen: G< = 0,406
V, = 0,082
1£, = 0,011
Gt = 0,334
7/ = 0,051
Mt = 0,113
' Das Vorliegen eines maximalen Gegensatzes zwischen dem Reden
über Sachen und über sich selbst wird durch Methode II bestätigt.
366
6r. Heymans und E. Wiersnia.
Prozentsätze :
von den V. lesen öO®/o viel, 36% weni^
Mfi 41 ^1 AX ^1
8 4Q 0/ QO 0/
>T »I T. „ 50 /o ,, 33 /q „
„ „ Mä. „ 48% „ 38% „
„ „ Fr. „ 47% „ 37% „
Frage 74b (Bd. 42, S. 285). Methode I
genau und geordnet behalten: G» = 0,383 Ot = 0,34ö
F, = 0,141 Vt = 0,151
yU = 0,110 Mt = 0,113
ungenau und verwirrt behalten: Gs = 0,142 Gt = 0,193
Vs = 0,011 Vt = 0,031
Ms = 0,045 Mt = 0,067
Prozentsätze :
von den V. behalten 66% genau u. geordnet, 13% ungenau u. verwirrt
„ „ Mü. „ 33% „ „ 21%
•t »I "• >! '" /o n Ti 1° /o 11 n
•I » T. „ 42 /j „ ,, 17 /j „ „
Mä.
Fr.
50 »/o
38»/„
13%
19%
Frage 75 (Bd. 42, S. 286). Methode II
abstrakte Grübeleien
0,
= 0,154
Gt = 0,093
V.
= 0,194
Vt = 0,073
M.
= 0,129
Mt = 0,046
Prozentsätze :
von den V. vertiefen sich 15% >n
abstrakte Grübe
„ ., Mü.
>J
„ 10% „
V ?>
., ., s.
»
. 19 % „
tr •>
., ., T.
?1
„ 11 % „
T> »
„ „ Mft.
l>
„ 18% „
»» II
„ ,. Fr.
M
„ 11% ,.
T» IJ
Frage 76 (Bd. 42, S. 287). Methode II
Sammeleifer: Gt = 0,110
Vz = 0,228
Ms = 0,091
Gt = 0,056
Fi = 0,145
Mt = 0,031
Beiträge zur speziellen Psychologie auf Ghrund einer Massemmtersuchung. 367
Prozentsätze :
von den V. sind 12®/o Sammler
M „ Mü. „ 4% „ •
11 »f S. „ 14 Iq „
M 11 ■'■• 11 ' 10 11
11 11 Mä. „ 13%
11 11 Fr. „ 6®/o „
Frage 77 (Bd. 42, S. 287). Methode II
Neuerungssucht: Gm = 0,0H0
y, = _0,0S
Ms = 0,243
Gt = 0,030
7/ = 0,463
Mi = 0,184
Diese Zahlen sind wegen der sehr geringen Anzahl der als
Neuerer zu bezeichnenden Personen unzuverlässig.
Prozentsätze :
von den V. sind 1 %
„ „ Mü. „ 30/,
Neuerer
1»
11 11 S. „ 3%
„ „ T. „ 40/,
11
11
„ „ Mä. „ 3%
» 11 Fr. „ 4%
11
11
78 (Bd. 42, S. 289). Methode II
Sportliebe: Gs = 0,467
Vi = 0,225
Mi = 0,133
Gt = 0,231
Vt = 0,217
Mt = 0,209
Ȋtze :
von den V. sind 48% Sportliebhaber
„ „ Mü. „ 16 0/0
„ „ s. „ 590/0
„ „ T. „ 370/, ,
11
11
„ „ Mä. „ 550/0
„ „ Fr. „ 29%
11
11
Frage 79 (Bd. 42, S. 289). Methode II
Verstandesspiele: G* = 0,228
V* = 0,253
Ms = 0,056
Gt = 0,087
Vt = 0,119
Mt = 0,137
368
G, Heymans und E. Wiersma.
Prozentsätze :
von den V. sind 58 % Liebhaber von Verstandesspielen
„ Mü. „ 25 «/o
1t ^' >> *'*' /o » >» »J
T 19®/
»j -■■• >• *•' /o »> I» >
„ Mä. „ 46%
„ Fr. „ 22% „ „ „
Frage 80 (Bd. 42, S. 290). Methode H.
Hier sind, da von den Eltern nur 6 Väter als Hochspieler
bezeichnet wurden, dieselben mit den sonstigen Glücksspielen!
in eine Gruppe zusammengefafst worden:
Glücksspiele: G»
= 0,112
Gt = 0,029
7.
= 0,210
Vt = 0,088
M,
= 0,400
Mt = 0,368
Prozentsätze :
von den V. sind 1 %
Hochspiele
r, 6%
sonstige Glücksa
„ ,, Mü. „ 0%
j>
3%
9* 99
„ „ S. „ 2\
M
12%
» M
„ „ T. „ 0%
1)
4%
79 >»
„ ,, Mä. „ 2%
>?
10%
11 11
„ M Fr. „ 0%
>?
4%
91 11
Frage 81 (Bd. 42, S. 290). Methode H
Yerwandtschaftsbeziehungen und Yermögensverhältnisse :
Gs = 0,Ü2Ü Gt = 0,067
Vs = 0,134 Vt = 0,206
Mm = 0,128 Mt = 0,188
Prozentsätze :
von den V. sind 39 % bewandert in Verwandtschaftsbez. usw. y. Bekannten
Mü. „ 51%
8. „ 13 /o „ „
T. „ 25%
Mä. „ 22% „ „
Fr. „ 340/0
VI. Verschiedenes.
Frage 82 (Bd. 42, S. 291). Methode I
Komplimentenschneider : Gg = 0,060 Gt = 0,069
Vs = 0,062 Vt = 0,136
Ms == 0,113 Mt = 0,109
Beiiräge zur spezieüm Fsychologie avf Orund einer Massenunter9uchung. 369
grob:
G,
=•0,076
Vm
= 0,036
Ms
= 0,010
Prozentsätze :
11 den V. sind 14%
KOD
apliment
„ Mü. „ 80/,
1
„ S. „ 9%
1
„ T. „ 80/,
f
„ Mä. „ 110/,
y
„ Fr. „ 8o^
t
Gt = 0,036
Vt = 0,028
if< = 0,043»
85o/o „ 30/,
79% „ 70/,
860/0 „ 30/,
77% „ 70/,
850/0 „ 30/,
Frage 83 (Bd. 42, S. 292). Methode I
zerstreut : Gm = 0,322 Gt = 0,218
V* = 0,060 Vt = 0,085
Mm = 0,045 Mt = 0,061
stete wach: G, = 0,374 Gt = 0,501
Vi = 0,108 Vt = 0,071
M, = 0,093 Mt = 0,116
Nach den Prozentsätzen ist die gröfsere Disposition zur Zer-
streutheit den Männern der jüngeren Generation eigentümüch:
von den V. sind 18 0/, zerstreut, 62 0/, stete wach
„ „ Mü. „ 200/, „ 550/, „
j» 11 S. „ 27 /, ,, 4o /, „ „
»» »» T. „ 19 /, „ 56 /, „ „
„ „ Mä. „ 240/, „ 610/, „ „
„ „ Fr. „ 190/, „ 66 0/, ^^ ^^
Frage 84 (Bd. 42, S. 293). Methode I
reinUch und ordentüch: G$ = 0,628 Gt = 0,616
Vm = 0,068 Vt = 0,090
M, = 0,063 Ml = 0,108
» Methode II weist nach, dafs die hereditären Beziehungen zwischen
Komplimentenschneiderei und Grobheit 6 mal positiv gegen 3 mal negativ,
diejenigen zwischen Komplimentenschneiderei und Höflichkeit dagegen
stete, und diejenigen zwischen Höflichkeit und Grobheit mit einer Aus-
nahme negativ sind. Legen wir diese stärksten Gegensätze der Berechnung
nach Methode I zugrunde, so ergeben sich folgende Zahlen:
Komplimentenschneider oder grob: Gs = 0,284 Gt = 0,180
7, = 0,091 Vt = 0,091
Ms = 0,096 Mt = 0,033
höflich: Gs = 0,647 Gt = 0,764
Vs = 0,096 Vt = 0,097
Ms = 0,119 Mt = 0,059
Zeitschrift für Psychologie 43. 24
870
G. Heymant und E. Wienma,
unordentlich : Gi = 0,339
Vi = 0,065
Ms = 0,069
Gt = 0,299
Vt = 0,094
Mt = 0,097
Die stärkere Neigung der Frauen zur Reinlichkeit und
Ordnung dokumentiert sich in den Prozentsätzen für beide
Generationen :
von den V. halten 68®/o auf Reinlichkeit u. Ordnung, 20% sind unordentl.
„ „ Mü. „ 820/, ^^ ^^ ,, 12 0/^
„ „ S. , 620/, ^^ ^^ ^^ 26 0/,
16%
T.
>»
TB%
Mä.
»>
64<'/.
Fr.
11
767.
Frage 85 (Bd. 42, S. 293).
pttnktUch: Gi = 0,495
r, = 0,146
M. = 0,064
nicht pünktlich: G, = 0,303
V. = 0,092
3f. = 0,028
Methode I
Gl = 0,619
Vi = 0,100
itfi = 0,069
Gt = 0,246
r, = 0,053
16 = 0,027
Nach den Prozentsätzen haben die Männer erst in der
jüngeren Greneration ein bedentendes Plus an Pünktlichkeit ganz
oder fast ganz verloren:
von den V. sind 81 % pünktlich, 8 % nicht
„ „ Mtt. „ 630/, „ 13 7o
S.
T.
Ma.
Fr.
63«/,
62%
69%
62%
22%
19'/,
17 7o
17%
Frage 86 (Bd. 42, S. 294) eignet sich aus den dort ange-
gebenen Gründen schwerUch zur Ermittlung von Geschlechts-
und Erblichkeitskoeffizienten.
Prozentsätze :
V. d. V. reden 9 % würdevoU, 35 % eachl., 27 % gemütl., 3 % ironisch, 7 % drauf los
„ MO. „ 4% „ 16% „ 46% „ 1% „ 16%
S. „ 7%
T. „ 6%
Mft. „ 8%
Fr- „ 67o
27%
207o
30%
18%
28%
34%
27%
38%
6%
*7.
67.
3%
117«
17%
10%
17 7,
Beiträge ztw speziellen Ftychologie auf Grund einer Massenunteretichung. 371 -
Frage 87 (Bd. 42, S. 296).
merkung wie bei Frage 86.
Prozentsätze :
Hier gilt die nämliche Be-
V. d. V. reden 3 ^/o schleppend, ß% schreiend, 53 7o gleichm., 8% abbeiisend
„ Mü. „ 60/. „ 57.
)l
61»/,
„ 2%
„ 8. „ 4% „ 7%
»?
61»/.
n 10%
„ T. „ 6% „ 6»/.
»»
64%
„ 8%
„ Mä. „ 3»/. „ 7«/,
yt
61%
„ 9%
„ Fr. „ 6% „ 60/.
»»
67%
„ 6%
Frage 88a (Bd. 42, S. 296).
Methode I
viel lachen: 6. = 0,378
Gi =
= 0,621
V. = 0,069
Vt =
= 0,102
M, = 0,050
Mi =
= 0,082
wenig oder nie lachen: Q$ = 0,415
Qt =
= 0,301
V, = 0,078
F« =
= 0,128
M, = 0,082
Mt =
= 0,082
Prozentsätze :
von den V. lachen 27% viel, 50 % wenig, 1% nie
„ Mü. „ 330/, ^^ 470/^ ^^ 10/^ ^^
„ S. „ 36 0/0 „ 430/, „ 10/. „
„ T. „ 48% „ 34% „ 1% „
Mä.
Fr.
33%
43%
45%
39%
1%
1%
Frage 88b (Bd. 42, S, 296). Methode II
lachen um eigene Witze: Qm = 0,062 Gt = 0,0
Vi = 0,104 Vt = 0,031
Mi = 0,053 Mt = 0,197
Prozentsätze :
von den V. lachen 9% um eigene Witse
„ „ Mü. I, 1 /o t» »I M
11 II S. „ Iq „ „ „
II II T. „ O Iq „ „ „
II li -MÄ« II • /o II II II
11 II *'• M 2 /o „ „ „
Frage 89 a (Bd. 42, S. 297). Methode I
bei Krankheit mutig: Gs = 0,312 Gt = 0,364
V» = 0,103 Vt = 0,063
Mm = 0,078 Mt == 0,143
24»
372 ^- -Erey^MaiM und E, Wtermna.
bei Krankheit Ängstlich: G, = 0,222
7, = 0,092
Mi = 0,014
Qt = 0,269
Fi = 0,060
1£, = 0,043
Prozentsätze :
von
11
den y. Bind 24% bei Krankheit mutig, 81% ftr
„ Mü. „ 47% „ „ „ 22%
11
11
„ S. „ 33% „
„ T. „ 40% „
11
11
,, 22%
„ 26%
11
11
„ Mä. „ 30% „
„ Fr. „ 42% „
11
11
„ 26%
„ 24%
Frage 89b (Bd. 42, S. 297). Methode I
bei Krankheit geduldig: Gm = 0,280 Gt = 0,364
Vi = 0,121 Vt = 0,081
Mi = 0,081 Mt = 0,101
bei Krankheit ungeduldig: Gi = 0,258 Gt = 0,228
Vi = 0,089 Vt = 0,066
Mi = 0,036 Mt = 0,046
Prozentsätze :
von den V. sind 41% bei Krankheit geduldig, 31% ungeduldig
Mü. „ 58% „
10
S. „
T. „ 41%
Mä. „ 36%
Fr. „ 47%
Frage 89c (Bd. 42, S. 297). Methode I
bald Ärztliche Hilfe einrufen: Gi = 0,274
Vi = 0,061
Mi = 0,003
nicht bald ÄrztUche Hilfe einrufen: Gi = 0,180
Vi = 0,046
Mi = 0,047
Prozentsätze :
von den V. suchen 37% bald Ärztliche Hilfe, 24% nicht
„ „ Mü. „ 34% ,. „ „ 28% „
11 11 S. „ 28 /o „ „ „ 17 /d ,,
11 11 T. „ 30 Iq ,, „ „ 19 /o „
,, „ Mä. „ 31 Iq „ „ „ 20 Iq „
11 11 Fr. „ 32% „ „ „ 23% „
14%
11
24%
11
20%
11
26%
11
18%
11
Gt
= 0,295
Vt
= 0,069
Mt
= 0,045
Qt
= 0,204
Vi
= 0,061
Mt
= 0,091
Beiträge zur spezieUen Psychologie auf Orwnd einer MasaenunterstKihung^ 373
Frage 90 (Bd. 42, S. 299). Methode II
psychische Störungen: Gt = 0,095 Qt = 0,125
Vi = 0,237 Vt = 0,157
M, = 0,159 Mt = 0,136
Prozentsätze:
von den V. haben 15% &n psychischen Stömngen gelitten
JIIU. „
^° /o »
ff 1t 1
s. „
16% „
»» 11 >J
T. ,
187. „
11 11 1
Ma. ,
, 167o „
11 11 1
Fr. ,
IS»/. „
11 11 11
Damit wären also für die verschiedenen Charaktereigen-
schaften, anf welche unsere EnqnSte sich bezieht, so genau wie
die vorliegenden Daten es gestatten, die Geschlechts- und die
Erblichkeitskoeffizienten bestimmt. In unserem ersten Artikel
haben wir das uns zur Verfügung gestellte Rohmaterial in sach-
gemäTser Ordnung vorgeführt; in diesem zweiten demselben
eine mathematische Bearbeitung zuteil werden lassen; in einem
dritten Artikel hoffen wir zunächst aus den gewonnenen Resultaten
einige theoretische Folgerungen zu ziehen.
(Eingegangen am 14, Auguet 1906.)
874
Über Nachempfindungen
im Grebiete des kinästhetischen und statischea Sinnes«
Ein Beitrag zur Lehre vom Bewegungsschwindel
(Drehsch Windel).
Von
Dr. Hans Abels (Wien).
(SchlolB.)
Dauer einer knrz erregten Drehempflndnng.
Wenn wir uns nach den Mittehi umsehen, um zu einer ver-
lälsUchen Kenntnis über den zeitUchen Verlauf einer durch
momentanen resp. sehr kurzen Reiz hervorgerufenen Dre&-
empfindung zu gelangen, so stehen uns scheinbar zwei Haupt-
wege offen, Experimente am intakten Organismus und solche
am freigelegten Vestibularapparate. Der uns für unseren Zweck
vorschwebende ideale Fall wäre natürlich der, wenn es bei
irgend einer Versuchsanordnung gelänge, auf das völlig ruhende
Organ einen momentanen (sehr kurzen) Beiz im Sinne einer
Drehbewegung einwirken zu lassen, also unkompliziert durch
andere etwa entgegengesetzte oder sonstwie geartete Reizmomente.
Sehen wir nxm zu, ob und wie weit diese Forderung bei den
beiden E^ategorien von Versuchen erfüllbar ist.
Die erste Gruppe gliedert sich naturgemäfs, abgesehen von
sonstigen Unterschieden der Versuchsanordnung, in kurze Dreh-
bewegungen (ähnlich wie sie auch bei natürUchem Verhalten des
betreffenden Individuums vorkommen) xmd in längere Rotationen.
Bei den wenig ausgiebigen Drehbewegungen im Ausmalse von
nicht über 180 • oder höchstens 360** folgt der einen Winkel-
beschleunigung alsbald eine entgegengesetzte. Da wir nun
mannigfaltige Anhaltspunkte haben, anzunehmen, dafs solche
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 376
einander entgegengesetzte Empfindungen und natürlich auch
ihre motorischen Begleiterscheinungen interferieren resp. einander
aufbeben können, so ist uns damit für diesen Fall die Möglich-
keit genommen, den ungestörten Verlauf einer einzelnen, ein-
deutig gerichteten, durch momentanen Drehreiz hervorgerufenen
Empfindung zu studieren. Bei den lange dauernden Rotationen
ist es allerdings möglich, die beiden entgegengesetzten Winkel-
beschleunigungen zeitUch genügend auseinander zu halten, um
eine Interferenz der von denselben ausgelösten Reizerfolge aus-
zuschhefsen. Dagegen stoisen wir hier auf ein anderes gewichtiges
Bedenken. Um unser Desiderat einer einwandfreien Beobachtung
zu erfüllen, müfsten wir Sicherheit darüber haben, ob das Organ
und der im Zusammenhang damit stehende nervöse Apparat in
der Zwischenzeit zwischen den beiden auf die Winkelbeschleuni-
gung bezogenen Reizerfolgen tatsächlich völlig reizlos, ruhend
oder richtiger in dem einem ruhenden Organismus entsprechenden
Zustande sei. Dafs eine solche Annahme aber keineswegs ohne
weiteres gerechtfertigt erscheint, geht aus manchen bekannten
Tatsachen hervor, namentlich aus der Veränderung, welche die
Vorstellung über die Richtung der Schwerkraft während einer
Rotation erleidet, offenbar dxu*ch die Beeinflussung des Labyrinths
von Seiten der Zentrifugalbeschleunigung, ferner aber aus weiteren
Gründen, die wir allerdings erst bei der Erörterung der Rotations-
bewegungen eingehender darzulegen imstande sind. Jedenfalls
ist aber auch hier die Erfüllung unserer Forderung: kurze, ein-
deutig gerichtete Winkelbeschleunigung einwirkend auf ein vor-
und nachher völlig reizloses Organ, in Frage gestellt.
Überschauen wir nunmehr die grofse Anzahl von Experi-
menten am freigelegten statischen Organe, so scheiden sich bei
weitem die meisten von selbst aus, wegen der zu weit gehenden
Schädigung des Organs in den einen Fällen, in den anderen
aber, weil die Reizerfolge zu diffus, nicht genügend distinkt imd
daher mit den durch eine eindeutige kurze Drehung hervor-
gerufenen unmöglich in Parallele zu setzen sind. Nur gegenüber
einem Versuche reduzieren sich diese Ablehnungsgründe auf
einen minimalen, imd wie ich glaube, vemachlässigbaren Rest,
demjenigen Versuche nämhch, bei welchem die Nervenendstelle
einer Ampulle auf eine mit der natürlichen so gut wie identi-
sche Art gereizt wird. Der Versuch wurde zuerst von Bbeuek
angestellt, später von Ewald in vervollkommneter gänzUch ein
376 ^<^^ ^^^•
wandfreier Form wiederholt und ergab in häufiger Ausführung
stets dasselbe exakte Resultat.
Es wird ein knöcherner Bogengang vorsichtig eröffnet, wobei
allerdings ein Teil der Perilymphe abfliefst, was aber erf ahrungs-
gemäfs bis auf eine geringe Herabsetzung der Empfindlichkeit
des Organs keinen Schaden tut und sicher keine prinzipielle
Änderung in den Reizbarkeitsverhältnissen des Labyrinthes er-
zeugt. Um nun in dem häutigen Kanal und dadurch in der
Ampulle eine Druckerhöhung resp. Strömung herbeizuführen,
berührte Breuer den Kanal mit einem spitzen PapierschnitzeL
Da diese Reizart noch den Nachteil hat, dafs erstens das An-
drücken aus freier Hand bei der Kleinheit der in Frage kommen-
den Teilchen unmöglich in gleichmäfsiger Weise bewerkstelligt
werden kann, und daher sich durch die Druckschwankungen
stets rückläufige Reizmomente zugesellen, und zweitens die
Reizung auch schwer am entfesselten Tiere möglich ist, so hat
Ewald ^ dieselbe in ingeniöser Weise durch seine Methode des
„pneumatischen Hammers^ ersetzt. Die Berührung resp. Kom-
pression des häutigen Kanals erfolgt hierbei durch einen feinsten
Stift, der jedoch vorne zur Vermeidung von Verletzungen einen
Kautschuküberzug trägt. Der Stift bewegt sich mit seinem
breiteren, hinteren Ende in einem hohlen Zylinderchen, das
wiederum durch eine auf den Schädel des Versuchstieres auf-
gegipste Ansatzplatte in absolut unveränderlicher Stellung er-
halten wird. Die Bewegung des Stempels in dem Zylinderchen
wird nun mittels eines an dem letzteren angebrachten langen
Gummischlauches durch Luftverdichtung und -Verdünnung be-
wirkt. Dabei ist Sorge getragen, dafs die Bewegung jeweils nur
in einem Sinne erfolge, dafs also z. B. an ein Vorschlagen des
Stiftes sich nicht unmittelbar ein Zurückweichen anschliefsen
kann. Um nun aber die Fortpflanzung des Druckes und die
Strömungsrichtung in dem häutigen Kanäle ebenfalls zu einer
vollkommen eindeutigen zu machen, brachte Ewald nahe an der
Kompressionsstelle, gegen das glatte Bogengangende zu, eine
sogenannte Plombe an, durch die Endo- und Perilymphströmung
nach dieser Seite ausgeschlossen wird. Der kleine Apparat
wurde zuerst aus Stahl, später aus Glas verfertigt und war daher
' Ewald: Physiologische Untersuchungen über das Endorgan des
J^ervus octavuB. Wiesbaden 1892.
über Nacheinpfindungen im Gebiete des kinäsihetischen u. atatischen Sinnes. 377
auTserordentlich leicht. Der Anschlag des Stiftes, dessen Hub-
höhe nur 0,5 mm betrug, konnte auch an den empfindlichsten
Hautstellen nicht perzipiert werden.
Beim Versuche steht nun die Taube vollkommen entfesselt
in einem Drahtkäfig und wird durch den kleinen Apparat in
ihren Bewegungen absolut nicht behindert. Die Reizung ge-
schieht dann, ohne daCs die Taube durch irgend ein anderes
Sinnesorgan Kenntnis yon dem Vorgang erhalten würde. Der
Effekt ist nach Ewalds Worten folgender:* Der pneumatische
Hammer befindet sich über dem rechten Canalis extemus.
Zwischen ihm und dem glatten Ende ist eine Plombe eingesetzt.
Läfst man nun den Hammer anschlagen, ohne ihm eine Rück-
wärtsbewegung zu gestatten, so erfolgt eine starke bis 90^ be-
tragende Drehung des Kopfes nach links genau in der Ebene
des horizontalen Kanals. Zu dieser Drehung gesellt sich
niemals irgend eine andere Bewegung des Kopfes hinzu, auch
habe ich nicht ein einzigesmal gesehen, dafs die Bewegung in
umgekehrter Richtung erfolgt wäre. Gewöhnlich geht nach
dieser Bewegung der Kopf unmittelbar darauf in die
Normalstellung zurück.* Wir ziehen dann den Hammer
zurück und erhalten eine Kopfdrehung nach rechts, welche eben-
falls genau in der Ebene des Kanals abläuft, aber ungleich
schwächer als die erste Bewegung ist. Die beliebige Wieder-
holung ergibt immer mit gröfster Präzision das gleiche Resultat
Dabei machen die Augen stets eine mit dem Kopfe gleichsinnige
Bewegung. An den beiden anderen (vertikalen) Kanälen erhält
man ebenfalls Kopfbewegungen genau in der Kanalebene. Ein
Unterschied besteht nur darin, daTs an diesen Kanälen der Rück-
sprung des Hammers mit der starken, das Aufiachlagen mit der
schwächeren Reaktionsbewegung beantwortet wird.
In völlig analogen Versuchen fand Bbthb * auch am Hechte,
dafs der Kopf sofort wieder in die Normallage zurücksank.
Ganz dasselbe Resultat hatte Ewald übrigens auch bei einer
anderen Versuchsanordnung erzielt, nämlich bei dem „Präparat
der Brücke". So nennt Ewald jene Operationsmethode, bei der
» a. a. O. S. 264.
» Im Original nicht durch den Druck hervorgehoben.
" A. Bbthb: Über die Erhaltung des Gleichgewichtes. II. Mitteilung.
Biohg. Zentralblatt U, S. 580.
378 ^A^ ^^^9.
ein Stück eines knöchernen Kanals völlig herausgesägt wird, so
daTs nur mehr der (völlig intakte) häutige Kanal die beiden
Stümpfe brückenartig verbindet. Wird nun (Versuch 67)* der
häutige Kanal und zwar der horizontale, mit einer dünn ge-
schliffenen Pinzette an der freiliegenden Stelle komprimiert, so
erfolgt eine vehemente Drehbewegung des Kopfes. „LäCst man
die Pinzette geschlossen, so beruhigt sich das Tier soforf^
und man kann durch ÖflEnen der Pinzette die umgekehrte Be-
wegung hervorrufen.
Über die hohe Bedeutung, die diese so äufserst präzisen
Versuche sonst noch für die Theorie der Drehempfindung haben,
kann ich mich hier nicht verbreiten. Für uns ist zunächst
nachstehende Folgerung aus denselben von eminenter Wichtigkeit.
Bei allen Experimenten welcher Art immer, bei denen wir
eine länger andauernde Drehempfindung beobachten oder (bei
Tieren) aus der Analogie mit denselben Versuchen am Menschen
mit Sicherheit erschliefsen können, sehen wir der andauernden
Drehempfindung auch eine andauernde Beaktionsbewegung
parallel gehen. Dieselbe besteht aus einer dem Sinne der Dreh-
empfindung entgegengesetzten, anhaltenden Drehung des
Kopfes oder der Augen, häufig beider, eine Bewegung, die zu-
meist durch wiederholte kurze Ruckbewegungen in der Richtung
gegen die Normalstellung zurück unterbrochen und dadurch zu
einer intermittierenden gestaltet wird. Wenn wir also eine voll-
kommen ausgesprochene, jedoch nur ganz kurz dauernde Re-
aktionsbewegung sehen, so haben wir das volle Recht, auch auf
eine nur ebenso kurz dauernde Drehempfindung zu schUefsen.
Dabei ist noch zu bemerken, dafs der Reiz bei den besprochenen
Versuchen nicht einmal ein nur momentaner ist, da die Aus-
gleichung der Druckdifferenz von dem Bogengänge durch die
Ampulle in den übrigen Endolymphraum doch sicher eine ge-
wisse, wenn auch kurze Zeit in Anspruch nimmt. Wir haben
also in dem Versuchsergebnis den gesuchten Beweis gefunden
dafür, dafs eine durch einen kurzen Reiz (und zwar einen den
natürlichen Reizverhältnissen ganz analogen) ausgelöste Dreh-
empfindung keine Nachdauer von beträchtlichem Ausmafse
aufweist. Dagegen können wir allerdings mit Sicherheit an-
* a. a. O. S. 211.
* Im Original nicht gesperrt gedruckt
über Nachempfindungen im GtbieU des Idnäethetischen u. statischen Sinnes. 379
nehmen, dafs die Empfindung gleich der aUer übrigen Sinnes-
organe den Reiz nm ein Geringes (Bruchteil einer Sekunde)
überdauert. Doch wird sich das exakte AusmaTs dieser Nach-
dauer kaum bestimmen lassen, kommt aber für unsere Frage
nicht weiter in Betracht.
Wenn aber der Versuch in dem angegebenen Sinne be-
weisend erscheint — und er ist es wohl bei der klaren, ein-
deutigen Versuchsanordnung, dem präzisen, stets gleichmäfsigen
Erfolge und der Geschicklichkeit und Erfahrung des Experi-
mentators — so fällt damit die Möghchkeit, den galvanischen
Nachschwindel nur aus dem ÖfEnungsschlage abzuleiten (eine
Erklärung, die uns ja auch schon aus anderen Gründen sehr
unwahrscheinUch geworden war), es entfällt aber auch die
Möglichkeit,, den Nachschwindel nach Rotationen
allein aus der die Rotation beschliefsenden nega-
tiven Winkelbeschleunigung durch eine angebliche
Nachdauer des Reizerfolges derselben zu erklären.
Ebenso unmöglich ist aber auch die Fortdauer des
Reizauslösungsvorganges (nach Breuers letzter
Hypothese, die Verschiebung der Cupula) und die An-
nahme einer hierauf beruhenden dauernden Nerven-
erregung. Denn der mechanische Auslösungsvorgang ist in
den geschilderten Versuchen sicherhch ein aufserordentlich inten-
siver, etwa dem eine sehr schnelle Rotationsbewegung einleiten-
den oder beendenden Ruck vergleichbar. Und dennoch hören
alle reaktiven Folgeerscheinungen sofort wieder auf.
Bewegungstäuschungen des kinästhetisehen Sinnes«
Bevor wir zur Betrachtung der bei Bewegung des ganzen
Körpers als solchen auftretenden Empfindungen und der hierher
gehörigen Bewegungstäuschungen übergehen, welch letztere das
Hauptziel unserer Untersuchung sein sollen, scheint es aus bald
ersichtlichen Gründen angezeigt, eine Gruppe von Beobachtungs-
tatsachen zu besprechen, die sich auf die Empfindungen der
Relativstellung und Relativbewegung der Körperteile unterein-
ander bezieht, im besonderen auf die in diesem Gebiete auf-
tretenden Bewegungstäuschungen. Eine Deutung dieser letzteren
in der hier unternommenen Art und Ausdehnung wurde meines
Wissens bisher nicht versucht. Wir werden aber bald sehen,
dafs die beiden Gruppen von Bewegungsempfindimgen sowie die
380 JETan« Ahds.
betreffenden Sinnestäuschungen weitgehende Analogien aufweisen«
was ja leicht verständlich ist bei dem Umstände, dsSa es sich in
beiden um innere Tastempfindungen handelt. Stellen
wir uns doch auch das Labyrinth resp. den Vestibularapparat
gewissermafsen als inneres Tastorgan vor. Die Analogie wird
für unsere Betrachtung um so fruchtbringender sein, als die hier
zu besprechenden Fakten sozusagen einfachere Exempla der
unser Hauptthema bildenden Probleme darstellen, und so zu
deren Verständnis wesentlich beitragen können.
Die hier einschlägigen Versuche wurden zuerst von Pükkinjk
angestellt und späterhin von Mach in mannigfach variierter Form
wiederholt, und zwar von letzterem zu dem Zwecke, um nach-
zuweisen, dafs die Muskelempfindungen nicht die Ursache der
Bewegungsempfindungen (in dem Sinne: Bewegung des ganzen
Körpers) seien. Was Mach hierbei kurz Muskelempfindungen
nennt, ist identisch mit dem, was wir jetzt als Leistungen des
sogenannten kinästhetischen Sinnes betrachten, an welchen jedoch
aufser den Muskelempfindungen sensu strictiori noch mannig-
faltige innere Tastempfindungen, wie der Nerven des Periostes,
namentlich aber aller die Gelenke konstituierenden Gebilde be-
teiligt sind. Wir werden sogar in folgendem nur jene Versuche
betrachten, bei denen die eigentlichen Muskelempfindungen keine
wesentliche Rolle spielen können, um nicht auf die komplizierende
Frage der Muskelinnervation, von der ja die Muskelgefühle auch
abhängen dürften, uns einlassen zu müssen. Doch können wir
bemerken, dafs auch die übrigen Versuche ein ähnliches Resultat
ergeben und demgemäfs wohl eine übereinstimmende Erklärung
zulassen. Alle Versuche Machs bestehen darin, dafs auf einen
Körperteil eine konstante Kraft in geradliniger Richtung oder
im Sinne eines Drehungsmomentes einwirkt. Derselben wird,
sofern dies zur Erhaltung der Stellung des Körpers und seiner
Teile notwendig ist, durch aktive Muskelspannung das Gleich-
gewicht gehalten. Wird nun die Kjraft ziemlich rasch auf Null
reduziert, so hat man eine der Richtung dieser Kraft entgegen-
gesetzte Bewegungs- resp. Drehempfindung. Die Versuche, welche
wir nach obigem Prinzip auswählen, sind*:
Versuch 2. Mit jeder Hand fafst man mittels einer be-
quemen Handhabe ein Blechgefäfs, welches ca. 4 kg Wasser
* a. a. O. S. 71 und 72.
über Nachempfindungen im Gebiete des kinäathetiachen u. statischen Sinnes. 381
hält und unten ein Abflufsrohr besitzt. Auf ein Kommando
werden beide Quetschhähne gleichzeitig geöffnet und das Wasser
fliefst in untergestellte Behälter ab. Man verspürt hierbei nament-
lich gegen das Ende des Versuches, weil da in der Zeiteinheit
der gröfste Bruchteil des noch vorhandenen Gewichtes abfliefst,
«ine deutliche Erhebung der Arme. Weiter
Versuch 6. Man befestigt quer über den Kücken an beiden
Schultern eine Holzleiste; an beiden Enden der Leiste rechts
und links hängt eines der Gefäfse. Beim Abfliefsen meint man
sich zu strecken und sich aus dem Boden zu erheben.
Es ist nun von grofsem Interesse, auch die Schilderung,
die Purkinje a. a. O. S. 101 über analoge Erfahrungen gibt, an-
zureihen. „Wenn man in jeder Hand ein r^ativ sehr schweres
Gewicht aufgehängt hält imd genau auf die Empfindung des
Zuges achtet, der durch die Schwere verrursacht wird, so scheint
«s, wie wenn von Moment zu Moment eine Zulage am Gewichte
geschähe, bis es zuletzt unmöglich ist, die ins Ungeheuere an-
gewachsene Last zu halten." „Wenn man die Gewichte eine
Zeitlang stehend gehalten hatte, und sie nun wieder niederstellt,
«0 scheint es, wie wenn man in gerader Linie aufwärts schweben
möchte ; dabei scheint es, wie wenn die Hände, die herabreichend
•die Gewichte hielten, beträchtlich verkürzt würden, und wie in
den Thorax einkriechen müfsten."
Aus dem Zusammenhalt der Schilderungen beider Autoren
•ergibt sich, dafe die eigentümlichen, täuschenden Empfindungen
schon während der Herabminderung der einwirkenden Kraft ein-
setzen, um nach völligem Erlöschen derselben im selben Sinne
fortzudauern, ein Faktum, das wir für spätere Betrachtungen
festhalten wollen. Femer sieht man, dafs bei den obigen Ver-
suchen das eigentliche Muskelgefühl keine oder nur eine sehr
nebensächliche Rolle spielen kann. Denn auch in Versuch 2
{die Arme wurden offenbar, da nicht anders bemerkt, senkrecht
gehalten, so wie bei Purkinje) dient die ünterarmmuskulatur
nur dazu, die Hand geschlossen zu erhalten, während das be-
schriebene Gefühl hauptsächUch nur in den grofsen Gelenken
des Armes ausgelöst werden kann. Auch ist diese Sonderstellung
der beiden Versuche dadurch gekennzeichnet, dafs bei ihnen
offenbar nicht, wie Mach für die übrigen bemerkt, „alle diese
Drehungen sehr stark empfunden, aber nur unmerklich aus-
geführt werden". Es gibt eben überhaupt keine Muskeln, die
382 ^a'» ^^^*
den Arm oder den ganzen Körper verkürzen oder verlängern
könnten.
Eine Erklärung der geschilderten Erscheinungen, zum min-
desten eine Zurückführung auf die nächsten Ursachen, bietet
sich, wie mir scheint, von selbst, wenn man sich eine klare Vor-
stellung der dabei sicher vor sich gehenden Veränderungen macht.
Die wichtigsten Nachrichten bezieht der kinästhetische Sinn offen-
bar durch jene Nerven, deren Endigungen teils in den Gelenk-
enden, teils in den die übrigen Gelenkwandungen bildenden
Bändern und Bindegewebsmassen liegen. Diese Nerven werden
bei den verschiedenen Stellungen bzw. Bewegungen der Gelenke
durch Druck (an den Gelenkenden) und durch Zug (in den
Bändern) gereizt ujd vermitteln so die Vorstellung von der Lage
der Gelenke, eventuell auch von Zug- oder Druckkräften, welche
von aufsen auf dieselben einwirken. Dabei stehen diese Nerven
naturgemäfs partienweise in einem antagonistischen Verhältnisse,
indem bei vermehrter Reizung einer Gruppe eine entsprechende
andere stets vermindertem Beize ausgesetzt ist und umgekehrt.
Betrachten wir nun die obigen Versuche, die, wie hier gleich
bemerkt sei, für das betreffende Individuum natürlich recht un-
gewohnte Verhältnisse schaffen. Eine Reihe von Gelenken — im
ersten Falle diejenigen des Armes, im zweiten die Grelenke und
Bandscheiben der Wirbel, die Gelenke der unteren Extremität,
übrigens auch die Gebilde der Plantae — werden einer beträcht-
lichen Zug- resp. Druckkraft ausgesetzt. Was hat dies für Ein-
flufs auf die Nervenerregungen? Von den beiden Hauptgruppen,
den auf Druck und den auf Zug ansprechenden Nerven, werden
die einen in erhöhtem MaTse erregt, während die anderen in
einen fast oder völlig reizlosen Zustand versetzt werden. Wird
nun in raschem Übergange in den Gelenken wieder der normale
Spannungszustand herbeigeführt, so werden dabei die vorher un-
gereizten Nervenpartien plötzlich wieder in Erregung versetzt,
während die Erregungsstärke der gereizten rasch abnimmt Dabei
wird nun, wie wir gesehen haben, in dem einen Fall ein Heben,
ein teleskopartiges Zusammengeschoben werden der Arme, in
dem anderen ein Strecken und Emporheben des ganzen Körpers
empfunden, welche Empfindungen auch noch bei Wiedereintritt
des Ruhezustandes der Gelenke fortdauern. Worum es sich nun
hier in letzter Instanz handelt, ob etwa um passagere Gewöhnung
oder vielmehr um Überreizung (im Hinblick auf PüEKnsrjm
über Nachempfindungen im Gebiete des kinäathetischen u. statischen Sinnes, 383
Schilderung) mit folgender Ermüdung und üntererregbarkeit der
vorher stark gereizten Nerven bzw. vielleicht der ihnen zuge-
ordneten Zentren, ob auf der anderen Seite eine Übererregbar-
keit der durch einige Zeit selbst vom normalen Gewebsdruck
entlasteten und dann wieder erregten Nervenapparate im Spiele
sein mag, wollen wir hier nicht imtersuchen. Uns genügt die
Konstatierung der Tatsache, einer Tatsache übrigens, die in der
Sinnesphysiologie mannigfaltige Analogien hat: Wird der Er-
regungszustand der zwei verschiedenen Nervenpartien, deren
Empfindungen sich in der Ruhe das Gleichgewicht halten, sich
gegenseitig auslöschen, durch eine von aufsen wirkende Kraft
für einige Zeit verschoben und wird sodann wieder zum Aus*
gangszustand übergegangen, so überwiegen die Empfindimgen
der eine Zeitlang ungereizt gebliebenen Nervengruppen; es ent-
steht gewissermafsen als negatives Nachbild die Empfindung
einer der Richtung jener Kraft entgegengesetzten Bewegung.
Sicherlich ist dabei die Gewöhnung mit in Betracht zu ziehen.
Bei jemandem, der gewöhnt ist, schwere Lasten zu tragen, auf-
zuheben und wieder abzusetzen, wird man schwerlich nach
solchen Bewegungstäuschungen fahnden. Dagegen stellen sich,
wie ich aus eigener Erfahrung weifs, solche Empfindungen nicht
selten nach ungewohnten Turnübungen ein, späterhin jedoch
nicht mehr. Ein ebenfalls hierhergehöriger, jederzeit leicht an-
zustellender Versuch ist folgender; er ist dem von Mach S. 78
mitgeteilten, zu anderen Zwecken angestellten Experiment ähnlich.
Wenn man in einer Badewanne einige Zeit in sitzender oder
besser halbliegender Stellung verbracht hat, und läfst nun das
Badewasser, ohne dabei die Stellung zu wechseln, möglichst rasch
abflieJBen, so erscheinen einem sowohl der Körper als Ganzes,
wie auch die einzelnen Glieder von bleierner Schwere. Dabei
kann man bei einiger Aufmerksamkeit die Empfindimgen auch
ziemlich gut analysieren. Man bemerkt, dafs man erstens den
auf Haut, Periost usf. ausgeübten Druck an den mit der Unter-
lage in Berührung stehenden Körperteilen, dann auch an über-
einander liegenden Gliedmafsen überaus gesteigert verspürt;
femer wird z. B. die Last der Arme in den Schultergelenken in
ganz ungewohntem Mafse gefühlt, endlich auch der Druck in
der Wirbelsäule und dieser auf das Becken in ganz fremdartiger
Weise empfunden. Die Erscheinung ist sehr klar. Alle bei
diesen Gefühlen beteiligten Nerven bleiben während des Aufent-
1
384 ^(in$ Abels,
faaltes im Wasser in völliger oder fast völliger Ruhe, da die
Tragkraft des Wassers das Gewicht des Körpers und seiner Teile
auf ein Minimum reduziert, daher Haut und darunter liegende
Schichten in den aufliegenden Körperteilen nicht komprimiert,
die als Aufhängebänder des Armes im Schultergelenk dienenden
Teile nicht gedehnt, die Wirbelzwischenscheiben nicht gedrückt
werden usf. Der plötzUche Wiedereintritt all dieser mechanischen
Einwirkungen wird dann als etwas Ungewohntes in erhöhtem
Mafse empfunden. Das Experiment unterscheidet sich von den
früher erwähnten dadurch, dafs wohl normalerweise auf den
Körper wirkende Kräfte durch eine gewisse Zeit hindurch aus-
geschaltet, nicht aber neue, ungewöhnliche zur Einwirkung ge-
bracht werden. Der Effekt aber ist ein so bedeutender, weil die
Dauer jener Ausschaltung eine bedeutende ist.
Progresslybewegnngen.
Wenn wir übergehend zur Betrachtung des Bewegungs-
schwindels unser Augenmerk vor allem den Progressivbewegungen
zuwenden, so geschieht dies deswegen, weil wir erstens hier die
einfachsten Verhältnisse vorfinden, indem nur ein „Empfindungs-
element" in Betracht kommt, was, wie wir sehen werden, bei den
Rotationsempfindimgen nicht der Fall ist, und zweitens weil hier
sofort die auffallendste Analogie zu den zuletzt besprochenen
Bewegungstäuschungen des kinästhetischen Sinnes uns ent-
gegentritt.
Eine Progressivbewegung von gleichmäfsiger Geschwindigkeit
kann selbstverständlich mittels des Labyrinthes nicht empfunden
werden. Alle Massenteilchen des Körpers haben dieselbe Be-
wegungstendenz imd es können im Innern des Körpers keinerlei
gegenseitige Verschiebungen statthaben, durch die Nerven-
endigungen gereizt würden. Erst positive und negative Be-
schleunigungen führen zu solchen Verschiebungen und
mittelbar zu Empfindungen. Mach und Bbeueb haben dies an
mehrfachen Versuchen und Beobachtungen geprüft und bestätigt
gefunden, speziell auch bezüglich der vertikalen Progressiv-
bewegungen, die Mach an einem Apparate ähnlich einer Wage,
Bbeueb am Lift untersuchte. Eine mehr als momentane Nach-
empfindung wurde dabei nicht gefunden weder im positiven noch
negativen Sinne.
Von unserem Standpunkte am bemerkenswertesten sind nun
über Nachempfindungen im Gebiete des Idnöathetiscken u. statischen Sinnes. 385
die Versuche Machs, die eine möglichst fortgesetzte Reizung
durch eine Progressivbeschleunigimg in einer gleich bleibenden
Richtung zum Zwecke hatten. Dagegen müssen wir eine andere
Gruppe von Experimenten Machs, die in Form recht komplizierter
Rotations- oder richtiger Umschwungbewegungen — d. h. solcher
Drehbewegungen, bei denen sich der Beobachter in einiger Ent-
fernung von der Drehungsachse befindet — ausgeführt sind,
eben aus diesem Grunde erst der Erörterung der Drehempfin-
dungen nachfolgen lassen, da in denselben nach meiner Ansicht
die beiden Klassen von Empfindungen untrennbar verquickt sind»
Aus dieser Verquickung ist es, wie wir sehen werden, zu erklären,
dafs Mach zu der jedenfalls überraschenden und der vielfältigen
Erfahrung des täglichen Lebens widersprechenden Annahme
kommen konnte, dafs eine momentane (oder kurze) Progressiv-
beschleunigung eine mehrere Sekunden anhaltende Bewegungs-
empfindung auslösen sollte. Die auf eine reine fortdauernde
Progressivbeschleunigung sich beziehenden und daher auch voll-
kommen eindeutigen Versuche wollen wir nun mit Machs Worten
(a. a. O. S. 33) hierhersetzen.
„Zunächst wurde eine Fallmaschine konstruiert, welche als
eine Kombination der GALiLEischen und ATwoonschen bezeichnet
werden kann. Zwei Holzschienen von 22 m Länge und 2 m
Fall auf diese Länge waren als schiefe Ebene aufgestellt. Auf
den Aufsenseiten der Schienen lief ein einfacher Wagen für den
Beobachter, auf den Innenseiten ein zweiter niederer Wagen für
Gegengewichte unter dem ersten Wagen durch. Beide waren
durch eine Schnur, die über eine Rolle am oberen Ende der
Schienen ging, miteinander verbunden. Die ersten Versuche
lehrten, dafs jede Beschleunigung oder Verzögerung von dem
eingeschlossenen Beobachter empfunden wurde. Aber auch bei
sehr merklichen Beschleunigungen verschwand die Empfindung
bei Fortdauer der gleichförmig beschleunigten Bewegung. Eine
scheinbare Umkehrung der Bewegung für den einge-
schlossenen Beobachter, wenn der Apparat angehalten oder die
Bewegung gleichförmig wurde trat nur in sehr geringem
Mafse ein und war von kaum merklicher Dauer." Die erste
Folgerung aus obigen Ergebnissen, die auch Mach (a. a. O. S. 64)
selbst gezogen und in seiner Schrift vielfach verwertet hat, lautete :
Bei fortdauernder Beschleunigung (also fortdauerndem Reize)
tritt Erschöpfung der Bewegungsempfindung ein.
Zeitschrift für Psychologie 43. 25
386 Sans Abels.
Was aber bedeutet die nach gleichförmig werdender Be-
wegung eintretende Empfindung der Bewegungsumkehr, eine
Empfindung, die, wenn auch wenig intensiv vollkommen aus-
gesprochen gewesen sein mufs; sonst hätte sie Mach nicht er-
wähnt, da sie seinen übrigen Ergebnissen und Anschauungen
strikte widerspricht. Da die Empfindung nun schon beim Auf «>
hören vorher wirksam gewesener Beschleunigungen ohne Hinzu-
tritt irgend welcher anderer Beschleunigungen auftritt, so kann
es sich nur um eine negative Nachempfindung abhängig eben
von jener länger andauernden Reizung handeln. Eine andere
Deutung scheint mir wenigstens unauffindbar. Wiederum wird
eine Gruppe von Nerven dauernd gereizt und ermüdet, welch
letzterer Umstand ja in diesem Falle direkt aus der beobachteten
Abstumpfung der Perzeptionsfähigkeit hervorgeht; ob es sich
dabei um den Nerven selbst oder vielmehr eine seiner End-
stationen, eventuell noch etwas höhere Zentren handelt, kommt
für unsere Untersuchung wenig in Betracht. Bei eintretender
Reizlosigkeit wird nun nicht Ruhe, sondern Bewegung im ^[it-
gegengesetzten Siune wahrgenommen, ausgelöst von den jener
Gruppe antagonistischen Nerven, die während der Reizperiode
einem abnorm geringen Druck ausgesetzt waren, und daher, wie
man sich vielleicht vorstellen darf, ebenso überempfindlich wie
jene unterempfindlich sind.
Ich möchte hier nicht unterlassen eine Beobachtung mitzu-
teilen, die das Wesen der obigen Erscheinung in sozusagen noch
vergrölsertem Mafsstabe enthält, eine Beobachtung, die ich vor
Jahren vereinzelte Male bei verschiedenen Gelegenheiten machte,
ohne damals über die Ursachen des Phänomens mehr als eine
dunkle Ahnung zu haben.
Es kommt vor, dafs mit bedeutender Schnelligkeit fahrende
Eisenbahnzüge sich einer Station bis auf eine relativ geringe
Distanz nähern und dann erst durch ziemlich heftiges Bremsen
die Zuggeschwindigkeit in raschem aber ziemlich gleichmäfsigem
Tempo bis auf Null herabgemindert wird, so dafs also der Zug
zuletzt nicht etwa in eine ganz schleppende Bewegung verfällt,
wie es sonst oft zu sein pflegt. Unmittelbar nach einem solchen
Anhalten verspürte ich nun gelegentlich eine einige Sekunden
anhaltende Vorwärtsbewegung, die im Gegensatz zu der
zum Stillstand gelangten mit der starken Erschütterung y&cl
Rädern imd Bremsen den Charakter eines sanften Hingleitens hatte.
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. atatischen Sinnes. 387
Die Verhältnisse liegen beim geschilderten Phänomen ebenso
klar oder vielleicht noch klarer als beim Versuche Machs, weil
hier vollkommene Ruhe (und nicht nur gleichmäfsige Geschwindig-
keit) auf eine Periode in einer gewissen Sichtung einwirkender,
fortgesetzter und recht bedeutender Progressiv beschleunigung
folgt, hier nämlich der negativen die Zugsgeschwindigkeit gleich-
mäfsig aufbrauchenden, also nach rückwärts gerichteten Be-
schleunigung. Es scheint, dafs das Zustandekommen des Phä-
nomens von sehr günstigen Bedingungen, vielleicht auch einer
gewissen Disposition abhängig ist, da ich es in letzter Zeit bei
darauf gerichteter Aufmerksamkeit, allerdings wahrscheinlich mit
den oben geschilderten nicht genügend übereinstimmenden Ver-
hältnissen nicht beobachten konnte.
Gerade dieses so überaus schwierige Auftreten von Nach-
bildern nach Progressivbeschleunigungen ermöglicht offenbar die
Promptheit, mit der rasch aufeinanderfolgende Progressiv-
bewegungen verschiedener Richtung, verschiedener Schnelligkeit
und verschiedenen AusmaTses perzipiert werden. Man stelle sich
nur einmal vor, was eine andere Art des Funktionierens für
Folge hätte.
Angenommen z. B., man wäre nach vorwärts gegangen oder
gelaufen und bleibe nun stehen. Entstände hierbei ein nur
einigermafsen dauerndes Nachbild (gleichgültig ob positiv oder
negativ) und man machte nachher einen Schritt in irgend einer
anderen Richtung, z. B. seitwärts, so würde diese neue Bewegung, ,
während ihres Verlaufes und nach Beendigung, durch die von
der früheren fortdauernde Nachwirkung eine völlig irrige Emp-
findung Uefern. Es hegt nahe den Unterschied des Verhaltens
der Progressiv- und Rotationsempfindungen mit der aufserordent-
lichen Häufigkeit und Mannigfaltigkeit des Vorkommens sowie
den oft grofsen Intensitäten (beim Laufen und Springen) der
ersteren im gewöhnlichen Leben in Zusammenhang zu bringen.
Rotationsbewegungen von solchem Ausmafs und
solcher Heftigkeit sind uns für gewöhnlich fremd,
wo hingegen wieder daran gewöhnte Personen, z. B. geübte
Tänzer oder geschickte Eisläufer, die mit rasender Geschwindig-
keit Pirouetten drehen, ihre Evolutionen wohl unterlassen würden,
wenn sie ihnen statt Vergnügen Marter durch quälende Schwindel-
erscheinungen bereiteten. Auf das Phänomen der Gewöhnung,
das ja den Anstofs zu vorliegenden Untersuchungen gegeben
25*
388 ^^^ '^^^•
hat, kommen wir nach Besprechung der Rotationsempfindungen
zurück.
Ist die Drehempflndmig eine einfache oder komplexe?
Wenn wir uns nun der Betrachtung der eigentUchen
Schwindelerscheinungen in specie des Drehschwindels zuwenden,
so sind wir gewärtig sogleich eine Einsprache zu vernehmen, die
etwa so lauten könnte: Angenommen, es sei bewiesen, dafs eine
momentan erregte Drehempfindung keine längere Nachdauer be-
sitzt, zugegeben auch, dafs bei den bisher angeführten Gruppen
von Bewegungstäuschungen, namentlich auch beim galvanischen
Nachschwindel die Erscheinungen kaum anders zu deuten sind,
denn als eine Folge der vorangegangenen längeren Reizung, dies
alles zugegeben, sehen wir doch beim Drehschwindel zunächst
keine Möglichkeit der Analogisierung mit jenen Tatsachen. Denn
wo haben wir hier jene längere Reizung? Nehmen wir doch
an, dafs eine Empfindung lediglich durch die Winkelbeschleu-
nigung, bei der Rotation also nur im Anfange und am Ende
ausgelöst wird; auch ist gegenüber dieser kurzen Reizung die
Zeit der Rotation lang genug, um eine vollkommene „Erholung",
von der Anfangsreizung eintreten zu lassen.
Diesen Einwendungen gegenüber ist zu bemerken, dafs schon
mit der Vornahme jener Konstatierungen, falls dieselbe als ge-
lungen erachtet wird, etwas geleistet wäre. Wir müfsten eben
dann auch für den im Gefolge von Rotationen auftretenden
Nachschwindel nach einer anderen Erklärung suchen, als die-
jenige ist, welche ihn auf einen momentanen Reiz zurückführen
will. Ich hoffe jedoch, Anhaltspunkte zu dieser Erklärung auf-
zeigen zu können.
Zunächst müssen wir — mag dies auch nicht der wichtigste
Punkt sein — uns die Frage vorlegen, ob während einer längeren
Rotation, wenn wir auch nur die durch die reine Winkel-
beschleunigung auf das Labyrinth ausgeübte Reizung berück-
sichtigen, im allgemeinen völlige Reizlosigkeit angenommen
werden kann. Dies trifft nun bei der grofsen Mehrzahl der Ver-
suche sicherlich nicht zu. In den von Mach ausgeführten
Experimenten wird ein Holzrahmen, innerhalb dessen sich der
Sitz für den Beobachter befindet, um eine vertikale Achse durch
«einen Gehilfen in Schwung versetzt und in Rotation erhalten.
Um diese letztere zu einer einigermafsen gleichmäfsigen zu
über Nackempfindtvngen im Gebiete des kinäa^Hscken «. statischen Sinnes, 389
machen, mufs die stete verzögernde Einwirkung der Beibung
offenbar durch häufige kleinere, beschleunigende Stöfse aus-
geglichen werden: Dafs diese nicht mehr als Drehimgen perzi-
piert werden, ist ein neuer Beweis zu den von Mach angeführten,
dafs die EmpfängUchkeit des statischen Organs (oder des damit
in Zusammenhang stehenden Nervenapparates) auch für Be-
schleunigungen sich rasch abstumpft. Dennoch sind diese ge-
ringen Irregularitäten in der Geschwindigkeit doch nicht ohne
Belang für die Entstehung der Schwindelerscheinungen. Auch
bei den Rotationsversuchen an Tieren, wenigstens insofeme die
Drehung durch Menschenhand, wenn auch mittels einer Über-
tragung vorgenommen wird, haben die obigen Bemerkungen in
gröfserem oder geringerem Ausmafse Geltung.
Die viel bedeutsamere Frage für uns ist jedoch die, ob
während der Drehbewegung tatsächlich nur die Winkel-
beschleunigung reizend auf den Vestibularapparat wirkt. . Die
Joitegorische Antwort darauf lautet : nein. Bei der Drehung des
Kopfes oder des ganzen Körpers um jede möghche Achse (mit
Ausnahme der einzigen, welche quer durch beide Labyrinthe
gelegt ist) wird mindestens ein Labyrinth, in der grofsen Mehr-
zahl der Fälle aber beide, gemäfs dem Umstände, dafs sie aufser-
halb dieser Drehungsachse gelegen sind, in mannigfacher Weise
einer durch die Zentrifugalkraft gegebenen Progressivbeschleuni-
gung ausgesetzt, da ja die Labyrinthe wie alle aufserhalb der
Rotationsachse befindlichen Körperteile um jene gewissermafsen
herumgeschwungen werden. Hierbei wird die Fliehkraft in den
verschiedensten Intensitäten und Richtimgen einwirken, je nach
Schnelhgkeit der Rotation, Lage der Achse und Gröfse des
Radius, und sehr häufig wird auf jedes der beiden Labyrinthe
eine Beschleunigung nach Stärke und Richtung in wesentlich
differenter Weise einwirken. Dafs nun solche durch die Flieh-
kraft gelieferten Beschleunigungen sicher perzipiert werden,
können wir aus dem Umstände entnehmen, dafs es ja hierdurch
ausgelöste Empfindungen sein müssen, welche die Vorstellung
der Vertikalen mitbestimmen, in jenen Rotationsversuchen, bei
welchen der Beobachter aufserhalb der Rotationsachse sich be-
endet. Aber auch für den Drehschwindel im engsten Sinne sind
diese Empfindungen von gröfster Bedeutung. Ewald betont,
jdafs der Drehschwindel viel stärker ausfällt, wenn sich ein Tier
am Rande der Rotationsscheibe befindet als im Zentrum; und
•390 Jan» Abels.
von dieser Tatsache haben sich wohl die meisten schon am so-
genannten Ringelspiele oder Karussell überzeugt, wo ebenfaUs
die Wirkung nach der Peripherie auffällig stärker ist als näher
der Mitte. Und doch ist in beiden Beispielen an der Peripherie
und im Zentrum selbstverständlich die Winkelbeschleuni-
gung genau dieselbe. Diese bisher für die Theorie wenig
beachtete Tatsache spricht entschieden dafür, dafs die durch die
FUehkraft ausgelösten Nervenreize auch bei der eigentlichen
Drehempfindung eine mchtige Rolle spielen. Eine solche An-
schauung bringt uns wieder einmal die Erfüllung jenes Prinzipee,
welches in der Sinnesphysiologie von jeher befolgt, jedoch von
Mach schärfer formuliert wurde und zum mindesten aulser-
ordentlichen heuristischen Wert besitzt, des Prinzipes nämlich,
entsprechend den verschiedenen Empfindungsqu alitäten audi
nach verschiedenen physiologischen Vorgängen zu forschen.
Nun sind bei der Apperzeption jeder im gewöhnlichen Leben
der Tiere und Menschen vorkommenden Drehbewegung sicbe^
lieh mehrere Empfindungsqualitäten für das Individuum von
Wichtigkeit und können auch zuweilen bewufst unterschieden
werden. Wir fühlen nicht allein die reine Winkeldrehung,
sondern ebenso das „Herumschwingen" des Kopfes oder ganzen
Körpers, da ja solche Drehungen fast nie um eine durch den
Schwerpunkt des Kopfes gehende Achse (in verstärktem Mause
gilt dies für die Tiere mit ihrem meist längeren und vorgeneigt^
Halse) vorgenommen werden, wenn auch, wie leicht ersichtlich
selbst in diesem Falle die peripheren Teile des Kopfes und so
auch die Labyrinthe zentrifugale Beschleunigungen erhalten.
Aufserdem ist noch mit der Annahme der Mitwirkung dieser
Empfindungsqualitäten ein Schritt in der Aufklärung jenw
Schwierigkeit gegeben, die darin liegt, dafs für das Verhalten
des Organismus doch hauptsächlich die Geschwindigkeiten mafs-
gebend sind, nach den bisherigen Anschauungen aber nur Be-
schleunigungen perzipiert werden können. Man half sich mit
der aus den früher angeführten Deduktion hervorgegangenen
Annahme, dafs die nach kurzem Reize fortdauernde Empfindung
gewissermafsen das Bild einer Geschwindigkeitsempfindung gebe.
Die aus unserer Annahme geschöpfte Auffassung scheint zweifel-
los naturgemärser. Jede Drehbewegung, die übrigens keineswegs
eine rein rotatorische zu sein braucht, sondern bei der die ein-
zelnen Körperpunkte ebensogut Stücke von Ellipsen oder
über Nachempfindungen im Gebiete des kinäBthetischen u, statischen Sinnes, 391
anderen Kurven beschreiben können, ruft eine aus verschie-
denen Reizmomenten sich herleitende und zusammensetzende
Empfindung hervor. Es beteiligen sich hieran ebensowohl die
durch die Zentrifugalkraft, wie die durch Winkel-
beschleunigung bedingten Sonderempfindungeu, wenn wir
so sagen dürfen. Die erstere deckt sich namentUch mit der
Vorstellung der Geschwindigkeit, welch letztere ja unter
sonst gleichen Umst&nden die Stärke der Zentrifugalkraft bedingt.
Femer vermittelt sie durch die Richtung, in der beide Laby-
rinthe von der Fliehkraft getroffen werden, die Vorstellung der
Lage der Rotationsachse und der Gröfse des Radius respektive
bei allmähhch zu- oder abnehmender Komponente während der
Bewegung, die Vorstellung von der Form der der Bewegung
zugrunde liegenden Kurve. Die der Winkelbeschleunigung ent-
sprechende Sonderempfindung hingegen registriert eindeutig den
Sinn, die Richtung der Drehung, sowie die im Anfange, am
Ende imd im Verlaufe eintretenden positiven und negativen
Geschwindigkeitsänderungen. Natürlich dürfen die beiden Emp-
findungsgattungen nicht voneinander getrennt, sondern sich er-
gänzend und mitbestimmend gedacht werden. Eine solche
Mitbestimmung sehen wir auch sonst allenthalben, besonders in
der Physiologie des Raumsinnes. ^ Die von dem Gesichts- oder
Tastsinn geUeferten Raumempfindungen werden z. B. stets durch
die Stellung oder Bewegung des Kopfes mitbestimmt. Ein
solches Zusammenwirken der Empfindungen für Progressiv- und
Winkelbeschleunigung haben übrigens schon Breuer*, Mach*
und HiTzio^ angenommen, ohne allerdings die hier gezogenen
Konsequenzen in Erwägimg zu ziehen. Lisonderheit Mach
bespricht das Verhältnis der Empfindungselemente zu dem
Empfindungs komplexe, Termini, deren wir ims hinfort eben-
faUs bedienen wollen; und weist nach, dafs mit fortschreitender
Erkenntnis, sowie Erfahrung des Einzelnen die Fähigkeit all-
mählich zunimmt, aus den Komplexen die Elemente immer
mehr „herauszufühlen^.
Kehren wir nun zu unserem Ausgangspunkte zurück, so
» Mach a. a. O. S. 89 u. S. 96.
« Bbbüke: Über die Funktion der Otolithenapparate. Pflügers
Archiü 48.
• Mach a. a. O. 8. 112.
* Hitzig; Der Schwindel. Wien 1898. S. 24.
392 ^an$ Äbda.
können wir es allerdings als bewiesen annehmen, dafs bei Dreh-
bewegongen auch in Momenten, da keinerlei Winkelbeschleuni-
gung einwirkt, im allgemeinen nicht Reizlosigkeit angenommen
werden darf.
Bei allen durch die Lebensgewohnheiten gegebenen Dreh-
bewegungen oder richtiger Bewegungen mit Drehung, also allen
solchen, die nicht reine Progressivbewegungen darstellen, ist es,
da dieselben meist kurz sind und auch selten mit von An&ng
bis zu Ende gleichbleibender Geschwindigkeit ausgeführt werden,
leicht ersichtUch, dafs die beiden Empfindungselemente fast stets
nebeneinander laufend zusammenwirken werden ; und selbst wenn
für eine kurze Zeit die Bewegung mit gleichbleibender Winkel-
geschwindigkeit erfolgen sollte, kann dies nicht störend werden»
weil die Richtung der Drehung doch durch die unmittelbar
vorher zur Geltung gekommenen Reize bestimmt ist, der Emp-
findungskomplex gewissermafsen durch jene ergänzt wird. Ganz
anders jedoch steht es mit einer dauernden Rotation. Damit
schaffen wir vöUig abnorme Verhältnisse, indem die beiden
Empfindungselemente in einer unter gewöhnlichen Lebensver-
hältnissen des Individuums nie vorkommenden Weise sozusagen
dissoziiert werden, die auf der FUehkraft beruhenden Reize
dauernd ohne solche von der Winkelbeschleunigung hervor-
gerufene^ zur Einwirkung gelangen. Wie reagiert nun der
Organismus auf diese abnormen Verhältnisse? Betrachten wir
nach dem Vorbilde Machs die Rotation mit Ausschlufs der Ge-
sichtswahmehmungen, um mögUchst einfache Bedingungen zu
schaffen. Die eingeleitete Bewegung wird in vollkommen richtiger
Weise perzepiert, solange positive Beschleunigungen statthaben.
Ist aber einmal die Geschwindigkeit eine gleichmäfsige geworden,
so wird die von der Zentrifugalkraft herrührende — nennen wir
sie kurz Umschwungempfindung — durch die vorhergehende
«igentUche Drehempfindung in der oben angedeuteten Weise
noch durch kurze Zeit ergänzt. Dies hält aber nicht lange an,
sondern wenn keine neue Winkelbeschleunigung angreift, wird
die Drehung gewissermafsen — Mach selbst bedient sich dieses
äufserst bezeichnenden Wortes — vergessen, und die durch
die Zentrifugalkraft ausgelösten Reize nur mehr als Änderung
^ Mit Ausnahme etwa jener geringen früher erwähnten und später
noch in ihrer Bedeutung zu würdigenden Irregularitäten der Geschwindigkeit.
tJber Nachempfindungen im Gebiete des kinästheti8<^en u. statischen Sinnes. 393
der Richtung der Vertikalen empfanden. Es ist daraus ohne
weiteres klar, warum wir nach Aufhören der Winkelbeschleunigimg
eine rasch abnehmende Drehempfindung haben. ÄhnUches spielt
sich ab, wenn während der Drehung positive oder negative
Winkelbeschleunigungen eintreten. Wie aber steht die Sache
bei vollkommenem Anhalten der Drehung?
Wir können in diese Betrachtung nicht eingehen, bevor wir
nicht die Frage erörtert haben, wie sich das statische Organ
gegenüber der länger einwirkenden Zentrifugalkraft verhält, ob
hier auch auf Ermüdung^ deutende Symptome oder nachfolgende
entgegengesetzt gerichtete Empfindungen beobachtet werden
können.
Rotatorische Nachempflndangen.
Von vornherein spricht schon eine grofse Wahrscheinüchkeit
dafür, dafs wir dergleichen Erscheinungen auffinden werden.
Zeigt ja die Empfindung für Progressivbeschleunigung — und
die Zentrifugalkraft wirkt im Sinne einer solchen — nach Machs
Versuchen eine auffallende Abnahme auch bei gleichbleibendem
Reize, also eine entschiedene Erschöpf barkeit, die, wie wir ge-
sehen haben, die konsekutive Entstehung von negativen Nach-
bildern veranlafst. Glücklicherweise erhellt dieses Faktum aber
auch schon aus der Beobachtung der Umschwungbewegungen
und ihrer Folgeerscheinungen. Wird man um eine vertikale
Achse in einer gewissen Entfernung von derselben geschwungen,
z. B. mit dem Gesichte der Rotationsachse zugewendet, so hält
man bekanntlich seinen eigenen Körper, sofern er senkrecht
steht, für nach aufsen geneigt, und wenn derselbe nicht genügend
unterstützt ist, kompensiert man diese vermeintliche Neigung und
hiermit die tatsächliche Gefahr, nach hinten überzufallen, durch
eine Vorneigung des Körpers, d. h. man stellt eben, wie immer,
die Längsachse des Körpers mit der Resultierenden der Massen-
beschleunigungen parallel. Wird nun die Umschwungbewegung
angehalten, so beobachtet man, falls ein anderer sich dem Ex-
^ Wenn wir in dieser Arbeit den Terminus Ermüdung gebrauchen, so
jBOÜ damit durchaus kein Urteil über die der Erscheinung wirklich zugrunde
liegenden Vorgange gegeben werden. Wir gebrauchen den Ausdruck nur,
am den umständlicheren aber genaueren zu vermeiden der lauten würde:
Folgezustand nach einer in einem gewissen Sinne sta tgehabten längeren
Beizung.
394 J^ans Abels,
periment unterworfen, eventuell aber auch an sich selbst, ganz
deutlich eine Rückwärtsneigung des Körpers, offenbar wieder als
Kompensation einer vermeintlichen Vorneigung, nur dafe
hier diese Kompensation nicht auch zugleich ein wirkUcheB
Mittel zur Erhaltung des Gleichgewichts darstellt, sondern viel-
mehr gerade die Gefahr, hintenüber zu stürzen herbeiführt. Man
kann die Erscheinung oft schon recht deutlich an des Tanzens
Ungewohnten sehen, indem hier eben, wenigstens beim Tanzen
zu zweien, eine Umschwungbewegung im obigen Sinne vorliegt,
wobei die Achse zwischen beide Personen fällt.
Dafs Nachempfindungen nach den von der Zentrifugalkraft
ausgelösten Beizen so deutlich auftreten, ist nebst anderen schon
aus dem Grunde leicht erklärlich, weil eben die hierher gehörigen
Versuchsanordnungen es erlauben, auf viel einfachere Weise und
auf längere Zeit Progressivbeschleunigungen einwirken zu lassen
als irgend eine andere Experimentiermethode.
Haben wir so die Beteiligung des durch die Zentrifugalkraft
ausgelösten Empfindungselementes an der Drehempfindung und
das Auftreten einer Nachempfindung auf längere Reizimg d«r
betreffenden Nervengruppen hin zum mindesten sehr wahrschein-
lich gemacht, so können wir auch über die nach Unterbrechung
einer länger fortgesetzten Drehbewegung zur Geltung kommenden
Verhältnisse eine Vorstellung zu gewinnen suchen.^
Zugleich mit dem der negativen Winkelbeschleunigung ent-
sprechenden Empfindungselement wird eine den Charakter „Um-
schwung" tragende Nachempfindung entstehen, von welcher wir
ja in Analogie mit jenen sehr ähnlichen Nachempfindungen im
^ Wir müssen es uns leider versagen, hier auf eine Grappe von ex-
perimentellen Tatsachen näher einzugehen, welche eine dauernde Ite-
aktion selbst bei einer mit gleichbleibender Geschwindigkeit erfolgenden
längeren Rotation erkennen, und somit auf eine trotz mangelnder Winkel«
beschleunigung fortdauernde Beizung der gemeinhin nur als Perzeptions-
organe für Winkelbeschleunigungen angesehenen AmpuUarnervenendigangen
Bchliefsen lassen. Es würde eine dauernde Reizung auch dieser Nerven-
endigungen während einer gleichmäfsigen Rotation (also offenbar auch
durch Zentrifugalbeschleunigungen) natürlich die Analogie des Drehnach-
Bchwindels mit den anderen besprochenen Erscheinungstatsachen, besonders
dem galvanischen Nachschwindel, zu einer noch viel vollständigeren machen.
Da diese Frage aber eine noch völlig ungeklärte ist, müssen wir dieselbe
einer weiteren experimentellen Untersuchung vorbehalten, die zugleich
wichtige Aufschlüsse über die Art des Reizauslösungsvorganges in dw
Ampulle verspricht.
über Nachempfindungen im Gebiete dea kinäathetischen u. staiiat^en Sinnes, 396
Grebiete des kinästhetischen Sinnes annehmen müssen, dafs sie
sehen während der Herabminderung der Zentrifugalkraft auf-
tritt, wenigstens gegen Ende hin, um dann nach völligem Er-
löschen der Fliehkraftkomponente in demselben Sinne weiter zu
dauern. Diese beiden Empfindungselemente, das mit dem Index
„Winkelbeschleunigung" und das mit dem Index „Umschwung",
wenn wir uns so ausdrücken dürfen, verschmelzen nun offenbar
zu einem Empfindungskomplex; und wenn nun auch das eine
Empfindungselement („Winkelbeschleunigung") bei der völligen
Sistierung der Drehung wegfällt, so wird doch in gewohnter
Weise der Empfindungskomplex dadurch nicht gestört, und es
wird noch durch einige Sekunden die Empfindung einer Gegen-
drehung anhalten. Wir kommen also zu genau derselben Vor-
stellung wie über die Empfindung bei Beginn der Drehung.
Wozu allerdings noch das sicher sehr wirksame Moment der
Umkehrung des Empfindungselementes „Umschwung" und Ver-
wandlung in sein negatives Nachbild kurz vor gänzlicher Auf-
hebung der Drehung hinzutritt.
Die in den bisherigen Ausführungen enthaltene Annahme
ergibt sich wohl mit Notwendigkeit, wie schon früher angedeutet
wurde, aus den Lebensbedingungen des Organismus. Es mufs
sich ja ziemlich häufig ereignen, dafs auch bei aktiven Dreh-
bewegungen das Empfindungselement „Winkelbeschleunigung"
durch Gleichförmigwerden der Bewegung auf Sekunden wegfällt,
und dennoch fühlen wir diesen Ausfall keineswegs, sondern sind
über die Richtung der Bewegung, über deren Schnelligkeit wir
wieder aus der Umschwungempfindung Kenntnis haben, voll-
kommen orientiert. In diesem Sinne also könnte man tat-
sächlich von einer Art Fortdauer der erregten Winkelbeschleuni-
gungsempfindung reden. Es wäre dies aber gewissermafsen nur
eine Fortdauer der zentralen Verwertungsmöglichkeit, nicht aber
vielleicht das Andauern einer wirklichen Erregung vom End-
organe aus oder im Nerven, von der doch nach Ewalds Ver-
suchen keine Rede sein kann. Übrigens ist die seinerzeit von
Mach geäufserte Ansicht recht ähnlich, da er ebenfalls an eine
zentrale Ursache des Fortbestandes der Drehempfindung dachte,
dabei aber nur übersah, dafs dieser Fortbestand an das Vor-
handensein eines zweiten Empfindungselementes, das vorher mit
jenem zu einem Empfindungskomplex verschmolzen war, ge-
knüpft ist, und ohne dieses nicht statt hätte.
396 ffans Abels.
Das Wenige, was über die hierbei mafsgebenden zentralen
Vorgänge, deren genaueres Verhalten uns natürlich zunächst
dunkel bleiben, noch gesagt werden kann, wollen wir nach Be-
sprechung der übrigen Faktoren, und speziell der Gewöhnung,,
anschliefsen.
Ein weiteres Empflndimgselement der Drehempflndung.
Es ist nun erforderlich noch ein anderes ebenfalls bei jeder
Drehbewegimg in Spiel kommendes Empfindungselement zu be-
sprechen, das wir bis jetzt, um die Sache nicht zu sehr zu kom-
>^ phzieren, unerwähnt gelassen haben. Be-
trachten wir nebenstehendes Schema, in
3/ ,''* rl dem die kleinen Ej-eise die beiden Laby-
"^ — "^^ }^ rinthe vorstellen. Es werde eine Drehung
'\^ im Sinne des Pfeiles um die Achse O^ ein-
^* geleitet. In diesem Falle wirken zunächst
die schon besprochenen Ejräftekomponenten i. e. die Winkel-
beschleunigung auf beide Labyrinthe in derselben Richtung und
Stärke, und die Zentrifugalkraft, die in der Richtung nach links hin
und zwar stärker auf das linke als auf das rechte Labyrinth zur
Geltung kommen wird. Aufserdem greift aber noch, wie sofort er-
sichtUch, eine Progressiybeschleunigung an, welche ebenfalls stets
auf das von der Achse entferntere Labyrinth stärker als auf
das näher gelegene wirkt, und deren Richtung in dem obigen
Falle eine parallele und gleichsinnige ist (durch die kurzen Pfeile
angedeutet), während bei Lage der Rotationsachse zwischen den
Jjabyrinthen (O^) sie eine parallele und entgegengesetzte wäre
und schliefslich bei einer anderen Stellung der Rotationsachse
etwa in Og die durch die punktierten PfeUe angedeutete Richtung
hätte, natürUch stets senkrecht auf dem von der Achse zum
Labyrinth gezogenen Radius, also zusammenfallend mit der dem
E[reisbogen, in dem sich das Labyrinth bewegt, angelegten
Tangente. Diese Progressivbeschleunigung wird natürlich nur
so lange und in dem Ausmafse vorhanden sein, als eine Winkel-
beschleunigung in dem ganzen System zur Geltung kommt und
aufhören sowie etwa eine gleichmäfsige Rotation eintritt. Das
dieser Progressivbeschleunigung entsprechende Empfindungs-
element wird offenbar zur Unterstützung der von den speziell
Winkelbeschleunigung perzipierenden Nerven gelieferten Emp-
findung dienen. Doch ist uns seine Betrachtung, abgesehen da-
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 397
Ton, dar» sie einen Fingerzeig dafür abgeben könnte, auf welche
Weise bei niederen Tieren, die wohl zwei getrennte Statozysten-
:apparate aber keine Bogengänge besitzen, die Perzeption der
Drehbewegungen vor sich gehen dürfte, noch durch folgende
Überlegung von Wichtigkeit.
Die Angriffspunkte der besprochenen Bewegungskomponente
als einer Progressivbeschleunigung sind wahrscheinlich dieselben,
welche auch bei der Perzeption der Zentrifugalkraft mittels des
Labyrinthes in Frage kommen. Damit scheint wiederum eine
grofse Wahrscheinlichkeit gegeben dafür, dafs die betreffenden
Reizungsvorgänge, dadurch, dafs sie offenbar einem und dem-
selben relativ beschränkten Zentrum zugeführt werden, physio-
logisch sehr innig verknüpft sein dürften. Darin aber haben
wir eine wirksame Illustration zu unserer Annahme, dafs ein
-einem bestimmten Bewegungsvorgang entsprechender Empfin-
dungskomplex wahrscheinlich durch das zeitweilige Ausfallen
•eines Empfindungselementes nicht wesentlich alteriert wird.
Hier ist auch der Ort, jene eigenartigen Experimente Machs
•einer Betrachtung zu unterziehen, auf Grund deren er zu der
gegenüber unserer täglichen Erfahrung recht paradoxen Annahme
kommen konnte, dafs auch kurz erregte Progressivempfindungen
•eine bedeutende Nachdauer besitzen. In diesen Versuchen^
spielt nämlich das Empfindungselement , das uns zuletzt be-
schäftigt hat, die wichtigste Rolle. Die Versuchsperson befindet
sich in einem Rotationsapparate und zwar in einiger Ent-
fernung von der Achse und wird nun in der Richtung des Radius
vor- oder rückwärts verschoben. Auch dem zweiten Versuche
liegt das gleiche Prinzip zugrunde, indem dasselbe erzielt wird,
als wenn der Beobachter plötzlich in das Zentrum des ganzen
Rotationsapparates versetzt wäre. Es wird nämlich die Drehung
des ganzen Apparates angehalten, der Beobachter aber behält,
in einem zweiten kleineren, exzentrisch am grofsen Apparate an-
gebrachten Rotationsrahmen sitzend, seine Winkelgeschwindigkeit
bei. Welche Empfindungselemente, und in welcher Kombination,
kommen nun bei diesen Bewegungen in Betracht? Zunächst ist
es klar, dafs das Empfindungselement der eigentlichen Winkel-
beschleunigung, soweit wir uns dies von den Bogengangs- resp.
Ampullamerven ausgelöst vorstellen, dabei gar nicht erregt wird,
* Mach a. a. O. S. 34 u. 35.
398 ^at» Abels.
da die Winkelgeschwindigkeit stets dieselbe bleibt. Dagegen wird,
da der Beobachter in ziemlicher Entfernung yon der Rotations*
achse sich befindet, das durch die Zentrifugalkraft ausgelöste
Empfindungselement, die „Umschwungempfindung^, in beträcht«
liebem Mafse erregt, resp. bei Annäherung zum Zentrum oder
völliger Sistierung des Umschwunges Nachbilder von dieser Form,
ausgelöst. Aufserdem aber wird durch die gesteigerte oder herab-
geminderte tangentiale Progressivgeschwindigkeit (deren Gröfee»
wie früher erwähnt, natürhch von der Entfernung vom Rotations-
mittelpunkt abhängt) Empfindungen nach der Art des von uns
früher erörterten dritten Empfindungselementes bei Drehempfin-
dungen ausgelöst. Der einwirkende Reiz dauert natürhch nur
so lange als die betreffende Verschiebung resp. das Anhalten
des grofsen Apparates Zeit erfordert. Dennoch dauert die
Empfindung der bezüglichen Progressivbewegungen einige Se-
kunden nach.
Gerade diese Fortdauer aber bietet uns die beste Gewähr
für die Richtigkeit unserer bisherigen Annahme. Wissen wir
doch eben von den Progressivempfindungen durch die Erfahrungen
des tägüchen Lebens und durch die in einem früheren Abschnitte
erwähnten Versuche, dafs dieselben falls allein ausgelöst keine
deuthche Nachdauer, sondern nur bei abnormer Inanspruchnahme
ein negatives Nachbild liefern. In den obigen Versuchen aber,
bei denen sie zugleich mit einem anderen Empfindungselement
ausgelöst werden, welches sie seiner Natur nach überdauern mufs,
zeigen sie eine deuthche Fortdauer. Es kann also tatsächUch
nur jene Verquickung mit einem anderen Empfindungselement,
die wie früher ausgeführt, aus anatomischen und physiologischen
Gründen eine besonders innige sein mufs, die Ursache für das
veränderte Verhalten der Progressivempfindung enthalten. Nicht
aber kann der Grund dafür, wie bisher meist angenommen wurde,
in der ziemlich bedeutenden bei diesen Versuchen angewendeten
Geschwindigkeit gesucht werden. Man denke nur daran, was
für erkleckhche Geschwindigkeit plötzlich gehemmt wird, wenn
man aus einiger Höhe herabspringend am Boden anlangt, und
trotzdem ist hier von einer Nachempfindung nichts zu bemerken.
Noch sei hier eine Bemerkung gestattet, die den bisherigen
Ausführungen insonderheit dem Problem der Verquickung zweier
Empfindungselemente auf Grund einer Analogie vielleicht mehr
Klarheit verschaffen kann. Wenn wir uns zum Gehen oder
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. QQQ
Laufen (mit gleichförmiger Geschwindigkeit) in Bewegung setzen,
so können wir nur anfangs, solange die Beschleunigung dauert
eine Bewegungsempfindung durch den Vestibularapparat erhalten.
Im weiteren Verlaufe aber stammt unsere Bewegungsempfindung
offenbar nur aus unseren intentionellen Bewegungen. Dennoch
bildet die Bewegungsempfindung ein gleichförmiges Kontinuum^
imd wir sind uns unbefängenerweise nicht bewuTst, dal's sich
dieselbe erst aus zwei und später nur aus einem Faktor zu-
sammensetzt.
Anteil der Empflndungselemente am Nachschwlndel.
Die Erklärung, die wir bisher vom Drehschwindel geben
konnten, wird man, wenn sie auch mit den Tatsachen völlig
tibereinstimmend und durchaus plausibel erscheint, kaum als eine
erschöpfende bezeichnen. Erschöpfend aber kann sie schon aus
dem Grunde nicht sein, weil der Bewegungs- und in specie der
Drehschwindel auf Grund der bisher dargelegten Argumente
sowie vieler noch weiterhin beizubringender, unbedingt als eine
wahrscheinlich sogar sehr kompUzierte nervöse Erscheinung^
aufgefafst werden mufs. Zwar glauben wir dartun zu können,
dafs dem einzelnen Empfindungselemente eine zu ihm im
Verhältnisse negativ : positiv stehende also genau entgegengesetzt
gerichtete Nachempfindung entspricht. Diese einfachen Be-
ziehungen gehen aber, sowie wir einen Schritt weiter tun, sofort
verloren und zwar abgesehen von anderen schon einzig durch
den Umstand, dafs diese Einzelnacherapfindungen durch eine
beliebige länger dauernde Bewegung (die nicht eine reine Pro-
gressivbewegung ist) in einem untereinander verschiedenen Mafse
hervorgerufen werden, so dafs dann den höheren Zentren im
Stadium der Nachempfindungen ein Komplex von Empfindungs-
elementen in ungewohnter und oft sogar widersprechender* Zu-
^ Dafür sprechen ja auch die jeden stärkeren Drelischwindel be-
gleitenden yasomotoriBchen und anderen Nebensymptome.
' Ich mache hier nur auf das eine Faktum aufmerksam, dafs die von
der Rotationsachse zu den beiden Labyrinthen gezogenen Strahlen, welche
die Richtungen der durch die Zentrifugalkraft ausgelösten Empfindungs-
elemente bedingen, zwar manchmal annähernd paraUel sind, zumeist aber
einen mehr minder grofsen Winkel einschliefsen. Treten nach Aufhören
d^r Drehung die entgegengesetzten Empfindungeelemente auf, so finden
wir natürlich in jener Richtung der Strahlen, in welcher, um uns bildlich
400 ^^M ^Mb.
sammensetzung übermittelt wird, welcher Umstand seinerseits für
uns zunächst völUg unübersehbare Folgen nach sich ziehen mafe.
Wir werden kaum fehl gehen, wenn wir mit diesen ver-
wickelten Verhältnissen die Tatsache in Verbindung bringen,
dafs die Empfindung eines Nachschwindels (abgesehen vielleicht
von solchen nach reinen Progressivbewegungen) kaum je an Be-
stimmtheit und Deutlichkeit die Empfindung einer realen Be-
wegung erreicht, eine Tatsache, die nach der jetzigen Theorie
völlig unverständlich bliebe, da ja in beiden Fällen genau die
gleichen mechanischen Veränderungen am statischen Organe
und dem entsprechend auch dieselben nervösen Vorgänge statt-
haben sollen. Man hat, um das geläufigste Beispiel zu erwähnen,
sehr häufig beim Nachschwindel das deutliche Gefühl des Ge-
drehtwerdens eventuell sehr heftig Gedrehtwerdens, und. zu
gleicher Zeit eine nur undeutliche, manchmal dem Sinne nach
sogar zweifelhafte Empfindung der Richtung, in welcher diese
Drehung stattfindet, ein Verhältnis, das man namentlich in den
späteren Stadien einer Schwindelempfindung häufig konstatiert
Nach obigen Erörterungen ist dies wohl darauf zurückzuführen,
dafs nur jene Nervenelemente, welche die „Umschwung"empfin-
dung vermitteln, dauernd gereizt werden, und eine Na<^-
empfindung hinterlassen können, während die Empfindung der
Drehungsrichtung wahrscheinlich nur aus der vorhergehenden
negativen Winkelbeschleunigung ergänzt wird, was, wie wir schon
früher zu vermuten Anlafs hatten, wohl nur in geringem MaGse,
namentlich aber nur auf kurze Zeit geschieht.
Die beste Bestätigung für die dargelegten aus subjektiven
Beobachtungen hervorgehenden Anschauungen bieten die objektiv
an gedrehten Tieren zu konstatierenden Verhältnisse. Ich setze
die wichtigsten Punkte der Darstellung Ewalds über Rotationa-
versuche an Tauben hierher, mit welchen meine Ergebnisse bis
auf unwesentliche später zu erwähnende Momente übereinstimmen.
Wird eine sehende oder seit einiger Zeit blinde Taube mit
mäfsiger Geschwindigkeit gedreht, so tritt der bekannte Kopf-
nystagmus (Bkeüeb) auf. Derselbe besteht zunächst aus der der
auszudrücken, jetzt jedes Labyrinth die Rotationsachse sucht oder hin-
verlegt, keinen Schnittpunkt heider Strahlen und es hat daher diese neue,
dem Nachschwindel zugrunde liegende Rotationsachse keine reale sondern
nur eine imaginäre Stellung im Räume.
über Nachempfindungm im Gebiete des kinästhetUchen w. statischen Sinnes. 401
RotationsrichtUDg entgegengesetzten, langsamen Drehbewegung
des Kopfes um eine vertikale Achse, die sogenannte Reaktions-
bewegung, die bei einer gewissen Stellung und bei gleichbleiben-
der Schnelligkeit der Rotation auch stets nur bis zu einer ge-
wissen Gröfse des Ausschlages führt, welche durch den Reaktions-
endwinkel (Ewald) bestimmt erscheint. Von diesem Punkte aus
geschieht dann die kurze, zuckende Bewegung gegen die Aus-
gangsstellung hin. Es ist dies die Nystagmusphase Ewalds. Ihr
Ausmafs bleibt weit hinter dem jener ersten (Reaktions) Bewegung
zurück, und es beträgt der Nystagmuswinkel meist bedeutend
weniger als die Hälfte des Reaktionsendwinkels. Hieran schliefst
sich wieder eine Reaktionsbewegung, die aber nun ebenfalls nur
das Ausmafs des letzterwähnten Nystagmuswinkels besitzt usf.
Der ganze Vorgang spielt sich also in einer weit aus der Aus-
gangsstellung nach einer Seite hin verrückten Position ab. Bei
langsamer Rotation bleibt nun der Nystagmus in gleicher Weise
bestehen, solange auch die Rotation andauert. Wird dieselbe
plötzlich unterbrochen, so geht auch der Kopf fast unmittelbar
in die Normalstellung zurück. Bei schnellerer und länger fort-
gesetzter Rotation verschwindet jedoch der Nystagmus meistens.
Dauer der Rotation und Greschwindigkeit derselben ergänzen sich
hierbei in gewissem Grade, müssen aber beide über einem ge-
wissen Minimum liegen. Unterbricht man nun plötzlich die
Rotation, so entsteht der Nachschwindel, d. h. der Kopf
pendelt eine Zeitlang erst schneller, dann langsamer hin und
her: Nachnystagmus oder wird einfach nach der anderen Seite
gedreht: Nachreaktion. Der Nachnystagmus (die bei weitem
häufigere Form, was Tauben anbetrifft) bewegt sich jedoch
durchaus nicht auf einer Seite des Tieres, sondern
pendelt um die Medianlinie. Nur die Mitten der einzelnen Be-
wegungen liegen sämtlich auf derselben Seite, nämlich auf der,
nach welcher ursprünglich das Tier gedreht wurde. Dabei sind
die beiden Phasen des Nachnystagmus nicht deut-
lich in der Schnelligkeit verschieden. Ich selbst konnte
eine solche Verschiedenheit, wenn sie auch viel geringer als beim
Rotationsnystagmus selbst war, doch noch deutlich konstatieren,
was, wie wir noch sehen werden, in der abweichenden Versuchs-
anordnung seinen Grund und daher auch seine Bedeutung für
die Erklärung haben dürfte. Die obige Schilderung, welche die
-charakteristischen Unterschiede des Nachnystagmus gegenüber
Zeitsohrift fdr Psychologie 43. 26
402 Sans ÄbeU.
dem während der Drehung auftretenden ^ dartut, ist sicher der
treffendste Ausdruck dafür, dafs in dem ersteren, dem Nach-
nystagmus, viel mehr Qualitäten, die auf eine Empfindung des
Gedrehtwerdens überhaupt, als solche, die auf eine
deutliche Empfindung der Dreh r i ch tun g hinweisen, au^e*
funden werden können. Denn die Unterschiede der beim Nach^
Schwindel in der einen und anderen Richtung ausgeführten
Einzelbewegungen sind nach AusmaCs, Schnelligkeit und Orien-
tierung zur Mittellinie sehr gering, wohingegen eben in dem
Bilde des Drehnystagmus der Ausdruck der Richtung eine so
charakteristische ist.
Ziehen wir nun zum Vergleiche die Erscheinungen des
galvanischen Schwindels und Nachschwindels heran, so er-
scheinen dieselben vollkommen geeignet, um ebensowohl als 'Et-
g&nzung wie als Bekräftigung der bisherigen Erfahrungen uns
zu dienen. Dank den exakten Untersuchungen und genauen
Beschreibungen von Jensen wissen wir, daCs die Form und Art
der Aufeinanderfolge der Bewegungen einerseits während und
andererseits nach Einwirken des galvanischen Stromes voll-
kommen identisch sind, und dafs der einzige Unterschied
* Es sei hier gestattet, einige Worte über die bei Ewald und auch
anderen Autoren häufig vorkommende Verwendung des Ausdrucks „Dreh-
schwindel** einzufügen, die leicht su irrtflmlichen Deutungen AnlaCs geben
könnte. Ewald bezeichnet häufig den Nystagmus während der Rotation,
als Drehschwindel. Nun ist es doch zweifellos, dafs gerade während dieser
schon vom ersten Momente der Drehung auftretenden Nystagmusbewegungen
keinerlei eigentliches Schwindelgefühl vorhanden ist, wie wir ja auch aus
der Analogie mit dem Menschen entnehmen können, bei dem das Schwindel-
gefühl gerade erst dann deutlich wird, wenn die Reaktionsbewegungen (hier
der Augen) zu erlahmen beginnen, und dafs gerade in dem Zustandekommen
dieser Periode auch die Ursache für das Entstehen des folgenden Nach-
schwindels gesucht werden muls^ worauf wir dann auch späterhin zurück-
zukommen haben werden. Fraglos hat auch Ewald diese Verhältnisse voll-
kommen richtig überschaut, da er selbst den Satz aufstellt: Der Nach-
schwindel wird durch den Nystagmus verhindert, ohne diesen tritt er un-
fehlbar auf. Dennoch kann ich meine Bedenken über den obigen Aus-
druck nicht unterdrücken. Da man gemeinhin mit dem Worte „Dreh-
Schwindel** die beim Drehen allein oder die beim und nach dem Drehen
auftretenden Schwindelerscheinungen bezeichnet, so Wäre es wohl besser,
den während der Drehung, also vor dem Schwindel auftretenden Nystagmus
nicht auch unter diese Bezeichnung mit einzubeziehen, sondern hierfür
etwa Ausdrücke wie: Drehnystagmus, Reaktionsnystagmus , Reaktions-
phänomen oder dergleichen zu gebrauchen.
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetisdien u. statischen Sinnes, 403
in dem schwächeren Auftreten der Nachschwindelerscheinungen
besteht, so dafs die Öffnungsdauerreaktion eines etwas stärkeren
Stromes fast völlig mit der Schliefsungsdauerreaktion eines
schwächeren sich deckt, abgesehen von dem entgegengesetzten
Vorzeichen. Wir könnten auch kaum ein anderes Verhalten er-
warten. Bei der galvanischen Durchströmung der Felsenbeine
werden sicherlich die verschiedenen Nerven oder richtiger Nerven-
gruppen, welche normalerweise bei Auslösung der einzelnen
Empfindungselemente (Empfindung der Progressivbeschleunigung,
Winkelbeschleunigung, des „Umschwunges", Lageempfindung,
von denen allerdings wahrscheinlich manche zusammenfallen) in
Funktion treten, gleichzeitig wenn auch in verschiedenem
Ausmafse gereizt. Wenn nun unserer Annahme gemäfs in diesen
Nerven (oder einer ihrer Endstationen) nach der Reizung ein
Folgezustand zurückbleibt, ähnlich dem bei anderen Sinnes-
organen beobachteten, mögen wir denselben nun Ermüdung,
Reparationsstadium, negatives Nachbild oder sonstwie nennen,
und dafs dieser Folgezustand die Ursache für den Nachschwindel
abgibt, so ist es klar, dafs beim Zustandekommen dieses letzteren
alle jene Nervengruppen in Betracht kommen werden, welche
durch den galvanischen Strom gereizt wurden, und zwar dafs
sie in eben demselben Verhältnisse zur Geltung konmien
müssen, in welchem der galvanische Strom auf sie einwirken
konnte. Der galvanische Nachschwindel mufs also aus diesem
Grunde im Gegensatze zu dem rotatorischen Nachschwindel das
getreue Abbild der während der Reizung auftretenden Erschei-
nungen sein, wenn auch in bedeutend verringertem Mafsstabe,
wie ja jedes Nachbild an Intensität weit hinter dem während
der Dauer des Reizes zu beobachtenden Reizerfolge zurückbleibt.
Aber noch mehr ! Wir verstehen jetzt ohne weiteres den Unter-
schied, den Jensen in den oben S. 287 zitierten Sätzen zwischen
dem galvanischen Schwindel und zwar ebensowohl der SchHefeungs-
wie Öffnungsdauerreaktion und andererseits den Erscheinungen
des Rotationsschwindels festgelegt hat. Der während und nach
galvanischer Reizung auftretende Nystagmus, um das Wichtigste
zu wiederholen, charakterisiert sich gegenüber dem rotatorischen
(abgesehen davon, dafs dieser ein Drehungs-, jener im wesent-
lichen ein Neigungsnystagmus ist) dadurch, dafs das Maximum
der reaktiven Abweichung von der Mittellinie, der Reaktions-
endwinkel Ewalds nicht mit einem Male, sondern erst im Ver-
26*
404 JTan« Abels,
laufe einer ganzen Reihe von Nystagmuszuckungen erreicht wird»
während welcher also jede Reaktionsphase gröfser ausfällt als
die Nystagmusphase. Es leuchtet nun wohl von selbst ein, daTs
dieser charakteristische Unterschied eben jener uns notwendig
erscheinenden Annahme entspricht, der zufolge bei den galvani-
schen Dauerreaktionen während des ganzen Verlaufes auch
die das Empfindungselement Winkelbeschlexmigung vermittelnden
Nervengruppen in Aktion sind, während dies bei Nystagmus
während und nach Rotationen nur im Anfange der Fall sein
kann. Wir sehen also in den galvanischen Nystagmusbewegungen
die Folge- oder Begleiterscheinungen der Empfindung einer
dauernd beschleunigten, also stets rascher, intensiver werdenden
Bewegung, und es ist begreiflich, wenn demgemäfs die Reaktions-
bewegungen an Extensität ebenso konstant zunehmen.
Eine ganz ähnliche Beobachtung hat übrigens Knt* bei
seinen am Menschen angestellten Untersuchungen gemacht. Er
sagt: Bei stärkeren Strömen bleiben Kopf und Körper in dieser
seitüch geneigten Stellung, ja die Seitenbewegung nimmt während
der Stromdauer sogar noch an Intensität zu. Wir haben hier
nur die Reaktionsbewegung, welche rein und nicht unterbrochen
von Nystagmusphasen zum Ausdruck gelangt, welch letztere am
Menschen nur bei den Augenbewegungen beobachtet werden
können.
Ich glaube, dafs die voranstehenden Ausführungen einiges
zur Aufklärung der verschiedenen Nystagmusformen beitragen
können.
Nachbild des Empflndungselementes ^Winkelbeschlennigang^.
Es erhebt sich nunmehr die berechtigte Frage, ob es denn
nicht möglich sein sollte, auch auf dem Gebiete des Bewegungs-
flchwindels durch geeignete Versuchsanordnung, also durch an-
haltende Reizung der dem Empfindungselemente „Winkelbe-
schleunigung" zugrunde liegenden Nervenpartien auf dem natür-
lichen, also mechanischen Wege zu Ergebnissen zu kommen, die
ein diesem Empfindungselemente entsprechendes negatives Nach-
bild darstellen würden. Einen Hinweis zu derartigen Ergebnissen
können wir schon in den oben erwähnten Abweichungen zwischen
* Knt: Untersuchungen ttber den galvanischen Schwindel. Archiv ßir
Faychiatrie 18, S. 691. 1887.
über Nachetnpfindungen im Gebiete des kinästheiischen u. statischen Sinnes. 405
Ewalds Versuchsresultaten bezüglich des Nachschwindels und
meinen eigenen erblicken. Der Unterschied in den Versuchs-
bedingungen war folgender. Während Ewald seine Tiere zu-
meist auf der Rotationsscheibe, also mit ziemlich gleichmäfsiger
Geschwindigkeit rotieren Uefs, gebrauchte ich in meinen Ver-
suchen — die ich zunächst zum Studium der Gewöhnungs-
bedingungen angestellt hatte — einen Apparat nach Art des
hängenden Käfigs Ewalds. Die Rotation geschieht dabei mittels
der Schnur, an der der Apparat hängt, während die Wand des-
selben den Augen des Versuchstieres möglichst wenig Anhalt
zur Fixierung geben dürfen. Bei meinem Apparate bestand die
Wand nur aus spärlich gespannten Bindfäden. Wollte ich nun
eine Taube längere Zeit nach einer Seite rotieren lassen, so
wurde sie in den Apparat gebracht, nachdem die Schnur ziemlich
stark nach der entgegengesetzten Seite torquiert war. Wurde
der Apparat losgelassen, so rotierte er mit lange anhaltender
Beschleunigung durch die im Seile hegende Spannung, so dafs,
damit die Rotationsgeschwindigkeit nicht zu grofs wurde, sogar
etwas gebremst werden mufste. Um die Rotation auch nach
Aufrollung der Schnur noch fortzusetzen, wurde die jetzt ent-
stehende Spannung der Schnur durch häufige kleine, in tangen-
tialer Richtung ausgeübte Stöfse am Apparate überwunden und
so die Drehung noch geraume Zeit unterhalten. Es waren also
während der ganzen Rotationsdauer sehr viele Momente in
Aktion, die zu einer intensiven und häufigen Inanspruchnahme
des Empfindungselementes „Winkelbeschleunigung** und zu einer
schhefsHchen Abstumpfung desselben beitragen mufsten. Ein
hiervon herrührendes negatives Nachbild wäre aber mit der
beim schliefslichen Anhalten des Apparates durch die negative
Winkelbeschleunigung ausgelösten Empfindung gleichgerichtet
\md müfste sich zu ihr addieren. Danach wäre verständüch,
warum in meinen Versuchen der Nachnystagmus eine viel deut-
lichere Schnelligkeitsdifferenz der beiden Phasen zeigte und
warum auch das Bewegungsfeld mehr nach einer Seite ver-
schoben erschien, warum also mit anderen Worten der Ausdruck
einer bestimmten Richtung in den Erscheinungen des Nach-
schwindels ein hervortretenderer war.
Sollte es nun nicht gelingen dieses negative Nachbild allein
für sich zur Beobachtung zu bringen? Dem stellen sich viele
Schwierigkeiten in den Weg, einmal weil ja die Auslösung der
406 ^^^ ^^^^'
reinen Drehempfindung stets notwendig mit anderen Empfindongs-
elementen verquickt ist, femer weil wir bei solchen Versuchen
zu grofsen Rotationsgeschwindigkeiten gelangen, die an und für
sich störend sind und für die es auch schwer hält, entsprechend
erschütterungsfreie und auch sonst vollkommene Apparate zu
konstruieren. Theoretisch stünden uns zwei Wege offen, analog
den beiden im Kapitel der Progressivbewegungen besprochenen.
Entweder man geht vom Ruhezustande aus und läfst durch einige
Zeit eine konstante Winkelbeschleunigung einwirken und schlielb-
lieh die erreichte Geschwindigkeit in eine gleichförmige übergehen
und beobachtet während dieser gleichmäfsigen Rotation. Oder
man geht umgekehrt von einer ziemlich hohen Rotations-
geschwindigkeit aus und mindert dieselbe allmähUch herab bis
auf Null. Im ersten Falle würde eine konstante positive, im
zweiten eine negative Winkelbeschleunigimg zur (Jeltung kommen.
Die zweite Möglichkeit nun fällt, wie die Versuche sofort lehren,
vollkommen weg. Das nach so grofsen Rotationsgeschwindig-
keiten natürlich sehr heftig erregte Umschwungsnachbild, das,
wie wir früher gesehen haben, offenbar schon vor Abschlufs der
Bewegung einsetzt und sich daher mit der zugleich bestehenden
(negativen) Winkelbeschleunigung zu einem Empfindungskomplexe
ergänzt, gibt nach dem Anhalten dieser sowie jeder anderen
Rotationsbewegung eine so übertäubende Empfindung des Zurück-
gedrehtwerdens, dafs das eventuelle Nachbild, welches ein Weiter-
drehen vortäuschen müfste, völlig verdeckt wird.
Bedeutend bessere Aussichten bietet uns der erst erwähnte
Modus, da ja in diesem Falle das durch die Zentrifugalkraft
ausgelöste Empfindungselement keine Umkehr erfährt, und es
daher möglich ist, die Empfindung der Winkelbeschleunigung
reiner, wenn auch nicht völlig losgelöst von anderen Empfindungs-
elementen zu betrachten. Ich konstruierte mir zu dem Zwecke
eine Art kleiner, schmaler Schaukel, an ziemlich dünnen, oben
zusammenlaufenden Leinen hängend, die eine oftmalige Tor-
quierung bei Drehung der Schaukel gestatteten. Nimmt nun die
Versuchsperson bei diesem Zustande (der Torquierung) auf der
Schaukel Platz (am besten in knieender Stellung, um die Ein-
wirkung der Zentrifugalkraft auf die peripheren Körperteile
möglichst zu beschränken) und läfst man die Schnüre sich auf-
drehen, so kommt eine beschleunigte Rotation zustande. Es ißt,
nm die Beschleunigung nicht zu heftig werden zu lassen und
Vher Nachempfindungen im Gebiete des kinäBtheHscJicn u. statischen Sinnes. 407
auf möglichst lange Zeit zu verteilen, sogar notwendig, anfangs
eine Art Bremsung wirken zu lassen, und erst, wenn die be-
schleunigende Kraft geringer geworden ist, den Apparat ganz
sich selbst zu überlassen. Hält nun die Versuchsperson die
Augen geschlossen, während eme zweite die Beschleunigungs-
phasen, so genau es möglich ist, beobachtet, so kann man
folgendes konstatieren. Ein Gefühl des Ruhens kommt bei so
grofsen Drehgeschwindigkeiten, auch wenn sie gleichmäfsig sind,
kaum zustande, sondern es bleibt stets eine gewisse Empfindung
des Herumwirbeins im Kopfe bestehen. Trotzdem heben sich
hiervon die Empfindungen einer Drehrichtung ziemlich scharf
ab. Die Perzeption der Winkelbeschleunigung wird, sobald selbe
einige Zeit angedauert hat, recht undeutlich. DaTs diese Emp-
findung das Bestehen einer Winkelbeschleunigung überdauert,
ist sicherlich nicht konstatierbar. Ob eine Umkehr der Be-
wegungsrichtung schon mit dem Eintreten gleichförmiger Dreh-
geschwindigkeit empfunden wird, läfst sich wenigstens bei dieser
Versuchsanordnung kaum mit Sicherheit sagen, wenn es auch
zuweilen den Anschein hatte, weil diese Drehungsphase — natür-
lich ungefähr zusammenfallend mit der völligen Aufrollung der
Schnüre — nicht genau genug präzisierbar und auch zu kurz
anhaltend ist. Dagegen fällt es sofort auf, mit welcher Intensität
schon geringe Verzögerungen (negative Beschleunigungen) emp-
funden werden. Diese Tatsache drängt wohl zu der gleichen
Folgerung, die sich uns auch bei den Bewegungstäuschungen
des kinästhetischen Sinnes dargeboten hat. Wenn von zwei durch
antagonistische Reizmomente zum Funktionieren zu bringen-
den Nervengruppen, sei dies nun durch Druck, Zug oder eine
andere Übertragungsform mechanischer Energie, die eine durch
längere — die unter normalen Lebensbedingungen vorkommenden
Verhältnisse überschreitende — Zeit gereizt wird, die andere
Gruppe aber ebenso lange selbst von dem im Ruhezustande auf
ihr lastendem Zug, Druck usw. entlastet wird, so ist wohl die
Vorstellung sehr einleuchtend, dafs nicht nur die einen Nerven-
partien in ihrer Leistungsfähigkeit abgestumpft, sondern auch
die anderen gewissermafsen hypersensibilisiert seien. Sicherlich
ist dabei weniger an die Nervenfasern, für die so rasche Elrreg-
barkeitsänderungen kaum anzunehmen sind, als an die End-
stationen derselben, in erster Linie die den Reiz aufnehmenden
und verarbeitenden Zentren zu denken.
408 ^(^'^ ^^«^*
Der oben vermerkten Beobachtungstatsache, dafs nach inten-
siven besonders mit sich steigernder Geschwindigkeit ausgeführten
Rotationen schon geringe negative Winkelbeschleunigungen auf-
fallend stark empfunden werden, können wir einen sehr illustra-
tiven Vergleich aus der Physiologie des Farbensinnes an die
Seite stellen. Wenn wir mit einem durch Betrachten eines inten-
siven Rot ermüdeten Auge auf eine komplementär gefärbte also
grüne Fläche bhcken, so erscheint uns deren Farbe viel gesättigter
als mit unermüdetem Auge betrachtet. Dafs aber auch schon
eine nicht different gefärbte (weifse oder graue) Fläche, sobald
wir ein farbenermüdetes Auge darauf richten, komplementär ge-
färbt erscheint, ist natürUch mit der Grunderscheinung unseres
Gebietes in Analogie zu setzen, derzufolge wir nach längerer
Rotation den wieder eingetretenen Indifferenzzustand, die Ruhe,
nicht als solche sondern als entgegengesetzte Drehung empfinden.
Aber noch für weitere Fakten gilt diese Parallele. Wenn wir
mit stark rotermüdetem Auge eine schwach rot gefärbte Fläche
betrachten, so erscheint uns dieselbe indifferent (weifs oder grau)
gefärbt. Diesem Phänomen entspricht wieder das von Mach in
seinen grundlegenden Versuchen erwähnte Experiment, demzufolge
man kurze Zeit nach Sistierung einer Rotation das aufgetretene
Gefühl der Gegendrehung zum Verschwinden bringen kann, wenn
man die Rotation in der ursprüngUchen Richtung wieder ein-
leitet, worauf „bei passender Wahl der Geschwindigkeit" wieder
der Indifferenzzustand i. e. Ruhe empfunden wird.
Aber auch der zeitliche Verlauf legt Vergleiche nahe.
Während die positiven Nachbilder nur selten von störender Länge
sind, dauern die Kontrastempfindungen auch bei anderen Sinnes-
organen eventuell, bei abnorm starken Reizen, noch längere
Zeit nach.
Wir sehen also die weitestgehende Analogie zwischen Nach-
schwindelerscheinungen und negativen Nachbildempfindungen
anderer Sinnesgebiete, wenn wir auch vermutlich für die Ent-
stehung derselben verschiedene Etappen des sensoneurotischen
Apparates verantwortlich zu machen haben. Zugleich werden
wir ims erinnern, dafs hiermit der anfangs erwähnte, so eigen-
tümliche Widerspruch eine Klärung erfährt. Auf der einen Seite
wies Mach die deutUche und sogar rasche Erschöpfbarkeit des
Perzeptionsorganes für Beschleunigungen nach, also Abnahme
der Empfindungsintensität auch bei fortdauerndem gleichen
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 409
Reize. Auf der anderen Seite aber sollte sich im Gegensatz
zu den übrigen Sinnesorganen nicht das Korrelat dieser Er-
scheinung in Form negativer Nachbilderscheinungen finden.
Ich glaube, dafs nach unserer Darstellung das analoge Walten
ähnhcher physiologischer Gesetze deutlich hervortritt, wenn auch
die Erscheinungen im Gebiete des statischen Sinnes stets eine
gewisse Sonderstellung einnehmen werden, in erster Linie durch
die komplizierenden motorischen Reaktivvorgänge, die ihre Be-
deutung nicht nur für das sinnfällige Wesen der hierher ge-
hörigen Erscheinungen, sondern auch für deren Genese haben
dürften.
In allen bisherigen Ausführungen haben wir, soweit dies
anging, namentlich die möglichst einfachen Fälle, d. h. passive
Drehung, bei guter Unterstützung des Körpers und Ausschlufs
der Gesichtswahmehmungen in Betracht gezogen. Bei aktiven
fortgesetzten Drehungen eines der Bewegung ungewohnten Indi-
viduums kommt eine ganze Anzahl von Faktoren hinzu. Nur
ein Beispiel. Nach dem Anhalten einer derartigen Drehung um
die vertikale Achse hat man, um Pübkinjes Worte zu gebrauchen,
die Empfindung, als „scheine im Körper eine fremde Kraft zu
walten, die denselben noch immer nach derselben Richtung mit
Gewalt umzudrehen strebt^, also eine umgekehrte Scheinbewegung
des eigenen Körpers als nach passiven Drehungen, während hin-
gegen die Augenbewegijpgen und die Scheinbewegungen der
Gesichtsobjekte dieselbe Richtung wie in den früher betrachteten
Versuchen zeigen. Wir werden vielleicht nicht fehl gehen, die
hier auftretenden Phänomene mit Muskelempfindungen in Zu-
sammenhang zu bringen. Diese aber und die ungewohnten Ge-
sichtswahrnehmungen liefern mit den vom Vestibularapparate
ausgehenden Empfindungen einen für unsere Methoden kaum
mehr analysierbaren Komplex, der um so schwerer deutbar wird,
als sich hier die Folgen der Zuleitung widersprechender Emp-
findungselemente zu den nervösen Zentren potenzieren müssen.
Wohl aber weisen uns alle diese scheinbaren Unregelmäfsigkeiten
der Erscheinungen um so mehr darauf hin, dafs der Schwindel
nicht eine einfache Folgeerscheinung einer mechanischen Un-
vollkommenheit des Endapparates der nicht akustischen Oktavus-
fasem, sondern eine auf Störung vielfacher Funktionen beruhende
nervöse Komplexerscheinung darstellt, von der einzelne Kon-
stituentien aufzuzeigen wir uns bemüht haben.
410 ^<a»w Abda.
Gewohnung. Yerhältnls yon Drehschwindel und Nachschwindel.
Die Tatsachen der Gewöhnung an Schwindel sind allgemein
bekannt. Eines der prägnantesten Beispiele bietet das Tanzen-
lernen. Viele Personen werden bei den ersten Versuchen tob
heftigem Schwindel und oft minutenlang andauerndem Nach-
Schwindel befallen. Doch innerhalb weniger Tage, sehr h&ufig
auch schon weniger Stunden eines Tages verschwinden diese Er-
scheinungen ganz oder bis auf geringe Spuren. Auffallend ist
es nun, dafs Tänzer, die selbst schon lange Zeit das gewöhnliche
(Rechts) Tanzen betrieben, wenn sie zum ersten Male im Links-
tanzen sich versuchen, gewöhnUch wieder älmliche, wenn auch
vielleicht schwächere Erscheinungen durchzumachen haben wie
bei ihren allerersten Tanzversuchen. Wird das Tanzen lange
Zeit nicht geübt, so bekommen empfindlichere Personen beim
Wiederaufnehmen dieselben Erscheinungen wie im Anfange;
nur geht die Angewöhnung meist viel rascher vor sich. Es war
wünschenswert, die obigen Verhältnisse auch objektiv am Tiere
nachzuweisen, wobei sich bemerkenswerte weitere Resultate tf-
gaben.
Die Versuchsobjekte waren Tauben. Die Anordnung sowie
das allgemeine Verhalten der Tiere wurden schon früher (S. 401,
405) geschildert. Die durchschnittliche Umdrehungsgeschwindigkeit
war ziemlich bedeutend. Das Hauptgericht wurde darauf gelegt,
nach je 2 — ^3 Dutzend Umdrehungen den Apparat plötzlich anzu-
halten, um das Tier speziell an diesen Akt zu gewöhnen. Die
Drehungen wurden mehrere Male des Tages wiederholt, so da&
jedes Tier im Laufe eines Tages mehrere Hundert Umdrehungen
zu absolvieren hatte, und dies wurde durch einige Ti^e fort-
gesetzt. Dabei wurde jedes Tier entweder nur rechts oder nur
hnks herum rotiert. Es konnte nun beobachtet werden, daCs die
anfangs recht stürmischen Erscheinungen beim Anhalten des
Apparates bald sich milderten und endhch auf einige wenige
Nystagmuszuckungen sich beschränkten. Wenn nun in diesem
Stadium ein Tier nach der ihm ungewohnten Richtung rotiert
wurde, so zeigte es wieder beim Anhalten dieselben stürmischen
Erscheinungen wie anfangs, Taumeln des ganzen Körpers, äu&ent
heftigen, lange anhaltenden Nystagmus. Hierin hätten wir nur
die Analogie mit den Erfahrungen am Menschen.
Es wurden mm aber auch Versuche mit AusschluTs der Ge-
über Nachempfindungen im Gebiete dee Mnästltetischen u. statischen Sinnes. 411
sichtswahmehmungen angestellt, indem der Apparat mit einem
Tuche ringsum verhängt wurde und nur oben eine ÖflEnung zur
Kontrollierung des Verhaltens der Taube gelassen wurde. Bei
derartigen Versuchen wird nun bekanntlich kein Nystagmus
während der Drehung beobachtet. Auch eine Reaktionsbewe-
gung tritt, wie Ewald gezeigt, nur spurweise in Erscheinung.
Beim Anhalten sind aber immer sehr heftige Nystagmuszuckungen
zu beobachten; und es ist nun auffallend, dafs die Intensität
dieser Zuckungen im Laufe der Tage viel weniger abnimmt als
bei den im offenen Apparat rotierten Tieren, dafs also die Ge-
wöhnung, wenn auch zweifellos vorhanden, wie sich beim nach-
herigen Rotieren in der ungewohnten Richtung ergibt, doch viel
weniger ausgesprochen ist als bei der ersten Versuchsserie.
Von sonst noch anläfslich dieser Versuche gemachten Be-
obachtungen möchte ich, wenn auch nicht strenge hierher ge-
hörig, eine nicht unerwähnt lassen. Während der Rotationen
im geschlossenen Apparate, wobei keinerlei Nystagmusbewegungen
auftraten, zuweilen auch bei offen rotierten Tieren, sobald der
Nystagmus sistiert hatte, wurde, wenn das Tier deutlich ex-
zentrisch und zwar mit einer Seite dem Zentrum zugekehrt
stand, eine, soviel mir bekannt, noch nicht beschriebene Kopf-
drehung regelmäfsig beobachtet. Wird das Tier mit dem Schwänze
voraus rotiert und zwar, nehmen wir an, nach rechts, so wird
der Kopf nach links gewendet, geht aber der Kopf voran, so
dreht er sich nach rechts; in beiden Fällen also wird er dem
Zentrum genähert. Es ist einleuchtend, dafs es sich hier nicht
um eine Reaktionsbewegung im bisher oft besprochenen Sinne
handeln kann. Sondern wir haben hierin eine Kompensations-
stellung analog der stets gleichzeitig zu beobachtenden leichten
Seitenneigung des ganzen Körpers gegen das Zentrum des
Apparates hin zu erblicken, die zur leichteren Erhaltung des
Körpergleichgewichtes dient. Würde nur der Körper einfach
zur Seite geneigt werden, so wäre bei der nicht unbeträchtlichen
Länge des Taubenkörpers in der Richtung von vorne nach hinten
doch die Wirkimg der Zentrifugalkraft nicht genügend paralysiert.
Es würde der Kopf noch stark nach aufsen geschleudert werden
und es bedürfte bedeutender Muskelanstrengung, um ihn in
seiner Lage zu erhalten. Wird der Kopf und Hals entsprechend
dem Elreisbogen, auf dem das Tier rotiert erscheint, mäfsig ein-
wärts gebogen, so schmiegt sich sozusagen der ganze Körper in
412 ff<^n8 Abels.
die Kegelfläche, in der er rotiert wird, und damit ist aus leicht
ersichtlichen Gründen die Muskelarbeit für die Erhaltung der
Körperstellung auf ein Minimum herabgesetzt. Es ist dies ein
interessantes Beispiel reflektorischer BeguUerung der Körper-
haltung durch sensible Eindrücke, hier wahrscheinüch Muskel-
empfindungen.
Was nun das Phänomen der Schwindelangewöhnung betrifft^
so haben wir schon früher gesehen, dafs die bisherige An-
schauungsweise für diese aus allem TatsächUchen, was wir über
den Schwindel wissen, so hervorstechende Erscheinungsgruppe
keine Erklärung geben kann. Für uns ist es aber nach allem
Vorgebrachten wohl völhg klar, daTs diese Gewöhnung wie eben
der Schwindel selbst nur in nervösen und zwar wesentlich zentralen
Vorgängen ihre Ursache haben kann. Einen weiteren Beweis
hierfür liefert uns eine aus den voranstehenden Tatsachen ab-
zuleitende sehr bemerkenswerte Regel. Wir überzeugen uns
nämhch beim Zusammenhalten dieser Tatsachen sofort davon,
dals die Gewöhnung um so leichter, rascher und vollständiger
eintritt, je mehr andere, die so ungewohnten Nachrichten des
Nervus vestibularis kontrollierende und ergänzende Sinnesein-
drücke resp. reguUerende Reflexmechanismen in Aktion treten.
Denn einmal sehen wir, dafs im Tierexperiment die Zuhilfenahme
der Gresichtswahmehmungen ein aufeerordentlich erleichterndes
Moment für den Eintritt der Grewöhnung bildet. Weiter aber
fällt es besonders auf, wie au&erordentUch leicht beim Menschen
— am Tiere werden derartige Versuche schwer ausführbar sein —
die Gewöhnung sich geltend macht, wenn die Bew^^ung eine
aktive ist. In diesem Falle haben wir eben eine ganze Reihe
weiterer Faktoren, nämlich die Bewegungsintention, die Nach-
richten des kinästhetischen Sinnes, die äufseren Tastempfindungen,
die den ungewohnten Erregungen vom Vestibularapparate aus
kontroUierend zur Seite stehen und ein rasches Zustandekommen
des richtigen Zusanunenarbeitens dieser mit jenen auch unter
den neuartigen Verhältnissen ermöglichen. Wir verstehen nun
auch, warum bei Versuchen analog jenen &Iachs, in denen bei
AusschluCs der Gresichtswahmehmungen und bei gut unterstütztem
Körper nahezu alle anderweitigen sensorischen Nachrichten fehlen,
die Gewöhnung nie in auffaUender Weise zustande kommen
konnte.
Dieselbe Anschauung, zu der wir durch obige Betrachtungen
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 413
hingeleitet wurden, hat Hitzig in äufserst prägnanter Form zum
Ausdruck gebracht. Er sagt in seiner zusammenfassenden Schrift
über Schwindel a.a.O. S. 24, 25: Die Funktion des Appa-
Tates ist auf Beschleunigung und zwar im wesent-
lichen aktiye Bewegungen von mittlerer Geschwindig-
keit und geringer Dauer eingestellt und mit der
iFtinktion der übrigen, die Orientierung im Baume
Termittelnden Apparate anatomisch aufs Innigste
i^erknüpft. Und: Täuschungen über das Verhalten
im Räume werden demnach sowohl durch den Aus«
fall und die krankhafte Veränderung jener anderen
Orientierungsapparate, als durch entsprechende
Yeränderung der normalen Erregungsbedingungen
^es statischen Organs herbeigeführt werden. Und
'dieser Darstellung Hitzigs, die nach meiner Anschauung eigent-
lich das Totum unserer Kenntnisse über die Rolle der nicht
nkustischen Labyrinthfunktionen im Organismus und deren
Störungen gibt, erübrigt es eigentlich nur noch so viel hinzu-
zufügen, dafs diesen Sätzen gegenüber für die Erklärung des
•Schwindels die Annahme einer weitgehenden mechanischen Un*
-Vollkommenheit des Endapparates nicht nur überflüssig ist,
«ondern auch zu mannigfaltigen Widersprüchen führt.
Auch zwei Forscher, die in neuester Zeit einige wertvolle,
xinbedingt in unserem Sinne sprechende Beobachtungstatsachen
iDcigestellt haben, konnten sich trotzdem zu keinem konsequenten
Aufgeben dieser Hypothese entschliefsen.
Wie vorher schon Bach,* der konstatiert hatte, dafs Nach-
iiystagmus bei normalen Individuen gebildeter Stände, bei
schwächlichen, leicht erregbaren, ängstlichen Individuen, und
solchen, die zu Schwindel neigen, viel leichter zu erzeugen ist,
als bei stupiden, phlegmatischen Personen, fand jüngst Rüppbkt,*
dafs dieser Nachnystagmus bei allen Personen, welche auch nur
lebhaftere Reflexerregbarkeit zeigen, schon nach geringerer An-
zahl von Umdrehungen auftritt und heftiger ist; ferner dafs er
oft durch die vom Tanzen her gewohnte Drehrichtung viel
schwächer erregt wird als durch die ungewohnte. Ruppebt ver-
legt den Vorgang resp. die Beziehung des Nachschwindels zum
* ZenfralbL f. Nervenheilk, 15 u. Archiv f. Ohrenheük. 80.
» J. RUPPBBT, Untersuchungen über den Drehnystagmus. Zentralbl f,
innere Medizin, 1906. Nr. 19.
414 Hans Abels.
Drehachwindel in den Muskelapparat und beruft sich auf die
abnorme Muskelermüdbarkeit der Neurastheniker. Wenn wir hier
anstatt auf die Muskehi wohl richtiger auf die motorischen Zentren
reflektieren, so berührt sich diese Anschauung allerdings innigst
mit der unserigen, die auch in erster Linie zentrale Störungen
annimmt, deren Zustandekommen natürlich, wie auch von uns
vielfach hervorgehoben, von der individuellen Disposition abhängt.
BAeIny verdanken wir die interessante Beobachtung, dafs
nicht nur, wie schon früher bekannt. Blicken in der Richtung
der langsamen (reaktiven) Bewegung des Nachnystagmus diesen
hemmt und dadurch natürlich auch den Gesichtsschwindel, sondern
dafs auch bei geschlossenen Augen die so zustande gekommene
Unterdrückung oder Verminderung des Nystagmus, das
Gefühl der Scheindrehung des eigenen Körpers ab-
schwächt. Er selbst sagt darüber:* „Würde die Empfindung
(der Scheindrehung) direkt in den Bogengängen ausgelöst, so
könnte ja die Stellung der Augen nicht von Einflufs auf diese
Empfindung sein. . . . Dieses einfache Experiment spricht also
auch gegen die herrschende Lehre." Trotzdem folgt B^lrany in
der letzten Arbeit* wieder den Darstellungen dieser Hypothese.
Die Funktionsbreite nun, für die der ganze der Raum-
orientierung dienende Apparat eingestellt ist, differiert selbst-
verständlich bei den verschiedenen Spezies und selbst den ver-
schiedenen Individuen einer Spezies, wie Ruppebts Versuche am
Menschen neuerlich bekräftigen. Wir sind an einem früheren
Punkte zu der Vermutung gelangt, dafs es bei längeren Rotationen
besonders die so ungewohnte Dissoziation der beiden wichtigsten
Empfindungselemente der Drehempfindung ist, die zum Anlasse
der Störungen wird, also das lange Fortdauern der durch die
Zentrifugalkraft bewirkten „Umschwungempfindung" ohne eine
gleichzeitige Empfindung von Winkelbeschleunigung. Nun ist
es gewifs sehr bemerkenswert, dafs bei solchen Tierklassen, in
erster Linie den Vögeln, bei welchen schon unter normalen
Lebensgewohnheiten, wie etwa beim fortgesetzten Kreisen in der
Luft eine derartige Dissoziation schon für gewöhnlich nicht
^ BiJtAKT. Beiträge zur Lehre von den Funktionen der Bogengänge.
Zeitschrift f, Sinnesphysiologie 41, S. 40.
* BÄRANT. Untersuchungen über den vom Vestibularapparat des Ohres
reflektorisch ausgelösten rhythmischen Nystagmus und seine Begleit-
erscheinungen. Motiatsschrift f. Ohrenheilk, 40.
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 415
selten eintreten muTs, die also mit anderen Worten an lang
donemde Bewegungen mit gleich bleibender Winkelgeschwindig-
keit gewöhnt sind, ein Drehschwindel durch Rotationen relativ
schwer zu erzeugen ist, wie verschiedene Autoren angeben.
Ein weiterer Fingerzeig dafür, was für Umstände bei dem
Zusammenwirken der einzelnen Empfindungselemente des sog.
sechsten Sinnes untereinander und andererseits dieser mit den
übrigen Regulationsmechanismen unter normalen und abnormen
Bedingungen mafsgebend sein dürften, wird uns noch geboten
durch die Betrachtung des Verhältnisses des Nachschwindels zu
dem während der Rotation auftretenden Drehschwindel. Wir
wissen aus subjektiver Beobachtung, dafs das Auftreten von
Nachschwindel so ziemlich parallel geht einem schon während
der Drehung sich geltend machenden Drehschwindel, und dafs,
insofern die Drehung nicht lange und intensiv genug ausgeführt
wird, um letzteren zu erzeugen, auch kein deutlicher Nach-
schwindel zurückbleibt. Das gleiche hat Ewald, wie schon oben
(8.401) erwähnt, objektiv an Tauben konstatiert; Nachschwindel
tritt nicht auf, wenn der normale, gewissermafsen kompensatorische
Nystagmus bei Rotationen bis zu Ende angehalten hat; das Auf-
treten des Nachschwindels erscheint also an das Erlahmen dieses
kompensatorischen Vorganges gebunden. Wenn wir nun die
Bedeutung dieses mit dem Nachschwindel offenbar so innig ver-
ketteten Drehschwindels beleuchten wollen, so fällt uns vor allem
auf, dafs die den Nachschwindel aus einer UnvoUkommenheit
des Endapparates erklärende Theorie für diesen Drehschwindel
überhaupt keine Erklärung hat oder nur versucht, ihn
einfach ignorieren mufs. Für unsere Anschauung hingegen be-
deutet die hier besprochene Erscheinungsgruppe die notwendige
Ergänzung aller früher erwähnten Tatsachen. Der Drehschwindel
ist eben der Ausdruck jener Störungen, die durch die ungewohnt
lange Einwirkimg und andererseits durch das ungewohnte Zu-
sammentreffen oder auch Ausbleiben einzelner Empfindungs-
elemente in den Zentren hervorgerufen werden. Und es ist ohne
weiteres einleuchtend, dafs diese Störungen eben erst dann ein-
treten, wenn der ganze auf die normalen Lebensvorgänge ein-
gestellte Nachrichten- und Regulationsapparat den ungewohnten
Eindrücken nicht mehr nachkommen, sie nicht mehr richtig ver-
arbeiten kann und daher auch die kompensierenden Reaktions-
bewegungen einstellt; und dafs wiederum die eingetretenen zen-
416 Sons Abels,
tralen Störungen auch nach Aufhören des Reizes noch einige
Zeit nachkUngen und jene uns bekannten Empfindungen und
Bewegungen hervorrufen.
Wenn also Bbeueb in seiner letzten Arbeit die Ansicht aus-
spricht, dafs Vögel „indem sie bei frei bewegUchem Kopfe die
von diesem vollzogene Drehung in eine Reihe kurzer, sehr rascher
Winkeldrehungen verwandeln, sie sich aUer desorientierenden
Wirkung der länger anhaltenden Rotation entziehen,^ so können
wir dem nur auf das Kräftigste beistimmen, müssen aber be-
merken, dafs dies ganz — aus unserer Anschauung heraus ge-
sprochen ist. Es ist allerdings im höchsten Grade plausibel, die
Bedeutung des Nystagmus darin zu suchen, dafs die dem Orga-
nismus ungewohnt lange mit gleichmäfsiger Winkelgeschwindigkeit
ablaufende Bewegung in eine Reihe kurzer dem Orientierungs-
apparat leichter zugänglicher (u. a. Vermeidung der Dissoziation
der Empfindungselemente) Drehbewegungen aufgelöst wird. Dafs
diese Deutung die richtige ist, geht schon aus dem Verhalten
anderer Spezies vor allem des Menschen unter den nämlichen
Bedingungen hervor. Hier ist es der Augennystagmus allein,
der die Rolle des Kopfnystagmus der Vögel übernimmt, und bei
nicht zu langen oder intensiven Drehungen durch die Reflexe
zur Erhaltung des Gesichtsfeldes und daher gewissermafsen durch
Zerlegung des Sehpanoramas in eine Reihe von Einzelausblicken
die Orientierung aufrecht erhält, und dessen Erlahmen ebenfalls das
Zeichen der Kapitulation des Organismus gegenüber den ungewohnt
einstürmenden, nicht mehr zu bewältigenden Eindrücken, das Ein-
treten der Desorientierung, des Schwindels darstellt. Und doch übt
hier natürlich das Auftreten oder die Sistierung des Nystagmus,
da er nur die Augen, nicht den Kopf selbst betrifft, nicht die
geringste Rückwirkung auf die Vorgänge im Vestibularapparate.
Im Lichte der voranstehenden Betrachtungen empfiehlt es
sich noch einige Erscheiuungsgruppen kurz zu besprechen, an
denen der Unterschied der neu gewonnenen Anschauungsweise
gegenüber den früheren Hypothesen besonders auffällig ist. Es
liefsen sich allerdings solche Beispiele beliebig vermehren. Doch
können wir hiervon wohl Abstand nehmen, da uns der Haupt-
grundsatz bezüglich der die Erregimgsursachen nicht wesentlich
überdauernden Drehempfindung durch die experimentellen Tat-
sachen genügend fundiert erscheint, es also hier nur auf Exempli-
fizierung nicht auf weitere Beweise ankommt.
I
über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 417
Die eine Erscheinungsgruppe bezieht sich darauf, dafs bei
Drehbewegungen in einer abnormen Körperstellung oder -Haltung
viel heftigerer Schwindel einzutreten pflegt als bei gleich schnellem
Drehen in normaler Haltung. ICreidl fand, dafs die Nach-
schwindelerscheinungen bei Fischen stets prägnanter waren, wenn
die Tiere mit dem Schwanz voraus gedreht worden waren. ^ Und
ebenso weifs man schon lange, dafs der Dreh- und Nachschwindel
beim Menschen viel stärker ausfällt, wenn die Drehung unter
veränderter Kopfstellung z. B. mit stark auf die Schulter ge-
neigtem Kopfe geschieht. Für die bisherigen Hypothesen sind
diese Fakten gänzlich unverständlich, da ja die Winkelbeschleu-
nigungen die gleichen geblieben sind, und also auch die mecha-
nischen Nachwirkungen auf den Nervenendapparat sich nicht
verschieden gestalten können. Hingegen erkennen wir ohne
weiteres, dafs es sich in diesen Fällen um eine Verkettung be-
sonders ungewohnter Empfindungselemente, einerseits des stati-
schen Organes untereinander, andererseits solcher mit den Emp-
findungen anderer Sinnesorgane handeln mufs, und damit um
eine besondere Inanspruchnahme und wahrscheinlich frühzeitige
Erlahmung der perzipierenden und regulierenden Zentren,
Ein anderes hierher gehöriges lehrreiches Beispiel liegt darin,
dafs die Entstehung von Dreh- und Nachschwindel in aufser-
ordentlichem Mafse von der Drehgeschwindigkeit abhängt. So
geht z. B. aus Ewalds Versuchen an Tauben hervor (und ähn-
liches gilt für den Menschen), dafs bei einer gewissen Dreh-
geschwindigkeit nach einer bestimmten Rotationsdauer deutlichster
und ziemlich lange anhaltender Nachschwindel zu beobachten
war. Bei der halben Drehgeschwindigkeit aber trat nach noch
solange fortgesetzter Rotation kein Schwindel auf. Eine Ver-
schiebung der Cupula müfste doch hier, wenn auch in etwas
schwächerem Mafse, ebenso vorhanden sein wie im ersten Falle.
Vom Standpunkte unserer Auffassung liegt die Sache klar.
Erstens dürften die den einzelnen Empfindungselementen ent-
sprechenden negativen Nachempfindungen bei nicht ungebühr-
licher Reizung ganz unverhältnismäfsig schwächer sein, zweitens
und hauptsächlich aber bleibt die Verarbeitungsfähigkeit der
vom statischen und den anderen Sinnesorganen geheferten
Empfindimgselemente in den Perzeptions- und Regulationszentren
1 Kbbidl. Weitere Beiträge zur Physiologie des Obrlabyrinthes.
ßiUungsberichU der Kaiserl Akad. d. Wissenschaften 101, Abt. IH. 1«92.
Zeitsdurlft für Psychologie 43. 27
I
418 S<^^ '^^<^-
dauernd aufrecht, solange das Mafs der physiologischen Inan-
spruchnahme nicht wesentlich überschritten wird, und die be-
treffenden Zentren verfallen daher auch nicht in einen vorüber-
gehenden Zustand der Erschöpfung, wie sie ungewohnt starke
Inanspruchnahme zur Folge hat. Die Grenze ihrer Leistungsfähig-
keit aber ist, wie wir gesehen haben, durch Trainierung einerseits,
durch mangelnde Übung andererseits in hohem Grade variabel.
Was nun den Vorgang bei der Gewöhnung anbetrifft, soweit
derselbe nicht überhaupt jenseits der Grenzen unseres derzeitigen
Kenntnisbereiches liegt, könnte noch eine Frage aufgeworfen
werden. Tritt die Gewöhnung nur dadurch ein, dafs in den
Zentren die richtige Zusammenfassung und entsprechende Ver-
wertung der ungewohnten Empfindungselemente „erlernt" wird,
oder werden auch jene Empfindungselemente selbst, speziell jene,
die wir als Nachempfindungen einzelner Empfindungselemente
aus dem Komplex des Nachschwindels herausheben zu können
glaubten, allmählich einer Modifikation unterworfen? Dafs die
ersterwähnte Funktionsänderung Platz greift, ist fraglos, und es
geht die Fähigkeit des nervösen Zentralapparates, ganz dieselben
Empfindungselemente unter geänderten Umständen in ver»
schiedener Weise zu verarbeiten, schon aus folgenden, sehr be-
merkenswerten Fakten hervor, die zum Teil von den Beob-
achtern des galvanischen Schwindels aufgefunden wurden.
Hitzig bemerkt, dafs er als häufigste Abweichung von dem
gewöhnlichen Verhalten der Schwindelempfindungen während
galvanischer Durchströmung des Schädels (die er offenbar haupt-
sächlich an aufrechtstehenden Personen geprüft hatte) diejenige
gefunden habe, dafs sitzende Personen nicht eine um eine
sagittale Achse sich bewegende, sondern eine horizontale
Schwindelbahn hatten. Kny hinwiederum hat als durchgehende
Regel gefunden, dafs der Augennystagmus während der Galvani-
sierung durch die Felsenbeine bei zwanglos in die Feme ge-
richtetem Blicke ausschliefslich ein rotatorischer ist, hingegen bei
Konvergenz der Augenachsen durch Fixation eines nahe ge-
legenen Gegenstandes einen rein horizontalen Charakter annimmt.
Die in dem peripheren Organe, dem Vestibularapparate, aus-
gelösten Beize werden nun in diesen Fallen offenbar nicht ge-
ändert; wohl aber ändert sich der Zustand der Aufmerksamkeit,
oder um einen auch auf subkortikale Zentren anwendbaren Aus-
druck zu gebrauchen, der Aktionsbereitschaft, in dem sich die
über Nachempfindungen im Gebiete des hiTuisthetischen u, statischen Sinnes. 419
in Frage kommenden Zentren befinden, und es werden die
solchen Zentren zugeleiteten Reize viel mehr oder ausschliefslich
zur Geltung kommen, während Reize, die anderen nicht aktions-
bereiten Zentren zufliefsen, ohne Wirkung bleiben werden. Dafs
aber in dem obigen zweiten Beispiele die Aktionsbereitschaft
jener zentralen Partien eine erhöhte sein mufs, die bei der
Innervation der horizontalen Augenmuskeln in Frage kommen,
ist wohl selbstverständlich. Aber auch für das ersterwähnte
Beispiel haben wir Grund anzunehmen, dafs bei der relativ
stabilen Stellung des Sitzens die Reflexorgane zur Erhaltung des
Gleichgewichtes weniger in Aktion sind, und die Aufmerksamkeit
hauptsächUch nur mehr für horizontale Drehungen in Anspruch
genommen wird.
Macht doch auch Breuer bezüglich des Drehschwindels eine
ganz analoge Beobachtung, die eine weitere Stütze des hier Be-
sprochenen zu bieten geeignet ist : „Wenn man sich einen frontalen
Schwindel angedreht hat, so sind die reaktiven Muskelaktionen,
das Anziehen eines Beines, die Neigung von Kopf und Körper
nach der Seite, am stärksten im Stehen, schwächer im Sitzen
und am schwächsten im Liegen. Während der Nystagmus der
Augen bestehen bleibt, entfallen im Sitzen mit gut unterstütztem
Rumpfe die Balanceanstrengimgen des Körpers grofsenteils, um
alsbald wieder aufzutreten, wenn man aufsteht."^
Auch hier ist keinerlei Anlafs anzunehmen, dafs die von der
Peripherie ausgehenden Reize sich geändert hätten. Das ab-
weichende Verhalten bei den einzelnen Stellungen kann nur in
einer verschiedenartigen zentralen Verarbeitung der Empfindungs-
elemente gelegen sein. Ähnliche Erscheinungen im Gebiete
anderer Sinnesorgane sind uns geläufig. Gleichmäfsige Geräusche»
wie das Rauschen eines Baches, das Ticken einer Uhr kommen
uns, obwohl die Eindrücke von Seiten des Endorgans sicher stets
in gleicher Weise aufgenommen werden, während intensiver
geistiger Tätigkeit meist nicht zu Bewufstsein, und erst bei einer
Störung in unserer Arbeit scheinen sie ganz plötzlich wieder
einzusetzen.
Ob nun, um auf unsere Frage zurückzukommen, gegenüber
dieser disponierenden und elektiven Fähigkeit des Zentralnerven-
systems in bezug auf die ihm zufliefsenden Reize, einer Fähig-
1 J. Brxüxb: Studien fiber den Veetibnlarapparat S. 53.
27*
420 ^^''^^ Abels,
keit, die sicher auch beim Faktum der Schwindelangewöhnung
ihre bedeutsame Rolle spielen wird, auch noch eine Ver&nderung
der Empfindungs demente in Frage kommt, ist schwer zu ent-
scheiden, eben weil wir jene andere Fähigkeit annehmen müssen.
In erster Linie würde es sich darum handeln, festzustellen, ob
jene früher besprochene!! den einzelnen Empfindungselementen
entsprechenden Nachempfindungen mit der Zeit eine Abschwächung
und Verkürzung erfahren. Völüg unplausibel wäre eine solche
Annahme wohl nicht, da wir doch die Entstehung jener Nach-
empfindungen mit einiger Wahrscheinlichkeit ebenfalls zentral,
wenn auch in niederen Zentren suchen können.
Kurze Drehbewegungen.
Es erübrigt nur noch, die aus allem Vorgebrachten mit Not-
wendigkeit sich ergebende Betrachtungsweise auf das Verhalten
des statischen Sinnes unter normalen Bedingungen in Anwendung
zu bringen. Wie auf den ersten Blick ersichtlich, geschieht dies
im Sinne einer bedeutsamen Annäherung der Funktionsweise
dieses Sinnesorganes an die bezüglich der übrigen Sinnesgebiete
uns geläufige. Vom Standpunkte der bisherigen Theorien gelangt
man für die unter normalen Lebensbedingungen am häufigsten
vorkommenden, kin*zen Drehbewegungen des Kopfes oder ganzen
Körpers zu der wohl recht befremdenden Vorstellung, dafs nach
solchen Drehbewegungen nur deshalb keine dauernde
Empfindung zurückbleibt, weil die durch die Anfangs- und durch
die Endbeschleunigung ausgelösten an und für sich dauernden
Drehempfindungen sich gegenseitig aufheben sollten. Dagegen
spricht vor allem schon die naive Selbstbeobachtung, welche bei
einer derartigen Kopfbewegung (auch unabhängig von den Muskel-
gefühlen) ganz deutlich die Erkennbarkeit der kleinsten Winkel-
beschleunigungsschwankungen im Verlaufe einer solchen Be-
wegung konstatiert, besonders aber auch das genaue Bewufst-
werden des Endruckes, welchem Momente nach der jetzigen
Auffassung ja nur die Auslöschung der vorher bestandenen
Drehempfindung entsprechen sollte.
Hiergegen stehen in völliger Übereinstimmung mit den Re-
sultaten einer solchen Selbstbeobachtung die aus den experi-
mentellcn Tatsachen, wie wir oben gesehen haben, zwingend sich
ergebenden Folgerungen, dahin gehend, dafs jede (kurze) positive
oder negative Winkelbeschleunigung ihrem genauen Werte nach
über Nachempfiwlunge7i im Gebiete des kinästfietiachen u. statischen Sinnes. 421
perzipiert wird (resp. zu Reaktionsbewegung führt), ohne irgend
eine erheblich nachdauernde mit dem Beschleunigungsvorgange
inkongruente Empfindung zu erzeugen. Der Vestibularapparat
bleibt also, kurz gesagt, unter physiologischen Umständen bezüg*
lieh der Kongruenz seiner Leistungen mit den Erregungsursachen
wahrscheinUch nicht wesentHch hinter den anderen Sinnesorganen
zurück.
Die gegenteihge Anschauung konnte, wie schon mehrfach
erwähnt, nur dadurch entstehen, dafs man das Verhalten des
Apparates unter für die betreffende Spezies gänzlich unphysio-
logischen Verhältnissen prüfte. Die dabei konstatierten Er-
scheinungen fehlen bei manchen Spezies resp. Individuen fast
völlig, sind, wenn vorhanden, durch Gewöhnung sehr herab-
zumindern. Sie ähneln zu einem Teile den negativen Kontrast-
erscheinungen anderer Sinnesgebiete, sind aber hauptsächlich auf
vorübergehende kompliziertere zentrale Störungen zurückzuführen.
Auf ein Übersehen in der Anwendungsweise der BREUEEschen
Hypothese auf die kurzen Drehbewegungen müssen wir wegen
eines dabei zu berührenden prinzipiellen Einwandes noch zurück-
kommen. Breueb nimmt an, dafs bei den kurzen Drehbewegungen
die mechanisch verschobenen Teile des Endapparates „durch den
Gegenstofs, der ja nie stärker sein kann, als der Anfangsstofs,
in die normale Stellung zurückgeführt werden". Nun können
wir sofort zeigen, da:fs dies nur zutrifft bei mit gleichmäfsiger
Geschwindigkeit ausgeführten Drehungen des Kopfes oder ganzen
Körpers. Diese bilden aber doch sicher nicht die Regel, sondern
sehr häufig wird, besonders bei gewissen Blickbewegungen, der
Kopf mit langsam steigender Geschwindigkeit in Drehung ver-
setzt und plötzlich mit einem Rucke angehalten oder auch um-
gekehrt. Selbstverständlich sind auch in diesem Falle die Energie-
summen, welche die gesamte Masse (des Kopfes oder Körpers) in
Bewegung setzen und dann wieder zu Ruhe bringen, einander gleich.
Ganz anders aber verhält es sich mit den Rückwirkungen,
welche die beiden Bewegungsvorgänge auf ein in dem Mafse von
Reibungs- und Spannungsverhältnissen abhängiges System aus-
übt, als welches sich Breuer die Bogengangs- und speziell die
Ampullargebilde vorstellt. Wir veranschaulichen uns dies durch
ein kleines Experiment. Wir legen auf ein Brettchen oder ein
Buch eine Münze. Nun bewegen wir das Brettchen horizontal
und parallel mit sich, indem wir die Bewegung langsam beginnen
422 -Hans Abds,
und mit einem Rucke schliefsen oder umgekehrt, was besonders
leicht gelingt. Stets wird sich bei der langsamen (Jeschwindigkeits-
änderung die Münze nicht oder nur geringfügig auf der Unter-
lage verschieben, hingegen sehr stark bei der gröfseren Be-
schleunigung, dem Rucke. In keinem Falle aber wird sie nach
der Bewegung an derselben Stelle hegen wie vor derselben.
Genau so aber müfste sich der Endolymphring und die Cupula
bei einer ungleichmäfsigen Drehbewegung verhalten, wenn die-
selben in solchem Grade verschiebhch wären, wie dies Bseüeb
annimmt, eine Annahme übrigens, die ja auf keinerlei positive
Beweise sich stützt, sondern nur aus dem Bestreben hervorging,
die vermeintUche Nachdauer einer kurz erregten Drehempfindung
zu erklären.
Da also die Cupula schon nach sehr vielen kurzen Kopf-
drehungen auf einige Zeit verschoben bhebe, so müfsten wir
auch nach solchen länger andauernde Drehempfindungen ver-
spüren, was natürhch der Erfahrung gründhch widerspricht.
Diese physikalische Erwägung allein könnte genügen, die Hypo-
these von der peripheren, im mechanischen Endapparate ge-
legenen Entstehungsursache der Nachschwindelerscheinungen als
widerspruchsvoll zu beseitigen. Wir sind vielmehr auch auf
diesem Gebiete zu einer erfreulichen Bestätigung der früher ge-
machten Annahme gelangt, dafs offenbar auch der Vestibular-
apparat mit ähnlicher Präzision arbeite, wie die Endapparate
anderer Sinnesnerven, und dafs auf diesen natürhchen Grund,
wenigstens unter physiologischen Bedingungen, die Überein-
stimmung der Empfindungen mit den Erregungsursachen zurück-
zuführen sei.
Zum Schlüsse glauben wir der HofEnung Ausdruck geben
zu dürfen, dafs durch vorstehende Untersuchungen nicht nur
ein Weniges zum Verständnis der Bewegungsnachempfindungen
und des Drehschwindels beigetragen wurde, sondern dafs auch
der statische Sinn einiger ihm bisher anhängender, vom Stand-
punkt der übrigen Sinnesphysiologie befremdender EigentümUch-
keiten entkleidet und damit der Vestibularapparat in seinem
Bürgerrecht unter den übrigen Sinnesorganen neu bekräftigt
erscheint.
(Eingegangen am 6. August 1906.)
423
Kleine Mitteilung.
Ein Beitrag zur Psychologie der Aussage.
Von
Dr. M. Ubstein (München).
Dafs Zeugenaussagen, selbst wenn sie durch Eid bekräftigt
werden, auch nach Ausschlufs jeder Böswilligkeit bzw. bewufster
falschen Angaben nicht immer zutreffend zu sein brauchen, ist
bekannt und durch das seinerzeit von Liszt ausgeführte Experi-
ment hinlänglich erwiesen. Während aber das letztgenannte
Resultat auf rein theoretischem Wege gewonnen wurde, ist der
gleich zu schildernde Fall, über den die gesamte Warschauer
Presse ausführlich berichtete, der realen Praxis entnommen. Mit
Rücksicht auf das Interesse, welches die Mitteilung dem Juristen
und Psychiater bieten dürfte, sei es gestattet, das mir vorliegende
polnische Original in wortgetreuer Übersetzung wiederzugeben.
Die erste Zivilkammer des Warschauer Bezirksgerichts ver-
handelte dieser Tage gegen den 17jährigen Lucyan Zimny,
welcher angeklagt war, aus der Smolnastrafse Nr. 28 gelegenen
Wohnung des Wladislaus Pozarowski einige Sachen gestohlen
zu haben.
Zum Termine wurden 5 Zeugen geladen, die feststellen
sollten, dafs Zimny aus dem genannten Hause die Gegenstände
hinausgetragen hatte und nach einem mifsglückten Fluchtver-
such, freilich ohne corpus delicti, das er unterwegs fortzuwerfen
vermochte, sistiert wurde. Obiger Tatbestand wurde in kate-
gorischer Weise von der Portiersfrau Katharina Onuczynska be-
stätigt, welche, den auf der Anklagebank Sitzenden fixierend,
erklärte, dafs eben dieser auf der Strafse angehalten worden sei.
Sie habe, als man ihn zum Tatort brachte, ihn sofort erkannt.
Nur ist — so fügte sie hinzu — Zimny vorher etwas voller
gewesen.
Auch die Zeugen Johann Lesniewski und Stanislaus Stefanski
behaupteten, in dem Angeklagten ganz sicher jenen Mann wieder-
zuerkennen, welcher die Sachen aus dem Tor hinausgetragen
hatte. Von der Portiersfrau zur Rede gestellt, suchte er sich
durch die Flucht zu retten, konnte indes bald eingeholt werden.
424 Kleine Mitteilung. ^
Schon war die Verhandlung ihrem Ende nahe, da ereignete
sich ein Vorfall, der den Wert aller dieser Aussagen ins rechte
Licht stellte. Nachdem eben der Gerichtsvorsitzende Ostroumow
den Angeklagten Zimny fragte, was er wohl zu seiner Recht-
fertigung anzuführen habe, erklärte dieser, dafs die ganze An-
gelegenheit ihn gar nichts angehe, denn er heifse gar nicht
Zimny, sondern Franz Nowakowski. Man habe ihn zusammen
mit Zimny aus dem Gefängnis hergebracht, damit ihm hier die
Motive des gegen ihn vor zwei Wochen gefällten Urteils vor-
felesen werden. Da aber in einem früheren Prozefs er, Nowa-
owski, „auf Grund von Aussagen verurteilt worden sei, die nach
seiner Überzeugung falsch gewesen seien, habe er dem Gericht
beweisen wollen, wie viel man eben auf Zeugenaussagen geben
könne; er habe daher mit seinem Komplizen verabredet, ihre
Rollen gegenseitig zu vertauschen. Während nun Zimny, der
sich, um unerkannt zu bleiben, mit einem Tuch umhüllte, den
ihm gar nicht geltenden Spruch anhörte, hatte er, Nowakowski,
die Rolle Zimnys zu Ende gespielt I
Es braucht wohl kaum hinzugefügt zu werden, welchen
Eindruck die Worte des Angeklagten aS die Zeugen ausübten»
denen plötzlich die Verantwortung, sich eines Meineids schuldig
gemacht zu haben, zum Bewufstsein kam. Auch die Lage, in
welche der Gerichtshof versetzt wurde, kann man sich leicht
vorstellen.
Um den Sachverhalt zu klären, wurde der echte Zimny aus
dem Arrestantenzimmer in den Gerichtssaal herbeigeschafft und
konnte nur die Angaben Nowakowskis bestätigen.
Dagegen behaupteten der Staatsanwaltsgehilfe, ein Richter
und der Gerichtsdiener, welche bei der Urteilsverkündigung in
Sachen Nowakowski, dessen Rolle Zimny übernahm, assistiert
hatten, dafs bei der Verlesung tatsächlich Nowakowski aber nicht
Zimny auf der Anklagebank safs, woraus hervorgeht, dafs alle
3 Wächter und Ausüber des Rechts und der Gerechtigkeit schon
zum zweitenmal Nowakowski vor sich haben müfsten, ohne es
zu merken. Die Situation wurde immer verwickelter; man liefs
sofort den Gefängnisaufseher kommen und dieser stellte nun fest,
dafs in der Tat Nowakowski, aber nicht Zimny sich auf der
Anklagebank befindet.
Es sei noch hervorgehoben, dafs zwischen Nowakowski und
Zimny nicht die geringste Spur einer Ähnlichkeit zu finden ist.
Auf Antrag des Staatsanwalts wurde schUefslich die ganze An-
gelegenheit zwecks Identifizierung der Person Zimnys an den
Untersuchungsrichter verwiesen. Interessant ist die Frage, ob
die Zeugen, wenn sie den echten Zimny gesehen, ihn ebenfalls
erkennen werden. Bei der Fehlbarkeit der optischen Eindrücke
darf man es mit grofser Wahrscheinlichkeit erwarten.
(Eingegangen am 11, August 1906.)
425
Zweiter Kongrefs für experimentelle Psychologie.
Von
N. Ach.
Vom 18. bis 21. April 1906 fand in Würzburg der zweite Kongrefs für
experimentelle Psychologie statt. Zu ihm hatten sich etwa 100 ordentliche
Mitglieder der Gesellschaft für experimentelle Psychologie, 40 Hörer und
gegen 20 Ehrengäste eingefunden, so dafs die Beteiligung diejenige vom
ersten Kongrefs in Giefsen 1904 noch übertraf.
Professor G. E. Müller (Göttingen) eröffnete als Vorsitzender der Ge-
i(ellschaft für experimentelle Psychologie den Kongrefs, worauf Professor
KüLPB als Vorstand des Lokalkomitees die Versammlung willkommen hiefs.
Ferner folgten Begrüfsungen durch Vertreter der kgl. bayr. Eegierung, der
Stadt und der Universität Würzburg.
In einem umfassenden Vortrage gab zuerst Professur Sokmeb (Giefsen)
ein Referat über „ Individualpsychologie und Psychiatrie".
Während früher z. B. bei Moritz, Psychologisches Magazin 1780, die Geistes-
krankheiten als „Persönlichkeitskrankheiten*^ aufgefafst wurden, wobei die
psychologische Konstruktion einer normalen Persönlichkeit zugrunde gelegt
wurde, wurden infolge der anatomischen und physiologischen Forschung
ungefähr von der Mitte des 19. Jahrhunderts an die Geisteskrankheiten als
„Gehirnkrankheiten" angesehen. Um die Beziehung zwischen Geistes-
krankheit und individueller Anlage zu klären, ist vor allem das Experi-
ment heranzuziehen. Drei Fragestellungen sind zu berücksichtigen : 1. Wie
verhalten sich bestimmte Geistesfunktionen, wenn man dieselben messend
vergleicht bei normalen und bei pathologischen Personen? Mit Hilfe ein-
facher experimenteller Methoden, wie solche schon früher von S. angegeben
wurden, sollen so die Grenzen, wo das Pathologische anfängt, bestimmt
werden. Da innerhalb bestimmter Psychosen einzelne Erscheinungen
normal sind, andere dagegen nicht, mufs eine singulare Betrachtungsweise
angewendet werden. S. führt einige seiner Resultate, so die Verlängerung
der Reaktionszeiten und die Erhöhung der Streuung der Einzelwerte bei
Schwachsinnigen, Katatonikern usw. an. — 2. Inwieweit lassen sich im
einzelnen Falle in den Symptomen einer Psychose die Grundzüge des
früheren normalen Verhaltens (Charakter) wiedererkennen? 3. Inwieweit
sind die individuellen Eigenschaften pathologische Eigenschaften in ge-
ringem Grade? Frage 2 und 3, welche in engem Zusammenhange stehen,
werden an der Hand der schon vorliegenden Beobachtungen für ver-
426 ^'^ Ach.
schiedene Krankheitsbilder eingehend besprochen. Es zeigt sich, daTs für
die verschiedenen Psychosen keine Einheitlichkeit besteht. Während sich
z. B. bei der Paralyse mit ihren so verschiedenartigen psychologischen
Krankheitsbildern in der Kegel keine Beziehung zum früheren Charakter
erkennen läfst, sehen wir bei den Neurosen z. B. bei einem griesgrämigen
Neurastheniker durch die Krankheit nur eine Steigerung schon vorhandener
Eigentümlichkeiten eintreten. Durch toxische Einwirkungen, z. B. Alkohol,
können bestimmte individuelle, an sich latente Veranlagungen wie abnorme
Ermüdbarkeit, epileptoides , hysterisches Verhalten in die Erscheinung
treten. Auf Grund von Ermüdung lassen sich bestimmte pathologische
Eigenschaften des Individuums hervorrufen, die an sich latent sind. Erst
durch derartige Feststellungen kann die Frage beantwortet werden, inwie-
weit die individuellen Eigenschaften pathologische Eigenschaften in geringem
Grade sind. Dem Experiment öffnet sich hier ein weites Feld.
Professor Weygakdt (Würzburg) referierte über die psychologische
Untersuchung schwachsinniger Kinder. Die Methodik auf diesem
noch wenig untersuchten Gebiete drängt nach Vereinfachung. Besonders
sind Fragestellungen als Beiz zu verwenden (Fragebogen nach Somiisb).
Bei der Untersuchung der assoziativen Tätigkeit ist die verbale Methode
zweckmäfsig mit der Exposition von Realgegenständen (Messer, Gabel usw.)
zu verbinden. Hier lassen sich an der Hand der Resultate bereits einzelne
Formen des Schwachsinnes erkennen. Nach Besprechung der Versucbs-
ergebnisse von Wbeschvbb, Juno, Ranschbubg, Stebn, Goldstein u. a. wendet
sich W. der Besprechung seiner eigenen Untersuchungen zu. Dieselben
wurden bei Schwachsinnigen unter Anwendung der kontinuierlichen Arbeits-
methoden (Addieren) gewonnen. Besonders auffällig ist der Mangel des
Übungsfortschrittes von Tag zu Tag. Dieses Fehlen der Übungsfähigkeit
läfst sich mit gutem Erfolge in der Praxis für die Prognose verwenden,
z. B. ob die Besserungsmöglichkeit eines Patienten bis zur Geschäftsfähig-
keit anzunehmen ist oder ob für Entmündigung entschieden werden soll.
Epileptoider Schwachsinn ist vor allem durch Schwankungen der Arbeits-
leistungen an verschiedenen Tagen gekennzeichnet. Überhaupt scheinen
gerade die fortlaufenden Arbeitsmethoden für die Untersuchung Schwach-
sinniger besonders geeignet. Damit aber das in Rede stehende Gebiet
einigermafsen der Forschung zugänglich gemacht werden kann, ist es not-
wendig, 1. dafs an den psychiatrischen Kliniken Unterabteilungen für
Idioten und Schwachsinnige eingerichtet werden, 2. dafs psychologische
Laboratorien im Anschlufs an die Hilfsschulen in Grofsstädten errichtet
werden (Budapest).
Auf dem Gebiete der Kinderforschung bewegen sich auch die Aus-
führungen von Dr. Decroly (Brüssel), dessen Untersuchungen an die Binet-
schen Arbeiten anknüpfen. Die 18 von D. untersuchten Fälle stimmen sehr
gut mit den BiNETschen Resultaten überein. Gegen die BiKETSche Methode
ist einzuwenden: 1. Die Zahl der tauben und schwerhörigen Kinder ist
sehr grofs. Diese können aber nicht nach der BiNETschen Methode unter-
sucht werden. 2. Es fehlen Tests für motorische Funktionen. 3. Die
Intelligenz ist die Anpassungsfähigkeit und nach dieser Richtung fehlen
Untersuchungen.
Zweiter Kongrefa für experimentelle Psychologie. 427
Privatdozent Specht (Tübingen) berichtet über Untersuchungen, welche
die Divergenz von Unterschiedsschwelle und Reizschwelle
unter Alkohol betreffen. Die mit grofser Sorgfalt ausgeführten Unter-
suchungen beziehen sich auf das Gebiet der Schallempfindungen. S. fand
die interessante Tatsache, dafs unter dem Einflüsse des Alkohols (40 ccm)
die Reizschwelle sinkt, dafs dagegen die Unterschiedsschwelle steigt und
zwar gehen die beiden Kurven ann&hernd parallel. Die Annahme, dafs
infolge einer Steigerung des Gefühles der Sicherheit die zweifelhaften
Urteile zu positiven werden und hierauf die Steigerung der Unterschieds-
empfindlichkeit zurückzuführen ist, erwies sich bei Anwendung geeigneter
Vexierversuche als nicht richtig. Es zeigte sich vielmehr, dafs unter der
Wirkung des Alkohols eine Tendenz bestand, den zweiten Schall als starker
aufzufassen. Es spielen hier unter der Wirkung des Alkohols offenbar
ähnliche Erscheinungen eine Rolle, wie die generelle und die typische
Urteilstendenz beim Heben von Gewichten, worauf in der Diskussion hin-
gewiesen wurde.
Professor Jebusalbu (Wien) behandelte an der Hand zweier Erlebnisse
theoretisch einige Probleme des Gedächtnisses und suchte die FaEunsche
Theorie des Vergessens auf Grund affektiven Verdrängens durch seine
Darlegungen zu stützen.
Methodisches zur Gedächtnismessung behandelte Professor
WiTASEK (Graz) in längeren Ausführungen. Die Methoden der Hilfen und
das Ersparnis- und Trefferverfahreu sollen verfeinert und weiter ausgebildet
werden. In der Hiifenzahl kommt ein psychologischer Faktor zum Aus-
druck, der in der Wiederholungszahl nicht zum Ausdruck kommt und um-
gekehrt. Deshalb ist eine sinngemäfse Kombination beider Methoden not-
wendig. Dabei ist eine weitere Differenzierung in der Betrachtung der
einzelnen Fehler erwünscht. So sollen die Hilfen in ihrer verschiedenen
Wertigkeit bestimmt und für jeden dieser Fälle ein zahlen mäfsiger Aus-
druck (Hilfengewicht) festgelegt werden, wofür W. an der Hand von
tabellarischen Aufstellungen im einzelnen Anhaltspunkte zu geben sucht.
Auch die Nullfäile lassen sich in ihrer verschiedenen Wertigkeit zahlen-
mäfsig abstufen.
Lehrer Pfeiffee (Würzburg) besprach eine Methode zur Fest-
stellung qualitativer Arbeitstypen in der Schule. Die Aus-
führungen, welche lebhaftes Interesse erregten, gingen davon aus, dafs
insbesondere Schüleraufsätze als Material für die Psychologie der indivi-
duellen Differenzen geeignet sind. Dabei wird den Schülern (10— 12jährigen
Volksschülerinnen) nicht ein Thema, sondern eine Reihe von solchen vor-
gelegt. Insgesammt 600 Aufsätze liefsen 17 verschiedene Arbeitsweisen
erkennen : die beschreibende, beobachtende, erinnernde, beziehende,
schliefsende usw. Wenn sich bei den verschiedenen Bearbeitungen der
Themata die Arbeitsweisen einer Versuchsperson in der überwiegenden
Zahl der Fälle einer bestimmten Kategorie zuordnen lassen, so bildet diese
Kategorie den Arbeitstypus der betreffenden Person. Bei 15 Kindern
wurden sechs reine Typen und neun Typenkomplexe festgestellt. Als nach
einem Jahre die Untersuchungen an den gleichen Versuchspersonen wieder-
holt wurden, waren diese Arbeitstypen nur noch zum Teil vorhanden.
428 N' Äch.
Dabei nahm die Zahl der Typen zu, die Verschiedenheit dagegen ab. Die
Typen selbst zeigten beide Male eine überraschende Übereinstimmung mit
der Art des Interesses. Das Interesse selbst ergab sich aus der gewohnheits-
mäfsigen Auswahl der Aufsatzthemata durch die betreffende Versuchsperson
und diese Auswahl entsprach im einzelnen Falle der Art und Weise der
Bearbeitung. Als weiteres Versuchsresnltat ergab sich u. a., dafs im all-
gemeinen der Fortschritt in der Verstandesbildung gröfser ist als in der
Gemütsbildung.
Über die Wirkung von Suggestivfragen sprach Lipmanx
(Berlin). Nach dieser Richtung hat L. sehr ausgedehnte Untersuchungen
angestellt, indem er mit verbesserter Methodik ähnlich wie Bikbt, Stbrh u. a.
Bilder vorzeigte und durch verschieden gestellte Fragen eine Beeinflussung
der Versuchspersonen festzustellen suchte.
Den zweiten Verhandlungstag eröffnete Geheimrat Stumpf (Berlin)
durch scharfsinnige Ausführungen über Gefühlsempfind'ungen. Die
Analyse der sinnlichen Gefühle läfst drei verschiedene Formen erkennen:
1. die Schmerzgefühle, 2. die Lustgefühle, 3. den Gefühlston der Farben,
Töne, Gerüche usw. Wie verhalten sich diese sinnlichen Gefühle zu
den Sinnesempfindungen? Es bestehen drei Theorien: 1. die sinnlichen
Gefühle sind Eigenschaften der Sinnesempfindungen, 2. das Gefühl kommt
als etwas Neues zu den Empfindungen, 3. die Gefühle können neben den
übrigen Empfindungen ebenfalls Sinnesempfindungen sein. Da 1. bereits
durch KüLPE widerlegt ist, wendet sich S. der eingehenden kritischen Be-
sprechung von 2. zu. Für die Selbständigkeit der Gefühle lassen sich drei
Argumente anführen, a) Verwandtschaft der sinnlichen Gefühle mit den
Gemütsbewegungen, welch letztere keine Empfindungen sind, b) die angeb-
liche Subjektivität der sinnlichen Gefühle, c) die mangelnde Lokalisation
und Ausdehnung der sinnlichen Gefühle. In eingehender Besprechung
werden diese drei Argumente abgelehnt und S. kommt zum SchluCs, da£i9
deshalb die dritte der angeführten Theorien zu Recht besteht, d. h. also,
dafs wir es bei den sinnlichen Gefühlen mit Sinnesempfindungen (Gefühls-
empfindungen) zu tun haben. An der Hand eingehender Betrachtungen
weist S. darauf hin, dafs sich in der Tat bei der Annahme von Gefühls-
empfindungen viele* Erscheinungen, so die Analgesie, die Tatsache der
indifferenten Empfindungen, die Abhängigkeit des Gefühlstones von der
Qualität der Empfindung unserem Verständnis näher bringen lassen.
Hierauf folgte ein eingehendes Referat von Professor Külpb (Würzburg)
über den gegenwärtigen Stand der experimentellen Ästhetik.
In einem ersten Teil besprach K. die Methoden dieser Wissenschaft und
zwar zuerst die Eindrucksmethode, wo sich bei der Einwirkung konstanter
Eindrücke einfache Wahl, mehrfache Wahl, Reihenbildung, paarweise Ver-
gleichung und bei veränderlichen Eindrücken kontinuierliche Änderung,
Zeit Variation als Untergruppen unterscheiden lassen. Hierbei kann auch
noch von einer Methode der freien Beschreibung und einer solchen der
eingeschränkten Beschreibung z. B. auf Grund von Fragebogen gesprochen
werden. Bei Anwendung der Ausdrucksmethode können Puls, Atmung,
mimische und pantomimische Bewegungen, sowie sonstige physiologische
Aufserungen des Innenlebens der Untersuchung zugänglich gemacht werden.
Zweiter Kongrefs für experimentelle Psychologie. 429
Bei der Methode der Herstellung, welche K. den erwähnten beiden Methoden
noch an die Seite stellt, wird das aktive ästhetische Schaffen in die Unter-
suchung einbezogen. Sie ist Eindrucks- und zugleich Ausdrucksmethode.
In einem zweiten Kapitel werden ebenfalls in kritischer Weise die Ergeb-
nisse und Theorien besprochen. In übersichtlicher Anordnung werden die
mannigfachen schon bestehenden Untersuchungen in fünf Abschnitte
gruppiert und eingehend behandelt: Ästhetik der Farben, der räumlichen,
der zeitlichen Formen, der Komik und der bildenden Kunst und Musik.
Besonders traten hierbei die amerikanischen Untersuchungen hervor, wobei
einzelne wie die von Lilli Mabtin in vieler Beziehung als mustergültig
bezeichnet werden konnten, während andere, wie diejenigen, welche das
Wohlgefallen an räumlichen Formen auf die Erregung von motorischen
Impulsen zurückzuführen suchen, die wohlverdiente Zurückweisung er-
fuhren. Zum Schlüsse seiner Ausführungen betonte der Referent die not-
wendige Vereinigung der gegenständlichen und der zuständlichen Gesichts-
punkte in der Ästhetik. Erst die Berücksichtigung des objektiven und des
subjektiven Momentes wird uns dem Ziele zuführen.
Professor Ashsb (Bern) sprach über das Gesetz der spezifischen
Sinnesenergien. Nach A. ist die Qualität der Empfindung nicht von
anfsen, sondern von innen her bedingt. Auf entwicklungsgeschichtliche
Gründe sich stützend sucht der Vortragende dieses viel umstrittene Gesetz
der spezifischen Sinnesenergie als zu Recht bestehend zu verteidigen«
Atif experimenteller Grundlage bewegten sich die Ausführungen von
LnrKE (Naumburg) über neue stroboskopische Versuche. Seine theoretischen
Ausführungen, nach denen z. B. zur Erklärung der Erscheinungen vor
allem zentrale Prozesse, Assimilationsvorgänge, herangezogen werden sollen,
blieben in der Diskussion nicht ohne Widerspruch.
Es folgte durch Prof. Marbb (Frankfurt a. M.) die Demonstration einer
Versuchseinrichtung für kurz dauernde optische Reize. Die Einrichtung
scheint für die Erzeugung simultaner und sukzessiver optischer Reize be-
sonders geeignet und zwar sowohl für exakte Versuchsanordnungen, wie
für die Demonstration. Professor Ebbinohaub (Halle) demonstrierte einen
Fallapparat zur Kontrolle des Chronoskopes, der infolge eigenartiger und
exakter Konstruktion ohne Benützung sonstiger zeitmessender Hilfsmittel
sehr genaue kleine Zeiten herstellen lälst.
Privatdozent Vbraguth (Zürich) demonstriert einen Apparat, mittels
dessen er Drehungen eines Depbrz - d* ABsoNVALschen Galvanometers unter-
sucht hat, welche verursacht sind durch endosomatische Vorgänge in der
mit dem Apparat in leitende Verbindung gebrachten Versuchsperson und
berichtet über die Resultate. V. hat gefunden, dafs taktile, akustische und
optische Reizung der Versuchsperson dann einen Ausschlag des Galvano-
meters hervorruft, wenn diese Reize genügend intensiv, gefühlsbetont und
aktuell sind, und dafs solche Eigenschaften auch vorhanden sein müssen
bei höheren psychischen Vorgängen (Erwartung, Lesen, Assoziationsversuche),
damit dieselben durch Spiegelausschläge zum Ausdruck gelangen. Über
die Theorie dieses galvanisclien psychophysischen Reflexes
spricht sich der Vortragende mit derjenigen Reserve aus, die ihm gegen-
430 N, Ach.
über einem offenbar hoch komplizierten nnd erst in den Anfangsstadien
der Untersuchung befindlichen Phänomen angezeigt scheint.
Das erste Referat des dritten Sitzungstages wurde yon Professor
Kbübgbb (Buenos Aires) über die Beziehungen der Phonetik zur
Psychologie erstattet. Es lassen sich zwei Methoden auf dem Grebiete
der experimentellen Phonetik unterscheiden, die artikulatorische Methode,
welche die Vorgänge der Tonerzeugung nach der ph3rsiologi8chen, genetischen
Seite untersucht, und die akustische Analyse des gegebenen Phänomens.
Beide Methoden werden einer eingehenden kritischen Betrachtung unter-
zogen. Die Untersuchungen mit der ersten Methode lassen sich nur am
lebendigen, sprechenden Menschen anstellen und zwar sind hier zu berflck-
sichtigen die Atmungsbewegungen, die Bewegungen des Kehlkopfes, der
Antlitzmuskulatur und die Bewegungen der inneren Sprachorgane wie der
Stimmbänder und der Organe im Ansatzrohr. Ferner sind hier auch die
Untersuchungen über die Stimmlosigkeit eines Lautes anzufahren. Wenn
diese artikulatorische Methoden zu psychologischen Untersuchungen ange-
wendet werden, so ist darauf zn achten, a) dafs keine Belästigung des
Individuums eintritt, b) dafs keine Änderung der Laute z. B. durch Schall-
trichter zustande kommt, c) dafs die Möglichkeit der Beobachtung bei fort-
laufender Rede gegeben ist. Bei der Besprechung der zweiten Methode, der
akustischen Analyse, weist K. darauf hin, dafs nur das phonantographische
und das graphophonische Verfahren in Betracht kommen, während das
optische Verfahren (manometrische Flammen) nur fflr Demonstration ge-
eignet ist. Hensxns Sprachzeichner und Hbrxahnb Phonantograph mit
Spiegelübertragung werden als die leistungsfähigsten Apparate bezeichnet
Doch ist bei der phonetischen Untersuchung die artikulatorische und die
akustische Methode zu kombinieren, jede Methode ist fflr sich allein anzu-
reichend. Was die psychologischen Gesichtspunkte betrifft, so scheinen
die zeitlichen Verhältnisse der Sprachlaute und die Tonhöhenbewegungen
der Sprachlaute die gröfste psychologische Bedeutung zu haben. An der
Hand von Kurven, welche mittels des Kehltonschreibers (Demon-
stration dieses Apparates) gewonnen wurden, zeigt K. die Bedeutung der
Tonhöhenänderung insbesonders als Ausdruck der verschiedenen Gemfits-
lage des Sprechenden.
Hierauf folgte das Referat von Professor ScanuAinx (Zflrich) n^i^
Psychologie des Lesens". Er geht von den verschiedenen Methoden
aus, das Lesen zu lehren, von der Buchstabiermethode, welche hauptsäch-
lich nur noch historisches Interesse bietet, von der Lautiermethode und
bespricht noch eine dritte Methode, bei der überhaupt keine Elemente»
sondern nur ganze Worte geboten werden. Die Frage, ob die Reproduktion,
welche von dem gesamten Eindrucke eines Wortes ausgeht, gleich der
Summe der von den einzelnen Buchstaben ausgehenden Reproduktionen
ist, wird verneint und infolgedessen dieser dritten Methode der Vor-
zug gegeben, wobei auch andere Tatbestände zur Stütze herangezogen
werden. Vor allem die Ergebnisse der experimentellen Untersuchung des
psychologischen Vorganges beim Lesen. So die Tatsache, dafs, wenn bei
tachistoskopischen Versuchen Buchstabenkomplexe, welche ein sinnvolles
Wort bilden, kurze Zeit exponiert werden, gewöhnlich drei- bis viermal
Zweiter Eongrefs für experimentelle Psychologie, 431
mehr Buchstaben gelesen werden, als bei sinnloser Kombination der
gleichen Elemente. Es scheint also von dem gesamten Eindruck des
Wortes eine Reproduktionstendenz auszugehen. Dabei ist der Erkennungs-
vorgang bei der Auffassung einzelner Buchstaben anders als beim Auffassen
von ganzen Worten. Das Wortbild wird gewöhnlich sofort als charakte-
ristische Einheit erfafst. Die Gesamtform des Wortes ist ffir das Erkennen
mafsgebend (Ebdmann und Dodgb). Doch ist die Erkennung sämtlicher
Buchstaben in der Regel nicht nötig, fehlende werden ergänzt, über falsche
wird weggelesen. Auch auf die tachistoskopische Methodik, insbesondere
auf die Versuchsanordnungen, welche die Wirkung des abklingenden
physiologischen Prozesses in der Netzhaut auszulöschen suchen, z. B. durch
Blenden mit grellem Licht, wird kritisch eingegangen.
HüOHSS (Soden) sucht theoretische Ausführungen zur Lehre von
den einzelnen Affekten zu geben.
In der Nachmittagssitzung bespricht Rupp (Göttingen) die Ergebnisse
ausgedehnter experimenteller Untersuchungen über die Lokalisation
von Tastreizen, welche an 14 Versuchspersonen zur Ausführung kamen.
Durch geeignete Vorrichtungen liefs R. bei verschiedener Lage der Hände
auf verschiedene Stellen der Finger Tasteindrttcke wirken und erhielt
neben der Angabe der Lokalisation, die bei geschlossenen Augen erfolgte,
durch Benutzung des HiPpschen Chronoskopes auch Auskunft über den
zeitlichen Verlauf des Lokalisationsvorganges. Als allgemeines Resultat
ergab sieh, dafs die Lokalisation am raschesten geschieht, wenn die Hände
ihre normale Stellung einnehmen, dafs dagegen bei anderen komplizierteren
Stellungen, z. B. der Handkreuzung oder der Fingerkreuzung, erheblich
längere Werte für die Dauer der Lokalisation erhalten werden. Für die
Erklärung kommt vor allem die reproduktive Hemmung in Betracht, welche
sich bei der Auslösung des Urteiles über abnorme Lagebestimmungen
geltend macht. In psychologischer Beziehung verfolgten die Untersuchungen
femer den Zweck, den Reproduktionsmechanismus bei der Lokalisation
kennen zu lernen. Dabei ist bemerkenswert, dafe, bevor die Lage der
übrigen Glieder bekannt ist, unmittelbar bereits die räumliche Stelle der
Berührung angegeben werden kann, z. B. ob oben oder unten, ob rechts
oder links, und R. kommt auf Grund seiner exakten Versuche zu dem Er-
gebnis, dafs wir die Lage einer Berührung unmittelbar lokalisieren, die
Lokalisation wird also nicht durch eine vorherige Deutung vermittelt.
Hierauf gab Schültze (Würzburg) Ausführungen über Wirkungs-
akzente. Er versteht hierunter die Differenz zwischen einem visuellen
Eindruck als isoliertem Element und seiner psychischen Wirksamkeit^ so-
fern er Teilinhalt einer Gesamtvorstellung wird. An der Hand von Demon-
strationen und theoretischen Ausführungen suchte Vortragender die Selb-
ständigkeit dieser psychischen Realität zu beweisen, welche ebenso wie
Intensität und Qualität durch Abstraktion isolierbar, aber selbst nicht
abstrakt ist. Die Veränderung von Zahl und Lagerung der einzelnen
Elemente erschöpft die Charakteristik dieses Vorganges nicht, ebensowenig
ist die Bewulstheit^ d. h. das unanschauliche Gegenwärtigsein eines Wissens
(Ach) oder die Gestaltsqualität (Meihong) in der Lage, dieses Plus, das zu
dem Reis bei Änderung des Zusammenhanges hinzukommt, zu erklären.
432 ^' Ach,
Vielmehr soll es sich hierbei um ein selbständiges psychisches Phänomen,
eben um den Wirkungsakzent handeln.
Detlbfsbit (Wismar) gab an der Hand anschaulicher Demonstrationen
Ausführungen aber Farbenwerte und Farbenmasse. D. stellte eine
Helligkeitsskala her, bei der die einzelnen Stufen durch die Logarithmen
einer Grundzahl bezeichnet werden konnten. Mit Hilfe dieser Skala wurde
die Helligkeit verschiedenfarbigen Lichtes bestimmt. Die Helligkeit von
Pigmentfarben bestimmte er, indem er mit Hilfe der Projektionslampe
durch verschiedenfarbige Gläser rotes, grünes oder blaues Licht herstellte
und für das einzelne Licht die Übereinstimmung mit einem bestimmtea
Werte der Helligkeitsskala festlegte. Aus den sich ergebenden drei Zahlen
konnte D. die Pigmentfarbe wieder erkennen.
Über die Aufmerksamkeitsverteilung in verschiedenen
Sinnesgebieten sprach Professor Wibth (Leipzig). Mit Hilfe wohl aus-
gebildeter Versuchsanordnungen suchte W. die Änderung der Unterschieds-
schweUe auf visuellem, akustischem und taktilem Sinnesgebiete bei ver-
schiedenem Verhalten der Aufmerksamkeit zu bestimmen. Die Fragestellung
lautete z. B. für das Gebiet des Gesichtssinnes. Unter Festhaltung der
Fixation der Mitte des Gesichtsfeldes wird die Aufmerksamkeit auf be-
stimmte Punkte des Gesichtsfeldes gerichtet. Wie ist dann der Schwellen-
wert für die anderen Punkte des Gesichtsfeldes ? In technischer Beziehung
zeigten sich besonders auf dem Gebiete der Akustik wegen des Intensitftts-
mafses der Reize Schwierigkeiten. Bei den Tastsinnuntersuchungen wurden
die VON FBEYschen elektromagnetischen Einrichtungen in Anwendung ge-
zogen und zwar wurden bis sechs derartige Hebel auf verschiedene Körper- |
stellen aufgesetzt. Die Aufmerksamkeitsverteilung ist hier besonders |
schwierig. Doch scheinen nach den Ausführungen des Vortragenden die
Resultate für die verschiedenen Sinnesgebiete in guter Übereinstimmung
zu stehen.
KoBTLECKi (Krakau) behandelt in theoretischen Ausführungen das
psychologische Experiment ohne Selbstbeobachtung. Er
unterscheidet für das psychologische Erlebnis 1. den Konstatierungs- oder
Erfahrungsakt, 2. den Konstatierungsinhalt und 3. den konstatierten Tat-
bestand. In Wirklichkeit kommen jedoch nur 1. und 2. in Betracht Für
die Theorie der Selbstbeobachtung wurde nichts Neues gebracht.
Am letzten Tage folgten zwei Voi^räge über die Willenstätigkeit.
Privatdozent Dübb (Würzburg) behandelte auf Grund experimenteller Unter-
suchungen Willenshandlung und Assoziation. Imperative, Fragen,
Behauptungen stellten bei verschiedenartiger Instruktion die gebotenen |
Reizworte dar. Die Instruktion lautete z. B.: ,,Erfüllen Sie die Aufgabe,
welche Ihnen gestellt wirdl'' Aufgabe: „Setzen Sie sich auf den Boden 1" ,
D. unterscheidet auf Grund der von den Versuchspersonen gegebenen |
Selbstbeobachtungen a) Motive mit Reproduktionserfolg, b) Motive mit
Produktionserfolg, c) Motive mit Beachtungs- oder Verden tlichungserfolg.
Als besonderes Kennzeichen der Willenshandlung gegenüber dem asso-
ziativen Ablauf wird das Wissen um die Richtung der Reproduktionstendens
bezeichnet
Zweiter Kongrefs für experimentelle Psychologie, 433
Privatdozent Ach (Marburg) gibt in öeinem Vortrage „Experi-
mentelle Untersuchangen über den Willen" eine Methode an zur
quantitativen Bestimmung der Intensität eines Entschlusses, Vorsatzes u. dgl.
Die Anordnung besteht darin, dafs Silbenreihen in einer bestimmten Zahl
von Wiederholungen am Kymographion geboten werden. Hierauf werden
die ungeraden Silben dieser Reihen im Kartenwechsler vorgeführt. Die
Versuchsperson hat dann die Aufgabe, nach dem Lesen der Beizsilbe ent-
weder die erste auftretende Silbe auszusprechen (Reproduktion), oder einen
Reim zu bilden (Reimen) oder den 1. und 3. Buchstaben der Reizsilbe um-
zustellen (Umstellen). Die Silben der am Kymographion gebotenen Reihen
zeigen entweder keinen Zusammenhang, oder sie sind gereimt, wobei jede
gerade Silbe einen Reim der vorhergehenden ungeraden Silbe bildet, oder
die geraden Silben bilden Umstellungen der ungeraden Silben. Die einzelnen
Reihen wurden am gleichen Tage in Verteilungen 20 mal geboten, so dafs
für die drei Reihen insgesamt 60 Lesungen stattfanden. Bei den einander
folgenden Tagen einer Versuchsreihe wurden an jedem Tage entweder stets
wieder die gleichen Silben geboten, welche dann täglich nur 10 mal gelesen
wurden, oder es erschienen wieder andere, in gleicher Weise gebaute Silben
in 20 Wiederholungen. — Dieses kombinierte Verfahren ergab als quantitatives
Resultat, dafs im allgemeinen eine sehr grofse Zahl von Wiederholungen,
d. h. eine recht erhebliche Stärke der Reproduktionstendenz notwendig ist,
um sie der Intensität der von einem Willensakte ausgehenden Determi-
nation gleich zu machen. So betrug das assoziative Äquivalent der von
dem Entschlufs zu Reimen ausgehenden determinierenden Tendenz ungefähr
90 Wiederholungen, die sich über 8 Tage verteilten. Hier bestimmte dann
nicht der von der Determination ausgehende Einflufs den Ablauf des Ge-
schehens, sondern die durch vielfache Einübung sehr gefestigte Assoziation,
so dafs eine falsche Reaktion erfolgte. War die Energie des Entschlusses
an sich gering, dann konnte auch eine relativ geringe Stärke der Repro-
duktionstendenz {W==20) genügen, um trotz gegenstehender Determination
die Über Wertigkeit der assoziierten Vorstellung zu bewirken. Die repro-
duktiv-determinierende Hemmung kam bei vielen Versuchen in den Zeit-
werten zum Ausdruck.
Das kombinierte Verfahren gestattet auch die Qualität des Willensaktes
al3 isoliert gegebenen Erscheinung der Analyse zugänglich zu machen. Es
zeigt sich, daTs der Akt des Entschlusses für das Individuum unmittelbar
als besonderes Erlebnis gegenüber anderen psychischen Phänomenen wohl
<^harakterisiert ist. In der Bewufstheit ,4<^^ kann*' kommt die Unabhängig-
keit des mI<^^" zum Ausdruck. Diese Bewufstheit ist durch Abstraktion
aus den gesamten früheren Erfahrungen gewonnen und determiniert hier
den Ablauf des Geschehens. Die Aktivität tritt sehr stark in dem von der
BewnÜBtheit „ich will" begleiteten Akte hervor. Dieser Akt kann auch
spontan ohne vorherige Bewufstheit „ich kann" gegeben sein. Überhaupt
läfst sich mit Hilfe des kombinierten Verfahrens der Willensvorgang in
jeder Abstufung von der energischsten Form bis zur Ausprägung geringsten
Grades isoliert der systematischen Beobachtung zugänglich macheu. In
quantitativer und qualitativer Beziehung erfüllt somit dieses Verfahren die
Zeitsehrift für Psychologie 43. 23
434 ^V. Ach.
Bedingungen, welche an eine Methode zur Untersuchung des Willens zu
stellen sind.
Privatdozent von Astbr (München) sprach über Tiefenwahmehmung.
Unter anderem suchte der Vortragende nachzuweisen, dafs richtunggebende
Linien die räumliche Auffassung erleichtern.
Den Schlufs des reichhaltigen Programmes bildeten zwei Vorträge
aus dem Würzburger psychologischen Institut über experimentelle
Analyse von Denkprozessen unter Benutzung der Methode der syste-
matischen experimentellen Selbstbeobachtung. Professor Messer (GiefiseB)
behandelte die Frage, welche Phänomene dem Individuum beim Erleben
eines Urteilsaktes gegenwärtig sind. M. kam zu dem allgemeinen Resultat,
dafs eine Reaktion dann als Urteil bezeichnet wird, wenn sie als Urteil
gemeint ist. Es gibt dies in gewisser Beziehung eine Bestätigung der
bereits von Ach ausgesprochenen Anschauung, dafs gewisse Urteilskategorien
auf Interferenz zwischen der Wirksamkeit von determinierenden Tendenzen
und Änderungen im Vorstellungsablauf zurückzuführen sind. Ein spesi-
fisches Urteilserlebnis, welches für alle Urteile charakteristisch ist, l&fet
sich nach M. nicht nachweisen. Nur unter besonderen Umständen treten
Urteilserlebnisse auf. Die Versuchserlebnisse, welche durch Fragestellungen
wie „Wissen Sie, was Cäsar sagte, als er ermordet wurde?" bei den Ver-
suchspersonen ausgelöst wurden, zeigen aufserdem in grofser Zahl jene
eigentümlichen Phänomene, welche Ach als Bewufstheiten bezeichnete, und
welche durch das unanschauliche Gegenwärtigsein eines Wissens charak-
terisiert sind.
Diese Bewufstheiten, welche mit den BiNBXSchen pens^es verwandt zu
sein scheinen, sind es nach Bühleb (Würzburg), welche überhaupt den
Denkvorgang charakterisieren. Eine experimentelle Analyse kom-
plizierter Denkprozesse suchte B. dadurch zu ermöglichen, dafis er
nach Fragestellungen wie ^Verstehen Sie?" — oder „Halten Sie folgendes
für richtig?" Aphorismen oder Sentenzen von Nietzsche, Rückebt u. a.
folgen liefs. Die Versuchsperson hatte hierauf das ausgelöste Erlebnis
eingehend zu schildern. Auf die Frage: welches sind die Denkelemente?
gibt B. die Antwort, dafs dies die BiNBTSchen Gedanken und die AcHSchen
BewufBtheiten sind. Das Wissen um etwas, das GegenstandsbewufstBeln
ohne Empfindungen ist für das Denken charakteristisch. Dabei prägea
sich die Bewufstheiten dem Gedächtnis leichter ein als Vorstellungen.
Nach diesen aussichtsvollen Vorträgen wurde der Kongrefs durch den
Vorsitzenden Prof. G. E. Mülleb geschlossen. In einer geschäftlichen
Sitzung der Gesellschaft für experimentelle Psychologie entschied man
sich dafür, den nächsten Kongref» in Frankfurt a. M. ^om 21. bis
25. April 1908 abzuhalten. Ferner wurde durch Akklamation der bisherige
Vorstand wiedergewählt und demselben als weiteres Mitglied Geheimrat
Stumpf beigegeben.
435
Literaturbericht.
H. SvoBODA. Stadien inr Gmndlegiuf der Psychologie. Leipzig und Wien,
Deuticke. 190ö. 117 S.
Der Verf. macht den kühnen, nach der Seite der Form jedenfalls an-
regend und geistreich durchgeführten Versuch, vom Gesichtspunkt eines
bestimmten psychologischen Bpezialproblemes aus, das ihm aber zum Zentral-
problem wird, eine Neugestaltung der Psychologie zu begründen. Dieses
Problem ist die „psychische Periodizität, deren umfassende Be-
deutung er schon in einer früheren Schrift (die Perioden des menschlichen
Organismus in ihrer psychologischen und biologischen Bedeutung 1904
vgl. die Anzeige von Pelman in dieser Zeitschrift 37, S. 266) zu beweisen
versuchte.
Der erste Abschnitt behandelt zunächst unter dem Titel „Psychologie
und Leben ^ einige Prinzipienfragen. Die wissenschaftliche Psychologie,
welche zugleich dem Expektorationsbedürfnis der komplizierten modernen
Psyche entgegenkommen soll, habe allzuwenig sich an die natürliche
Psychologie angeschlossen. Dem unverdorbenen Geiste ist das Komplexe,
die vielgestaltige Erfahrung das Erste und hiermit in seiner Existenz Selbst-
verständliche. Die wissenschaftliche Psychologie hingegen ist „vom Wahne
der Synthese erfafst" (S. 15). Ihre Unfruchtbarkeit rührt daher, dafs sie
— nach AvENABius' trefflicher Bezeichnung — Mosaikpsychologie ist.
Wenn sie dem Wahne huldigt, man könne durch fortgesetzte Gliederung
und Auffindung oder selbst Annahme immer einfacherer Elemente in
der Erkenntnis des Ganzen Fortschritte machen, so hat sie Methoden,
deren Wert für die Naturwissenschaften durch deren Erfolge aufser Frage
gestellt ist, ganz unmodifiziert in der Seelenforschung zur Anwendung
gebracht. Setzt sich damit die wissenschaftliche Psychologie Ziele, die
nicht zu verwirklichen sind, so verschlieDst sie sich andererseits aus den-
selben Gründen der Behandlung von Fragen, die sie vor allem angehen
und mit deren Lösung sie sich den Dank der Allgemeinheit erwerben
könnte. Sie hat sich bis jetzt nur immer mit Durchschnittsziffern, Durch-
schnittszeiten, Durchschnittsmafsen, mit dem Durchschnittsmenschen, der
nirgends anzutreffen ist, beschäftigt, doch nicht mit der Beschreibung
des Individuums. „Die Psychologie aber, welche uns nicht zur Menschen-
kenntnis verhilft, kann gar nicht weniger leisten" (S. 19). Der Psychologe
der Zukunft dagegen, der „Charakterolog" oder der „Anthropolog", wie wir
ihn kurz nennen können, wird „Typen aufstellen und deren einzelne Züge
436 Liieraiurbericht
taxativ aufzählen, und die Charakterologie wird ein Kompendium der
Menschenkenntnis darstellen, woraus auch derjenige Belehrung schöpfen
kann, welcher nicht selbst zu entsprechender Beobachtung angelegt ist.*'
Der zweite Abschnitt, „Assoziationen und Perioden", knüpft an die
Tatsache der „freisteigenden Vorstellungen'' an. Ihnen gegenüber ist die
Assoziationspsychologie in Verlegenheit. Sie schliefst die Annahme in sich,
dafs der psychische Zustand in dem des vorhergehenden Augenblickes
seine volle Begründung habe. Hier tritt nun die Lehre von den Periodizi-
täten des Seelenlebens ein, von welcher der Verf. meint, dafs sie in
der Psychologie die nämliche Rolle spielen werden, wie Krplbbs und
Newtons Gesetze in der Astronomie (S. 26). Auf Grund vieler Beobachtungen
und Experimente glaubt er behaupten zu können, dafs nicht nur somatische
Phänomene, sondern auch Vorstellungen, Gefühle, Willensimpulse ganz
spontan nach n-2B oder n-28 Tagen wiederkehren können. Er meint
aufserdem die Existenz von kleineren Wellen nachgewiesen zu haben,
einer n • 23 stündigen und einer n • 18 stündigen, deren Beobachtung viel
leichter gelinge als die der gröfseren. Die Anerkennung und Erklärung
„freisteigender Vorstellungen" sei von hier aus selbstverständlich. Für
diese psychische Periodizität wird dann eine gröfsere Zahl von Beispielen
angeführt. Musikalische Reminiszenzen tauchen nach 3 X ^3» ^X^i 28 oder
auch 18 oder n • 18 Tagen oder ebensoviel Stunden auf. Von diesen Perioden
ist zugleich die Wirksamkeit der Assoziationen abhängig. Die Vorstellungen
befinden sich in beständiger rhythmischer Bewegung zwischen dem Licht
des Bewufstseins und der Nacht des Vergessens. Nehmen wir z. B. an,
eine Melodie würde in einer Stunde im 18 stündigen Intervall spontan
auftauchen ; höre ich nun jetzt, also in der 17. Stunde eine ähnliche Melodie,
so wird sich zu ihr die andere, auf dem Weg zur spontanen Reproduktion
befindliche leicht hinzugesellen, da sie ja nur sozusagen eine Stunde vom
Bewufstsein entfernt ist (S. 43 f.). Eine Schmerzempfindung, eine schlaflose
Nacht kehrt nach 23 Tagen wieder. Ein besonders deutliches Bild der
Periodizität liefert aber das Traumleben, in welchem bei sehr geringem
Einflufs äufserer Faktoren auf den Gang des inneren Geschehens annähernd
reine psychische Kausalität herrscht. Erlebnisse determinieren den Traum
nach den genannten Perioden. Die Konsequenz, dafs zwei Personen, welche
zur selben Zeit den nämlichen Eindruck empfangen haben, in der nämlichen
Nacht davon träumen, soll sich in drei Fällen bestätigt haben. „Die
Schwestern L. und M. von P. bringen die Nacht vom 28. auf 29. Juli am
Krankenbette ihres Vaters zu, dessen Tod stündlich erwartet wird, der sich
aber wieder erholt. In der Nacht vom 25. auf 26. August (I =28d) träumen
beide, dafs der Vater stirbt und sie an seinem Sterbelager weinen. Am
Morgen des 26. August sucht eine die andere auf, um ihr den nämlichen
Traum zu erzählen" (S. 59). Daneben werden Beispiele von „Kombi-
nationsträumen" gegeben, deren einzelne Teile durch die Wirksamkeit
der Perioden annähernd gleichzeitig zusammengebracht werden und sich so
zu einem Bilde vereinigen. So bestimmen Assoziationen und Perioden den
Gang des psychischen Lebens. Das letztere hat gleichsam zwei Dimensionen,
von denen man die eine Bewufstseinsdimension, die andere Entwicklungs-
dimension nennen kann. Für jede der beiden gelten ganz eigene Gesetze.
LiteraturbericJU, 437
In der Entwicklungsdimension herrscht Kontinuität, in der Bewufstseins-
dimension dagegen blofs Kontiguität. Die erstere hat bis jetzt in der
Psychologie viel zu wenig Berücksichtigung gefunden. Die Tatsache psy-
chischer Entwicklung fordert die Annahme psychischer Einheiten, die sich
in psychische Gleichungen bringen lassen. Welche Bedeutung der
psychischen Gleichung zukommt, erhellt mit einem Male, wenn wir die
organische Entwicklung dazu in Parallele setzen. ,,Zwischen den ver-
schiedenen Stadien eines sich entwickelnden Organismus sagen wir eben-
falls, trotz alles Phänomenenwandels, Identität aus und die Identität des
Ich ist nur ein Spezialfall hiervon. Dem ungegliederten Ovulum entspricht
der unartikulierte Gedanke, der Gedanke ais Grefühl. Der Augenblick, wo
der ausgereifte Gedanke sich in Worte kleidet und Schall wird, entspricht
dem, wo das fertige organische Gebilde ans Tageslicht tritt" (S. 76f.). Dies
führt zur Forderung einer neuen, der organischen Psychologie,
welche zugleich allein gewisse auf alter Beobachtung beruhende Aussagen,
wie die vom „Keifen der Gedanken und Werke'* oder auch vom „Austragen'',
vom „Brüten über etwas", verständlich machen kann. Aus der Unter-
scheidung freisteigender und assoziierter Vorstellungen, sich ineinander
entwickelnder und sich miteinander verbindender Phänomene aber ergibt
sich zugleich der Unterschied zweier verschiedener Menschentypen, von
denen der eine mehr in der Entwicklungsdimension, der andere mehr in
der Bewufstseinsdimension lebt. Der Periodiker kann nur arbeiten, wenn
es ihn drängt, er ist von den Entwicklungsprozessen abhängig, die sich in
ihm abspielen. Der Assoziatiker ist oberflächlich. „Er findet leicht Wort-
spiele und spielt mit Worten", da er sich immer in der Bewufstseins-
dimension bewegt, für welche sie geschaffen sind (S. 85 f.).
Der dritte Teil der Arbeit trägt die Überschrift „Leib und Seele"
und wendet sich zunächst gegen die herkömmlichen Lokalisationstheorien.
Für die gegenwärtige Lage ist charakteristisch einerseits der Primat des
Gehirns, genauer der Grofshimrinde im Gegensatz zur alten laienhaften
Auffassung des Verhältnisses des ganzen Körpers zur Seele, andererseits
der Einflufs der atomistischen Psychologie, welche neben der ver-
schiedenen Lokalisation wirklich verschiedener Teilgebiete der Psychologie,
wie der Sehsphäre und Hörsphäre, auch z. B. ein besonderes Silben- und
Buchstabenzusammensetzungszentrum zu suchen beginnt. Aber eine Zu-
sammensetzung von Phänomenen kann nur dort stattfinden, wo die Phäno-
mene selbst heimisch sind. Das von uns nur U n t e r schiedene ist offenbar
im Gehirn nicht geschieden. Und ist es nicht vollends ein offener Wider-
spruch, z. B. den Charakter eines Menschen an einen bestimmten Ort
gebunden zu denken? Was zum Charakter eines Menschen gehört, das
steckt nicht nur im gesamten Gehirn, sondern auch im gesamten übrigen
Organismus (S. 93). Die physiologische Erklärung psychischer Vorgänge
macht aufserdem in der Begel den Fehler, dafs sie die physiologische
Erklärung mit der physikalischen verwechselt. Die Notwendigkeit des
physiologischen Geschehens ist ja noch nicht mit dem Vorhandensein aller
Teilbedingungen gegeben, wie in der Physik, und zwar deswegen nicht,
weil alle Vorgänge aufser dem, was sie sind, auch etwas bedeuten.
Zum Schlufs wird der zeitgenössischen Mosaikpsychologie die AvBNARiussche
438 Literaturbericht
„Variations Psychologie" gegenübergestellt, deren Vorzug vor allem sei, dalis
sie von dem Komplexesten, von Aussagen, Urteilen ausgeht, um den
Sinn derselben durch die Beziehung auf ihre biologische Funktion zn
erklären.
Ein grofser Teil der Ausffihrungen des Verf. fordert die Kritik geradeza
heraus. Die zahlreichen psychologischen Arbeiten zur „Charakterologie"
scheint er nicht zu kennen. In der Polemik gegen die Lokalisationstheorie
ist nicht beachtet, dafs, wenn einmal von „Lokalisation" des „Charakters''
eines Menschen die Rede sein soll, dies doch nur in dem Sinne gemeint
sein kann, dafs die psychische Eigenart desselben ihre Repräsentation im
Gehirn findet. Was soll demgegenüber die in gewissem Sinne von jeder-
mann zugegebene Behauptung bedeuten, dafs derselbe auch im gesamten
übrigen Organismus steckt? Die nicht uninteressanten tatsächlichen Belege
für die „Periodengesetze", die in der Psychologie die nämliche Rolle
spielen sollen, wie Kbplbbs und Newtons Gresetze in der Astronomie,
wären nur dann beweisend, wenn eine anderweitige Erklärung völlig aus-
geschlossen wäre. Dazu müfste aber das Nichtauftreten der betreffenden
Erlebnisse zwischen den Perioden und der Grad der Wahrscheinlichkeit
ihres Auftretens zu einer bestimmten Zeit überhaupt einer genaueren
Kontrolle zugänglich sein. Im übrigen fügt sich die Annahme eines
Rhythmus des Seelenlebens in eine gröfsere Gruppe psychologischer Be-
obachtungen ein (unter denen z. B. die Aufmerksamkeitsschwankongen
besonders eingehend untersucht sind), die aber weniger auf periodische
Wiederkehr von Einzelvorstellungen innerhalb so grofser Zeitintervalle, als
auf Schwankungen der gesamten Bewnüstseinslage innerhalb viel engerer
Grenzen hinweisen. Von prinzipieller Bedeutung ist die Forderung an
die Psychologie, ein „Kompendium der Menschenkenntnis" zu liefern. Mit
Recht betont zwar der Verf. die Notwendigkeit, bei der psychologischen
Erklärung nicht blofs die unmittelbar vorhergehenden Vorgänge, sondern
auch das organische Werden des Individuums zu berücksichtigen. Aber
jeder Versuch einer wissenschaftlichen „Charakterologie" besteht zuletzt
in nichts anderem, als in einer Beschreibung mit Hilfe von Merkmalen
(nicht eines Merkmales S. 231), die selbst psychologische Begriffe sind
und verrät eben damit das wissenschaftliche Ideal der Psychologie, aach
das Individuum als einen Komplex von Merkmalen und Gesetzen zu er-
klären, die nur die stets die Grundlage bildende allgemeine Psychologie
liefern kann. Th. Elssnhans (Heidelberg).
G. Hagbmank. Pfycliologie. Ein Leitfiideii fir tkademisclie Torleraigem iowla
lUB Selbstaiterricllt. Siebente Auflage, teilweise neu bearbeitet und
vermehrt von Dr. A. Dybopf. Mit 27 Abbildungen. Freiburg i. B.,
Herder. 1905. XI, 354 S.
Es mögen nun 30 Jahre her sein oder mehr, dafs Haoemanns Leit-
faden der Psychologie erstmals erschienen ist. Das Buch stellte sich auf
katholischen Boden, ohne daüs jedoch dieser Standpunkt aufdringlich betont
wurde, und fand dank seiner knappen und klaren Darstellung in den
Kreisen, für die es bestimmt war, gute Aufnahme und grofse Verbreitung.
Nach dem Tode Hagbmanns (1903) entschlofs sich der Verlag das inzwischen
]
Literaturbericht 439
^twas veraltete Bach einer gründlichen Umarbeitung zu unterstellen und
betraute Prof. A. DyBOFF-Bonn mit dieser nicht sehr dankbaren Aufgabe.
Schon rein äufserlich betrachtet, zeigt die neue Ausgabe eine gewaltige
Mehrung ; die Seitenzahl ist um mehr als ein Drittel gewachsen. AuTserdem
ist das Buchy wie das jetzt allgemein Sitte geworden ist, mit einer Anzahl
von Abbildungen zur Illustration der Mitteilungen aus der Anatomie und
Physiologie der Sinne und des Gehirnes ausgestattet. Auch dem Inhalte
nach hat das Buch erhebliche Veränderungen erfahren. Schon die Ein-
leitung wurde dem induktiven Charakter der gegenwärtigen psychologischen
Forschung entsprechend verändert. Unter wohl berechtigter Zurückstellung
der metaphysischen Grundlegung Hagbmanns gibt D. nach Orientierung über
Aufgabe und Methode der Psychologie eine Darlegung der psychologischen
Grundbegriffe; so bespricht er das Ich für sich, den Körper des Ich (vor allem
das Nervensystem), die Sinnes Wahrnehmung, die Vorstellung, die Denkakte, die
Gefühle, das Wollen (analytischer Teil). Die tiefstgreifende Umarbeitung
erfuhr die Lehre von den Sinnesempfindungen. D. hat hier kurz und klar
wohl alles Wichtige zusammengefafst, was in den letzten Jahrzehnten auf
diesem erträgnisreichen Gebiet zutage gefördert worden ist. Freilich kann
man sich fragen, ob die Psychologie als solche von den bei jenen Unter-
suchungen meist mit unterlaufenden physiologischen Erkenntnissen wirklich
grofsen Gewinn hat. Gering ist im Vergleiche dazu die Umarbeitung, welche
die Lehre von den Gefühlen gefunden hat. Besonders die Kontroverse über
den Unterschied der Gefühle von den Empfindungen, die durch Lange
und Jamss sehr akut geworden ist und noch auf dem letzten Kongrefs
für experimentelle Psychologie eine Rolle spielte, hätte wohl eine aus-
führlichere Behandlung verdient. Umgekehrt wäre es kein Nachteil gewesen,
wenn der Absatz über die religiösen Gefühle gefallen oder gründlich um-
gestaltet worden wäre. Es wird auf dem Boden der empirischen Psycho-
logie nicht ganz leicht sein, einen „angestammten religiösen Sinn^, ein
„religiöses Gefühl als Affektion der Seele durch ihre Beziehung zu Gott^
nachzuweisen. Bei der Darstellung des Willens und seiner Erscheinungen
hat D. gleich seinem Vorgänger auch der Willensfreiheit ein Kapitel
gewidmet, und zwar vom Standpunkt des Indeterminismus, doch unter Aus-
scheidung metaphysisch-theologischer Erwägungen. Ohne weiter auf eine
Diskussion einzugehen, möchte ich doch seiner Ansicht, dafs „das Gesetz
von der Erhaltung der Energie, das angeblich keine Vermehrung der
psychischen Energie zuläfst", gar nicht herein gehöre, widersprechen. Wenn
die Deterministen dieses Gesetz heranziehen, so denken sie nur an die
physische Energie und sehen in ihm eine Instanz gegen die Freiheit des
Willens, insofern der lediglich aus sich heraus wirkende Wille, wenn er in
der physischen Welt mit ihrer abgeschlossenen Summe von Energie
Wirkungen hervorruft, die vorhandene Energie vermehrt. So meinen das
wenigstens die meisten von uns Deterministen. — Im zweiten — synthe-
tischen — Teil werden die Gesetze der Sinneswahrnehmung (Reiz- und
Empfindungsintensität bzw. -qualität) des Denkens, des Gefühles u. dergl.,
besonders die Lehre vom Kontrast, von der Verschmelzung, der Assoziation
und Reproduktion, der Aufmerksamkeit und der Sprache behandelt Die
umfangreichste Umarbeitung erfuhr natürlich der Abschnitt über die Asso-
440 Literaturbericht
ziation. — Im dritten Teile kommen die mehr spekulativen Fragen Ober
die Sondematnr des Psychischen, über das Verhältnis von Leib und Seele,
über das Bewufstsein und sein Verhältnis zum Psychischen zur Behandlang,
abschliefsende Erörterungen, welche, wie erwähnt, Hagexaihv an den Anfang
gestellt hatte. Den Schlufs endlich bildet zunächst die anhangsweise Be-
sprechung der Modifikationen der allgemein-menschlichen Seelen zustände
(Temperament, Geschlecht, Lehensalter, Stammes- und Standesunterscbiede,
anormales Seelenleben) wie des individuellen Charakters, dann ein sehr
dankenswerter Überblick über die Geschichte der Psychologie, endlich ein
kurzes Verzeichnis der neuesten Literatur, soweit sie nicht schon bei der
Behandlung der einzelnen Gebiete und Probleme mitgeteilt worden ist.
Gerade diese durch D. sehr erweiterten Literaturnachweise bilden einen
besonderen Vorzug des Buches. — So ist es dank dieser mühevollen Um-
arbeitung zu einer recht brauchbaren orientierenden Einführung in die
Psychologie geworden und wird sich zweifellos zu den alten Freunden noch
viele neue erwerben, auch in denjenigen Kreisen, welche auf anderem
philosophischen Standpunkte stehen, wie der Neuherausgeber.
Dr. M. Offkeb (München).
B. Kern. Da« Wem det meBichllcliei Seelen- u4 OeliteelebeBs. Festschr.
z. 110. Stiftungs-Feier der Kais. Wilh. Akad. f. d. militärärztl. Bildungsw.
Berlin, Hirschwald. 1906. VIII. 130 S.
In sechs Kapiteln („Empfindung und Gefühl in Ethik und Erfahmng",
„Die Identität von Seele und Körper", „Das Denken**, „Geistige Freiheit",
„Der Streit um die Willensfreiheit", „Die Ethik") setzt Verf. unter häufiger
Bezugnahme auf Kant seine psychologischen, metaphysischen und ethischen
Ansichten auseinander, die vielfach so originell sind, dafs ein näheres Ein-
gehen auf sie wohl verlohnen dürfte. Da jedoch im Rahmen eines Referates
nur die Hauptpunkte dieser Philosophie, — und diese auch zum Teil nur
andeutungsweise — wiedergegeben werden können, so kann Ref. nur die
Lektüre der Schrift selbst dringend empfehlen, obwohl er selbst mit den
Ansichten des Verf. nur in wenigen Punkten übereinstimmt.
Verf. unterscheidet, wie schon die Überschrift andeutet, das Seelen-
leben des Menschen von seinem Geistesleben. Das erstere, bestehend
aus Empfindungen, Gefühlen und den von ihnen erzeugten Wollungen ist
identisch mit den körperlichen Vorgängen, und zwar sind die Empfindungen
zu identifizieren mit den Vorgängen in den Sinnesorganen, die Gefühle
mit den Vorgängen im vegetativen Organsystem, die Wollungen mit den
willkürlich ausgeführten Bewegungen. („Das Nervensystem ist nichts weiter,
als das Organ für die Einheit des Organismus und zwar, noch im engeren
Sinne, für die beschleunigte Herstellung dieser Einheit. Ihm entspricht,
in seelischer Sprache ausgedrückt, annähernd etwa das Bewufstsein "
8. 48). Wenn wir es mit „lebenden, seelisch auffafsbaren Wesen" (S. 58)
zu tun haben, so können wir sie „nach Belieben"^ (S. 53) als räumliche
und zeitliche, d. h. als körperliche, oder nur als zeitliche, d. h. als seelische
Gebilde auffassen; „nur die raumerzeugende Anschauungsweise macht ans
* Vom Ref. gesperrt.
LUeraturbericht 441
der Seele den Körper, verwandelt die seelischen in körperliche oder materielle
Vorgänge" (8. 54).
Diese Identität gilt aber nicht mehr zwischen körperlichem und
geistigem Leben. Der „Inbegriff des geistigen Geschehens" (8. 61) ist
das Denken, und für dieses ist kein entsprechender körperlicher Vorgang
aufzuweisen; denn da das Denken, wie oben ausgeführt, Seele und Körper
erst schafft, so steht es in gleicher Weise über beiden. Da das Denken
ferner auch das Kausalgesetz schafft, so kann es nicht selbst diesem Gesetze
unterworfen sein; vielmehr hat es eine „Eigengesetzlichkeit" (8. 91), das
Sollen. Sie ist ausgesprochen in dem Satz vom zureichenden Grunde, und
das Kausalgesetz ist nur die Anwendung dieses Satzes auf das seelische
und körperliche Geschehen.
Das Willensleben des Menschen ist durchaus determiniert, aber nicht
nur durch Empfindungen und Gefühle, sondern auch durch das Denken.
Das Denken selbst aber ist frei, in dem Sinne, dafs es zwar nur eine
richtige Lösung einer Aufgabe gibt, dafs aber das Denken diese richtige
Lösung nicht finden mufs, sondern nur soll. Damit wird also auch der
Wille des Menschen, der ja eben auch von seinem Denken abhängig ist,
in gewissem Sinne „frei". Im Zusammenhange mit dieser „Lösung" des
einen Du Bois-REYMONDschen Welträtsels kommt Verf. auch auf die der
anderen zu sprechen. Es ist für seine philosophischen Anschauungen so
bezeichnend, wie er auch die anderen „löst", dafs Ref. es sich nicht ver-
sagen kann, diese „Lösungen" hier noch im Wortlaute wiederzugeben : „Das
Wesen von Materie und Kraft sind Denkbegriffe." „Der Ursprung der
Bewegung liegt da, wo unser rückwärts gerichtetes Denken aufhört." „Das
Entstehen der Empfindung ist nicht materialistisch, sondern auf dem Wege
des seelisch-körperlichen Parallelismus zu erklären." „Die Willensfreiheit
ist aus dem Bereiche unserer Erkenntnis zu streichen und durch die Denk-
freiheit zu ersetzen." „Der Ursprung des Lebens fällt zunächst noch in
das Gebiet der empirischen Forschung." „Die Zweckmäfsigkeit der Lebe-
wesen ist in empirischem Lichte Ursache und Wirkung." „Das vernünftige
Denken endlich ist der Urgrund aUer unserer Erkenntnis und die Frage
nach seiner Entstehung logisch hinfällig, weil das Denken der zeitlose Zeit-
schöpfer ist und aufserhalb jedes Zeitbegriffs steht" (S. 116).
LiPüAVN (Berlin).
M. W. Calkins. Der doppelte Standpunkt im der Pfyehologie. Leipzig, Veit & Co.
1905. 80 S. Mk. 2.—.
Die Verf. schickt der Bearbeitung ihres Hauptproblems, des „doppelten
Standpunktes in der Psychologie", eine Übersicht über die „Bewufstßeins-
elemente*^ voraus. Sie versteht unter „Element" „den durch innerliche
Beobachtung unterscheidbaren Bewulstseinsbestandteil" (S. 14) und zählt
dazu a) Empfindungselemente, nämlich: Empfindungsqualitäten und Emp-
findungsextensitäten; b) attributivische Bewufstseinselemente d. h. solche,
die Bewufstseinsinhalten einer anderen Art anhängen. Hierher sollen die
Gefühlselemente: Lust und Unlust, das „RealitätBgefühl'^ und vielleicht auch
das „Aufmerksamkeitsgefühl" gehören; c) Belationselemente z. B. die Vor-
442 Literaturhericht
Stellungen der Einheit und der Vielheit, der Totalität, der Gleichheit und
der Ungleichheit.
Sodann werden zwei Standpunkte der Psychologie unter-
schieden: Die „Vorgangspsychologie", welche dad BewuTstsein ganz und gar
ohne Rücksicht auf das bewufste Ich als eine Keihe verketteter psychischer
Vorgänge auffafst, und die „Ichpsychologie'', welche es als ein „vielseitiges
Bewufstsein des eigenen Ich in seinen Beziehungen'' betrachtet (S. 32 f.).
Nach der einen Methode vernachlässigt man das Selbst, d. h. das Ich ; nach
der anderen betrachtet man das Bewuüstsein als „wesentlich soziales Selbst-
bewufstsein'*. Die Vorgan gspsychologie ist eine „Kausal Wissenschaft", die
Ichpsychologie nicht. Einander gleich sind aber beide darin, daüs von
beiden Standpunkten aus das Bewufstsein in Elemente analysierbar ist.
Ein dritter Abschnitt endlich sucht in den einzelnen Bewufstseins-
erlebnissen die Möglichkeit und Notwendigkeit dieser doppelten Betrachtungs-
weise zu zeigen. So werden voneinander geschieden die Wahrnehmung
und das Wahrnehmen, für welches letztere charakteristisch ist einerseits
die Passivität, in welcher wir uns als Wahrnehmende, z. B. einem unan-
genehmen Geruch gegenüber befinden, und andererseits das BewuHstsein,
dafs irgend welche Menschen das, was ich wahrnehme, mit wahrnehmen,
oder mit wahrnehmen könnten; ferner die Phantasievorstellung und die
Phantasie, der Gedanke und das Denken, das Wiedererkannte und das
Wiedererkennen, die Affekte als Elementenkomplexe, durch Lust und
Unlust und durch Organempfindungen gekennzeichnet^ und die Affekte als
Selbstbewufstsein und zwar als leidendes und als „zweifach individuali-
sierendes persönliches Bewufstsein*', sofern ich nämlich im Affekt unmittelbar
nicht nur mich selbst, sondern auch die anderen Menschen — oder Gegen-
stände — , deren ich mir fühlend bewufst bin, individualisiere. Besonders
bedeutend ist endlich der Unterschied zwischen Vorgangspsychologie und
Ichpsychologie beim Willens Vorgang und Glaubensvorgang. Der Willens-
vorgang ist als Elementenkomplex gekennzeichnet durch das BewuDstsein
des Vorangehens teils der Zukünftigkeit überhaupt, teils der Verwirklichung,
teils der Verbindung der WiUens Vorgänge mit der zukünftigen Bewegung,
der Glaubensvorgang durch das Bewufstsein der Wirklichkeit, welches mn
dem Bewufstsein der Übereinstimmung von irgend etwas mit irgend etwas
anderem haftet (S. 10). Als SelbstbewuCBtseinsarten unterscheiden sich
Wille und Glauben von allen übrigen Bewuistseinserscheinungen darin,
dals sie tätige Erlebnisse sind, und zwar der Wille das Selbstbewnfstsein
eines egoistischen tätigen Verhaltens, der Glaube das SelbstbewnXstsein eines
tätigen altruistischen Verhaltens zu anderen Menschen und Gegenständen.
Die Schrift gibt manche treffende Ausfflhning zu dem Satz, daCs eine
blofse Zerlegung der Bewufstseinserlebnisse in ihre Elemente m ihrer
Erklärung nicht ausreicht : die Beweisführung leidet aber stark unter einei-
gewissen Unbestimmtheit der Begriffe s. B. des Geffthls (das eine Mal Lust
and Unlust, das andere Mal ,.irgend ein einfaches Bewufstsein'' S. 23X des
Selbstbewufstseins, der Realität, eine Unsicherheit, die übrigens mit der
erschwerten Handhabung der Fremdsprache zusammenhängen mag. Wenig
glücklich ist auch die Bezeichnung der .Intensitäten" und ,.Exten8ität»i*
der Empfindung als ..Elemente" und die an Sfikosas* Affektenlehre an-
Literaturbericht 443
klingende und auf der Zweiteilung „Glück", „Unglück" aufgebaute Über-
sicht (S. 60) der Affekte. Lehrreich ist jedoch der Versuch, jene einmal
angenommene doppelte Betrachtungsweise an den psychologischen Einzel-
problemen durchzuführen. Th. Elsknhaks (Heidelberg).
G. M. Stbatton. The DIfference between the leftUl and the Physical. Psycholog,
BuüeHn 3 (1), 1—9. 1906.
Es sind nicht bestimmte Merkmale, die dem Psychischen und Physi-
schen anhaften und es als psychisch und physisch kennzeichnen, sondern
der Unterschied besteht einzig in der verschiedenen Art des Ver^
haltens (behavior), die dem einen und dem anderen eignet und eine ver-
schiedene Gesetzmäfsigkeit auf beiden Seiten erkennen läfst ; letzten Endes
besteht sonach der Unterschied der beiden Gebiete in den gesamten Ergeb-
nissen derjenigen Wissenschaften, welche sich mit dem Verhalten des
Physischen und des Psychischen befassen, d. h. der Physik und Psychologie.
Prandtl (Weiden).
F. Thillt. Psychology, latvtl Science, and Philosepliy. Fhüosophical Revieio
15 (2), 130—144. 1906.
Soll die Psychologie ihr Bündnis mit der Philosophie (im engeren
Sinne, i. e. Ethik, Ästhetik, Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik) auf-
geben, soll sie sich „selbständig machen'' oder sich mit den Naturwissen-
schaften verbünden? Letzteres scheint nahe zu liegen, erstens weil die
Psychologie jetzt ja auch von den Methoden der Naturwissenschaften
Gebrauch macht, und zweitens, weil vielfach behauptet wird, dafs man zu
exakten psychologischen Ergebnissen nur auf dem Wege der Gehirn-
physiologie kommen könne. Aber die Ergebnisse der experimentellen
Psychologie sind keine eigentlich psychologischen, sondern vielmehr psycho-
physische. Zu psychologischen Resultaten im wahren Sinne des
Wortes kann man nur durch Selbstbeobachtung („introspection") gelangen.
Was den zweiten Grund für die Vereinigung der Psychologie mit den
Naturwissenschaften anbelangt, so liegt es ja auf der Hand, dafs auch eine
vollständige Kenntnis der Gehirnvorgänge uns kein psychologisches Wissen
vermitteln könnte; vielmehr mufs umgekehrt der Gehirnphysiologe, der
sich auf eine Deutung der Ergebnisse seiner Wissenschaft einläfst, bereits
über psychologisches Wissen verfügen. Dagegen also, die Psychologie als
eine Naturwissenschaft zu betrachten, spricht erstens die nur scheinbare
Gleichheit der Methoden, besonders aber zweitens die prinzipielle Ver-
schiedenheit der Objekte beider Wissenschaften. — Überhaupt erscheint es
nicht zweckmäfsig, die Psychologie von der Philosophie im oben genannten
Sinne loszulösen; denn einerseits bedürfen die anderen philosophischen
Disziplinen der Psychologie, da sie es ja alle mit geistigen Phänomenen zu
tun haben, andererseits empfängt umgekehrt die Psychologie von ihnen die
wertvollsten Anregungen, da diese geistigen Phänomene eben nur an Ob-
jekten der Ästhetik, Logik etc. konstatiert werden können.
LiPHANN (Berlin).
444 Literaturhericht
j. A. Leiohton. The Ptycliological Seif aad tbe Actoal PertoAtlity. Phäos.
Review 14 (6), 669-683. 1905.
Die analyBierende Psychologie^ welche nur Bewnrstseinsinhalte, ihre
künstliche Zerlegung in Elemente und ihre künstliche Verknüpfung durch
Gesetze kennt, kommt niemals an das Selbst heran; auch bei der Zer-
gliederung des Selbstbewufstseins erfafst es nur das Objekt „Mich", nicht
aber das Subjekt „Ich''; dies ist vielmehr die Vorbedingung dafür, dals
überhaupt einzelne BewuJGstseinsinhalte erlebt, analysiert und verknüpft
werden können. Die psychologische Analyse mufs daher grundsätzlich dort
versagen, wo der Mensch nicht als passiver Bewufstseinsinhalt, sondern als
lebendiges Zentrum einheitlicher Aktivität auftritt, in der menschlichen
Kultur. Hier mufs eine andere, die „noologische" Methode (Scheleb) Platz^
greifen; denn die geistesgeschichtliche und kulturelle Bewegung der Mensch-
heit ist nur verständlich durch die Annahme, dafs jedes Individuum eine
einheitliche Reaktionsweise und Stellungnahme zu den Kultursystemen
besitzt. W. Stern (Breslau).
H. LuQüET. RMexlen et iBtroipectlOA. Rev. philos, CM) (12), S. 583—691. 1905.
Die Reflexion isoliert, analysiert, klassifiziert die psychischen Phftno
mene, sucht Beziehungen, Gesetze zwischen ihnen auf; die Introspektion
ist ihrer Natur nach synthetisch ; sie sucht das psychische Leben in seiner
Ganzheit zu erfassen ; sie sucht sozusagen weniger Gesetze als Harmonien ;
sie nähert sich der Kunst. Groethuysen (Berlin).
SoLLiER. La conscience et sei degris. Rev. philos. 60 (10), S. 329—854. 1905.
Das Bewufstsein registriert die Phänomene, die in einem gegebenen
Momente dem relativ höchsten Grade der Gehirntätigkeit entsprechen.
Zwischen gleichzeitig gegebenen Phänomenen bildet sich eine Hierarchie
von Bewufstseinsgraden. Wird die Gehirntätigkeit z. B. im hypnotischen
Schlaf bis zu einem gewissen Grad vermindert, und werden die Phänomene,
die die höchsten Bewufstseinsgrade erreichen, ausgelöscht, so erreichen die
in der Bewufstseinshierarchie nächstfolgenden Stufen das relative Maximum
von Bewufstsein; es werden Phänomene, z. B. schwächste Organemp-
findungen, die im Normalzustande niemals bewuTst wahrgenommen werden,
wahrgenommen; umgekehrt bei Wiederherstellung der Gehirn tätigkeit.
Durch die hierarchische EInregistrierung bestimmter Phänomene vereinfacht
das Bewufstsein die Organisation der Eindrücke. Groethuysen (Berlin).
Akton Palme. J. Ii. Siiliers Psycholegle «nd dieAnfiige der Drei? ermSgeis-
psychelogie. Jnaug.Diss. Berlin, Fufsinger. 190b. 62 8.
Bisher galt bald Tetens bald Mendelssohn als derjenige, von dem Kant
seine Einteilung des Seelenlebens in drei Vermögen, Empfindung (Vor-
stellung), Gefohl, Wille, herübergenommen habe. An Sulzer dachte man
nicht. Ihm will Palme zu seinem Rechte verhelfen. Er gibt eine ein-
gehende Darstellung der SuLZEBSchen Psychologie und zeigt dabei vor allem,
wie S. zu der Erkenntnis gelangt ist, dafs die emotioneUen Vorgänge als
sui generis gleichberechtigt neben die intellektuellen Vorgänge zu treten
haben, also das Gefühl eine eigene, dritte Grundklasse ist, dadurch charakte-
risiert, dafs in ihm das Subjekt zwar etwas empfindet, aber nicht einen
Literaturberichf . 445
Gegenstand, sondern sich selbst (man vergleiche dazu die ähnliche Begriffs-
bestimmung des Gefühles bei Lipps). Schliefslich bespricht er die Versuche
von Tbtbns und Mekdelbsohn, zu einer solchen Dreiteilung zu gelangen, und
macht nicht unwahrscheinlich, dafs Tetbns* EinfluTs auf Ka.nt bisher ebenso
überschätzt wurde wie der von Mendelssohn und dafs vielmehr Sülzeb es
war, dem Kant in dieser Dreiteilung gefolgt ist. Mit einem Hinweis auf
mögliche Einflüsse Slxzbrs auf Hebbarts schliefst diese klar geschriebene
Arbeit. Wenn wir auch gern mehr erfahren hätten über die Voraussetzungen
der SuiJSERSchen Psychologie, besonders Ober das Vorhandensein von Be-
ziehungen zu Ghables Bonnet, so sehen wir doch in dieser Untersuchung
einen sehr dankenswerten Beitrag zur Geschichte der deutschen Psychologie.
M. Offner (München).
8. Kraüss. Tbiodale RibotS Psychologie. Ein Beitrag zur Geschichte der
modernen Psychologie in Frankreich. I. Teil: RlbotS orsto Schaffens-
Periode (187^-1890). Jena, Costenoble. 1905. XVI u. 170 S. Mk. 4,—.
Das dankenswerte Unternehmen, das Verständnis der RiBOTSchen
Psychologie dem deutschen Leserkreis zu vermitteln, ist durch ein Vorwort
BiBOTS selbst eingeleitet, in welchem er selbst die zwei Grundprinzipien
hervorhebt, die ihm als Richtschnur gedient haben: die Untersuchung der
Phänomene des Seelenlebens vom Gesichtspunkte ihrer Entstehung (Evo-
lution) und ihrer Auflösung (Dissolution). Der Hauptnachdruck liegt auf
dem Prinzip der Dissolution, das auf der Beobachtung beruht, dafs z. B.
beim Gedächtnis, bei den Bewegungen und bei den Gefühlen der Auf-
lösungsprozefs — im Gegensatz zur Entwicklung — gerade den umgekehrten
Weg einschlägt, dafs also die höheren Funktionen vor den niederen, die
komplizierten vor den einfachen verschwinden. So läfst sich von der Reihen-
folge der Auflösung einer psychischen Funktion auf die Art ihrer Ent-
stehung schliefsen.
Ein I. allgemeiner Teil gibt eine Charakteristik des Standpunktes
RiBOTB, eine biographische Skizze und eine Darstellung seiner Gedanken
über Wesen und Aufgaben der modernen Psychologie, seiner Methode und
seines Verhältnisses zur deutschen Psychologie. Die Schule Rlbots, welche
der Verf. als den Kern der französischen Psychologie betrachtet und als
deren Vorgänger auch H. Tainr gelten kann, sieht sowohl von den Posi-
tivisten als von den Metaphysikern vollständig ab und befafst sich blofs
mit einer exakten Forschung auf dem Gebiete der beschreibenden,
vergleichenden und experimentellen Methode. „Was für Deutschland das
Jahr 1860, das bedeutet für Frankreich das Jahr 1870, den bedeutungsvollen
Übergang von alter zu neuer Psychologie." Es gilt nun, das, was die
anderen exakten Wissenschaften, was Mathematik, Physik, Chemie und
alle anderen Naturwissenschaften zustande gebracht haben, nämlich die
vollständige Lostrennung von Mutter Philosophie, auch mit der Psychologie
vorzunehmen und zu beweisen, dafs die Psychologie, obzwar Schofskind der
Metaphysik-Philosophie, doch nur als exakte Naturwissenschaft behandelt
werden mufs (S. 12). Demgemälis ist die Psychologie in folgende Spezial-
gebiete einzuteilen: I. Beschreibende Psychologie. II. Vergleichende Psycho-
446 Literaturbericht
]ogie, welche die Untersuchung der psychischen Phänomene der verschiedenen
Tiere von den Mollusken und Protozoen an bis hinauf zum intelligentesten
Tiere, die Kinderpsychologie, die Psychologie der Wilden und die der
niederen Menschenrassen umfafst. III. Die Psychologie der krankhaften
Zustände des Seelenlebens (Psychologie morbide), innerhalb welcher die
die besonders fruchtbare „pathopsychologische Methode" Anwendung finden
soll. Endlich IV die Psychologie der verschiedenen Gharaktertypen , die
wieder in eine Ethologie des Individuums, der Völker und der verschiedenen
Rassen zerfällt.
Die Entwicklung dieses Programms vollzieht sich bei Ribot in zwei
Perioden. In der ersten Periode, mit welcher sich die vorliegende Arbeit
hauptsächlich beschäftigt, verweilt er mehr bei den niederen Phänomenen
des Seelenlebens. Seine ganze Untersuchungsmethode basiert noch auf den
rein physiologischen Tatsachen, die er aus der Anatomie, Physiologie, Bio-
logie, Anthropologie und besonders der Psychopathologie holt. Sie umfafst
die Werke: Les maladies de la memoire (1881), Les maladies de la volonte
(1883), Les maladies de la personalit^ (1885), La psychologie de Tattention
(1889) und einen Teil der psychologie des sentiments (1896). Dieses letztere
Buch „bildet gleichsam einen Wendepunkt" in der psychologischen Methode
RiBOTS. Er begibt sich allmählich in ein neues Gebiet, ohne jedoch seiner
exakten Forschungsweise untreu zu werden. Diese zweite „rein psycho-
logische Periode" umfafst die komplizierteren Erscheinungen des Seelen-
lebens, die Psychologie der höheren Gefühle, die allgemeinen Ideen, die
Schöpferkraft der künstlerischen Phantasie, auch Philosophie, Religion^
Ästhetik, Kunst in ihrem Zusammenhange mit der sozialen Evolution.
Der IL spezielle Teil gibt eine Darstellung der RiBOTschen Psycho-
logie an der Hand seiner Monographien der ersten Periode, wobei die chrono-
logische Reihenfolge zugrunde gelegt wird, der III. Teil: Kritik und
Resum^. Dabei wird unter anderem die Auffassung der RiBOTSchen Theorie
der Aufmerksamkeit als blofser „ Muskel theorie" zurückgewiesen mit dem Hin-
weis auf die konstitutiven Momente der Aufmerksamkeit selbst : „Gefühl ver-
knüpft mit Bewegungen" (S. 140f.) ; und in der Gefühlslehre wird die Rmorsche
Fassung der jAHss-LANOEschen Theorie der Affekte besprochen. An die
Stelle der dualistischen Ansicht von James-Lanob, wonach die physischen
Manifestationen die Ursache sind und die Emotion die Wirkung sein soll,,
ist eine andere einheitliche monistische Konzeption zu setzen. „Die Aus-
drucksbewegungen des Gesichts und des Körpers, die vasomotorischen,
respiratorischen und sekretorischen Modifikationen, als objektiver Ausdruck
einerseits, das Korrelat der Bewufstseinszustände und Empfindungen ala
subjektiver Ausdruck andererseits, sind im Grunde ein einziger Vorgang
in zwei verschiedenen Sprachen ausgedrückt (S. 131 f., 111 ff., 148 ff.).
Einzelne unrichtige Bemerkungen laufen mit unter, wie die Behauptung,
dafs die intellektualistische Theorie Herbabts und seiner Nachfolger heute
noch immer in Deutschland die dominierende sei (8. 1121). Am wenigsten
durchgebildet ist die Darstellung der Methode, die einerseits als „rein psycho-
logische*' für die zweite Periode Ribots charakteristisch sein, andererseits
im Sinne Ribots überhaupt nur als exakt-naturwissenschaftliche Berechtigung
1
Literaturhericht 447
haben soll. Im ganzen aber gibt die Schrift einen interessanten Einblick
in ein wertvolles Stück französischer Psychologie.
Th. Elsenhans (Heidelberg).
W. McDouGALL. The lUiMlom of the ,^liitteriig Heart'' and the Ylraal
Finctions of tbe Rods of the Retina. Joum. of Fsychology 1 (4), 428 bis
434. 1905.
Unter der Bezeichnung der flatternden Herzen sind bisher verschiedene
Dinge verstanden worden. Die nur bei Dunkeladaptation und schwacher
Beleuchtung zu beobachtende Erscheinung wird mit v. Kbies auf die zeit*
liehe Verschiedenheit in der Reaktion des Zapfen- und des Stäbchen-
apparates zurückgeführt. Die relative Bewegung der beiden verwendeten
Flächen ist am deutlichsten, wenn die eine Farbe nur die Zapfen erregt
(roter Grund), die andere möglichst stark die Stäbchen (grüner Fleck). Das
Oszillieren ist nicht zu sehen, wenn das Feld klein ist und direkt fixiert
wird. Ebenso hebt Helladaptiou die Erscheinung auf.
W. Trendblenbubo (Freiburg i. B.).
W. Mac Dougall. The Variation of the Intensity of Yianal Sensation with the
Dnration of the Stimnlns. Joum, of Fsychol 1 (2), S. 151-189.
Verf. berichtet über die Ergebnisse von Versuchen, die er angestellt
hat, um die Zeit des Ansteigens der Netzhauterregungen, die bisher von
ExNEB, KüNKEL, SwAN, Charfentieb, Martiüs uud vou mir einer Messung
unterzogen worden ist, endgültig zu bestimmen. Meine Arbeit findet keine
Erwähnung. Dagegen setzt sich Mac Dougall mit den Untersuchungen von
ExNEB, Kunkel und Mabtius kritisch auseinander, während er hinsichtlich
der Arbeit Swans, — der ebenso wie ich gefunden hat, dafs Licht ver-
schiedener Intensität gleich lange Zeit zur Erregung maximaler Emp-
findungsstärke einwirken mufs, — nur kurz bemerkt, — diese Untersuchung
werde durch die meisten der Fehlerquellen beeinflufst, an denen auch das
Verfahren von Exnek und Kunkel kranke. Was die Experimente Chabpentiebs
anlangt, so findet unser Autor den Bericht über dieselben zu kurz, um eine
kritische Auseinandersetzung damit zu ermöglichen.
Gegen die ExNSBsche und KuNKSLsche Methode wendet er zunächst
ein, was ich auch schon betont habe, dafs der Simultankontrast dabei eine
Fehlerquelle bedeute. Aufserdem findet er es unzweckmäfsig, simultan zwei
sehr kurz dauernde Keize zur Vergleichung darzubieten. Er meint, nach-
dem die alte Theorie des Vergleichens überwunden sei, wonach bei jeder
Vergleichung die zu vergleichenden Eindrücke gleichzeitig bewufst sein
müssen, lasse sich kein Grund mehr für Beibehaltung der Simultanexposition
finden. Aber so gern ich einerseits die Schwierigkeiten zugebe, die eine
Vergleichung nebeneinander liegender, nur während kleiner Bruchteile einer
Sekunde dargebotener Felder in sich schliefst, so mufs ich doch gerade für
die Vergleichung optischer Eindrücke das Verfahren sukzessiver Dar-
bietung bedenklich finden, da hierbei wohl in der Mehrzahl der Beob-
achtungen dieselbe Netzhautstelle beide Eindrücke empfängt und eine Be-
einflussung der an zweiter Stelle hervorgerufenen Erregung durch Nach-
448 Literaturbericht.
Wirkungen der ersten nicht ausgeschlossen erscheint. M. Douoall sieht
sodann einen weiteren Mangel der ExNEBschen Untersuchung in der Nicht-
berücksichtigung der Verschiedenheit des Stäbchen- und Zapfenapparates
der Betina, deren Bedeutung zur Zeit der Abfassung der ExuEBschen Arbeit
noch nicht bekannt war. Endlich sollen bei Exneb zwei Fragen nicht
genügend auseinander gehalten werden, die wohl zu unterscheiden sind,
nämlich: Wie lange mufs Licht gegebener Intensität auf die Netzhaut ein-
wirken, um das Maximum der Empfindung zu erzeugen ? und : In welchem
Moment nach dem Einfallen des Lichts auf die Netzhaut erreicht die dadurch
erregte Empfindung ihren Höhepunkt?
Von der Triftigkeit dieser beiden letzten Einwände kann ich mich
nicht überzeugen. Auf den vorletzten, der von M. Doüqall mehr gegen die
KüNKELSChe Arbeit erhoben wird, soll hier nicht weiter eingegangen werden.
Aber was den letzten betrifft, so geht doch Exneb, soweit ich sehe, von der
Überlegung aus, dafs die Empfindungskurve der Dauer der Reizeinwirkang
entsprechend einen bestimmten Verlauf nimmt, ohne dafs über den^zeitlichen
Abstand dieses Empfindungsverlaufs vom Beginn der Reizeinwirkung irgend
eine Annahme gemacht wird. Exnkr mifst doch nicht die Zeit, die von
Beginn der Einwirkung des zweiten Reizes bis zu dem Augenblick ver-
streicht, wo die dem zweiten Reiz entsprechende Empfindung der Emp-
findung des ersten Reizes gleich erscheint, sondern er konstatiert die Zeit,
nach welcher der zweite Reiz abgeschnitten werden mufs, damit die von
ihm hervorgerufene Empfindung in irgend einem Moment der Emp-
findung des ersten Reizes gleich erscheint. Der Anstieg der Empfindungs-
kurve kann eine beliebige Zeit nach dem Anfang der Reizeinwirkung
beginnen, ohne dafs die ExNERSchen Überlegungen dadurch irgendwie
beeinträchtigt werden.
Gegen das Verfahren, das Martius bei seiner gleichartigen Untersuchung
angewandt hat, erhebt unser Autor die, wie mir scheint, berechtigten Ein-
wände, dafs die Bewegung des Kopfes und des Auges von einem Okular,
in welchem ein kurzdauernder Reiz erschien, zum anderen, durch das ein
kontinuierlicher Lichteindruck zu sehen war, die ohnehin schwierige Ver-
gleichung sehr wenig zuverlässig gestaltet und dafs aufserdem der kon-
tinuierliche Lichteindruck keinen konstanten Helligkeitswert besitzt, sondern
nach Erreichung des Empfindungsmaximums sehr schnell abfällt.
Was die von M. Doüoall selbst angestellten Versuche anlangt, so sind
sie in der Weise durchgeführt, dafs eine rotierende Scheibe mit zwei
variablen Ausschnitten den Strahlenkegel einer Projektionslampe durch-
schneidet, so dafs nur während des Durchganges der Ausschnitte durch
den Weg der Lichtstrahlen diese einen Schirm beleuchten können, dessen
sukzessive Aufhellungen der Beobachter miteinander vergleicht. Wenn nun
die dem kürzeren Ausschnitt entsprechende Aufhellung geringer ist als die
dem längeren entsprechende, dann schliefst unser Autor, dafs die Ein-
wirkungszeit des Lichtreizes noch nicht lang genug war, um das Maximum
der Empfindung entstehen zu lassen. Wenn aber durch allmähliche Er-
weiterung des kürzeren Ausschnittes diejenige Expositionsdauer gefunden
wird, bei welcher der Reiz zum erstenmal ebenso hell erscheint, als während
Liferaturbericht 449
dea Vorübergangee der anderen Öffnung, der eine etwas' längere Ein-
wirknngszeit des Beizes entspricht, dann soll jene Expositionsdauer die
„ Aktionszeit ^ des betreffenden Lichtreizes darstellen, d. h. die Zeit, während
welcher er einwirken mufs, um das Maximum an Empfindung, das er über-
haupt hervorrufen kann, zu erzeugen. Eine besondere Rechtfertigung dieser
Auffassung glaubt M. Dougall darin erkennen zu dürfen, dafs bei fort-
gesetzter gleichmäfsiger Erweiterung beider Ausschnitte nun bald das Ver-
hältnis der Helligkeiten in der Weise sich umkehrt, dafs der kürzeren
Expositionszeit eine gröfsere Helligkeit entspricht als der längeren.
So bestimmt unser Autor die Aktionszeit eines Lichtes von gewisser
mittlerer Intensität als 61 a, eine Dauer, die gröfser ist als die von Martics
angegebene, aber weit geringer als die von Exnbb und als die von mir
gefundene.
Ich glaube jedoch nicht, dafs das beschriebene Verfahren und damit
die gewonnenen Resultate ganz einwandsfrei sind. Abgesehen von der
schon berührten Mifslichkeit, dafs die sukzessiven Erregungen auf derselben
Netzhautstelle stattfinden, wobei eine gegenseitige Beeinflussung nur zu
wahrscheinlich ist, mufs vor allem folgendes betont werden: Bei der Ver-
suchsanordnung M. DouGALLS wird, soweit aus den Zeichnungen zu ersehen
ist, das lichtlose Intervall zwischen dem Ende des kürzeren und dem Anfang
des längeren, ebenso wie zwischen dem Ende des längeren und dem Anfang
des kürzeren Reizes ebenfalls verändert, wenn die Expositionszeit der Reize
variiert wird. Das kann nicht ohne Einflufs bleiben auf das Helligkeits-
verhältnis der beiden Reize, zumal da die beiden lichtlosen Intervalle nicht
stets um dieselbe Gröfse zu und abnehmen, weil nicht die Differenz, sondern
das Verhältnis der Spaltbreiten konstant gehalten wird.
Dazu kommt, dafs unser Autor die Helligkeitsverhältnisse bei viel
längeren Expositionszeiten überhaupt nicht untersucht zu haben scheint.
Die Helligkeitsabnahme, die er von 61 bis 250 a Expositionsdauer des Reizes
glaubt konstatieren zu können, betrachtet er bereits als eine Wirkung
der Ermüdung des Sehapparates, ohne die Möglichkeit von Intensitäts-
schwankungen zu diskutieren, deren ungeachtet das eigentliche Maximum
der Empfindung bei einer längeren Reizeinwirkung eintreten könnte.
Ich habe versucht, die Experimente M. Dougalls in der Weise nach-
zuprüfen, dafs ich das lichtlose Intervall zwischen dem kürzeren und dem
längeren Reiz konstant hielt und die Reizzeiten in weiterem Umfang
variierte. Als Lichtquelle habe ich eine Nernstbatterie von drei Glühfäden
benützt, deren Licht durch die Linsen eines Projektionsapparates auf eine
«twa 4 m entfernte Wand geworfen wurde. Ich habe also, wie man leicht
beurteilen kann, mit Reizen von keineswegs geringer Intensität gearbeitet.
Trotzdem habe ich nicht die kleinen Aktionszeiten konstatieren können,
die M. Dougall angibt. Es wurde gelegentlich noch ein Reiz von 264 a als
heller beurteilt als ein solcher von 88 a und dieses Urteil blieb das gleiche,
ob der längere oder der kürzere Reiz an erster Stelle dargeboten wurde.
^ Das Verhältnis der Expositionszeiten, welchem, abgesehen von diesem
«inen Fall, eine ebenmerkliche V^schiedenheit der Empfindungen entspricht,
wird eigens bestimmt.
Zeitschrift für Psychologie 48. '^
450 Literaturhericht.
Allerdings habe ich wiederum, wie bei meiner frfiheren Untersuchung,
konstatieren müssen, dafs die Unsicherheit des Urteils bei einer nicht
semesterlang in solchen Beobachtungen geübten Versuchsperson zu grofs
ist, um eine kurze Nachprüfung der so vollständig voneinander abweichenden
Angaben der bisherigen Beobachter zu einem wirklich entschiedenen Er-
gebnis gelangen zu lassen. Dürb (Würzburg).
A. EiBscHHANN. lormtle vAd uomale Farbeuyiteme. Archiv f. d, ges. Pty-
chologie 6 (4), S. 397—424. 1906.
K. will zeigen, dafs die Untersuchung des Farbensinnes mit' spektralen
Lichtern und das Bestreben, eine Komponeutentheorie des Lichtsinnes aus-
zubauen, für die Erkenntnis der Eigentümlichkeiten des normalen Farben-
sinnes und seiner Beziehungen zu den Anomalien sehr hinderlich gewesen
sei und noch sei. Ein Einblick in diese Verhältnisse ist nach ihm nur
von einer exakten Beschreibung der im Bewufstsein auftretenden Gesichts-
empfindungen, von ihrer psychologischen Ordnung nach Farbenton, Hellig-
keit und Sättigung und von der Aufdeckung anderer gesetzmälsiger Be-
ziehungen der einzelnen Empfindungen zueinander zu erwarten.
Es ist K. vollkommen zuzugeben, dafs ein Spektrum eine Reihe von
Empfindungen auslöst, deren Qualitätenreihenfolge und Helligkeitsverhält-
nisse zunächst psychologisch etwas rein zufälliges sind und keine wesent-
lichen Eigenschaften des empfindenden Apparates erkennen lassen. Es ist
ein Nebeneinander einiger, aber durchaus nicht aller möglichen Gresichts-
empfindungen.
Ferner ist zuzugeben, dafs Reihen aller möglichen Gesichtsempfindungen,
sowie sie sich der Selbstbeobachtung bieten, keinen AnlaCs zum Hervor-
heben bestimmter Grundempfindungen, Komponenten des empfindenden
Apparates bieten, vielmehr ein Kontinuum gleichberechtigter Übergänge
bilden (Wundt).
Beides hat aber, wenigstens die YoüNG-HsLMHOLTZsche Theorie, nicht
behauptet. Diese Theorie betrachtet die Empfindungen, ohne über diese
selbst etwas auszusagen, aussch lief sl ich unter dem Gesichtspunkte, da£s sie
als gesetzmäfsige Wirkungen bestimmter Lichtreize auftreten und dafs die
gesetzmäfsigen Beziehungen zwischen allen möglichen Reizarten und allen
möglichen Reiz Wirkungen, den Empfindungen, die Einrichtung des licht-
reagierenden Apparates der Netzhaut erschliefsen läfst. Nur für diesen
wird eine Komponentengliederung erschlossen. Natürlich hat die Be-
stimmung der Reaktionsweise der Netzhaut und ihrer hypothetischen
Komponenten auf ein bestimmtes Spektrum dann auch ihren guten Sinn,
denn nach der Wirkungsart der homogenen Strahlen pflegt man physikalisch
lichtreagierende Dinge zu definieren und nach Möglichkeit Analogien anderer
lichtreagierender Einrichtungen als „erklärend'' anzuziehen.
Ob es möglich ist, wie K. will, die psychischen Tatbestände der
Farbensinnanomalien aus der Analyse der BewufiBtseinsinhalte, der Emp-
findungen, in Vergleich zu setzen und aus dem normalen Verhalten absu-
leiten, scheint mir sehr problematisch zu sein. K. stellt im Anschlufs an
WuHDT u. a. die Mannigfaltigkeit der Gesichtsempfindungen graphisch als
Doppelkegel dar und leitet alle theoretisch denkbaren Möglichkeiten von
Literaturbericht 451
Farbenempfindungsanomalien ab, indem er sich die Dimensionen dieses
Farbenkörpers in allen möglichen Richtungen verändert denkt. Er unter-
scheidet achromatische, dichromatische und polychromatische Systeme.
Unter letzteren unterscheidet er farbenschwache, deren Unterscheidungs-
vermögen für Sättigungsstufen reduziert ist, und Individuen, bei welchen
die Beziehungen der Farben zueinander verändert sind, und solche, bei
welchen der Farben ton in abnormer Weise von der Helligkeit abhängt.
Dichromaten kann es nach K. so viele Arten geben, als es normale und
abnorme Komplementärfarben gibt. Die Einteilung in Rot-, Grün- und
Violettblinde, ebenso die nichts bezüglich der Empfindungen präsumierende
in Protanopen, Deuteranopen und Tritanopen verwirft K. als willkürlich.
Als Übergänge zu dichromatischen Systemen werden die sogenannten
anomalen Trichromaten betrachtet
Wie K. diese auf Verschiedenheiten der Sättigung, Farbe und Hellig-
keit der Empfindungen sich gründende Ansicht über die Differenzen der
Farbensysteme plausibel machen will, mufs vorläufig zweifelhaft bleiben.
Ein zweiter Aufsatz ist in Aussicht gestellt, welcher die hier theoretisch
abgeleiteten Möglichkeiten mit den tatsächlichen Erfahrungen über das
Sehen der Farbenblinden in Beziehung bringen soll. H. Pipbb (Kiel).
E. Vali. Über Objektive ObrentSne. Arch. f. Ohrenhälk. 66 (l u. 2), 104-115.
1905.
Verf. beschreibt einen Fall von einem objektiv hörbaren Ohrenton,
der in der Nähe des Ohres des Patienten und selbst noch auf 40 cm Ent-
fernung hörbar, in der Tonhöhe etwa der Oktave des 5 gestrichenen C ent-
sprach. Dieser Ton sistierte auch während des Schlafes nicht. Eine ihm
entsprechende Bewegung des Trommelfells war nicht wahrzunehmen. Als
ursächliche Momente der häufiger zu beobachtenden Ohrgeräusche gelten
einmal Gefäfstöne in dilatierten Blutgefäfsen der Paukenhöhle oder der
Carotis, dann tonische und klonische Kontraktionen der Muskeln der
Paukenhöhle, des Tensor tympani und stapedius und solcher der Muskeln
der Rachenhöhle, des Tensor veli palatini, des Tubendilatators, des Levator
veli palatini, der die Tube verengert und schliefslich des Salpingopharyngeus,
welcher die Tube nach hinten und nach unten zieht. Mit Hilfe eines in den
gut verstopften äufseren Gehörgang eingeführten MAKKTschen Polygraphs
liefs sich aus der Zeichnung am Myographion erkennen, dafs bei diesem
Falle von objektiv hörbarem Ohrenton keine Druckschwankungen im
äuiseren Gehörgang bestanden, weswegen eine Beteiligung der Pauken-
höhlenmuskeln an der Entstehung desselben auszuschliefsen war. Verf.
nimmt daher an, dafs die in den Muskelfasern des Tensor veli palatini
entstandenen klonischen Krämpfe zum Zustandekommen des Ohrtones
wesentlich beitrugen. Dabei wird aber nicht der Muskelton selbst gehört,
sondern es werden durch diese Kontraktionen im Ohr oder dessen Um-
gebung solche Lageveränderungen, verschiedenartige Gruppierungen der
Luftsäule, Reibungen etc. entstehen, die den Ton hervorrufen.
H. Bbtxb (Berlin).
29*
1
452 Literaturbej-icht.
Ostmann. Klinische Stadien iir Analyse der H6rst5rnngen. IV. Teil. Arck.
f. Ohrenheim. 67 (2 u. 3) 131-150.. 1906.
Obtmann bringt in dieser vierten Abhandlung weitere in praktischer
Arbeit mittels seines Hörmafses gewonnene Resultate.
Der erste Abschnitt enthält die Darstellung der Empfindlichkeitskurve
des durch nervöse Störungen schwerhörigen Ohres und dürfte nur kliniBches
Interesse beanspruchen.
Dafs seine Hörmessung auf richtiger Basis aufgebaut und fort-
entwickelt ist, zeigt Verf. nun dadurch, dafs die Hörreliefs, welche er hier-
bei auf Grund der mit seinem objektiven Hörmafs gefundenen logarithmischen
Empfindlichkeitskurve aufgestellt hat, mit den nach den bisherigen Prflfangs-
methoden gewonnenen Ergebnissen die möglichst beste Übereinstimmung
zeigen.
Um den Beweis dafür zu liefern, vergleicht er im zweiten Teil der
Arbeit seine Resultate mit den Hörreliefs, bei denen mit derselben Stimm-
gabelreihe die Messung der Hörstörung nach dem von CoNTASchen Prinzip
erfolgte. Er leitet dabei das Verhältnis der Empfindlichkeitskurven zu der
prozentuarischen Berechnung der Hörsch&rfe nach diesem letzten Prinzip
ab und verwendet die HARTMANNsche graphische Darstellung zum Vergleich.
An einem Beispiel wird die Berechnung erläutert. Sein Hörmafs nimmt
zur Grundlage die logarithmische Empfindlichkeitskurve des normalen Ohres,
wde sie von M. Wisn gefunden ist^ in welcher die normalen Empfindlichkeita-
werte, oder was dasselbe ist, die normale Hörschärfe für die verschiedenen
Töne ausgedrückt werden durch die Zahlen
C c c^ c* c* c^
5,6 7,8 10,0 11,8 12,6 13,0
Das GoNTASche Prinzip geht dagegen von der Zahl 100 als Maus für die
normale Hörschärfe für jeden betreffenden geprüften Stimmgabelton aus.
Die tatsächlich noch bestehende logarithmische Empfindlichkeit des schwer-
hörigen Ohres für die verschiedenen Töne aus einem nach von OoNTAscher
Messung gefundenen und nach HABTMANNschem Vorgange dargestellten Hör-
relief findet er durch folgende einfache Rechnung. Sei z. B. die Hörfähigkeit
eines schwerhörigen Ohres für C=98*/o der normalen Hörschärfe, so ist
die logarit hm Ische Empfindlichkeit
98-5,6
100
:5,48
Werden nun diese so gefundenen Empfindlichkeitswerte in die Korven-
tafel eingetragen, auf welcher die logarithmische Empfindlichkeitskurve dar-
gestellt ist, und damit, sowie mit den Kurven, welche durch ganz verschiedene
Messungsmethoden bei gleichartiger Erkrankung gewonnen sind verglichen,
so ergibt sich die auTserordentliche Übereinstinunung. Diese Überein-
stimmung hat ihren Grund darin, daCs die objektive Hörmessung des Verf.8
und die Darstellung richtig ist, die Messung nach dem von CoNTAschen
Prinzip wohl auch auf richtiger physiologischer Basis beruht^ dagegen die
Darstellung der Ergebnisse nach Habtvann zu dem Tmgschlufis verleitet,
dafs wir „von der irrigen Vorstellung einer gleichen Empfindlichkeit des
Literaturbericht. 453
normalen Ohres für Töne verschiedenster Höhe ausgehend, die verbliebene
tatsächliche Empfindlichkeit des schwerhörigen Ohres falsch einschätzen^.
H. Beyer (Berlin).
Alexander und Tandler. UntersuchiiAgeii &B kongenital tauben Händen, Katien
ind an Jungen kongenital tauber Katxen. Arch. f. Ohrenhdlk. 66 (3 u, 4),
161—179. 1905.
Verff. haben ein fast unglaublich erscheinendes Material von kongenital
tauben Tieren, nämlich drei Hunde, zwölf erwachsene und vier junge
Katzen, in bezug auf Hörfunktion und anatomische Beschaffenheit des
Gehörorgans physiologisch und mikroskopisch untersucht.
Die Resultate dieser Untersuchung an den drei Hunden zeigen, dafs die kon-
genitale Taubheit derselben pathologisch-anatomisch nicht ein und derselben
Form entspricht. Bei zwei Hunden betraf die pathologische Veränderung am
stärksten die knöchernen Schneckenkapseln, welche vollkommene Defekte
der Skalensepten aufwiesen, so dafs die Skalen nur durch Bindegewebe
voneinander getrennt wurden. Dementsprechend fanden sich auch degene-
rative Veränderungen der Papilla basilaris und umschriebene Verödung des
häutigen Schneckenkanals durch totale Aneinanderlagerung der häutigen
Wände. Diese defekte Entwicklung dürfte als Hemmungsbildung an-
gesprochen werden, die besonders die letzte Entwicklungsphase, in welcher
die Ausbildung der oberen Skalensepten zu erfolgen pflegt, betrogen hat.
Trotz dieser hochgradigen Veränderung erwies sich in beiden Fällen der
Schneckennerv und das Ganglion spirale nur wenig verändert.
Beim dritten Hunde, der einen anderen Typus repräsentiert, fand sich
dagegen hauptsächlich Degeneration der Pars inferior labyrinthi mit
degenerativer Atrophie des Nervus cochlearis, saccularis und des Ganglion
Spirale, sowie totale Degeneration der Papilla basilaris, der Stria vascularis
und Macula sacculi. In allen tibereinstimmend war das völlige Fehlen von
Pigment.
Gegenüber diesen zwei Formen der Veränderung am inneren Ohr der
Hunde scheint die kongenitale Taubheit unvollkommen albinotischer Katzen
mehr einem einheitlichen pathologisch-anatomischen Typus zu entsprechen
und nur durch den Grad der Ausdehnung der Veränderungen voneinander
abzuweichen. In der Hauptsache ist der Nervenganglienapparat der Schnecke
betroffen bis zum völligen Schwunde derselben und ein BlutgefäTsmangel
in der Schnecke zu konstatieren. Die primäre degenerative Veränderung
scheint die Hypoplasie des Nervus cochlearis und des Ganglion spirale,
sowie die mangelhafte Ausbildung der Stria vascularis zu sein, wie aus den
Befunden an den Katzen jungen hervorgeht. Die Veränderung an der
Macula sacculi und Papilla basilaris, sowie die Verödung der endo-
lymphatischen Pars inferior sind dann wohl als sekundäre spätere Ver-
änderungen zu betrachten.
Interessant ist die Tatsache, dafs die kongenitale Taubheit sich
nicht notwendigerweise zu vererben braucht, und dafs pigmentierte
Junge ein normales Gehörorgan aufzuweisen pflegen.
H. Beyer (Berlin).
454 Literaturbericht.
L. V. FbanklHochwabt. Der Heniiresclio Syrnj^toaeBkomptox. 2. Aufl.
Wien, A. Holder. 1906. 101 S.
Die als Teil der NoTHNAGKLschen speziellen Pathologie und Therapie
erschienene Monographie stellt im Verhältnis zur ersten Auflage ein fast
völlig neues Buch dar, indem die persönlichen Beobachtungen des Verf.
auf dem Gebiete seines Themas inzwischen erheblich an Umfang zu-
genommen haben. Die MsKi^Rsschen Symptome ergeben ein Krankheitfiblld,
das aus Schwerhörigkeit, Ohrensausen, Schwindel und Erbrechen besteht,
wozu sich oft Kopf druck; zerebellare Ataxie, vasomotorische Störungen, bis-
weilen Nystagmus, in seltenen Fallen auch Diarrhoe gesellen. Die Er-
krankung kann momentan bei bisher intaktem Gehörorgan in Form einer
Apoplexie oder im Anschlufs an Traumen (Kopfkontusionen, Detonationen,
Stich Verletzungen des Labyrinthes, Caissonerkrankungen) auftreten. In
anderen Fällen schlieüst sie sich an bereits vorhandene, akute oder chronische
Affektionen des Ohres an. Schwindelsymptome kommen auch bei patho-
logischen Zuständen des Nervus acusticus vor. Hierher gehören gewisse
Fälle von Tabes, komprimierende (jeschwülste und wohl auch die vom
Verf. zuerst beschriebene Polyneuritis cerebralis menieriformis. Durch
Ohrausspritzung, Katheterisieren der Tube, Luftdonche, Kopfgalvanlsatian,
heftiges Drehen oder Schaukeln sowie starken Schall, also durch änlsere
Eingriffe und Einflösse kann transitorischer Ohrenschwindel erseagt
werden. Mit Bezug hierauf ist bemerkenswert, dafs auch die Seekrankheit,
worauf zuerst Palasnb db Champxacx aufmerksam gemacht hat, wenigstens
in gewissen Formen dem Mstn^RBschen Schwindel ähnelt und data nach
Jambs von 22 Taubstummen auf einer Seefahrt bei schlechtem Wetter keiner
seekrank wurde, gleichwie bekanntlich ein gewisser Prozentsatz Taub-
stummer dem galvanischen und rotatorischen Vestibularschwindel nicht
unterliegt. Als „pseudomeni^resche AnfitUe" bezeichnet Verf. das Auftreten
von Schwindel, Ohrensausen und Erbrechen ohne Ohrenleiden bei Neurosen,
als Aura des epileptischen und hysterischen Anfalles oder (selten) bei
Neurasthenie und Hemikranie.
Von den einzelnen Symptomen des MsKU^BBschen Krankheitsbildee, die
übrigens keineswegs immer alle zusammen auftreten, ist der Schwindel das
wichtigste und charakteristische. Er ist gewöhnlich sehr heftig, so dafe
die Kranken gelegentlich wie vom Blitze getroffen hinstürzen. Viele haben
das Gefühl, um die horizontale oder Längsachse gedreht zu werden. Bei
manchen ist die Drehrichtung stets die gleiche, bei anderen wechselt sie
von Anfall zu Anfall oder auch während der Attacke. Einige können über-
faanpt keine genaue Beschreibung des in jedem Falle höchst peinlichen
Zustandes geben. Dauer und Häufigkeit der AnfiUle sind sehr verschied^i.
Was die ErklämnK des Drehschwindels anlangt, so mufis derselbe mit Bftck-
sicht auf die Ergebnisse der Physiologie, über die Verf. eine gedrängte
Übersicht gibt> als Bogengangssymptom aufgeüJst werden, während anderer-
seits die klinisch-pathologischen Befunde an sich noch immer keinen Beweis
für ein statisches Organ im Labyrinth zu erbringen verm^^n.
Auf die lehrreichen und interessanten Ausführungen, welche die
Diagnose und Differentialdiagnoee (Unterscheidung des OhrenschwiiMiels
vom Schwindel bei Erkrankung anderer Sinnesorgane, bei Intoxikatiomen,
Literaturbericht. 455
bei Infektionskrankheiten, bei Magen-Darm- Affektionen, Nephritis, Diabetes,
Zirkulationsanomalien und gewissen Nervenleiden), die Prophylaxe, Prognose
und Therapie des MENi&RBSchen Symptomenkomplexes betreffen, kann an
dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Schaefeb (Berlin).
Vatbac. Le Processus et le mieanisme de l'atteiitioit Rev. sdentif. 5 (14),
422—427. 1906.
Der Wert der vorliegenden Arbeit liegt in der übersichtlichen
Gruppierung der auf das Thema bezüglichen Ansichten sowie in der
geschickten Vereinbarung der unter ihnen bestehenden Widersprüche.
Verf. ordnet die bezüglichen Theorien in vier Gruppen zusammen.
Die Anhänger der ersten Gruppe fassen den Mechanismus der Aufmerk-
samkeit als etwas Motorisches, bedingt durch affektive Zustände. Es gibt
nach ihnen zwei Arten von Aufmerksamkeit, die plötzliche und die will-
kürliche. Erstere gehorcht einem Hemmungsmechanismus, letztere einem
motorisch-aktiven. Die Anhänger der zweiten Gruppe legen den Nachdruck
auf das Sensitive. Die dritte Gruppe enthält Eklektiker aus den ersten
beiden. Viertens gibt es Psychologen, welche die Aufmerksamkeit mit der
Anstrengung identifizieren, mit einer allgemeinen geistigen Anspannung.
Sie sehen in der Aufmerksamkeit ein sensoriell-motorisches Phänomen, ein
kombiniertes Spiel aller Energien des Individuums. V. nennt diese Theorie
die reduzierte oder vereinfachte.
Nach HuMTEB ist die Aufmerksamkeit beständig in unserem Körper
vorhanden. Sie bestimmt muskuläre und sensorische Phänomene, Atmungs-
und GefäTsmodifikationen, Erhebungen der zentralen und lokalen Temperatur,
Variationen im Blutdruck, verschiedene viszerale Erschütterungen, chemische
Modifikationen und Phänomene der Ermüdung.
Manche Gelehrte behaupten, dals bei Aufmerksamkeit zunächst peri-
pherische organische Phänomene auftreten, in zweiter Linie erst zentrale
als Folgen jener. Andere Gelehrte umgekehrt. Dementsprechend unter-
scheidet man eine physiologische und eine psychologische Theorie. Verf.
will zeigen, dafs beide Theorien physiologisch sind, sofern man sie beide
durch rein physiologische Argumente beweisen kann. Man braucht nur
anzunehmen, dafs bei Aufmerksamkeit die Hirngefäfse sich erweitern, und
dafs die peripherische Gefäfszusammenziehung ein hierzu paralleles Phänomen
bildet, ohne direkte Einwirkung. Die Experimente haben gezeigt, dalüs die
Gehimzirkulation von der allgemeinen unabhängig ist. Also jede sensorielle
oder seelische Erregung kann im Gehirn eine Gefäfserweiterung hervor-
rufen, welches auch der jeweilige Zustand der Schlagader- Zirkulation sein
mag. Es erfolgt nichts in unserem Seelenleben, ohne dafs das Gehirn zuerst
davon benachrichtigt wurde.
Gehorcht nun die Aufmerksamkeit einem motorischen oder einem
Hemmungsmechanismus? Bei der plötzlichen Aufmerksamkeit verhält sich
das Subjekt mehr passiv als aktiv, bei der willkürlichen dagegen aktiv.
Der Prozefs der Aufmerksamkeit beginnt im ersten Falle mit einem Choc,
im letzteren mit einer Periode der Anpassung. Diese anfänglichen Er-
schütterungen haben wahrscheinlich zu der Annahme Veranlassung gegeben
456 Literaturbericht.
daTs es sich bei Aufmerksamkeit um ein Hemmnngsphänomen handelte.
Gleichzeitig aber befindet sich das Gehirn doch in Überaktivität. Man mnfs
also annehmen, dafs ein motorischer Mechanismus in Tätigkeit ist. Ffir
den eigentlich aktiven Charakter der Aufmerksamkeit spricht die Tatsache»
dafs während des Schlafes die zentrale Gefäfserweiterung verschwindet,
das Muskelsystem erschlafft.
Tritt nun die zentrale Gefäfserweiterung oder die peripherische GefiUTs-
zusammenziehung zuerst auf? Verf. glaubt, dafs letztere als Phänomen der
Hemmung nicht imstande wäre, eine solche allgemeine Erregung des Nerven-
systems in Szene zu setzen, wohl aber die erstere.
y. kommt zu dem Schlufs, dafs der Mechanismus der Aufmerksamkeit
sich als zugleich hemmend und aktiv erweist, indem das aktive Element
zwar nicht das primäre, jedoch das dauerhaftere und wichtigere ist.
GiESSLEB (Erfurt).
C. £. Ferreb. Ab EzparinieBtil ExaalittiOB of the Phemomema itiilly attrl-
blted tO FUctiatiOBI of Aitemtioi. Ämer, Journ, of Fsyelwl 17 (1),
S. 81—120. 1906.
Verf. hat sich die Aufgabe gestellt, jene bisher wenig erforschten Er-
scheinungen experimentell zu beleuchten, die unter dem Namen Aufmerk-
samkeitsschwankungen bekannt sind, unter Schwankungs- oder Unter-
brechnngserscheinungen versteht man solche, gewöhnlich durch minimale
Reize und minimale Reizdifferenzen hervorgerufene Zustände, die in einem
meist rhythmisch verlaufenden Vorhandensein und AufhOren, also in einer
Oszillation des Bewufstseinsinhaltes bestehen ; und zwar hat man sich diesen
abwechselnd positiven und negativen Bewufstseinszustand als zentral bedingt
vorzustellen. Ohne das Vorhandensein eines Auf- und Abwogens der Auf-
merksamkeit zu leugnen, beabsichtigt F. auf experimentellem Wege nach-
zuweisen, dafs einige bisher als rein typisch betrachtete Fälle sogenannter
Aufmerksamkeitsschwankungen in Wirklichkeit anders zu erklären sind.
Im vorliegenden Aufsatz, der durch weitere Mitteilungen ergänzt werden
soll, hat Verf. sich das optische Sinnesgebiet zur Untersuchung vorgenommen.
Hautreizungen, die gleichfalls ausgeführt wurden, hatten ffir die Unter-
suchung nur negative Resultate. Die Erklärung F.8 für die optischen
Schwankungen ist die, dafs hier einfach Adaptationserscheinungen vorliegen,
die nur durch die speziellen Bedingungen, unter denen sie vorkommen,
etwas verdeckt werden.
Adaptation ist an sich ein kontinuierlicher Vorgang, aber die optischen
Adaptationsvorgänge erleiden Unterbrechungen durch Augenbewegungen,
und F. will nun beweisen, dafs die Intermissionen, die durch die Theorie
der Aufmerksamkeitsschwankung erklärt worden sind, nur auf diesen Augen-
bewegungen beruhen. Die Methode zur Feststellung der Augenbewegnng
war die, sich die abwechselnd eintretenden negativen Nachbilder während
der Zeit der Fixation zu merken. Zur Unterstatzong seiner These fOhrt F.
hauptsächlich folgende Argumente an : Es zeigt sich, dafs jene Schwankungen
bei aphakischen Individuen keinen anderen Verlauf haben, als bei normal-
sehenden, woraus sich der Schlufs ergibt, daüs unwUlkOrliche Änderungen
in der Akkommodation keine wesentliche Rolle bei der Sache spielen. Weiter:
Literaturhericht 457
Ist der Reiz nicht an sich selbst intermittierender Art, hat man z. B. eine
kontinuierliche Lichtempfindung, die man durch elektrische Beizung der
cerebroretinalen Elemente ununterbrochen erhält, so erleidet man keine
Unterbrechung, keine Oszillation der Empfindung^ was jedenfalls darauf
hindeutet, dafs die Schwankungserscheinungen peripher verursacht sind.
Dafs Adaptations Verhältnisse und Schwankungserscheinungen iden-
tische BegriJSe sind, erhellt dadurch, dafs sämtliche Bedingungen, die
sich auf den Reiz oder auf den Reiz in Verbindung mit dem Hintergrund
beziehen, und die Adaptationszeit beeinflussen, eine ähnliche Wirkung auf
die Schwankungsperioden ausüben. Diese Wirkung zeigt sich entweder nur
in der sichtbaren Phase des Bildes oder sowohl in der sichtbaren wie in
der unsichtbaren Phase. — Die Rolle des Zwinkerns, das gelegentlich eine
Unterbrechung mit veranlassen kann, kommt hiergegen als erklärende
Ursache nicht auf.
Gegen den zentralen Charakter und für die Adaptation als Erklärungs-
grund sprechen auch folgende Tatsachen: Ungeübte, die nicht gut die
Fixation durchführen konnten, bei denen darum auch die Adaptations-
erscheinungen unvollkommen entwickelt waren, erfuhren wenig oder nichts
von jenen Schwankungen. — Eine Versuchsperson, die einmal nach langen
ermüdenden Experimentieren gar keine Schwankung erlebte, klagte darüber,
dafs ihr Auge müde und sie nicht imstande wäre unbewegt zu fixieren. Ferner
zeigte es sich bei sorgfältigen Experimenten mit den Versuchspersonen,
die sämtlich psychologische Studien getrieben hatten und in Selbstbeob-
achtung geübt waren, dafs die Schwankung sich überhaupt nicht bei allen
ebenmerklichen Reizen einstellte, so z. B. nicht, wenn man ebenmerklichen
Reizen eine erhebliche räumliche Ausdehnung gab. Aall (Halle).
Alma Bell and Lorbtta Muckenhouft. A Comparison of Hethods for the
DeterminatloB of Ideational Tjrpes. Amer. Joitm. of PsycJwl. 17 (l),
S. 121—126. 1906.
Es werden in dieser Arbeit die Methoden kritisch geprüft, die zur
Erforschung der individuellen Typen des Vorstellungslebens verwendet
werden. Denjenigen Methoden wird der Vorzug gegeben, die die Versuchs-
person zur Wiedergabe eines bestimmten genau abgegrenzten Stoffes, wie
z. B. Buchstaben und Zahlen veranlassen. Mit Recht wird betont, dafs
man zu leicht der Verallgemeinerung verfällt. Es kann jemand eine geringe
visuelle Einbildungskraft besitzen, wenn wir den Mafsstab der Lebendigkeit
innerer optischer Bilder anlegen, und dennoch mag sein Phantasieleben für
gewöhnlich die Form optischer Vorstellungsbilder nehmen.
Aall (Halle).
E. Grossmann. Ober 8cbltxa]l|[en ftach Avgenmafs. Astronom. Nachr. Nr. 4066.
S. 149—162. 1906.
Es handelt sich bei dieser Arbeit um eine Untersuchung der sogen.
Dezimalgleichung, auf welche zuerst J. Habtmann in den astronomischen
Nachrichten Nr. 65 aufmerksam gemacht hat. Dezimalgleichung nennt man
bekanntlich eine Korrektion der Beobachtungen, die daraus folgt, dafs bei
Zehntelschätzungen gewisse Zehntel häufiger geschätzt werden als andere.
458 Literaturbericht.
Es fragt sich nun, ob diese Tatsache physiologischer oder psychologischer
Natur ist. Zunächst ist darauf aufmerksam zu machen, dafs die Dezimal-
gleichung keinesfalls zu den geometrisch-optischen Täuschungen gehört, zu
welcher Annahme vielleicht der Umstand verleiten könnte, dafs man bei
der Halbierung einer vertikalen Linie im allgemeinen den oberen Teil zu
klein macht, nach Wundt um Vie- ^^^ Unterschied liegt darin, daüs bei
dem letztgenannten Beispiel, wie bei allen geometrisch-optischen Täuschungen,
der Fehler von fast allen Augen in annähernd gleicher Weise gemacht wird,
bei der Dezimalgleichung aber verschiedene Beobachter verschiedene Zehntel
bevorzugen. Andererseits könnte man versucht sein, den Grund dafür in
Anomalien des Auges zu suchen. Man könnte an Astigmatismus denken,
an verschiedene Empfindlichkeit verschiedener Netzhautstellen, an patho-
logische Dislokationen, an Augenmuskellähmungen. Dann aber mOXiste die
Dezimalgleichung bei völlig normalen Augen verschwinden, was naeh-
gewiesenermafsen nicht der Fall ist. Die psychologische Natur erhellt aus
folgendem Umstände. Stellt man eine derartige Schätzung in aller Rahe
auf eine Weise an, die eine Prüfung durch genaue Messung gestattet, etwa
an einem mit Nonius versehenen Mafsstab, so fällt die Dezimalgleichung
fort; sie ist aber immer vorhanden, wenn die Schätzung unter erschwerenden
Umständen geschieht, wie es z. B. bei den astronomischen Beobachtungen
der Fall ist. Es zeigt sich so, dafs die Dezimalgleichung in der Hauptsache
unter zwei Bedingungen zustande kommt:
1. wenn die Apperzeption nicht vollkommen ist,
2. wenn bei der Schätzung die zu teilende Strecke nicht gleichmäfsig
von dem Auge durchlaufen wird.
Beide Bedingungen zeigen zur Genüge, dafs es sich um eine psycho-
logische Erscheinung handelt. Wie sie zu erklären ist, läfst der Verf. dahin-
gestellt. Vielleicht halten die Psychologen den Gegenstand für bedeutend
genug, um ihn einer näheren Untersuchung zu würdigen.
M. VöLKZL (Breslau).
Ch. E. Bbownb. The Psychology of the Simple Ärithmetical Proceues. A Stmiy
of GertalB Habits of Attention and AssocUtlon. Am er. Joum. ofFsychol 17
(1), S. 1—37. 1906.
Der Aufsatz stellt die Ergebnisse einer experimentellen Untersuchung
der einfachen Prozesse bei den vier Rechnungsarten dar. Die typischen
Fehler wurden notiert und verschiedene Beobachtungen bezüglich der jeweils
für den Bechnungsprozefs erforderlichen Zeit und bezüglich der zur An-
wendung gelangenden Methoden gemacht. Die Versuche wurden mit jungen
Männern angestellt, die sämtlich Universitätsbildung genossen hatten, im
übrigen aber durch keine besondere Übudg im Kechnen ausgezeichnet
waren. Die Versuchsanordnung war folgende. Es wurden der Versachs-
person Pakete von Karten ausgehändigt, auf die je eine Ziffer geschrieben
war. Bein automatisch, wie bei Spielkarten, wurden diese Karten einzeln
mit der Hand dem Auge vorgeführt. Bei der Addition wurde zuerst in
der Weise experimentiert, dafs jede Ziffer für sich genommen und der
jeweiligen Summe beigefügt wurde. Die Tendenz zu motorischer laut-
sprachlicher Fixierung der Zahlenwerte erwies sich als sehr hervortretend.
Literaturbeiicht 459
Deutlich war, wenn ein vorangehender Einer im Blickpunkt des Bewufst-
seine gewesen war, eine gewisse Tendenz zur Perseveration der betreffenden
Zahl wahrnehmbar. Das Bewufstsein, ein zutreffendes Resultat erreicht zu
haben, entwickelte sich leicht zu dem bestimmten Gefühl der Richtigkeit.
Es fand sich, dafs die Neigung bestand, durchweg den kleineren Zahlwert
dem grOfseren beizuzählen, nicht umgekehrt. Die Erfahrung, dafs gleiche
Ziffern leichter, d. h. schneller und durchweg fehlerfreier addiert werden
als ungleiche, bestätigte sich.
Eine zweite Serie von Versuchen bezog sich auf zusammengesetzte
Addition. Zwei Einer wurden zuerst zusammengelegt und sodann zu einer
gegebenen Summe addiert. Interessant war hierbei die individuell hervor-
tretende Tendenz, aus den beiden zusammen gef als ten Einern zuerst in der
Vorstellung einen Zehner herauszunehmen, zu der gegebenen Summe
diesen Zehner hinzuzufügen und erst dann, der solcherweise erreichten
Zahl, das noch Übrigstehende hinzuzufügen. — Bei der Multiplikation
ist das Gefühl der Sicherheit während der Rechenoperation viel aus-
geprägter als bei der Addition. Mit diesem Gefühl schien die lautmotorische
Innervation wesentlich verbunden. Das Vorstellungsbild ist hier wesentlich
motorisch und akustisch. — B. weist auf den mit der Multiplikation ver-
hundenen Additionsakt als auf den besonders wunden Punkt der Operation
hin, und macht zur Hebung der Schwierigkeit einen darauf bezüglichen
Vorschlag für die Unterrichtsmethode. Spezielle Beachtung verdient die
Bemerkung, dafs Multiplikator immer kleiner sein sollte als Multiplikand,
und dafs die Multiplikationstabelle unter Rücksichtnahme auf diese Regel
wesentlich (beinahe um die Hälfte) verkürzt werden müfste.
Bei der Subtraktion (ebenso wie bei der Division) haben wir es, im Gegen-
satz zu der Addition und der Multiplikation, mit rückläufigen Assoziationen zu
tun. Das Sicherheitsgefühl ist besonders bei Subtraktion sehr gering. Die
Erinnerung, von der Nachbarstelle links geborgt zu haben, ist sehr schwach ;
dafs diese Nachbarstelle um 1 vermindert ist, wird deshalb um so weniger
eicher im Gedächtnis behalten, weil ja der visuelle Eindruck der nicht
verminderten Stelle fortan daneben besteht. Auch diesmal laufen die
experimentellen Ergebnisse in praktische Vorschläge für den Rechen-
unterricht aus.
Im Anschlufs an Ebbinohaus' Nachweis der verschiedenen Festigkeit
assoziativer Verknüpfungen wird dargetan, dafs die Subtraktion schwieriger
ist als die Addition, weil die Verbindung der Glieder bei rückläufiger
Assoziation lockerer ist. B. stellt den Grundsatz auf, dafs die Kinder aus
diesem Grunde lernen müfsten, rückwärts sowohl als vorwärts zu zählen.
Die ältere Methode, nach der der Subtrahend vergröfsert wurde, hat, wie
B. meint, den Vorzug vor der jetzigen mehr logischen, derzufolge der
Minuend verkleinert wird; denn durch die letztere entstehen beim Borgen
von links mancherlei Verwirrungen. — Von den vier Rechnungsarten stellt
die Division den kompliziertesten Prozefs dar. Zuerst wird der Quotient
niedergeschrieben, darauf mufs Subtraktion stattfinden und als Drittes
kommt die Formulierung des neuen Dividenden noch hinzu. Obwohl die
Division auf Multiplikation basiert, besteht die Tendenz, diesen Rechen-
prozefs zu einem völlig selbständigen Akt, zu einem neuen Typus unmittel-
460 Litera t urberich f.
barer Assoziationen zu gestalten. Im allgemeinen wächst die Schwierigkeit
des Prozesses mit der Gröfse des Divisors. Aall (Halle).
Cl. Harrison Town. Tbe Kinaesthetic Element in Endophula asd Avdttory
HallveiAation. Amer. Journ. of Psychol 17 (1), S. 127 -ia3. 1906.
Das „Wortdenken", das innere Sprechen, endophasia, i^t eine Funktion
des Wortgedächtnisses, das nach Charcot auf visuellen, akustischen, laut-
motorischen und graphischen Wortbildern beruht. Verf. betont die hervor-
ragende Bedeutung des lautmotorischen Elementes, m. a. W. der vor-
gestellten sprachlichen Artikulation. Dafs es für gewöhnlich beim Denken
nicht zum lautlichen Ausdrucke kommt, trotz der stattfindenden Erregung
der kinästhetischen Sprachzentren, wird durch Hemmungstatsachen bewirkt.
Jedoch ist der Ansatz zum Sprechen immer da und bricht manchmal durch.
Die Tatsache wird erhärtet durch Belege, die durch Beobachtung an Irr-
sinnigen beigebracht sind. Aall (Halle).
Alkxandbb f. Chamberlaim. Acquiaitleii of WritteA LaBgnage by PrlmitlTe
Peoples. Amer. Journ. of Psychol 17 (1), S. 69-80. 1906.
Verf. hat die Erfahrungen zusammengestellt, die amerikanische
Missionäre u. a. gemacht haben bei ihren Versuchen, die amerikanischen
Indianer das Lesen und Schreiben ihrer Muttersprache zu lehren. Die
Leichtigkeit, mit der das Vorhaben im allgemeinen gelang, ist bemerkenswert.
Aall (HaUe).
C. Bos. Les iUments affeetifs di langage. Rev. philos, 60 (l), S. 355—373.
1905.
In der Sprache sind neben intellektuellen affektive Elemente. Die
Worte haben ihren Gefühlston, ihre Physionomie, verschieden nach Nationen
und Individuen. Groethutsen (Berlin).
NARZISS Ach. Über die Wlilenstltlgkeit und du Deikei. Eine experimentelle
Untersuchung mit einem Anhange: Über das Hippsche Chronoskop.
Göttingen, Vandenhoeck und. Ruprecht. 1905. 294 8. Mk. 10,—.
Das Buch von N. Ach „Über die Willenstätigkeit und das Denken''
stellt eine höchst beachtenswerte experimentelle Studie fiber die Reaktions-
vorgänge dar. Vor allen Dingen sei rückhaltlos anerkannt, dafs die Ex-
perimente mit gröfster Sorgfalt ausgeführt sind und dafs die Beobachtungen
mit wissenschaftlicher Ruhe und unbestechlicher Objektivität angestellt
wurden. * Was bei naturwissenschaftlichen Beobachtungen leichter zu
erreichen ist, darf bei psychologischen, experimentellen Forschungen auch
heute noch als Verdienst hervorgehoben werden: die völlige Unvorein-
genommenheit und Zuverlässigkeit bei den tatsächlichen Feststellungen.
Über die Verwertung der Ergebnisse und die Bedeutung des Beobachteten
werden an einigen Stellen die Meinungen auseinandergehen.
Die Versuche waren Reaktionsversuche von der bekannten Art. Die
ausschliefslich benutzten Gesichtseindrücke wurden durch einen Karten-
wechsler dargeboten. Versuchsperson und Versuchsleiter befanden sich in
dem gleichen Raum. Dieser letztere Umstand wird nicht als störende
Fehlerquelle zu betrachten sein. Es stimmt mit meinen Erfahrungen durch-
Literaturbei'icht 461
aus aberein, dafs die Ängstlichkeit in dieser Beziehung Obertrieben zu sein
pflegt. Die Gewöhnung beseitigt eine im Anfang vielleicht vorhandene
Beeinflussung sehr schnell. Der wichtigste Unterschied von früheren Ver-
suchen war die noch systematischer als sonst durchgeführte Selbstbeob-
achtung der Versuchspersonen, sowohl in der „Vorperiode", als in der
„Haupt- und Nachperiode". Die Versuchsperson hatte alles Beobachtete
sofort anzugeben und wurde über die Einzelheiten von dem Leiter noch
besonders ausgefragt. Daher auch die Anordnung in einem Räume.
A. teilt seine Reaktionen ein in solche mit eindeutiger Zuordnung und
solche ohne eindeutige Zuordnung, bei welchen die Zuordnung in gewissen
Grenzen der Versuchsperson Überlassen blieb. Die erste Art wird wieder
eingeteilt in Reaktionen mit einfacher Zuordnung, mit mehrfacher Zu-
ordnung (DoNDEBS 6-Methode), bedingte Reaktionen (die c-Methode bei Dondbbs)
und Assoziationsreaktionen. Was die Ergebnisse im einzelnen betrifft, so
mufs auf das Buch selbst verwiesen werden. Den Unterschied der musku-
lären und sensoriellen Reaktion, wobei fünf sensorielle und vier muskuläre
Einstellungsformen (S. 104) unterschieden werden, fafst A. als einen durch
die Aufgabestellung bedingten auf (S. 114). Die sensorielle Reaktion geht
in die muskuläre über, wenn möglichst rasch reagiert werden soll. Auch
bei der muskulären Reaktion kommt der Reiz im Bewufstsein zur Wirksam-
keit, es wird aber nur das Vorhandensein einer Änderung bemerkt (S. 116).
Der noch so verkürzte Reaktionsvorgang kann also nicht als Gehirnreflex
aufgefafst werden. Bei der sensoriellen Reaktion kommt kein Reflexions-
akt und auch kein Willensakt zwischen Auffassung des Reizes und Be-
wegung zustande ; die Determinierung ist vielmehr durch die vorbereitende
Einstellung vollendet. Diese ganze Auffassung halte ich für durchaus
richtig; es ist wertvoll, dafs sie sich gerade einem Beobachter aufdrängte,
welcher überall die erlebten Tatsachen selbst zur Geltung zu bringen sucht.
Die gleiche Ansicht gilt für die verwickeiteren Reaktionsvorgänge mit
Zuordnung. Es folgte daraus, dafs über den Willensvorgang selbst die nach
den bisherigen Methoden angestellten Reaktionsversuche einen Aufschlufs
nicht geben konnten. Der Verf. versuchte daher seine Methode zu erweitern
und der Versuchsperson mehr Freiheit zu erwirken. In einer Reihe von
Versuchen erschienen Karten mit vx oder mit xv bedruckt in zufälligem
Wechsel. Die Versuchsperson hatte die Aufgabe, „bei x mit dem rechten
und bei v mit dem Unken Daumen zu reagieren, aber immer nur eine
Bewegung auszuführen". Auch hier bildete sich rasch ein einförmiger
Reaktionstypus heraus, so dafs beispielsweise eine Versuchsperson bald nur
auf den Buchstaben x reagierte. Die Reaktionen näherten sich der Form
der einfachen Reaktionen (S. 167). Eine zweite Reihe von Versuchen wurde
so eingerichtet, dafs Karten mit vier Buchstaben {csvz) im Kartenwechsler
erschienen (S. 168). Die Reihenfolge der Buchstaben wechselte. Jedem
Buchstaben war ein bestimmter Finger zur Reaktion zugeordnet; es sollte
aber immer nur eine der vier möglichen Bewegungen ausgeführt werden.
„Es zeigte sich auch hier sehr deutlich, wie durch die Art der Vorbereitung
der Ablauf des Erlebnisses in der Hauptperiode bestimmt wird" (8. 169),
sagt der Verf. Die eine Versuchsperson faTste häufig einen bestimmten
462 Literaturhericht.
Buchstaben oder Finger von vornherein ins Auge, die andere bevorzugte die
mittleren Buchstaben.
Daher wurde zu „Reaktionen ohne Zuordnung der Tätigkeit" über-
gegangen. In der ersten Anordnung (S. 173) waren die Karten mit zwei
einstelligen, durch einen senkrechten Strich getrennten Ziffern bedruckt.
Der Reagent hatte die Zahlen beliebig verbunden zum addieren, multipli-
zieren, subtrahieren oder dividieren zu benutzen, oder auch ohne ihre Be-
nutzung zu reagieren (hier mit dem Schallschlüssel). Die Aussagen über
die Vorperiode zeigen deutlich, „dafs die Spezialisierung der Aufgabe jetzt
ganz so wie bei „zugeordneten Tätigkeiten** von der Versuchsperson selb-
ständig vorgenommen wurde, ehe der Reiz erschien, dafs also der Vorgang
in der Hauptperiode sich nicht wesentlich von einer festgelegten Reaktion
unterschied. Wenn die zur Erscheinung kommenden Zahlen für die vor-
genommene Rechenoperation nicht günstig waren, trat eine Überraschung
hinzu (S. 174). Auch hier hatte die Übung (S. 178) die schliefsliche Wirkung,
dafs nach der Auffassung der Reize „unmittelbar d. h. ohne merkbare Pause
und ohne Zwischenglied die akustischästhe tische Vorstellung des Resultates
richtig im Bewufstsein auftauchte'* (S. 178). Die Zeitdauer betrug dabei
immer noch 350 o, für mich ein deutliches Zeichen, dafs diese vermeintliche
Unmittelbarkeit des Auftauchens doch nicht ohne Vermittlung war. Bei
stark eingeübten Vorgängen brauchen die vermittelnden Vorgänge nicht
gesondert zum Bewufstsein zu kommen, sie können der von der Ziel Vor-
stellung gefesselten Aufmerksamkeit leicht entgehen. Übung besteht ja
allerdings zu einem Teil in dem Ausfall von Mittelgliedern eines Gesamt-
vorganges; dafs aber der optische Anblick zweier Zahlen als solcher die
Vorstellung der Summe auslösen sollte, erscheint unwahrscheinlich and
kann jedenfalls angesichts des häufigen Vorkommens, dafs Mittelglieder
übersehen werden, nicht bewiesen werden.
Bei der zweiten Anordnung dieser Versuche ohne Zuordnung (S. 181)
erschien in beliebigem Wechsel eine von den ersten neun Ziffern der Zahlen-
reihe; die Versuchsperson hatte die Aufgabe, entweder die vorhergehende
oder die nachfolgende Ziffer sich vorzustellen und dann zu reagieren. Auch
hier faCste die Versuchsperson durchweg eine bestimmte Absicht in der
Vorperiode und damit war der Vorgang denen mit Zuordnung auch hier
gleichartig geworden. Ich würde also meinerseits den Schlafs ziehen, dafs
eine Untersuchung des Willens durch Beobachtung der Reaktionsvorgftnge
anmöglich ist, weil nur der durch einen vorhergegangenen Entechlaüs oder
eine vorhergegangene Vorschrift festgelegte mechanische Teil der Aas-
f ührang im Reaktionsvorgang zur Beobachtung gelangt Schon früher habe
ich meinerseits als Ergebnis solcher and ähnlicher Versuche einzig and
allein die Regel feststellen zu können geglaubt, daCs die Zeit solcher fest-
gelegter Reaktionsvorgänge abhängt von der Anzahl der in sie eingehenden
Einzelteile j>eychi8cher Momente) and deren Einzeldauer, and dals diese
Zeit mit zunehmender Übung durch Verktlrzong and Aasfall von Mittel-
gliedern abnimmt. Ich sehe diesen Satz durch die Untersachangen des
Verf. nur bestätigt und finde in seinem reichen Material eine Ffllle Ton
Beispielen in den verschiedensten Variationen für diese Anfbssong vor.
Damit ist der Unterschied meiner Aaffassangswmse von der des YerL
Literaturbericht. 463
schon bestimmt genug klargelegt. Die experimentelle Psychologie leidet
an einer Gefahr, welcher die experimentierenden Naturwissenschaften nicht
in gleichem Grade ausgesetzt sind. Der Physiker hat, was er auch immer
untersucht, einen ganzen, einen fertigen Vorgang vor sich. Seine Schwierig-
keit besteht leicht darin, dafs er komplizierende Einflüsse nicht ausschliefsen,
das zu Beobachtende nicht isolieren kann und infolge davon eine reine
Funktion nicht erhält. Der Psychologe kommt umgekehrt leicht in die
Lage, dafs er gerade durch die Isolierung des zu Beobachtenden im Ex-
periment Bedingungen der Erscheinung ausschliefst, welche für diese von
Wesentlichkeit sind, und dafs er dadurch ein falsches Bild erhalt. In
gewisser Weise ist das sogar bei allen psychologischen Experimenten der
Fall, insofern die physiologischen Gehirnerregungen, welche Bedingungen
des Bewufstseinsvorganges sind, in dem rein psychologischen Experiment
nicht als Bedingungen festgelegt werden können. In gewisser Weise haben
wir es also nie mit einer reinen Funktion zu tun. Auf dem Gebiet der
Sinneswahrnehmungen ist dies wegen der Gleichartigkeit der physiologischen
Vorbedingungen am wenigsten lästig. Je höher die Bewufstseinsvorgänge
stehen, welche wir untersuchen, um so drückender wird die Schwierigkeit,
die hier vorliegt. Die vielen Variationen des Ablaufes des doch sonst noch
ziemlich einfachen Reaktionsvorganges, wie sie gerade vom Verf. so lebendig
geschildert werden, beruhen offenbar auf dem Umstände, dafs die Versuchs-
personen in ihrer geistigen Entwicklung verschieden sind und dafs die
Einflüsse dieser Entwicklung bei jeder einzelnen Person eine so grofse
Mannigfaltigkeit darstellen, dafs dadurch die strenge Isolierung der Be-
dingungen eines Reaktionsvorganges ausgeschlossen wird. Dazu kommt
dann der weitere Umstand, dafs der zu beobachtende Vorgang auch durch
den vorhergegangenen Entschlufs oder Annahme der Vorschriften des Ver-
Buchsleiters wesentlich bedingt ist, ohne dafs diese Bedingungen anders
als in ihren schliefslichen Wirkungen beim Versuch zur Erscheinung
kommen. Etwas ähnliches gilt von allen Gedächtnisversuchen. Die Gesetz-
mäfsigkeit der Gedächtniserscheinungen beruht zum grofsen Teil auf den
vorhergegangenen Einprägungen. Diese sind ohne Aufmerksamkeit und
Willen unmöglich. Was nachher beobachtet wird, ist lediglich eine Folge-
erscheinung, der Assoziationszustand eines Individuums zu gewisser Zeit
und unter gewissen Umständen; was nicht beobachtbar ist, ist die Art, wie
dieser Zustand entsteht. Die geistigen Mechanismen sind an die Zeit
gebundene Folgezustände nicht völlig übersehbarer Bedingungen.
Man braucht diese Gedanken nicht in der vorgetragenen Allgemeinheit
zu billigen und kann doch zugeben, dafs sie in diesem speziellen Falle
zutreffen. Dann wird man mir zugeben, dafs der vom Verf. zum Schlufs
aufgestellte Begriff der „determinierenden Tendenzen" mifsverständlich ist.
Der Begriff geht aus dem Bestreben hervor, den Ablauf des Reaktions-
vorganges aus sich heraus vollständig zu „erklären'^, während doch ein Teil
der Erklärung in den Vorbedingungen zu suchen ist. „Unter den deter-
minierenden Tendenzen sind Wirkungen zu verstehen, welche von einem
eigenartigen Vorstellungsinhalte der Zielvorstellung ausgehen und eine
Determinierung im Sinne oder gemäfs dieser Zielvorstellung nach sich
ziehen" (S. 187). Sie sollen die Grundlage der Willensbetätigung bilden
464 Litei'aturbei'icht
und auch in den posthypnotischen Sukzessions Wirkungen zur Erscheinung
kommen. „Die Bezeichnung soU^, so heilst es S. 195, „nur die Tatsache
des nach dem Inhalte der Absicht bzw. der Ziel Vorstellung geregelten Ab-
laufes des geistigen Geschehens zum Ausdruck bringen, ohne daüs hin-
sichtlich der Beschaffenheit dieser Nachwirkungen — der Tendenzen —
irgend etwas gesagt sein soU.^' Sie sind aber von den assoziativen und den
Reproduktionstendenzen wohl unterschieden (ib.). Die determinierenden
Tendenzen, so wird dann weiter gesagt, ,fbe wirken auch eine gewisse Unab-
hängigkeit von dem assoziativen Zusammenhange des aufgenommenen
Erfahrungsmateriales dadurch, dafs sie uns die Bildung neuer Assoziationen
ermöglichen" (S. 196), ihre Wirksamkeit ist mit „der Bestimmung eines
geordneten, zielbewufst ablaufenden psychischen Geschehens nicht erledigt"*.
Um dies zu zeigen, wurden noch besondere Versuche gemacht, bei welchen
zu einer sinnlosen Silbe entweder eine sich auf sie reimende oder eine mit
ihr alliterierende hervorgerufen wurde, worauf dann die Reaktion folgte.
Hier wird durch die determinierende Tendenz angeblich eine neue Asso-
ziation gestiftet. „Notwendig ist hierbei allerdings, dafs die Bezagsvor-
stellung und die entstehende Vorstellung — die determinierte Vorstellung —
sich unter einen gemeinsamen fibergeordneten Begriff (Ziel Vorstellung
subsumieren lassen" (S. 209). Durch die offenbar richtige Hinzufügnng
dieser Bedingung scheint mir der VerL seinen Begriff der determinierenden
Tendenzen selbst wieder aufzugeben. Es scheint mir auch ausgeschlossen,
dals man in der Zielvorstellung und ihrer Tendenz als solcher den Grand
für den Ablauf des sinnvollen Geschehens dieses Vorganges sehen darl
Ähnlich wird der Ablauf eingeübter Reproduktionen auf die vorherige „Ein-
fibung" und nicht auf die der reproduzierten vorhergehenden Vorstellung
als solche zurfickzufOhren sein. Dabei ist das Wesen dieser „EinObungf,
bei welcher Aufmerksamkeit und Wille beteiligt sind, für uns vorläufig nur
phänomenologisch beschreibbar. Und ebenso verhält es sich mit der
„Absicht" der Vorperiode und deren EinfluCs auf den späteren Ablauf der
Reaktion. Der Begriff der determinierenden Tendenzen ruft also einen
Schein einer intimeren Einsicht in die Dinge hervor, als wir sie tatsächlich
besitzen.
Für nicht glücklich mufs ich auch den Ausdruck .^Bewofstheit^ halten
für diejenigen Glieder eines psychischen Gresamtvorganges. die nur undeutlich
zum BewttXstsein kommen, für uns aber doch etwas bedeuten. Der Ausdruck
erscheint um so überflüssiger, als die betreffenden Erscheinungen sich unter
den Begriff der Übung einordnen lassen. Dafs solche Glieder zuweilen so
gut wie unbewufot ^unbemerkt^ verlaufen, ist richtig; dafs sie deshalb aber
nur als ,,unbewu£st' in Betracht zu ziehen sind, mnis bestritten werden.
Deswegen halte ich die iS. 228) noch hinzugefügte Ergänzung des Begriffes
der determinierenden Tendenzen für eine weitere Verschlechterung.
So ist denn über den Willen selbst und seine unmittelbare Wirksamkeit
nach meiner Auffassung in der interessanten Schrift nichts festgestellt. Der
beobachtbare Teil gehört zu den Folgeerscheinungen dee .Wülens", die
Bedeutung des Willens selbst liegt in der Vorperiode, über welche die
Versuche eine Aufklärung nicht geben können. G. MAsnca.
Literaturbericht. 465
W. 8WITALSKI. IM« «ifctiilBiitkMretliche BedeituK det ZiUtei. Ein Beitrag
zur Theorie des Aatoritätsbeweises. Sonderabdruck aus dem Verzeichnis
der Vorlesung am Kgl. Ljceam Hosianum zu Braunsberg. Sommer 1905.
20 S.
Unter Zitat versteht Verf. jede Berufung auf ein fremdes Urteil. Da
Tcir nun sehr oft uns auf fremde Urteile stfitzen, um etwas zu beweisen,
erhebt sich die Frage, mit welchem Rechte wir das tun und welche Gesetze
wir beachten mftssen, um dem Zitate diejenige Beweiskraft zu verleihen,
die wir wissenschaftlich fordern müssen.
Zunächst zeigt Verf., daCs das Zitieren nur ein Spezialfall der allgemein
im Seelenleben herrschenden Tendenz nach Vereinfachung, nach Arbeits-
teilung ist Wie das Wort uns die Möglichkeit gibt, eine Reihe von Vor-
stellungen leicht in uns wachzurufen, wie ein von uns einmal gefälltes
Urteil uns den Prozefs des Urteilens ein zweites Mal unter gleichen oder
ähnlichen Verhältnissen erleichtert, dadurch, dafs es sofort reproduziert
wird, so ist es für uns eine grofse Erleichterung, wenn wir das von anderen
Gefundene oder Bewiesene für unsere eigenen Beweise benutzen können.
Etwas Ähnliches liegt vor, wenn ich mich auf ein von mir selbst früher
gefundenes Urteil berufe, da ja doch das einst gebildete Urteil jetzt unter
veränderten Verhältnissen vielleicht nicht mehr gilt.
In solchen Fällen müssen wir also erst prüfen, ob dieselben Ver-
hältnisse, unter denen das Urtefl gebildet wurde, auch jetzt noch bestehen.
Es ist femer zu berücksichtigen, daÜB jede Urteilsbildung von einer
Reihe subjektiver Momente abhängig ist. Zunächst von der Stimmung.
Sie bestimmt oft die ganze Denkrichtung, die Auswahl der objektiven Gründe.
Die Willens- und Gefühlsrichtung des einzelnen Menschen, die beim Jünglinge
eine andere als beim Manne und Greise ist, gehört hierher.
Von wesentlichem Einflüsse auf die Urteilsbildung ist der Umkreis
des Wissens zur Zeit der Urteilsbildung. Werden neue Tatsachen bekannt,
so müssen Urteile korrigiert werden.
Alle diese Gesichtspunkte müssen berücksichtigt werden, wenn wir
uns auf eigene früher gebildete Urteile berufen, um wieviel mehr, wenn
wir fremde Urteile heranziehen.
Hier liegen die Verhältnisse noch schwieriger. Nicht nur müssen wir
die Bedingungen genau kennen, unter denen ein anderer genrteilt hat^
seinen Charakter, den Stand seines derzeitigen Wissens; schon das Ver-
stehen eines fremden Urteils ist schwierig, insofern es an die Sprache
geknüpft ist, und danelbe Wort von verschiedenen oft ganz verschieden
gebraucht wird. Hier ist es unbedingt nötig, um nicht in ganz grobe
Fehler zu verfallen, genaa festzustellen, in welcher Bedeutung ein Wort
gebraucht ist. Ein gutes Beispiel hierfür liefert die KuiTSche Terminologie.
Denselben wissenschaftlichen Wert wie unser eigenes unmittelbares
Erkennen hat daher die Berufung auf ein fremdes Urteil nie, sie nähert
sich aber diesem Werte, um so mehr wir die angegebenen VorsichtsmaCB-
regeln beachten, d. h. vor allem, indem wir festzustellen suchen, ob und
-wieweit die Faktoren, durch die es entstanden ist, noch heute für uns gelten.
MosKiEWicz (Berlin j.
Zeitaehrifl ftr F^ekol«(fo u, 30
466 lAtei-aturberickt.
Hbnky Mahshall. Tlie latnre §f Fedisg. Joum. of Fhilos, Psychol etc. 3
(2), 29-^9. 1906.
H. N. Gabdiner. The DeflnitiOl cf FeaUBg. Ebda. (3), 57—62.
J. RowLAKD Anoell. RoceAt DlscilBSiOB Of FeeÜAg. Ebda. (7), 169—174.
Der erste der drei Autoren geht aus von der sprachlichen Be-
zeichnung „Gefühl'', und da er dieselbe in den verschiedensten Fallen an-
gewendet findet, konstatiert er als einen ihnen allen gemeinsamen Zag eine
eigenartige Subjektivität, eine besonders innige Beziehung des als
Gefühl bezeichneten Erlebnisses zu dem Ich des Bewufstseins : sonach
definiert er das Gefühl als „eine bestimmte Form des Vorstellens" , die,
„unbestimmt und unbeschreibbar in ihrem Inhalt'', bei grOfserer Deutlichkeit
sich entpuppt als das empirische Ich, das jedermann bekannt ist.
Ihm stellt Gabdinbb folgende andere, jedenfalls klarere Definition
gegenüber: das Gefühl ist das unmittelbare Bewufstaein von den Ver-
änderungen, welche das individuelle Erleben durchläuft.
Dazu tritt an dritter Stelle die AufEassung Anoells, der zwischen
Marshall und Gardinbb zu vermitteln sucht: nach ihm ist Gefühl „eigent-
lich und in erster Linie zuzuschreiben der subjektiven, persönlichen Seit«
des bewufsten Erlebens", aber gleichwohl hat diese „innere Phase des
Bewufstseins'' auch „bestimmte, wohl zu unterscheidende Repräsentanten
im Bewufstseinsleben" (z. B. Freude). Pbandtl (Weiden).
R. d*Allonnes. Rtle des sensttions internes dans les emotions et dans la
perceptlon de la darie. Reü. philos. 60 (12), s. 592—623. 1905.
Eine Patientin klagt, keine Gemütsbewegung mehr zu fühlen und den
Verlauf der Zeit nicht mehr wahrzunehmen. R. d*A. konstatiert bei der
Patientin einerseits eine viscerale Hypoästhesie, andererseits bemerkt er,
dafs die Ausdrucksbewegungen (Weinen u. dergl.) häufig vorkommen. Er
schliefst daraus, dafs nicht die Empfindungen des Gefühlsausdrucks, sondern
die inneren organischen Empfindungen das Gefühl ausmachen.
Der Fall, den R. d'A. anführt, ist nicht beweisend. Es läfst sich nicht
wegdeuten, dafs die Patientin an ihrer Apathie für alle sonst gefühls-
erregenden Momente leidet. Die ausschliefsliche Richtung ihrer Gefühle
auf ihren eigenen apathischen Zustand scheint in ihr die Täuschung einer
totalen Apathie hervorzurufen, während nur eine sehr weitgehende partielle
Apathie vorzuliegen scheint. Grobthuysbn (Berlin).
G. Dumas. La prijngi Intellectnaliste et le prijiigi flnaliste dans lea th6ories
de rezpreuion. Rev. philos. 60 (12), S. 561—582. 1905.
D. stellt seine mechanisch-physiologische Erklärung des Ausdrucks
der Gemütsbewegungen den Theorien Darwins, Spencers, Wundts entgegen,
die die Ausdrucksbewegungen aus in früheren Generationen einmal zweck-
mäfsigen vererbten Vorgängen oder aus Überlegungen des Individuums zu
erklären suchen. Freude erzeugt einen Hypertonus der Muskeln, steigert
sich der Hypertonus, so haben wir den Ausdruck des Zornes ; Trauer erzengt
einen Hypotonud der Muskeln, mindert sich der Hypotonus, so haben wir
den Ausdruck der Angst. D. gibt zu, dafs für viele Details der Ausdrucks-
bewegungen man auf Erklärungen Darwiks und Wünots zurückgreifen müDste,
Literaturbericht 467
aber das Grandphänomen sei mechaniech-physiologisch za erklären. In
der Tat kennt ja die Theorie D.s nur eine gröfeere oder geringere Stärke
des Ausdrucks und kann den mannigfaltigen qualitativen Nuancen des
Ausdrucks nicht gerecht werden. Gboethutsbm (Berlin).
\y. M. Urban. Appreciation and Deseriptlon and the Psyohology of Yalnes.
Phüos. Review U (6), 645—668. 1905.
Inwiefern können die Werte und Wertdisziplinen (wie ReUgion,
Ethik, Ästhetik usw.) Gegenstände der Psychologie sein? MüKSTERBEBa hatte
hieranf geantwortet: gar nicht; denn Wertungen (Stellungnahmen) seien
stets individuell und einzigartig; Psychologie habe aber nur allgemeine
Beschreibungen der Zusammenhänge psychischer Inhalte zu geben. Diese
scharfe Scheidung bestreitet der Verf. Sie werde schon durch die Erfahrung
widerlegt; denn es gebe psychologische Untersuchungen über Werttatsachen,
die nicht fortzudednzieren seien. (Verf. exemplifiziert vor allem auf die
Arbeiten von James u. a. über die Psychologie des religiösen Erlebens.)
Auch sei es falsch, Wertung und Beschreibung als sich ausschliefsjdnde
Verhaltungsweisen hinzustellen; könne doch keine individuelle Wertung
mitgeteilt werden ohne Beschreibung durch allgemeine Begriffe. Urban
unterscheidet daher zwei Arten der Beschreibung, die wertende (appre-
ciative) und die sachliche (scientific), dort wird durch allgemeine Begriffe
die Deutung funktioneller Stellungnahmen, hier die Feststellung gesetz-
mäÜBiger Beziehungen zwischen inhaltlichen Elementen vermittelt.
W. Stebn (Breslau).
Theodor A. Meter. Dat Fomprillllp des ScMlieB. Ärch. f, »yst Philos, 10,
338-394. 1904.
Nicht im Sinne der HERSARTschen Formästhetik aber doch im Gegen-
satze zu einer einseitigen Gehaltsästhetik betont M. die Bedeutung des
Formprinzips und nimmt damit den Standpunkt ein, den zuerst mit Klarheit
Schiller vertreten hat, und auf den sich auch der Ref. in seiner „allgemeinen
Ästhetik" stellte. „Wir erleben ohne Kunstwerk immer auch eine Freude
darüber, dafs der Gehalt so voll in die Erscheinung herausgesetzt ist. Diese
Freude ist von der Freude am Gehalt des Kunstwerks verschieden" . . . (340),
Die von Kulpe versuchte Gleichstellung des Formprinzips mit Fbchnbrs
„direktem Faktor" weist M. mit Recht zurück. Vielmehr beruht die Lust
an der Form darauf, dafs die aufnehmenden sinnlich -psychischen und
psychischen Organe in relativ mühelose und dabei doch energische Tätigkeit
gesetzt werden. Da die Auffassung eines Objektes eine zweckbestimmte
Tätigkeit ist, so ergibt sich für die Aneignung des Objektes die energische
und mühelose Tätigkeit der auffassenden Organe zugleich als eine Tätigkeit
von höchster Zweckmäfsigkeit.
Der auf diese allgemeine Entwicklung folgende Überblick über die
obersten Grundsätze des Formschönen ist nach der Verschiedenheit der
auffassenden Organe angeordnet. Jedes Kunstwerk wendet sich zunächst
an dasjenige Organ, dem sein Darstellungsmittel zugehört. Bei den bildenden
Künsten handelte es sich hier um das Sehen. Mit Merz (Das Formgesetz
der Plastik. Leipzig, 1892) unterscheidet Meyer hier eine niedere Stufe,
30*
1
468 Literaturbericht
der satte Farben, leuchtkräftige Farbenzusammenstellungen, weich gewundene
Linien und neben ihnen die Horizontale und Vertikale unseres Gesichts-
feldes angehören, und eine höhere. Denn „die einzelnen Empfindungen zu
einem Ganzen der Anschauung zu ordnen ist das Ziel, dem unser Auge
zustrebt" (352). Dieser höheren Stufe gehört die (kurz nach und unab-
hängig von M£Hz) durch Hildebsand aufgestellte Forderung an, dafs die Teile
des Kunstwerkes bequem und doch kraftvoll zur Anschauung eines räum-
lichen, dreidimensionalen Ganzen zusammengehen. Derselbe Unterschied
einer höheren und niederen Stufe des Formschönen wird (354) für die
Musik gemacht. Das Darstellungsmittel der Poesie liegt nicht in Phantasie-
bildern sondern in der Sprache. „Deshalb ist das auffassende Organ der
Poesie nicht unser optischer und akustischer Sinn, nicht unser inneres
Auge und Ohr, sondern unser Vorstellungsvermögen, wie wir es an der
Sprache oben ; seine Gesetze sind im Wesen verschieden von denen unseres
optischen und akustischen Sinns, und wenn die Poesie Bilder und schliefslich
das Bild eines Ganzen schafft, so schafft sie Vorstellungsbilder, die in ihrer
Gedankenhaftigkeit und Überanschaulichkeit unter ganz anderen Be-
dingungen stehen als die Anschauungsbilder der bildenden Künste und
der Musik" (357). Auch hier ist eine niedere und höhere Stufe unterschieden.
Für die klangliche Schönheit der Sprache gelten nach M.s Vermutung die
Gesetze, unter denen unsere Sprachorgane die Laute hervorbringen (360).
Hierher gehört auch der poetische Rhythmus. „Man kann die Eigentümlich-
keiten des Rhythmus der Poesie nicht, wie die des Rhythmus der Musik,
aus den Gesetzen unseres Geistes ableiten, vielmehr sind sie durch die
Bedürfnisse unserer Sprachorgane bestimmt" (362). Wichtiger ist indessen
der starke Einflufs, den die Klanglaute der Sprache und der Rhythmus
auf unsere inhaltliche Vorstellungstätigkeit ausüben.
Bei aller Verschiedenheit der Organe sind die Gesetze des Form-
schönen doch zugleich Ausdruck der einen, gleichen Natur unseres Geistes.
So erheben sich über den einzelnen Kategorien der besonderen Kunst-
gebiete als sie umfassend die Gesetze des allgemeinen Formschönen. Aber
diese Gesetze haben auch neben jenen Spezifikationen ihre besondere Be-
deutung im einzelnen Kunstwerk. Denn die Form jedes Kunstwerkes ist
schön, sofern sie dessen geistigen Gehalt dem Verstand und der Phantasie
kraftvoll und mühelos vermittelt. So angesehen sind die Gesetze des all-
gemeinen Formschönen zugleich die des geistig Formschönen (364 — 365).
Bei der Ableitung dieser Gesetze wird (366) von der alten Formel „Einheit
in der Mannigfaltigkeit" ausgegangen. Aus ihr werden die Forderungen
der „Kontinuität im Wechsel" (369) und der „Übersehbarkeit dep Kunst-
werkes" (371) abgeleitet. Ebenso folgt daraus (377) die Forderung klarer
und grofszügiger Gliederung, als deren Mittel Kontrast, Spannung sowie
Dissonanz und deren Auflösung genannt wurden. — Ergänzend zu dieser
abstrakten Betrachtung der Formen tritt eine andere, für die die Form das
Mittel ist, den Gehalt des Kunstwerkes zum leichtesten und kraftvollsten
Ausdruck zu bringen (381). Die hierdurch geforderte Adäquatheit des Aus-
druckes ist das höchste Formprinzip, dem unter Umständen die niederen
Stufen zum Opfer gebracht werden müssen. Besonders wirksame Modi-
LiteraturbefHcht 469
fikationen dieser Adäquatheit des Ausdruckes sind die Prinzipien der „Viel-
stimmigkeit" (391) und des „kleinsten Kraftmafses'' (393).
Die Ausfahrungen Meters leiden zum Teil unter der etwas äufser-
liehen Trennung der „aufnehmenden Organe", die an die alte Vermögens-
psychologie erinnert. Die höhere Stufe der „optischen" Formschönheit
z. B. gehört ganz und gar der intellektuellen Auffassung des Gesichts-
eindruckes an. Aber auch für die Symmetrie ist M.s Erklärung, dafs sie
„einen starken Zwang zum Oszillieren des Blicks zwischen den symmetrischen
Hälften" ausübt und so zur Einheitsauffassung führt (364) falsch. DaTs die
Beziehung auf eine Mitte bei den simultanen Künsten, nicht aber bei den
sukzessiven wesentlich ist, beruht eben auf der Verschiedenheit des Neben-
und Nacheinander. Der Vorzug der bilateralen Symmetrie aber entstammt
der Wichtigkeit der Schwere-Bichtung und der Analogie unserer eigenen
Gestalt. Indessen bedeuten solche Ausstellungen nicht viel gegenüber der
Fülle von Anregungen und Gedanken, die M. in seiner bedeutenden Ab-
handlung gibt und die zu erschöpfen ein kurzes Referat unmöglich vermag.
J. CoHN (Freiburg i. B.).
Dr. Franz Jahn. Das Problem des Komischen In seiner geschichtlichen Ent-
wicklang. Potsdam (A. Stein) o. J. 130 S. Mk. 2.
Als Ref. eine Programmabhandlung Jahns anzeigte {diese Zeitschr. 38, 68)
versprach er bei Gelegenheit dieses Buches etwas näher auf die Ansichten des
Verf. einzugehen. Er bedauert, dies Versprechen nicht halten zu können —
weil, abgesehen von der Hochschätzung des Komischen und dem allgemeinen
Bestreben, es mit dem Lebensinhalte, d. h. dem Willen des Menschen
in Beziehung zu setzen, diese Ansichten ihm nicht deutlich geworden sind.
Das wäre nun an sich bei einer historischen Arbeit kein wesentlicher
Fehler — wenn nur eine wirkliche Entwicklungsgeschichte der verschiedenen
miteinander kämpfenden Theorien gegeben wäre. Aber J. begnügt sich
mit äufserlicher Aneinanderreihung der Ansichten verschiedener Autoren
der er jedesmal eine wenig prinzipielle Kritik einiger herausgerissener
Sätze hinzufügt. Auch die Zusammenordnung der Autoren in Gruppen ist
recht äufserlich und zum Teil ganz verfehlt. Mit Staunen findet man
ScHOPENHAUBR uud mit noch gröfserem Bbneke unter den Vorläufern der
spekulativen Philosophie. Wenn man den Intellektualismus dadurch charakte-
risiert, dafs er nach dem Vorbilde Herbarts alle Bewufstseins Vorgänge auf
Vorstellungsassoziationen zurückführt, so darf man weder Wundt noch Lipps
unter die Intellektualisten rechnen. — Gerade in einer Geschichte der
Theorie des Komischen hätte die anregende Wirkung grofser komischer
Kunstwerke berücksichtigt werden müssen. Jahn scheint das gefühlt zu
haben — doch fehlt bei der Antike die wunderbare Heiterkeit Platons,
LsssiNOS Unterscheidung von Lachen und Verlachen hätte an das ernste
Lustspiel (Diderot!), die Ausbildung des Humorbegriffs an Sterne angeknüpft
werden müssen. Da auch die verschiedenen Probleme, die eine Theorie
des Komischen zu lösen hat, nirgends scharf auseinander gehalten und in
ihrer Verschlingung verfolgt werden, mufs man die Darstellung Jahns als
verfehlten Versuch bezeichnen.
Das ist um so mehr zu bedauern, als die Arbeit von grofser Liebe
1
470 Literaturberickt
zur Sache und ausgebreiteter Belesenheit zeugt. Jahn hat vieles zusammen-
getragen, was dem wahren Historiker dieses 8pezialproblems der Ästhetik
die Arbeit erleichtem wird. Diese Bedeutung als Vorarbeit wird leider
durch einige äufserliche Nachlässigkeiten wieder vermindert. Ärgerliche
Druckfehler besonders in den fremdsprachlichen Zitaten sind noch weniger
störend als der Mangel einer genauen Angabe des Standortes der Zitate.
Denn nur aus dem Zusammenhange heraus Iftfst sich doch eine einzelne
Stelle wirklich beurteilen, es mufs also dem Leser leicht gemacht werden,
diesen Zusammenhang nachzusehen. — Den Äthestiker Cabriebb schreibt
Jahn immer Cabbi^re. — Trotz aller Mängel kann mau im einzelnen vieles
aus dem Briefe Jahns lernen; besonders als Bibliographie ist es nfitzllch.
J. CoHN (Freiburg i. B.)
w. H. WiNCH. Pfycbology and Philosophy of PUy. Mind 15 (57), 32—52, (58),
177-190. 1906.
Das Interesse des Verf. ist vorwiegend pädagogisch und kann soweit
uns hier nicht beschäftigen. In seinen „psychologischen" und philosophischen
Ausführungen aber bleibt er in der Hauptsache negativ — er wendet sich
in einer ausführlichen und wohlberechtigten Polemik gegen die haupt-
sächlichsten der bestehenden Theorien — , ohne selber in der Erklärung
der Tätigkeit des Spielens einen wesentlichen Schritt vorwärta zu tun;
vielmehr setzt er irgend eine Erklärung derselben schon voraus, indem er
hauptsächlich betont, dafs das Spiel um des Spieles willen und nicht
Mittel zu einem aufser ihm gelegenen Zwecke sei. Pbandtl (Weiden).
J08EF Mack. Kritik der Freiheitstheorien. Eine Abhandlung über das Problem
der Willensfreiheit. Leipzig, J. A. Barth. 1906. 287 S. Mk. 4,50.
Mack, der sich nicht sowohl zu einer der streitenden Parteien als viel-
mehr aufserhalb derselben stellen und die Meinungen lediglich kritische
Revue passieren lassen möchte, schafft, obwohl er uns eine kurze Dar-
stellung des Problems verspricht, seiner Untersuchung eine sehr breite
Basis. Zuerst betrachtet er das Kausalgesetz und die Freiheitslehren ganz
im allgemeinen, findet, dafs der Kern der Freiheitsfrage eigentlich die Frage
nach der Existenz eines aufserkausalen Seins ist, und glaubt nach einem
Vergleich der untermenschlichen Natur mit der menschlichen, dafs nur der
Mensch es ist, bei dem an ein solches gedacht werden kann. Es folgen
weitausgreifende, an — überflüssigen — Reminiszenzen aus der Geschichte
der Philosophie reiche Untersuchungen über die Erklärung der ethischen
Phänomene durch Determinismus und Indeterminismus, über den Freiheits-
begriff im allgemeinen und die sittliche Freiheit im besonderen, die Mack
einander bedenklich nahe rückt, über die Begriffe der logischen und der
psychologischen Notwendigkeit, Norm und Wirklichkeit, Moralgesetz und
blinde Instinktnatur des Menschen. Daran schliefst sich ein Versuch des
Nachweises, dafs ein spezifisch menschliches Ich, ein nur Menschen eigen-
tümliches Subjekt — man w^ird hier unwillkürlich an Aristotbles erinnert —
als eventueller Träger der Freiheit tatsächlich existiert. Nach einer Charakte-
ristik der Beweise der indeterministischen wie der deterministischen Theorie,
der Freiheitsbegriffe, der in Betracht kommenden ethischen Phänomene
Literaturbericht. 471
(Schuld, Reue, Verantwortung, Strafe), gelangt er zu dem Schluls, dafs der
Indeterminismus zwar die Bichtigkeit seiner Ansicht nicht zwingend
beweisen könne, aber sie auch nicht zu beweisen brauche, w^eil die Freiheit
des Willens eben eine lebendige Tatsache sei. Die Widerlegung des
Determinismus geschieht in einer Reihe von Einzeluntersuchungen, so
besonders über die logische Interpretation des Anders-Könnens und die
ethischen Probleme, über das Vermögen der sittlichen Norm zu entsprechen,
über Freiheit als Willkür, Freiheit als Werk unser selbst, Schranken der
Freiheit und die Macht der Erziehung, Freiheit als Ursachelosigkeit, die
Arten der Kausalität, die Strafe der Vergeltung, die Rechtslehre und das
Problem der Freiheit, Freiheit, Kulturentwicklung und Statistik, Freiheits-
erlebnis und deterministisches Zuschauertum. Danach wird die Freiheits-
lehre des kritischen Idealismus, angefangen mit Kant, besprochen und zum
Schlufs die Frage aufgeworfen: Ist die Freiheit möglich d.i. denkbar? und
darauf die Antwort erteilt: „Warum nicht I Vernunft hat nichts dagegen
einzuwenden, dafs auch ein freies Etwas existiert. Aber eine erkannte
Freiheit ist unmöglich, weil sie als solche nicht Freiheit sein könnte.
Nur als lebendige ist sie uns eigen, nur in den Erlebnissen erfahren wir
uns. Und dies lebendige Sichregen und Schaffen und Mühen um die Er-
haltung vermag erkennend nicht erschaut zu werden." „Freiheit ist — das
bezeichnet der Verf. als Ergebnis seiner Untersuchung — Möglichkeit der
Selbsterhaltung d. i. der Befriedigung der ästhetisch-ethischen Bedürfnisse
des Subjektes. Selbsterhaltung ist Liebe, solche der eigenen und des
Gattungsselbst. Freiheit ist die Macht der Erfüllung der Forderungen
der eigenen Natur. Sofern der Mensch sie gebraucht, sorgt er für sittliche
Erhaltung d. i. er liebt sich und liebt die ethische Gattung." Diese seine
vielfach verzweigenden Ausführungen hat Verf. mit einer unglaublichen
Fülle von Zitaten ausstaffiert, die weder nötig waren noch auch nützlich.
Sie hindern nur die klare und glatte Entwicklung der Gedanken. Ein
Fortschritt in der Behandlung der Freiheitsfrage ist nur möglich durch
Ausscheidung alles irgendwie Entbehrlichen, durch möglichste Vereinfachung
der Fragestellung, durch Verzicht auf noch so lockende Seitengänge. So
müssen wir befürchten, dafs Mack trotz der vielen ansprechenden Gedanken,
die sich in seinem Buche finden, das Problem nicht gefördert hat.
Max Oppneb (München).
Ol. Habbison Town. The Negative Aspect of Hallacinatione. A}ner. Journ. of
Psychol. 17 (1), S. 134—136. 1906.
Der Aufsatz wendet sich gegen die Auffassung, wonach ein Individuum,
das eine Halluzination erlebt, unfähig sein soll, eine Empfindung oder
Vorstellung entsprechenden Inhaltes zu haben. Nach dieser theoretischen
Ansicht hat jeder halluzinatorische Prozefs zwei Seiten, eine positive Seite,
die in einem halluzinatorischen Bild resultiert, und eine negative Seite,
die nicht gleichzeitig einen anderen Eindruck durch dasselbe Zentrum
zustande kommen läfst. Sorgfältige Beobachtungen, die in einer Irren-
anstalt in Frankford angestellt wurden, haben Ol. T. zu der Ansicht gebracht,
dafs der negative Faktor nicht immer erkennbar, ja in gewissen Fällen
472 Literaturbericht.
gar nicht vorhanden ist. Verf. sucht darum die Erkl&rung nicht in
der funktionellen Zersplitterung der peripheren Sinnesprozesse, sondern in
dem verschiedenen Grad und Umfang der Aufmerksamkeit. Bei Halluzi-
nationen w&re das Charakteristische auTser dem Wegfall von konkurrierenden
Hemmungsvorstellungen die Verengerung des Aufmerksamkeitshereiches.
Aall (Halle).
Sh. I. Fbanz. Tbe TfaB6 of ume Heatil Processes ii the Retardittom iii
IxdtaBeit of IlUlity. Amer. Joum. of Fsyehol 17 (1), S. 38—68. 1906.
Es kam dem Verf. bei der vorliegenden Untersuchung vor allem darauf
an, aufzuklären, auf welchen Teil oder auf welche Teile des Nervensystems
wir die gesteigerte oder verminderte psychomotorische Aktivität zurfick-
zuf Uhren haben, die gewöhnlich bei manisch-depressivem Irrsinn vorgefunden
wird. Es wurden zu dem Zwecke mit verschiedenen Patienten in einem
Hospital in Waverby (Mass.) Experimente ausgeführt Bei verschiedenen
Arten derselben wurden Messungen vorgenommen und die betreffenden
Zeiten bei den reagierenden Subjekten festgestellt, nämlich die Zeit für
kurze Signale, die Zeit für einfache Reaktionen auf Schall, die Zeit für
Wahlreaktionen bei Schallreizen, die Schnelligkeit im Lesen, die Zeit für
die Auffassung und Auswahl verschiedener Buchstaben, die Zeit für Addition,
die Zeit für Auffassung und Verteilung von farbigen Papieren. In keinem
Fall fand Fr. eine irgendwie konstante Beschleunigung der Reaktion.
Charakteristisch für den manischen Zustand ist also nicht die Steigerung der
motorischen Fähigkeit, sondern lediglich eine gesteigerte motoriache
Dezentralisation. — Der verlangsamte Verlauf verschiedener psychischer
Akte bei einzelnen Irrsinnigen tritt nicht so ausgeprägt hervor bei der
Ausführung von geistigen Prozessen komplizierter Natur, wie Wahlreaktion,
Addition u. dergl.
Einige Experimente deuteten darauf hin, dafs bei verlangsamter Reaktion
besonders der Spannungsreflex mit Verspätung abläuft^ und dafls gleich-
zeitig die Hautsensibilität herabgesetzt ist. In Verbindung mit der Tmt>
Sache, dafs während der ganzen Zeit die mentalen Prozesse keine Extra-
beechleunigung aufweisen, deuten diese Erscheinungen wohl darauf, dafs»
wenn eine Verminderung der Reizfähigkeit stattfindet, eine solche nicht
prinzipiell das Gehirn, sondern eher periphere Teile des Nervensystems trifft.
Aau. (Halle).
473
Namenregister.
Fettgedinokte Seitenzahlen besieben slob auf den Verfasser einer Origlnalabbandlnng, Seiten*
sablen mit t anf den Verfasser eines referierten Bnobes oder einer referierten Abbandlnng,
Seitenzahlen mit * auf den Verfasser eines Referates.
Aall 106* 120.* 130* 156.*
457 * 460 * 472.*
Abels, H. 268. 374.
Abraham, O. 125.*
Ach, N. 426. 460.t
Ackerknecht 127.* 234.*
Alexander 4ö3.t
Allonnes, R. de 466.t
Alrute, 8. 114.t
Alter 129.* 147.* 160.*
151.* 153.* 165.*
Angell, J. R. 466.t
Arnold, F. 234.t
Aßter, E. v. 161. 106.*
126.* 132.* 234.* 236.*
313.*
B.
Baird, J. W. 112.t
Barrovecchio, B. 237.t
Bechterew, W. v. 96.t
320.t
Bell, A. 457.t
Bennssi 308.* 309.*
Beyer, H. 235.* 451.* 453.*
Binet, A. 230.t
Bleuler llO.f
BoDnier, P. 159.t 233.t
Bos, C. 460.t
Botti, L. 308.t
Bourdon, B. 302.t
Brand, J. E. 127.t
Brann, Th. 163.t
Browne, Ch. E. 458.t
Buflh, W. T. 106.t
c.
Calkins, M. W. 441.t
Chamberlain, A.F. lo6.t
460.t
Cohn, J. 141.* 146.* 313.*
469.* 470.*
CJordsen, H. C. 298.*
Cornelius, H. 18.
Danilewsky, B. 112.t
Dix, D. S. 112.t
Dodge, R. 128.t
Downey, J. E. 132.t
Dromard 146.t
Dürr 159.* 450.*
Dumas, G. VSö.f 466.t
Dunlap, K. 113.t
Duprat 133.t
Dyroff, A. 438.t
E.
Ebbinghaus 109.* 320.*
Eisenheimer, J. 299.f
Elkin 157.*
Elsenhans, Th. 131.t438.*
443.* 447.*
Elwang 145.*
Erdmann, E. Th. 309.t
Ettlinger 131.*
F.
Ferree, C. E. 456.t
Forti, V. 237.t
Fran kl - Hoch wart, L. v.
454.t
Franz, Sh. J. 152.t 472.t
French, F. 0. 239.t
Freud, S. 143.t 239 t
Frey, M. v. 114.*
G.
Gardiner, H. N. 466.t
Gibson, W. R. B. 131.t
Giessler 456.*
Gignoux, V. 134.t
Girard, P. 158.t
Gomperz, H. 317.t
Gordon, K. 133.t
Grabowsky, A. 157.t
JGroethuysen 128.* 131.*
' 133.* 134.* 135.* 148.*
! 157.* 158.* 444.* 460.*
1 466.* 467.*
; Gross mann, E. 4ö7.f
Hagemann, G. 438.t
Haies, F. N. 238.t
: Henneberg, R. 151. f
I Herzog, H. llO.f
! Heymans, G. 1. 321. 233.*
Hollands, E. H. lOö.f
Hornbostel 237.*
I.
Isserlin, M. 320.t
J.
Jacobsohn, S. 40. 204.
Jahn, F. 469.t
Janet, P. 148.t
Jensen 108.*
JeweU, J. R. 130.t
Johnston, Ch. H. 132.t
Jung, C. G. 128.t
474
Namenregistei\
Kellogg, A L. 148.t
Kern, B. 440.t
Kiesel, A. llO.f
Kiesow, F. 308.t
King, I. 146.t
Kinehmami, A. 450.f
Kleinpeter, H. BtO.f
Kramer. F. löO.f
KrauBB, 8. 445.t
La Grasserle, R. de 131.f
Laurent, L. 126.t
Lay, W. A. 290.t
Leighton, J. A. IBl.f
444.t
Lipmann 97 * 120* 129 *
143* 153.* 158* 441.*
443*
Lippe, Th. 97.t
Lipechitz, R. 240.t
Luquet, H. 444.t
McDougall, W. 238.t 447.t
MacGregor, D. 0. 112.t
Mack, J. 470.t
Manchester, G. 8. löö.f
Marage, M. 236.t
MarsliaU, H. R. 120.t
466.t
Martins, G. 464.*
Masselon 133.t
Meunier 129.t
Meyer, A. löl.f
Meyer, M. 114.* 128.*
156.*
Meyer, Th. A. 467.t
Monroe, W. S. 129.t
Montmorand, Brenier des
134.t
Moskiewicz 303.* 310.*
317.* 319.* 465.*
Muckenhonpt, L. 467.t
N.
Nagel, W. 107.t
0.
Offner, M. 316.t 148*
440.* 445.* 471.*
Oppenheim, H. 320.t
Ostmann 452.t
Palme, A. 444.t
PanconcelU -Calsia, G.
109.t
Pfersdorf, K. 153.t
Pflanm, Chr. D. 313.f
Pick, A. 240.t
Pierce, A. H. 286.t
Piper 110.* 111.* 112.»
113.* 300.* 802.* 451.*
Planck, H. 147.t
Porter, J. P. 158.t
Prandtl 105.* 107.* 121.*
128.* 130* 131.* 132.*
133.* 145* 146.* 238.*
239.* 443.* 466.* 470.*
R.
Rabaud, £. 154.t
Robinson, T. R. 300.t
Rodenwaldt, £. 319.t
Rupp 119.*
S.
8chaefer, K. L. 466.*
Scheibe, M. 239.*
Schult«, P. 234.t
Schnitze, E. 150.* 153.*
154.*
Schumann, F. 125.t
Semon, R. lOS.f
Siebeck, H. Ul.f
Siegel, K. 126.t
Sollier, P. 444.t
Soukhanoff, S. 153.t
Spearman, C. 114.f
Spielmeyer 151.* 152*
153.*
Stadelmann, H. 150.t
Stern, J. 157.f
Stern, W. 444.* 467.*
Stoops, J. D. 14o.t
Stratton, G. M. 443.t
Svoboda, H. 435.t
Swift, E. J. 120.t
Switalski, W. 466.t
T.
Tandler 453.t
Thauziös, A. 159.t
Thilly, F. 443.t
Town, Ol. H. 4e0.t 471+
Trendelenburg, W. 447.*
Truc, G. 148.t
Tttrkel, S. 154.t
Tufts, J. H. 166.t
U.
Umpfenbach 238.* 240.*
319.* 320.*
ürban, W. M. 467.t
ürstein. M. 423.
Väli, E. 451 .f
Vayrac 455.f
Völkel, M. 458.*
Volkelt, J. 135.t
Vorbrodt, G. 313.t*
w.
Wallaschek, R. 121.t
Wallin, J. E. W. 303.t
Weber, E. 134.t
Wiersma, £. S21.
Winch, W. H. 470.t
Y.
Yerkes, R. M. 106.t
z.
Ziehen, Th. 241.
Zimmer 109.* 160.*
Druok von Lippert & Co. (O. P&ta'sohe Buolidr.), Naumburg a. S.
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