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Full text of "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane"

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Zeitschrift 

für 

Psjchologie und Physiologie der Sinnesorgane 

heransgegeben von 
Herrn. Ebbinghans und W. A. Nagel. 



L Abteilung. 

Zeitschrift für Psycliologie. 

In Gemeinschaft mit 

S. Einer, J. v. Kries, Th. Lipps, A. Meinong, 

ö. R Müller, C. Pelman, A. v. Strümpell, C. Stumpf, 

A. Tschermak, TL Ziehen 

herausgegeben von 

Herrn. Ebbinghans. 
43. Band. 




Leipzig, 1906. 
Verlag von Johann Ambrosius Barth. 

BofipUts 17. 



Inhaltsverzeichnis. 



Abhandlungen. Seite 

G. Hbyxans. Weitere Daten über Depersonalisation und „Fausse Re- 

connaiflsance*' 1 

H. Ck)BNSLiu8. Psychologische Prinzipienfragen. II. Das Material der 

Phänomenologie 18 

6. Jacobsohn (t). Über subjektive Mitten verschiedener Farben auf 

Grund ihres Kohärenzgrades 40 u. 204 

£. VON Aster. Beiträge zur Psychologie der Raumwahmehmung . . 161 

Th. Zibhbn. Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen 241 

H. Abbls. Über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen 
und statischen Sinnes. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewegungs- 
schwindel (Drehschwindel) 268 u. 374 

G. Hbtkans und E. Wibbsma. Beiträge zur spezieilen Psychologie auf 

. Grund einer Massenuntersuchung II * 321 

M« ÜBSTBor. Ein Beitrag zur Psychologie der Aussage. Kleine Mit- 
teilung 423 



N. Ach. Zweiter Kongrefs für experimentelle Psychologie (Bericht) . 425 

Literaturbericlit und Bespreehnngen. 

I. Allgemeines. 

U. SvoBODA. Studien zur Grundlegung der Psychologie 435 

G. HAOKMAinr. Psychologie. Ein Leitfaden für akademische Vorlesungen 

sowie zum Selbstunterricht. 7. neubearb. u. verm. Aufl. herausg. 

von A. Dyboff 438 

B. KxBH. Das Wesen des menschlichen Seelen- und Geisteslebens . 440 
W. V. Bbchtbbew. Die biologische Bedeutung der Psyche und die 

Bolle der psychischen Auslese 96 

Th. Lipps. BewuTstsein und Gegenstände 97 

£. H. Hollands. Wxtndt's Doctrine of Psychical Analysis 105 

B. M. Ybbkbs. Animal Psychology and Criteria of the Psychic . . . 106 

W. T. Bush. An Empirical Definition of Consciousness 106 

A. Binbt. L'äme et le corps 230 



IV Inhaltsverzeichnia. 

Seite 

P. Bom^iEB. Y a-t-il une psychologie hnmaine? 233 

F. Abnou). The ünity of Mental Life 234 

P. Schultz. Gehirn und Seele 234 

M. W. CALKiNg. Der doppelte Standpunkt in der Psychologie . . . 441 

H. LuQüET. Reflexion et introspection 444 

P. SoLLiBB. La conscience et ses degrös 444 

J. A. LxxGHTON. The Psychological Seif and the Actual Personality . 444 

G. M. Stbatton. The Difference between the Mental and the Physical 443 

F. Thiixy. Psychology, Natural Science and Philosophy 443 

A. Palme. J. G. Sülzsbs Psychologie und die Anfänge der Drei- 

yermögenspsychologie 444 

S. Kbaitss. ThAodulb Ribotb Pflychologie. Ein Beitrag zur Geschichte 
der modernen Psychologie in Frankreich. I. Teil: Ribots erste 
Schäffens'pferiöde (1876-1890) 445 

HL l^hysiologie der nervösen ^entralorgane. 

R. Ssifoir. Die Mneme lüs erhalt^ides Prinzip im Wechsel des organi- 
schen Geschehens 108 

G. Pa^tconcslu-Oilzia. Quelques remarques sur la m^hode graphique 109 

tV. Smpfindmigetn. 

1. Allgemeines. 
W. Na«]il. Handbuch der Physiologie des Menschen. III. Hiysio- 

logie der Sinne. 2. HAlfte 107 

A. H. PnmcK. Inferred Consciou« States and the Equality Axioai . . 238 

2. Gesichtsempfindungen. 

A. KiBSBL. Die Welt des Sichtbaren 110 

H. Hbhzog. Experimentelle Untersuchungen zur Physiologie der Be- 

wegungsvorgänge in der Netzhaut 110 

J. EiBENHEiMBB. Untersuchungen zur Helligkeitsfrage 299 

T. R. Robinson. Stereoscopic Vision and its Relation to Intensity and 

Quality of Light Sensation. I. Stereoscopic Vision and Intensity 300 
W. McDouoall. The Illusion of the ,,Fluttering Heart" and the Visual 

Funetiens of the Rodä of the Retina 447 

— The Variation of the Intensity of Visual Sensation with the Du- 

ratron of the Stimulus 447 

D. C. MacObbgob and D. S. Dix. The Complementary Relatkins of 

some Systems of Coloüred Papwrs 11^ 

J. W. ÄAäu>. The Color Sensltivity of the Petipherai Retina .... IIA 
ß. Danilxwsky. Beobachtungen über eine subjektive Lichteinpfindufig 

im variablen magnetischen Felde Hft 

A. KiBSCHHANN. Nofmale und anomale Farbensysteme 46G 

3. Geh<»rsempfindniige&. 
K. Dunlap. Extensity and Pitch 118 



Inhaltsverzeichnis. T 

Seite 
M. Mabagb. Sensibilitö speciale de l'oreille physiologiqne pour cer- 

tainee voyelles 236 

— Contribution k T^tude de l'organe de Cobti 236 

— Pourqnoi certains sourds-mnets entendent mieux les sons graves 

que les sons aigns 236 

E. Viiii. Über objektive Ohrentöne 451 

OsTMiKNN. Klinische Studien zur Analyse der Hörstörungen. IV. Teil 452 
AhBJUkifDEEL u. Tandlbr. Untersuchungen an kongenital tauben Hunden, 

Katzen und an Jungen kongenital tauber Katzen 453 

4. Hautempfindungen usw. 
V. FoBTi u. B. Babboyscchio. Ein weiterer Beitrag zur Kenntnis des 

Vibrationsgeftthls 237 

S. AiAüTZ. Untersuchungen über Druckpunkte und ihre Analgesie . 114 

— Untersuchungen über Schmerzpunkte und doppelte Schmerz- 

empfindungen 114 

B. BoüBDOK. L'^tat actuel de la qnestion du eens musculaire .... 302 
L. V. Fbankl-Ho€hwabt. Der M«NiiBESche Symptomenkomplex. 2. Aufl. 454 

5. Allgemeine Eigenschaften der Empfindungen. 
G. Spsabmak. Analysis of „Localisation", illastrated by a Brown- 

Söquard Gase 114 

V. Qrondgesetae des seelischen Qeschehens. 

Vatbac. Le Processus et le m^canisme de Tattention 455 

G. £.' FbbbbIi. An Experimental Examination of the Phenomena 

uiäually attributed to Fluctuations of Attention 456 

Blbttlbb. Diagnostische Assoziationsstudien. V. Beitrag. Bewufstsein 

und Assoziation 119 

E. J. "St^iPl?. Memory of a Gomplex Skillful Act 120 

W. MbDoüoA'LL. On a New Method for the Study of Goncurrent 

Mental Operations and of Mental Fatigue 238 

VI. Vorstellungen. 

H. B. Mabshall. Presentation and Bepresentation 120 

R. Wallaschbk. Psychologie und Pathologie der Vorstellung. Beitrage 

zur Grundlegung der Ästhetik 121 

A. Bbll and L. Mückbnhoüpt. A Gomparison of Methode for the 

Detennination of Ideational Types 457 

£. Gbossmakk. Über Schätzungen nach Augenmafs 457 

J. E. W. Waluk. Optica] lUusions of Beversible Perspective : a Volume 

of fiistorical and Experimental Besearches 9C6 

F. Kbssow. Über die geometrisch-optischen Täuschungen 308 

L. BoTTL Ein Beitrag zur Kenntnis der Variabein geometrisch-optischen 

Streckentäuschungen 308 

F. SoBDifAKir. Beiträge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen . . 125 

— Beiträge zur Psychologie der Zeitwahmehmnng 125 



VI Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

K. SiBOBL. Über Raum Vorstellung und Baumbegrifi! 126 

J. £. Brand. The E:ffect of Verbal Suggestion upon the Estlmation 

of Linear Magnitudes 127 

B. DoDOE. The Illusion of Clear Vision during Eye Movement ... 128 

L. Laubekt. Les proc^^s des liseurs de pens^es 128 

0. G. Jung. Experimentelle Beobachtungen über das Erinnerungs- 
vermögen 128 

Meunibb. Des röves stör^otyp^s 129 

W. S. MoNBOE. Mental Elements of Dreams 129 

J. R. Jewell. The Psychology of Dreams 130 

F. N. Hales. Materials for the Psycho-Genetic Theory of Gomparison 238 
N. Ach. Über die Willenstätigkeit und das Denken. Eine experi- 
mentelle Untersuchung mit einem Anhange: Über das Hippsche 
Ghronoskop 460 

Gh. E. Bbowiöe. The Psychology of the Simple Arithmetical Processes. 

A Study of Gertain Habits of Attention and Association . . . 458 
Gl. H. Town. The Kinaesthetic Element in Endophasia and Auditory 

Hallucination 460 

A. F. Ghaxbeblain. Acquisition of Written Language by Primitive 

Peoples 460 

G. Bob. Les ^l^ments affectifs du langage 460 

R. DE La Gbassbbie. La Psychologie de l'argot 131 

E. Th. Ebdmann. Drei Beiträge zu einer allgemeinen Theorie der Be- 
griffe 309 

W. SwiTALSKi. Die erkenntnistheoretische Bedeutung des Zitates. Ein 

Beitrag zur Theorie des Autoritätsbeweises 465 

W. R. B. Gibbon. Predetermination and Personal Endeavour .... 131 
J. A. Leighton. Seif and Not-Self in Primitive Experience .... 131 
Th, Elsekhans. Die Aufgabe einer Psychologie der Deutung als Vor- 
arbeit für die Geisteswissenschaften 131 

J. E. DowNET. Normal Variations in the Sense of Reality 132 

H. Kleinpetbb. Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegen- 
wart 310 

VH. Gefühle. 

H. Mabshall. The Nature of Feeling 466 

H. N. Gabdinbb. The Definition of Feeling 466 

J. R. Anoell. Recent Discussion of Feeling 466 

Gh. H. Johnston. The Present State of the Psychology of Feeling . 132 

K. GoBDON. The Relation of Feeling to Discrimination and Gonception 133 

— Feeling and Gonception 138 

Dttpbat. La psycho-pbysiologie des passions dans la Philosophie 

ancienne 133 

Massblon. Le r^actions affectives et l'origine de la douleur morale 133 

V. GiGNOux. Le röle du jugement dans les phönom^nes affectifs . . 134 
R. d'Allonnbb. Röle des sensations internes dans les ^motions et dans 

la perception de la dur^e 466 



Inhaltsverzeiehnis, VII 

Seite 
G. Dumas. Le pr^jug^ intellectualiste et le pr^jug^ finaliste dans les 

ihäories de TexpresBion 466 

£. Wbbeb. ELritisches und Eigenes über das Weinen bei Gemüts- 
bewegung 134 

B. dss MoiTTMOKAND. Les ^tats mystiqnes 134 

6. Dumas. Pathologie du sourire 135 

J. YoLKELT. System der Ästhetik I 13ö 

Ch. D. Pflaum. Die Aufgabe wissenschaftlicher Ästhetik 313 

W. M. ÜBBAN. Appreciation and Description and the Psychology of 

Values 467 

Th. A. Mbtbb. Das Formprinzip des Schönen 467 

II. SixBBCK. Über musikalische Einfühlung 141 

S. Fbeud. Der Witz und seine Beziehung zum Unbewufsten .... 143 
F. Jahn. Das Problem des Komischen in seiner geschichtlichen Ent- 
wicklung 469 

F. C. Fhench. The Relation of Psychology to the Philosophy of 

Religion 239 

J. D. Stoops. The Psychology of Religion 145 

J. Knro. The Differentiation of the Religious Consciousness .... 145 

— The Real and Pseudo-Psychology of Religion 145 

G. VoBBBODT. Zur Religionspsychologie: Prinzipien und Pathologie . 313 

Vm. Bewegung und Wille. 

Dbomard. Etüde psychologique et clinique sur T^chopraxie .... 146 

W. H. WiNOH. Psychology and Philosophy of Play 470 

H. Planck. Das Problem der moralischen Willensfreiheit 147 

A. L. KsLLoeo. The Possibility of a Psychological Consideration of 

Freedom 148 

G. Taue. Une Illusion de la conscience morale 148 

M. Offnes. Willensfreiheit, Zurechnung und Verantwortung .... 315 
H. GoMFEBz. Über die Wahrscheinlichkeit der Willensentscheidungen. 

Ein empirischer Beitrag zur Freiheitsfrage 317 

J. Mack. Kritik der Freiheitstheorien. Eine Abhandlung über das 

Problem der Willensfreiheit 470 

IX. Besondere Zustande des Seelenlebens. 

P. Janbt. Les oscillations du niveau mental 148 

8. Fbbud. Bruchstack einer Hysterie-Analyse 239 

H. Stadblmann. Geisteskrankheit und Naturwissenschaft. Geistes- 
krankheit und Sitte. Geisteskrankheit und Genialität. Geistes- 
krankheit und Schicksal 150 

— Das Wesen der Psychose auf Grundlage moderner naturwissen- 

schaftlicher Anschauung. V. Die Paranoia. VI. Die Epilepsie 160 

F. Kbambb. Die kortikale Tastlähmung 150 

A. Mbtbb. Aphasia 151 

R. Hbnnbbbbo. Über unyollständige reine Worttaubheit 151 

6h. J. Fbanz. The Reeducation of an Aphasie 152 



Vni InhaU9verzeichnis. 

Seite 

K. PnRSDOBF. Über Bededrang nach Denkhemmnng IdS 

A. Pick. Zur Analyse der Elemente der Amasie 240 

S. SouKHANOFF. Phobie du regard 15S 

Th. Bbauh. Die religiöse Wahnbüdung 153 

R. LiFSCHiTZ. Zur Ätiologie der Melancholie 240 

£. RoDBKVALDT. Aufnahme des geistigen Inventars Gesunder als Ma£B- 

stab für DefektprOfungen bei Kranken 319 

M. IssEBLiK. Assoziationsversuche bei einem forensisch begutachteten 

Falle von epileptischer Geistesstörung 320 

W. V. Bechterew. Über eine Form der Paraphasie 320 

Cl. H. Town. The Negative Aspect of Hallucinations 471 

Sh. I. Franz. The Time of some Mental Processes in the Betardation 

and Ezcitement of Insanity 472 

H. Oppenheim. Psychotherapeutische Briefe 320 

S. TüRKEL. Psychiatrisch-kriminalistische Probleme 154 

X. Individuum und Qesellschaft. 

£. Rabaud. H^r^dit^ et dögön^rescence 154 



W. A. Lay. Experimentelle Didaktik. Ihre Grundlegung mit be- 
sonderer Bücksicht auf Muskelsinn, Wille und Tat. I. 2. Aufl. 290 



A. F. Ghambbrlain. Primitive Hearing and ^^Hearing-Words'' . . . 156 
G. & Manchester. Experiments on the ünreflective Ideas of Men 

Women 156 

J. H. TüFTs. The Individual and his Belation to Society as reflocted 

in the British Ethics of the Eighteenth Century 156 

J. Stern. Über die Beue 157 

A. Grabowsky. Psychologische Tatbestandsdiagnostik 157 

XL Tierpsychologie. 

P. GiRARD. Sur l'expression numörique de l'intelligence des espöces 

animales 158 

J. P. Porter. A Preliminary Study of the Psychology of the English 

Sparrow 158 

A. THAUzits. L'orientation du pigeon-voyageur 150 

P. BoNNiBR. La question de l'orientation lointaine 159 

IKaiaeQregiB.ter 4'?-^ 



Weitere Daten über Depersonalisation und ,,Fausse 
Beconnaissance^'. 

Von 
G. HETMAN8. 

In Band 36 dieser Zeitschrift, S. 321—343, veröffentlichte ich 
die Resultate einer Enquete über Depersonalisation und „Fausse 
Seconnaissance", welche darauf hinzuweisen schienen, dafs die 
betreffenden Erscheinungen hauptsächlich bei Personen, welche 
flieh durch psychische Instabilität auszeichnen, und unter Um- 
ständen, welche eine zeitweilige Herabsetzung der psychischen 
Energie wahrscheinlich machen, auftreten. Mit Rücksicht auf 
die geringe Zahl der mir zu Gebote stehenden Fälle fügte ich 
meiner damaligen Auseinandersetzung die Bitte hinzu, es mögen 
einige Kollegen die Güte haben, Exemplare meines Fragebogens 
zur Verteilung unter ihre Zuhörer zu übernehmen, und mir die- 
selben später, nachdem sie ausgefüllt wären, zurückzuschicken. 
Dieser Bitte haben 6 Kollegen (die Herren Dr. ELSENHANS-Heidel- 
berg, Dr. H£BBEBTZ-Bonn, Dr. LiPMANN-Berlin , Prof. Sommeb- 
Giefsen, Prof. van der WYCK-Utrecht und Dr. WiTASEK-Graz) 
gütigst Folge geleistet, während 3 andere so freundüch waren, 
für sich selbst eiaen Fragebogen auszufüllen, bzw. mir die dazu 
erforderten Daten zu liefern. Im ganzen erhielt ich bis jetzt 
42 ausgefüllte Fragebogen zurück, womit also mein Material von 
1904 (42 Stück, von welchen jedoch nur 31 sichere Angaben über 
das Vorkommen oder Nichtvorkommen von D und FR enthielten : 
-a. a. O. S. 329 — 330) schon mehr als verdoppelt war. Aufserdem 
habe ich dann auch selbst im vergangenen akademischen Jahre 
noch einmal Fragebogen unter meine Zuhörer verteilt, und von 
denselben 46 Stück ausgefüllt zurückbekommen ; so dafs jetzt im 
ganzen Daten in bezug auf 130 Personen vorliegen. Allen den- 
jenigen, welche mittelbar oder unmittelbar zu diesem Resultate 

Zeitschrift flir Psychologie iS. 1 



2 G. Heymans, 

beigetragen haben, erlaube ich mir hiermit meinen verbindlichsten 
Dank auszusprechen. 

Die allgemeine Einrichtung der jetzt verwendeten Fragebogen 
war die gleiche wie früher; es waren aber von den „allgemeinen 
Fragen'* die drei ersteren durch andere ersetzt, und zu den „be- 
sonderen Fragen" eine neue hinzugefügt worden. Gestrichen 
wurden die allgemeinen Fragen, welche sich auf die Regelmäfsig- 
keit des Schlafes, auf die gröfsere Frische morgens oder abendß, 
und auf das Vermögen der anschauUchen Vorstellung bezogen^ 
weil die frühere Enquete die Irrelevanz der betreffenden indi- 
viduellen Differenzen für die vorHegenden Erscheinungen höchst 
wahrscheinUch gemacht hatte. Dafür wurden drei neue Fragen 
aufgenommen, welche das Vorkommen von D- und i^Ä-Erschei- 
nungen in den letzten zwei oder drei Jahren überhaupt, sowie- 
die Möghchkeit einer Erklärung der letzteren durch tatsächlich 
vorhegende Erinnerungsbilder zum Gegenstande hatten. Sieb 
nach ersterem zu erkundigen schien nötig, weil bei der früheren 
Enquete mehrere Personen, bei welchen im Versuchshalbjahr die 
Erscheinungen nicht aufgetreten waren, nachträglich erklärten^ 
sonst häufig von denselben heimgesucht worden zu sein; und 
das zweite hatte seine Wichtigkeit, weil sich dem Draufsen- 
stehenden doch immer wieder jene Erklärung der FB durch- 
latente Erinnerungen als die zunächstliegende und wahrschein- 
lichste aufdrängt. — Es lauteten also jetzt die allgemeinen 
Fragen wie folgt: 

1. Kam die Erscheinung der Depersonalisation in den letzten 
zwei oder drei Jahren oft, selten oder nie bei Ihnen vor? 

2. Kam die Erscheinung der „Fausse Reconnaissance" in 
den letzten zwei oder drei Jahren oft, selten oder nie bei 
Ihnen vor? 

3. Erinnern Sie sich Fälle von „Fausse Reconnaissance", bei 
welchen die Möghchkeit, dafs tatsächlich ähnhche Erinnerungs- 
bilder vorlagen, ganz oder nahezu ausgeschlossen war? 

4. Pflegen Sie sich im allgemeinen die Sachen mehr oder 
weniger als andere zu Herzen zu nehmen? 

5. Ist Ihre Gemütsstimmung im grofsen und ganzen gleich- 
mäfsig, oder zu verschiedenen Zeiten sehr ungleich? 

6. Sind Sie fast immer mit Herz und Seele mit irgend etwa& 
(sei es Arbeit, Erholung, eigenen Gedanken oder sonst etwas)* 



Weitere Daten über Dq^rsonalisatum und ^^Fausse Reconnaissance", 3 

beschäftigt, oder fühlen Sie sieh oft leer und zu nichts auf- 
gelegt? 

7. Arbeiten Sie regelmäfsig oder unregelmäfsig (bald viel 
mehr, bald viel weniger)? 

8. Ist im grofsen und ganzen die gesellschaftliche Unter- 
haltung für Sie ein Genufs oder eine Arbeit? 

9. Dringt, wenn Sie in irgend eine Beschäftigung vertieft 
sind, eine von anderen an Sie gerichtete Frage dennoch sofort 
zu Ihnen durch, oder mufs man die Frage bisweilen einmal oder 
öfter wiederholen? 

10. Welche Studienfächer machten Ihnen auf der Mittel- 
schule mehr Mühe, die mathematischen oder die sprachwissen- 
schaftlichen ? 

11. Haben Sie oft, selten oder nie den Eindruck, dafs ein 
bestimmtes, keineswegs ungewöhnliches Wort (oder Eigenname) 
Ihnen momentan sonderbar, fremdartig, wie ein Laut- oder Buch- 
stabenkomplex ohne Sinn erscheint? 

Die besonderen Fragen betrafen, wie früher, Tageszeit,, 
äufsere Umstände, Gemütslage und Antezedentien beim Eintreten 
der einzelnen Erscheinungen, und waren genau so wie früher 
redigiert; nur war ein neuer Umstand („beim Eintreten in ein 
Zimmer, wo bereits viele Menschen zusammen waren") aufge- 
nommen worden, auf dessen mögliche Bedeutung ich nach dem 
Abschlufs meiner vorigen Untersuchung aufmerksam gemacht 
worden war (s. meinen früheren Artikel S. 342). 

Wenn wir nun das neu eingelaufene Material zunächst nach 
der Frequenz, mit welcher die einschlägigen Erscheinungen auf- 
treten (allgemeine Frage 1 und 2) ordnen, so stellt sich heraus, 
dafs von sämtlichen 88 Berichterstattern 19 erklärten, oft, 43, 
selten, und 26, nie in den letzten zwei oder drei Jahren Fälle 
von D, FB oder beiden erlebt zu haben. Von jenen 19 hatte 
einer die beiden Erscheinungen oft, 15 eine oft und die andere 
selten, und blofs 3 eine oft und die andere nie erlebt, während 
von den 43 Seltenheimgesuchten blofs 15 die beiden Erschei- 
nungen, die übrigen 28 dagegen nur eine derselben aus eigener 
ErffiJirung kannten: ein interessanter Beleg für die wesentliche 
Zusammengehörigkeit der beiden Erscheinungen . Die Gesamtheit 
der vorhegenden Verhältnisse läfst sich wie folgt übersichtlich 

darstellen : 

1* 



G, Heymans. 
Tabelle I. 




Depersona- 1 
lisation | 



oft 
selten 

nie 



Summe 



l 
11 

2 
14 



4 


1 


15 


6 


22 


26 


41 


33 



6 
32 

50 



Wie aus dieser Tabelle hervorgeht, ist die Anzahl der Per- 
sonen, welche an FR leiden (55) merklich gröfser als diejenige 
der Personen, welche von D heimgesucht werden (38), was mit 
den Resultaten meiner früheren Untersuchung (17 bzw. 13 : s. d. 
S. 328 — 329) übereinstimmt. Dieses Ergebnis bestätigt sich, wenn 
wir die einzelnen Fälle, über welche Berichte vorhegen, ins Auge 
fassen: die Gesamtzahl derselben beträgt 94, darunter befinden 
sich 55 Fälle von FB, 35 von D, und 4 von beiden zusammen 
(bei der Untersuchung von 1904 betrugen diese Zahlen 13, 2 
bzw. 0: s. d. S. 334 — 336). Interessant ist, dafs dieses Über- 
gewicht der FjB-Fälle sich nur bei denjenigen feststellen läfst, 
welche „oft" die vorüegenden Erscheinungen oder eine derselben 
erleben (35 X FB, 12 X -D, 3 X beide zusammen), dagegen nicht 
bei denjenigen, welche nur „selten" von denselben heimgesucht 
werden (20 X FB, 23 X ^, IX beide zusammen). Des weiteren 
ist noch zu bemerken, dafs während des Versuchshalbjahrs 13 
Personen nur ZB-FäUe (34), 9 nur D-FäUe (18), und 9 beide 
(21 X FB, 17 X -D und 4 X beide zusammen) protokolliert haben. 
Was schliefslich die Möglichkeit anbelangt, die gegebenen FB- 
Erscheinungen auf tatsächlich vorliegende Erinnerungsbilder 
zurückzuführen (Frage 3), so haben von den 55 Interessenten 
32 diese Möghchkeit für bestimmte Fälle als ganz oder nahezu 
ausgeschlossen bezeichnet. 

An diesem Materiale sind nun zunächst die Vermutungen, 
auf welche die frühere Untersuchung geführt hatte, zu prüfen. 
Diese frühere Untersuchung hatte an erster Stelle wahrscheinlich 
gemacht, dafs ein bestimmter Komplex mehr oder weniger zu- 
sammengehöriger Eigenschaften (EmotionaUtät, ungleiche Gemüts- 
lage, zeitweihges Zu-nichts- aufgelegtsein und unregelmäfsiges 
Arbeiten) bei den mit D oder FB behafteten Personen merklich 



Weitere Daten über D^personalisatiafi und jyFausse BeconnaisMnce" , 5 



häufiger als bei anderen vorkommt (a. a. 0. S. 330—332); die 
Frage, ob dieses Ergebnis durch das neue Material bestätigt wird, 
mufs auf Grund der in Tabb. II und III gebotenen Zusammen- 
stellung der früher und der jetzt gewonnenen absoluten und 
Prozentzahlen unbedingt bejahend beantwortet werden. 

Tabelle IL 
(Absolute Zahlen.) 



11 


Antworten 


Mater 
von 1 

D oder 
FR 


ial 
904 

nicht 


1 

Neues Mi 

D oder 
FR 


»terial 
nicht 


Gesamt- 
material 


4 


mehr 


13 


4 


40 


1 
11 


63 


15 




weniger 


1 


3 


12 


7 


13 


10 




(nicht beantwortet) 


8 


2 


10 


8 


18 10 


5 


gleichm&fsig 


7 


7 


25 


15 


32 


22 




(sehr) ungleich 


13 


1 


34 


10 


47 


11 




(nicht beantwortet) 


2 


1 


3 


1 


5 


2 


6 


beschäftigt 


12 


7 


42 


21 


54 


28 




zu nichts aufgelegt 


5 





17 


3 


22 


3 




(nicht beantwortet) 


5 


2 


3 


2 


8 


4 


7 


regelmäCBig 


10 


8 


30 


16 


40 


24 




unregelmäfsig 


9 





30 


9 


39 


9 




(nicht beantwortet) 


3 
Tabe 


1 
ile I] 


2 
I. 


1 


5 


2 



(ProEentzahlen.) 



ä5 



Antworten 



mehr 
weniger 

gleichmäfsig 
(sehr) ungleich 

beschäftigt 

zu nichts aufgelegt 

regelmftfsig 
unregelmftfsig 



Material von 
1904 



D oder 
FR 



35 
65 

71 
29 

53 

47 



nicht 



Neues Material 



D oder 
FR 



hl 
43 

88 
12 ' 

100 

; 

100 




77 
23 

42 
58 

71 

29 

50 
50 



nicht 



61 
39 

60 
40 

88 
12 

64 



Gesamt- 
material 



D oder 
FR 



80 
20 

41 
59 

71 
29 

51 
49 



nicht 



60 
40 

67 
33 

90 
10 

73 
27 



6 



G. Heymans. 



Wie man sieht, stimmen die Ergebnisse der neuen Unter- 
suchung der Richtung nach in allen Punkten mit denjenigen 
der früheren Untersuchung überein. Selbst läfst sich der Zu- 
sammenhang zwischen den betreffenden Temperamentseigen- 
schaften und den i>- und jP£-Erscheinungen hier noch genauer 
als dort nachweisen, da die jetzige Fragestellung es ermöglicht, 
diejenigen welche „oft", und diejenigen welche nur „selten" von 
jenen Erscheinungen belästigt werden, gesondert zu betrachten 
(s. Tab. IV und V). 

Tabelle IV. 

(Absolute Zahlen.) 



Nummer 
der Frage 


Antworten 


oft 


n oder FB 
selten 


nie 


4 


mehr 


14 


26 


11 




weniger 


3 


9 


7 


5 


gleichmäfsig 


3 


22 


15 




(sehr) ungleich 


14 


20 


10 


6 


beschäftigt 


10 


32 


21 




zu nichts aufgelegt 


8 


9 


3 


7 


regelmäfsig 


5 


25 


16 




unregelmäfsig 


14 


16 


9 



Tabelle V. 
(Prozentzahlen.) 



Nummer 
der Frage 



Antworten 


oft 


D oder FR 
selten 


nie 


mehr 
weniger 


82 

18 


74 
26 


61 
39 


gleichmäfsig 
(sehr) ungleich 


18 
82 


52 

48 


60 
40 


beschäftigt 

zu nichts aufgelegt 


56 
44 


78 
22 


88 
12 


regelmäfsig 
unregelmäfsig 


26 

74 


61 
39 


64 
36 



Weitere Daten über Depersonalisation und „Fausse Reconnaissance". 7 

Die Bestätigung der früheren Ergebnisse ist, wie man sieht, 
«ine durchgängige, womit die Prädisposition des emotionalen, 
häufigem Stimmungswechsel ausgesetzten, oft zu nichts aufge- 
legten, unregelmäfsig arbeitenden Menschentypus zu D- und FE- 
Erscheinungen wohl als gesichert gelten darf. 

Nicht so schön stimmen die jetzt gewonnenen Zahlen zu 
einer zweiten aus den früheren Ergebnissen abgeleiteten Ver- 
mutung, nach welcher auch eine geringere Beanlagung zu mathe- 
matischen als zu sprachwissenschaftlichen Studien mit dem Auf- 
treten von 2). und J?!Ä- Erscheinungen in Korrelation stehen 
sollte; vielmehr ist von einer solchen Korrelation in dem neuen 
Material nichts mehr zu bemerken, und tritt sie demzufolge auch 
in dem Gesamtmaterial nur noch schwach hervor: Tabb. VI 
und VII. 



Tabelle VI. 
(Absolute Zahlen.) 



S u 



Antworten 



Material von 
1904 



D oder 
FR 



nicht 



Neues Material 



Gesamt- 
material 



D oder 
FR 



nicht 



D oder 
FR 



nicht 



10 I mathematische 

I Sprachwissenschaft!. 



31 
13 



13 
4 



16 



15 

7 



Tabelle VII. 
(Prozentzahlen.) 



® 2. 


Antworten 


Material 
190^ 

D oder 
FE 


von 
nicht 


Neues Mi 

D oder 
FR 


iterial 
nicht 

76 

24 


Gesan 
mater 

D oder 
FR 


at- 
ial 

nicht 


10 


mathematische 
sprach wissenschaftl. 


73 
27 


40 
60 


70 

1 » 


71 
29 


68 
32 



Dagegen ist die Korrelation zwischen der Häufigkeit der in 
Rede stehenden Erscheinungen und derjenigen des Fremdfindens 
eines bekannten Wortes (a. a. 0. S. 332) auch hier wieder eine 
durchgängige und ausnahmslose: Tabb. VIII und IX. 



G. Heyman», 



Tabelle VIII. 
(Absolute Zahlen.) 



Nummer 
der Frage 


Antworten 


Material von 
1904 

^j«J«' nicht 


Neues Material 
^^^^ nicht 


Gesamt- 
material 

^/j- nicht 


11 


oft 


6 





20 


2 


26 


2 




selten 


14 


5 


32 


18 


46 


23 




nie 


2 


4 


7 


6 


9 


10 



Tabelle IX. 
(Prozentzahlen.) 



Nummer 


Antworten 


Material von 
1904 


Neues Mi 


[iterial 


Gesamt- 
material 

1 


der Frage 




D oder 
FR 


nicht 


D oder 
FR 


nicht 


D oder 
FR 


nicht 


11 


oft 


27 





34 


8 ' 


32 


6 




selten 


64 


56 


54 


69 i 


57 


66 




nie 


9 


44 


12 


23 ; 


11 


29 



Auch handhabt sich diese Korrelation in unzweideutiger 
Weise, wenn wir wieder die oft und die selten von D- oder FR^ 
Erscheinungen Belästigten trennen: Tabb. X und XI. 



Tabelle X. 

(Absolute Zahlen.) 



Nummer 
der Frage 


Antworten 


J 
oft 


D oder Fl 
selten 


nie 


11 


oft 


9 


11 


2 




selten 


8 


24 


18 




nie 





7 


6 



Weitere Daten über Depersonalisation und yyFausse Reconnaissance^*, 9 



Tabelle XL 
(Prozentzahlen.) 



Nummer 
der Frage 



Antworten 



D oder FR 
oft selten nie 



11 



oft 

selten 

nie 



53 

47 





26 
67 
17 



8 



23 



Endlich die Korrelation zwischen dem Fremdfinden eines 
bekannten Wortes und den nach Tabb. II — V die Erscheinungen 
der D und FE begünstigenden Temperamentseigenschaften findet 
mit einer unbedeutenden Ausnahme (in bezug auf Frage 4) in 
den jetzt vorUegenden Zahlen ihre volle Bestätigung; und eia 
Gleiches gilt ohne Ausnahme von der Korrelation zwischen dem 
Fremdfinden eines bekannten Wortes und der geringeren Anlage 
zu mathematischen im Vergleiche mit sprachwissenschaftlichen 
Studien: Tabb. XII und XIII. 



Tabelle XIL 
(Absolute Zahlen.) 



sä 




Fremdfinden eines 1 


bekannten Wortes (Frage 11) 


3 h 


Antworten 


Material von 
1904 


Neues Material 


Gesamt- 
material 


^^ 




oft 


selten 


nie 


oft 


selten 


nie 


oft 


selten 


nie 


4 


mehr 


5 


13 


3 


15 


27 


8 


20 


40 


11 




weniger 





4 


3 


6 


10 


2 


5 


14 


5 


5 


gleichm&fsig 


2 


14 


6 


10 


23 


7 


12 


37 


13 




(sehr) ungleich 


4 


10 


1 


14 


24 


6 


18 


34 


7 


6 


beschäftigt 


3 


17 


4 


14 


36 


13 


17 


52 


27 




zu nichts aufgelegt 


3 


5 





9 


11 





12 


16 





7 


regelmäfsig 


2 


13 


7 


8 


29 


9 


10 


42 


16 




unregelrnftTsig 


3 


12 





13 


21 


3 


16 


33 


3 


10 


mathematische 


3 


10 


1 


13 


27 


4 


16 


37 


5 




sprachwissenschaftliche 





5 


3 


4 


10 


2 


4 


15 


5 



10 







. Heymcms. 














Tabelle XIH. 








(Prozentzahlen.) 








. 


Fremdfinden eines bekannten Wortes (Frage 11) 


Antworten 


^^^^Jä^^^*^ Neues Material 


Gesamt- 
material 


h 




oft 


selten nie 


oft selten 

1 


nie 


oft 


selten 


nie 


4 


mehr 


100 


76 


50 


75 


73 


80 


80 


74 


69 




weniger 





24 


50 


25 


27 


20 


20 


26 


31 


5 


gleichmäfsig 


33 


58 


86 \ 42 


49 


54 


40 


52 


65 




(sehr) ungleich 


67 


42 


14 


58 


51 


46 


60 


48 


35 


6 


beschäftigt 


50 


77 


100 


61 


76 


100 


59 


76 


100 




zu nichts aufgelegt 


50 


23 





39 


24 





41 


24 





7 


regelmäfsig 


40 


62 


100 


38 


68 


75 


38 


56 


84 




unregelmaDsig 


60 


48 


62 


42 


25 


62 


44 


16 


10 


mathematische 


100 


67 


25 76 


73 


67 


80 


71 


50 




sprachwissenschaftliche 





38 


76 


24 

1 


27 


33 


20 


29 


50 



In bezug auf die beiden übrigen allgemeinen Fragen 8 und 9 
hat die jetzige Untersuchung, ebensowenig wie die frühere, 
irgendwelche Korrelationen ergeben. 

Abschliefsend ist demnach zu sagen, dafs die an dem früheren 
dürftigen Materiale gewonnenen Ergebnisse durch das jetzt vor- 
hegende bedeutend reichere Material durchgängig bestätigt werden. 
Nur für eine Frage (diejenige nach der Beziehung zur mathe- 
matischen bzw. sprachwissenschaftlichen Beanlagung) ist ein Vor- 
behalt zu machen; diese Frage betrifft aber erstens blofs eine 
konsekutive, von vielen anderen Bedingungen neben den 
Temperamentsmerkmalen abhängige Eigenschaft, imd erkundigt 
sich zweitens blofs nach dem Vorkommen dieser Eigenschaft in 
einer früheren, vielleicht schon weit zurückliegend^i Lebens- 
periode; demzufolge denn von vornherein hier mehr als sonst 
Diskrepanzen zu erwarten waren. 

Was an zweiter Stelle die besonderen, auf jeden einzelnen 
Fall von D oder FR sich beziehenden Fragen betrifft, so ist 
zunächst zu bemerken, dafs die einfache statistische Ordnimg der 
darauf gegebenen Antworten keineswegs mit gleicher Deutlichkeit 
wie früher (a. a. 0. S. 336) das häufige Vorkommen von Um- 
ständen, welche auf eine zeitweilige Herabsetzung der psychischen 
Energie hindeuten, erkennen läfst: Tab. XIV. 



Weitere Daten über Depersonalisatian und „Fausse Beconnaisaance^^. H 



3 ' »cc*- 



S 



S 2 S 



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2 *, © ® 
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2 © S 5 © 3 



12 O' Heymant. 

Hier bestätigt sich nmi aber, was ich in meinem früheren 
Artikel (a. a. O. S. 323—324) als möglich und wahrscheinlich 
andeutete: dafs nämlich begünstigende Umstände, von welchen 
fast in jedem einzelnen Fall einige anwesend sind, dennoch sehr 
wohl jede für sich in der Mehrzahl der Fälle fehlen können« 
Fassen wir nämlich die 94 neu vorUegenden Fälle von D oder 
FR gesondert ins Auge, so stellt sich heraus, dals blofs in 7 von 
diesen Fällen keine, und in 10 anderen nur die Dämmer- oder 
Abendzeit, in allen 77 übrigen aber sonstige Umstände proto- 
kolliert wurden, welche eine zeitweilige Herabsetzung der 
psychischen Energie yermuten lassen. Folgende nach den be- 
teiligten Personen geordnete Übersicht (in welcher der Kürze 
halber von den protokollierten Umständen blofs diejenigen, welche 
auf eine Herabsetzung der psychischen Energie hindeuten, auf- 
genommen sind) mag diesen Sachinhalt erläutern. 

1 FB: auTserhalb der Unterhaltung. 

FR: abends, aufserhalb der Unterhaltung. 

2 FR: ohne Beschäftigung, langweilige Unterhaltung, aufser- 

halb der Unterhaltung, müde. 
FR: aufserhalb der Unterhaltung. 
FR: bei oder nach dem Zubettegehen, ohne Beschäftigung, 

müde. 
FR: aufserhalb der Unterhaltung. 
FR: abends. 
FR: aufserhalb der Unterhaltung, müde, nach körperlicher 

Anstrengung. 

3 FR: abends, aufserhalb der Unterhaltung, nach wenig zu- 

sammenhängenden Arbeiten. 
FR: ohne Beschäftigung, präokkupiert. 
FR: abends, langweilige Beschäftigung, deprimiert, nach 

wenig zusammenhängenden Arbeiten. 
FR: Dämmerzeit. 
FR: Dämmerzeit, zuhörend. 

FR: 

FR: Dämmerzeit. 

4 D: Dämmerzeit, ohne Beschäftigung, müde. 

D: bei oder nach dem Zubettegehen, ohne Beschäftigung, 

deprimiert. 
FR: abends. 



Weitere Daten Über Depersonalisation und „Fausse Beconnaissance^^. 13 

5 FB: abends. 

FB: abends, zuhörend. 

6 D: müde. 

D: aufserhalb der Unterhaltung, deprimiert. 
D: müde, nach nichtinteressantem Studium. 
D: zuhörend, präokkupiert, nach nichtinteressantem Studium. 

7 FB: deprimiert, nach wenig zusammenhängenden Arbeiten. 

8 D: nach wenig zusammenhängenden Arbeiten. 
D: abends, Eintreten in Salon, zuhörend. 

9 D: müde, nach körperlicher Anstrengung, nach nichtinter- 

essantem Studium. 

10 FB: 

FB: bei oder nach dem Zubettegehen, müde. 

11 FB: abends, langweiUge Unterhaltung, zuhörend. 
jPJB: Dämmerzeit. 

FB: 

FB: zuhörend. 

FB: ohne Beschäftigung, müde, deprimiert. 

12 FB: präokkupiert. 

13 FB: abends, langweilige Beschäftigung, müde, deprimiert, 

nach nichtinteressantem Studium. 
FB: Dämmerzeit, müde, deprimiert. 

14 D: abends, zuhörend, deprimiert. 

15 FB : abends, zuhörend, müde, nach wenig zusammenhängen- 

den Arbeiten. 
FB : langweüige Beschäftigung, müde, nach nichtinteressantem 
Studium. 

16 D: Dämmerzeit, nach wenig zusammenhängenden Arbeiten. 
D: abends, zuhörend, nach wenig zusammenhängenden 

Arbeiten. 
FB: langweilige Unterhaltung, zuhörend, müde, nach nicht- 
interessantem Studium. 

17 FB: Dämmerzeit, langweilige Beschäftigung, müde, nach 

wenig zusammenhängenden Arbeiten. 
FB: bei oder nach dem Zubettegehen, müde, nach körper- 
licher Anstrengung. 

18 D: ohne Beschäftigung, deprimiert. 
D: nach nichtinteressantem Studium. 



14 Q. Heymam. 

FB: ohne Beschäftigung, nach wenig zusammenhängenden 

Arbeiten. 
D: Dämmerzeit. 

19 DFB: ohne Beschäftigung, zuhörend. 

20 D: abends, zuhörend, deprimiert. 
FB: nach körperlicher Anstrengung. 

D: Dämmerzeit, langweilige Beschäftigung, müde, nach nicht- 
interessantem Studium. 

21 D: ohne Beschäftigung, nach nichtinteressantem Studium. 
FB: 

D: aufserhalb der Unterhaltung, präokkupiert. 

D: 

D: 

22 D: abends, zuhörend, müde. 

23 D: langweiUge Unterhaltung, zuhörend, präokkupiert, nach 

wenig zusammenhängenden Arbeiten. 

24 D: müde. 

25 D: langweilige Unterhaltung, müde, nach Alkoholgebrauch. 
jD: Dämmerzeit, Eintreten in Salon, präokkupiert. 

jD: bei oder nach dem Zubettegehen, deprimiert. 

D: abends, deprimiert. 

D: müde, nach nichtinteressantem Studium. 

26 FB: Dämmerzeit. 

jD: aufserhalb der Unterhaltung, deprimiert. 
FB: zuhörend, deprimiert, nach wenig zusammenhängenden 
Arbeiten. 

27 FB: müde. 

28 FR: ohne Beschäftigung, zuhörend, nach wenig zusammen- 

hängenden Arbeiten. 
DFB: Dämmerzeit, langweihge Beschäftigung, nach wenig 

zusammenhängenden Arbeiten. 
FB: abends, zuhörend. 

FB: nach wenig zusammenhängenden Arbeiten. 
D: abends. 
FB: nach wenig zusammenhängenden Arbeiten. 

29 D: 

D: ohne Beschäftigung. 

30 FB: abends, ohne Beschäftigung, müde. 
D: langweilige Beschäftigung, zuhörend. 

FR: bei oder nach dem Zubettegehen, präokkupiert. 



Weitere Daten über DepersonalUation und „Fattase Beconnaissance^*. 15 

FR: Dämmerzeit, müde. 

FR : Dämmerzeit, aufeerhalb der Unterhaltung, nach Alkohol- 
gebrauch. 

FR: abends, zuhörend, präokkupiert. 

2): langweilige Beschäftigung, präokkupiert, nach wenig zu- 
sammenhängenden Arbeiten. 

DFR: Dämmerzeit. 

FR : Dämmerzeit, deprimiert, nach körperlicher Anstrengung. 

FB: abends, zuhörend. 

FR: ohne Beschäftigung, müde, nach nichtinteressantem 
Studium. 

DFR : langweihge Unterhaltung, aufserhalb der Unterhaltung. 

FR: ohne Beschäftigung, müde. 

FR: Dämmerzeit, Eintreten in Salon. 
31 FR: Dämmerzeit, präokkupiert, nach wenig zusammen- 
hängenden Arbeiten. 

Die tatsächlichen Ergebnisse meiner früheren Untersuchung 
sind also in allen wesentlichen Punkten durch die jetzige be- 
stätigt worden; und es darf nunmehr wohl als festgestellt be- 
trachtet werden, dafs die Prädisposition zu jD- und FR- 
Erscheinungen aufs engste mit derjenigen zum 
Fremdfinden eines bekannten Wortes zusammen- 
hängt; dafs alle diese Erscheinungen vorzugsweise 
bei Personen mit geringer psychischer Stabilität 
vorkommen; und dafs das Auftreten von D- und FR- 
Erscheinungen durch Umstände,, welche eine zeit- 
weilige Herabsetzung der psychischen Energie zu- 
stande bringen, begünstigt wird. Wenn dem aber so 
ist, so mufs ich auch meine früher vorgetragene Erklärung, nach 
welcher die einschlägigen Erscheinungen auf das Wegfallen 
oder Zurückweichen der die Bekanntheitsqualität 
vermittelnden Assoziationen beruhen sollten (a. a. O. 
S. 338 — 343), noch immer als diejenige betrachten, welche imter 
allen vorliegenden den gegebenen Tatsachen am besten entspricht. 
Zur weiteren Unterstützung dieser Hypothese mag noch auf zwei 
bereits in meiner früheren Abhandlung erwähnte Punkte hin- 
gewiesen werden. Ich hatte dort (S. 342—343) bemerkt, dafs 
nach der aufgestellten Theorie „einmal eine gröfsere Frequenz, 
von FR im Vergleiche mit D, sodann ein stärkeres Hervortreten 



16 



G. Heymans. 



Tabelle XV. 
(Absolute Zahlen.) 



'4 

^1 


Antworten 


Materia] 
1904 

FR D 


von 

FR 
u. D 


Nei» 


»Material 
^ u. D 


Gesamt- 
material 

FR D 1% 


4 


mehr 


7 


3 


2 


10 


6 


23 


17 


9 


25 




weniger 





1 





6 


1 


5 


5 


2 


5 


5 


gleichm&fsig 


2 


2 


3 


13 


3 


9 


16 


5 


12 




(sehr) ungleich 


6 


2 


3 


8 


4 


22 


14 


6 


25 


6 


beschäftigt 


6 


3 


4 


17 


5 


19 


23 


8 


23 




zu nichts aufgelegt 


3 


1 


1 


3 


2 


12 


6 


3 


13 


7 


regelmäfsig 


3 


4 


3 


13 


4 


13 


16 


8 


16 




unregelmäTsig 


5 





3 


9 


3 


18 


14 


3 


21 


11 


oft 


2 


1 


2 


1 


2 


18 


3 


3 


20 




selten 


6 


3 


4 


15 


4 


11 


21 


7 


15 




nie 


1 


1 





6 


1 


1 


7 


2 


1 



Tabelle XVI. 
(Prozentsahlen.) 



Nummer 
der Frage 


Antworten 


Materia] 
190^ 

fr\ d 


von 

FR 

u. D 


Neu< 
FR 


mMi 
D 


eiterial 
FR 


( 
I 

FR 


jesamt- 
naterial 

jy\ FR 


4 


mehr 


100 


75 


100 


67 


86 


11 


11 


82 


83 




weniger 





25 





33 


14 


23 


23 


18 


17 


5 


gleichmafsig 


25 


50 


50 


62 


43 


29 


52 


45 


32 




(sehr) ungleich 


75 


50 


50 


38 


57 


71 


48 


55 


68 


€ 


beschäftigt 


67 


75 


80 


85 


71 


61 


79 


73 


64 




zu nichts aufgelegt 


33 


25 


20 


15 


29 


39 


21 


27 


36 


7 


regelmäfsig 


38 


100 


50 


59 


57 


42 


53 


73 


43 




unregelmäfsig 


63 





50 


41 


43 


58 


47 


27 


57 


11 


oft 


22 


20 


33 


5 


29 


60 


10 


25 


56 




selten 


67 


60 


67 


68 


57 


37 


68 


58 


42 




nie 


11 


20 





27 


14 


3 


23 


17 


3 



Weitere Daten über Depersonalisation und „Fatisse Beconnaissance". 17 

der die Erscheinungen begünstigenden Temperamentseigenschaften 
bei den mit D, als bei den mit FR behafteten Personen zu er- 
warten wäre: beides, weil eben D nach der Theorie einen ex- 
tremen Grenzfall darstellt, zu welchem sich FB in allen möglichen 
Oraden annähern kann"; zugleich aber hinzugefügt, dafs das 
damals vorliegende dürftige Material zwar die erstere, keineswegs 
aber die zweite dieser Erwartungen bestätige. Das jetzt zu 
Gebote stehende reichere Material bestätigt aber beide Er- 
wartungen, wie in bezug auf die erstere aus den S. 4 mit- 
geteilten Zahlen, und in bezug auf die zweite aus den in Tabb. 
XV und XVI dargestellten Verhältnissen zu ersehen ist. Wie 
aus diesen Tabellen hervorgeht, zeigen sämtliche Eigen- 
schaften, welche wir im Vorhergehenden als korrelat zu dem 
Auftreten der 2>- und jP!ß-Erscheinungen erkannt haben, mit 
alleiniger Ausnahme der unregelmäfsigen Arbeitsweise, eine regel- 
mäfsige Steigerung ihrer Frequenz, wenn wir von den mit FR 
zn den mit Z>, und von diesen zu den mit FR und D behafteten 
Personen übergehen. Ich betrachte diese Tatsache als eine nicht 
unwesentHche Stütze für die wahrscheinliche Richtigkeit der von 
mir aufgestellten Hypothese. 

(Eingegangen am 26, Juni 1906.) 



Zeitschrift für Psychologie 43. 



18 



Psychologische Prinzipienfragen. 
n. Das Material der Fhanomenologie« 

Von 
H. COBNELIUS. 

In meiner vorigen Abhandlung^ habe ich die Wege be- 
zeichnet, welche die Psychologie einschlagen mufs, um zur Lösung- 
der erkenntnistheoretischen Aufgabe zu gelangen. Im folgenden 
soll zunächst das Material näher untersucht werden, welches, 
dieser psychologischen Prinzipienwissenschaft — der „Phäno- 
menologie" nach HussERLs Benennung — zu Gebote steht. 

Dieses Material besteht in den unmittelbar gegebenen Tat- 
sachen, die jedem von uns als die Vorkommnisse seines psychischen 
Lebens bekannt sind. Dafs die geforderte Prinzipienwissenschaft 
nur von diesen unmittelbar gegebenen Tatbeständen und nicht 
von irgend welchen anderweitigen Voraussetzungen ausgehen 
darf, ist zwar schon mehrfach betont worden; gegenüber dem 
immer wieder hervortretenden Bestreben aber, Erkenntnistheorie 
mit Hilfe anderer Voraussetzungen — speziell unter Voraus- 
setzung des Ding- und Kausalbegriffes — zu begründen, mufs 
auf diese Forderung nochmals ausdrücklich hingewiesen werden. 

Wenn die Aufgabe der Erkenntnistheorie gelöst werden soll, 
d. h. wenn einerseits die Aufklärung über die Tatbestände von 
Wahrheit und Irrtum, andererseits — als Bedingung zur Er- 
reichung dieses ersten Zieles — die Aufklärung über die Be- 
deutung aller wissenschaftlichen Grundbegriffe geleistet werden 
soll: so mufs es Tatbestände geben, deren Erkenntnis von der 
geforderten Aufklärung selbst unabhängig gegeben ist. Von Tat- 
beständen dieser Art mufs die Erkenntnistheorie ausgehen und. 



1 Diese Zeitschrift 42, S. 401. 



Psychologische Prinzipienfragen, 19 

auf sie mufs sie zum Zwecke jener Aufklärung überall zurück- 
gehen. Wo immer die Frage nach der Wahrheit entschieden 
werden soll, mufs diese Entscheidung sich auf die Erkenntnis 
von Tatbeständen der genannten Art gründen, wenn kein Zirkel 
entstehen soll. Alle komplizierteren Erkenntnisphänomene müssen, 
soweit sie endgültige Aufklärung erfahren sollen, auf eben jene 
Tatbestände zurückgeführt werden ; d. h. wir müssen zusehen, ob 
und wie weit dasjenige, was jene komplizierteren Phänomene 
bedeuten, mit Tatbeständen der genannten Art identifiziert werden 
kann oder aus ihnen sich zusammensetzt. Nur soweit solche 
Zurückführung gelingt, kann die erkenntnistheoretische Aufgabe 
endgültig gelöst werden. 

Als Tatbestände der geforderten Art bieten sich uns nur 
eben jene unmittelbar gegebenen Tatbestände unseres Erlebens 
dar. Was uns so gegeben ist, wie die jetzt vorgefundene Farben- 
erscheinung in unserem Gesichtsfelde, wie der jetzt gehörte Ton, 
die jetzt erlebten Vorstellungen, das jetzt erlebte Gefühl — daran 
können wir einerseits nicht zweifeln, nichts in Frage stellen oder 
ändern, und das ist uns andererseits ohne Voraussetzung jener 
Begriffe gegeben, mit deren Aufklärung es die Erkenntnistheorie 
zu tun hat. In Tatbeständen dieser Art und nur in ihnen ist 
jenes Ideal der Erkenntnis gegeben, welches auf den viel mifs- 
brauchten Namen der „Evidenz" Anspruch hat. 

So einfach die gegebene Bestimmung dieses Materiales der 
psychologischen Prinzipienwissenschaft erscheint, so wenig ist 
dieselbe vor Mifsverständnissen gesichert. Es ist vor allem not- 
wendig, diese Mifsverständnisse abzuwehren, 

A. Die Teilerlebnisse und das Gesamterlebnis. 

Die eben gegebene Exemplifikation der unmittelbar gegebenen 
Tatsachen, oder, wie ich dafür kurz sagen will, unserer „Erleb- 
nisse" oder „Bewufstseinsinhalte", bedarf zunächst in einer Hin- 
sicht einer Ergänzung. Die angeführten Beispiele könnten den 
Anschein erwecken, als ob das phänomenologische Material aus 
einer Mannigfaltigkeit einzelner, getrennter Erlebnisse bestünde. 
Von Locke bis auf den heutigen Tag ist — zum Teil in un- 
mittelbarer Anlehnung an HuME — in der psychologisch-erkenntnis- 
theoretischen Literatur fast allgemein diese Ansicht zum Ausdruck 
gebracht oder stillschweigend vorausgesetzt worden. Diese An- 

2* 



20 -H- Cornelius. 

sieht aber setzt an Stelle der Tatsachen Abstraktionen und zwar 
falsche Abstraktionen. 

Tatsächlich sind uns nirgends getrennte, isolierte Erlebnisse 
gegeben, sondern jedes unserer Erlebnisse ist uns nur als Teil 
des einheitlichen Zusammenhanges gegeben, den wir als unseren 
gesamten Bewafstseinsverlauf kennen. Die Tatsachen, die uns 
in jedem Augenbhck von diesem Zusammenhang Kunde geben, 
sind uns ebenso unmittelbar gegeben, wie die Tatsachen, die uns 
als Eigenschaften jener Teile — der scheinbar isolierbaren Be- 
wufstseinsinhalte — bekannt sind. Wie ich anderwärts gezeigt 
habe, ist unsere Kenntnis eben dieser Eigenschaften der einzelneu 
Inhalte überall durch jene ersteren Tatsachen mitbedingt. ^ 

Zu den Tatsachen, welche jenen Zusammenhang in jedem 
Augenblick herstellen und von ihm Kunde gebep, gehören aufser 
der in der vorigen Abhandlung bereits erwähnten symbolischen 
Funktion des Gedächtnisses in erster Linie jene Eigenschaften 
der Mehrheiten von Bewufstseinsinhalten, die von Ehbkkfbls als 
,,Gestaltqualitäten'' bezeichnet worden sind. Ich habe die Be- 
deutung dieser Tatsachen für die Erkenntnis des Zusammenhanges 
der Bewufstseinsinhalte und für die — durch diesen Zusammen- 
hang bedingte — Beurteilung dieser Inhalte an anderer Stelle^ 
ausführlich dargelegt. Hierauf zurückzukommen wird sich im 
folgenden mehrfach Anlafs ergeben; für den Augenbhck genügt 
es mir, zur Vermeidung naheliegender Miüsdeutungen auf den 
Punkt hingewiesen zu haben, in welchem sich meine Auffassung 
des unmittelbar Gegebenen als Ausgangspunkt und Grundlage 
aller erkenntnistheoretischen Untersuchung von herkömmlichen 
Auffassungen prinzipiell unterscheidet. 

In jenem einheithehen Zusammenhang der Erlebnisse ist zu- 



* S. meine Einleitung in die Philosophie S. 205 ff. 

* Psychologie S. 202; Einl. in d. Philoe. S. 242 ff. Auch Lipps, der 
früher [dUse ZeiUckrift 23, S. 385) die GeeUltqualit&ten bezeichnet hatte als 
„Weisen der psychischen Besiehung swischen psychischen Vorgängen, 
die als solche im BewuTstsein nicht gegeben sind", hat sich 
nunmehr (Psycholog. Untersuchungen I, S. 11) su meiner Anwendung des 
Wortes bekehrt Gegenüber der früheren Polemik Lipfs* gegen meine An- 
wendung dieaes Begriffs — er hatte in dieser Anwendung eine ,,VerhOllang 
der Tatsachen und Probleme" gesehen — ist mir diese Sinnesänderung 
doppelt erfreulich. Dafs die Gestaltqualitäten, wie Lipps a. a. O. ausführt, 
durch den Zusammenhang des Ich bedingt sind, habe ich bereits in meiner 
Psychologie S. 119 konstatiert 



FsyckologiBche Prinzipienfragen, 21 

gleich der Tatbestand gegeben, den wir im vulgären Sprach- 
gebrauch mit der „Einheit der Persönlichkeit" oder mit unserem 
„Ich" meinen — soweit mit diesen Worten überhaupt Tatsachen 
und nicht kausale Theorien zum Ausdruck gebracht werden 
(„phänomenologisches Ich" nach Hussebl). Die Feststellung, dafs 
die Zugehörigkeit der Inhalte zu diesem Ich und somit dieses 
Ich selbst unmittelbar erlebt wird, ist zwar richtig, aber durchaus 
keine erschöpfende oder erkenntnistheoretisch brauchbare Be- 
schreibung. Eine solche Beschreibung mufs vielmehr die Tat- 
sachen aufzeigen, in welchen uns in jedem Augenblick die Kennt- 
nis dieses Ich gegeben ist. Erst die Analyse dieser Tatsachen 
kann das Ich-Bewufstsein aufklären, d. h. an Stelle der Unklarheit, 
die dem Begriff Ich im vulgären Sprachgebrauch anhaftet, wissen- 
schaftliche Klarheit setzen.^ 



B. Die unmittelbar gegebenen Teilinhalte im Gegensatz zum 
mittelbar Gegebenen. 

Wenn wir von den einzelnen Teilerlebnissen sprechen, so 
sehen wir scheinbar ab von den im vorigen bezeichneten Tat- 
sachen, die den Zusammenhang des Bewufstseinsganzen überall 
vermitteln und eben dadurch jedes einzelne Teilerlebnis beein- 
flussen, oder genauer gesagt, mit jedem solchen Teilerlebnis und 
von ihm untrennbar miterlebt werden. Dafs dieses Absehen 
— eben wegen der genannten untrennbaren Verbindung — stets 
nur ein scheinbares ist, wird später noch deutlicher hervortreten. 

Der Begriff des einzelnen Erlebnisses oder Bewufstseins- 
inhaltes — genauer gesprochen des Teilerlebnisses oder Teil- 
inhaltes — scheint in diesem Zusammenhange im allgemeinen 
identisch mit dem, was auch Husseel im Anschlufs an die üb- 
hche Redeweise der modernen Psychologie unter diesem Namen 
versteht.* Ehe ich den Punkt bezeichne, an welchem dennoch 



^ Wenn Lipps (a. a. O. S. 8) von einer „nicht näher beschreib- 
baren Zugehörigkeit des Inhaltes zu mir" spricht, so scheint mir dieser 
Ausdruck den Verzicht auf die nähere Analyse und Beschreibung gerade 
derjenigen Tatsachen anzudeuten, welche für die Erkenntnis des Bewufst- 
seinszusammenhanges in jedem Augenblicke mafsgebend sind und in welchen 
alles begrifflich allgemeine Erkennen seine Wurzel hat. Tatsächlich ist die 
„Zugehörigkeit eines Inhaltes zu mir" sehr wohl näher beschreibbar. 

« HüsSERL Bd. II, S. 326. 



22 S. CorneliuB, 

eine Differenz besteht, habe ich einige andere Unklarheiten ab- 
zuwehren. 

1. Mit Rücksicht auf die in der vorigen Abhandlung be- 
schriebenen Tatsachen sind zum Material der psychologischen 
Prinzipienwissenschaft nicht nur die jeweils gegenwärtigen Inhalte, 
sondern auch die früheren Erlebnisse zu rechnen, deren wir uns 
erinnern.^ Sind sie auch nicht unmittelbar, sondern eben durch 
die symbolische Funktion des Gedächtnisses mittelbar gegeben, 
so waren sie doch einst unmittelbar gegeben; sie sind uns als 
Tatbestände derselben Art bekannt, wie die gegenwärtigen 
Erlebnisse, und wir haben über ihr einstiges Dasein und ihre 
Beschaffenheit eine ebenso sichere Kenntnis, wie wir sie von den 
gegenwärtigen Erlebnissen besitzen. Obwohl also diese Inhalte 
gegenwärtig nur noch zum mittelbar Gegebenen gehören, 
haben sie doch für die erkenntnistheoretische Untersuchung die- 
selbe Bedeutung, wie das gegenwärtig unmittelbar Gegebene. 
Ich befasse sie im folgenden mit unter den Begriff des unmittel- 
bar Gegebenen, indem ich diesen nicht auf die jeweilige Gegen- 
wart einschränke. Aber auch nur eben das, was einst unmittel- 
bares Erlebnis gewesen ist, und nichts, was anderweitig 
mittelbar gegeben ist (bzw. war), gehört zum Material unserer 
Untersuchung. 

2. Vor allem also ist im Spezialfälle der Empfindungs- 
erlebnisse zwar der Empfindungsinhalt, aber nicht der physische 
Gegenstand erlebt oder unmittelbar gegeben, aufweichen wir 
diese Empfindung zu deuten pflegen. Ich erlebe in einem be- 
stimmten Augenblick einen gewissen Farbenkomplex in meinem 
Gesichtsfeld und darin etwa ein mehr oder minder ausgedehntes 
Stück Blau, das ich als die Farbe meines Heftumschlages erkenne. 
Erlebt ist hier weder dieser Umschlag noch die „objektiv 
existierende" Farbe des Umschlages, sondern nur das blaue Stück 
der Erscheinung in meinem Gesichtsfeld ist das Erlebnis, das auf 
jene anderen (objektiven) Tatbestände erst in weiteren, hinzu- 
tretenden (intentionalen) Erlebnissen gedeutet wird. 

Wiederum übereinstimmend mit Husserl trete ich hiermit 
— wie früher — jener Auffassung entgegen, welche die Farben- 



^ Übereinstimmend Hussbrl Bd. II, S. 335 : „Zu diesem Bereich 
tritt . . . das, was die Erinnerung als früher uns evident gegenwärtig Ge- 
wesenes . . . darstellt.** 



Psycholoffkehe Prinzipiell fragen. 23 

Empfindung und die Farbe des Gegenstandes vermengt und so 
redet, als ob beides dasselbe, nur aus verschiedenen Gesichts- 
punkten betrachtet wäre : „Psychologisch oder subjektiv betrachtet, 
heifse es Empfindung, physisch oder objektiv betrachtet Be- 
schaffenheit des äufseren Dinges." ^ Ich habe den Unterschied 
zuerst in meiner Psychologie^ zum zweiten Mal (und wie ich 
hoffe klarer) in meiner Einleitung in die Philosophie ' dargestellt. 
Die Meinung Hüssbbls, dafs der Unterschied event. „in Grenz- 
fällen auszugleichen" wäre*, meine ich durch die dort gegebenen 
Ausführungen widerlegt zu haben: zwischen dem Einzel- 
erlebnis und dem gesetzmäfsigen Zusammenhang unbeschränkt 
vieler Erlebnisse gibt es keine fliefsenden Grenzen — so wenig 
wie zwischen dem Realen und dem Idealen. 

3. Ebensowenig wie der jeweilige Gegenstand selbst ist der 
Begriff des Gegenstandes seinem Sinne nach etwas unmittelbar 
Gegebenes. Dafs wir einen Gegenstand wahrzunehmen meinen 
— die intentionale Beziehung auf den Gegenstand — und dafs 
wir event. von diesem Gegenstand bestimmte Eigenschaften aus- 
zusagen wissen, gehört allerdings zum deskriptiven Bestände des 
Erlebnisses, welches wir als die „Wahrnehmung des Gegenstandes" 
bezeichnen. Aber keineswegs gehört zu diesem deskriptiven Be- 
stände das, was wir in diesem Falle wissen oder zu wissen 
meinen. Auf diesen Punkt und das darin hervortretende Problem 
werde ich an einer späteren Stelle ausführlich zurückkommen.* 

4. Zum unmittelbar Gegebenen gehören femer auch nicht 
die — wirklichen oder vermeintlichen — psychischen Tatbestände, 
die aus den Erlebnissen erst erschlossen, bzw. den Erlebnissen 
erst nachträglich substituiert werden und von denen man alsdann 
so zu reden pflegt, als ob sie etwas tatsächlich Gegebenes wären. 

Hierher gehört in erster Linie die falsche Objektivation 
von Bewufstseinsinhalten — der „psychologische Objektivismus", 



' HUS8BBL Bd. II, S. 327. 

« S. 91 ff. u. 8. 236 ff. 

» S. 257 ff. 

♦ HuBSEBL Bd. II, S. 327. 

' Entsprechend den Ausführungen meiner vorigen Abhandlung befinde 
ich mich an diesem Punkte in ausdrücklichem Gegensatz zu HussiSBL, 
der (Bd. II, S. 19,20) behauptet, dafs die Bedeutung jedes intentionalen Er- 
lebnisses aus diesem gegenwärtigen (Teil)Erlebnis selbst vollkommen be- 
stimmt werden kOnne. 



24 B. Cornelius. 

wie ihn Krüegeb^ in seiner Polemik gegen Lipps und Stumpf 
genannt hat. Solche falsche Objektivation liegt überall vor, wo 
ein Bewufstseinsinhalt als etwas Selbständiges, substantiell Be- 
harrendes gedacht wird — oder wo wenigstens so von ihm ge- 
redet wird, als ob er ein derartiges selbständiges und beharrendes 
Gebilde und doch zugleich subjektives Erlebnis wäre.- Solche 
objektiven psychischen Gebilde und alle Eigenschaften, die ihnen 
beigelegt werden, sind nicht Erlebnisse und gehören daher nicht 
zum Material der phänomenologischen Untersuchung. Diese 
hat vielmehr zu zeigen, auf welche phänomeno- 
logischen Tatsachen sich die Bildung jener Begriff e 
gründet und in welchem Sinne demnach die Rede 
von ihnen gerechtfertigt ist.* 

Aber zu jenen nur erschlossenen und nicht unmittelbar er- 
lebten Tatbeständen gehört auch noch einiges Weitere, was von 
den meisten Psychologen skrupellos zu den Erlebnissen gerechnet 
wird: gewisse Bestimmungen nämlich, die wir erst auf Grund 
nachträglicher Überlegung unseren Erlebnissen zusprechen, ohne 
sie im Moment des Erlebens wirkUch vorgefunden zu haben. 

* Wundt 8 psychologische Studien 1, S. 316 ff. Vgl. auch die dort S. 317, 
Fufsnote, zitierten Stellen. 

■ Ich bekenne den Fehler solcher Objektivation früher — so nament- 
lich in meiner Abhandlang über Verschmelzung und Analyse (V.-J.-Schr. 
f. wissenschaftl. Philosophie 16 u. 17) — mehrfach begangen zu haben. 
Ausdrücklich aber mufs ich bemerken, dafs der Begriff der unbemerkten 
Teilinhalte nach der in meiner Psychologie (S. 135 u. 151) gegebenen Defi- 
nition nicht zu dieser Art falscher Objektivation gerechnet werden darf, 
da die „unbemerkten Teilinhalte" eben nicht als Bewufstseinsinhalte, sondern 
als gesetzmäfsige Zusammenhänge solcher Inhalte definiert sind. 
(Der Ausdruck erscheint mir heute allerdings nicht mehr zweckmäfsig.) 

^ Auch HüssESL, der in den meisten Fällen den Fehler der genannten 
Objektivation vermeidet, verfällt ihm doch gelegentlich. So, wenn er Bd. II, 
S. 341 von der „Hinwendung des Merkens" auf einen Inhalt redet, oder 
wenn er Bd. II, S. 360 davon spricht, dafs der Inhalt für mich „in anderer 
Weise da ist, je nachdem ieh ihn nur . . . nebenbei bemerke oder ... es 
besonders auf ihn abgesehen habe". Woher weifs Hüssbbl hier von ,,dem- 
selben" Inhalt? Tatsächlich sind die verschiedenen angeführten Fälle eben 
verschiedene Erlebnisse und „derselbe Inhalt" kommt nur durch 
jene falsche Objektivation in dieselben hinein. Ähnliches scheint mir S. 370 
vorzuliegen, wo ein intentionaler Charakter sich „einer Empfindung be- 
mächtigen" soll; ebenso vielleicht auch S. 510: „wo immer wir einen Inhalt 
einmal für sich und das andere Mal in Verknüpfung mit anderen betrachten^ 
— und mehrfach. 



Psychologische Prinzipienfragen. 25 

Wenn Hüssebl Bd. II, S. 326 konstatiert: „Mit diesen Erleb- 
nissen . . . sind auch die sie komponierenden Teile und abstrakten 
Momente erlebt . . . natürlich kommt es nicht darauf an, ob die 
betreffenden Teile für sich irgendwie gegliedert . . . sind . . . oder 
nicht" — so scheint auch er mir dieser Meinung zu verfallen. 
Denn wenn ich den Sinn dieses Satzes richtig deute, so ist damit 
u. a. behauptet, dafs beim Verlaufe irgend eines Erlebnisses oder 
Elrlebniskomplexes von endlicher Zeitdauer alle die unbegrenzt 
vielen sukzessiven Teile als Erlebnisse zu gelten haben, in welche 
man jenen Verlauf nachträgüch zerlegt denken kann. Eine solche 
Bestimmung des Erlebnisbegriffes aber ist sicherlich phänomeno- 
logisch unrichtig. 

Ich bezeichne hiermit den Punkt, an welchem mein Begriff 
des unmittelbar Gegebenen von dem HussEKLschen Erlebnis- 
begriff fundamental abweicht. Die folgenden Ausführungen 
werden zeigen, in welchem Zusammenhang dieser Differenzpunkt 
mit einer Reihe weiterer Meinungsverschiedenheiten zwischen 
HussERL und mir sich befindet. 

C. Erleben und Wissen yom Erlebnis. 

Um Wiederholungen von früher Gesagtem zu vermeiden, 
nehme ich im folgenden auf meine Abhandlung zur Theorie der 
Abstraktion * Bezug. Ich habe daselbst * unterschieden zwischen 
dem Gegebensein eines Inhaltes und der — in mehr oder 
minder engen Grenzen vollzogenen — Beurteilung dieses In- 
haltes („identifizierende" Beurteilung nach Hüssebl). Wie ich 
dort gezeigt habe, ist das Gegebensein eines Teilinhaltes überall 
identisch mit der primären Unterscheidung („Abhebung") 
desselben von anderen Inhalten, indem mit diesen Worten nichts 
anderes bezeichnet ist, als der Tatbestand, auf Grund dessen 
überhaupt von einem bestimmten Erlebnis im Gegensatz zu 
anderen Erlebnissen geredet werden kann: das Dasein eines 
Erlebnisses in der Mehrheit unserer Erlebnisse schliefst diesen 
Gegensatz zu anderen Erlebnissen in sich, fällt also insofern mit 
jener Abhebung oder primären Unterscheidung zusammen. * 

^ Diese Zeitschrift 24, S. 117 f. 

« a. a. 0. S. 135—141. 

• Manche Autoren pflegen sich so auszudrücken, als ob die Inhalte 
«twas vären, was, auch ohne in einem Bewulstseinszusammenhang vor- 
handen und unterschieden zu sein, doch für sich bestünde. Ich kann mit 



26 S- Cornelius. 

Die Teilinhalte, die in dieser Weise von anderen Inhalten unter- 
schieden erlebt werden, sind uns unmittelbar gegeben; und nur 
von den Teilinhalten, die uns in dieser Weise gegeben sind, 
haben wir ein unmittelbares Wissen. Alles dagegen, was nicht 
in dieser Weise von anderem unterschieden erlebt wird — wie 
z. B. die vorhin erwähnten, im Zeitverlaufe nachträglich ge- 
machten Einteilungen — , ist nicht unmittelbar gegeben, sondern 
erst erschlossen, gehört also nicht zu dem Material, von welchem 
die phänomenologische Untersuchung Gebrauch machen darf. 

Von solchen erschlossenen Teilen als unbemerkten zu 
reden, hat phänomenologisch keinen Sinn: Unbemerktes kann 
phänomenologisch nicht gegeben, kann vielmehr stets nur er- 
schlossen sein. Jede Aussage über Unbemerktes ist daher er- 
kenntnistheoretisch erst dann zulässig, wenn diese Schlufsweise 
phänomenologisch aufgeklärt ist, d. h. wenn die phänomeno- 
logischen Tatsachen, bzw. die Zusammenhänge solcher Tatsachen 
aufgezeigt sind, die mit dem Begriff des unbemerkten Daseins 
bezeichnet sein sollen. Nur die tatsächlich unterschiedenen Teil- 
inhalte sind phänomenologisch überhaupt vorhanden; als 
solche sind sie stets auch „bemerkt" — eben weil „Unbemerktes" 
nicht phänomenologisch gegeben sein kann. Das Wort „be- 
merken" hat gemäfs den beschriebenen Tatsachen hier nur den 
Sinn eines anderen Ausdruckes für das unterschieden Erleben, 
was wiederum — gemäfs der Fufsnote a. v. S. — nur ein anderer 
Ausdruck für das Dasein der unterschieden erlebten Teilinhalte 
ist. Weil wir nur von den so unterschiedenen Teilinhalten ein 
unmittelbares Wissen haben, darf nur dieses Unterschiedene, 
nicht aber ein daraus erschlossenes Ununterschiedenes zu 
dem Material gerechnet werden, welches der psychologischen 
Prinzipienwissenschaft als Grundlage aller weiteren Aufklärung 
zur Verfügung steht. 

Diese „Unterscheidung" ist, wie ich a. a. 0. näher ausgeführt 
habe, noch nicht mit irgend einer näheren Beurteilung des 



einer derartigen Voraussetzung keinerlei Sinn yerbinden. Die unmittelbar 
gegebenen Tatsachen sind uns nur eben als gegeben, d. h. als Teile eines 
Bewufstseinsverlaufes bekannt. Demgemäfs können aber auch die Kategorien 
der Einheit und Mehrheit auf sie nur Anwendung finden, insoweit sie eben 
als Einheiten oder Mehrheiten gegeben, oder, was nur ein anderes Wort 
für dieselbe Sache ist, soweit sie unterschieden gegeben oder „al> 
gehoben** sind. 



Psychologische Prinzipienfragen. 27 

betreffenden Teilinhaltes — und vor allem nicht mit einer Be- 
urteilung seines Unterschiedes von anderen, also einem Unter- 
scheidungsurteil — identisch. Wenn sie aber auch noch kein 
identifizierendes Urteil darstellt, so ist doch in ihr diejenige 
Kenntnis, dasjenige Wissen von dem betreffenden Teilinhalt 
gegeben, auf welches allein jede weitere Beurteilung sich 
gründen kann. ^ 

Dieses Wissen vom unmittelbar Gegebenen besteht aber nun 
nicht etwa noch in einem von dem gegebenen Inhalte selbst 
phänomenologisch zu unterscheidenden Akte, in welchem und 
durch welchen wir dieses Wissen erhielten. Wenn Husseel 
im allgemeinen das Wissen als ein „intentionales" Erlebnis an- 
sieht und im besonderen konstatiert, dafs das blofse Dasein eines 
Erlebnisses noch kein Bemerken oder Wahrnehmen desselben 
sei (Bd. II, S. 164 u. 544), so mufs er entweder mit jenem Wissen 
und mit diesem Bemerken oder „Absehen" bereits ein iden- 
tifizierendes Urteil meinen, oder aber es schwebt ihm eben 
jener oben zurückgewiesene, phänomenologisch unklare und 
illegitime Erlebnisbegriff vor, der auch Unbemerktes, d. h. Un- 
unterschiedenes als Erlebnis bezeichnet. 

Im ersteren Falle würde unsere Differenz nur eine termino- 
logische sein, da ich auch schon das blofse Vorfinden ode^: 
Unterscheiden ohne identifizierendes Urteil ein „Wissen" meine 
nennen zu müssen. Ich mufs aber nach dem ganzen Zusammen- 
hang der HüssERLschen Darlegungen vermuten, dafs Hüsserl 
jedes Wissen, also auch bereits jenes primitive Bemerken 
als intentionales Erlebnis betrachtet wissen will, dafs ich also 
mit der zweiten Vermutung seine Meinung treffe, d. h. dafs 
nach ihm jenes Bemerken oder Wahrnehmen eiaen besonderen 
„Akt** fordert, der sich des Erlebnisses „bemächtigt". 

Betrachten wir vorerst die Konsequenzen dieser Theorie 
etwas näher. Nach ihr würde für jedes Erlebnis, damit wir 
überhaupt ein Wissen von ihm hätten, damit es uns also ge- 
geben wäre, ein zugehöriges intentionales Erlebnis gefordert 
werden müssen, in welchem wir jenes Wissen hätten. Dieses 
intentionale Erlebnis wäre dann seinerseits wiederum nicht un- 



* Dafs die Unterscheidung im entwickelten Leben eine Beurteilung 
innerhalb weiterer Grenzen stets in sich schliefst, wird sich im späteren 
Verlaufe dieser Betrachtungen ergeben. 



28 -ff. Cornelius. 

mittelbar gegeben, sondern es wäre im Augenblick seines Daseins 
überhaupt nicht gegeben, falls nicht gleichzeitig ein zweites 
intentionales Erlebnis aufträte, in welchem das erstere von uns 
wahrgenommen würde; von diesem zweiten intentionalen Er- 
lebnis aber würde dann abermals ein gleiches gelten usw. 

Man würde also z. B. von einer Empfindung a ein Wissen 
nur dadurch erhalten, dafs ein intentionales Erlebnis A sich 
dieser Empfindung „bemächtigte" ; eben dieses Erlebnis A müfste, 
damit wir etwas von ihm wüfsten, abermals Gegenstand eines 
weiteren intentionalen Erlebnisses B sein usf. 

Diese Theorie braucht keineswegs zu einem unendlichen 
Regrefs zu führen. Zwar würde sie erkenntnistheoretisch unzu- 
lässig sein, wenn sie die Erlebnisse A, B usw. nicht als gegeben 
in der psychischen Erfahrung aufzuzeigen vermöchte und dies 
könnte sicherlich dann nicht gelingen, wenn die genannten Er- 
lebnisse stets als gleichzeitig mit den von ihnen intendierten 
Erlebnissen — also A, B usw. sämtlich gleichzeitig mit a — 
vorausgesetzt werden müfsten. In diesem Falle wäre, wie man 
sofort sieht, der unendliche Regrefs nicht zu vermeiden. Aber 
die Theorie könnte nicht aus demselben Grunde abgewiesen 
werden, wenn sie nur eben behaupten wollte, dafs die Erlebnisse 
A, B usw. jeweils in zeitlicher Folge auftreten: dafs wir 
also von a erst im folgenden AugenbUck durch A, von diesem 
abermals erst im nächsten Augenblick durch B Kenntnis er- 
hielten usw. 

Beispiele, die eine solche Theorie für sich anführen könnten, 
stehen in jedem Augenblick zu Gebote. Jede nähere Be- 
urteilung eines gegebenen Inhaltes bedarf einer endlichen 
Zeit, ist also erst durch die Erlebnisse der folgenden Momente 
zu gewinnen. Die Beurteilung kann also tatsächlich nur mit 
Bezug auf das in der Erinnerung repräsentierte, also intentional 
gegebene Erlebnis stattfinden. 

Allein wenn die fragliche Theorie hiemach anscheinend für 
die Beurteilung unserer Erlebnisse — also für die Identifikation 
der Merkmale dieser Erlebnisse — Geltung beanspruchen darf, 
so ist sie darum doch noch nicht für das Wissen vomDasein 
unserer Erlebnisse erwiesen. Dafs sie hierfür nicht gelten kann, 
zeigt eine Tatsache deutlich: wenn wir von jedem Erlebnis erst 
im folgenden Augenblick in Form eines intentionalen Erlebnisses 
kenntnis erhielten, so würden uns auch unsere Empfindungs- 



Psychologische Prinzipienfragen. 29 

erlebnißse nur in Form der Erinnerung gegeben werden können : 
wir würden also niemals die gegenwärtige Empfindung, sondern 
stets nur ihr Gedächtnisbild kennen lernen, d. h. w^r würden 
den Unterschied zwischen Impression und Idee und allgemein 
den Unterschied zwischen Realem und Intentionalem niemals 
erleben können. Tatsächlich aber erleben wir diesen Unterschied 
fortwährend. Unsere Empfindungen zeigen uns in jedem Augen- 
blick unzweideutig die Charakteristik, durch die sie sich von 
blofsen Erinnerungen unterscheiden. Dabei zeigt mir wenigstens 
.die Erinnerung nichts von einem intentionalen Erlebnisse, 
.welches auf die Empfindung und deren Charakteristik gerichtet 
gewesen wäre und mir so die Kenntnis derselben erst vermittelt 
hätte. Das nachträgliche Wissen freilich ist nur in dem inten- 
tionalen Erlebnis der Erinnerung gegeben; für das Gegebensein 
im Augenblicke aber, für das unmittelbare Wissen von der 
gegenwärtigen Empfindung ist ein solches intentionales Erlebnis 
nicht zu finden.^ 

Nach all diesem mufs behauptet werden : es gibt ein Wissen 
von unseren Erlebnissen nicht blofs in Form intentionaler Er- 
lebnisse, sondern das reale Dasein der Erlebnisse — im einzigen 
phänomenologisch möglichen Sinne dieses Wortes — ist bereits 
ein Wissen von ihnen. Die entgegengesetzte HussEBLsche 
Theorie macht dasjenige, was erkenntnistheoretisch das erste 
sein mufs, nämlich das, wovon wir unmittelbar wissen, zum 
zweiten ; das erste sind für sie zwei blofse Annahmen, von deren 
Realität wir immittelbar nichts wissen : einerseits die an und für 
sich unbemerkten Erlebnisse^ und andererseits das intentionale 
Erlebnis des Wissens, das sich auf jene zunächst unbemerkten 
Erlebnisse richtet und sie so zu bemerkten Erlebnissen macht. 

Die HüSSERLsche Behauptung von der Intentionahtät alles 
Bemerkens und Wissens scheint mir auf einem Mangel an 

^ Die Tatsache^ dafs auch Husssbl den Empfindungsinhalten keinen 
Akt des Empfindens und allgemein den erlebten Inhalten keinen Akt des 
Erlebens gegenüberstellt, steht nur scheinbar im Einklang mit den Aus- 
führungen des Textes. Denn diese HüssEBLSche Lehre kann nach dem 
Znsammenhang mit den übrigen oben bezeichneten Stellen nur auf das 
unbemerkte Dasein der erlebten Inhalte, bzw. Empfindungsinhalte, nicht 
aber auf das Bemerken derselben gedeutet werden. Um dieses letztere 
aber handelt es sich im Text. 

• Vgl. z. B. HussERL Bd. II, S. 343: „. . . so vieles ... das „bewufst" 
aber nicht bemerkt ist.*' 



30 -ff- Cornelius. 

Klarheit in der Bestimmung des Begriffes intentionaler Erlebnisse 
zu beruhen. Ich suche im folgenden diesen Mangel und einige 
damit zusammenhängende Unklarheiten zu bezeichnen und zu 
heben. 

D. Akt und intentionales Erlebnig» 

1. Der Begriff des Aktes. 

Ich habe den Begriff des Aktes aus meiner Darstellung der 
Psychologie ausgeschlossen, weil mir die Anwendung dieses Be- 
griffes, wie sie Bbentano eingeführt hatte, in sich widerspruchs- 
voll scheint. Jeder hat freilich von vornherein das Recht, die 
Erlebnisse zu benennen wie es ihm beliebt. Nur dürfen einer- 
seits nicht in den Benennungen Unterschiede zum Ausdruck 
kommen, die sich im Gegebenen tatsächlich nicht finden; 
andererseits müssen die einmal eingeführten Bezeichnungen 
konsequent festgehalten werden, d. h. es darf ihnen durch neue 
Bezeichnungen nicht widersprochen werden. Hat man einmal 
alle Erlebnisse als Bewufstseins in halte bezeichnet, so sind, wie 
ich früher hervorgehoben habe^, notwendig auch alle Unter- 
schiede der Erlebnisse als Unterschiede von Inhalten zu be- 
zeichnen imd es kann dann weder die Rede davon sein, dafs 
ein- und derselbe Inhalt in verschiedener Weise erlebt wird, 
noch auch davon, dafs neben den Inhalten auch Akte des Be- 
wufstseins erlebt würden. Die Einteilung der Erlebnisse in 
Inhalte, die erlebt werden, und in Akte, in welchen diese Inhalte 
erlebt werden, ist widersinnig. Dieser freilich trivialen, aber 
gegenüber herkömmlichen Unklarheiten unentbehrlichen Argu- 
mentation stimmt auch Hüssebl ausdrücklich zu. ^ 

Läfst sich sonach jener BRENTANOsche Sprachgebrauch nicht 
aufrecht erhalten, so kann doch der Name Akt sehr wohl Ver- 
wendung finden, wenn er nur eben in anderer, den Tatsachen 
nicht widersprechender Weise definiert wird. Ich sehe hierfür 
drei Möglichkeiten, die sämtlich dem ursprünglich von Brentano 
vorausgesetzten Unterschied zwischen Erleben und Erlebtem in 
gewisser Weise Rechnung tragen, ohne der eben bezeichneten 
Inkonsequenz anheimzufallen. Von diesen drei MögUchkeiten 



* Psychologie S. 15. 

2 Hüssebl Bd. II, S. 362. 



Psychologische Frinzipienfragen. 31 

kommen jedoch phänomenologisch nur zwei in Betracht, weil die 
noch übrig bleibende dritte MögUchkeit der kausalen Psychologie 
angehört. 

Diese letzte, phänomenologisch unbrauchbare Definition der 
Akte ist diejenige, welche nicht Erlebnisse, sondern irgendwelche 
hypothetischen, unbewufsten, den Erlebnissen „zugrunde liegen- 
den" Vorgänge als Akte bezeichnet. Ich bin zwar nicht der 
Meinimg, dafs der Psychologie durch die Annahme solcher un- 
bewufsten Vorgänge als Grundlagen oder Ursachen der Bewufst- 
seinserscheinungen Vorteile erwachsen werden; prinzipiell aber 
will ich hier nicht gegen solche Hypothesen kämpfen. Nur aus 
der Phänomenologie und aus jeder auf erkenntnistheoretische 
Zwecke gerichteten Untersuchung müssen sie gemäfs den Be- 
trachtungen meiner vorigen Abhandlung ausgeschlossen bleiben. 
Von dieser ersten Möglichkeit braucht daher hier nicht weiter 
die Rede zu sein. 

Eine zweite Möglichkeit ist diejenige, von welcher Hüsserl 
Gebrauch macht, indem er eine besondere Klasse von Erlebnissen, 
also Bewufstseinsin halten, als Akte bezeichnet: diejenigen 
nämlich, welche auch „intentionale" Erlebnisse genannt werden. 
Will man das, worauf diese Erlebnisse sich intentional beziehen, 
als die „Inhalte" jener Akte bezeichnen, so hat man damit aller- 
dings eine Korrelation von Akt und Inhalt geschaffen, welche 
niit der von Beentano beabsichtigten in vielen Punkten überein- 
stimmt; nur hat man freilich den vorher angenommenen Sinn 
des Wortes Inhalt (Inhalt als identisch mit Erlebnis) aufgegeben, 
denn Inhalte in diesem früheren Sinne sind auch die Akte. Von 
den Akten im Sinne intentionaler Erlebnisse wird sogleich weiter 
zu reden sein. 

Eine dritte MögUchkeit für die Anwendung des Wortes Akt 
und zwar in einem Sinne, welcher der ursprünglichen Meinung 
BßENTANOS vielleicht am nächsten kommt, ohne den phänomeno- 
logischen Tatsachen zu widersprechen, will ich nur der Voll- 
ständigkeit halber erwähnen. Wenn ich einen Ton höre, eine 
Farbe sehe, so sind die Empfindungsinhalte Ton, Farbe, stets 
nur Teilinhalte meiner Bewufstseinseinheit. Dafs sie sich als 
Teile dieser Einheit abheben, löst sie nicht aus dieser Einheit 
los: vielmehr sind sie eben durch ihre Zugehörigkeit zu dieser 
Einheit als meine Inhalte charakterisiert. Aber eben weil sie 
nur Teihnhalte sind, ist mein Gesamterlebnis in ihnen nicht 



32 S. Cornelius, 

ToUendet, sondern zu diesem Gesamterlebnis gehört anfser den 
übrigen gegenwärtigen Teilinhalten auch die Beziehung, in 
welcher jene ersteren Inhalte zu all meinen übrigen Erlebnissen 
stehen und vermöge deren sie eben zu meinem Ich gehören. 
Wenn man im Gegensatz zu jenen augenblickUch abgehobenen 
Teilinhalten (Ton, Farbe) diese Beziehung zu den übrigen In- 
halten als den Akt bezeichnet, in welchem die ersteren erlebt 
werden, so würde, so viel ich sehe, gegen eine solche Bezeichnung 
nichts einzuwenden sein und sie würde der sprachlichen Unter- 
scheidung von Ton und Hören, Farbe und Sehen phänomeno- 
logisch wohl so genau als mögUch entsprechen. 

2. Der Begriff des intentionalen Erlebnisses. 

Für die gegenwärtige Auseinandersetzung kommt nur der 
•zweite Begriff des Aktes — Akt als identisch mit intentionalem 
Eriebnis — in Betracht. Es ist zunächst zu fragen, ob die von 
HüssERL gegebene Bestimmung dieser Art von Eriebnissen ge- 
nügt. So viel ich sehe, kann diese Frage nicht bejaht werden. 
Die Stellen bei Husserl, an welchen sich die deutlichsten An- 
gaben über den Begriff des intentionalen Eriebnisses finden, 
geben nur Exemplifikationen ohne bestimmte Umgrenzung. Im 
Anschlufs an Brentano wird konstatiert^, dafs in der Wahr- 
nehmung etwas wahrgenommen, in der Bildvorstellung etwas 
bildlich vorgestellt, in der Aussage etwas ausgesagt wird usw. 
Die hier überall hervortretende „Beziehung auf einen Gegenstand" 
(nach Beientano „die Beziehung des Bewufstseins auf einen In- 
halt") wird als intentionale Beziehung und die Tatsache solcher 
Beziehung — die Intention oder der Aktcharakter — als das 
WesentUche des intentionalen Erlebnisses festgehalten.^ Diese 
Phänomene, welche „intentional einen Gegenstand in sich ent- 
halten", werden hier als eine besondere Klasse definiert. Später 
wird diese Eigenheit der Intention nochmals als „das sich in 
der Weise der Meinung oder in irgend einer analogen Weise 
auf ein Gegenständliches Beziehen" bestimmt'; zu diesen Be- 



» HüssBRL Bd. II, S. 347. 

» Wie weit Husserl dabei mit der Behauptung im Rechte bleibt, dafs 
die Einheit der deskriptiven Gattung Intention spezifische Verschieden- 
Leiten aufweist, so dafs es wesentlich verschiedene Arten der Intention 
gibt, wird an einer späteren Stelle untersucht werden. 

• a. a. O. S. 357. 



PsychologUeht Frinzipienfragen. 33 

Stimmungen kann als Ergänzung noch die Stelle^ zugezogen 
werden, nach welcher die intentionalen Erlebnisse diejenigen sind^ 
die sich auf eine GegenständUchkeit intentional beziehen, „in den 
bekannten und nur durch Beispiele zu verdeutlichenden BewuTst- 
seinsweisen". 

Nach dieser Berufung auf die Exemplifikationen müfste doch 
wohl geschlossen werden, dafs wir in allen Fällen, die den obigen 
BßENTANOschen Beispielen analog sind — in welchen wir ims 
also sprachlich in analoger Weise auszudrücken veranlafst 
finden — auch von intentionalen Erlebnissen geredet werden 
müfste. Allein Husserl selbst folgt dieser Regel keineswegs in 
allen Fällen: Für die Empfindung — etwa eines Tones — wird 
kein Akt des Empfindens zugelassen-, obwohl doch auch hier 
der Sprachgebrauch durchaus analog den obigen Beispielen ein 
Hören dem gehörten Ton (im Sinne des Inhaltes, nicht eines 
wahrgenommenen „Gegenstandes") entgegenstellt. Ebenso wird 
allgemein dem Erlebnis kein Akt des Erlebens entgegengestellt: 
^•Zwischen dem erlebten Inhalt und dem Erlebnis selbst ist kein 
Unterschied." 

So gewils man diesen beiden Positionen Husseels imd der 
darin enthaltenen Ablehnung herkömmlicher Irrtümer zustimmen 
mufs, weil sich phänomenologisch in den beiden genannten Fällen 
eben kein Akt von dem erlebten Inhalt unterscheiden läfst, so 
gewifs ist eben hiermit die gegebene Begriffsbestimmung des 
intentionalen Erlebnisses als unzulänglich erwiesen. 

Ist aber, wie diese Fälle zeigen, der Begriff des intentionalen 
Erlebnisses nicht scharf genug bestimmt, so kann auch in anderen 
Fällen nicht ohne weiteres entschieden werden, ob intentionale 
Erlebnisse vorliegen, wo sie nach dem Anschein des sprachlichen 
Ausdruckes zu vermuten wären. Insbesondere kann — und das 
ist der Punkt auf den es mir hier ankommt — für das Be- 
merken oder Wahrnehmen eines gegenwärtigen Bewufstseins- 
inhaltes kein Akt statuiert werden, ehe die wesentliche Charak- 
teristik dieses Begriffes bestimmt ist, die für die Entscheidung 
über diese Frage in Betracht kommt. 

So viel ich sehe, kann die vermifste Abgrenzung der in Rede 
«tehenden Klasse von Erlebnissen nur auf eine Tatsache ge- 



' Das. S. 424. 

• HüsSEBL Bd. II, S. 371, Fufsnote. 
Zeitschrift fdr Psychologie 43. 



34 S. Cornelius. 

gründet werden : auf das blofs intentionale Gegebensein 
des Gegenstandes in den intentionalen Erlebnissen. Wenn 
irgend eine Klasse von Erlebnissen statuiert werden soll, so 
kann sich ihre Abgrenzung nur eben auf ein gemeinsames phäno- 
menologisches Merkmal gründen, durch das sich die Erlebnisse 
dieser Klasse von allen anderen Erlebnissen unterscheiden. Eben 
jenes blofs intentionale Dasein des Gegenstandes in einer Reihe 
von Erlebnissen ist nun erstlich ohne Zweifel ein höchst be- 
deutsames Merkmal, durch welches diese Erlebnisse sich vor 
allen anderen auszeichnen. Anderseits sind die Beispiele Bren- 
tanos, auf welche Hüssebl sich bezieht, durchweg Beispiele 
solchen blofs intentionalen Gegebenseins. Sowohl die Wahr- 
nehmung im BsENTANOschen Sinne dieses Wortes, als auch die 
bildliche Vorstellung, die Aussage, die Liebe, der Hafs, das Be- 
gehren, beziehen sich auf Gegenstände, die nicht als reale 
Bewufstseinsinhalte gegeben, sondern nur intentional gegeben 
sind, — nur „symbolisch repräsentiert" sind, wie die Ausdrucks- 
weise meiner Psychologie lauten würde. Auch nach manchen 
Auseinandersetzungen Husserls (insbesondere denjenigen anr 
Schlufs von Kapitel 5, § 11) möchte man schliefsen, dafs ihm 
das genannte Charakteristikum das Wesentliche der intentionalen 
Erlebnisse zu sein scheint. 

Wenn aber eben dieses als das Charakteristische der inten- 
tionalen Erlebnisse festgehalten werden soll — und ich meine,, 
dafs wir in der vorliegenden Frage auf Grund der phänomeno- 
logischen Tatsachen kein Recht haben, eine andere Art der 
Klassenabgrenzung als diese zu vollziehen — so dürfen keine 
„Grenzfälle" statuiert werden, in welchen das intentionale Erleb- 
nis sich auf etwas bezieht, was tatsächlich nicht mehr intentional^ 
sondern real gegeben ist. Nicht als ob ein Gegenstand von 
der Art, wie er in einem gegenwärtigen intentionalen Erlebnis, 
gemeint ist, nicht auch gleichzeitig als realer Inhalt gegeben sein 
könnte ; aber eben dieses letztere Gegebensein und alles, was sich 
auf diesen Inhalt und nicht auf jenen Gegenstand bezieht^ 
ist alsdann kein intentionales Erlebnis mehr. Oder, in HussEBLa 
Terminologie: mag neben dem Bemerken eines Inhaltes sich 
allerlei weiteres vorfinden, was einen Inhalt eben dieser Art blofs 
intentional enthält, so ist doch jenes Bemerken des realen Inhaltes 
selbst nicht mehr ein intentionales Erlebnis, sondern das „Be- 
merken" ist nur ein anderer sprachlicher Ausdruck für die ein^ 



Psychologische Frinzipiefifragen. 35 

fache Tatsache des realen Daseins dieses Inhaltes als eines von 
anderen verschiedenen. 

In diesem Bemerken besteht das, was Husserl als das „Er- 
füllungserlebnis" des adäquaten Wahmehmungsurteiles bezeichnet. 
Diese „Erfüllung" dürfen wir hiemach nicht, wie es Hüssebl 
tut, als einen Akt auffassen, sondern sie ist nichts anderes als 
das Erleben des betreffenden Inhaltes; sie ist eben damit das 
primäre Datum, von welchem die phänomenologische Unter- 
suchung überall auszugehen hat. 

HussEEL nähert sich dieser Auffassung gelegentlich ohne sie 
doch klar auszusprechen. Wenn (S. 496/97) die Wahrnehmung 
des Tintenfasses beschrieben wird als das „Haben" eines gewissen 
„Belauf es" von Empfindungen . . . „durchgeistigt von einem ge- 
wissen, ihnen objektiven Sinn verleihenden Aktcharakter der 
Auffassung", so scheint er jenes „Haben" der Empfindungen 
selbst nicht als Akt zu bezeichnen, sondern den Aktcharakter 
erst der objektivierenden Auffassung zuzuerkennen. Dann wäre 
entsprechend meinen obigen Ausführungen bei der „adäquaten 
Wahrnehmung" des Empfindungserlebnisses selbst, bei welchem 
ja jene objektivierende Auffassung sich nicht findet, von einem 
Akt nicht die Rede. Aber die meisten der Äufserungen Husserls 
entsprechen dieser Auffassung nicht, sondern fordern für das 
Bemerken jedes Erlebnisses und für das darauf gegründete 
Wissen von diesem Erlebnis einen Akt — entgegen den obigen 
Auseinandersetzungen. 

3. Der Begriff der Wahrnehmung. 

Die Quelle der Unklarheiten, auf die ich im vorigen hin- 
zuweisen versucht habe, scheint mir in der Anwendung des 
Wortes „Wahrnehmung" zu liegen, welche Husserl von Brentano 
übernommen hat. Nach Brentano ist das Wahrnehmen ein 
„Fürwahmehmen" und setzt als solches stets einen Unterschied 
voraus zwischen dem, was uns erscheint, und dem wofür wir 
dieses Erscheinende nehmen oder worauf wir es deuten; so wie 
in der Wahrnehmung eines Dinges die gegebene Erscheinung 
des Dinges auf das wirkUche Ding gedeutet wird und insofern 
„für wahr" d. h. für die Erscheinung eines wirklichen Dinges 
„genommen" wird. Wahrnehmung in diesem Sinne ist also stets 
ein intentionales Erlebnis oder involviert wenigstens ein solches 

3* 



36 -ff- Cornelius, 

Erlebnis.* Dafs dieser Sprachgebrauch etymologisch falsch ist 
— „wahrnehmen" wird irrtümlicherweise mit h geschrieben: es hat 
mit dem Stamm „wahr" in „Wahrheit" nichts zu schaffen, sondern 
kommt von dem Stamm „war" in „Warnung", „Warte" — mag 
nur nebenbei bemerkt sein. Aber er ist auch zum mindesten 
unzweckmäfsig und vor allem von der phänomenologischen 
Grundlegung der Erkenntnistheorie nach dem Prinzip der Voraus- 
setzungslosigkeit grundsätzlich auszuschliefsen, weil er eine Vor- 
aussetzung involviert, die phänomenologisch nicht zu realisieren 
ist : was phänomenologisch realisiert werden kann, sind stets nur 
die Erscheinungen der Dinge und niemals die Dinge selbst, 
deren vermeintliche Erkenntnis jene Redeweise im Anschlufs an 
\nilgäre, erkenntnistheoretisch nicht geklärte Vorstellungen als 
gegeben hinnimmt, während sie tatsächlich der erkenntnis- 
theoretischen Aufklärung dringend bedürftig ist. 

Durch die Anwendung jenes Sprachgebrauches auf die Fälle 
der „adäquaten Wahrnehmung" aber wird in die Erlebnisse 
etwas hineingedeutet, was phänomenologisch überhaupt nicht 
besteht. Die adäquate Wahrnehmung — also z. B. das Bemerken 
eines Empfindungsinhaltes als solchen — enthält nichts von 
jenem Gegensatze: hier ist nicht irgend etwas „gemeint" und 
nachträglich oder gleichzeitig entsprechend dieser Meinung vor- 
gefunden, sondern es wird nur eben etwas — nämlich der be- 
treffende Empfindungsinhalt — vorgefunden, ohne dafs von Er- 
füllung einer Bedeutimg dabei die Rede ist. Hier von einem 
„Erfüllungserlebnis" der adäquaten Wahrnehmung zu reden, ist 
also eine durchaus nicht sachgemäfse Redeweise. Von einem 
intentionalen Gegenstand ist ja bei jenem Bemerken nichts 
zu finden, sondern nur von einem realen. Erst wenn zu dem 



* Eben hierdurch wird „Wahrnehmung** zur „Interpretation", die 
HüSSEBL als das Wesen der Wahrnehmung erklärt (H. Bd. II, S. 704/5). 
Durch den weiteren Zusatz: „zur Wahrnehmung gehört, dafs etwas in ihr 
erscheine; aber die Interpretation macht aus, was wir erscheinen nennen*' 
wird ihm der Sprachgebrauch zu einer „Verirrung", der „Erscheinung" 
identisch mit real gegebenem Inhalt setzt. Gemäfs den Ausführungen 
des Textes mufs ich meinerseits diesen Sprachgebrauch ffir den einzigen 
erkenntnistheoretisch brauchbaren halten. Dafs man im Zusammenhang 
mit diesem Sprachgebrauch noch keineswegs die Dinge für „Komplexionen 
von Empfindungen" ansehen mufs, durften meine früheren Publikationen 
gezeigt haben. Vgl. die oben S. 23 zu B, 2 angemerkten Stellen. 



Psychologische Frinzipienfragen. 37 

blofsen Bemerken noch ein identifizierendes Urteil hinzu- 
tritt, erhält jene Redeweise einen Sinn. Aber nicht von einem 
solchen Urteil, sondern nur von dem Bemerken des realen In- 
haltes als solchen war im vorigen die Rede. * 

Dafs auch sonst jener BEENTANO-HussEELsche Sprachgebrauch 
nicht eben sachgemäfs ist, zeigen noch andere Beispiele. Wer 
gewohnt ist, nicht blofs auf die Gegenstände, sondern vor allem 
auf die Erscheinungen und deren Unterschiede zu achten — wie 
es im Gebiete des Gesichtssinnes jeder tut, der nach der Natur 
zeichnet oder malt — wird sich durch die Redeweise Hüsserls 
seltsam berührt finden, die bei der Wahrnehmung stets nur den 
Gegenstand und nie die Erscheinung „wahrgenommen" sein 
läfst. Wer insbesondere in der Erscheinung der gesehenen 
Gegenstände überall auf die Schattierungsunterschiede zu achten 
pflegt und sich bewufst ist, dafs das „Sehenlernen" im künst- 
lerischen Sinne gerade auf das Beachten der Eigenschaften der 
Erscheinung als solcher — im Gegensatze zum Gegenstande — 
abzielt, dem mufs es direkt widersinnig erscheinen, wenn er statt 
von der Farbe der Erscheinung vielmehr von derjenigen des 
Gegenstandes als der „gesehenen" Farbe, oder gar von dem 
„objektiv als gleichmäfsig gesehenen" Rot der roten Kugel ^ 
reden hört. 

E. Der Begriff des Bewafstseins. 

Wenn nach den durchgeführten Betrachtungen das un- 
mittelbar Gegebene mit dem „adäquat Wahrgenommenen" im 
HussEELschen Sinne zusammenfällt, so ergibt sich daraus, dafs 
nur der zweite der von Husseel angeführten Begriffe des Be- 
wufstseins*, nicht aber der erste derselben phänomenologisch 



* Wie der Gegensatz von Intention und Erfüllung, so fällt auch der- 
jenige von Vorstellung und Anerkennung (Urteil) im Sinne Brentanos beim 
Bemerken eines Erlebnisses weg. Ein Erlebnis im phänomenologischen 
Sinn kann als solches nur da sein und daher, was nach dem obigen für 
die phänomenologische Betrachtung dasselbe heifst, bemerkt werden — 
oder eben überhaupt nicht da sein. Ist das Erlebnis eine Vorstellung, 
so ist eben diese Vorstellung da, und es hat keinen Sinn noch von einem 
besonderen Anerkennen, geschweige von einem Verwerfen derselben zu 
reden. 

* HüSfiERL Bd. II, S. 327. 

* HcssKRL Bd. II, S. 325. 



38 ^' Cornelius. 

haltbar ist. Denn in diesem ersten, dem „Bewufstsein als dem 
gesamten phänomenologischen Bestände des geistigen Ich", setzt 
HussEBL eben jenen Begriff des Erlebnisses voraus, der nicht 
phänomenologisch gegeben, sondern nur erschlossen ist.^ 

Deutlich zeigt sich dies in Hüsserls eigenen Ausführungen 
an der Stelle, an welcher er den Übergang vom zweiten — als 
dem ursprünglicheren — zum ersten Bewufstseinsbegriffe be- 
schreibt. 

Als Erlebnis im Sinne des zweiten Bewufstseinsbegriffes ist 
zunächst nur das adäquat Wahrgenommene gegeben*; hierzu 
tritt — genau entsprechend dem oben unter B 1 Gesagten — 
alles, was als früher erlebt in der Erinnerung gegeben ist. Diese 
beiden Arten von Bestandteilen sind diejenigen, die nach den 
obigen Auseinandersetzungen das phänomenologische Material 
bilden, wenn man die Mifsdeutung vermeidet, welche sich oben 
unter A näher bezeichnet findet. Hüsserl aber fügt, um von 
hier aus den Übergang zu dem von ihm adoptierten „ersten" 
Bewufstseinsbegriff zu bewerkstelligen, den genannten Bestand- 
teilen noch dasjenige hinzu, was wir auf empirische 
Gründe hin als koexistierend mit dem adäquat Wahr- 
genommenen jedes Augenblicks annehmen dürfen.* 

Dafs man auf diese Weise den von Hüsserl vorausgesetzten 
Begriff des Erlebnisses gewinnen kann, der auch „unbemerkte" 
Erlebnisse einschliefst,' ist freiUch richtig; aber eben so sicher 
ist, dafs der so gewonnene Erlebnisbegriff phänomenologisch 
imzulässig ist. Denn was nur auf empirische Gründe hin 
angenommen ist, ist eben nicht phänomenologisch gegeben: 
auf empirische Gründe hin Angenommenes hat nicht in der 
Begründung der Erkenntnistheorie, sondern erst in der „er- 
klärenden" Psychologie seine Stelle. Aber auch in der er- 
klärenden Psychologie darf der so erweiterte Begriff des Erleb- 
nisses erst dann Verwendung finden, wenn die empirische 



^ Ich selbst habe früher — so besonders noch in meiner HabiL-Schrift 
„Versuch einer Theorie der ExistentialurteUe*' 1894 — den Fehler begangen, 
welchen ich in Hussebls Buch wiederfinde. Das Schlufswort der Vorrede 
von HüssBBLS Buch darf ich demgemäfs auch als Motto für die Ausführungen 
des Textes in Ansprucli nehmen. 

« Das. S. 335. 

» Das. S. 335 Z. 9f. v. u. 



Psychologische Prinzipienfragen. 39 

Begründung jener Annahme der unbemerkten Erlebnisse er- 
kenntnistheoretisch geklärt, d. h. wenn die Legitimation für 
jenen Begriff erbracht ist. 

Eben diese Legitimation beizubringen war eine der prinzi- 
piellen Aufgaben, die meine Psychologie sich stellte. Solange 
diese Aufgabe nicht gelöst ist, erscheint der Begriff der im- 
bemerkten Erlebnisse in der Psychologie als eines jener dog- 
matischen Elemente, deren Elimination ich mir zum Ziele 
gesetzt hatte. 

(Eingegangen am 3. Juli 1906,) 



40 



(Ans dem psychologischen Institut der Universität Göttingen.) 

Über subjektive Mitten verschiedener Farben auf 
Grund ihres Kohärenzgrades. 

Von 
Siegfried Jacobsohn, (f ) 

InhaltsTerzeichnis. seite 

Einleitung 41 

I. Abschnitt Experimenteller Teil. 

§ 1. Vorbemerkungen 42 

§ 2. Unterschiedsgleichungen zwischen einer Farbe und ver- 
schieden hellen Graunuancen 50 

§ 3. Unterschiedsgleichungen zwischen einer Farbe und Grau 
unter allmählich wachsendem Ersatz des Seitengraus durch 
die Farbe 52 

§ 4. Über das Verhalten der subjektiven Mitte bei einer in den 
beiden Seitenfarben gleicbmäfsig vorgenommenen Steigerung 
einer und derselben Komponente 58 

§ 5. Unterschiedsgleichungen zwischen zwei Farben mit komple- 
mentären Bestandteilen unter allmählich wachsendem Ersatz 
der einen Farbe durch die andere 55 

§ 6. Unterschiedsgleichungen, bei denen die subjektive Mitte nicht 

ausschliefslich durch Mischung der Seitenfarben gefunden wird 58 

§ 7. Ist eine Funktion von Intensität und Qualität, die sog. Ein- 
dringlichkeit, allein für die Lage der subjektiven Mitte mafs- 
gebend? 62 

§ 8. Lassen sich aus experimentell bestimmten Mischungsgewichten 

subjektive Mitten berechnen? 70 

§ 9 Anhang über die Helligkeit der subjektiven Mitte in Beziehung 

zu den Seitenhelligkeiten 78 

IL Abschnitt. Erörterung psychologischer und physio- 
logischer Faktoren, welche Einflufs auf die Urteile 

haben. 
Erstes Kapitel: § 10. Erörterung der Eindringlichkeitsbestimmungen 74 
Zweites Kapitel: § 11. Erörterung der Helligkeitsbestimmungen . . 76 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 41 

Seite 
Drittes Kapitel: Erörterung der ünterschiedsgleichungen. 

§ 12. Die Methode der Farbenbänder 79 

§ 13. Die Methode der psychischen Rucke * 83 

§ 14. Die Kohärenzmethode 84 

§ 15. Die Eindringlichkeit 88 

§ 16. Die Angleichung 91 

§ 17. Die ästhetische Lust 94 

§ 18. Die Faktoren, welche im Sinne der Beharrungstendenz, und 

diejenigen, welche in entgegengesetzter Richtung wirken . 204 
§ 19. Die Faktoren, welche die Gröfse der mittleren Variation be- 
stimmen. — Das Gedächtnis 208 

Anhang: Tabellen 216 



Einleitung. 

Die Untersuchungen, durch die man die subjektive Mitte 
zwischen 2 Farben festzustellen suchte, wurden vornehmlich zur 
Beantwortung der Frage angestellt, ob für die übermerkhchen 
Empfindungsunterschiede der dem WEBERschen Gesetze analoge 
Satz gelte, dafs gleich grofs erscheinenden Empfindungsdifferenzen 
gleiche Verhältnisse der Reizintensitäten entsprechen. Demgemäfs 
beschränkten sich diese Untersuchungen auf die schwarz-weifse 
Empfindungsreihe. 

Versuche über die Lage der subjektiven Mitte im Gebiete 
der eigentlichen Farben vorzunehmen, mufste um so lohnender 
erscheinen, als hier eine gröfsere Mannigfaltigkeit zur Verfügung 
steht, welche es gestattet, die einzelnen Faktoren, durch die das 
Urteil über die subjektive Mitte bestimmt wird, zu variieren und 
mehr gesondert zu beobachten. 

Damit liefs sich bei geeigneter Farbenwahl gleichzeitig die 
Frage entscheiden, ob, wenn man die subjektive Mitte für die 
Farben A und B einerseits und für die Farben B und C anderer- 
seits bestimmt hat, man einfach rechnerisch aus diesen Mitten 
die subjektive Mitte für A und C ableiten kann. 

Wenn man zudem, wie ich es tat, als Urteilsmodus den 
Kohärenzgrad wählte, so lieferte man einen Beitrag über den 
Kohärenzgrad verschiedener Farben, der prinzipiell für die 
Ästhetik von Interesse zu sein schien. 

Die Wirkung eines figurenreichen Gemäldes wird mit da- 
durch bestimmt, dafs sich die verschiedenen Gruppen des Tableaus 
zu einem Ganzen vereinigen und sich doch je nach den Inten- 
tionen des Künstlers mehr oder weniger scharf voneinander sondern. 



42 Siegfried Jacobsohn, (f) 

Diese „Einheit in der Vielheit" erreicht das Bildwerk äufserlich 
— von der mehr inneren Vereinigung durch die Idee sehe ich 
hier* ab — in nicht geringerem Mafse durch die Farbengebung 
wie durch die Zeichnung, wenn auch beide Mittel einander zu 
unterstützen vermögen. In den farblosen, photographisch her- 
gestellten Kopien klafft daher z. B. manches der berühmten Ge- 
mälde, in denen die Cinquecentisten die Himmelfahrt Maria dar- 
stellten, in 3 unvereinigte Gruppen (den Engelchor, die Himmel- 
fahrt, die Anbetenden) auseinander, während sich beim Original 
infolge der künstlerischen Abtönung der Farben die Teile des 
Kompositionsgerüstes nicht entfernt so scharf absondern. Es 
schien mir deshalb im Hinblick darauf, dafs der Maler bestimmte 
Grenzen der Farbenabstufung nicht aufser acht lassen darf, will 
er verschiedene Gruppen zu einer engen Einheit vereinigen, und 
sie andererseits überschreiten mufs, falls er eine Absonderung 
der Teile bezweckt (wenn z. B. der Hintergrund sich absondern 
soll, damit die Gruppen, denen der Künstler eine besondere 
Wirkung zugedacht hat, eindringlich heraustreten), es schien mir 
also, als hätte die Ästhetik zu ihrer experimentellen Grundlegung 
ein Interesse daran, dafs der Kohärenzgrad verschiedener Farben 
untersucht werde. Ob dabei Nennenswertes für sie zutage ge- 
fördert wird, ist eine andere Frage, die ich nicht a priori ent- 
scheiden wollte. 

I. Abschnitt. 

Experimenteller Teil. 

§ 1. Vorbemerkungen. 

Ich betrachte eine Unterschiedsgleichung zwischen 2 Farben 
für hergestellt, wenn diejenige dritte Farbe, die sogenannte sub- 
jektive Mitte, gefunden ist, welche sich gleich leicht mit den 
beiden anderen — ich bezeichne sie im Hinblick auf meine Ver- 
euchsanordnimg kurz als Seitenfarben — als Paar auffassen läfst. 

Ob sich im Gebiete des Gesichtssinnes subjektive Mitten 
aufserhalb der Schwarz- Weifs-Reihe finden lassen, war die erste 
Frage. 

Bei den Experimenten, soweit sie hier aufgeführt sind — die 
zahlreichen für die Einübung oder ausschüefslich für die Selbst- 
beobachtung bestimmten Versuchstage und die sonstigen Versuchs- 
tage, an denen aus irgend welchen Gründen die festgesetzte 



über sttbjektive Mitten verschied. Farben auf Oi'und ihres Kohärenzgrades. 43 

Versuchszahl nicht erreicht wurde, werden im folgenden ebenso- 
wenig mitgezählt, wie die Vorversuche jedes Versuchstages — 
wurde von 9 Versuchspersonen die subjektive Mitte zwischen 
verschiedenen Farben 1568 mal gefunden, nachdem durchschnitt- 
lich wohl mindestens etwa 15 Urteile, d. h. im ganzen 23520 
Urteile gefüllt waren. ^ Daraufhin erscheint die Behauptung be- 
rechtigt, dafs sich subjektive Mitten auch aufserhalb der Schwarz- 
Weifs-Reihe nach der Kohärenzmethode finden lassen. Über die 
Fälle, in denen es nicht gelingt, sowie über den Grad der Ge- 
nauigkeit, mit der es gelingt, wird später gesprochen werden. 

Die Versuchsanordnung, die ich für die Mittenfindung 
benutzte, war im wesentlichen die gleiche, die Fröbes in seinem 
^Beitrag über die sogenannten Vergleichungen übermerklicher 
Empfindungsunterschiede" ^ angewandt hat. Es sei mir daher 
der Kürze halber gestattet, auf jene Arbeit zu verweisen und 
nur in kurzer Rekapitulation der Hauptpunkte seiner Anordnung 
meine Abweichungen von derselben anzugeben. 

Die Versuche fanden im Dunkelzimmer statt. 

Die etwa in der Höhe der Augen des Beobachters neben- 
einander befindlichen, möglichst genau in derselben Vertikalebene 
rotierenden 3 Scheiben besafsen von Mitte zu Mitte gemessen 
einen gegenseitigen Abstand von 15,5 cm. Der Durchmesser der 
Scheiben betrug bei den in den §§ 2 — 6 aufgeführten Versuchen 
sowie bei denjenigen der in den §§ 7 und 8 genannten Versuche, 
welche von Herrn Prof. Mülleb, M^^® Hoffmann und mir an- 
gestellt wurden, 12 cm, bei den übrigen 11,5 cm. Die farbigen 
Papiere lagen stets, auch auf dem MAHBEschen Rotationsapparat, 
auf Weifs auf, wenn nach der darauf bezüglichen Untersuchung 
die Möglichkeit, sie seien durchsichtig, nicht völlig ausgeschlossen 
war; über die einzige Ausnahme s. S. 68. 

Auf Symmetrie der Aufstellung wurde sorgfältig geachtet, 
besonders auch bei etwaigen Falten des mittelgrauen Hinter- 
grundtuches. 

Der Beobachter safs ca. 2,40 m von den Scheiben entfernt. 



* Die auch in dieser Arbeit niedergelegten Versuche zur Bestimmung 
der Eindringlichkeit (s. § 7) und zum Messen der Helligkeit der bei den 
Unterschiedsgleichungen gebrauchten Farben — zusammen, soweit sie in 
dieser Arbeit verwendet wurden, 510 Versuche mit einer grofsen Zahl von 
Urteilen — sind selbstverständlich hier nicht mit berücksichtigt. 

* Zeitschrift für Psychologie und Physiologie 36, S. 356 ff. 



44 Siegfried Jacobsohn, (f) 

Über dem Tubus, durch den er blickte, befanden sich auf einem 
Tische 2 Paare gewöhnlicher Gasglühlichtbrenner und ein Goliath- 
brenner, die, wenn die Beleuchtungsprüfung kleine Ungleichheiten 
erkennen liefs, ein wenig verschoben wurden, bis die Beleuchtung 
aller 3 Scheiben dieselbe zu sein schien. 

Die Kreisel, sowohl die beiden mit Elektromotoren aus- 
gestatteten Seitenkreisel wie der durch einen separaten Motor 
getriebene MAUBEsche Rotationsapparat, wurden durch Strom- 
sehlufs mittels elektrischer Taster in Bewegung gesetzt; dann 
wurde der vor der GucköflEnung befindliche Rollvorhang ge- 
hoben; nach Beendigung jedes Versuches wurde derselbe stets 
sofort wieder herabgelassen, so dafs die Versuchspersonen niemals 
die Sektoren, für die sie ihr Urteil abgegeben hatten, zu sehen 
bekamen. 

Verändert wurde im Laufe jedes Versuches das Sektoren- 
verhältnis auf dem mittleren der 3 Kreisel, dem MABBEschen 
Rotationsapparat. Während der Versuche hielt der Versuchs- 
leiter die Kurbel desselben hinter dem Hintergrundtuche mit der 
Hand fest in der Weise, dafs seine Hand und die Umdrehungen, 
die er vornahm, von der Versuchsperson nicht gesehen wurden, 
wohl aber neben dem linken Seitenkreisel der stets gleiche 
schwarze Ärmel des Versuchsleiters.* Dies war das einzige Un- 
symmetrische der Anordnung, das übrigens natürlich durch den 
Wechsel der Raumlage der Scheiben möglichst unschädlich ge- 
macht wurde. Der Versuchsleiter Uefs die Kurbel erst los, wenn 
der Apparat nach Ausschalten des Stroms stül stand. 

Die Ablesungen wurden nur an der Kreisskala des MABBE- 
schen Rotationsapparates vorgenommen. Die genaue Einstellung 
derselben wurde, da sowohl eine Veränderung der Zimmer- 
temperatur wie eine Veränderung im Torsionsgrade der Sehne 
des Rotationsapparates auf die Länge der Sehne und damit auf 
die Einstellung des Zeigers über der Kreisskala von Einflufs ist, 
an jedem Tage vor Beginn der eigentlichen Versuche kontrolliert, 
nachdem der Apparat erst so lange in Bewegung gesetzt war, 
bis seine Sehne ihr Torsionsmaximum erreicht hatte, so dafs 
sich die Einstellung des Zeigers auf der Skala nicht mehr durch 

' Nur wenn ich selbst Versuchsperson war, konnte ich nicht verlangen, 
dafs mein Versuchsleiter stets den gleichen Rock bei den Versuchen trug, 
obwohl sonst im allgemeinen auch bei mir die gleichen Vorsichtsmafsregeln 
angewendet wurden. 



über atibjekHve Mitten verschied. Farben auf Ch'und ihres Kohärenzgrades. 45 

Zunahme der Sehnentorsion im Laufe der Sitzung verschieben 
konnte.^ 

Nach jedem Doppelversuche, d. h. je einem Versuche auf- 
und einem absteigender Art, wurde die Raumlage durch Ver- 
tauschen der Scheiben auf den Seitenkreiseln gewechselt. 

An jedem Versuchstage, ausgenommen bei Herrn Professor 
Müller, der keine Vorversuche und an jedem Versuchstage nur 
4 zählende Doppelversuche vornahm, wurden 8 Doppelversuche 
angestellt, von denen die ersten beiden Doppelversuche zwar 
protokolhert, aber nicht gerechnet wurden. Die gleichen Versuche 
wurden an einem anderen Tage wiederholt, so dafs aufser den 
Vorversuchen 12 Doppelversuche zwischen den beiden Farben, 
deren Kohärenzmitte zu bestimmen war, angestellt wurden, und 
zwar in regelmäfsiger Abwechslung der 4 Hauptfälle, die durch 
die doppelte Raumlage und die Möglichkeit sowohl mit dem ab- 
steigenden wie mit dem aufsteigenden Verfahren zu beginnen, 
gegeben waren. 

Die Entscheidung, mit welcher Raumlage, und ob mit auf- 
oder absteigendem Verfahren begonnen werden solle, wurde am 
ersten der beiden Versuchstage jeder Farbenzusammenstellung 
durch das Los gefällt. Am 2. Versuchstage derselben Farbeii- 
zusammenstellung wurde mit derselben Raumlage in umgekehrtem 
Verfahren begonnen. Ausgangspunkt und Stufengröfse des auf- 
und absteigenden Verfahrens wechselten willkürlich. Die Urteils- 
richtimg war frei. Die Verschiedenheiten der einzelnen Beob- 
achter, die sich daraus ergeben, werde ich später besprechen. 

Die Urteilsausdrücke waren die üblichen : „gröfser", „kleiner", 
„viel gröfser", „viel kleiner", „unentschieden" und „gleich". Da 
davon die ersten vier den Beobachter verleiten könnten nach 
Farbenunterschieden statt nach Kohärenz zu urteilen, so ist es 
besser an Stelle von „gröfser" und „kleiner" die Ausdrücke 
„schwerer" und „leichter" (sc. zusammenfafsbar) zu verwenden. 



^ Bei starkem Gebrauch scheuert sich die Sehne des MABBEscheii 
Rotationsapparates an ihrem Befestigungsknoten häufig durch, auch wenn 
derselbe geölt ist. Es empfiehlt sich deshalb, sie an einem Haken zu be- 
festigen, der in starrer Verbindung mit einer kleinen Metallkugel steht, so 
dafs sich bei der Rotation statt des Knotens der Sehne die (gut geölte) 
Metallkugel reibt. 

Bei den Seitenkreiseln nutzen sich die Kontakte rasch ab; aus Neu- 
silber sind sie haltbarer als aus Kupfer. 



46 ' Siegfried Jacobsohn, (f) 

Es ist dies jedoch erst bei den Versuchspersonen K. K. und S. J. 
und bei denjenigen Versuchen von Ka. geschehen, welche in 
§ 5 aufgeführt werden. Um zu vermeiden, dafs sich die Ver- 
suchsperson durch Worturteile in der Weise beeinflussen läfst, 
dafs sie sich z. B. sagt, die eine der 3 Scheiben ist rot, die 
andere auch , die dritte aber . grün , also ist der Unterschied 
zwischen der roten und der grünen am gröfsten, ist es zweck- 
mäfsig, bei Erläuterung der Ausdrücke „gröfser", „kleiner" usw. 
das Wort „Mitte", das auf Farbenunterschiede deuten könnte, 
der Versuchsperson gegenüber zu vermeiden. 

Den eigentlichen Versuchen wurden im allgemeinen mehrere 
Versuchstage vorausgeschickt, bis genügende Übung im kollek- 
tiven Auffassen erreicht und die Sicherheit gegeben schien, dafe 
nur nach Kohäxenz geurteilt werde. 

Um den Einflufs der Übung, soweit es anging, zu berück- 
sichtigen, war, wenn nichts anderes bemerkt, die Reihenfolge der 
Versuche im allgemeinen 123321, wenn man mit 123 drei Ver- 
suchstage bezeichnet, an denen die Kohärenzmitte von 3 ver- 
schiedenen Farbenpaaren bestimmt wiu-de. Bei sehr langen Reihen 
scheinen mir die weiteren Übungsfortschritte leider wohl mehr 
als ausgeglichen zu seia teils durch Ermattung am Semesterschlufs, 
teils dur(4i das Nachlassen des Interesses. 

Die Tageszeit, zu der die Versuche angestellt wurden, war 
bei den Versuchspersonen verschieden, für jede Versuchsperson 
jedoch wurde die gleiche Zeit festzuhalten gesucht, allerdings 
nicht streng. Um Eonstanz des Adaptationszustandes schon bei 
den Vorversuchen jedes Tages in ausreichendem Grade zu er- 
halten, safs der Beobachter etwa 5 Minuten auf seinem Platze 
im Dunkelzimmer, bevor mit den Experimenten begonnen wurde. 

Was nun die Wahl der farbigen Papiere betrifft, die 
bei dieser Untersuchung verwendet werden sollten, so war es 
nicht nur schwer, sondern für mich mitunter sogar unmöglich, 
aus den im Handel befindlichen Papieren stets solche heraus- 
zufinden, die meinen Versuchsabsichten entsprachen. Ich dachte 
deshalb daran, auf Karton aufgezogene Stoffe zu verwenden, von 
denen die Sammetfabrikation eine besonders reiche Auswahl 
schöner gesättigter Nuancen bietet. Doch auch davon nicht be- 
friedigt, suchte ich nach einer Methode, mir, wenn ich im Handel 
keine geeigneten Papiere fände, dieselben in Nuancen, wie die 



über subjektive Mitten verschied, Farben auf C^rund ihres Kohärenzgrades. 47 

wechselnden Versuchszwecke sie gerade erforderten, selbst her- 
zustellen. 

Viel Herumprobieren war nötig, um ein zweckmäfsiges Ver- 
fahren und geeignete Farben zu finden. Schliefslich bewährten 
sich von den Farben, mit denen ich experimentierte, die sog. 
KKELiTzschen Beizen für Brandmalerei am besten. Durch Mischung 
verschiedener dieser flüssigen Lösungen stellt man den gewünschten 
Ton her und trägt ihn mit Wasser verdünnt auf Papier auf. Bei 
gröfseren Flächen, wie ich sie brauchte, um mehrere Scheiben 
aus demselben Papier zu schneiden, erfordert das Auftragen nicht 
geringe Übung, damit die Flächen gleichmäfsig ausfallen. Ich 
feuchtete dazu grofse rechteckige Bogen weifsen Papiers unter 
sorgfältiger Vermeidung von Kniffen gleichmäfsig auf beiden 
Seiten mit Wasser an, preiste sie dann fest auf eine saubere 
Glasplatte und überstrich sie schnell und gleichmäfsig mit einem 
in Farblösung getauchten, ziemhch trocken gehaltenen Watte- 
bausch, indem ich denselben parallel einer Kante entlang führte. 
Verschiedene Sättigung und Helligkeit kann innerhalb gewisser 
Grenzen dadurch erreicht werden, dafs man, nachdem die Farbe 
ein wenig eingetrocknet ist, doch vor dem völligen Trocknen des 
Bogens noch mehrere Male den Anstrich wiederholt. 

Dafs jeder Bogen, bevor man ihn in Gebrauch nimmt, in 
seinen einzelnen Teilen sorgfältig verglichen werden mufs, ver- 
steht sich von selbst. Auch noch nach längerer Übung zeigt ein 
Teil der auf diese Weise hergestellten Bogen, falls dieselben grofs 
sind, kleine Verschiedenheiten des Tons und mufs daher ausge- 
schieden werden. Bei den übrigen genügt es meist, einen schmalen 
Band abzuschneiden, um ganz gleichmäfsige Flächen zu erhalten. 
Pinselstriche, die bei Lehmanns grauem Hintergrundpapier ^ nicht 
schadeten, dürfen bei unserem Zweck auch in der Nähe nicht 
sichtbar sein. 

Die Helligkeit der farbigen Papiere zu kennen, war er- 
wünscht. Sie mufste, da nicht anzunehmen war, dafs sie für alle 
Versuchspersonen die gleiche sei, unter denselben Beleuchtungs- 
bedingungen, unter denen die Unterschiedsgleichungen hergestellt 
wurden, für jede Versuchsperson bestimmt werden. 

Nicht jede Methode gestattet es, aus einer Entfernung von 
2,40 m (so weit safsen die Versuchspersonen bei den Unterschieds- 



Wundts Fhilos. Studien 3, S. 517. 



48 Siegfried Jaeobsohn. (f) 

gleicbuDgen von den Scheiben entfernt) die Helligkeit zu messen. 
Ich entschied mich für das von Bbückneb^ angewandte Ver- 
fahren. Bei demselben schiebt man durch einen Schlitz, der in 
die bezüglich ihrer Helligkeit zu messende farbige Scheibe ge- 
schnitten ist, einige Grade eines mit der übrigen Scheibe kon- 
zentrischen Ringes von grauem Papiere, des sog. Ringsektors; 
läfst man dann den Kreisel rotieren, so erscheint in der sonst 
homogenen Scheibe ein Ring von etwas geringerer Sättigung als 
die übrige Scheibe, der, je nachdem das graue Papier dunkler 
oder heller als das farbige ist, dunkler oder heller als der übrige 
Teil der Scheibe aussieht. Steckt man statt eines grauen Papieres 
durch den Schlitz solcher zwei, von denen das eine dunkler, das 
andere heller als die farbige Scheibe ist, so kann man die beiden 
Graunuancen so lange gegeneinander verschieben, bis der Ring 
die gleiche Helligkeit wie die übrige Scheibe besitzt. 

Nach dieser Methode, auf die ich auf S. 76 ff. zurückkommen 
werde, wurden anfänglich auf den Seitenkreiseln (für jede Ver- 
suchsperson auf beiden), später jedoch auf dem MAEBEschen 
Rotationsapparat, da bei ihm genauere Einstellungen möglich sind 
und das Berühren der empfindlichen Papiere mit den Fingern 
unterbleibt, die Helligkeitsbestimmungen vorgenommen. 

Es betrug der äufsere Radius der Ringsektoren bei den 
Versuchen mit Scheiben von 11,5 cm Durchmesser 35 mm, da- 
gegen bei der Verwendung von Scheiben mit 12 cm Durchmesser 
42 mm. Der innere Radius der Ringsektoren betrug 15 mm 
weniger als der äufsere, also 20 bzw. 27 mm. Bei der Versuchs- 
person M"® Hoffmann, die stark kurzsichtig ist, mufsten Ringe 
von 45 mm äufserem und 22 mm innerem Radius verwendet 
werden. Selbstverständlich lag, um das farbige Papier stets in 
allen seinen Teilen auf derselben Unterlage zu haben, weifses 
Papier zwischen den farbigen und grauen Papieren. 

Die Ablesungen geschahen ursprünglich mit blofsem Auge, 
später mit Hilfe einer Lupe an einem jedesmal über den Knopf 
des Kreisels geschobenen Transporteur. Infolge der beträchtlichen 
Entfernung der Versuchspersonen von den Scheiben und der 
meist wohl geringeren Sättigung meiner Papiere waren die Ring- 
sektoren, die ich verwenden mufste, beträchtlich gröfser als die 
Bbücknebs. Ihre Gesamtgröfse ging nur ausnahmsweise unter 



> Pflüg er 8 Archiv Ö8, 1903. 



über aubjektive Mitten verschied. Farben auf Chnmd ihres Kohärenzgrades. 49 

45® herunter, stieg aber mitunter über 100 ^ während sie bei 
Brückneb 8 — 15® betrug. 

Die Zahl der endgültigen Bestimmungen war ursprünglich 
auf 8 Einzel versuche , nämlich 2 Doppel versuche auf jedem 
Seitenkreisel, festgesetzt. Später bei den auf dem ^Marbe" an- 
gestellten Messungen wurde ihre Zahl auf 4—8 Doppelbestimmungen 
für jede Farbe erhöht; nur bei Herrn Professor Müller wurde 
ausnahmsweise auf nur 3 zählende Doppelbestimmungen für jede 
Farbe heruntergegangen. 

In einer Sitzung wurde durchschnittiich die Helligkeit zweier 
Farben bestimmt. 

Bei den einübenden Versuchen erwies es sich als zweck- 
mäfsig, über den Punkt, an dem der Ring die gleiche Helligkeit 
mit der übrigen Scheibe zu haben schien, hinaus zu gehen, also 
vom deutlich zu hell zum deuthch zu dunkel und umgekehrt 
fortzuschreiten. Dadurch gewann die Versuchsperson ihrer 
eigenen Aussage wie den objektiv erhaltenen Zahlen zufolge 
mehr Sicherheit im Urteilen. Die Zahl der zum Teil nicht 
protokollierten Übungsversuche richtete sich nach der Schwierig- 
keit, welche die Vergleichung der Helligkeit der Versuchsperson 
bereitete. 

Die Helligkeit der Graunuancen — die grauen Papiere waren 
völlig undurchsichtig — ist im Dunkelzimmer in der üblichen 
Weise vor der Dunkeltonne unter Versuchsbedingungen, die, ab- 
gesehen von der Aufstellung der Dunkeltonne, wesentlich gleich 
mit denen der übrigen Versuche waren, von mir aus 4 — 5 Doppel- 
versuchen bestimmt und in äquivalenten Graden meines Normal- 
weifs ausgedrückt worden. Die Einstellungen und Protokollie- 
rungen nahm dabei teils Herr Dr. Rupp vor, teils derjenige Herr, 
der, wenn ich Versuchsperson war, gewöhnhch die Versuche 
leitete, und von dessen Zuverlässigkeit ich mich wiederholt über- 
zeugt habe. 

Als Versuchspersonen fungierten in dieser Arbeit 
Herr Professor G. E. Müller (M.) 

M"e HOFFMAKN (H.) 

Herr cand. med. Aronstamm (A.) 
„ Dr. Conrad (C.) 
„ cand. phil. Jacobs (Ja.) 
„ Dr. Katz (Ka.) 

Zeitschrift fBr Psychologie 43. 4 



50 Siegfried Jacobsohn, (f) 

Herr cand. phil. K. Küchleä (K. K.) 

„ cand. med. Scholl (Sch.) 
und schliefslich ich selbst (S. J.). 

Dazu kam noch an einigen Tagen Herr Dr. Rcpp bei Versuchen^ 
bei denen es allein auf Selbstbeobachtung, nicht auf Gewinnung 
von Zahlenmaterial ankam. 

Bei allen Versuchspersonen aufser mir selbst war ich Ver- 
suchsleiter. 



§ 2. Unterschiedsgleichungen zwischen einerFarbe 
und verschieden hellen Graunuancen. 

Theoretisch der einfachste, sich an die Versuche im Gebiete 
der Schwarz- Weifs-Reihe am meisten anlehnende Fall schien der 
zu sein, die subjektive Mitte (s. M.) zwischen einem Grau und 
einer Farbe durch Mischung des betreffenden Grau und der 
Farbe herzustellen. 

In der Absicht, auf diese Weise die Mitte zwischen der- 
selben Farbe und verschieden hellen grauen Tönen zu finden^ 
achtete ich darauf, eine möglichst reine Farbe zu erhalten» 
damit sich nicht infolge des Einflusses, den Weifszusatz auf die- 
Qualität der Mischfarben ausübt, die Beschaffenheit der Farbe 
bei Mischung mit hellerem Grau verschöbe. Ich stellte deshalb 
in der in § 1 angegebenen Weise ein Karmin her, welches bei 
Tagesbeleuchtung blaurot, in der rötlich gelben Dunkelzimmer- 
beleuchtung fast rein rot (mit einem schwachen Stich ins Gelb- 
liche) erschien. 

Die Helligkeit des Karmin betrug 

für Herrn Professor Müller (M.) 132^7 Weifs, 
„ M"« Hoffmann (H.) 139^8 Weifs, 

„ mich (S. J.) 150«,0 Weifs. 

Wurde nun auf einem der beiden Seitenkreisel eine sich 
über sämtliche 360*^ erstreckende Scheibe dieses Karmin an- 
gebracht und auf dem anderen Seitenkreisel eine sich gleichfalls 
über alle 360® erstreckende Scheibe des Grau Nr. 19, dessen 
HelHgkeit gleich 50^,5 Weifs war, so ergab sich für die durch 
Mischung dieses Grau und des Karmin auf dem mittleren 



über subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 51 

Kreisel hergestellte s. M., dafs sie für M. bei 112^0, für H. bei 
90^3 und für 8. J. bei 92^3 Karmin lag.* 

Nahm man dann sowohl auf dem Seitenkreisel wie auf dem 
MABBEschen Rotationsapparat an Stelle des Grau Nr. 19 das 
hellere Grau t, welches die Helligkeit von 15P,5 Weifs besafs, 
und liefs die s. M. zwischen einer Vollscheibe desselben und 
einer Vollscheibe des Karmin finden, so lag die s. M. für M. bei 
1970,2, für H. bei 156^0 und für S. J. bei 125^4 Karmin, 

Als schliefslich für M. und S. J. als Grau das noch hellere 
Grau Nr. 4, dessen Helligkeit gleich 244^,4 Weifs war, ge- 
nommen wurde, benötigte M. zur s. M. 230<*,3 und S. J. 19P,1 
Karmin. 

Daraus ergibt sich trotz der grofsen individuellen Ver- 
schiedenheiten mit Deutlichkeit, dafs zurs. M. um so mehr 
von der Farbe gebraucht wird, je heller das Grau 
ist, für das die s. M. mit der Farbe gesucht wird. 

Ob man den Grund dieser Erscheinung in der Intensität oder 
in der Qualität der Mitte oder in beiden zu suchen habe, werden 
wir später zu erörtern versuchen. Hier sei nur darauf hinge« 
wiesen, dafs die Qualität der Mitte insofern eine Rolle spielen 
kann, als ja derselbe Gehalt der Mischung an Farbe (in Graden 
ausgedrückt) bei Hellgrau weniger bemerkbar ist als bei Dunkel- 
grau, und dafs bei den angeführten Versuchen in der Tat von 
den die s. M. darstellenden Karmin-Grau-Mischungen keineswegs 
diejenige, die den gröfsten Karmingehalt und das hellste Grau 
besafs, am meisten rot war; vielmehr sah bei M. und S. J. deut- 
lich die dunkelste, d. h. die mit dem geringsten Karmingehalt 
am meisten rot aus. Bei H. waren die Unterschiede, die ihre 
beiden subjektiven Mitten hinsichtlich der RötUchkeit zeigten, 
weniger ausgeprägt, doch ist auch hier zu sagen, dafs die 
dunkelste wohl die rötiichste war. Gleichfalls wenig ausgeprägt 
waren die Unterschiede an Rötlichkeit, welche die bei den 
beiden helleren Graunuancen erhaltenen subjektiven Mitten von 
M. und S. J. aufwiesen; bei S. J. erschien von den beiden 



^ Die Gradzahl Karmin ist durch die bezügliche Gradzahl des za- 
gehörigen Grau auf 360^ zu ergänzen. 

Der Raumersparnis wegen werden hier nur die Durchschnittswerte 
beider Yersuchstage und Raumlagen angegeben. Die ausführlichen Tabellen 
sind im Anhange mitgeteilt. Die Tabellen Nr. 1 — 3 enthalten die in diesem 
Paragraphen aufgeführten Versuche. 

4* 



52 Siegfried Jacobsohn, (f) 

Mischungen des Karmin mit den helleren Graunuancen diejenige 
mit dem hellsten Grau (Nr. 4) am meisten rötUch, bei M. jedoch 
eher die mit dem mittleren Grau t, doch würde ich in Ermange- 
lung einer Methode, bei verschiedenen Intensitäten nur die 
QuaUtäten der Empfindungen zu vergleichen, es vorziehen, mich 
besonders in den letzten subtilen Falle des Urteils zu enthalten. 

§ 3. Unterschiedsgleichungen zwischen einerFarbe 

und Grau unter allmählich wachsendem Ersatz des 

Seitengraus durch die Farbe. 

Bei diesen Versuchen wurde der Einfachheit halber darauf 
gesehen, dafs die Helligkeit des Grau annähernd gleich mit der 
der Farbe war. Unter Heranziehung von K. K. und S. J. als 
Versuchspersonen wurden deshalb Karmin und Grau t verwendet, 
welche nach den Angaben auf S. 50 für S. J. fast genau 
gleich hell waren und auch für K. K., für den 360 ® des Karmin 
die Helligkeit von 145,3® Weifs besafsen, keine wesentlichen 
Helligkeitsunterschiede boten. 

Nachdem die s. M. zwischen einer Vollscheibe Karmin und 
einer Vollscheibe des Grau t gefunden war, wurden 90 ^ 180® 
und 270® der grauen Seitenscheibe dm-ch eben so viele Grade 
der Farbe ersetzt und dann wieder die s. M. durch Mischung 
der Farbe und des Grau t gefunden. Den Karmingehalt, welchen 
dabei die einzelnen subjektiven Mitten aufwiesen, zeigt die 
folgende Gegenüberstellung, in der zur leichteren Vergleichung 
unter der Rubrik S. J. auch ein im vorigen Paragraphen vor- 
gekommener Wert noch einmal aufgeführt wird. 

Unterschiedsgleichung K. K. S. J. 

360 Karmin 360 Grau t^ 157,8 125,4 

360 Karmin — (270 Grau t + 90 Karmin) « 205,4 213,5 

360 Kannin — (180 Grau t + 180 Karmin) « 275,8 270,7 

360 Karmin — (90 Grau t + 270 Karmin)* 327,4 310,3 

Wie die Gegenüberstellung zeigt, wächst der Farbig- 
keitsgehalt der s. M. mit der Farbenzumischung 
zum Grau. 

Natürlich ist der Karminzuwuchs der s. M. nicht gleich dem 
des Seitengrau. 

* 8. Tabelle 2. » s. Tabelle 4. « s. Tabelle 5. * s. Tabelle 6. 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 53 

Berechnet man das geometrische Mittel des Karmingehaltes 
der beiden Seitenfarben, so bleibt dieses um so mehr hinter 
dem wirklichen Karmingehalte der s. M. zurück, je geringer der 
Karminzusatz zum Seitengrau ist. Dies zeigen folgende Gegen- 
überstellungen für die Versuchspersonen 

K. K. S. J. 

bei den Unterschiedsgleichungen zwischen 

360^ Karmin und (270^ Grau t + 90^ Karmin) 
gefundene s. M. 205^4 213^5 

Geometr. Mittel 180** 180^ 

Differenz + 25^4 + 33^5 

360«^ Karmin und (180« Grau t + 180» Karmin) 
gefundene s. M. 275®,8 270^7 

Geometr. Mittel 254^6 254^,6 

Differenz + 21«,2 + 16^,1 

360® Karmin und (90<> Grau t + 270« Karmin) 
gefundene s. M. 327«,4 310«,3 

Geometr. Mittel 311«,8 311^,8 

Differenz + 15«,6 — 1«,5 

§ 4. Über das Verhalten der subjektiven Mitte bei 

einer in den beiden Seitenfarben gleichmäfsig 
vorgenommenen Steigerung einer und derselben 

Komponente. 

Hier handelt es sich darum, ob eine Unterschiedsgleichung 
bestehen bleibt, wenn man nach Herstellung der s. M. zwischen 
zwei Farben zu allen Gliedern der Gleichung denselben Betrag 
von einer in der Gleichung vorhandenen Komponente hinzufügt. 

Diese Frage bei Anwendung des Farbenkreisels zu ent- 
scheiden, hat seine Schwierigkeiten, da bei demselben durch das 
Hinzufügen einer Farbe immer dieselbe Gradzahl einer anderen 
fortgenommen wird. Dieser Abzug sollte jedoch unterbleiben. 
Ich ging deshalb von folgenden Erwägungen aus. 

Die Tatsache, dafs die spektrale Helligkeitsverteilung bei 
denjenigen Farbenblinden, die an sogenannter innerer Blindheit 
leiden, mit der bei den Normalsichtigen vorhandenen im wesent- 
lichen übereinstimmt, beweist, dafs die sogenannte Helligkeit 
einer Farbe sich im wesentUchen nach dem achromatischen Pro- 
zesse bestimmt, den die Farbe neben dem ihr entsprechenden 



54 Siegfried Jacobsohn, (f) 

chromatischen Prozesse noch hervorruft.^ Ersetzt man daher 
einige Grade eines Grau durch eine gleich helle Farbe, so ist es 
imgefähr dasselbe, als hätte man die betreffende Gradzahl Grau 
nicht fortgenommen und nur den chromatischen Reizwert der an 
die Stelle des Grau gesetzten Farbe hinzugefügt. 

Es wurden deshalb mit S. J., für den, wie ein Vergleich der 
S. 50 angeführten HeUigkeitswerte ergibt, das Karmin ziemlich 
genau dieselbe Helligkeit wie das Grau t hat, Unterschieds- 
gleichungen hergestellt 
erstens zwischen 

(1900 Karmin + 170« Grau t) und (350® Grau t + 10« Karmin) 
und zweitens zwischen 

360« Karmin und (180« Grau t + 180« Karmin). 

Da sich die letztere Unterschiedsgleichung hinsichtlich der 
Seitenfarben von der ersteren im wesentlichen nur dadurch unter- 
scheidet, dafs beide Seitenfarben bei ihr 170« Karmin mehr ent- 
halten, so fragt sich, ob die s. M. in dieser auch 170« Karmin 
mehr enthalten w^ird als in jener. 

Die Versuche ergaben, dafs bei jener Unterschiedsgleichung 
89«,0 Karmin zur s. M. benötigt wurden*, während bei dieser 
— sie ist schon im vorigen Paragraphen erwähnt — 270«,7 Karmin 
für die s. M. erforderlich waren.* Es stieg also der Karmin- 
bedarf nicht nur um 170« sondern um 181«,7. 

Mithin bleibt eine Unterschiedsgleichung nicht 
bestehen, wenn man zu allen ihren Reizgliedern den 
gleichen Betrag von einer in der Gleichung vor- 
handenen Komponente hinzufügt. Vielmehr ver- 
schiebt sich dann die s. M. nach der Seite des 
stärkeren Prozesses, ruft doch nach den Ausführungen im 



' In Übereinstimmung damit steht, was von Kries in Nagels Sand- 
buch der Fhysiologie des Menschen 3, S. 259 schreibt: ,,Die Helligkeit der 
(farbig gesehenen) Lichter entspricht annähernd ihren Peripheriewerten. 
Bas Hinzukommen der farbigen Bestimmungen ändert also den Helligkeits- 
eindruck nur unerheblich. Nimmt man daher an, dafs das physiologische 
Substrat des exzentrischen farblosen Sehens auch zentral vorhanden sei 
und hier nur die Träger der farbigen Bestimmungen hinzukommen, so 
würde zu folgern sein, dafs der Eindruck der Helligkeit in erster Linie 
durch jenen Bestandteil bestimmt und durch das Hinzukommen der Farben 
nur unerheblich modifiziert wird." 

« s. Tabelle 7. 

' s. Tabelle 5. 



über subjektive Mitten verschied. Farbe^i auf Chimd ihres Kohärenzgrades. 55 

Anfang dieses Paragraphen den stärksten psychophysischen Pro- 
zefs diejenige von den 3 annähernd gleich hellen Scheiben her- 
vor, die den gröfsten chromatischen Gehalt besitzt. 

Selbstverständhch zeigt dieser Versuch auch, dafs, wenn man 
von einer in der Gleichung vorhandenen Komponente denselben 
Betrag auf beiden Seiten abzieht, die s. M. sich in der Weise 
verschiebt, dafs bei ihr der Abzug noch gröfser ist als bei den 
Seitenfarben. 

Stellt man zur Vervollständigung der auf S. 53 gegebenen 
Übersicht auch für die Unterschiedsgleichung zwischen (190® 
Karmin + 170® Grau t) und (350 Grau t + 10® Karmin) den 
Karmingehalt der s. M. — er beträgt 89®,0 — dem geometrischen 
Mittel aus dem Karmingehalt der Seitenfarben — es beträgt 
43®,6 — gegenüber, so ergibt sich eine Differenz von 45®,4. Diese 
Differenz ist erheblich gröfser als diejenige, die sich bei der 
Unterschiedsgleichung zwischen 360® Karmin und (180® Grau t 
-f- 180® Karmin) zeigt, bei der die Seitenfarben sich zwar auch 
wie in dieser Unterschiedsgleichung um 180® Karmin voneinander 
unterschieden, das geometrische Mittel des Karmingehalts der 
Seitenfarben jedoch für S. J. nach S. 53 nur um 16®,1 hinter 
dem experimentell gefundenen Karmingehalt der s. M. zurückblieb. 

§ 5. Unterschiedsgleichungen zwischen 2 Farben 
mit komplementären Bestandteilen unter allmählich 
wachsendem Ersatz der einen Farbe durch die andere. 
Die Möglichkeit, dafs sich auch zwischen Farben mit kom- 
plementären Bestandteilen subjektive Mitten werden finden lassen, 
wurde bei der Herstellung von Unterschiedsgleichungen zwischen 
€inem Grau und einer Farbe dadurch nahe gelegt, dafs die graue 
Scheibe durch Kontrastwirkung mehr oder weniger von der 
Gegenfarbe annahm. Durch die folgenden und die in den §§ 7 
u. 8 anzuführenden Versuche wurde die Frage, ob man zwischen 
2 mit komplementären Bestandteilen ausgestatteten Seitenfarben 
in der früheren Weise durch Mischung eine Mitte finden kann, 
in bejahendem Sinne entschieden, wenngleich das Urteilen den 
Beobachtern bei diesen Versuchen schwerer als im allgemeinen 
bei den übrigen fiel, und zwar um so schwerer, je verschiedener 
die Seitenfarben voneinander waren. Es ist hier noch nicht der 
Ort, über die Selbstbeobachtungen zu sprechen; es sei nur be- 
merkt, dafs sowohl diese wie die in § 3 angeführten Versuche 



56 Siegfried Jacobsohn, (f) 

auch deshalb angestellt wurden, um die Gröfse der Schwierigkeit 
des Urteilens kennen zu lernen. 

Bei den Versuchen, die hier zur Besprechung gelangen, 
wurde einerseits das schon wiederholt erwähnte Karmin benutzt 
und andererseits ein gelbliches Grün (Nr. 3), welches ich in der 
auf S. 47 beschriebenen Weise so hergestellt hatte, dafs es 
— wenigstens für die Versuchspersonen S. J. und Ka. — in 
seiner Helligkeit nicht sehr von der des Karmin abwich. Es 
war die HelHgkeit von je 360^ dieser beiden Farben für die 
3 Beobachter, welche diese Versuche ausführten, die folgende: 



Beobachter 



K. K. 
S. J. 
Ka. 



Karmin 



1450,3 WeiTs 
1500,0 Weifs 
1450,9 Weifs 



Grün Nr. 3 



1750,1 Weifs 

1500.4 Weifs 

1360.5 Weifs 



Brachte man nun auf dem einen Seitenkreisel eine Scheibe 
an, die sich aus gleichen Teilen des Karmin und Grün Nr. 3 
zusammensetzte, und auf dem anderen eine Scheibe, bei der sich 
das Grün Nr. 3 über alle 360^ erstreckte, und liefs man die s. M. 
zwischen diesen Seitenfarben durch Mischung des Karmin und 
Grün Nr. 3 finden, so ergab sich, dafs K. K. 97^5, S. J. 89^6 
und Ka. 94^,0 Karmin zur s. M. benötigten.^ 

Wenn man dann von den Seitenscheiben die grüne Voll- 
scheibe beibehielt und an Stelle der aus 180® Karmin und ISO® 
Grün Nr. 3 zusammengesetzten Seitenscheibe eine 360® Karmin 
enthaltende Scheibe verwandte, so brauchte, als die s. M. wieder 
durch Mischung des Karmin und des Grün Nr. 3 gefunden werden 
sollte, K. K. zur s. M. 186®,5 Karmin und S. J. 197®,5 Karmin.^ 
(Ka. hat diesen Versuch nicht ausgeführt.) 

Nahm man schliefslich nochmals einen Karminzusatz an einer 
Seitenscheibe vor, indem man jetzt statt der grünen Vollscheibe 
eine aus 270® Grün Nr. 3 und 90® Karmin gebildete Scheibe ver- 
wandte, dagegen die 360® Karmin aufweisende Seitenscheibe 
beibehielt, so waren für die durch Mischung des Karmin und 
Grün Nr. 3 hergestellte s. M. bei K. K. 208^9, bei S. J. 232®,7 
und bei Ka. 212®,2 Karmin erforderlich.» 

Mithin wird für die s. M. um so mehr von der 
einen Seitenfarbe erfordert, je mehr dieselbe auf 

> 8. Tabelle 8. « s. Tabelle 9. « s. Tabelle 10. 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades, 57 

dem einen Seitenkreisel bzw. auf beiden Seiten- 
kreiseln zum Ersätze der anderen Seitenfarbe dient.^ 

Bei den vorstehend aufgeführten Versuchen hielt sich der 
Ersatz einer gewissen Gradzahl der einen Seitenfarbe durch die 
andere in den Grenzen, dafs für alle 3 Versuchspersonen die 
eine Seitenscheibe grün und die andere rot oder rötlichgelb blieb. 

Als nach Beendigung der Versuche jedem Beobachter unter 
den gleichen Verhältnissen des Kontrasts usw. diejenige Farbe, 
die sich bei ihm als die s. M. erwiesen hatte, gezeigt wurde mit 
der Aufforderung, sie zu benennen, wurde die s. M. in der 
Unterschiedsgleichung zwischen (180® Karmin + 180® Grün Nr. 3) 
und 360® Grün Nr. 3 für „entschieden grünlich" (K. K.), „grün" 
(S. J.), „schwach grünlich" (Ka.), dagegen die s. M. in der Unter- 
schiedsgleichung zwischen 360® Karmin und 360® Grün Nr. 3 für 
„rötlich" (K. K.) und „rötlich-gelb" (S. J.) erklärt und schliefslich 
die s. M. in der Unterschiedsgleichung zwischen 360® Karmin 
und (270® Grün Nr. 3 + 90® Karmin) allgemein als „rot" oder 
^deutlich rot" (S. J.) bezeichnet. Diese Verschiebung in der 
Farbigkeit der Mitte zeigt, dafs die s. M. zwischen Farben 
mit komplementären Bestandteilen durchaus nicht 
in der Gegend liegen mufs, die den geringsten bei 
Mischung der betreffenden Farben möglichen chro- 
matischen Gehalt besitzt. 

Will man erreichen, dafs die s. M. aus der chromatischen in 
die möglichst achromatische Zone wandert, so kann man dies 
leicht dadurch bewirken, dafs man in zweckmäfsiger Weise auf 
einem Seitenkreisel eine bestimmte Gradzahl der einen Farbe 
durch die andere ersetzt. Dann verschiebt sich ja, wie wir ge- 
sehen haben, die s. M. derart, dafs sie mehr von der auf dem 
Seitenkreisel als Ersatz dienenden Farbe enthält. 

Ist die s. M. zwischen 2 gleich hellen Farben mit komple- 
mentären Bestandteilen auf diese Weise möglichst achromatisch 
geworden, so ist sie nach den Ausführungen auf S. 53f. in ihrem 
achromatischen Gehalt zwar den Seitenfarben gleich, aber an 
Stärke der chromatischen Prozesse jeder von ihnen unterlegen. 
Infolgedessen ist ihre psychophysische Gesamtintensität kleiner 
als die jeder der beiden Seitenfarben. Es wird dadurch wahr- 
BcheinHch, dafs die Intensität nicht für die Lage der s. M. aus- 



* Vgl. hiermit das Resultat von § 3. 



58 Siegfried Jacobsohn, (f) 

schlaggebend ist. Im folgenden Paragraphen soll versucht werden, 
dieser Frage näher zu treten. 

§ 6. Unterschiedsgleichungen, bei denen die s. M. 
nicht ausschliefslich durch Mischung der Seiten- 
farben gefunden wird. 

Zu untersuchen, ob die psychophysische Intensität allein die 
s. M. bestimme, schien zunächst nicht anders möglich als mittels 
der schon besprochenen Anwendung von Komplementärfarben. 
Denn so lange die Mitte durch Mischung nicht komplementärer 
Seitenfarben hergestellt wird, besitzt ihre Intensität immer irgend 
einen zwischen den Intensitäten beider Seitenfarben liegenden 
Wert, von dem man, wie die in den §§ 2 — 4 aufgeführten Ver- 
suche zeigen, nicht weifs, ob seine Veränderung bei Erhöhung 
oder Verminderung der Intensität einer Seitenfarbe hervorgerufen 
wird durch die Intensitäts Veränderung der Seitenfarbe oder durch 
ihre Qualitätsverschiebung. Wenn es jedoch gelang eine s. M. 
auch noch anders als durch Mischung ausschliefslich der Seiten- 
farben zu finden, so mufste es sich auch auf diesem Wege fest- 
stellen lassen, ob die Intensität für die Lage der s. M. der einzig 
mafsgebende Faktor ist. 

Bei den Seitenfarben Karmin und Hellgrau Nr. 4 und dem 
Beobachter S. J. machte ich zuerst den Versuch damit, eine 
Unterschiedsgleichung durch nicht-ausschliefsliche Verwendung 
der Seitenfarben herzustellen. Nachdem eine Mitte zwischen je 
360*^ dieser Farben in alter Weise durch Mischung der Seiten- 
farben gefunden war,^ fragte ich mich, wie es wirken würde, 
wenn ich zwar die Seitenscheiben unverändert lassen, auf dem 
mittleren Kreisel jedoch an Stelle des Grau Nr. 4 eine psycho- 
physisch schwächere Farbe (nämlich das dunklere Grau t, weiches 
für S. J. die gleiche Helligkeit wie das Karmin hat,) verwenden 
würde. Da hierbei die Seitenfarben unverändert bleiben würden, 
so müfste offenbar die s. M., wenn die Intensität für ihre Lage 
entscheidend wäre, in ihrer Intensität auch unverändert bleiben. 
Dies wäre nur dadurch möglich, dafs die s. M. den Intensitäts- 
verlust, den sie durch Verwendung einer an Intensität schwächeren 
Farbe erleidet, durch eine Steigerung in der Gradzahl der psycho- 

1 8. § 2, S. 51. 



JJber subjektive Mitten verschied. Farbeti aufCh-und ihres Kohärenzgrades. 59 

physisch stärkeren Farbe, des unverändert gelassenen Karmin*, 
ausgleichen würde. In Wirklichkeit geschah dies aber nicht, 
man näherte sich im Gegenteil, allerdings ohne die s. M. ganz 
zu erreichen, derselben um so mehr, je weniger Karmin die 
Mischung enthielt, d. h. je weniger intensiv sie psychophysisch 
wurde. 

Ebenso erging es dem Beobachter S. J., als versucht wurde 
zwischen einer Vollscheibe Karmin und einer Vollscheibe Weifs 
die s. M. durch Mischung des Karmin und des Grau t her- 
zustellen. 

War bei diesen Experimenten versucht worden, eine Mitte 
mit Hilfe eines Grau zu finden, das an psychophysischer Inten- 
sität dem Seitengrau nachstand, so wurde nun auf dem mittleren 
Kreisel ein Grau verwendet, welches heller als das Seitengrau 
war. Dabei gelang es wirklich, eine Mitte zu finden. Es wurde 
nämlich von dem Beobachter S. J. zwischen je 360 ^ des Karmin 
und des mit ihm gleich hellen Grau t eine Unterschiedsgleichung 
hergestellt durch Mischung des Karmin und des helleren Grau 
Nr. 4. Dabei brauchte S. J. zur s. M.« 169^5 Karmin und 190®,5 
Grau Nr. 4. Da er aber nur 125^4 Karmin zur Mitte zwischen 
denselben Seitenfarben benötigt hatte, als die Mitte durch 
Mischung der Seitenfarben hergestellt worden war^ so weist 
jene Mitte im Vergleich mit der durch Mischung der Seiten- 
farben gefundenen einen Karminzuwachs auf. Darin liegt, da 
das Karmin psychophysisch stärker als das mit ihm gleich helle, 
von ihm jetzt zum Teil verdrängte Grau t ist, eine Intensitäts- 
zunahme der Mitte gegenüber derjenigen, die durch Mischung 
der Seitenfarben gewonnen ist. Die Intensitätszunahme ist um 
60 gröfser, als nicht nur ein Teil des Grau t durch das stärkere 
Karmin eingenommen ist, sondern auch der Rest des Grau durch 
das dem Grau t an psychophysischer Intensität gleichfalls über- 
legene Grau Nr. 4 einsetzt ist. Weil hierbei die Seitenfarben un- 
verändert geblieben sind, so zeigt dieser Versuch, dafs die s. M. 
durch die Intensität nicht eindeutig bestimmt ist. 

Zu demselben Resultat führen die folgenden Versuche. Bei 
ihnen sollte, während bisher jede der Seitenfarben unverändert 



* DaXs das Karmin psychophysisch stärker als das mit ihm gleich hello 
Grau t ist, ergeben die Ausführungen auf S. 53 f. 

* s. Tabelle 11. 
» 8. § 2, S. 52. 



60 Siegfried Jacobsohn, (f) 

gelassen, dagegen auf dem mittleren Kreisel eine dritte Farbe 
eingeführt worden war, die Farbe auf dem einen Seitenkreisel 
verändert, hingegen die Farben auf dem mittleren Kreisel sowie 
auf dem anderen Seitenkreisel beibehalten werden. Zu diesem 
Zweck wurde von den Beobachtern K. K. und S. J. zuerst eine 
Unterschiedsgleichung zwischen 360® Karmin und (180® Grau t 
+ 180® Karmin) hergestellt S dann auf der einen Seitenscheibe 
an die Stelle der 180® Grau t das psychophysisch stärkere 
Grau Nr. 4, schlielslich sogar Weifs gesetzt und die s. M. von 
S. J. und zum Teil auch von K. K. unter Beibehaltung des 
Karmin und Grau t auf dem mittleren Kreisel gefunden. Wäre 
die Intensität für die Lage der s. M. allein mafsgebend, so 
müfste man nach dieser Intensitätserhöhung der einen Seiten- 
farbe erwarten, dafs auch die s. M. intensiver würde, d. h. (da 
sie nur durch Karmin und Grau t gebildet wird, von denen das 
Karmin intensiver als das für die Beobachter K. K. und S. J. 
mit ihm fast gleich helle * Grau t ist), dafs sie eine Karmin.- 
steigerung erführe. Statt dessen fiel der Karmingehalt der s. M. 
von 270®,7 bei S. J. und 275®,8 bei K. K. in der Unterschieds- 
gleichung zwischen 360® Karmin und (180® Grau t + 180 <^ 
Karmin) auf 220®,2 bei S. J. und 220®,4 bei K. K., als die 180 ^ 
des Seitengrau t durch Grau Nr. 4 ersetzt waren', und dann 
sogar auf 183®,1, als bei S. J. das Seitengrau durch Weifs ersetzt 
worden w^ar. * 

Wie in dieser Versuchsreihe läfst sich bei der folgenden, 
bei der komplementäre Bestandteile vorkamen und K. K. als 
Beobachter diente, ein Sinken der Intensität der s. M. trotz einer 
Intensitätssteigerung der einen Seitenfarbe beobachten. Es wurde 
hierbei die s. M. wieder durch Karmin und das mit ihm für 
K. K. fast gleich helle Grau t hergestellt und als Seitenfarbe 
der 360® Karmin enthaltenden Scheibe eine Scheibe des Grau t 
gegenübergestellt, dem zuerst 90 ® und dann 180 ® helleren Grüns 
— des Grün Nr. 1, welches für K. K. die Helligkeit von 209*^,5 
Weifs besafs — beigemischt waren. Durch diese Beimischung 
helleren Grüns wuchs die psychophysische Intensität der durch 
die betreffende Seitenfarbe hervorgerufenen Empfindung, die 
s. M. jedoch enthielt um so weniger Karmin, d. h. wurde um so 
weniger intensiv, je mehr Grün dem Seitengrau zugemischt war. 



^ s. § 3, S. 52. * 8. S. 51 f. » 8. Tabelle 12. * s. Tabelle 13. 



über subjektive Mitten verschied, Farben auf Orund ihres Kohärenzgrades, 61 

Ihr Karmingehalt fiel bei K. K. von 157®,8 in der Unterschieds- 
gleichung zwischen 360 <* Karmin und 360^ Grau t^ auf 134^2, 
als 90 ® Grtin dem Seitengrau beigemischt waren *, und auf 89®,3, 
als die Zumischung des Grün zum Seitengrau 180® erreichte.^ 

Zum Schlüsse sei noch einmal auf die Versuche des vorigen 
Paragraphen hingewiesen. Man denke sich durch Mischung 
zweier mit komplementären Bestandteilen ausgestatteter, gleich 
heller Seitenfarben eine Unterschiedsgleichung zwischen ihnen 
hergestellt, bei der die s. M. in der möglichst achromatischen 
Zone liege. Wenn man dann eine beliebige Gradzahl der einen 
Seitenfarbe durch die andere ersetzt, so wird dem Ergebnis des 
vorigen Paragraphen zufolge die s. M. eine Zunahme von der 
auf dem Seitenkreisel als Ersatz dienenden Farbe erfahren, sie 
wird also aus der möglichst achromatischen Zone heraustreten 
und somit an psychophysischer Intensität gewinnen. Bei dem 
Komplementarismus, den die Seitenfarben aufweisen, wird aber 
gleichzeitig infolge des Ersatzes einer bestimmten Gradzahl der 
einen Seitenfarbe durch die andere die Gesamtintensität der be- 
treffenden Seitenfarbe herabgesetzt worden sein. 

Alle diese Versuche zeigen, dafs die Lage der s. M. 
nicht eindeutig durch die Intensität bestimmt ist. 

Die vorletzte Versuchsreihe, bei der eine Verminderung der 
Rötlichkeit der s. M. eintrat, als auf der einen Seitenscheibe an 
Stelle von 180® Grau t das hellere Grau Nr. 4 oder Weifs ver- 
wendet wurde, ist besonders geeignet, uns noch mehr zu lehren. 
Da nämlich gemäfs dem bekannten Einflüsse, den Weifszusatz 
auf das Hervortreten der Farbigkeit ausübt, auch bei der einen 
Seitenscheibe die Rötlichkeit durch die Verwendung des helleren 
Grau oder Weifs auf derselben herabgesetzt wurde, so ist auf 
einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Qualitätsände- 
rung der Seitenfarbe und der Qualitätsänderung der s. M. zu 
schliefsen. Indem sich die eine Seitenfarbe qualitativ von der 
Farbenmischung, die vor der Intensitätsvermehrung der Seiten- 
farbe die 8. M. bildete, entfernte, wurde der Unterschied auf der 
betreffenden Seite gröfser; daher mufste die Mitte ihre Lage so 
ändern, dafs der Unterschied auch auf der anderen Seite zunahm. 

Bei der letzten Versuchsreihe, bei welcher Grün zu der 
grauen Seitenfarbe zugemischt wurde, entfernte sich die be- 



1 8. § 3, S. 52. « 8. Tabelle 14. » s. Tabelle 15. 



62 Siegfried Jacobsohn, (f) 

treffende Seitenfarbe gleichfalls qualitativ von der roten. Daraus 
resultierte bei der Grünzumischung zum Seitengrau die Abnahme 
des Karmingehaltes der s. M., die um so gröfser war, je beträcht- 
licher das zugemischte Grün war. 

Die Veränderung der Lage der s. M. ist also 
durch die Qualitätsverschiebung der Seitenfarben 
beeinflufst worden. 

Die am Anfange dieses Paragraphen mitgeteilten Versuchs» 
resultate, die erhalten wurden, als die Seitenfarben unverändert 
blieben und auf dem mittleren Kreisel eine dritte Farbe ein- 
geführt wurde, erklären sich in entsprechender Weise durch 
Zurückführung auf Qualitätsunterschiede. Damit der Abstand 
der Mitte von jeder Seitenfarbe gleich bliebe, mufste bei der 
Unterschiedsgleichung zwischen Karmin und Grau t die Gradzahl 
des Karmin auf dem mittleren Kreisel steigen, als ein helleres 
Grau zur Mischung mit Karmin genommen wurde. 

§ 7. Ist eine Funktion von Intensität und Qualität, 

die sogenannte Eindringlichkeit, allein fürdieLage 

der s. M. mafsgebend? 

Es hatte sich im vorigen Paragraphen gezeigt, dafs die Lage 
der s. M. nicht eindeutig durch die Intensität bestimmt ist, 
sondern dafs auch die Qualität einen EinfluTs auf dieselbe ausübt. 
Damit erhebt sich die Frage, ob vielleicht eine Funktion von 
Intensität und Qualität, die sogenannte Eindringlichkeit, allein 
die s. M. bestimme. 

F&ÖBES bezeichnet es in seiner schon genannten Abhandlung 
S. 378 als ein „wesentüches Ergebnis" der Versuche, die er im 
Gebiete der Schwarz- Weifs-Reihe vorgenommen hat, festgestellt 
zu haben, dafs die Urteile „unter den benutzten Versuchs- 
bedingungen ganz wesenthch von der Gefühlswirkung der hellsten 
Scheibe und ihrer Tendenz, die Aufmerksamkeit allein auf sich 
zu ziehen, bestimmt" werden. Die auffallenden Abweichungen 
vom WEBERschen Gesetze, die er beobachtete, scheint er wesent- 
lich dieser Tatsache zuzuschreiben. „Dieser Faktor, der die sub- 
jektiv mittlere Helligkeit um so weiter vom geometrischen Mittel 
nach oben ablenkt, je stärker er ist, macht sich im allgemeinen 
in um so höherem Grade geltend, je intensiver das untersuchte 
Helligkeitsgebiet ist, und hängt aufserdem von der Individualität 
ab." Er wirft daraufhin die Frage auf, ob die Verschiedenheit 



über subjektive Mitten verschied, Farben auf Qrund ihres Eohäretizgrades. 63 

der Resultate von Makbe-Ament einerseits und Külpe-Mülleb 
andererseits nicht „dadurch bedingt ist, dafs die beiden ersteren 
Versuchspersonen im Gegensatz zu den beiden letzteren sich 
wesentlich von dem erwähnten Faktor bestimmen liefsen". 

Es schien deshalb in Beziehung auf das WEBEKsche Gesetz 
dringend wichtig, diesem Gesichtspunkte näher zu treten. 

Dies mufste im Gebiete des Gesichtssinnes am ehesten bei 
der Verwendung bunter Farben möglich sein. Bei der Schwarz- 
Weifs-Reihe war unter den von Feöbes und mir benutzten Ver- 
suchsbedingungen die eindringlichere Scheibe stets die hellere, 
mit der Eindringlichkeit änderte man also immer zugleich die 
Intensität und Qualität, bei der Verwendung bunter Farben je- 
doch konnte man auch solche herausfinden, die bei gröfserer 
EindringHchkeit geringere Helligkeit als andere besafsen. 

Daraufhin warf Herr Professor Müller die Frage auf, ob 
wohl eine Gesetzmäfsigkeit zwischen Eindringlichkeit und s. M. 
von der Art bestünde, dafs, wenn man Unterschiedsgleichungen 
zwischen 2 Farben durch Mischung derselben auf dem Farben- 
kreisel herstellt, zur s. M. stets eine kleinere (oder stets eine 
gröfsere?) Gradzahl von der eindringlicheren der beiden Seiten- 
farben gebraucht werde, unbekümmert um deren Helligkeit, 
Komplementarismus usw. 

Wenn die s. M. nur eine Funktion der Eindringlichkeit wäre, 
könnte man den etwas unbestimmten Begriff der Eindringlichkeit 
genauer dadurch definieren, dafs man 2 Farben als gleich ein- 
dringlich bezeichnet, wenn die durch Mischung derselben ge- 
fundene s. M. die gleiche Gradzahl von beiden aufweist. 

Bei den Versuchen, die ich zur Bestimmung des Eindring- 
lichkeitsverhältnisses je zweier Farben anstellte, erwies sich der 
Abstand, den die Seitenscheiben bei den Unterschiedsgleichungen 
voneinander hatten, als zu grofs. Es wurden deshalb unter Ent- 
fernung des MARBEßchen Rotationsapparates die beiden Seiten- 
kreisel symmetrisch zur Versuchsperson einander so weit genähert, 
dafs die auf ihnen befestigten Scheiben an der Stelle, an der sie 
die geringste Entfernung voneinander aufwiesen, den gegen- 
seitigen Abstand von 96 mm hatten. Die Scheiben wurden 
simultan gezeigt und enthielten auf allen 360 ® je eine der beiden 
Farben, die in bezug auf ihre Eindringlichkeit miteinander zu 
vergleichen waren. Aufgabe der Versuchsperson war es anzu- 
geben, welche der beiden Farben ihre Aufmerksamkeit am 



64 Siegfried Jacobsohn, (f) 

meisten auf sich zöge, wenn sie versuche, ihre Aufmerksamkeit 
geradeaus zu richten.* 

Um noch etwas mehr als das Urteil, die eine Scheibe sei 
eindringlicher als die andere, zu erhalten, wurde derjenigen, die 
für eindringlicher erklärt worden war, Schwarz von der Hellig- 
keit 15^5 Weifs zugesetzt, bis die Versuchsperson durch das 
Urteil „unentschieden" oder „gleich" erklärte, dafs ihre Aufmerk- 
samkeit durch beide Scheiben gleichmäfsig angezogen würde. 
Dasselbe wurde in umgekehrtem Verfahren, bei dem also immer 
mehr Schwarz durch die betreffende Farbe ersetzt wurde, wieder- 
holt und dann auf den Kreiseln eine Vertauschung der Farben- 
scheiben miteinander vorgenommen. Auf diese Weise wurde an 
je einem Versuchstage die Eindringlichkeit jeder Farbe — ab- 
gesehen von dem meist der Sitzung vorausgeschickten Vor- 
versuche — durch 4 zählende Doppelversuche bei regelmäfsigem 
Wechsel der Hauptfälle bestimmt, so dafs je 2 auf- und ab- 
steigende zählende Versuche bei jeder der beiden Raumlagen 
angestellt wurden. Dabei zeigte sich, dafs die durch den Schwarz- 
zusatz veränderte Farbe jedesmal die Aufmerksamkeit am meisten 
auf sich zog.* Es wurde deshalb verlangt, dafs, wenn die Ver- 
suchsperson nach Veränderung der Scheibe hingesehen habe, sie 
noch einmal die Augen schhefse, um erst nach dem zweiten 
Hinsehen, wenn der Reiz der Neuheit einigermafsen verschwunden 
sei, ihr Urteil abzugeben. Den Schwarzzusatz, welchen auf diese 
Weise die eindringlichere Farbe bei den hierbei als Versuchs- 
personen fungierenden Herren A., C, Ja., Ka. und Sch. erhielt, 
gibt Tabelle 16 an. Aus ihr geht hervor, dafs allen Beobachtern, 
so weit sie im einzelnen mitwirkten, 

das Orange, Rot und Grün h eindringlicher als das Grau t, 
das Blau bei Ja. und Sch. eindringlicher als das Grau t, dagegen 
das Grau t bei A., C, K>. eindringlicher als das Blau, 
das Blau und Grau t eindringlicher als das Violett, 
das Orange eindringlicher als das Rot und Grün h 
erschien. 



^ Inzwischen hat auch Amesedbb Untersuchungen über die Eindring- 
lichkeit oder, wie er es nennt, über die absolute Auffälligkeit der Farben 
angestellt; s. „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie". 
Herausgegeben von A. Meinono. Leipzig 1904. 

' Man vergleiche hierzu die Bemerkung von Jodl in seinem Lehrbuch 
der Psychologie Bd. II, S. 76. 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres KoMrenzgrades. 65 

Bei A. erreichte bei den Versuchen mit Violett und Blau 
das eindringlichere Blau durch einen Schwarzzusatz von 148^ 
das Minimum seiner Eindringlichkeit, es bUeb aber dabei noch 
etwas eindringlicher, als das Violett. Bei weiterer Erhöhung des 
Schwarzzusatzes stieg die Eindringlichkeit desselben wieder. Ich 
werde hierauf in § 10, wo ich die Emdringlichkeitsbestimmungen 
genauer besprechen werde, zurückkommen. 

Bei meinen weiteren Versuchen über EindringUchkeit, die 
ich mit den Beobachtern H. und M. bei den Farben Karmin, 
Rotgelb und Grau t anstellte, unterUefs ich es, die eindringlichere 
Farbe durch Schwarz zum Teil zu ersetzen. Da nämlich der- 
selbe Schwarzzusatz bei verschiedenen Farben nicht die gleiche 
Herabminderung der EindringUchkeit bewirkt, so hat man in 
seiner Gröfse kein Mafs der EindringUchkeit. Man verliert also 
durch diese Ali; der Bestimmung nur viel Zeit und macht die 
Versuchsperson der ganzen Untersuchung gegenüber mifstrauisch 
und unlustig, da sie fühlt, dafs sie nur mit grofser Unsicherheit 
und einer gewissen Willkür urteilt. Deshalb begnügte ich mich 
bei H. damit, an einem Tage alle Farben durcheinander einmal 
auf jedem der beiden Kreisel zu zeigen und angeben zu lassen, 
welche eindringlicher sei. 
Es wurde 
Karmin und Kotgelb für viel eindringUcher als Grau t und 
Karmin für ein wenig eindringUcher als Rotgelb erklärt. 
Herr Professor Mülleb beurteilte die Eindringlichkeit sogar bei 
der Herstellung von Unterschiedsgleichungen ohne besondere 
AufeteUung der Kreisel und erklärte in Übereinstimmung mit H. 
Karmin und Rotgelb für eindringUcher als Grau t und Karmin 
für eindringlicher als Rotgelb. 

Die HelUgkeit der farbigen Papiere wurde wieder nach der 
S. 47 f. angegebenen Methode bestimmt. Infolge der am Semester- 
Schlüsse bevorstehenden Abreise der Versuchspersonen mufste 
bei C, Ja., Ka. die Messung, die erste, die ich nach BrIjoknebs 
Methode ausführte, frühzeitig vorgenommen und deshalb ein von 
mir statt vom Mechaniker zwar möglichst genau, aber doch 
ziemUch primitiv hergesteUter Transporteur benutzt werden. Dies 
ist insofern zu erwähnen, als minimale Fehler der Ablesung bei 
der BBiiGKNEBschen Methode durch Multiplikation vergröfsert 
werden. Doch könnte dieser Fehler, faUs er infolge technischer 
Mangelhaftigkeit trotz erstrebter Genauigkeit begangen sein sollte, 

ZeltBchrift für Psychologie 43. 5 



06 



Siegfried Jacobeohn. (f) 



das Beeuhat deshalb nicht wesentlich verändert haben, weil ver- 
hältnismäfsig grofse Singsektoren ^ £ur Verwendung kamen. 

Es war die Helligkeit der Farben für die einzelnen Versuche- 
pwsonen die folgende: 







C. 




Ja. 




£a. 


Orange 




184«,8 Weifa 


173«,0 WeifB 


179«,7 Weife 


Rot 




74*,3 


j> 


66ö,4 


» 


föo,l „ 


Blau 


. '1 


15«,5 


>» 


12»,0 


n 


170,8 „ 


Violett 


1 


820,3 


»» 


30«8 


i> 


380,7 „ 


Grün h 


; 


leo^iG 


if 


150«,9 


» 





Botgelb 
Karmin 
Grau t 



M. 



H. 



130^7 Weife 
fl. S. oO u. 51. 



146^5 Weife 



8. J. 



1540,3 Weife 



Bei A. mu&ten die Helligkeitsmessungen infolge seiner Ab- 
reise aus Göttingen unterbleiben; desgleichen bei Sgh., da der- 
selbe durch ein Examen sehr beschäftigt war, so dafs er auch 
bei den Unterschiedsgleichungen nur einmal, nämlich bei der 
Mittenfindung zwischen Orange und Grau t, die vorschrifts- 
mäfaigen 2 Tage auf eine Farbenzusammenstellung verwandte, 
sonst hingegen aufser einer Reihe von Versuchstagen, die ans* 
schhefslich dem Zwecke der Selbstbeobachtung dienten, nur einen 
zählenden Versuchstag jeder Farbenzusammenstellung widmen 
konnte. Ich wollte daher die mit ihm angestellten Versuche 
ursprünglich nicht veröffentlichen und entschlols mich schliefs- 
lieh um- deshalb dazu, weil seine subjektiven Mitten auffallend 
von denen der anderen Versuchspersonen abweichen. 

Zur näheren Charakteristik der Farben -, zwischen denen 
Unterschiedsgleichungen angestellt wurden, sei noch bemerkt, 
dafs einen besonders hohen Grad der Sättigung das schwach 
rötUche Blau und das (gelbliche) Rot aufwiesen, und dals nur 
das gelbliche Grün h mit dem Orange komplementäre Bestand- 
teile bei der Dunkelzimmerbeleuchtimg zeigte. 

> e. 8. 48. 

* Die farbigen Papiere mit Ausnahme dee Violett hatte ZufMXBMAKX 
in Leipzig geliefert, nur dae Karmin und Rotgelb hatte ich mir selbst her« 
gestellt. 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Qrund ihreB Kohärenzgrad/es, ffj 



Dk Unterscbiedsgleichungeii, jdurch die festgofitellt werden 
fioUte, ob eine Gesetemäfeigkeit swischen Eindringlichkeit und 
s. M. in der auf S. 63 angegebenen Weise bestände, gibt die 
folgende Übersicht^ an. In derselben geschieht die Benennung 
der Untefschiedsgjeiiabmi^en durch Bezeichmmg der Seitenfarben. 
Jede der namhaft geBaaehiten Farben erstroekte sich auf den 
S^tenkieiseln über alle 966 ^ Die s. M. wurde dureh Mischung 
der Seitenfarben hergestellt. Die Zahlen bedeuten die zur s. M . 
benötigten Grade von derjenigen Farbe, die bei der Benennung 
der UnterschiedeigleichujQg in der Übersicht zuerst namh^JEt ge- 
macht ist. 







C. 


Ja. 


A. 


SCH. 


Ka. 


H. 


M. 




Orange— Grau t 


186,3 


138,4 


151,2 


244,4 


171,3 








Rot— Grau t 


225,0 


181,7 


196,4 


332,3 


236,5 








Blau— Grau t 


246,2 


232,3 


246,2 


263,0 


238,1 








Violett— Grau t 


245,6 


215,3 


265,0 


211,9 


237,8 








Rot— Orange 


236,5 


201,1 


230,4 


177,2 


232,6 








Violett— Blau 


162,9 


158,6 


160,6 


134,0 


155,1 








Grün h— Grau t 


193,2 


149,7 














Grün h— Orange 




150,5 














Karmin— Grau t 












156,0 


197,2 




Rotgelb— Grau t 












164,8 


196,7 




Kannin— Rotgelb 












147,4 


168,9 



Die Reihenfolge, in der die Unterschiedsgleichungen angestellt wurden, 

war für C. und Ja. 

Grün h— Grau t, Rot— Grau t, Violett— Grau t. Orange— Grau t, Blau- 
Grau t, Blau— Grau t. Orange— Grau t. Violett— Grau t, Rot— Grau t, 
Grün h— Grau t, Rot— Orange, Rot— Orange, Violett— Blau, Violett— Blau, 
(Grün h— OraAge, Grün h— Orange), 

für A., ScH., Ka. 

Orange— Grau t. Orange— Grau t, Rot— Grau t, Rotr— Grau t, Rot— Orange 
Rot— Orange, Blau— Grau t, Blau— Grau t. Violett— Grau t, Violett- 
Grau t, Violett— Blau, Violett— Blau, 

für H. und M. 

Kannin— Grau t, Rotgelb—Girau t, Karmin— Rotgelb, Karmin— Rotgelb, 
Rotgelb — Grau t, Karmin— Grau t. 



^ Dbb dieser Übersicht zugrunde liegende nähere Beobachtungsmaterial 
enthalten die Tabellen 17—26. Nur betreffs der schon auf 8.51 erwähnten 
ü&tefschiedsgleichung zwischen Karmin und Grau t ist Tabelle 2 zu yer- 
idfiMäien. 

5* 



68 Siegfried Jacobaohn. (f) 

Durch einen Versachsfehler lag in den Unterschiedsgleichungen Rot — 
Grau t die rote Scheibe auf dem mittleren Kreisel ohne weilse Unterlage 
direkt auf dem Grau auf, ebenso in den Unterschiedsgleichungen Bot— Orange. 
Um zu sehen, ob dieser Fehler die Resultate beeinträchtige, stellte ich für 
die Versuchspersonen Ka. und Ja. — für die anderen konnte ich es leider 
nicht mehr tun — diejenige Farbe, die sie für die s. M. erklftrt hatten, 
einmal mit und einmal ohne weiTse Unterlage her (zum Teil in beiden 
Raumlagen) und fragte sie, ob und in wie fern diese beiden simultan dar- 
gebotenen Farben verschieden wären. Da ihr Urteil teils „gleich", teils 
„unentschieden" lautete, ja es sogar vorkam, dafs die nicht auf Weils auf- 
liegende Farbe für „vielleicht eine Spur heller" erklärt wurde, so glaube 
ich berechtigt zu sein, den betreffenden Versuchsfehler unberücksichtigt 
zu lassen. 

Sehen wir nun die Unterschiedsgleichungen daraufhin an, 
ob die s. M. von der eindringlicheren der beiden Farben regel- 
mäfsig mehr oder regelmäfsig weniger als 180^ enthielt Es 
wurde gebraucht 

von der eindringlicheren Farbe 



mehr 




weniger 


als 180* 




als 180« 


2 mal 


Orange — Grau t 


3 mal 


5 „ 


Rot— Grau t 


„ 


2 „ 


Blau — Grau t 


3 „ 


„ 


Violett— Grau t 


5 „ 


1 „ 


Rot— Orange 


4 „ 


5 „ 


Violett— Blau 


„ 


1 r 


Grün h— Grau t 


1 r, 


1 « 


Grün h— Orange 


„ 


1 „ 


Karmin — Grau t 


1 «• 


1 « 


Rotgelb— Grau t 


1 „ 


„ 


Karmin — Rotgelb 


2 „ 



19 mal 20 mal 

Es besteht also keine Beziehung zwischen Ein- 
dringlichkeit und s. M., die von der Art wäre, dafs 
zur s. M. stets mehr oder stets weniger von der ein- 
dringlicheren Farbe benötigt werde als von der 
weniger eindringlichen. 

Findet sich eine derartige Regelmäfsigkeit vielleicht, wenn 
die eindringUchere Farbe zugleich die dunklere, oder wenn sie 
die hellere ist? Die folgende Übersicht wird darüber Aufschlufs 
geben in bezug auf diejenigen Versuchspersonen, bei deinen 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 69 

Helligkeitsmessungen vorgenommen worden sind. Um gleich- 
zeitig festzustellen, ob etwa Typenunterschiede mitspielen, seien 
dabei die einzelnen Beobachter namhaft gemacht. Es benötigten 
bei den erwähnten Unterschiedsgleichungen 

von der eindringlicheren Farbe 
wenn sie die dunklere war wenn sie die hellere war 



mehr 


weniger 




mehr 


weniger 


als 180» 


als 180» 




als 180» 


als 180» 






Oraiige— Grau t 


0. 


Ja. Ka. 


:. Ja. Ka. 




Rot— Grau t 






Ja. 




Blau— Grau t 
Violett— Grau t 
Rot— Orange 




0. Ka. 
C. Ja. Ka. 
C. Ja. Ka. 


1 Ja. Ka. 




Violett— Blau 








• Ja.? 


Grün h— Grau t 
Grün h— Orange 


C. 
Ja. 




M. 


H. 


Karmin — Grau t 






M. 


H. 


Rotgelb— Grau t 








H. 


Karmin— Rotgelb 




M.? 



Die Gegenüberstellung zeigt nur, dafs, wenn die eindring- 
lichere Farbe die dunklere ist, meist mehr, wenn sie die hellere 
ist, meist weniger zur s. M. gebraucht wurde als von der weniger 
eindringlichen Farbe. ^ 

Wenn nun aber auch absolut genommen zur s. M. nicht 
stets mehr Grade von der eindringlicheren Farbe benötigt werden 
als von der weniger eindringlichen, so wird doch, wie die später 
zu besprechenden Selbstbeobachtungen zeigen, mehr von ihr ge- 
braucht, als man benötigen würde, wenn man ganz dieselbe Farbe 
mit geringerer Eindringlichkeit verwenden könnte. 

HinsichtHch der Eindringlichkeit der s. M. ist zu bemerken, 
dafs die s. M. unter Umständen sogar weniger eindringlich als 
jede der beiden Seitenfarben sein kann. Bei der Verwendung 
von Farben mit komplementären Bestandteilen wäre dies schon 
dadurch verständUch, dafs (s. S. 57) infolge des Komplemen- 
tarismus event die Farbigkeit und Intensität der s. M. hinter 
derjenigen der beiden Seitenfarben zurückbleibt, aber auch ohne 



* Über den Einflufe der Helligkeit auf die La^e der s. M. siehe den 
Anhang 8. 73. 



70 Biegfried Jaeobsohn, (f) 

Btenteung komfriementfi^er Bestandteile gab bei den Unterschiede- 
^eichungen Eftrmin-Rotgelb ^ und Earmin-Grau Nr. 4 ^ M. mehr- 
fach zn ProtokoU, dafs die s. M. weniger eindringlich als jed^ 
der beiden Seitenfarben war. 

§ 8. Lassen sich aus experimentell bestimmten 
Mischungsgewichten subjektive Mitten berechnen? 
Wenn bei einer Unterschiedsgleichung zwischen 2 Farben 
A und B für die s. M. a Grade von der Farbe A und b Grade 
von der Farbe B gebraucht worden sind, so kann man sagen, 
dafs unter den bei diesen Unterschiedsgleichungen gegebenen 
Bedingungen die Farbe B gegenüber der Farbe A das 

Mischungsgewicht t- besitzt. Angenommen nun, wir haben 

bei 2 Unterschiedsgleichungen zwischen den Farbjen A und B 
einerseits und A und C andererseits gefunden, dafs gegenüber 

Q 

der Farbe A die Farbe B das Mischungsgewicht t- und die 

a 
Farbe C das Mischungsgewicht — besitzt, können wir dann aus 

diesen beiden Mischungsgewichten von B und C die s. M. be- 
rechnen, die wir bei einer unter den gegebenen Umständen her- 
gestellten Unterschiedsgleichung zwischen B und C erhalten 
würden? Ist imter den gegebenen Bedingungen zu erwarten, 
dafs bei Erreichtsein dieser s. M. die auf der mittleren Scheibe 
vorhandenen Sektoren von der Farbe B und C sich umgekehrt 

wie jene Mischungsgewichte t- und — d. h. wie - verhalten? 

Bei den Versuchen, welche diese sich von vornherein leicht 
aufdrängende Frage entscheiden sollten, wurden die Mischungs- 
gewichte verschiedener Farben in Beziehung auf das Grau t 
festgestellt. Dazu wurden Unterschiedsgleichungen hergestellt 
zwischen je 360^ des Grau t und einer Farbe. Diese Farben 
waren die bereits in der Übersicht auf S. 67 angeführten : Orange, 
Rot, Blau, Violett, Grün h, Karmin und Rotgelb. Wie man 
sieht, sind die betreffenden Versuche schon früher ausgeführt 
worden, es ist nur noch nachzutragen, dafs in der Unterschieds- 
gleichung zwischen Rotgelb und Grau t* S. J. 139^4 Rotgelb 
zur s. M. brauchte. 

* 8. S. 67 u. Tabelle 26. « s. S. 51 u. Tabelle 3. » s. Tabelle 25. 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Ghrund ihres Kohärenzgrades. 71 



Aus den Mischungsgewichten der genannten Farben gegen- 
über dem Grau t wurde dann die s. M. berechnet ^ für die Unter- 
schiedsgleichungen zwischen* 1. Rot und Oraaige, 2. Violett und 
Blau, 3. Karmin und Rotgelb, 4. Grün h und Orange. 

DiMdben Unterschiedsgleichungen sind schon früher (vgl. 
S. 67) experimentell hergestellt worden, es mufs zu den früheren 
Angaben nur noch hinzugefügt werden, dafs in der Unterschieds- 
gleichung zwischen Grün h und Orange* C. 15S®,5 Grün h und 
S. J. in der Unterschieds^eichung zwischen Karmin und Rotgelb ' 
134^,7 Karmin zur s. M. benötigte. 

Die nachfolgenden Gegenüberstellungen werden die aus den 
Mischungsgewichten berechneten Gradzahlen der subjektiven 
Mitten mit den experimentell gefundenen zur Vergleichung dar- 
bieten. 

Rot-Orange. 



Beobachter 



8. M. auf Grand 

der 

Berechnung 



8. M. auf Grand 

der 

Experimente 



C. 
Ja. 
A. 

SCH. 

Ka. 



219,1 Rot 



224,6 
306,1 
244,2 



236.5 Rot 

201.1 „ 
230,4 „ 

177.2 „ 

232.6 „ 



Violett-Blau. 



Differenz zwischen 

experimentell 

gefandener und 

berechneter Mitte 



+ 17.4 

— 22,1 

+ 5,8 

— 128,9 

— 11.6 



Beobachter 


8. M. auf Grund 

der 

Berechnung 


8. M. anf Grand 

der 

Experimente 


Differenz zwischen 
experimentell 

berechneter Mitte 


C. 

Ja. 
A. 

SCH. 

Ka. 


179,4 Violett 
162,0 „ 
202,8 „ 
124,3 „ 
179,6 „ 


162,9 Violett 
158,6 „ 
160,6 „ 

134.0 „ 

165.1 „ 


- 16,5 

- 3,4 

— 42,2 

+ 9,7 

— 24,5 



^ Die Rechnung wurde mit 5 stelligen Logarithmen unter Benutzung 
der 2. Stelle nach dem Komma ausgeführt. 



* 8. Tabelle 24. 



« 8. TabeUe 26. 



72 



Siegfried Jacohsohn. (f) 
Karmin-Rotgelb. 



Beobachter 



8. M. auf Grand 

der 

Berechnung 



8. M. auf Grund 

der 

Experimente 



Differenz zwischen 

experimentell 

gefundener und 

berechneter Mitte 



M. 
H. 
8. J. 



180,5 Karmin 
171,1 „ 
165.0 



168,9 Karmin 
147,4 „ 
134.7 „ 



— 11,6 

— 23,7 

— 30,3 



Grün h-Orange. 



Beobachter 


8. M. auf Grund 

der 

Berechnung 


8. M. auf Grund 

der 

Experimente 


Differenz zwischen 

experimentell 

gefundener und 

berechneter Mitte 


0. 
Ja. 


186,9 Grün h 
191,8 „ 


153,5 Grün h 
150,5 „ 


-33,4 
-41,3 



Die Abweichungen der experimentell gefundenen von den 
berechneten subjektiven Mitten sind zum Teil sehr grofs. Es 
liegen allerdings auch nicht unbeträchtliche Fehlerquellen vor: 

1. Die Qualität einer Farbe ändert sich leicht durch Weifs* 
Zusatz oder Mischung mit helleren Tönen. 

2. Es war keine reine Helladaptation vorhanden. Wenn die 
drei Farben, durch welche die Mischungsgewichte von je zwei 
Farben bestimmt werden, verschiedene Helligkeit besitzen, so 
hat man es daher bei den 3 gewissermafsen zusammengehörigen 
Unterschiedsgleichungen — sie gehören insofern zusammen, als 
zwei von ihnen die Berechnung der s. M. der dritten Unter- 
schiedsgleichung erst ermögUchen — mit drei verschiedenen 
Adaptationszuständen zu tun und kann ein einheitliches Resultat 
nicht erwarten. 

3. Das Grau t, zu dem je zwei Farben zur Feststellung ihres 
Mischungsgewichtes in Beziehung gesetzt wurden, nahm infolge 
des Kontrastes je nach der neben ihm stehenden Scheibe eine 
verschiedene Färbung an, so dafs die Mischungsgewichte im 
Grunde gar nicht auf ein und dieselbe Farbe Bezug hatten. Es 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades, 73 

ist weder dieser Kontrast der Scheiben untereinander noch der 
der Scheiben zum Hintergrunde in der Berechnung berücksichtigt 
worden. 

Doch scheinen sich durch diese zum Teil grofsen Fehler- 
quellen die Abweichungen nicht zu erklären. Man wird also 
wohl sagen müssen, dafs eine Berechnung subjektiver 
Mitten aus gegebenen Mischungsgewichten in obiger 
Weise nicht möglich ist. 

Es würde zu weit führen, wollten wir in eine Diskussion 
aller für die Erklärung dieses Sachverhaltes in Betracht kommen- 
den GesichtBpunkte eintreten. 



§ 9. Anhang über die Helligkeit der s. M. in 
Beziehung zu den Seitenhelligkeiten. 

Werfen wir zum Schlufs noch einen BUck auf die Helligkeit 
der s. M. in den Fällen, wo die s. M. durch Mischung zweier 
an Helhgkeit um mindestens 10® Weifs verschiedenen Seiten- 
farben gewonnen ist. Berechnet man aus der Zahl der Grade, 
die von jeder der beiden in ihrer Helligkeit gemessenen Seiten- 
farben gebraucht wurden, die Helhgkeit der s. M., so erhält man 
eine Bestimmung derselben, bei welcher der Kontrast nicht be- 
rücksichtigt ist, die aber vielleicht doch eine ungefähre An- 
schauung gewährt. 

Bei Betrachtung der Tabelle 27, in der die so berechnete 
Helligkeit der s. M. — bezeichnet als „tatsächliches Helligkeits- 
mittel" — sowohl dem arithmetischen wie dem geometrischen 
Mittel der Helhgkeiten der beiden Seitenfarben gegenüber gestellt 
worden ist, mufs es auffallen, wie nahe am arithmetischen oder 
geometrischen Mittel der Seitenhelligkeiten die s. M. meist lag. 
Eine allgemeine Bedeutung kann dieser Erscheinung aber wohl 
schon deshalb nicht zugemessen werden, weil bei den in § 6 be- 
sprochenen Versuchen subjektive Mitten zwischen zwei Farben 
durch Verwendung einer dritten Farbe gefunden wurden und es 
dabei geschah, dafs einerseits bei der Mittenfindung zwischen 
zwei gleich hellen Farben die s. M. wesentlich heller als jede 
Seitenfarbe wurde (vgl. S. 59) und andererseits bei der Mitten- 
findung zwischen zwei an Helhgkeit wesentlich verschiedenen 
Seitenfarben die s. M. in ihrer Helligkeit annähernd der dunkleren 
Seitenfarbe gleich war (vgl. S. 60). 



74 Siegfried Jacobsohn, (f) 

IL Abschnitt. 

Erörterung psychologischer und physiologischer Faktoren^ 
welche Einflafe auf die Urteile haben. 

Erstes Kapitel. 

§ 10. Erörterung 

der Eindringlichkeitsbe Stimmungen. 

Wir gehen nun zu einer Erörterung der psychologischen 
und physiologischen Faktoren über, von denen nachweisbar ist, 
dafs sie Einflufs auf die erhaltenen Versuchsresukate gehabt 
haben können. Wir beginnen mit den Bestimmungen, bei denen 
am wenigsten zahlenmäfsige Genauigkeit zu erwarten ist, mit 
denen der Eindringlichkeit (vgl. S. 62 ff.). 

Sich ganz unbefangen Reizen hinzugeben und abzuwarten, 
welcher die sinnliche Aufmerksamkeit am meisten anziehe, ist 
nicht jedes Beobachters Sache. Das forderte aber die Instruktion, 
welche davon ausging, dafs unter Eindringlichkeit ,.die erregende 
Kraft auf die Aufmerksamkeit" (Fechnbr) zu verstehen sei. 

Selbst bei genauer Befolgung der Instruktion kann bald 
dieser, bald jener Faktor auf die Aufmerksamkeit der Versuchs- 
person bestimmend einwirken. Dies mufs sich an den Resultaten 
um so mehr bemerkbar machen, als jedem Beobachter immer 
wieder eingeschärft worden war, ausschliefslich den gegebenen 
Fall nach bestem Wissen zu beurteilen, möge er dabei auch 
selbst noch so grofse Verschiedenheiten unter seinen einzelnen 
Urteilen konstatieren. 

Bald erweckt die Helligkeit der einen Farbe, bald wieder 
die Sättigung der anderen die Aufmerksamkeit in besonders 
starkem Grade. Ästhetische Momente können mitspielen, z. B. 
dafs man „gröfsere Befriedigung fühlt, wenn das Auge auf einer 
reinen, klaren, als wenn es auf einer schmutzigen Farbe ruht" (C), 
dafs eine Farbe „schön" ist, dafs sie „interessiert", dafs sie 
„langweilig" (Ka.) ist. Assoziative Momente können mitwirken, 
doch ist mir darüber bei den Eindringlichkeitsbestimmungen 
nur eine reproduzierte Vorstellung, noch dazu mit dem Zusatz, 
dafs das Urteil durch dieselben nicht beeinflufst worden sei, zu 
Protokoll gegeben worden. * 

» Sie lautet: „Es wurde plötzlich an einen weifsen Damenhals in 
schwarzem Trauerkleide gedacht" (C). 



über subjektive Mitten vtt*sch%ed. Farben aufGhrund ihres KoMrenzgrades. 75 

Eine besondere Rolle bei den Schwankungen des Urteils 
kommt dem Hintergrunde zu. Zeitweilig blieb er unbeachtet, 
zeitweilig modifizierte er das Urteil dadurch, dafs es der Ver- 
suchsperson auffiel, wieviel mehr sich die eine Farbe im Ver- 
gleich zur anderen von ihm abhob. Bei den Versuchen, durch 
Schwarzzusatz die Eindringlichkeit einer Farbe herabzumindern, 
wäre es besser, den Hintergrund möglichst dunkel herzustellen, 
da es sonst geschehen kann, dafs das zur Herabsetzung der 
Eindringlichkeit der Farbe benutzte Schwarz eindringlicher als 
die Farbe ist, und dafs die Eindringlichkeit der Farbe durch den 
Schwarzzusatz nicht geschwächt wird. In der Tat beobachtete 
die Versuchsperson A., wie wir S. 65 sahen, dafs die Eindring- 
lichkeit des Blau bei Ersatz eines Teiles desselben durch Schwarz 
nur bis zu einem bestimmten Punkte vermindert wurde, von 
dem an weiterer Zusatz von Schwarz die Eindringlichkeit wieder 
erhöhte. Den Hintergrund zu wechseln wurde im Interesse der 
Unterschiedsgleichungen unterlassen, die unter den gleichen 
Hintergrundsbedingungen wie die Eindringlichkeitsbestimmungen 
vorgenommen werden mufsten, und bei denen durch einen 
schwarzen Hintergrund im allgemeinen sowohl der Kontrast wie 
die Mitwirkung des Stäbchenapparates in unliebsamer Weise er- 
höht worden wäre. 

Von der Aufstellung, welche die Kreisel bei den Versuchen 
über Unterschiedsgleichungen hatten, mufste allerdings, wie 
S. 63 angegeben, bei den Eindringlichkeitsbestimmungen ab- 
gewichen werden. Dafs dies seine Bedenken hat, selbst wenn 
die Kontrastverhältnisse dieselben geblieben wären (was nicht 
der Fall ist), ist nicht zu leugnen; kommt doch, wie wiederholt 
von den Beobachtern M. und Ja. bemerkt wurde, der Raumlage 
zweifellos ein Einflufs auf die Anziehung der Aufmerksamkeit 
zu. Da jedoch die Bestimmungen der Eindringlichkeit überhaupt 
kein exaktes Mafs derselben liefern sollen, w^ird diese Fehler- 
quelle wohl nicht allzu bedenklich sein, falls man an dem 
Schwarzzusatz nur erkennen will, welche Farbe die eindring- 
lichere war. 

Bei den Eindringlichkeitsbestimmungen beobachtete M. und 
gelegentlich auch Ja., dafs die eindringlichere Scheibe vor der 
anderen räumlich hervortrat. 

ScH. fand, dafs das Urteil erleichtert sei, wenn man sich 
durch Zurücklehnen, im Zimmer-Herumblicken etc. etwas zerstreue. 



76 Siegfried Jacobsohn, (f) 

Zweites Kapitel. 
§ 11. Erörterung der Helligkeitsbestimmungen. 

Die Helligkeitsbestimmungen farbiger Papiere mittels grauer 
Ringsektoren können so angestellt werden, dafs man wie Bbücknee 
einen einzigen, aus zwei gegeneinander verschiebbaren Grau- 
nuancen gebildeten „Ringsektor" verwendet und urteilt, ob der 
Ring dunkler, heller oder gleich helP wie die übrige Scheibe 
sei (s. S. 481). 

Sie können aber auch so angestellt werden, dafs man in die Farben- 
Scheiben, deren Helligkeit zu bestimmen ist, statt eines Ringsektors gleich- 
zeitig mehrere einschiebt. Dieselben werden am besten so angeordnet, 
dafs sie von einer Helligkeit, welche die der Scheibe tibertrifft, in kleinen 
Stufen fortschreiten zu einer Helligkeit, welche hinter derjenigen der 
Scheibe zurückbleibt. Montiert man alle Ringsektoren auf einer einzigen 
Scheibe, so kann man sie alle gleichzeitig um ein und dieselbe Gradzahl 
in ihrer Gröfse verschieben. Dadurch gewinnt man für das Heiligkeite- 
verhältnis zwischen der Farbenscheibe und den Ringsektoren leicht eine 
neue Konstellation und ermöglicht es, mehrere Urteile über dieselbe Farbe 
fällen zu lassen, ohne dafs dabei der Ringsektor, welcher mit der Farben- 
Bcheibe die gleiche Helligkeit besitzt, stets derselbe wäre. 

Auch wenn die Ringsektoren nicht zahlreich genug sind, um in nahezu 
kontinuierlicher Reihe Helligkeitsstufen darzubieten, welche teils hinter 
der Helligkeit der Farbscheibe zurückbleiben, teils dieselbe übertreffen, hat 
die Verwendung mehrerer Ringsektoren vor der Benutzung eines einzigen 
zwei Vorzüge. Sie gestattet erstens die simultane Darbietung verschiedener 
Helligkeitsstufen an Stelle der sukzessiven und zweitens die Anwendung 
eines Urteils modus, dessen Einführung an sich schon eine Erleichterung 
des Urteilens und dadurch möglicherweise eine Herabsetzung der Variation 
zur Folge hat. Während man bei der Benutzung nur eines Ringsektora 
darüber urteilen läTst, ob die Helligkeit des Ringes von derjenigen der 
übrigen Scheibe abweicht, kann man bei simultaner Darbietung mehrerer 
Ringsektoren denjenigen von ihnen feststellen lassen, dessen Farben- 
unterschied von der in ihrer Helligkeit zu bestimmenden Scheibe „ein 
Minimum der Deutlichkeit erreicht".* Helmholtz wählte dieses Ver- 
fahren. Er ging aus „von dem Gnindphänomen, welches in der Photo- 
metrie benutzt wird, wenn es sich darum handelt, zwei etwas verschieden 
gefärbte Lichter ihrer Helligkeit nach zu vergleichen. Wenn man die 
Lichtstärke des einen von ihnen allmählich verändert, so werden sie selbst- 
verständlich niemals ganz gleich, aber man gelangt doch zu einer Ein- 
stellung, bei welcher der genannte Unterschied ein Minimum der Deutlich- 
keit erreicht. Man betrachtet gewöhnlich das Verhältnis der Lichtstärken, 
welches dieser Einstellung entspricht, als das Verhältnis gleicher Helligkeit"* 

* Das Urteil lautet hierbei event. „unentschieden". 

* Helmholtz in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnes- 
organe 2, S. 3. 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Gi'und ihres Kohärenzgi-ades. 77 

Die Veränderung der Helligkeit kann bei jedem Ringsektor auf dreier- 
lei Art Torgenommen werden. Entweder man läfst die Gesamtgröfse des 
Ringsektors konstant und ändert das Verhältnis der Gradzahlen der beiden 
Graunuancen, welche den Ringsektor bilden, oder man läfst die Gradzahl 
von einer der beiden Graunuancen konstant und ändert die Gradzahl der 
anderen Graunuance und damit die Gesamtgröfse des Ringsektors ; schlief8^ 
lieh kann man sowohl die Gesamtgröfse des Ringsektors als auch die Grad- 
zahl jeder der beiden Graunuancen verändern. Das zuletzt genannte Vor- 
gehen ist wegen seiner geringen Exaktheit am wenigsten zu empfehlen. 
Gegen die Anwendung des zweiten Verfahrens würde für den Fall, dafs 
man wie Helmholtz den Punkt des „Minimums der Erkennbarkeit des 
Unterschiedes" bestimmen lassen will, folgender Einwand erhoben werden 
können. Angenommen, die vorhandenen Ringsektoren seien dunkler als 
die Seheibe und werden dadurch allmählich heller, dafs von den beiden 
Graunuancen, welche den Ringsektor bilden, die hellere an Gradzahl zu- 
nimmt» während die dunklere in ihrer Ausdehnung konstant bleibt. Dann 
wird der hellste der Ringsektoren, den wir hier allein verfolgen wollen, 
trotz seiner Gröfsenzunahme, wie experimentell festgestellt ist, allmählich 
an Sichtbarkeit abnehmen, und zwar bis zu dem Punkte, an welchem der 
Unterschied des Ringes von der übrigen Scheibe so klein geworden ist, wie 
er bei der Steigerung der Gesamtgröfse des betreffenden Ringes überhaupt 
werden kann. Würde man von diesem Punkte an die Gesamtgröfse des 
Ringes konstant erhalten, dagegen die hellere der beiden Graunuancen, 
welche den Ringsektor bilden, auf Kosten der dunkleren weiter ausdehnen, 
so könnte die Sichtbarkeit des Ringes noch weiter abnehmen. Man hätte 
also bei ausschliefslicher Veränderung der Gesamtgröfse des Ringsektors 
in dem angenommenen Falle bei einem zu dunklen Ringsektor geglaubt, 
das Minimum der Erkennbarkeit des Unterschiedes gefunden zu haben. 
Es ist deshalb, wenn man den Punkt des Minimums der Erkennbarkeit des 
Unterschiedes feststellen will, zu empfehlen, nicht die Gesamtgröfse des 
Ringsektors, sondern das Verhältnis der Gradzahlen der ihn bildenden 
Graunuancen zu ändern. Wenn man hingegen beurteilen läfst, ob die Ringe 
in einer farbigen Scheibe heller, dunkler oder gleich hell wie diese seien, 
so ist es prinzipiell gleichgültig, ob man die Gesamtgröfse der Ringsektoren 
oder die Gradzahl von einer der sie bildenden Graunuancen konstant erhält. 

Bei meinen Versuchen war die simultane Darbietung mehrerer Ring- 
sektoren dadurch ausgeschlossen, dafs ich über so grofse Bogen farbigen 
Papieres, wie sie bei der Anwendung mehrerer Ringsektoren nötig gewesen 
wären, nicht verfügte. Ich war daher auf die Benutzung eines einzigen 
Ringsektors angewiesen. Um die Variation möglichst niedrig zu halten, 
wollte ich den Urteilsmodus, welchen Helmholtz bei simultaner Darbietung 
mehrerer Ringe verwandte (Aufsuchung des Minimums der Erkennbarkeit 
des Unterschiedes), bei der Verwendung nur eines Ringsektors einführen. 
Dies wäre auf zweierlei Art möglich. Benutzt man nämlich jenen Urteils- 
modus, so mufs man notwendig den Ringsektor bis zu dem Punkte ver- 
ändern, an welchem man zuerst wahrnimmt, dafs der Unterschied zwischen 
dem Ringe und der Scheibe gerade wieder zunimmt. Entweder mufs man 
dann diesen Punkt notieren oder die Veränderung des Ringsektors wieder 



78 Siegfried Jacobsohn, (f) 

etwas rückgängig machen, d. h. die Heretellungsmethode anwMiden. Gregen 
diese sind nun aber prinzipielle Einwände erhoben worden. Anderereeito 
würde bei der ProtokoUierung des Punktes, an dem das Minimum der Er- 
kennbarkeit des Unterschiedes gerade etwas überschritten ist, die erstrebte 
Möglichkeit der HerabseUsung der Variation dadurch wieder schwinden, 
daüB man natürlich abwechselnd mit einem zu hellen und einem zu dunklen 
Ringe beginnen müfste. 

Ich konnte daher nur das nicht-modifizierte BaüOKNEBsche Verfahren 
benutzen und hatte keinen Grund, dies zu bedauern.^ 

Die Zahl der Grade, über die sich ein Ringsektor insgesamt 
erstreckt, mufs um so gröfser sein, je weniger gesättigt die zu 
untersuchende Farbe und je schwächer das Auge des Beobachters 
ist. Die Beurteilung des Helligkeitsverhältnisses zwischen einem 
Ringe und dem übrigen Teile der Scheibe ist schwerer, solange 
derjenige Ringsektor, der sich für das Auge der Versuchsperson 
bei der zu untersuchenden Farbe am besten eignet, nicht ge- 
funden ist. Ich suchte denselben daher stets zu ermitteln, aller- 
dings nur annähernd, da nach Brügkkebs Angabe^ die Mittel- 
werte der Beobachtungen, die mit gut und mit wenig geeigneten 
Ringsektoren angestellt werden, nicht voneinander abweichen. 

Die Beobachter wurden häufig von mir darauf aufmerksam 
gemacht, dafs bei längerer Betrachtung Unterschiede, die sonst 
merkbar sind, verschwinden. 

Die Verschiedenheit der Sättigung der aufserhalb und der 
innerhalb des Ringsektors gelegenen Teile der Scheibe schien 
das Urteil nicht zu stören. 

Eine Erleichterung des Urteils empfand M., wenn neben der 
zu untersuchenden Scheibe noch eine mit ihr gleiche, doch gftnz 
homogene gezeigt wurde. Die anderen Versuchspersonen gaben 
das nicht an oder hefsen sogar eine solche zweite Scheibe, wenn 
sie angebracht wurde, unbeachtet. 

' Bbücknbr hielt aus technischen Gründen die Gradzahl von einer der 
beiden Graunuancen konstant. Dasselbe tat ich bei allen Helligkeits- 
bestimmungen der Beobachter K. K., M. und S. J., aufserdem bei den 
Helligkeitsbestimmungen des Karmin und Grün Nr. 3, die ich von Ka., 
sowie bei denen des Blau, welche ich von C, Ja. und Ka. anstellen liefs. 
Die Gesamtgröfse des Ringsektors hielt ich konstant, als ich die HelUgkeit 
des Orange, Rot und Violett von C, Ja. und Ka. und die des Grün h von 
C. und Ja. bestimmen liefs. 

Bei H. wurde sowohl die Gesamtgröfse des Ringsektors als auch die 
Gradzahl jeder der beiden Graunuancen verändert. 

* Ich habe diese Angabe nicht nachgeprüft. 



ilber subjektive Mitten verschied. Farben <mf Grund ihres Kohärenzgrades. 79 

DaTs der Bing weniger deutlich sichtbar wurde, wenn seine 
Helligkeit sich derjenigen der Scheibe näherte, mag eine Hilfe 
geboten haben, die nach den Ausführungen auf S. 77, genau 
genommen, instruktionswidrig ist. 

Der Mehrzahl meiner Versuchspersonen fiel das Beurteilen 
der Helligkeit bedeutend leichter oder mindestens leichter als 
die Anstellung von Unterschiedsgleichungen, manchen allerdings 
auch schwerer. Dafs es diesen, wenn mehrere Übungstage wie 
bei den Unterschiedsgleichungen den endgültigen Messungen 
voraufgegangen wären, auch noch gröfsere Schwierigkeiten als 
die Mittenfindung bereitet haben würde, ist zu bezweifeln. 

G. E. Müllers BedenkenS dafs man an Stelle von Helligkeits- 
bestimmungen leicht Eindringlichkeitsbestimmungen anstellt, trifft 
diese Methode nicht. 

Die Abweichungen, welche die Helligkeitswerte derselben 
Farben bei den verschiedenen Beobachtern zeigen, kann man 
durch folgende Gesichtspunkte zu erklären suchen. 

1. Es lag keine volle Helladaptation vor. Die bekannte Er- 
scheinung, dafs sich das Helligkeitsmaximum im Spektrum von 
den Farben gröfserer zu denen kürzerer Wellenlänge bei Dunkel- 
adaptation verschiebt, muTste deshalb um so mehr bemerkbar 
werden, je stärker der Stäbchenapparat der Versuchsperson 
fungierte. 

2. Nach G. E. Müllers Untersuchungen der galvanischen 
Gesichtsempfindungen haben die Farben Rot und Gelb inneren 
Weils-, dagegen Grün und Blau inneren Schwarzwert. Je stärker 
nun bei einem Individuum die betreffenden chromatischen Pro- 
zesse sind, um so stärker sind für dasselbe auch die zugehörigen 
Weifs- oder Schwarzwerte, d. h. um so heller, bzw. dunkler, er- 
scheint die betreffende Farbe. 

Drittes Kapitel. 

Erörterung der UnterschiedsgleiehiiDgen. 

§ 12. Die Methode der Farbenbänder. 
Ich komme nun zum Kern dieser Arbeit, den Unterschieds- 
gleichungen. Ich werde zunächst die von meinen Versuchs- 
personen festgestellten Urteilsmethoden, 

* 8. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgatie 14, 8. 177. 



80 Siegfried Jacobgohn. (f) 

1. die der Farbenbänder, 

2. die der psychischen Rucke, 

3. die der Kohärenz, 

behandeln und dann verschiedene Urteilsfaktoren besprechen, 
welche teils bei allen 3 Methoden, teils nur bei der Kohärenz- 
methode zur Geltung kommen. 

Die 3 Urteilsmethoden wurden zum Teil an Tagen, an denen 
ausschliefsUch zum Zwecke der Selbstbeobachtung experimentiert 
und daher die für die regulären Versuchstage festgesetzte Ver- 
Buchszahl nicht erreicht wurde, zum Teil auch im regulären 
Verlaufe der Versuche beobachtet. Je nach der Wahl der Urteils- 
methode, d. h. je nach der Art des für das Urteil mafsgebenden 
Urteilsfaktors, kann man zu wesentlich verschiedenen Resultaten 
über die Lage der s. M. gelangen. Es war daher, um vergleich- 
bare Resultate zu erhalten, unbedingt erforderlich, sich für einen 
bestimmten Urteilsmodus zu entscheiden. 

Ein Farbenband beobachteten 3 Versuchspersonen, ohne dafs 
sie eine dfiJiin gehende Weisung erhalten hatten. Bei den Ver- 
suchen über die Unterschiedsgleichung zi^dschen Blau und Grau t 
sah Ka. an einem der den endgültigen Versuchen voraus- 
geschickten ÜbungstÄge* eine abgestufte Reihe von Farben 
zwischen den 3 gezeigten Scheiben und sah zu, auf welcher 
Seite sich eine gröfsere Zahl dieser Stufen befände. Er war da- 
bei an die Herstellung von Farben erinnert worden, die er in 
seiner Schulzeit geübt hatte, in der er oftmals durch verschieden 
häufiges Auftragen derselben Farblösung auf Streifen weifsen 
Papieres euie Nuancenreihe derselben Farbe gebildet hatte. Durch 
meine auf S. 47 beschriebene Herstellung farbiger Papiere war 
diese Erinnerung nicht geweckt worden, da ich damals noch 
nicht an die eigene Herstellung solcher Papiere dachte. 

K. K. beobachtete ein Farbenband während der endgültigen 
Versuche, als die Unterschiede der Farben recht erheblich ge- 
worden waren. Als nämlich durch Mischung von Karmin und 
dem mit ihm annähernd gleich hellen Grau t eine s. M. gefunden 
werden sollte zwischen einer in allen ihren 360* mit Karmin 
bedeckten Scheibe und einer Scheibe, bei der nur 180* von 
Karmin, die anderen 180 • hingegen von dem helleren Grau Nr. 4 

» 8. s. 46. 



über svbjektive Mitten verschied. Farben auf Ch^und ihres Kohärenzgrades. 81 

oder Weifs eingenommen waren^, wurde es ihm plötzlich so 
schwer, nach Kohärenz zu urteilen, dafs er eine andere Methode 
suchte. Er ging deshalb bei den genannten Versuchen mit den 
Augen langsam von der einen Seitenfarbe über die mittlere 
Scheibe zur anderen Seitenfarbe und beobachtete ein Farbenband, 
von dem er folgendes aussagte: „Das gleichmäfsig ineinander 
übergehend abgestufte Farbenband zwischen den beiden ersten 
Scheiben läfst sich stets herstellen," dagegen ist es bei einer 
Qualitätsabstufung, die ähnUch oder gleich der des Farbenbandes 
zwischen den beiden ersten Scheiben ist, nicht immer möglich, 
dasselbe zwischen den beiden anderen Scheiben ® so herzustellen, 
dafs es den Raum zwischen ihnen genau ausfüllt. „Mufs ich 
mir also die dritte Scheibe weiter" als die erste von der mittleren 

^entfernt denken, um mir ein gleichmäfsiges Farbenband 

herzustellen, so beurteile ich die beiden letzten Scheiben als 
unterschiedlich gröfser.* Die entscheidende Scheibe ist also die 

dritte, d. h. die zuletzt beobachtete Wieviel Stufen jedesmal 

von der tatsächlich gegebenen Farbe bis zur Erreichung der 
jedesmal folgenden Scheibe nötig sind, das mache ich mir nicht 
klar. Ich stelle mir nur einen ganz natürlichen, allmählichen, 
innerhalb der räumlichen Entfernung der Scheiben liegenden, 
gleichmäfsigen Übergang vor.* Die Kontrolle geschieht durch 
ein Auffassen aller 3 Scheiben mit einem Blick, wobei ich 
ziemlich die obere Hälfte der Scheiben zu betrachten suche ; da- 
bei verschwimmen die Farben ein wenig, so dafs die Vorstellung 
eines bandähnlichen Farbenstreifens bei dieser Gesamtauffassung 
der drei Scheiben bedeutend erleichtert wird." Er fügte hinzu: 
„Später, als ich wieder versuchte durch instruktionsgemäfse 
kollektive Auffassung zu Urteilen zu gelangen, glaubte ich zu 
"bemerken, dafs die Urteile, die sich durch beide Methoden er- 
gaben, durchaus verschieden voneinander, ja beinahe entgegen- 
gesetzt waren." 

* Über die Versuche, bei denen 180® Grau Nr. 4 benutzt wurden, 
J3. S. 59 f. Die Versuche von K. K., bei denen 180*^ Weifs verwendet wurden, 
sind, da ihre Zahl die festgesetzte Ziffer von 2 mal 8 Doppel versuchen nicht 
erreichte, in dieser Arbeit nicht aufgeführt worden. 

* Die mittlere Scheibe ist hierbei doppelt gezählt. 

* Gemeint ist, so urteile ich, dafs der Unterschied zwischen den beiden 
letzten Scheiben gröfser als der zwischen den beiden ersten ist. 

* K. K. sah das Farbenband zwischen den Scheiben, wahrend er die- 
selben beobachtete. 

Zeitschrift für Psychologie 43. 6 



82 Siegfried Jacobsohn, (f) 

Nach dieser Beschreibung könnte man vermuten, dafs die 
mit Hilfe des Farbenbandes festgestellte Mitte die Qualitätsmitte 
sei, und dafs sie identisch sei mit derjenigen, \velche von den 
beiden Seitenfarben ein und denselben, durch die Zahl der Stufen 
bestimmten Abstand besitze. 

Der Beobachter Sch. hingegen, der als dritter Aussagen über 
ein Farbenband machte, bemerkte keine Identität zwischen der 
Mitte, welche er mit Hilfe seines Farbenbandes fand, und der- 
jenigen, welche einen und denselben Stufenunterschied zu beiden 
Seitenfarben aufwies. 

Als Sch. nach mehreren Versuchstagen, an denen er in* 
struktionsgemäTs nach Kohärenz geurteilt hatte, aufgefordert 
wurde, die „Mitte" zwischen den beiden Seitenfarben zu finden,, 
stellte er sich ein flächenhaftes Schema vor, welches in kontinuier- 
lichen Abstufungen von der einen Seitenfarbe zur anderen führte. 
"Wo er dieses, wie er sagte, deutlich vorgestellte Streifenbild 
lokalisierte, war für ihn nicht wesentlich, er konnte es sich 
zwischen den Scheiben, aber auch auf dem Tische vor sich 
lokalisiert denken. Als „Mitte" zwischen den beiden Seitenfarben 
bezeichnete er diejenige Farbe, welche genau der räumlichen 
XKtte seines Farbenbandes entsprach. Die auf diese Weise ge- 
fundene Mitte zwischen Rot und Grau t enthielt weit weniger 
Kot als die nach der Kohärenzmethode gefundene s. M., nämlich 
175 • — 191** Rot gegen 332^3 bei Anwendung der Kohärenz- 
methode. AuTser bei den Versuchen zwischen Rot und Grau t 
hat Sch. (wohl infolge der die Kohärenzmethode vorschreibenden 
Instruktion) nur bei den Übungsversuchen mit Grün h und Grau t 
ein Farbenband beobachtet, doch glaubte er, ebi solches für alle 
behebigen Endfarben geistig sehen zu können. Die Deutlichkeit, 
mit der er bei den Versuchen über die Unterschiedsgleichung 
zwischen Rot xmd Grau t sich den Farbenstreifen vorzustellen 
erklärte, konnte Zuversicht zur Beständigkeit desselben einflöfsen^ 
doch erweckte die Angabe der Versuchsperson ^Die Röte des 
Farbenbandes wächst nicht gleichmälsig, sondern um so be- 
schleunigter, je näher man dem Rot kommt,* sowie Sch.s eigene 
Vermutungen über die Crenesis des Farbenbandes Bedenken. Sch. 
erklärte, dafs «dieses Band vielleicht mit bestimmt sei durch die 
Erinnenmg an den Übergang des duftigen Weife nun Gelbrot 
am Abendhimmel oder durch die Erinnerung an Spektralbilder. 



über subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres KoMrenzgrades, 83 

Auf derartig zufällige Aßsoziationen eine Experimentaluntersuchung 
aufzubauen, schien bedenklich. 

Die räumlich in der Mitte des Streifenbildes liegende Farbe 
braucht nach der Erklärung von Sch. nicht identisch mit der- 
jenigen zu sein, welche zu beiden Seitenfarben den „gleichen 
Unterschied" aufweist. Letztere Farbe ohne Anwendung der 
Kohärenzmethode meiner Aufforderung gemäfs zu finden, be- 
mühte sich ScH. vergebens. Der Wechsel des Ausdrucks, die 
beiden Seitenfarben in gleichem Grade „ähnhche Farbe" zu 
finden, half nichts. Am wenigsten nützte die Aufforderung, die- 
jenige Farbe zu finden, die um ungefähr die gleiche Zahl von 
Stufen von den beiden Seitenfarben entfernt sei, da die Versuchs- 
person, wenn sie nicht das Kohärenzverfahren anwenden durfte, 
das ganze für „völligen Mumpitz" hielt, weil sie dann im Grunde 
nur „die Assoziation darüber, wieviel Pigment wohl jeder einzelnen 
Scheibe zugesetzt sein" möge, beurteile. 

§ 13. Die Methode der psychischen Rucke. 

Die Methode der psychischen Rucke zeigt zwei verschiedene 
Anwendungsformen. Bei beiden läfst man den Blick von dem 
einen Seitenkreisel über die mittlere Scheibe zum anderen wandern. 
Dabei verspürt man entweder einmal bei einer der Scheiben 
eraen Chok, eine Art inneren Sprunges, eine „ästhetische Ohr- 
feige", wie die Versuchsperson K. K. sich ausdrückte, oder man 
empfindet auf demselben Wege zweimal einen Ruck, das erste 
Mal, sobald das Auge die mittlere Scheibe passiert, das zweite 
Mal, sobald es die andere Seitenscheibe erreicht. Der Unter- 
schied wird auf derjenigen Seite für gröfser erklärt, auf der man 
beim Übergange von der Seitenscheibe zur Mittelscheibe oder 
umgekehrt den einen Ruck bei der erstgenannten und den gröfseren 
der beiden Rucke bei der letztgenannten Anwendungsform dieser 
Methode verspürt. 

Die letztere Form brauchte Herr Dr. Ach. bei den Fröbes- 
schen Versuchen^, sie benutzt nach seinem Ausdruck „eine Ge- 
fühlswirkung; von einer kollektiven Auffassung ist keine Rede". 

Die andere Form dieser Methode habe ich im Laufe meiner 
Untersuchung ziemlich häufig von den Beobachtern A., C, Ja., 
Ka., M. und Sch. dann anwenden lassen, wenn die s. M. schon 



* 8. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie 86, S. 372 f. 

6* 



84 Siegfned Jacohsohn. (f) 

mittels der Kohärenzmethode gefunden war. Natürlich tat ich 
dies nur, wenn die Versuchspersonen nach einer Reihe von 
Tagen, an denen sie ausschliefslich nach Kohärenz geurteilt 
hatten, genügend Sicherheit im kollektiven Auffassen zeigten, 
um durch die gelegentliche Einführung einer anderen Methode 
nicht mehr verwirrt zu werden. Ich instruierte die Beobachter 
dahin, die Augen nicht nur von der einen Seitenscheibe zur 
anderen, sondern auch wieder zurück zur ersten wandern zu 
lassen und auch dann „unentschieden" zu urteilen, wenn etwa 
bei beiden Wegen das Resultat verschieden wäre. Dabei ergab 
sich, dafs die Kohärenzmethode zwar manchmal zu den gleichen 
Resultaten wie die in dieser Weise angewendete Methode der 
psychischen Rucke führte, oft aber auch nicht. 

Eine Kombination der Methode der psychischen Rucke mit 
derjenigen der Farbenbänder erwähnt K. K. mit folgenden 
Worten: „Erscheint mir das Farbenband einheitlich, d. h. in 
seinen farbigen Abstufungen wie das Spektrum ineinander über- 
gehend, ohne dafs man bei seiner Verfolgung an irgend einer 
Stelle einen merklichen Ruck empfindet, so fälle ich das Urteil 
„unentschieden" oder „gleich"." 

§ 14. Die Kohärenzmethode. 

Die Methode, für die ich mich entschied, war die der Ko- 
härenz, über welche man Näheres bei G. E. Müller (Die Ge- 
sichtspunkte imd die Tatsachen der psychophysischen Methodik, 
S. 236 ff.) und bei Feoebes {Zeitschrift für Psydwlogie und Physio- 
logie 36, S. 368 ff.) findet. 

Es ist wahr, man vergleicht bei dieser Methode nicht eigent- 
lich Qualitäts- oder Intensitätsunterschiede, aber ich wüfste keine 
Methode, bei der man dies täte. Bei der Methode der psychischen 
Rucke beobachtet man Gefühlswirkungen, man vergleicht also 
nicht die Qualitäts- oder Intensitätsunterschiede der Farben, 
mindestens nicht direkt, und dafs die Gefühlswirkungen allein 
auf die Qualitäts- oder allein auf die Intensitätsunterschiede der 
Farben zinrückzuführen seien und so indirekt eine Vergleichung 
derselben ermöglichten, kann schwerlich behauptet werden. Besser 
geeignet zur reinen Qualitätsvergleichung erscheint anfangs die 
Methode der Farbenbänder, aber die Abstufung der Farbentöne 
in einem solchen Bande ist doch wohl allzusehr durch Er- 
fahrungen des Lebens bestimmt und überhaupt von zu prekärer 



Über subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 85 

Art, als dafs sie zur Grundlage reiner Qualitätsvergleichung 
dienen könnte. 

Doch angenommen, es gäbe Methoden zur Bestimmung 
reiner Qualitäts-, Intensitäts-, Eindringlichkeits- und Helligkeits- 
mitten, welche Mitte hätte ich dann finden lassen sollen? Nach 
den, allerdings nicht auf irgend einer Methode fufsenden Angaben 
von einigen meiner Versuchspersonen braucht die Qualitätsmitte 
nicht mit der Eindringlichkeitsmitte (und jede von diesen nicht 
mit der Kohärenzmitte) zusammen zu fallen, und auch die Hellig- 
keitsmitte liegt mitunter an einer anderen Stelle. Nach der Wahl 
der Kohärenzmethode konnte ich auf die Frage der Versuchs- 
personen, welche von diesen Mitten sie finden sollten, antworten : 
„Keine derselben! Sie sollen 2 Scheiben als Paar zusammen- 
fassen und „gleich" oder „unentschieden" urteilen, sobald dies 
auf beiden Seiten gleich leicht oder gleich schwer gelingt." 

Dafs die Bildung bestimmter Komplexe von Farben durch die 
Erfahrung des Lebens in verschiedenem Grade erleichtert wird, 
soll nicht bestritten werden. Doch einerseits sind auch die beiden 
anderen im vorstehenden besprochenen Methoden der Mitten- 
findung nicht frei von Erfahrungselementen, andererseits werden 
die Erfahrungen des Lebens, welche die kollektive Auffassung 
beeinflussen sollen, schwerlich gerade bei Farbenscheiben ge- 
sammelt worden sein, noch weniger gerade bei solchen, welche 
bezüglich ihrer Gröfse und ihres gegenseitigen Abstandes mit 
den bei meiner Versuchsanordnung benutzten Scheiben überein- 
stimmten. Da nun aber bei der Kohärenzmethode die Form 
der Komplexe eine grofse Rolle spielt und diese Form in der 
Erfahrung nicht häufig vorgekommen sein wird, so ist der Ein- 
flufs der Erfahrung des Lebens bei der Kohärenzmethode nicht 
allzugrofs. Wäre er so stark gewesen, dafs er den Versuchs- 
personen zum Bewufstsein gekommen wäre, so hätten sich unter 
den zahllosen Farben andere, zur Untersuchung geeignetere 
finden lassen müssen. 

Prinzipiell liegt femer die Möglichkeit vor, dafs ästhetisches 
Lustgefühl, welches sich an zwei Farben mit grofsem Unter- 
schiede knüpft, dahin wirkt, die kollektive Auffassung derselben 
zu begünstigen. Freilich mufs erst durch die Untersuchung selbst 
festgestellt werden, ob dieser Einflufs ästhetischer Lustgefühle 
auf den Kohärenzgrad verschiedener Farben auch dann bestehen 



86 Siegfined Jacohsohn. (f) 

bleibt, wenn die Versuchsperson unbekümmert um Lust oder 
Unlust sorgfältig die Kohärenz prüft. 

Das Kohärenzverfahren selbst zeigt verschiedene Arten der 
Anwendung. Bei dem unmittelbaren Verfahren kommt 
das Urteil mehr beim ersten Blick, nicht durch wiederholtes 
prüfendes Vergleichen der Kohärenzgrade beider Paare zustande. 
Beim ausprobierenden Verfahren kann man erstens so 
vorgehen, dafs man jedes Paar für sich gesondert betrachtet und 
die Leichtigkeit, mit der die Komplexbildung gelingt, direkt zum 
Mafsstabe der Beurteilung nimmt. Man kann aber auch nach 
Zusammenfassung des einen Paares zur dritten Scheibe hinüber- 
blicken, indem man darauf acht gibt, ob die mittlere Scheibe 
sich von selbst zur dritten gesellt, und dann die Gegenprobe 
machen, indem man nach Zusammenfassung des zweiten Paares 
zur ersten Scheibe hinüberblickt und abwartet, ob die mittlere 
auch zu dieser hinüberläuft., mit ihr ein einheitliches Paar bildend. 
Wie leicht und bald das Hinüberlaufen stattfindet, ist dabei von 
grofser Bedeutung. Bei dem ausprobierenden Verfahren kann 
man entweder alle drei Scheiben gleichzeitig sehen und immer 
nur zwei von ihnen hauptsächlich beachten, oder man kann sich 
so setzen, dafs man überhaupt nur zwei Scheiben auf einmal 
sieht und die Vergleichung somit nach der Erinnerung stattfindet.^ 

Das Hinüberlaufen der mittleren Scheibe zur dritten habe 
ich bei sehr kleinen Unterschieden, bei denen die kollektive Auf- 
fassung der mittleren Scheibe mit jeder der beiden Seitenscheiben 
sehr leicht von statten geht, stets beobachtet. Dagegen war bei 
sehr grofsen Unterschieden, bei denen es nur mit Mühe gelingt, 
zw^ei Scheiben zu einem Paare zusammenzuzwingen, von einem 
solchen freiwilligen Hinüberlaufen der mittleren Scheibe bei mir 
keine Rede. In diesen beiden extremen Fällen habe ich selbst 
bei der strengsten Anwendung des ausprobierenden Kohärenz- 
verfahrens einen Ruck in ähnlicher Weise, wie er bei der Methode 
der psychischen Rucke beschrieben wurde, verspürt, wenn ich 
nach Zusammenfassung des einen Paares zur dritten Scheibe 
hinüberblickte. Das mein Urteil Entscheidende war bei kleinen 
Unterschieden weniger die Leichtigkeit des Zusammenfassens je 

' Diese letzte Art der Vergleichung fand im Gegensatze zu den übrigen 
Versuchspersonen offenbar bei Ka. statt; denn Ka. gab an, das „Urteilen 
fällt mir am leichtesten, wenn ich mich so setze, dafs ich von den drei 
Scheiben immer nur zwei auf einmal sehe'*. 



übet' subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 87 

zweier Scheiben als nach der Zusammenfassung einerseits die 
Leichtigkeit, mit der sich die mittlere Scheibe zur dritten gesellte, 
und andererseits die Stärke des psychischen Ruckes, den ich beim 
Hinüberlaufen der mittleren Scheibe empfand. Bei sehr grofsen 
Unterschieden hingegen, die eintraten, als eine nicht auf den 
Seitenkreiseln befindliche Farbe bei Herstellung der s. M. mit 
verwendet wurde, war ich dadurch, dafs das Hinüberlaufen der 
mittleren Scheibe fortfiel, darauf beschränkt, den Ruck und die 
Leichtigkeit oder vielmehr Schwierigkeit, mit der die Komplex- 
bildung gelingt, zu beobachten. 

Wenn ich somit auch die Beurteilungsweise bei grofsen und 
bei kleinen Intervallen etwas verschieden fand, so bemerkte ich 
doch ebensowenig wie Ament ^ oder Angell eine Beurteilungs- 
weise nach Unterschieden und nach Verhältnissen, von der 
Merckel spricht. 

Um die Kohärenzmethode richtig anzuwenden, ist es nicht 
nötig, die schwierige Frage zu entscheiden, wie die Vergleichung 
der Kohärenzgrade zustande kommt. Die Leichtigkeit (Schnellig- 
keit ?; des Hinüberlaufens der mittleren Scheibe zur dritten sowie 
der psychische Ruck beim Hinübersehen zur dritten Scheibe ist 
schon erwähnt worden, vom absoluten Eindruck wird S. 206 die 
Rede sein. Dafs daä Urteil sehr schwierig ist, wenn diese Fak- 
toren unzuverlässig sind, werden wir S. 211 sehen. Wie es dann 
zustande kommt, möchte ich offen lassen, nur will ich darüber 
folgende Angabe der Versuchsperson Ka. erwähnen : „Das Urteil 
scheint nicht aus einem Vergleich über die Zusammenfafsbarkeit 
beider Seiten zu folgen, das wäre viel zu schwer, man urteilt 
gewissermafsen nach den Wörtern „schwer auf dieser, leicht auf 
jener Seite", oder vielmehr ich bilde mir keine Wortbezeich- 
nungen, aber man hat das Gefühl, dafs es dort schwer oder 
leicht war, und auf Grund dieses Gefühls urteile ich." 

Eine Kombination der unmittelbaren Kohärenzmethode mit 
der Methode der psychischen Rucke erwähnte der Beobachter A. 
Nach seiner am Schlüsse des Versuchszyklus gemachten Aussage 
wendete er (entgegen der Instruktion) fast immer, wenn er bei 
kollektiver Auffassung keinen Unterschied mehr finden konnte, 
noch die Methode der psychischen Rucke an. Dabei bemerkte 
er oft noch einen Unterschied. Wenn er dann wieder kollektiv 



» s. Philosophische Studien 16, S. 143. 



88 Siegfried Jacobsohn, (f) 

aufzufassen suchte, wurde ihm dieser Unterschied auch bei der 
Kohärenzmethode deutUch. „Welche Methode schUefshch den 
Ausschlag gab, war verschieden, es wurde so lange nicht „un- 
entschieden" geurteilt, so lange in einer der beiden Methoden 
noch ein Unterschied wahrgenommen wurde." Es ist beachtens- 
wert, dafs für A. nach seiner wiederholt abgegebenen Aussage 
die Methode der psychischen Rucke und das unmittelbare Ko- 
härenzverfahren zu den gleichen Resultaten führten. 

§ 15. Die Eindringlichkeit. 

Bei seinen Versuchen über die Schätzung von Schallinten- 
sitäten bemerkte Angell, dafs ein psychologischer Faktor, die 
Erwartung, einen derartig grofsen Einflufs auf das Urteil hatte, 
dafs es möglich war, „je nach dem Ausgangspunkte des mittleren 
Reizes geometrisches, arithmetisches oder ein sonstiges Mittel zu 
erhalten".^ Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es für die Be- 
urteilung des Wertes oder Unwertes einer psychologischen 
Experimentaluntersuchung ist, die das Urteil bestimmenden 
Faktoren zu kennen. Nachdem ich im voraufgehenden die 
Methoden der Mittenfindung, welche bei meinen Versuchen fest- 
gestellt wurden, besprochen habe, werde ich daher im folgenden 
die bei der Kohärenzmethode in Betracht -kommenden psycho- 
logischen und physiologischen Faktoren erwähnen. Ich beginne 
mit der Besprechung der Eindringlichkeit, weil diese auf die 
Lage der s. M. einen besonders grofsen Einflufs hat. 

Es zeigte sich bei meinen Versuchen, ebenso wie bei der 
FKÖBESschen Untersuchung, dafs die eindringlichste Farbenscheibe 
eine Tendenz hat, sich allein zu stellen.^ Manchen Versuchs- 
personen schien es sogar, als träte sie aus der Ebene, in welcher 
die drei Scheiben rotierten, heraus und deutlich näher an den 
Beobachter heran.* Ist die eine Seitenscheibe im Vergleich zur 

* 8. FhiUsophiBche Studien 7, S. 447. 

^ Entsprechend erklärte z. B. C. an einem Übungstage „Man kann 
kollektiv auffassen, wenn keine Scheibe die Aufmerksamkeit besonders auf 
sich zieht. Ist dies aber der Fall, so springt die betreffende Scheibe ge- 
wissermafseli heraus und läfst sich darum eben nicht mit der mittleren 
kollektiv auffassen". 

' M. erging es stets so, gelegentlich auch S. J. und Seh. bei Her- 
stellung von Unterschiedsgleichungen, sowie Ja. bei den Eindringlichkeits- 
bestimmungen. Ka.s Bemerkung bei den Eindringlichkeitsbestimmungen 
„die blaue Scheibe" (das ist die weniger eindringliche) „erscheint kleiner 
als die graue" gehört auch hierher. 



iJber subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades, 89 

anderen sehr eindringlich, so läfst sie sieh nur dann ebenso leicht 
wie diese mit der mittleren Scheibe zu einem Paare vereinigen, 
wenn die (aus beiden Seitenfarben zusammengesetzte) mittlere 
Scheibe verhältnismäfsig viel von der eindringlicheren Farbe 
enthält.^ Darin läge keine Schwierigkeit, wenn die Eindringlich- 
keit einer Farbe konstant bliebe, aber sie ändert sich leicht, nicht 
nur an den verschiedenen Versuchstagen-, sondern sogar im 
Laufe einer Sitzung^, ja während eines einzelnen Versuches. Sie 
kann nachlassen* durch Gewöhnung und zunehmen, z. B. durch 
Steigerung der Dunkeladaptation* im Laufe einer Sitzung oder 
dadurch, dafs es plötzlich auffällt, dafs sich die eine Seitenscheibe 



* So z. B. sagte C. anläfslich der Versuche über die Unterschieds- 
gleichung Rot und Orange „Beim Urteil „unentschieden" steht die mittlere 
Scheibe dem Orange näher als dem Kot, wenn man sich gleiche Stufen 
denkt, wohl weil das Orange durch seine Aufdringlichkeit sich 
besonders leicht heraushebt, man sieht dann unwillkürlich 
überhaupt nur das Orange". 

* So z. B. erklärte C. an einem Übungstage, an welchem er zum 
zweiten Male Unterschiedsgleichungen zwischen Grün und Grau t anstellte : 
^Die grüne Scheibe erscheint heute nicht so leuchtend, wie gestern." Bei 
den Versuchen über die Unterschiedsgleichung zwischen Rot und Orange 
sagte er am zweiten Versuchstage, das Orange ist heute „weniger auf- 
dringlich als gestern"; entsprechend benötigte er zur s. M. nur 119**,0 Orange 
am zweiten gegen 127°,9 Orange am ersten Versuchstage. 

* So z. B. sagte C. bei den Versuchen über die Unterschiedsgleichung 
zwischen Rot und Orange: „Nach einer längeren Pause scheint es (das 
Orange) mir mit einer ganz neuen Kraft ausgerüstet". Entsprechend 
brauchte er zur s. M. 132® Orange bei dem ersten Versuche nach einer 
Pause und nur 111® Orange bei dem letzten Versuche vor derselben. 

* So z. B. erklärte M. bei dem letzten Doppelversuche des ersten Ver- 
suchstages, welchen er den Experimenten über die Unterschiedsgleichung 
zwischen Karmin und Grau t widmete, es scheine ihm, als hätte das Rot 
im Laufe der Sitzung an Eindringlichkeit verloren. In der Tat hatte er 
auch bei den ersten 6 Versuchen im Durchschnitt 209®,8 Karmin zur s. M. 
benötigt, dagegen nur 182°,3 bei den letzten 2 Versuchen. 

* So z. B. erklärte Ka. bei der Mittenfindung zwischen Rot von der 
Helligkeit 83®! Weifs und Orange von der Helligkeit 179®,7 Weifs, dafs das 
Orange im Laufe der Versuchsstunde immer eindringlicher geworden sei. 
Er meinte daraus folgern zu können, dafs die mittlere Scheibe gegen Ende 
der Sitzung mehr Orange beim Urteil „unentschieden" enthalten habe als 
zu Anfang derselben. In der Tat war bei ihm der Orangegehalt der s. M. 
von durchschnittlich 120®,3 bei den ersten 6 Versuchen auf durchschnittlich 
130®,o bei den letzten 10 gestiegen. 



90 Siegfried Jacohsohn. (f) 

„viel stärker vom Hintergründe abhebt als die beiden anderen 
Scheiben" (C). 

Vor allem aber kann es geschehen, dafs statt derjenigen 
Seitenscheibe, welche an sich die gröfsere Eindringlichkeit besitzt, 
sich vielmehr diejenige von den übrigen absondert, deren quaü- 
tativer Unterschied von den beiden anderen Scheiben derart ist, 
dafs er sich auch im Namen der Farbe ausdrückt. Wenn z. B. 
zwei Scheiben rot sind, die dritte aber grün ist, so kann die 
grüne, selbst wenn sie an sich geringere Eindringlichkeit als die 
rote Seitenscheibe besitzt, sich doch dadurch, dafs sie durch ihre 
grüne Färbung in Gegensatz zu den beiden roten Scheiben tritt, 
von denselben absondern und eindringlicher als sie erscheinen.^ 
Im allgemeinen hängt es von dem Typus der Versuchsperson 
ab, ob die Kohärenzauffassung bei ihr mehr bestimmt wird durch 
diese auf Qualitätsunterschieden beruhende Eindringlichkeit oder 
durch die absolute Eindringlichkeit einer Farbe. Aber auch bei 
ein und derselben Versuchsperson zeigen sich Schwankungen, 
besonders wenn die sich in der Verschiedenheit des Namens 
ausdrückende qualitative Abweichung einer Farbe plötzlich 
zum Bewufötsein kommt.* Dieselbe kann allerdings durch Kon- 
trast hervorgerufen oder gesteigert sein, und man weifs, dafs 
darin eine Fehlerquelle liegt, die man möglichst vermeiden mufs. 
Aber der Simultankontrast läfst sich nicht vermeiden, denn er 
erreicht schon, gleich nachdem man die Augen geöffnet hat, sein 
Maximum^: und den Sukzessivkontrast, der infolge von Augen- 

* So z. B. gab S. J. bei den Versuchen über die Unterschiedsgleichung 
zwischen Karmin und Grau t an: „Die graue Scheibe tritt allein hervor, 
nicht weil sie gröfsere Eindringlichkeit hat — im Gegenteil, das Karmin 
ist wohl eindringlicher — sondern weil sie eine andere (nämlich grüne) 
Farbe als die beiden übrigen hat. Die Mitte mufs daher verhalt nismäfsig 
viel Grau enthalten." 

* So z. B. fiel Ka., als er bei den Versuchen über die ünterschieds- 
gleichung zwischen 360 » Karmin und (270 <> Grün Nr. 3 -f 9G<> Karmin) 
schon das Urteil abgegeben hatte, dafs der Kohärenzgrad auf beiden Seiten 
gleich sei, plötzlich die grüne Färbung der einen Seitenscheibe so sehr auf, 
dafs er sich genötigt sah, sein Urteil zurückzunehmen. Es tut hierbei 
nichts zur Sache, dafs nach Abgabe des Urteils niemals mehr eine Ände- 
rung in der Protokollierung desselben vorgenommen wurde. Dieses etwas 
rigorose Verfahren war eingeführt worden, um den Versuchspersonen einen 
Ansporn mehr zu andauernd sorgfältigster Prüfung vor Abgabe des Urteils 
zu geben. 

' 8. TscHERMAK, Ergebnisse der Physiologie, 2. Bd., 2. Abtlg., S. 748. 



Vber subjektive Mitten verschied, Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 91 

bewegungen eintritt, kann man durch möglichst kijrze Betrachtung 
der Scheiben zwar einschränken, aber nicht ganz vermeiden, er 
wird gerade dann am stärksten, wenn das Urteil ohnedies am 
schwierigsten ist, weil das Finden desselben dann am längsten 
dauert. 

Von Versuchspersonen mit starkem Farbensinn werden Unter- 
schiede in der QuaUtät der Farben mehr bemerkt werden als 
von wenig farbentüchtigen Beobachtern. Auch die Eindringlich- 
keit der bunten Farben wird bei jenen gröfser sein als bei diesen. 
Soll also eine Unterschiedsgleichung zwischen einer Farbe und 
einem Grau durch Mischung derselben hergestellt werden, so 
tritt bei einer Versuchsperson, deren Farbensinn entweder all- 
gemein oder bezüglich der in Betracht kommenden Farbe erhöht 
ist, zweierlei ein. Erstens gibt die betreffende Farbe der farbigen 
Seitenscheibe leicht eine hohe, sie isolierende Eindringlichkeit, 
und zweitens ruft sie auf der grauen Seitenscheibe leicht einen 
ungewöhnlich starken Kontrast hervor. Die Lage der s. M. ist 
dann verschieden, je nachdem die kollektive Auffassung der 
Versuchsperson mehr bestimmt wird dm-ch die quahtativen Unter- 
schiede der drei Scheiben oder durch die absolute Eindringlich- 
keit einer Farbe. 

Der Vollständigkeit halber sei gleich hinzugefügt, dafs bei 
farbentüchtigen Personen die Farbe gegenüber dem Grau ein 
gröfseres Mischungsgewicht^ als bei farbenuntüchtigen besitzt. 
Jene Versuchspersonen benötigen also für die s. M. eine geringere 
Gradzahl der betreffenden Farbe als diese. 

§ 16. Die Angleichung. 
In seiner mehrfach genannten Abhandlung schrieb Fröbes 
S. 374: „Einzig bei Rupp vertreten findet sich die sehr häufig 
wiederholte Aussage, dafs die mittlere Scheibe ihre Helligkeit 
zu ändern scheine, wenn sie mit der helleren oder dunkleren 
Randscheibe zusammengefafst werde." Eine Erklärung für diese 
Aussage gab Fröbes nicht, er schien gegen ihre Glaubwürdigkeit 
Bedenken zu hegen. Es kann jedoch an ihrer Richtigkeit nicht 
gezweifelt werden, nachdem bei meinen Versuchen C, Ka., M. 
und S. J. eine ähnUche Erscheinung oft und sehr deutlich be- 
obachtet haben. M. z. B. sagte bei den Versuchen zur Unter- 



' Die Definition des Mischungsgewichtes s. 6. 70. 



92 Siegfried Jacobsohn, (f) 

schiedsgleichung Karmin und Grau: „Wenn ich die mittlere 
Scheibe mit der roten zusammenfasse, erscheint sie deutlich röter, 
als wenn ich sie mit der anderen zusammenfasse," und bei der 
Herstellung der s. M. zwischen Karmin und Rotgelb: ,,Sehr 
stark ausgeprägt war hier, dafs die mittlere Scheibe rot erscheint, 
nur wenn ich sie mit der roten zusammenfasse, sonst merke ich 
die Rötlichkeit kaum." Ebenso erklärte unabhängig davon Ka.: 
„Die mittlere Scheibe erscheint bei zwei Zusammenfassungen 
verschieden, nicht als dieselbe Scheibe, sie scheint mehr von 
derjenigen Farbigkeit zu besitzen, mit der man sie zusammen- 
Mst." 

Diese Angleichung der mittleren Scheibe an die jeweils mit 
ihr zusammengefafste Seitenscheibe repräsentiert sich den Ver- 
suchspersonen als eine „Art psychischen Hineinsehens" (Ka.), 
bei sorgfältiger Prüfung, an der aufser mir Herr Dr. Rupp teil- 
nahm, erwies sie sich jedoch als eine physiologische Umstimmungs- 
erscheinung. Blickt man z. B. bei Versuchen über die Unter- 
schiedsgleichung zwischen Rot und Grau nach Zusammenfassung 
der beiden roten Scheiben auf das andere Paar, von dem die 
Seitenscheibe durch Kontrast grünUch aussieht, so fällt das 
negative grüne Nachbild der am meisten roten Scheibe auf die 
mittlere, ihre Rötlichkeit schwächend. Kleine Änderungen des 
Aussehens, die durch Blickschwankungen oder durch das Nach- 
lassen der Umstimmung entstehen, entziehen sich um so leichter 
der Wahrnehmung, als die Aufmerksamkeit nicht auf diese, 
sondern auf die Vergleichung der Kohärenz gerichtet ist. So 
entsteht der Eindruck, als pafste sich die mittlere Scheibe der 
grünen psychologisch, nicht aus physiologischen Gründen an, 
luid dieser Eindruck ist so stark, dafs eine Versuchsperson (Ka.), 
als ihr bei der entsprechenden Beobachtung die Erklärung der 
Angleichung aus negativen Nachbildern mit der Aufforderung 
gegeben wurde, die in Betracht kommende Fehlerquelle durch 
häufiges Augenschliefsen möglichst zu vermeiden, die Richtigkeit 
der Erklärung bestritt, bis auch sie sich davon überzeugte. 

Ist also die Angleichung eine Nachbilderscheinung, so mufs 
sie sich bei kurzer Betrachtung der Scheiben weniger als bei 
langer und bei dem unmittelbaren Kohärenzverfahren, wenn 
überhaupt, so doch weniger als bei dem ausprobierenden bemerk- 
bar machen. Deshalb bestimmte die Instruktion, dafs die Ver- 
suchspersonen die Scheiben nicht lange fixieren sollten, sondern, 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Ghund ihres Kohäre^izg^-ades. 93 

wenn sie viel Zeit zur Gewinnung eines Urteils brauchten, häufig 
die Augen schlössen. 

Dafs langes Fixieren sowohl die Entstehung starker Nachbilder be- 
günstigt als aach den Unterschied der beiden zusammengefafsten Scheiben 
verringert, wird gut durch eine Selbstbeobachtung illustriert, welche K. K. 
abgab, als durch Mischung von Karmin und Grau t die s. M. hergestellt 
werden sollte zwischen einer je 180^ Grau Nr. 4 und Karmin enthaltenden 
Scheibe und einer Scheibe, bei der sich das Karmin über alle 360® erstreckte. 
Er erklärte, indem er die drei Scheiben mit A, B und bezeichnete: 
„Fasse ich A und B zusammen, so erscheint mir bei längerer Betrachtung 
der Unterschied zwischen A und B sehr klein, so dafs ich schon das Urteil 
,.kleiner" auf Grund dieser beiden allein abzugeben bereit bin; das wird 
noch bestärkt, wenn ich nun plötzlich B und C ins Auge fasse, bei denen 
mir der Unterschied merklich gröfser zu sein scheint. Fasse ich dann 
aber B und C längere Zeit zusammen, so erscheint mir hier der Unter- 
schied ebenfalls sehr klein, dagegen erscheint mir nun der Unterschied 
zwischen A und B gröfser, so dafs ich das Urteil ,, kleiner" für B und C 
fällen könnte." Derartige Angaben, wie sie auch von S. J. vorliegen, er- 
klären sich gleichfalls physiologisch aus Umstimmung des Sehorgans, und 
zwar ist das Kleinerwerden des Unterschiedes bei längerer Betrachtung 
hervorgerufen durch Verbrauch der Sehstoffe (Ermüdung) und das Gröfser- 
erscheinen beim Hinübersehen zur dritten Scheibe durch negative Nach- 
bilder. 

Die Angleichung tritt bei dem ausprobierenden Kohärenz- 
verfahren, wenn die Versuchsperson nicht die Gegenprobe macht, 
nur auf einer Seite ein. Infolgedessen wird bei diesem Vorgehen 
die s. M., wenn sie durch Mischung der Seitenfarben hergestellt 
wird, zu wenig derjenigen Seitenfarbe angenähert, an welche die 
Angleichung der mittleren Scheibe stattfindet, oder anders aus- 
gedrückt, die s. M. liegt bei diesem Vorgehen derjenigen Seiten- 
farbe zu nahe, von welcher der Beobachter bei der kollektiven 
Auffassung mit der mittleren Scheibe ausgeht. Geht also der 
Beobachter bei der paarweisen Auffassung zweier Scheiben stets 
von demjenigen der beiden Paare aus, dessen Scheiben zu Anfang 
des Versuches den gröfseren Unterschied (die geringere Kohärenz) 
aufw^eisen, so liegt die s. M. der Seitenfarbe dieses Paares zu 
nahe, d. h. das Urteil „unentschieden" wird zu spät gefällt, so 
dafs sich bei dem auf- und absteigenden Verfahren die Urteile 
über die Lage der s. M. kreuzen. Geht andererseits der Be- 
obachter stets von demjenigen der beiden Paare aus, dessen 
Scheiben zu Anfang des Versuches den kleineren Farbenunter- 
schied zeigen, so liegt die s. M. der Seitenfarbe dieses Paares zu 
nahe, d. h. das Urteil „unentschieden" wird zu früh gefällt, und 



94 Siegfried Jacohsohn, (f) 

es tritt keine Kreuzung der Urteile ein. Um den Einflufs der 
Angleichung auf die Lage der s. M. einzuschränken, verlangte 
die Instruktion, dafs stets die Gegenprobe gemacht werde. 

§ 17. Die ästhetische Lust. 

Über den Einflufs ästhetischer Lust- und Unlustgefühle liegen 
von Seiten meiner Versuchspersonen nur wenige Selbstbeobach- 
tungen vor. 

Als ScH. an einem Übungstage Versuche über die Unter- 
schiedsgleichung zwischen Blau und Grau t anstellte, erklärte er 
es „liefs sich die mittlere, ziemlich blaue Scheibe mit der ent- 
schieden gelben^ leichter vereinigen als mit der blauen; die 
Farbenzusammenstellung mattblau- mattgelb erweckte starkes 
Wohlgefallen, am liebsten würde ich jemand ein Kleid davon 
kaufen^, während die blaue Seitenscheibe mir direkt ekelhaft 
war". Es wäre hiemach anzunehmen, dafs ästhetisches Lust- 
gefühl, welches sich an zwei in ihrer Farbigkeit sehr verschiedene 
Scheiben knüpft, die kollektive Auffassung derselben begünstigt. 
Um dies mit Sicherheit behaupten zu können, müfsten mehr 
Beobachtungen darüber vorliegen. Ich kann darüber nur noch 
zwei Angaben von S. J. mitteilen. 

Bei einem Versuche über die Unterschiedsgleichung zwischen 
Karmin und Grau t, bei dem der Karmingehalt der aus den 
beiden Seitenfarben zusammengesetzten mittleren Scheibe immer 
mehr verringert wurde, sagte S. J., als die mittlere Scheibe noch 
sehr viel Karrain enthielt und die graue Scheibe durch Kontrast 
grün aussah: „Diese Zusammenstellung des intensiven Grün mit 
dem intensiven Rot verursachte ein ästhetisches Lustgefühl und 
schien zu bewirken, dafs die beiden vollkommen disparaten 
Scheiben sich sehr leicht zusammenfassen hefsen, nicht schwerer 
als die beiden roten, welche letzteren gar keine Gefühle aus- 
lösten." Ganz sicher erschien S. J. diese Beobachtung nicht. 
Er urteilte deshalb an der betreffenden Stelle nicht „unent- 
schieden" und beobachtete bei der Verminderung des Karmin- 
gehaltes der mittleren Scheibe im Fortgange des Versuches 



* Die graue Seiten scheibe war durch Kontrast gelb. 

* Die Versuchsperson erinnerte sich nicht, diese Farbenzusammen- 
Stellung einmal gesehen zu haben, also lag kein bewufst assoziatives 
Moment vor. 



über tubjfktive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades, 95 

ästhetische Lust nicht mehr. Er empfand sie nur noch einmal, 
als die s. M. von Karmin und Grau t durch Mischung des 
Karmin und des Grau Nr. 4 in der Weise hergestellt wurde, 
dafs sich das Karmin der mittleren Scheibe auf Kosten des Grau 
Nr. 4 ausdehnte. Er sagte bei diesem Versuche : „Mit viel mehr 
ästhetischem Vergnügen betrachtete ich das Paar des tief ge- 
sättigten Rot und des reinen leuchtenden Weifs, ja das andere 
Paar war mir fast widerwärtig mit seinem schmutzigen Grau. 
Dennoch muTs ich sagen, dafs die Zusammenfassung der weifsen 
mit der grauen Scheibe, obwohl sie unangenehmer war, doch 
etwas leichter von statten ging als die der weifsen mit der roten, 
ich bemerkte dies besonders an dem Ruck beim Hinübersehen 
zur dritten Scheibe." 

(Schlufs folgt.) 



96 



Literaturbericht. 



w. V. Bechtebew. Die biologische Bedeatnng der Psyche and die Rolle der 
psychischen Auslese. Joum. f. Psychol. u. Neurol 5 (6), 212-234. 1905. 
Wir nennen ein Wesen beseelt, wenn seine Reaktionen „abhängig nicht 
so sehr von dem Charakter der den Organismus treffenden Wirkungen als 
vielmehr von inneren Anlassen und innerer Bearbeitung der äufseren Reize" 
sind. Nimmt man diese Definition an, so «gibt es in der Welt keine lebende 
Substanz ohne Psyche". Da die aktiven Erscheinungen jener inneren Be- 
arbeitung für diese charakteristisch sind, und diese selbst wieder für unsere 
eigene Psyche charakteristisch ist, so können wir „der aktiven Äufserungen 
der Organismen uns bedienen als Index für Grad und Qualität jener inneren 
Verarbeitung". Da wir „mit dem allmählichen Aufsteigen von niederen 
"Tierordnungen zu höheren im allgemeinen auch eine gröfsere Mannig- 
faltigkeit der Aktivität" konstatieren können, so schliefsen wir daraus, dafs 
damit „auch eine höhere Entwicklung der Psyche" Hand in Hand geht. 
Jedoch gilt dies nur dann, wenn wir als einen „allgemein gültigen Mafsstab 
für die Vervollkommnung der Artorganisation den Grad der Differenzierung 
und Entwicklung der Sinnes- und Bewegungsorgane" betrachten, womit 
— bei den Tieren mit Nervensystem — „der Grad der Konzentration des 
Nervensystems im Sinne einer stärkeren oder schwächeren Ausbildung des 
höchsten Zentralorgans" identisch ist. „Jede einzelne Art mufs also in 
ihrer historischen Entwicklung einen Parallelismus darstellen zwischen 
qualitativ-physischer Entfaltung im Sinne gröfserer oder geringerer Voll- 
kommenheit und qualitativer Entwicklung der psychischen Funktionen". 
In der Geschichte der Menschheit läfst dieser Parallelismus sich in der 
Tat nachweisen. 

Zur Erklärung der Tatsache, dafs wir „in der Tierwelt die Arten sich 
physisch und psychisch schrittweise vervollkommnen sehen, von den 
Protisten bis hinauf zum Menschen, sich vervollkommnen nicht im Sinne 
gröfserer Anpassungsfähigkeit, sondern im Sinne qualitativer Evolution, 
sich äufsernd in fortschreitender Differenzierung der Sinnes- und Bewegungs- 
organe und entsprechender psychischer Entfaltung", genügt die natürliche 
Zuchtwahl nicht. Dagegen ist die Übung ein Mittel, das einerseits zur 
Vervollkommnung der Sinnes- und Bewegungsorgane dient, andererseits 
teils dadurch, teils direkt fördernd auf die Entwicklung der Psyche ein- 
wirkt. Aber auch die Anpassung selbst als eine Folge der natürlichen 
Zuchtwahl ist nicht auf das physische Gebiet beschränkt. Der Farben- 



Liieraturbencht 97 

Wechsel und der Scheintod mancher Tiere sind Beispiele dafür, ,,dars die 
unmittelbare Einwirkung der Psyche auf die Sphäre des Körperlichen nicht 
ignoriert werden darf unter den Faktoren, die auf die Anpassung der Orga- 
nismen von Einflufs sind*'. Ferner finden sich ^^Anpassungen von Orga- 
nismen an die Bedingungen der umgebenden Natur, Anpassungen, denen 
bereits ein aktives Verhalten gegenüber der umgebenden AuTsenwelt, 
und zwar ein psychisch bedingtes zugrunde liegt", Anpassungen, die 
bestehen in einer „Ausnutzung der vorigen Versuche und individueller Wahl 
der Bewegung'*. „Aufser solcher aktiver Anpassung an die Bedingungen 
der Umgebung spielt in der Tierwelt eine grofse Rolle Modifikation der 
Bedingungen der Aufsenwelt im Interesse der eigenen Existenz bzw. ent- 
sprechend den Bedürfnissen der eigenen Organisation''. Spielt die 
physische Anpassung vielleicht im eigentlichen Kampfe ums Dasein, 
d. h. in „der Konkurrenz von Organismen mit anderen oder von ganzen 
ganzen Arten untereinander" die Hauptrolle, so ist die psychische An- 
passung, worunter die aktive Anpassung und die zweckmäfsige Modifikation 
der Verhältnisse der umgebenden Natur zu verstehen sind, jedenfalls aus- 
schlaggebend im Kampfe mit dem Milieu. Die Folge dieses Kampfes ist 
also eine psychische Zuchtwahl. Dafs die psychische Zuchtwahl das 
schliefsliche Resultat mehr als die natürliche Zuchtwahl bestimmt, zeigt 
das Beispiel des Menschen, der die Krone der Schöpfung ist, ohne doch 
„SLin vollkommensten ausgerüstet zu sein im physischen Kampfe mit seinen 
Feinden und den Schäden der Aufsenwelt". 

Selbstverständlich können die Ergebnisse der psychischen Zuchtwahl 
nur dann für die Artenvervollkommnung von Nutzen sein, wenn sie als 
dauernder Besitz an die Nachkommenschaft übergehen. Das geschieht 
durch Vererbung, wahrscheinlich auch erworbener Eigenschaften, und 
durch Erziehung, zum mindesten durch eine unvollkommene Form der 
Erziehung, die Nachahmung. Die psychische Vererbung spielt darum 
— besonders beim Menschen — eine so aufserordentliche Rolle, weil geistige 
Schöpfungen nicht nur den physischen Nachkommen zugute kommen, 
sondern zum Besitze ganzer Reihen von Generationen werden können. 

LiFMANK. 

Theodqr Lipps. BewQfstsela and Gegenstände. Psychol. Untersuchungen 

hrsg. von Th. Lipps 1 (1), 1—203. 1905. 
Wie bekannt, ist mit dem Ausdruck „Gegenstand" von Lipps auf eine 
eigenartige, in sich selbst rätselhafte Erscheinung hingewiesen, deren nach- 
drückliche Konstatierung zu den wertvollsten Besitztümern der Psychologie 
gehört. Gemeint ist die Tatsache, dafs mir, der ich mir doch nur meiner 
Bewufsteeinserlebnisse bewufst sein kann, in eben diesen Bewufstseins- 
erlebnissen Dinge entgegentreten, die sich gleichwohl als etwas von meinem 
Erleben völlig Unabhängiges darstellen und mit dem Anspruch auftreten, von 
mir in dieser Eigenschaft auch anerkannt zu werden. — Es handelt sich um eine 
Eweifellose psychologische Tatsache — ich habe das deutliche Bewufstsein, 
dafs die Lampe vor mir auf dem Tisch so gedacht werden mufs wie sie 
ist und nicht anders — ; aber es ist mit der Einsicht in diesen Sachverhalt auch 
«ine Gefahr nahe gelegt, welche für die Psychologie verhängnisvoll werden 

Zeitschrift für Psychologie 43. 7 



98 Literaturberidit 

könnte. Wenn die „Gegenst&nde'' als loegeldst von meinem Bewafsteein 
vor mir stehen nnd eelbBtherrlich die Art ihres Daseins „f ordern", so ist 
ftlr unser Welterkennen offenbar nichts weiter nOtig, als lediglich auf diese 
Forderungen zu horchen, sie in ein einheitliches System zu ordnen und 
Bchliefslich zu einer allgemeinsten, alle anderen umfassenden Forderung 
als dem letzten Sinn alles Seins oder dem tJ>^S ^'^ sich** zu gelangen. 
— L1FP8 nun hat diesen Weg betreten. Ist er an sich schon bedenklich, so 
müfste man ihn um so mehr meiden in einer Wissenschaft, die, in ihren 
Anfängen stehend, um ihre Daseinsberechtigung mflhsam noch zu ringen 
hat. Zur Kritik des in Frage stehenden Verfahrens sei hier so viel gesagt: 
Richtet etwas, das „Gegenstand" ist, an mich eine „Forderung", etwa die, 
es als rot zu denken, so ist das Bewufstseinsphftnomen freilich dies, dafs 
das Rot des Gegenstandes, obgleich nur von mir gedacht oder erlebt, 
gleichwohl an sich selber zu bestehen scheint; dies hindert aber nicht 
die tiefere Einsicht, dais der Gegenstand, der für mich Gegenstand ist, 
doch auch nur von mir und meinesgleichen fordert, ihn als rot zu denken, 
dafs also die Existenz des roten Gegenstandes ebensowohl durch mich 
als durch ihn selber bedingt ist Und wenn der Gegenstand beansprucht 
als wirklich gedacht zu werden, so fordert er auch dies nur unter der 
Voraussetzung eines denkenden Bewußtseins, d. h. die Wirklichkeit 
des Gegenstandes besteht ebenso wie seine Eigenschaft des Rot nur unter 
der gleichzeitigen Voraussetzung eines postulierten, aber gänzlich unbe- 
kannten Etwas und meines BewuTsteeins ; der Gegenstand ist, so wie er 
nur für mich Gegenstand ist, so auch nur für mich wirklich. — Wie 
man aber auch immer Stellung nehmen mag zu solch konstruktiver Meta- 
physik, auf jeden Fall wäre es, denke ich, gut, auf sie Verzicht zu tun, wo 
von psychologischen Problemen die Rede ist, und so wird man es auch 
entschuldigt finden, wenn wir uns an d i e s e r Stelle ausschliefslich mit dem 
psychologischen Teil der Abhandlung beschäftigen und den metaphysischen 
in den Hintergrund treten lassen. — 

Mehrfach hat Lipps seiner Theorie der Gegenstände schon Ausdruck 
verliehen, und vielleicht bringt dem gegenüber die vorliegende Abhandlung 
wenig Neues. Wohl findet der eine oder andere Punkt hier stärkere Be> 
tonung und eingehendere Begründung als bisher der Fall gewesen, auch 
scheint es, dafs in einigen untergeordneten Fragen Lipps zu einer von seiner 
bisherigen abweichenden Ansicht gelangt ist. Zum erstenmal aber unter- 
nimmt es der Verf. in dieser jüngsten Erscheinung, die Bedeutung der 
„Gegenstände'' im psychischen Leben in zusammenfassender Behandlung 
darzustellen und nachzuweisen, wie alle Entwicklung im intellektuellen und 
ethischen Sinn ein Aufsteigen ist zu bewu/sterem, umfassenderem Denken 
von „Gegenständen". — Im einzelnen bringen die 15 Abschnitte des Buches 
folgende Hauptgedanken. 

1. Kapitel. Bewufstseinserlebnisse und Inhalte. — Wenn ich ein Be- 
wufstseinserlebnis , etwa den Empfindungs- oder Vorstellungsinhalt Blau 
habe, so schlieüst dies zweierlei in sich: ich erlebe den Bewufstseinsinhalt, 
dieser selber aber (Blau) ist erlebt. Da ich auch vom Erleben des Be- 
wufstseinsinhaltes ein Bewufstsein habe, dieses somit ebenfalls Inhalt ist^ 



Literaturbericht. 99 

80 wird auch dieses Erleben erlebt. Aber für dieses Erlebtwerden wiederum 
ein ihm entgegenstehendes Erleben annehmen, würde eine endlose Reihe 
von Erlebnissen involvieren, so dafs wir uns bei der Tatsache beruhigen 
müssen, dafs unser Erleben (Fühlen, Tätigsein) stets zu gleicher Zeit Erleben 
nnd Erlebtwerden ist. Im Erleben ist nun stets auch das Ich enthalten, 
welches erlebt, und somit wird in allen BewuTstseinserlebnissen jederzeit 
auch das erlebende Ich selber erlebt, — nicht ein transzendentes, sondern 
das jedermann wohlbekannte Ich seines Bewufstseins. 

2. Kapitel. Das Denken und die Gegenstände. — Etwas höchst Sonder- 
bares begibt sich nun, wenn ich speziell auf den Inhalt des von mir 
Erlebten, z. B. auf das Blau „als solches" achte: das, was erst nur mein 
Erlebnis war, tritt mir jetzt gegenüber als etwas von mir Unabhängiges, 
als „Gegenstand'^ (Gegen-stand). In solcher Weise kann alles, was BewuTst- 
seinsinhalt ist, also das Erleben selber zum Gegenstand erhoben d. h. vom 
Erleben des Ich losgelöst werden. Der Wandel aber tritt ein, wenn ich 
mich dem Erlebten innerlich zuwende d. h. meine Aufmerksamkeit darauf 
lenke; steht mir dann der Gegenstand gegenüber, so ist nicht mehr von 
bloÜBem Erleben die Rede, sondern ich denke den Gegenstand. Jenes 
Sich-Zuwenden ist eine Tätigkeit, das Denken der Abschlufs derselben, 
nicht selber eigentliche Tätigkeit. Lipps bezeichnet es deshalb mit dem 
besonderen Namen eines Aktes; Akt und Tätigkeit aber verhalten sich 
zueinander wie Punkt und Linie. Die Zuwendung vollzieht sich allmäh- 
lich, der Gegenstand aber tritt mit einem Mal vor mich, einem Inhalt 
kann ich mich mehr oder weniger intensiv zuwenden, ein Gegenstand aber 
kann nicht mehr oder weniger gedacht sein. Jedoch wäre es verkehrt, 
von einer Umwandlung des Inhaltes in den Gegenstand zu reden, — da 
der Inhalt (Blau) nicht verschwindet, wenn ich den Gegenstand (Blau) 
denke — , sondern ich nehme, indem ich denke, aus dem Inhalt den Gegen- 
stand heraus, — der deshalb implizite schon vorher in ihm gelegen haben 
muTs. Dabei sind Inhalt und Gegenstand zunächst inhaltlich identisch, eine 
Verschiedenheit tritt erst ein, wenn ich etwa in meinem Bewufstsein das 
abgeblafste Bild einer Vorstellung habe, in diesem Vorstellungsbild aber 
den früher wahrgenommenen Gegenstand denke. Aber deswegen sind doch 
für mich Inhalt und Gegenstand nicht numerisch auseinandergerückt: 
ich weifs nur von dem einen Blau, welches ich in dem Inhalt meiner 
Empfindung oder Vorstellung denke. — 

Hierzu nun möchte ich folgende Bemerkungen machen. Wenn der Ver- 
gleich mit der Linie und dem Punkt richtig ist, dann wäre zu bedenken, 
dafis der Punkt in jedem Teil der Linie vorhanden ist, somit auch das 
Denken schon in jedem Teil der Zuwendung enthalten sein mufs. Es will 
mir scheinen, als ob die scharfe Grenze zwischen dem Beachten (des blofs 
Erlebten) und dem Denken (des „Gegenstandes'') in Wahrheit nicht besteht, 
daXis ich vielmehr, wenn ich auf „das Blau als solches'' oder „das Blau 
selbst achte, eben damit schon auf den Gegenstand achte (sprachlich 
liegt dies in den Wörtchen „selbst" oder „als solches"). Wenn ich auf 
irgend ein Erlebnis meine Aufmerksamkeit lenke, so übe ich damit eine 
Tätigkeit aus; da es aber keine Tätigkeit gibt — wie der weitere Verlauf 

7* 



1 00 LiteratuA-berich t. 

der Abhandlung zeigt — , die nicht durch einen „Gegenstand" gefordert 
wäre, mag mir dieser selber auch nicht zu BewuTstsein kommen, so trete 
ich dem „Gegenstand" schon gegenüber, wenn und indem ich die Aufmerk- 
samkeit auf ihn lenke. Und er tritt meinem Bewufstsein deutlicher und 
bestimmter als Gegenstand d. h. als von mir unabhängig gegenüber, in dem 
Mafse als ich mich ihm zuwende. Danach hätte es also zwar keinen Sinn 
zu sagen, dafs der Gegenstand durch die Zuwendung in höherem Grade 
Gegenstand wird, aber es scheint Tatsache, dafs er durch die Zuwendung 
für mein Bewufstsein allmählich entschiedener als Gegenstand vor mein 
inneres Auge tritt. Gleichwohl fallen die Begriffe Denken und Beachten 
nicht in eines zusammen. Das Beachten bezeichnet den allmählichen Fort- 
gang zu gröfserer Bewufstheit, das Denken das Bezogensein auf den Gegen- 
stand mit dem Grad von Bewufstheit, den ich im jeweiligen Moment erreicht 
habe, Beachten ist Tätigkeit und Bewegung, Denken ein Zustand und Buhe- 
punkt. 

3. Kapitel. Inhalt und Gegenstand. „Wahrnehmung" und „Vorstellung". 
— Der erste Teil dürfte kaum etwas Neues hinzufügen zu dem schon im 
Leitfaden Gesagten : Der Gegenstand wird „repräsentiert" durch den Inhalt, 
der zu ihm in symbolischer Beziehung steht. — Nicht jeder Inhalt reprä- 
sentiert einen Gegenstand, aber ein Gegenstand kann nicht ohne Inhalt 
gedacht werden, gleichviel wie dieser Inhalt beschaffen sei. — Der zweite 
Teil der Überschrift bezieht sich auf eine kritische Betrachtung der Begriffe 
Wahrnehmung und Vorstellung. Lipps unterscheidet drei verschiedene 
Arten möglicher und üblicher Anwendung derselben, wonach wir sagen, 
dafs wir einen Inhalt oder einen „Gegenstand" oder etwas Wirk- 
liches wahrnehmen bzw. vorstellen (vgl. Leitfaden S. 55). 

4. Kapitel. Die innere Wahrnehmung und die Identität des Ich. — 
Die innere Wahrnehmung besteht darin, dafs ich mein eigenes Erleben zum 
Gegenstand meines Denkens mache. Diese innere Wahrnehmung also ist 
jederzeit ein Denken und sie ist jederzeit das Denken von einem wirklich 
Existierenden, d. h. mein früheres Erleben besteht unabhängig davon, ob 
ich es jetzt denke oder nicht (2. u. 3. Moment der Wahrnehmung im oben 
angegebenen Sinn). Sie ist aber nie das Denken von einem gleichzeitig 
Existierenden, sondern nur möglich in der rückschauenden Betrachtang. 
Denn fühle ich z. B. Lust an einer Sache, so fühle ich sie eben nur so 
lange, als ich die Sache mir gegenwärtige halte, und sie verschwindet, 
sowie ich meine Aufmerksamkeit von der Sache weg auf irgend einen 
anderen Gegenstand, z. B mein Lustgefühl hinlenke. Auch die unmittelbar 
rückschauende Selbstbetrachtung ist rückschauend, ist Erinnerung, nur 
dafs die Erinnerung hier nicht längst Entschwundenes zurückruft, sondern 
Erlebnisse, die eben im Entschwinden begriffen sind, weiter festhält. — Da 
in aller inneren Wahrnehmung meinem gegenwärtigen Ich das Ich eines 
vergangenen Momentes entgegentritt und beide miteinander identisch sind, 
so erlebe ich offenbar das gegenwärtige Ich im vergangenen und das ver- 
gangene im gegenwärtigen. Es besteht sonach die Tendenz des vorgestellten 
vergangenen Erlebnisses zum erneuten gegenwärtigen zu werden und die 
Tendenz verwirklicht sich in dem Mafse, als ich mein vergangenes Ich 
denke und denkend betrachte (S. 47). 



Literaturbericht. 101 

Zunächst fällt auf, daTs Lipps hiermit seine eigene Behauptung wieder 
umstölst, nach der es eine Intensitätsabstufung des Denkens nicht geben 
soll. Noch mehr aber fällt der eigenartige Widerspruch auf, der darin 
liegt, dafs das ,,Denken und denkende Betrachten" (als entgegengesetzt 
dem tatsächlichen Erleben) darin gipfeln soll, in sein Gegenteil, ins wirk- 
liche Erleben umzuschlagen und damit sich selbst zu vernichten. — Ich 
denke, der Widerspruch löst sich, wenn wir den Begriff der inneren Wahr- 
nehmung ändern und anerkennen, dafs sie keineswegs immer ein deut- 
liches „Denken" ist, sondern ebensowohl auch in dem vorwiegenden Haben 
eines Vorstellungsinhaltes bestehen kann. Während ich etwa jetzt bei 
meiner Arbeit sitze, schiefst mir plötzlich die Erinnerung an irgend eine 
Gefühlslage durch den Kopf, in der ich mich früher einmal befunden, aber 
ich achte nicht darauf und das Erlebnis wird nicht zum „Gegenstand": 
d. h. ich komme nicht oder nur undeutlich zu dem Bewufstsein eines 
von meinem jetzigen Erleben unabhängigen Etwas. Nicht minder scheint 
auch der Begriff der Wirklichkeit als Eigenschaft des innerlich Wahr- 
genommenen unhaltbar zu sein; oder vielmehr der Ausdruck innere 
Wahrnehmung ist nicht eben glücklich gewählt, sofern er alles Nicht- 
wirkliche, alle Phantasievorstellungen von vornherein ausscheidet. Viel- 
leicht wäre es besser, statt dessen von Selbst vor Stellungen im allgemeinen 
und des näheren von Selbsterinnerungen und Selbstphantasievorstellungen 
zu sprechen. 

5. Kapitel. Das Urteil. Die Deukbarkeitsurteile. — Indem ich den 
Gegenstand denke, habe ich zunächst nur das Bewufstsein, dafs mir etwas 
gegenüberstehe, nicht aber was dasselbe sei. Die apperzeptive Tätigkeit 
nun, die an das „Denken" sich reiht, zielt auf eben dieses Was des Gegen- 
standes und findet einen vorläufigen Abschlufs, wenn ich das Bewufstsein 
gewinne, dafs der Gegenstand als dieser oder jener zu gelten beanspruche. 
Dieses Geltungsbewufstsein ist ein Urteil, der Geltungsanspruch des Gegen- 
standes eine „Forderung". Zu der Forderung aber kann ich verschieden 
Stellung nehmen : entweder anerkennend oder ablehnend. Damit nun fälle 
ich wieder ein Urteil, nur in einem anderen Sinn als dem eben gebrauchten : 
mein Urteil jetzt ist die Anerkennung, welche ich der Gegenstands- 
forderung zuteil werden lasse. — Die Forderungen und damit die Urteile 
im erstgenannten Sinn sind jederzeit gültig, die Begriffe Wahr und Falsch 
sind nur anwendbar auf das Urteil in der zweiten Bedeutung des Wortes. — 
Wenn ich von einem kreisförmigen Quadrat rede, so meine ich etwas, habe 
also einen Gegenstand vor mir, soweit es auf mein eigenes Denken ankommt; 
aber dieser Gegenstand verbietet mir, ihn zu denken, d. h. er ist undenkbar. 
Hiervon zu unterscheiden ist der Fall, wo der Wirklichkeitszusammenhang 
es ausschliefst den Gregenstand zu denken. Auf diesen Unterschied gründet 
sich die Unterscheidung der (qualitativen oder) apriorischen und der 
empirischen Möglichkeits- und Unmöglichkeitsurteile. 

6. Kapitel. Urteile über Gegenstände. — Wenn ich einen „Gegenstand" 
„denke", so bedeutet dies einmal, dafs ich einem von mir unabhängigen, 
von mir geschiedenen Etwas gegenüberstehe, und zweitens, dafs ich zu 
demselben in Beziehung trete, eben indem ich es denkend erfasse. Nach 



102 LiteraturbericJit 

diesen beiden Richtungen seiner Daseinsweise stellt der Gegenstand Forde- 
rungen an mich, logische und affektive. Die affektive Forderung besteht 
darin, dafs der Gegenstand eine quantitativ und qualitativ bestimmte Auf- 
fassungstätigkeit von mir verlangt; das Bewufstsein dieser Forderung ist 
WertbewuTstsein, die Anerkennung derselben ein Werturteil. Ein solches 
Urteil aber kann ich vollziehen, ohne daCs der Gegenstand überhaupt 
forderte, als wirklich gedacht zu werden (z. B. Phantasiegegenstände). Eine 
logische Forderung andererseits ist es, wenn der Gegenstand fordert, als 
wirklich zu gelten d. h. gedacht zu werden; die Anerkennung dieser 
Forderung ist ein Ezistenzial- oder Wirklichkeitsurteil. Neben die Existenzial- 
urteile aber treten nun noch als weitere Hauptgruppen von Verstandes- 
urteilen die Urteile über objektive Zusammenhänge („der Baum steht neben 
dem Haus") und über Verhältnisse unter der Voraussetzung simultaner 
Setzung (Gleichheit usw.), wozu auch die Zahlenurteile gehören. — Es ist 
dies die nämliche Einteilung, die wir auch im „Leitfaden" antreffen. Doch 
ist beachtenswert, daCs Lipps die Urteile über räumliche Beziehung dort 
unter die „reinen Relationsurteile" (= unserer 3. Klasse), hier aber augen- 
scheinlich unter die Urteile über objektive Zusammengehörigkeit zählt. 
Und in der Tat, was sollte auch das Kriterion bilden, wonach wir die 
beiden Klassen auseinander halten sollen? 

7. Kapitel. Die „Forderungen" der Gegenstände. — Gegenstände und 
ebenso die Forderungen der Gegenstände sind nichts i n mir, sind keine 
psychologischen Tatsachen, und können somit auch nichts in mir wirken. 
Es mag sein, dafs ich beim Forderungserlebnis einer Nötigung unterliege, 
aber diese Nötigung ist nicht die Forderung, welche vielmehr eine Bewufst- 
seinstatsache völlig sui generis ist. Die Forderung ist nicht selber Gegen- 
stand, auch nicht Teilgegenstand, sondern etwas am Gegenstand. Sie ist 
ein Ruf, der vom Gegenstand in mich hineindringt und den ich erlebe, 
wenn ich auf ihn höre. Die Forderung wird sonach erlebt, während ich 
den Gegenstand denke. — Zu trennen von den übrigen Forderungen der 
Gegenstände sind die Forderungen von Verhältnissen simultan gedachter 
Gegenstände und von Anzahlen, welche nicht den Gegenständen als solchen 
anhaften, sondern nur sofern sie in bestimmter Weise (nämlich simultan) 
gedacht werden. 

8. Kapitel. Erkenntnistheoretisches. — Gregenstände, die wirklich sind, 
zeichnen sich dadurch aus, daCs ihre Forderungen schlechthin gelten, also 
kategorisch sind ; dagegen sind die Forderungen von Gegenständen, welche 
ich willkürlich denke, gültig nur unter der Bedingung, dafs ich sie denke. 
Alle sittlichen Forderungen sind kategorischer Art; die Verstandes- 
forderungen dagegen können, aber müssen nicht kategorisch sein. Sie 
sind es nicht, wenn der Gegenstand nicht fordert, dafs ich ihn denke, oder 
wenn die Forderung des Gegenstandes nur gilt unter der Voraussetzung, 
dafs ich ihn — willkürlich — in bestimmter Weise denke, d. h. in allen 
Urteilen über Zahl und Verhältnis (wenn subjektiv bedingt). — Die 
Forderung etwa, die Winkelsumme im Dreieck = 2 Rechten zu denken, 
ist kategorisch, falls ich ein Dreieck denke; sie ist aber blofs hypothetisch, 
solange es nicht ausgemacht ist, dafs es in der Welt der Gegenstände 



Literatnrbericht. 103 

Dreiecke überhaupt gibt. Dieaem Beispiel, welches Lipfs gebraucht, dürfen 
wir wohl folgendes andere entgegenstellen: die Forderung, keinem Wesen, 
welches fühlt wie ich, ein Leids anzutun, ist kategorisch, falls und 
soweit ich Wesen als fühlend denke, d. h. soweit ich mich in dieselben 
„einfühle^; sie ist aber hypothetisch im gleichen Sinn wie die Forderung 
des Dreiecks, wenn es m()glich ist, dafs es Wesen, die mit Gefühl begabt 
wären, überhaupt nicht gibt. — Es scheint, dafs die Ausnahmestellung, 
welche Lippb den sittlichen Forderungen einräumen will, nicht ganz hin- 
länglich gerechtfertigt ist. 

9. Kapitel. Das qualitative oder Adäquatheitsurteil. — Indem ich die 
Forderung des Gegenstandes erlebe, fühle ich den Drang, das Geforderte 
auch wirklich zu erfüllen; stellt sich dem aber ein Hindernis entgegen, so 
geht die Erfüllungstendenz über in ein deutliches Streben. Das nun, 
worauf die Forderung abzielt, ist zunächst die Anerkennung derselben. Aber 
sie reicht zweifellos noch weiter. Wenn etwa ein Kunstwerk Forderungen 
an mich stellt, so erfQlle ich diese Forderungen noch nicht vollständig, 
wenn ich sie blofs anerkenne, sondern erst, wenn ich die Wertung tat- 
sächlich vollziehe, d. h. das Kunstwerk geniefse. Das gleiche gilt von 
den Terstandesurteilen. Eine Kose etwa fordert, durch ein irgendwie 
geartetes Rot genau bestimmt zu sein. Dann erfülle ich die Forderung der 
Rose noch nicht vollständig, wenn ich diese Forderung lediglich anerkenne, 
sondern erst, wenn ich dieses bestimmte Rot auch wirklich erlebe, sei es 
wahrnehme oder adäquat d. h. der ehemaligen Wahrnehmung entsprechend 
vorstelle. In solcher Weise schliefsen alle logischen und affektiven Forde- 
rungen dies ein, dafs ich den fordernden Gegenstand, von anderem ab- 
gesehen, als einen qualitativ bestimmten gelten lasse. Die An- 
erkennung dieser Forderung nennt Lipps ein qualitatives oder Adäquatheits- 
urteil. 

10. Kapitel. Streben und Tätigkeit. Der Forderung des Gegenstandes 
entspricht auf psychologischer Seite ein Streben nach Erfüllung. Umgekehrt 
setzt alles Streben eine Gegenstandsforderung voraus. Auch das unbewufste 
Streben, die Triebäufserung, ist gerichtet auf etwas, setzt sonach einen 
„Gegenstand" voraus, der mir freilich in diesem Falle nicht bewufst ist. 
Das Streben ist sonach das Ergebnis einer Kooperation, die zwischen einer 
Gegenstandsforderung und mir, d. h. meinen subjektiven Bestimmtheiten, 
stattfindet. — Gegenstand des Strebens (Zielgegenstand) ist das {^rieben 
einer Forderung; alles Streben zielt von einer gedachten Forderung (z. B. 
dafs morgen schönes Wetter sei) auf ein Erleben derselben. — Obgleich 
nun aber jedes Streben in einer Gegenstandsforderung begründet ist, so 
ist darum doch nicht jedes Streben objektiv begründet, da die Forderungen 
sowohl kategorisch als auch hypothetisch sein können, in letzterem Falle 
aber willkürlich von mir gedacht sind. 

11. Kapitel. Die Tätigkeit und ihre Stufen. — Im Streben liegt nun 
bereits der Keim zu einem weiteren BewuTstseinserlebnis , zur Tätigkeit. 
Das Streben ist ein Zielen oder Gerichtetsein im jeweiligen Moment; in 
der Tätigkeit wird es zur Bewegung, zu einem Hinausgehen über diesen 
Moment. Aber doch ist wieder an jedem Punkte der Tätigkeit das Streben 



104 Literaturbericht 

vorhanden. Es verhalten sich die beiden Erlebnisse zueinander wie der 
Punkt zur Linie oder wie der Akt zur eigentlichen Tätigkeit, die mit einem 
Akt einsetzt und abschliefst. — Wie das Streben, so kann auch die Tätigkeit 
zielbliud, sonach eine Triebtätigkeit sein, ja es setzt sogar jede zielbewufste 
Tätigkeit voraus, dafs ihr Ziel vorher als Erfolg einer Triebtätigkeit gegeben 
war. — Wird dem Streben in seiner Entfaltung zur Tätigkeit Halt geboten 
(z. B. : ich kann nichts dazu tun, dafs morgen wirklich schönes Wetter ist), 
so bleibt es beim nackten Streben oder Wünschen. — Da es keine Betätigung 
des Ich gibt ohne Gegenstand, so gibt es auch keine Betätigung ohne jene 
Kooperation des Ich mit dem Gegenstand. Im Trieb bildet sie noch eine 
ungeschiedene Einheit; aber diese Einheit löst sich, wenn ich mir des 
Gegenstandes bewufst werde. Es treten einander alsdann gegenüber das 
Bewufstsein meiner eigenen Tätigkeit und der Forderung des Gegenstandes. 
Dabei sind unendlich viele Stufen möglich von der gänzlich und weiterhin 
der relativ zielblinden zur völlig bewufsten Tätigkeit, die rein auf die 
Forderung des Gegenstandes hört. 

12. Kapitel. Fortsetzung. Stadien der Tätigkeit. — Der gleiche Fort- 
gang von zielblinder zu zlelbewufster Tätigkeit wiederholt sich innerhalb 
der verschiedenen Stadien der Tätigkeit. Wir finden ihn für*s erste in der 
einfachen Auffassungstätigkeit, da ich mich einem mir unbewufst Gegen- 
überstehenden zuwende und dieses schliefslich bewufst denke als Gegen- 
stand. Er kehrt wieder in der nun folgenden Apperzeptionstätigkeit, da 
ich den Gegenstand befrage nach seinen mir noch unbewufsten Forderungen, 
um diese schliefslich im Urteil bewufst anzuerkennen. Ist die Apperzeptions- 
tätigkeit einmal vollzogen, so kann sie dann fernerhin auch zielbewufst von 
statten gehen. — Ein weiterer Schritt ist es, wenn ich danach strebe, die 
Forderung des Gegenstandes ganz zu erfüllen, im vollen Erleben. ZielbUnd 
aber ist mein Urteilen auch dann noch, wenn ich die Forderung des Gegen- 
standes lediglich anerkenne, ohne sie gegen alle mit ihr konkurrierenden 
Forderungen abzuwägen: völlig sehend ist erst der — wertende oder in- 
tellektuelle — Entscheid. So fordert etwa die kleine Mondscheibe, von mir 
als wirklich gedacht zu werden, astronomische Tatsachen aber verbieten 
es. Was verboten wird, ist nicht die Forderung der kleinen Mondscheibe, 
sondern meine Anerkennung derselben. Folge ich dem Verbot, so fälle ich 
ein negatives Urteil, welches eine Beurteilung meines Wirklichkeitsurteils 
ist. Diesem negativen Urteil entspricht ein affirmatives, in dem ich urteile, 
— nicht, dafs ein Gegenstand wirlich ist — , sondern dafs mein Wirklichkeits- 
urteil sich endgültig bestätigt. Damit ist zugleich eine eigene Klasse von 
Urteilen bezeichnet. — Was sonach über die Wirklichkeit, d. h. die Forderung 
des Gedachtwerdens entscheidet, ist m e i n e Beurteilung, mein Bewufstsein ; 
und mein Bewufstsein entscheidet auch über die Rangordnung der Werte 
und Zwecke. Grundgesetz meines denkenden Bewufstseins aber ist der 
Satz vom Widerspruch, der letzten Endes auf der Identität des Ich beruht; 
wollte ein und dasselbe Ich zwei entgegengesetzte Denkakte vollziehen, so 
müfste es offenbar mit sich selber in Widerspruch geraten. Andererseits 
aber entscheiden nun doch wieder die Gesetze der Wirklichkeit über die 
Wirklichkeit — , so dafs ein sonderbarer Widerspruch sich ergibt, dessen 
Lösung Lipps auf metaphysischem Wege sucht. — Die Einsicht in diesen 



Literaturberichi. 105 

Sachverhalt nun bezeichnet wieder einen Fortschritt in der Richtung auf 
klarer sehende Erkenntnis, ebenso wie schliefslich das Bewufstsein, dafs 
Gegenstand meines Strebens nicht die Gegenstände als solche sind, sondern 
irgend eine lustvoUe Betätigung meiner selbst, zu der sie mir Anlafs geben. 

13. Kapitel. Die „körperliche" Tätigkeit. — Von Gegenständen bzw. 
den Inhalten, in welchen sie gegeben sind, nimmt alle Tätigkeit ihren 
Ausgang, nicht nur die Tätigkeit der ,. Auffassung" und die daran sich 
knüpfenden Akte und Tätigkeiten, sondern auch die sog. ,, körperliche'' 
Tätigkeit. Da es in der Körperwelt nur Vorgänge , Tätigkeiten nur im 
Bewurstsein, im Ich gibt, so bezeichnet der Ausdruck etwas völlig Wider- 
sinniges, solange er wörtlich genommen wird. Tatsache ist, dafs ich mich 
tätig fühle und gleichzeitig körperliche Vorgänge wahrnehme, beides in 
einem Akt des Erlebens, so dafs mein Tätigkeitsgefühl aufs innigste an 
die körperlichen Vorgänge gebunden erscheint. — Auch bei der körper- 
lichen Tätigkeit beobachten wir den Fortgang von blinder zu zielbewufster 
Tätigkeit: erst mufs ich den Erfolg überhaupt erlebt haben, um ihn dann 
bewufst aufsuchen zu können. 

14. Kapitel. Die Tätigkeit und die Gefühle. Bei allem Streben schwebt 
mir etwas Lustvolles vor; aber doch ist das, wonach ich bewufst strebe, 
nicht eine Lust, sondern irgend ein Gegenstand. Die Lust, sowie die 
anderen Gefühle (wenn man den Begriff einschränkt auf Bewufstseins- 
erlebnisse, in deren Natur es liegt, lust- oder unlustgefärbt zu sein) sind 
Färbungen des Tätigkeitsgefühles, das ich angesichts des Gegenstandes 
habe ; das Tätigkeitsgefühl selber aber ist das Grundgef tihl. Im Fortschritt 
von der Wertung des Gegenstandes und vom Gegenstandsgefühl zur Wertung 
meiner Tätigkeit und meines Selbstgefühls ist nun abermals ein Fortschritt 
in der Richtung auf vollkommenere Bewufstheit enthalten. 

15. Kapitel. Vom Zusammenhang des Bewufstseinslebens. — Wie der 
Verlauf der Untersuchung gezeigt hat, findet ein beständiger Wechsel statt 
im Bewufstseinsleben, der darin besteht, dafs ich mich einem Gegenstand 
erst innerlich zuwende, ihn dann denke, befrage, urteile, neuerdings frage usw. 
Dieser Wechsel bedeutet ein eigenartiges psychologisches Phänomen, das 
wir bezeichnen, indem wir sagen: die einzelnen Erlebnisse „gehen aus- 
einander hervor", sind durcheinander „bedingt", „motiviert" usw. In dieser 
Art der Aufeinanderfolge aber bilden die psychischen Ereignisse einen 
Zusammenhang, der mit nichts vergleichlich, insbesondere nicht vergleichlich 
ist mit dem Zusammenhang der Dinge in der Aufsenwelt: in dieser gibt 
es kein Bedingtsein, keine Abhängigkeit, nur zeitliche Folge und nichts 
weiter. Prakdtl (Weiden). 

£. H. Hollands. Wandt 8 Doctrine of Psychical Analysls. Amer. Joum, of 
Fsychology 1« (4), S. 499-518, 1905 u. 17 (2), S. 206-226. 1906. 
Die Abhandlung erwähnt amerikanische Kritiken, die an verschiedenen 
Lehren Wundts ausgeübt worden sind. Es wird diskutiert: ob das Gefühl 
spezielle Formen der Empfindung darstellt oder etwas davon elementar 
Verschiedenes, etwas für sich bestehendes sei, ob Klarheit ein Attribut der 
Empfindung, ob Lust-Unlust nur Richtungswerte der Gefühle und nicht 
vielmehr Gefühlsattribute sind; weiter die Zurückführung der Gefühls- 



106 Literaturbericht. 

einheit auf die Tatsache der apperseptiven Beaktion. Verf. unternimmt es, 
aus der gesammelten Produktion Wüvdts eine Darstellung seiner jetsigen 
Theorie von der Analyse und den Psychischen Elementen zu geben. 

In der zweiten Arbeit richtet sich die Nachprüfung auf die Gefühle und 
Gefühlsanalyse. H. zeigt auch für die hierhergehörigen Begriffe, indem er 
die Schriften Wcndts nach ihrer chronologischen Beihenfolge vornimmt, 
dafs eine gewisse Schwankung in ihrer Bestimmung besteht. Besondere 
Aufmerksamkeit wird darauf gewendet, aus Wundts verschiedenen Aussagen 
herauszuanalysieren, was W. unter subjektiv versteht, ein Wort, das bei 
W. das Hauptattribut der Gefühle bezeichnet. Aall (Halle). 

R. M. YsRKEs. inimal Psycbology aid Criteria of the PsycMe. Journal of 
PhUos., Psychol, and Scient Methods 2 (6). 141—149. 1905. 

Gegenüber denjenigen, die einem tierischen Seelenleben allzu skeptisch 
gegenüberstehen, betont Y. zunächst, dafs zwischen der Überzeugung von 
dem Vorhandensein eines psychischen Lebens in fremden menschlichen 
Individuen und der entsprechenden Annahme in bezug auf die Tiere kein 
prinzipieller Unterschied sein könne. Vom einen, wie vom anderen haben 
wir keine direkte Erkenntnis, sondern wir erschliefsen sie aus indirekten 
Zeichen oder Kriterien. Die wichtigsten dieser indirekten Kriterien eines 
seelischen Lebens werden dann vom Verf. in systematischer Ordnung dar- 
gestellt. Er zählt deren sechs auf, die in die zwei Gruppen der „strukturalen" 
und „funktionalen^' zerfallen. Mit Bezug auf die Struktur richten wir uns, 
wenn wir einem Körper seelisches Leben zuschreiben, danach, ob er (1) 
sich als Organismus darstellt, ob er (2) ein Nervensystem besitzt, sowie f3) 
nach der Entwicklungsstufe und Differenzierung dieses Nervensystems. In 
funktioneller Hinsicht fragen wir, ob das betreffende Wesen auf Reize 
reagiert („discrimination'^), ob die Art seiner Beaktion durch Erfahrungen 
modifizierbar ist (ob es die Fähigkeit besitzt, durch Erfahrungen zu lernen), 
endlich ob diese Reaktionen nach bestimmten Zwecken geregelt erscheinen 
(„initiative"). 

Mit Recht wendet sich Y. gegen die Art und Weise mancher Tier- 
psychologen, die „Beiehrbarkeit durch Erfahrungen" als einziges Kenn- 
zeichen des seelischen' Lebens bei Tieren zu verwenden und im besonderen 
in allen Fällen einer Veränderung der Reaktion durch Erfahrungen mit 
dem psychologischen Begriff des „assoziativen Gedächtnisses" zu operieren. 
Schon die Tatsache, dafs für jedes einzellige Wesen, ja für das Protoplasma 
überhaupt innerhalb gewisser Grenzen etwas dergleichen vorhanden sei, 
zeige, dafs es hier vielmehr darauf ankomme, die Art zu analysieren, wie 
ein Wesen durch Erfahrungen in der Art seiner Reaktionen beeinfluTst 
werden könne, als mit dem unkritischen Begriff der „Belehrung durch 
Erfahrungen" schlechtweg zu arbeiten. Leider wird diese Analyse selbst 
nur angedeutet, nicht des näheren ausgeführt. v. Aster (München). 

Wendell t. Bush. An Smperlcal Definition of ConscioiisiietB. Journ. ofPhilos., 
Psychol etc. 2 (21), S. 561—568. 1905. 
Alles, was unsere Erfahrungen enthalten, sind nur Objekte, neben 
denen es nicht auch noch ein Bewufstsein von den Objekten gibt. Be 



Li tvra turberich (. 107 

wurstsein mufs sonach st was bezeichnen, das sich aller Beobachtung ent- 
zieht. Gleichwohl können wir fortfahren das Wort zu gebrauchen nnd 
zwar für die Erfahrungen, welche wesentlich dem einzelnen Beobachter 
eigen (private) sind, fflr subjektive Tatsachen, im Gegensatz zu solchen, 
welche allgemein zugänglich (public) und direkt von jedermann zu beob- 
achten sind, soweit ihre eigene Natur in Betracht kommt. 

Prandtl (Weiden). 

W. Naqel. Handbuch dar Physiologie des lenschea. In 4 Bänden. III. Band. 
Physiologie der Sinne. ' Zweite Hälfte, mit 101 Abbildungen und 1 Tafel. 
Braunschweig, Vieweg, 1905. 806 S. 

Das vorliegende Referat betrifft den gröfseren Teil der zweiten Hälfte 
des Bandes III (s. über die erste Bd. 39 S. 138 dieser Zeitschrift), umfassend 
den „Gehörssinn**, „Geruchssinn*', „Geschmackssinn", die „Physiologie der 
Druck-, Temperatur- und Schmerzempfindungen" und endlich „die Lage-, 
Bewegungs- und Widerstandsempfindungen". 

Der erste, am meisten Baum beanspruchende Gegenstand, der Gehörs- 
sinn iS. 476 — 588), ist von K. L. Schabfeb bearbeitet worden. Der Verf. 
gliedert seinen Stoff in 6 Kapitel: I. Von den Tonempfindungen; II. Von 
<ier Klangwahrnehmung ; III. Von den sekundären Klangerscheinungen; 
IV. Von den Tonempfindungen in musikalischer Hinsicht; V. Spezielle 
Physiologie des Gehörorgans; VI. Von den Geräuschen. 

Auch die einzelnen Kapitel zeigen zahlreiche Unterabteilungen, in 
denen Physikalisches und Physiologisches in knapper durchgearbeiteter 
Darstellung geboten wird. Im IV. Kapitel finden wir auch die neueren 
Theorien der Konsonanz und Dissonanz, besonders die von C. Stumpf, in 
Kap. V die neueren Hörtheorien, wie z. B. die von R. Ewald, behandelt. 

Weniger dankbar als der vorige sind die zunächst folgenden Stoffe, 
die W^. Nagel zur Bearbeitung übernommen hat, nämlich der Geruchs- 
sinn und Geschmackssinn (S. 589 — 619 und 621—645). Tatsachen und 
theoretische Anschauungen lassen auf diesen Gebieten noch manches zu 
wünschen übrig, und so treffen wir hier denn besonders oft auf offene 
Fragen, die der Verf. in anerkennenswerter Weise hervorgehoben hat. 

Der „Geruchssinn" enthält folgende 16 Kapitel: I. Das Geruchs- 
organ. Die Biechnerven; II. Von den Eigenschaften der Riechstoffe; 
III. Der Weg des Luftstromes beim Riechen; IV. Die Reizung des Riech- 
organs; V. Olfaktometrie und Odorimetrie; VI. Die Qualitäten der Geruchs- 
empfindung. Klassifizierungsversuche; VII. Die Unterschiedsempfindlichkeit ; 
VIII. Die zeitlichen Verhältnisse der Geruchsempfindung; IX. Ermüdung des 
Geruchssinnes; X. Mischungs- und Kompensationserscheinungen auf dem 
Gebiete des Geruchssinnes ; XI. Umstimmungs- und Kontrasterscheinungen ; 
XII. Lokalisation der Geruchsempfindungen ; XIII. Geruchswahrnehmungen 
und Geruchsreflexe; XIV. Geruchssinn und Affekt. 

Auch die Kapitel der Bearbeitung des „Geschmackssinnes" seien 
zum Zweck einer kurzen Übersicht angeführt: I. Das Geschmacksorgan; 
die Geschmacksnerven ; II. Von den Eigenschaften der schmeckbaren Stoffe ; 
III. Die Mechanik des Schmeckens; IV. Die inadäquaten Reize des Ge- 



108 Literaturbericht 

«chmackeorgans. Der elektrische Geschmack; V. Gnstometrie und Sapori- 
metrie; VI. Anomalien des Greschmackssinnee. Toxische Einflüsse; VII. Die 
Qualitäten der Geschmacksempfindung: VIII. Die spezifische Disposition 
der einzelnen Geschmackspapillen. Die spezifische Energie der Creschmacks- 
nerven; IX. Umstimmnngs- nnd Kontrasterscheinnngen ; X. Mischungs- 
und Kompensationserscheinungen; XI. Die zeitlichen Verhältnisse der Ge- 
schmacksempfindung; XII. Die Unterschiedsempfindlichkeit; XIII. Gefühls- 
betonung der Geschmacksempfindungen. 

Eine schöne abgerundete Darstellung der Physiologie der Druck-, 
Temperatur- und Schmerzempfindungen gibt uns T. Thunberq 
(S. 647 — 731). Der Verf. beginnt mit I. einer geschichtlichen Übersicht; 
dann folgen: II. Klassifikation der Hautempfindungen; III. Sinnespunkte 
der Haut; IV. Die Druckempfindungen; V. Die Kälte- und Wärmeemp- 
findungen; VI. Die Hautschmerzempfindungen; VII. Die Schmerzempfind- 
lichkeit innerer Teile; VIII. Die Empfindungen von Kitzel und Jucken; 
IX. Zusammengesetzte Hautempfindungen und ihre Analyse ; X. Die Apper- 
zeptionszeiten der Hautempfindungen; XI. Die Lokalisation 'der Haut- 
empfindungen; XII. Die Subjektivierung und Objektivierung der Haut- 
empfindungen; XIII. Die Physiologie der Hautsinne und das Gesetz der 
spezifischen Sinnesenergien. 

Den Schlufs des Bandes bilden die ebenfalls von W. Nagel behandelten 
Lage-, Bewegungs- und Widerstandsempfindungen. Trotz der 
erheblichen Schwierigkeiten, welche dieser umfangreiche mannigfach zu- 
sammengesetzte Stoff der Darstellung noch besonders dadurch bietet, dafs 
die Komponenten der hier vielfach komplexen Empfindungen häufig ihren 
Ursprung in verschiedenen Organen haben, ist es doch eine dankbare 
Aufgabe gewesen, den spröden Gegenstand einmal gründlich zu sichten 
und möglichst übersichtlich auszuarbeiten. Dies ist in 8 Kapiteln nebst 
zahlreichen Unterabteilungen geschehen : I. Die Lageempfindungen ; II. Die 
Bewegungsempfindungen; III. Die Widerstandsempfindungen; IV. Theo- 
retisches über die Bewegungs- und Lageempfindungen nicht-labyrinthären 
Ursprungs, sowie über die Widerstandsempfindungen; V. Der Schwindel 
und die Drehungsreflexe; VI. Erfahrungen über die Funktionen des 
Labyrinths; VII. Theoretisches über die Funktionen des Labyrinths; 
VIII. Anhang. Die Zentralorgane der Bewegungs- und Lageempfindungen. 

P. Jensen (Breslau). 

R. Sbmon. Die Mneme aU erhaltendes Primip im Wechsel des organisehen 
Geschehens. Leipzig, W. Engelmann. 1904. S. I— XIV, 1—363. 

Bereits E. Hering hatte auf einen gewissen Parallelismus, der zwischen 
Gedächtnis und Vererbung besteht, hingewiesen und später hat dann 
S. Butler die P>age genauer untersucht. Sbmon unternimmt es nun, dies 
Problem in eingehendster Weise zu behandeln und sucht nachzuweisen, 
dafe es sich bei den Vorgängen nicht um eine blofse Analogie, sondern um 
Identität handelt. 

Er führt folgendes aus: Ein Organismus befinde sich in einer be- 
stimmten Lebensbedingung, einer „energetischen Situation". Ein Reiz wird 
auf ihn ausgeübt und der Organismus dadurch in einen neuen Zustand 



Literaturbericht. 109 

gebracht. Hört der Reiz auf, so tritt der erste Umstand wieder ein 
— synchrone Reizwirkung — oder aber die Rückkehr in den früheren Zustand 
l&Tst einige Zeit auf sich warten — akoluthe Reiz Wirkung (Nachbilder). 
Unter Umst&nden kann ein veränderter morphologischer Zustand die Folge 
des Reizes sein. Der Zustand vor dem Reiz ist der „primäre Interferenz- 
zustand", der nach dem Reiz der sekundäre. Beide sind nicht identisch. 
Der Reiz hat vielmehr eine dauernde Einwirkung beim Körper hinter- 
lassen, ein „Engramm", er hat „engraphisch" gewirkt. Die Summe der 
Engramme in einem Organismus ist die „Mneme''. Engramme sind erblich, 
es gibt infolgedessen eine ererbte und eine individuelle Mneme. An und 
für sich ist jeder Teil des Organismus imstande, Reize und damit Engramme 
aufzunehmen, doch hat sich immer mehr ein Organsystem, das Nerven- 
system hierfür spezialisiert, ohne dafs es freilich ein Monopol hätte. Als 
Beispiel für engraphische Wirkung sei angeführt: Ein junger Hund wird 
von einem Knaben mit einem Steine geworfen. Es wirkt auf ihn ein : Der 
optische Reiz des eich bückenden Knaben, — Reizgruppe a — und der mit 
Schmerz verbundene Hautreiz des betreffenden Steines — Reizgruppe b. 
Die Reizgruppe a, auf die er früher nicht reagierte, beantwortet er später 
mit Fluchtbewegungen. 

Reiz a löst die Erregung a aus, Reiz b die Erregung ß, Erregung 
(a-|-/^) kann als Originalerregung nur durch (a+b) ausgelöst werden. Nach- 
dem sich aber das Engramm (A-|-B) erzeugt hat, wird sie als „mnemische 
Erregung'' bereits durch a allein ausgelöst, a wirkt „ekphorisch". Ekphorisch 
wirkt die ganze oder partielle Wiederkehr einer „energetischen Situation". 
Es kann das der Originalreiz, auch manchmal qualitativ oder quantitativ 
etwas geändert, sein, es können aber auch Einflüsse sein, die sich zunächst 
als Ablaufen bestimmter Zeit- oder Entwicklungsperioden darstellen 
(chronogene und phasogene Ekphorien) wie beispielsweise diejenigen Zu- 
stände im Stoffwechsel des pflanzlichen Organismus, die ekphorisch im 
Frühjahr das Ausschlagen bewirken, oder die Zustände im menschlichen 
Organismus, die zur Zeit der Mannbarkeit das Wachstum des Bartes ver- 
ursachen. So sind denn allgemein alle ererbten Dispositionen als Engramme 
aufzufassen. 

Diese Grundgedanken werden nun im einzelnen ausgeführt und auf 
alle möglichen Probleme angewandt. Es mufs hier auf das Werk selbst 
hingewiesen werden, da die meist sehr schwierigen Deduktionen sich nicht 
ffir den engen Raum eines Referates eignen. C. Zimmer (Breslau). 

G. Pancongelli-Galzia. ftaelqnei remirqiies sv U mithode graphiqne. Die 

neueren Sprachen 18 (9). 6 S. 1906. 

Verf. empfiehlt grofse Vorsicht bei der Anwendung der graphischen 
Methode zu experimental- phonetischen Zwecken. Je nach der Art des 
schallauffangenden Mundstücks, der Länge der Schlauchleitungen, der Länge 
des Schreibhebels usw. zeigen die von demselben Laut erhaltenen Kurven, 
vie er durch eine Anzahl von Figuren belegt, einen völlig verschiedenen 
Charakter. Unter Umständen haben sie keine Spur von Ähnlichkeit mit- 
einander. Es gilt also stete Kontrolle der graphisch gewonnenen Resultate 
mit den nach anderen Methoden gewonnenen. Ebbinohaüs. 



110 Literaturbericht. 

Arthur Kiesel. Die Welt des Skhtbaren. Leipzig, R. Voigtländers Verlag. 
1905. 106 S. 

In einer recht lesenswerten, kleinen Schrift führt K. in populärer 
Darstellung die wichtigsten erkenntnistheoretischen und psychologischen 
Prinzipien vor, nach denen das Sehen, bzw. die optische Wahmehmuni^ 
sich vollzieht. Er weist zuerst darauf hin, dafs die wirren Komplexe 
räumlich mannigfaltig angeordneter und qualitativ verschiedener Emp- 
findungen, als welche sich die Gegenstände dem Auge des Neugeborenen 
oder des geheilten Blindgeborenen zunächst bieten, sich nach vielfach 
wiederholten Sehübungen zu einer geordneten Gesichtswahrnehmung ver- 
dichten. Auch die zeitlich aufeinanderfolgenden Empfindungskomplexe, 
welche unser Gesichtsfeld, bzw. die Fovea centralis nacheinander ausfüllen, 
werden zu Wahrnehmungen von Gegenständen bestimmter Gröfse und 
Entfernung zusammengefafst und die hierbei ins Spiel kommenden Augen- 
muskelempfindungen und vor allem die Kontrolle durch die sensiblen 
Erregungen unseres mannigfach differenzierten und verschiedenartig lokali- 
sierten Tastsinnes (Muskeln, Gelenke, Haut etc.) sind es, welche uns ver- 
anlassen, die optischen Empfindungen bei der Wahrnehmung auf einen 
aufsen befindlichen Gegenstand zu beziehen, zu projizieren. Die gedächtnis- 
mäfsig angesammelten Bilder, welche bei späteren Gesichtseindrücken zum 
Vergleich reproduziert werden und das Erkennen, die Wahrnehmung zu 
einem aufserordentlich schnellen und leichten gestalten, bilden das empirisch 
gewonnene Material, welches unsere ganze optische Seh- und Auffassungs- 
weise immer wieder im späteren Leben beeinfiufst, jeden einzelnen je nach 
der Art, wie seine individuellen optischen Erlebnisse ihn betroffen haben. 

Kiesel betont, dafs das Sehen der einzelnen Menschen demnach ein 
sehr verschiedenes sein mufs ; verschiedene Menschen, je nach Beruf, Rasse, 
Lebensweise haben ganz verschiedene Gewohnheiten bezüglich der Details 
der Empfindungskomplexe ihres Gesichtsfeldes, auf welche sie als wesentlich 
ihre Aufmerksamkeit richten und welche anderen sie unter der Wahr- 
nehmungsschwelle halten und vernachlässigen. Die begleitenden Gefühle 
beeinflussen die Art der Wahrnehmung erheblich: es ist etwas anderes, 
ob man einen Gegenstand vom technischen oder ästhetischen Standpunkt 
betrachtet. Auch der Farbensinn ist verschieden, wobei es sich freilich um 
angeborene und erbliche Abweichungen handelt. Auch die optischen 
Täuschungen und die Nachbilderscheinungen führt K. als Beweise für das 
subjektive Sehen, die Beobachtung von „Scheindingen" an. Freilich bleibt 
in seiner Darstellung der erkenntnis theo retische Begriff seiner „wirklichen 
Dinge" unklar und unerörtert. Aber alles läfst sich im Kahmen einer 
populären und begrenzten Darstellung dieser schwierigen Probleme natür- 
lich nicht bringen; das Gebotene enthält soviel des Interessanten und gut 
Durchdachten, dafs es der Beachtung nur empfohlen werden kann. 

H. Piper (Kiel). 

H. Herzog. Experimentelle UAtenaohvngeii nr Physlelogle der Bewefiui(ff» 

forg&lkge in der Hetlh&nt Engelmanna Archiv f. Physiol S. 418—464. 1905. 

Mikroskopische Untersuchung der Froschnetzhaut ergab, dafs die Lage 

des Netzhautpigmentes und der Kontraktionszustand der Zapfen erheblich 



Literaturbericht 111 

und typisch verschieden gefandeu wurde, je nach den Bedingungen, unter 
denen das Tier sich während des Versuches befunden hatte. Während 
unter normalen Bedingungen die Bewegungen der Zapfen und die Pigment- 
wanderung sich stets in gleicher Bichtung, wenn auch nicht in gleichem 
Tempo vollzieht, beobachtete H., dafs in Augen, welche einige Zeit nach 
Zerstörung des Zentralnervensystems enukleiert und fixiert waren, maximale 
Einwärtswanderung des Netzhautpigmentes (Lichtstellung) bei maximaler 
Streckung der Zapfen (Dunkelstellung) auftrat. Die Pigmentwanderung 
ging nie bis an die Limitans externa, sondern machte im Niveau der 
Grenze zwischen Zapfenellipsoid und Myoid des Innengliedes Halt. H. 
sieht den Zweck der Zapfenbewegung darin, dafs das vorwiegend licht- 
empfindliche Zapfenellipsoid in den Bereich der stärksten Lichtwirkung 
gebracht werden soll. 

Wäime erzeugte die gleichen Veränderungen der Pigmeutlage und 
des Kontraktionszustandes der Zapfen wie Licht; dabei vollzog sich die 
Kontraktion schneller als die Pigmentwanderung. Auch Kälte wirkte im 
selben Sinne; ihre Wirkung, namentlich auf die Zapfen (Kontraktion) hält 
5 — 6 Stunden nach Wiedererwärmung noch vor. Auch mechanische Reize 
der Haut (Aufbinden des sonst dunkel gehaltenen Frosches) wirken wie 
Licht, Wärme oder Kälte. H. schliefst sich der Ansiclit Ekgslmanns an, 
dafs Wärme, Kälte und mechanische Reize reflektorisch von der Haut aus 
Pigment- und Zapfenbewegung beeinflussen. Hebzog sieht den Zweck der 
Pig;mentwanderung 1. in der optischen Isolierung der Retinaelemente, 2. in 
der Absorption strahlender Energie, welche in Wärme umgewandelt die 
Erregbarkeit der anliegenden, lichtperzipierenden Netzhautelemente erhöht, 
3. in einer Energieabsorption, welche zur chemischen Zersetzung des 
Fuchsins verbraucht wird und die Netzhaut vor Überreizung schützt. 

Die Zapfenkontraktion läuft bei mittlerer Belichtungsintensität in etwa 
2 Vt Min. ab, 1 Min. ist so gut wie unwirksam, V2 auch bei starker Be- 
lichtung. Rotes, grünes und blaues Licht führten gleichartige Veränderungen 
herbei, blau indessen trotz geringerer Intensität bewirkte in derselben Zeit 
ausgiebigere Zapfenkontraktion. Für alle Lichtarten ergab sich, dafs die 
Gröfse der Zapfenkontraktion mit Intensität und Dauer der Reizung wuchs. 

Da der Nachweis erbracht wurde, dafs die Dimensionen des Zapfen- 
innengliedes sich vorwiegend mit der Intensität des Lichtreizes ändern und 
dafs jedes farbige Licht bei geeigneter Intensität jede bestimmte Zapfen- 
lange herbeiführen kann, so ist die Annahme unhaltbar, dafs jedem 
bestimmten Kontraktionszustand eine qualitativ eigenartige, der Lichtart 
entsprechende Erregung (bestimmte Farbenempfindung) zugeordnet sein 
soll. Dagegen spricht auch der langsame Gang der Zapfenbewegung. 

H. kommt zu dem Schlufs, dafs der Zapfenapparat als Hellapparat im 
Sinne der KaiBsschen Theorie zu gelten habe und dafs der Kontraktions- 
mechanismus der Zapfen eine Aus- und Einschaltvorrichtung sei, durch 
ivelche der lichtperzipierende Zapfenteil (Ellipsoid und Aufsenglied) in den 
Ort günstigster Lichtwirkung gebracht bzw. daraus entfernt werde. 

H. Piper (Kiel). 



114 Literaturberibht. 

Gebiet räumlicher Form gewisse Analogien besteheni ist nun freilich kein» 
neue Entdeckung. Auch Ref. hat sich verschiedentlich in dieser Richtung 
ausgesprochen, auch einmal starken Widerspruch bei Stumpf damit erregt. 
Doch scheint es ihm, dafs der Verf. uns der Lösung dieses Problems nicht 
näher gebracht hat. Der Artikel erscheint als ein etwas kühnes Unter- 
nehmen des Verf., auf sechs Druckseiten die Grundtatsachen der Ton> 
Psychologie, mit einigen Grundtatsachen der allgemeinen Psychologie al» 
Zugabe, in einer wissenschaftlichen Theorie zur Darstellung zu bringen. 

Max Mstbr (Columbia, Missouri). 



SiDNET Alsutz. Untemchnngeii tber IhrockpHiikte und ihre Analgesie. Skmidin. 

Ärch. f. Physiologie 17, 86—102. 1905. 
Nach einer Übersicht der Literatur über die Druckpunkte gibt Verf. 
eine Beschreibung seiner eigenen Versuche zu denen er Thunbebos Glas- 
fäden verwendet, die er nach den vom Ref. angegebenen Grundsätzen eicht. 
Er bestätigt die Angaben des Ref. betreffend die Lage und Dichte der 
Druckpunkte und ihre Schmerz losigkeit gegen Nadelstiche. Die Tatsache,, 
dafs bei vereinzelten Druckpunkten der Einstich sofort oder verspätet 
schmerzhaft ist, beweist nichts gegen die Verschiedenheit der Organe fflr 
Druck- und Schmerzempfindung, die Verf. für bewiesen hält. Die Versuche 
des Verf. zeichnen sich aus durch grofse Sorgfalt in der Ausführung. 

M. V. Fbey (Würzburg). 

Sedkey Albütz. Untersnchnngen über Schmenpnnkte nnd doppelte Sehnten» 
empflndangen. Skandin. Arch. f, Physiol. 17, 414—430. 1905. 

Nach einer Darstellung der Literatur über die Schmerzpunkte und die 
doppelte Schmerzempfindung, geht Verf. auf seine eigenen Untersuchungen 
ein. Dieselben haben ihn zu der Überzeugung geführt, dafs es (überein- 
stimmend mit der Angabe des Ref.) auf der Haut Schmerzpunkte gibt,^ 
d. h. Punkte, die bei geeigneter Reizung ausschliefslich Schmerzempfindung 
auslösen von stichartigem Charakter. Diese Empfindungen folgen dem 
Reize unmittelbar. Die Dichte dieser Punkte ist sehr grofs. 

In bezug auf die doppelte Schmerzempfindung, wie sie von Gad und 
GoLDSCHEiDEB zuorst beschrieben worden ist, schliefst sich der Verf. den 
Ansichten Thunbergs an (Skand, Arch. 12, 394) und hebt hervor, dafs die 
verzögerte ' oder sekundäre Schmerzempfindung meistens durch einen rein 
juckenden Charakter ausgezeichnet ist. Soweit sich bestimmte Punkte auf 
der Haut auffinden lassen, die zur Erregung der sekundären Schmerz- 
empfindung besonders geeignet sind, fallen sie im allgemeinen nicht zu- 
sammen mit den oben beschriebenen Punkten für die primäre schmerz- 
hafte Empfindung. M. v. Fbet (Würzburg). 

C. Speabmav. Analysis of „Localieitien'S iUnstrated by a Brown-Siqnard Caae^ 

The British Journal of Fsychology 1 (3), S. 286. 1905. 
Diese Untersuchung soll in erster Linie eine Erwiderung sein gegen, 
die, neuerdings von 0. Föbstbb {Monatsschr, f, Psychiatrie u. Nesirol. 9, 1901) 
verfochtene Theorie, dafs alle Lokalisation von Tasteindrücken letztlich auf; 



Literaturhericht 115 

Bewegungsempfindungen beruhe. Dieser Theorie standen die Fälle von 
BROWN-S^QüAiKDscher Krankheit entgegen; die daraus erwachsenden Be- 
denken glaubte FÖRSTER einfach dadurch abweisen zu können, dafs er die 
Richtigkeit der Beschreibung bezweifelte und vermutete, bei quantitativ 
genauer Messung würden Resultate herauskommen, welche mit seiner 
Theorie übereinstimmen würden. 

Spbarman hatte nun Gelegenheit, in der Nervenklinik zu Leipzig einen 
Patienten zu untersuchen, der genau die Symptome der BROWN-SÄQUARDschen 
Krankheit zeigte. Es ist ein Verdienst Spearmans diese Untersuchung 
genauer und vollständiger durchgeführt zu haben als es bisher zu ge- 
schehen pflegte, und auch viel genauer, als es Förster getan hatte. Der 
wichtige Fortschritt dabei bestand darin, dafs Spearhan sich nicht einseitig 
auf eine Art der Lokalisationsprüfung stützte und das auf diese Weise 
sich zeigende Verhalten als Verhalten bei Lokalisation überhaupt be- 
zeichnete; sondern er sagte sich von vornherein, daTs die verschiedenen^ 
gebräuchlichen Lokalisationsmethoden verschiedene Fähigkeiten und 
Organe ins Spiel ziehen dürften, und dafs es daher gar nicht zu erwarten 
sei, dafs die Resultate der einzelnen Methoden untereinander überein- 
stimmten. Ebenso sei es möglich, dafs, während sich für die eine Lokali- 
sationsart eine Abhängigkeit von den Bewegungsempfindungen zeigt, sich 
für eine andere Lokalisationsart eine Abhängigkeit von der Hautsensibilität 
konstatieren lasse usw. Es war also notwendig, die Beziehung jeder ein- 
zelnen Lokalisationsart zur Bewegungs- und Hautsensibilität zu prüfen. 
Dafür eignete sich besonders der Fall von BR0WN-S6QUABDScher Krankheit. 
Denn bei einem solchen ist bekanntlich auf jener Seite des Körpers, auf 
welcher das Rückenmark verletzt ist, die Bewegungsempfindlichkeit gestört^ 
die Hautempfindlichkeit aber mehr oder weniger intakt, auf der nicht ver- 
letzten Seite hingegen die Sensibilität gestört und die Bewegungsempfind- 
lichkeit intakt. 

Um die Sensibilität einer Hautstelle zu prüfen, bestimmt Spearman 
mittels der Haarmethode von v. Frey die Intensitätsschwelle. Die Be- 
wegungsempfindlichkeit mifst er ebenfalls durch Bestimmung einer 
absoluten Schwelle und zwar der Schwelle für passive Bewegungen bei 
Beugung eines Gliedes im Gelenk mit der Geschwindigkeit von 1 Grade 
in der Sekunde. 

Zur Prüfung der Lokalisation gibt es nach Spearman zwei Haupt- 
methoden: Erstens die Zirkelmethode E. H. Webers; der Verfasser ent- 
schied sich für die sukzessive Applizierung der beiden punktuellen 
Reize mit einer Zwischenpause von 1 Sekunde; um femer nicht die 
Schwelle für die Unterscheidbarkeit der beiden Punkte, sondern für ihre 
räumliche Trennung zu erhalten, liefs Spearman angeben, ob der zweite 
Reiz höher oder tiefer zu liegen schien. Die zweite Hauptmethode der 
Lokalisation bezeichnet der Verfasser als die der „spot-finding" oder „spot- 
indicating"; sie besteht darin, dafs die Lage eines berührten Punktes 
irgendwie kundgegeben wird. Das Letztere kann auf mehrfache Art 
geschehen; es sind mindestens folgende drei wesentlich voneinander ver- 
schiedene Arten zu unterscheiden: 1. „simple localisation" ; sie besteht 

8* 



:116 Literatw'hericht 

darin, daTs der berührte Punkt mit der Zeigefingerspitse oder mit einem 
8tift zu zeigen ist, bei geschlossenen Augen und ohne Berühmng der Haut. 
2. ^,looking methode'S die von Volkmakn zuerst angewendete Methode; die 
vorher berührte Stelle wird bei geöffneten Augen auf der Haut bestimmt, 
ohne dafs die Haut berührt wird. 3. „groping methode*', die zweite von 
E. H. Webbr vorgeschlagene Methode, bei welcher der berührte Punkt bei 
geschlossenen Augen durch Betasten der Haut gesucht wird. 

Indem Speabhan die genannten vier Lokaliflationsarten, sowie auch 
die Sensibilitäts- imd die BewegungBschwelle für alle Glieder und Gelenke 
der beiden Beine prüfte — Oberkörper und Arme waren durch die Krank- 
heit nicht betroffen — zeigten eich folgende Beziehungen: 

Bei simple localisation war mit einer Vergröfserung des mittleren 
Fehlers der Lokalisation stets eine Herabsetzung der Bew^ungsempfind* 
lichkelt verbunden, und andererseits war bei normaler Bewegungsempfind- 
lichkeit der mittlere Fehler der Lokalisation fast so klein wie bei normalen 
Individuen. Hingegen zeigte sich kein l^nlicher Parallelismus dieser 
Lokalisationsart mit der Sensibilitatssch welle. Dieses Resultat würde also 
mit FÖB6TEB8 Theorie vollkommen übereinstimmen. 

Ganz anders aber gestaltete sich das Verhältnis der Lokalisation zur 
SensibilitiU und zur Bewegnngsempfindlichkeit, als die lookin g- und die 
groping- Methode angewendet wurden. Es war im allgemeinen dort, 
wo die Sensibilität normal bzw. geschwächt war, auch der mittlere Fehler 
der Lokalisation normal bzw. gröfser; hingegen gingen L<^uüisation und 
Bewegungsempfindungen nicht Hand in Hand. Interessant ist die Beob- 
achtung Spbarmans, dafs bei vereinigter looking- und groping - Methode, wo 
Versuchsperson durch Hinsehen und Betasten der Haut die vorher be- 
rührte Stelle bestimmte, nicht bessere Resultate erhalten wurden als bei 
jeder Methode für sieh genommen; sondern dafs die Resultate der zu- 
sammengesetzten Methode zwischen den Zahlen werten lagen, die für die 
beiden einfachen Methoden erhalten wurden. 

Der Lokalisationsvorgang bei der Zirkelmethode erwies sich als voll- 
ständig unabhängig von der Bewegungsempfindlichkeit und ging stets 
mit der Schärfe der Sensibilität parallel. 

Die bei looking-, groping- und bei Zirkelmethode er- 
haltenen Resultate widersprechen also durchaus der Föbstbr- 
sehen Theorie. Dafs übrigens Föbstbb im Gegensatz zu Spbabuan bei 
der looking -Methode die Lokalisation von der Bewegungsempfiindlichkelt 
abhängig, von der HautsensibiUtät unabhängig gefunden hatte, erklärt 
letzterer durch verschiedene Stärke der angewendeten Druckreize. 

Spbabman sucht nun die von ihm erhaltenen Resultate genauer zu 
diskutieren und zu erklären. Er hatte für verschiedene Lokalisations- 
methoden verschiedene Resultate erhalten; es bestand daher die Aufgabe, 
mit Hilfe der objektiven Resultate und mit Hilfe der subjektiven Analyse 
die einzelnen Lokalisationsvorgänge so^R^ohl ihrem psychologischen, wie 
auch physiologischen Teile nach zu eruieren. 

Was zunächst die simple localisation betrifft, so findet Spxabman als 
das Charakteristische des psychischen Vorganges, dafs der Ort der be- 



LitertUurbericht 117 

rOhrten Stelle und derjenige der zeigenden Fingerspitze unmittelbar 
erkannt wird. Nicht die Lage irgendwelcher Körperteile wird vorgestellt, 
keine Empfindungen in den Gelenken u. dgl. sind im Bewuffltsein; die 
Lage der berührten Stelle und der Fingerspitze, ihre reine „thereness^ 
(Hierheit) relativ zum Körper und Kopf, wird mit einem Schlage unmittel- 
bar erkannt 

Spbabman fragt sich, wie dies möglich sei, und beantwortet diese Frage 
in folgender Weise: Es ist zweierlei nötig: 1. dafs wir von der Lage aller 
Glieder, vom Körper und Kopf bis zum berührten Gliede hin, Kenntnis 
haben; diese Kenntnis nennt Speabman „articular messages''; 2. dafs wir 
die Lage des berührten Punktes auf dem letzten einfachen Gliede kennen ; 
diese Kenntnis wird durch die „negmental messages" geliefert. 

Die segmental messages erhalten wir durch die Lokalzeichen der 
Punkte des betreffenden einfachen Gliedes. Welcher Natur diese Zeichen 
sind, erörtert Spbabman nicht. — Eine längere Auseinandersetzung widmet 
er hingegen den articular messages. Er bespricht in Kürze die verschie- 
denen Theorien Über den gitz der Lage- und Bewegungsempfindungen, und 
kommt selbst zu folgenden Resultaten: Bei Bewegung sind es nicht die 
Bewegangsemp findungen, welche die visuelle Vorstellung der Be- 
wegung vermitteln, denn diese wären zu wenig differenziert ; sondern diese 
Rolle spielen die nicht oder nur unvollkommen zur Apperzeption gelangen- 
den blofs physiologischen Erregungen, welche durch die Bewegung 
ausgelöst werden. Die, der visuellen Vorstellung der Lage zugrunde 
liegenden Erregungen werden überhaupt nie bewufst ; Lage empfindungen 
gibt ee also nicht; die sog. Lageempfindungen sind nichts anderes als 
irgendwelche Hawt-, Muskelempfindungen usw., welche mit „thereness** 
versehen, also lokalisiert sind. Die articular messages, welche als not- 
wendige Faktoren zur Reproduktion der visuellen Lage- bzw. Bewegungs- 
vorstellung vorhanden sein müssen, mögen ursprünglich, bei Bildung 
der Assoziation bewufst gewesen sein ; die Apperzeption derselben ist aber 
jedenfalla im entwickelten Zustand als überflüssiges Zwischenglied ent* 
fallen baw. unvollkommen ausgebildet Spsaeman weist auch die Auffassung 
ab, dalÜB die articular messages aller Gelenke zu einer Mischempfindung 
verschmolzen seien, so dafs jede einzelne wenigstens als Komponente 
in einer solchen G^amtemp findung ein psychisches Dasein hätte. — 
Über den Sitz der articular messages will Spearman keine Entscheidung 
fällen; nur das eine liefse sich sicher behaupten, dafs zur Erweckung 
der Lagevorstellung einerseits und der visuellen Bewegungsvorstellung 
andererseits keine verschiedenen, nämlich von verschiedenen, unabhängigen 
Organen kommenden Erregungen in Anspruch zu nehmen sind ; denn Lage 
und Bewegungsvorstellung seien stets gleichzeitig normal bzw. alteriert 
Spbarmak gebraucht daher auch für beide Arten von Erregungen denselben 
Auedruck: articular excitations. 

Mag man diesen Erörterungen unbedingt oder nur teilweise zustimmen : 
jedenfalls hat Spbabman das eine plausibel gemacht, dafs bei der simple 
localisation die Lokalisation dort eine schlechtere ist, wo die Bewegungen 
empfindungen stumpfer sind. Denn zur Bestimmung des Ortes brauchen 



118 Litet-aturhericht, 

wir irgendwelche Nachricht von der Lage unserer Glieder; nnd diese wird 
dort unvollkommener Bein, wo auch unsere Erkennung von Bewegungen 
und unsere Bewegungsempf in düngen mangelhafter sind. 

Bei der Lokalisationsmethode von Volkmamn (looking) und der zweiten 
Methode von E. H. Webxb (groping) findet Speabman durch subjektive 
Analyse die Vorstellung des berührten Punktes durch reine „thereness*' als 
Teilvorgang wieder, und zwar als erste unmittelbare Phase, bevor noch die 
Haut betastet bzw. auf sie hingesehen wird. Zu dieser ersten Lokalisation 
tritt nun bei beiden Methoden ein „mental image** hinzu, durch welches 
die erste Orientierung korrigiert wird; bei der lookin g-Methode ist dieses 
Vorstellungsbild visuell, bei der groping-Methode bezeichnet es Speabman 
als ^taktil"; das letztere trete ferner später auf als das erstere, nämlich 
erst beim Betasten der Haut von selten der Versuchsperson. 

Für die Lokalisation eines Punktes innerhalb eines Bildes seiner Um- 
gebung sind blofs die „segmental excitations'' nötig, welche, wie Spsabman 
stillschweigend voraussetzt, mit der Sensibilitätsschwelle gleichzeitig und 
in demselben Grade Alterationen unterworfen sind. Da nun bei looking- 
und groping'Methode trotz der ersten simple localisation die schliefsliche 
Entscheidung durch die Lokalisation innerhalb des Bildes vollzogen wird, 
so müssen die bei den genannten Methoden auftretenden Fehler von der 
Sensibilitätsschwelle abhängig sein. Wenn nun dennoch die beiden Lokali- 
sationsmethoden an jenen Stellen, wo die simple localisation sehr geUtten 
hatte, etwas schlechtere Resultate ergeben haben, so beweist dies nur, dafs 
die erste Phase der Lokalisation nicht ganz ohne Einflufs war. Spearman 
stellt sich diesen Einflufs so vor, dafs die Korrektur der ursprünglichen 
Lokalisation um so genauer ausfallen könne, je richtiger diese Lokalisation 
bereits sei. 

Ich möchte bei dieser Gelegenheit hinzufügen, dafs vielleicht indivi- 
duelle Unterschiede bestehen, indem der eine sich mehr auf die erste, der 
andere mehr auf die zweite Phase stützt. Aus einer solchen Differenz 
würde sich die oben erwähnte Abweichung zwischen den Resultaten 
FÖRSTERS und Spearmams erklären. Die Versuchsperson Försters müfste 
sich mehr auf die erste, die Versuchsperson Spearmaks mehr auf die zweite 
Phase gestützt haben. 

Bei der looking-Methode zeigte sich die interessante Erscheinung, dafs 
an dem Bein, an welchem die Bewegungsempfindungen gestört waren, die 
Zehen öfter verwechselt wurden als am andern. Dies erklärt Spearman in 
folgender Weise: Um eine berührte Stelle eines einfachen Gliedes auf 
diesem zu lokalisieren, dienen uns die Lokalzeichen ; diese leisten hingegen 
wenig für die Unterscheidung verschiedener einfacher Glieder, namentlich 
wenn die letzteren anatomisch ähnlich sind wie die Zehen oder Finger oder 
wie symmetrisch gelegene Glieder. Da nun bei Berührungen jener Glieder, 
für welche die Bewegungsempfindungen und somit die articular excitations 
geschädigt sind, auch häufiger Verwechslungen vorkommen, so liegt es 
nahe zu schliefsen, dafs diese articular excitations zur Unterscheidung der 
Glieder mit beitragen. — Auf dieselbe Weise erklärt Spearman auch die 
Allochirie. Sie besteht darin, dafs Berührungen an die symmetrisch 



Literaturbericht 119 

gelegenen Stellen der anderen Körperhälfte lokalisiert werden, und zwar 

sowohl von der rechten auf die linke Seite als auch umgekehrt. Da nun 

I mit AUochirie stets Schädigung der Bewegungsempfindungen und umgekehrt 

' mit der letzteren stets die Symptome der AUochirie verbunden sind, so 

I liegt kein Grund vor, für die AUochirie eine andere Ursache anzunehmen, 

j wie für die Verwechslung der Zehen. Eine weitere Bestätigung für seine 

I Erklärung der AUochirie findet Speabman darin, dafs bei seinem Patienten 

die Verwechslung zwischen rechter und linker Seite nach unten hin viel 

häufiger wird und zugleich die Bewegungsempfindungen der weiter nach 

' unten liegenden Gelenke viel stumpfer sind als die der oberen Gelenke. 

Bei der Zirkelmethode findet Spbarman, dafs die Lokalisation mit Hilfe 
einer direkten qualitativen Unterscheidung der beiden Reize ausgeführt 
werde, auch bei längerer Pause. Ferner sei die Schwelle bei qualitativ 
verschiedenen Reizen und bei Ermüdung gröfser, während unter denselben 
Umständen die Lokalisationsschärfe bei looking- und groping-Methode nicht 
leide. Diese Resultate erwähnt Speabman blofs, ohne vorläufig Genaueres 
über die Versuche zu berichten. Rupp (Göttingen). 



Diagnostische Assoziationsstadien. 5.^ Beitrag. Bleuleb. Bewnfstsein and 
Assoziation. Joum, f. Psychol u. Neurol 6 (3), 126—154. 1905. 
„Genau die gleichen funktionellen Gebilde und Mechanismen, die wir 
Im Bewufstsein finden, sind auch aufserhalb desselben nachzuweisen, und 
beeinflussen von da aus unsere Psyche ebensowohl, wie die analogen 
bewufsten Vorgänge. In diesem Sinne gibt es unbewufste Empfindungen, 
Wahrnehmungen, Schlüsse, Gefühle, Befürchtungen und Hoffnungen, die 
eich von den gleich bezeichneten bewufsten Phänomenen einzig und allein 
durch das Fehlen der Bewufstheitsqualität unterscheiden.** Insbesondere 
sind auch die Wirkungen eines unbewufsten psychischen Vorganges die- 
selben wie die des entsprechenden bewufsten. Handlungen, die erst 
bewufst erfolgten, werden allmählich zu unbewuTsten, automatischen ; dafs 
die entsprechenden Funktionen wesensgleich sind, geht auch daraus hervor, 
dafs in pathologischen Fällen nicht eine ohne die andere gestört erscheint. 
Daraus und aus der Plastizität der automatischen Handlungen folgt, dafs 
sie nicht zu den Reflexen zu rechnen sind. — Bleulee führt dann eine 
Reihe von Beispielen an für unbewuTstes Erkennen, unbewufste Über- 
legungen und Schlüsse (z. B. die Wahmehmungsschlüsse), unbewufste Vor- 
steUungen (bei mittelbaren Assoziationen), unbewufste Bewegungen (z. B. 
beim Gedankenlesen). Auch die FäUe von „mehrfachen Persönlichkeiten" 
beruhen darauf, dafs neben einer „oberbewufsten" Persönlichkeit eine An- 
zahl von verschiedenen unbewufisten Gruppierungen vorhanden ist. 

Da nun die unbewufsten Vorgänge unser Seelenleben genau so beein- 
flussen wie die bewufsten, so ist „die bewufste Qualität, das Bewufstwerden 
eines psychischen Vorganges" für die objektive „Betrachtung unserer 
Psyche etwas durchaus Nebensächliches. Wir haben nur zu untersuchen: 



^ Die früheren Beiträge sind besprochen in diesem' ZeitschHft 40, 
8. 213/214; 41, S. 230—232; 42, S. 69—71. 



120 lAteraturberickt 

unter welchen Bedingungen sind psychische Vorgang« beWufst?" Dies«* 
Bedingung ist nach Ansicht des Verf. die Assoziation mit dem Ichkomplez, 
„d. h. mit denjenigen Vorstellungen , ^mpfindfmgeB, Strebungen, die im 
gegebenen Moment unsere Persönlichkeit ausmachen*'. Auch die Ver- 
doppelung der Persönlichkeit wird so erklärt: „wenn ein unbewufster 
Komplex sich immer mehr Elemente des gewöhnlichen Ich angliedert 
(anassoziiert), ohne sich mit dem Ich als ganzeiü zu verbinden, so wird er 
schliefslich zur zweiten Persönlichkeit." — Das Wesen der Hypnose ist es, 
dafs bestimmte psychische Funktionen gefördert oder gehemmt, zum Ich- 
komplex in Beziehung gesetzt oder von ihm abgetrennt werden. — Im 
Traum „schlagen die Assoziationen Wege ein, die sie im Wachen vermeiden". 
Bas Ich wird daher aus anderen Teilkomplexen zusammengesetzt^ „es wird 
also die Persönlichkeit eine andere". — So glaubt Verf. für mehrere bisher 
noch ziemlich dunkle Phänomene zeigen zu können, dafs seine Theorie 
geeignet sei, zu ihrer völligen Aufhellung zum mindesten einen Beitrag zu 
liefern. LipäIank. 

Edgar James Swift. Memory Of a COmplez SUllftll act. Amer, Journ, of 
Fsychol 16 (1), S. 131—133. 1905. 
Im Jahre 1902 hatte S. den Lernprozefs untersucht, der erforderlich 
ist, mit einer Hand mit zwei Kugeln so zu spielen, dafs jeweilig der eine 
gegriffen und geworfen wird, während die andere in der Luft ist. Zwei 
von den damals für die Experimente angewendeten Versuchspersonen 
wurden nach 21 bzw. 20 Monaten, nachdem das Spiel bis zum Können ein- 
geübt war, wieder von S. auf ihre Fertigkeit geprüft. Nur in den ersten 
paar Monaten der zwischenliegenden Zeit waren die Experimente einige 
Male wiederholt worden, die übrige Zeit, in beiden Fällen mehrere Monate 
über ein Jahr, waren die Versuchspersonen völlig aufser Übung gewesen. 
Es zeigte sich, dafs sie, weit entfernt, an ihrer Fertigkeit etwas eingebüfst 
zu haben eher bei den Wiederholungen der Experimente, das vorher Ge- 
leistete an Vollkommenheit der Ausführung übertrafen. Aall (Halle). 



Hekry Rutgers Mabshall. Premttation and Representation. Mind 15 (bl), 
53-80. 1906. 
Wie jede Reaktion der Materie Ursache ist, dafs die gleiche Reaktion 
an der gleichen Materie kaum jemals in völlig gleicher Weise wiederkehren 
wird, so stellt auch jede Reaktion der Nervenmasse unseres Gehirns oder, 
was psychologisch dem entspricht, jede Vorstellung unserer Seele ein ein- 
maliges, in seiner Eigenart einziges Ereignis dar und es war somit ein 
Irrtum, wenn die ältere Psychologie annahm, es könne eine Vorstellung 
(presentation), die wir gehabt, im weiteren Verlauf des psychischen Er- 
lebens als eben die Vorstellung, die sie früher gewesen, aufs neue empor- 
tauchen (representation). Steht dieser Sachverhalt fest, so wird man nicht 
umhin können, noch einen Schritt weiter zu gehen: auch das, was wir 
als einzelne Vorstellung anzusehen pflegen, ist in sich nicht eine Vor- 
stellung, sondern eine Abfolge unzähliger Einzelvorstellungen , die von 
Moment zu Moment sich verändern und verändern müssen, indem jeder 



Literatwrbericht 121 

n«u hinzukommende Moment neue Daseinsbedingnngen für den nächst- 
folgenden schafft, — Im Gründe ist auch hiermit nur etwas Selbstverständ* 
Hohes ausgesprochen, vorausgesetzt nftmlich, dafs Vorstellungen, wie alle 
psychischen Ereignisse, für den Psychologen nichts anderes sind als eben 
Ereignisse d. h. ein Werden und Vergehen und somit ein ständiger Wechsel. 
Wenn aber M. weiterhin es unternimmt, diesen Sachverhalt auch in Schemen 
nnd Formeln zum Ausdruck zu bringen, so überschreitet er damit sicherlich 
die Grenze des Möglichen, um sich in blofsen Willkürlichkeiten zu verlieren: 
denn willkürlich ist es beispielsweise, wenn er annimmt, dafs die Vor> 
Stellung eines Momentes über diesen hinaus in der Weise fortdauere, dafs 
sie im nächstfolgenden Moment einen ihrer Bestandteile eingebüfst habe, 
wieder im nächsten zwei usw.; oder, daTs die Wahrnehmung eines Gegen- 
standes („primäre Vorstellung^') immer von einer inhaltlich gleichen, wenn 
auch unmerklichen „sekundären Vorstellung*' begleitet sei, weil letztere als 
Erinnerung fortdauert, wenn die Wahrnehmung bereits verschwunden, usw. 

PßANDTL (Weiden). 

R. Wallasch£k. Psychologie and Pathologie der forstellung. Beiträge zur 
Grundlegung der Ästhetik. Leipzig, J, A. Barth. 1905. X u. 323 S. 

Verf. beabsichtigt, die psychischen Fähigkeiten, Empfindung, Vor- 
stellung, Gefühl und Urteil in ihren Beziehungen zur Ästhetik zu unter- 
suchen, indem er Ästhetik definiert als die Naturwissenschaft vom künst- 
lerisch geniefsenden und produzierenden Menschen. 

Seine Forschungsmethode soll die der physiologischen Psychologie 
sein, doch auch das pathologische Gebiet in Betracht ziehen. 

Im vorliegenden Werk wird zunächst die Vorstellung einer Unter- 
suchung unterzogen. Im ersten Teil wird der Ausdruck der Vorstellungen 
and seine krankhaften Veränderungen besprochen, im zweiten Teil das 
Wesen und der Verlauf der Vorstellungen selbst. 

Für die ersen Anzeichen geistigen Lebens erklärt Verf. die „Reflexe der 
Empfindung"; er meint hiermit anscheinend nur solche Befiexe, die eine 
Empfindung im Gefolge haben, Abwehrbewegungen, die zuerst zwar reiner 
Beflexakt eind, aber allmählich zur bewufsten Empfindung kommen, nicht 
selche, die wie der Pupillarreflex niemals zur Wahrnehmung gelangen. Aus 
den bewnfst gewordenen Reflexen bilden sich die ersten Willkürbewegungen 
aus und mit ihnen die Ansdrucksbewegungen und Gesten. Die ersten 
Laute, Schreie und später die Worte bedeuten oft eine ganze Erzählung; 
es entsteht innerlich zuerst ein ganzer Szenenkomplex, eine Summe 
ananalysierter Vorstellungen als Grundlage der Gedanken, erst viel später 
bildet sich die Analyse in Sätzen und in Worten in der Sprach entwicklung 
des Kindes aus. Aus dieser ontogenetischen Entwicklung leitet W. den, 
allerdings nicht neuen, Hauptgedanken seines Werkes ab, dafs in allen 
Äusdrucksformen der Intelligenz das Allgemeine (der unanalysierte Vor- 
stellungskomplex) früher auftritt als die Einzelteile. Verf. bespricht in 
besonderen Kapiteln Sprache, Gesang, Lesen, Schreiben, Musik, Geste und 
Aktion. In der Untersuchung dieser Verhältnisse schlägt W. einen der 
psychologischen Entwicklung entgegengesetzten Weg ein, indem er von 
den Elementen ausgeht und zum Allgemeinen fortschreitet. Da ihm die 



122 Literaturhe^icht 

Elemente der Sprache und der anderen Fähigkeiten am besten bei Gehirn- 
krankheiten zerlegt erscheinen, geht er vom Pathologischen aus und räumt 
in seiner Darstellung der Pathologie einen ungleich gröfseren Raum ein 
als der Physiologie. 

Die klinischen Fälle der Aphasie, Apraxie etc. sind mit einer für einen 
Nichtmediziner anerkennenswerten Sachkenntnis und grofser Klarheit er- 
<)rtert, mit etwas zu grofser Vereinfachung allerdings, weil in praxi die 
Störungen sich nicht in dem engen Rahmen des Schematismus halten. 
W. zieht aus seinen theoretisch gewonnenen Resultaten praktische Schlüsse, 
die er als Lehrregeln verwendet. Da das Lesen nicht im Buchstabieren 
besteht, gibt er den Rat, ein Kind zuerst kleine Worte, dann gröfsere Wörter 
und später erst Buchstabenanalyse zu lehren. Ähnliche Lehrsätze gibt er 
für den musikalischen Unterricht, da er aus Fällen von Aphasie, die mit 
Amusie kombiniert sind, geschlossen hat, dafs auch die Melodie viel früher 
von uns apperzipiert wird als die einzelnen Summanden, die Töne. W. 
konstruiert aus der einheitlichen Auffassung einer Tonreihe als Melodie 
die Notwendigkeit der Harmonie. Die durch Akzente hervorgehobeneu 
Haupttöne der Melodie werden in Gedanken festgehalten und ergäben so 
die Harmonie der Melodie. In der Melodie liege schon das Bedürfnis 
nach Harmonie, die Harmonie sei das Wesen der Melodie. Ref. ist 
dieser Auffassung schon verschiedentlich entgegengetreten, da seine mit 
£. V. HoRMBOSTEL gemeinsam ausgeführten Studien exotische Musik erwiesen 
haben, dafs es viele Völker gibt (Japaner, Türken, Inder u. a. m.), welche 
völlig harmonielos musizieren, und dafs psychologisch kein Grund vorliegt, 
ein latentes Harmoniegefühl anzunehmen oder gar zu postulieren. Weitere 
musikalische Lehrregeln W.s über die Ausführungen der Etüden, über 
Durchkomponieren etc. sind wertvoll und interessant, andere Bemerkungen 
aber, z. B. über die Berufskrankheiten der Musiker, gehören ganz und gar 
nicht in den Rahmen eines psychologischen Werkes. Was hat die Sykosis 
der Geiger und das Ekzem der Flötenspieler mit der Psychologie der Vor- 
stellung zu tun? 

Im zweiten Teil seines Werkes untersucht W. die Vorstellungen selbst, 
ihre Beschaffenheit und ihre Assoziation. Zuerst bespricht er die drei 
bekannten Vorstellungstypen, auch hier wieder einen starken Schematismus 
verratend. Wer experimentell-psychologisch gearbeitet hat und versucht 
hat, durch tachystoskopische Versuche seinen eigenen Typus festzustellen, 
weifs, wie enorm schwierig es ist, sich als einen akustischen, visuellen oder 
motorischen Typus hinzustellen. W. verteilt aber die Vorstellungs typen 
bereits auf die Nationen. Die anglikanische Rasse gehöre vorzugsweise 
dem Gesichtstypus an (^Naturwissenschaft, Technik), die romanische neige 
sich dem Bewegung8tyi)us zu (^Darstellungstalent, Formensinn, dramatische 
Tendenz\ der Deutsche dem Gehörstypus (^Philologien oder jenem Gesichts- 
typus, der in gedruckten Worten vorstellt ^Bücherwurm )(!!!). 

W. untersucht das musikalische Vorstelhingsgebiet und dann das 
Denken und Sprechen auf diese drei Typen hin. In der Auswertung der 
musikalischen Vorstellnngstypen setzt Verf. den Gehörstypus nicht eben 
hoch in der Wertskala; man finde durch ihn nicht leicht die Beziehung 



Literaturhericht 123 

sum übrigen Seelenleben. Historisch betrachtet, scheint ihm von dem 
Bewegungstypus der gröfste EinfluTs auf die Tonkunst ausgegangen zu sein. 
Die alte Streitfrage, ob man in Worten denkt oder in Anschauungen und 
Bildern, glaubt W. leicht beseitigen zu können: Einige denken nach ihm 
in Worten, andere nicht. In Worten denken die Motorischen; diejenigen 
aber, die beim Lesen gruppenweise auffassen, bilden auch im Denken 
Gruppen. Zum Beweise führt er an, dafs so viele Menschen im Augenblick, 
wo sie ihre Gedanken wiedergeben sollen, über die Worte nicht verfügen.(I) 
Er verwechselt anscheinend „Worte" mit kunstvoll und stilistisch gut 
gebauten Sätzen. 

Nach den Vorstellungstypen erörtert W. die Assoziationen der Vor- 
stellungen, schliefst aber auch die Empfindungsassoziationen, die streng 
genommen nichts mit dem Titel des Buches zu tun haben, in seine Be- 
trachtungen ein. Den Hauptwert legt er auf die sekundären Emp- 
findungen, die nicht durch einen äufseren Reiz auf das betreffende 
Sinnesorgan ausgelöst werden, sondern durch primäre Empfindungen eines 
anderen Sinnes. Er bespricht Fälle primärer Gehörsempfindung, denen 
sekundär Licht- und Farbenempfindungen, Tast-, Temperatur-, Geruchs-, 
Geschmacks- und Bewegungsempfindungen folgen. Nur in wenigen der 
W.6chen Fälle scheinen wirkliche sekundäre Empfindungen vorzuliegen, 
in den meisten handelt es sich nur um schwache sekundäre Vorstellungen, 
einige Bind nur theoretisch nach Analogie konstruiert und wieder andere 
sind weder als Sekundärempfindungen noch als Sekundärvorstellungen auf- 
zufassen: Die Tendenz, aus dem Tick-Tack der Uhr Worte herauszuhören, 
beruht ebensowenig auf einer sekundären Empfindung, wie die Gewohnheit 
mancher Individuen, beim Hören von Musik Takt zu schlagen. Denn die 
dabei entstehenden Bewegungsempfindungen sind nicht im obigen Sinne 
Sekundärempfindungen, da zwischen ihnen und den primären Empfindungen 
viele Zwischenstationen im sensiblen und motorischen Zentralapparat 
liegen. 

W. versucht, nachdem er die bisherigen Erklärungen der sekundären 
Empfindungen als ungenügend abgelehnt hat, eine eigene Erklärung: 
Manche Menschen besitzen eine ungleiche Dehnbarkeit der Blutgefäfse des 
Geliirns; infolge dieser werden auch andere, nicht direkt durch die ent- 
sprechenden Nerven erregte Hirnpartien gereizt, indem sie auf den erhöhten 
Blutdruck als Reiz reagieren. 

Mit dieser Theorie (!) glaubt W. zu erklären, dafs emotionale Erregung 
die Photismen verstärke, zunehmendes Alter sie abschwäche, dafs die 
sekundären Empfindungen temporär auftreten und in unberechenbaren 
Kombinationen erscheinen. Er findet im Haschischrausch eine Bestätigung 
seiner Theorie und hält eine Selbstbeobachtung Goethes, dafs Gegenstände 
mit zurückgebeugtem Kopfe betrachtet einen farbigen Rand zeigen, für eine 
Stütze seiner Erklärung. (Eine Beobachtung, die wahrscheinlich in den 
Brechungsverhältnissen der verschiedenen Linsenpartien ihre Erklärung 
findet und vor allem der wissenschaftlichen Nachprüfung bedarf. Der Ref.) 

Zu W.8 Theorie mufs man nach Ansicht des Ref. eine stattliche Anzahl 
von Hilfshypothesen machen: 



124 Literaturberichi, 

1. Dafs die Blntgefäfse des Gehirns sich anders verhalten als die Blnt* 
gefttfse des übrigen Körpers. 

2. Dafs nicht in allen, sondern nur in einzelnen Hirnpartien eine 
stärkere Dehnbarkeit der Blntgefftfse besteht 

3. Dafs durch eine Empfindung ein erhöhter Blutdruck im Gehirn 
eintritt. 

4. Dafs ein erhöhter Blutdruck im Gehirn einen Sinnesreiz abgibt. 

5. Dafs die physiologisch groben Verhältnisse der Blutstauung den 
feinen psychologischen Verhältnissen der Synästhesien parallel laufen. 

Diese Hypothesen, speziell die zweite, zeigen die Unmöglichkeit. W.s 
Erklärung als eine „Theorie*' zu betrachten. 

W. mifst den sekundären Empfindungen eine grofse Bedeutung bei, 
er erklärt sie für eine Lebensbedingung, denn nichts weniger als den 
Instinkt führt er auf Sekundärempfindungen zurück. Er beweist dies an 
einem Beispiel : Eine Kuh vermeidet das giftige Kraut Eine Kuh, die vom 
(lenufs des giftigen Krautes gestorben ist, kann ihr diese Erfahrung nicht 
vererbt haben. (Aber vielleicht eine nur krank gewordene Kuh?? Ref.) 
Wenn aber der Anblick oder der Geruch des Krautes sekundäre Geschmacks- 
empfindungen auslöst von der Art, als wenn das Kraut schon genossen, 
wäre, dann könne man die Enthaltsamkeit des Tieres begreifen. „Der 
Instinkt beruhe auf der antezipierenden Funktion sekundärer Emp- 
findungen."!!) Es ist Ref. nicht klar, weshalb dem Geschmack eine so 
dominierende Stellung vor den anderen Sinnen eingeräumt wird ; es könnte 
doch auch die unangenehme primäre Geruchsempfindung zur Erklärung 
genügen. 

Nach den Assoziationen der Vorstellungen widmet W. ein Kapitel dem 
Gedächtnis. Er unterscheidet reflektorisches und bewufstes Gedächtnis. 
Gedächtnis ist nach ihm ein zurückgehaltener Imitationsreflex, der sich 
mit anderen Reflexen oder deren Spuren verbunden hat. W. bringt Bei- 
spiele aufserordentlicher reflektorischer Gedächtnisleistungen, welchen zwar 
keine Erhöhung der geistigen Fähigkeiten zugrunde liegt, sondern bei denen 
nur der Grad der Reproduktionsfähigkeit gesteigert ist. Den immerhin 
geistigen Gewinn solcher Fähigkeiten erklärt W. mit der völligen Ein- 
seitigkeit dieser Begabung auf Kosten anderer. W. geht noch einmal auf 
seinen Grundgedanken ein, dafs das Ganze sich eher einprägt als die Teile 
und gibt dementsprechend Anweisung für das Auswendiglernen speziell 
auf musikalischem Gebiet W.s Ansicht, dafs Melodiegedftchtnis ohne 
Harmonieverständnis unmöglich ist, mofs R. für unrichtig erklären, da es 
ihm in zahlreichen Fällen gelungen ist, harmonielose exotische Melodien, 
die er auch harmonielos zu hören gelernt hat, auch im Gedächtnis zu 
behalten. Auch in der Auffassung des absoluten Tongedächtnisses muf» 
Ref. dem Verf. entgegentreten. W. identiflziert absolutes Tongedäcbtnis 
mit einem Erkennen von Obertonfamilien, innerhalb deren der Hauptton 
leicht geschätzt wird. Die Schätzung des Haupttones hält Ref. für da» 
eigentliche absolute Tongedächtnis, das andere wäre nur ein Klangfarben- 
gedächtnis. Zwischen einfachen Stimmgabeltönen und obertonreichen 
ungewohnten Klängen besteht in der Schwierigkeit der Höhenbearteilung 






Literaturhericht. 125 

kein Unterachied. Gewohnte Klänge werden natürlich leichter beurteilt 
als ungewohnte. 

Nach den physiologiechen Verhältuiesen der Vorstellung geht Verf. 
noch auf die Krankheiten der Vorstellung ein, auf Zwangsvorstellungen, 
Bausch und yerschiedene Formen des Wahnsinns. Er bespricht einige 
französische Experimente über den EinfluDs der Musik auf Irrsinnige und 
spricht ihr, den Experimenten zufolge, jeden Heilwert ab. Mit einer Be- 
sprechung des natürlichen Schlafes und Traumes und der Hypnose schliefst 
das Buch. 

Es enthält eine reiche Fülle interessanten Materiales, das allen mög- 
lichen, wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen, Quellen entstammt. 
Wenn Verf. im Vorwort erklärt, seine Forschungsmethode sei die der 
physiologischen Psychologie, dann kann Ref. nur annehmen, dafs er hier- 
mit nicht die Methoden der experimentellen Psychologie gemeint hat, denn 
das ganze Werk enthält nicht ein einziges, eigenes, systematisch auf- 
geführtes psychologisches Experiment. Die gelegentlichen Selbstbeob- 
achtungen können nicht als Experimente betrachtet werden. 

Otto Abraham (Berlin). 

F. Sghümank. Ptychol^gls^O StudtoB. Leipzig. Id04. 

1. Abteilung: Beiträge Sir Analyse der fteslektswaknekwuigeA. 1. Heft. 

160 S. 

2. Abteilung: Beitrige ivT Ptyeholegle üer Zeilwatonehm&g. 1. Heft. 

166 S. 

Die beiden vorgenannten Hefte der ScHuuAKNSchen „Studien'^ enthalten 
eine Keihe von Aufsätzen, die nach und nach in der ^jZeittchnft für Psycho- 
logie und Physiologie der Sinnesorgane'^ erschienen und jetzt von Sch. 
gesammelt noch einmal herausgegeben sind, „um sie im Zusammenhang 
und in bequemer Form den Fachgenossen zugänglich zu machen". Das 
Heft der ersten Abteilung wird ausgefüllt durch vier Abhandlungen: 
^Einige Beobachtungen über die Zusammenfassung von Gesichtseindrücken 
SU Einheiten'', „Znr Schätzung räumlicher GrötaeD**, „Der Sukzessivvergleich" 
und „Zur Schätzung der Richtung*' ; die „Beiträge zur Psychologie der Zeit- 
wahrnehmung'* enthalten drei Abhandlungen Schümanns „Zur Psychologie 
der Zeit&nschauung", „Ein Kontaktapparat zur Auslösung elektrischer 
-Signale in variierbaren Intervallen", „Zur Schätzung leerer, von einfachen 
Schalleindrücken begrenzter Zeiten", denen sich eine Arbeit von KubtEbhabdt 
anschliefst „Zwei Beiträge zur Psychologie des Bhythmus und des Tempo'*. 
Die Sammlung wird, wie Schümann in dem kurzen Vorwort mitteilt, fort- 
gesetzt werden durch weitere Untersuchungen auf den bezeichneten Gebieten, 
die vom Herausgeber selbst oder unter seiner Leitung angestellt sind. 

Auf den Inhalt der Abhandlungen im einzelnen einzugehen, dürfte 
sich in diesem Zusammenhang erübrigen. Was das Unternehmen als 
Ganzes anlangt, so hat sich Schümann meiner Meinung nach den Dank 
wttter psychologisch interessierter Kreise erworben, indem er sich zum 
Abdruck der Arbeiten in dieser Form entschlossen hat. Das Wesentliche 
dabei ist dies, dafs es sich nicht um Spezialuntersuchungen über dies und 
jenes handelt, sondern um Untersuchungen, die, wenn sie auch auf mehr 



126 Literaturbericht 

oder weniger verschiedene Fragen sich erstrecken, doch von einem einheit- 
lichen Geist getragen sind nnd ein bestimmtes gemeinsames Ziel im Auge 
behalten. Dies Ziel bestimmt 8ch. selbst als die experimentelle Erforschung 
ilerjenigen psychischen Vorgänge, die bei der geistigen Verarbeitung der 
Hinneseindrücke in Frage kommen. Dabei kommt es ihm vor allen Dingen 
an auf die einwandfreie Feststellung der Tatsachen selbst im unmittelbaren 
Erlebnis, speziell darauf, in der Feststellung der Tatsachen nur die Beob- 
achtung selbst sprechen zu lassen und sie frei zu halten von jedem logi- 
sierenden Rftsonnement. Die strenge Durchfahrung dieser — durch die 
Resultate der Untersuchung schon genügend gerechtfertigten — Methode 
gibt den „Studien"' meiner Meinung nach eine nicht zu unterschätzende 
Bedeutung, die hinausgeht über diejenige, die sie für die speziell behandelten 
Gegenstände der Gesichts- und Zeitwahrnehmung besitzen, eine Bedeutung 
für die Frage der psychologischen Methode überhaupt und für die Grund- 
legung der Psychologie als Wissenschaft. v. Asteb (München). 

K. 81BGEL. Ober Ranmvorstelliuig und Ranmbegriff. Wissenschaftl. Beilage 
zum 18. Jahresber. d. Philos. Gesellsch. an d. Univ. zu Wien. Leipzig, 
Barth. 1905. 11 S. 

In mustergültig knapper und präziser Form bringt dieser Vortrag auf 
seinen elf Seiten eine Fülle anregender, teilweise ganz neu formulierter 
Gesichtspunkte zur begrifflichen Scheidung von Kaum Vorstellung 
und Raumbegriff. Nun ist es ja schon an sich verdienstlich, auf die Not- 
w^eudigkeit dieser Scheidung wieder einmal mit allem Nachdruck hin- 
gewiesen zu haben, ganz besonders erfreulich ist aber, dafs der Verf. mit 
seiner Untersuchung von Kant ausgeht. Ist es doch für die Raumpsycho- 
logie so verhängnisvoll geworden, dafs man den KANTschen Apriorismus 
psychologisch anstatt logisch auslegte. So schien der Empirismus 
sich mit mehr Recht auf Kant zu berufen als der Nativismns. 

Nun ist freilich Kant selbst an den Mifsgriffen seiner NacMolger 
diesmal nicht unschuldig In seine transzendentale Ästhetik, die doch auf die 
Apriorität des Raumbegriffs abzielte, hat sich die Raumvorstelluns 
mehrfach eingeschlichen, ohne dafs er diese Verquickung psychologischer 
und logischer bzw. erkenntnistheoretischer Gesichtspunkte bemerkt hätte. 
Dennoch ist es falsch, zu sagen, „Kant müfste sich eher für den Empirismus 
entscheiden^ (S. ö). Der Verf. hat vielmehr selbst ganz richtig auf den 
Punkt hingewiesen (S. 7), wo sich der Nativismus mit Recht auf Käst 
beruft. 

Durch die Annahme der Möglichkeit Nicht-Euklidischer Räume ist nun 
das ganze Kapitel von der transzendentalen Ästhetik revisionsbedürftig 
geworden und zugleich auch die Frage nach dem Verhältnis von Raum- 
Vorstellung und Raumbegriff in ein neues Stadium getreten. Und zwar 
sieht S. die erkenntnistheoretische Bedeutung der Nicht- 
Euklidischen Geometrie eben darin, dafs sie n<len klarsten Beireis 
liefert für die Differenz von Raumvorstellung und Raumbegriff, ja noch 
mehr für die relative Unabhängigkeit des letzteren von der ersteren und 
die Erkenntnis jenes Grades von Willkür, der der Bildung des Raunt- 
begrifles innewohnt**. Denn sie zeigt, dafs „man nie durch die Anschauung 



Literaturberickt 127 

entscheiden kann, ob der anschaulich gegebene Raum ein ebener, sphärischer 
oder pseudosphärischer ist. Dieselbe Raum anschau ung läfst sich begrifflich 
als eben, sphärisch oder pseudosphärisch interpretieren". 

Schliefslich wirft S. noch einen kurzen Blick darauf, in welcher Form 
die KANTSche Problemstellung: „Wie sind synthetische Urteile a priori 
möglich?" für die heutige Erkenntnistheorie wiederkehrt und kommt so 
im Sinne Kants zu dem auch für die Raumpsychologie bedeutungsvollen 
Schlufssatz, „dafs die Theorie, sofern sie von der Erfahrung unabhängig 
und insofern willkürlich erscheint, von anderer Seite, etwa durch die Natur 
der Grundfunktionen des menschlichen Geistes notwendig bestimmt sei". 

AcKSBKNECHT (Stettin). 

J. E. Bbaitd. The Sffect of Terbal Suggestion vpon the Estimatlon of Linear 
Hagnltndes. Fsyckol Review 12 (1), 41-49. 1905. 

Verf. stellte sich die Aufgabe, die Wirkung von Suggestionen auf die 
GroDsenBchätzung von Linien experimentell zu bestimmen. Der Apparat 
bestand hauptsächlich aus einem mattschwarzen Schirm mit zwei horizon- 
talen. Übereinander angeordneten Schlitzen. Im unteren Schlitz wurden 
die suggerierenden Mottos exponiert, im oberen zwei weiTse Pflöcke in 
bestimmter Entfernung voneinander, die abzuschätzende Länge darstellend. 
Vor diesem Schirm war ein zweiter Schirm, ebenfalls mit zwei Schlitzen,, 
aber in solcher Anordnung, dafs man die hinteren Schlitze nie gleichzeitig- 
sehen konnte. Darunter war ein Einschnitt, in den der Prüfling zwei 
weitere Pflöcke einsteckte, in Übereinstimmung mit seinem Erhinerungs- 
bild der gesehenen Entfernung. 

Die folgenden Mottos wurden angewendet : Make short enough. Make 
long enough. Don't make too long. Don't make too short. Make short. 
Make long. Die sinnlose Buchstabenkombination Zwp f jvic bgzx asye. Und 
der bedeutungslose Satz Life is real where. Die beiden letzten Mottos 
wurden benutzt, um die Versuchsbedingungen ohne bestimmte Suggestion 
denen mit Suggestion möglichst gleich zu machen. Das Motto wurde zu- 
erst zwei Sekunden exponiert, dann die Pflöcke zwei Sekunden, schliefslich 
wiederum das Motto. Im allgemeinen waren die vom Prüfling hergestellten 
Entfernungen für Make short enough gröfser als für Make long enough. 
Die Entfernungen für Make long waren gröfser als die für Make short;. 
und die für Don't make too long waren gröfser als die für Don't make too 
Short. Doch fanden sich individuelle Unterschiede und auch Unterschiede 
bei demselben Prüfling zu verschiedenen Zeiten. Die Wirkung der Sug- 
gestion war manchmal positiv, manchmal negativ. 

Da die Wörter long und short an sich einen gröfseren Einflufs auszu- 
üben schienen als die Bedeutung des Satzes, in dem sie vorkamen, so 
wurden einige weitere Versuche in dieser Richtung angestellt. Diese Ver- 
suche führten jedoch mit zwei der Versuchspersonen zu gar keinem Er- 
gebnis. Eine dritte Person machte für short die Entfernung fast aus- 
nahmslos gröfser, eine vierte die Entfernung für long gröfser. Es scheint 
demnach, dafs die Wörter long und short allein einen Suggestiveinflufs 
ausüben können. Doch hängt es von mannigfachen Umständen ab, welcher 
Art dieser Einflufs ist. Interessant ist es noch zu bemerken, dafs die her- 



128 LUeraturhericht 

^eetellten Entfernungen tun eo kleiner zu sein scheinen, je bedeutungeloser, 
uninteressanter das Motto ist. Dem Motto Life is real where schienen die 
Prüflinge am allerwenigsten Interesse abzugewinnen, weniger noch als der 
Bucbstabenkombination. Max Mbtxk (Columbia, Missouri). 

Kaymond Dodgb. Ths IllvsiOA of Cleur Tision dviiBg Ejs Kovemeat Psydio- 
logical BülUHn 2 (6), 8. 193—199. 1905. 

Bei schneller Bewegung des Auges nehmen wir, solange die Bewegung 
-dauert, keine neuen Bilder in uns auf, ohne uns aber andererseits einer 
Verschmelzung der Gesichtseindrücke bewulst zu werden, welche doch die 
notwendige Folge der raschen Bewegung sein müfste. Holt hatte zur 
Erklärung dieser Tatsache die Hypothese einer zentralen Anästhesie bei 
Augenbewegungen aufgestellt und dieselbe auf experimentellem Wege zn er- 
weisen gesucht. Verf. weist nach, dafs Holts Experimente, tnlweise unzu- 
verlässig, jedenfalls nichts zugunsten seiner Hypothese beweisen. Die Tat- 
sache findet vielmehr ihre Erklärung, wenn man bedenkt, da£B ^nenyeits 
die Nachbilder der Netzhautreizungen eine nicht unbeträchtliche Zeit in 
gleicher Intensität fortdauern und eine gewisse Zeit vergeht, ehe die neuen 
Beizungen zu voller Geltung gelangen, und andererseits, dals bei schnellen 
Augenbewegungen unsere Aufmerksamkeit von vornherein nicht auf die 
Eindrücke während der Bewegung, sondern eben nur auf den Ausgangs- 
und Zielpunkt der Bewegung gerichtet ist. Pbaki>tl (Weiden). 

L. Laübent. Les prooUis des Utenrs de ptnsief. Jaumal de FsycJiologie 
normale et pathologique 2 (6) 481—495. 1905. 
L. erklärt das Gedankenlesen auf geringer Entfernung ohne Berührung 
<ies Führers und des Gedankenlesers durch Hyperakousie infolge gesteigerter 
Aufmerksamkeit in Erwartung bestimmter willkürlicher oder unwillkarlicber 
phonetischer Äuiserungen. Gboethüyssn (Berlin). 

€. G. Jung. Experimentelle Beobachtungen über du KrinnernngSTemiögeiL 

ZentralbL f. NeroenheWc, u. Psychiatr. 28 (196), 653—666. 1905. 

Verf. schildert eine neue experimentelle Methode, das „Beproduktions- 
verfahren". Es „besteht darin, dafs nach vollendeter Aufnahme der Asso- 
ziationen noch einmal überprüft wird, ob sich die Versuchsperson erinnert, 
wie sie auf die einzelnen Beizworte reagiert hat". 

Wenn das Reizwort einen unlustbetonten Komplex anklingen läfst, 
so sucht die Versuchsperson bewufst oder unbewufst diesen Komplex 
zu verdrängen, also mit einem möglichst indifferenten Worte zu reagieren. 
Es finden sich also bei solchen Reaktionen folgende Eigentümlichkeiten: 

1. Verlängerung der Assoziationszeit, 

2. Verlängerung auch der folgenden Assoziationszeiten, — da der 
Gefühlston perseveriert, 

3. Beziehung des Reaktionswortes zu dem Komplex, — da die Ver- 
drängung gewöhnlich nur unvollkommen erfolgt, 

4. Falsche Reproduktion des Reaktionswortes, — da dieses eben 
gewissermafsen nur eine „Ausrede" war und infolgedessen schnell vergessen 
wurde, — oder da man „mit Prädilektion das Unangenehme, resp. auch das 
mit dem Unangenehmen Assoziierte" vergifst. — Verf. gibt beide Er- 



Literaturbericht. 129 

klärungen; nach Ansicht des Ref. wird man sich — wenn nicht allgemein, 
«o doch in jedem Einzelfalle — für eine von beiden entscheiden müssen; 
denn wenn das Beaktionswort eine „Ausrede" war, so war die entsprechende 
Vorstellung eben nicht besonders unangenehm und nicht besonders fest 
mit etwas Unangenehmem assoziiert. 

Verf. weist an zwei pathologischen Fällen nach, dafs diese vier 
Momente in der Tat sehr häufig zusammen auftreten, und zwar läfst sich 
auch fast immer aus der Art der Keaktion oder durch weitere Auskünfte 
der Versuchsperson der unlustbetonte Komplex selbst näher nachweisen. 

LiPMANN (Berlin). 

Hbunier. Dei rhm Stiriotypte. Journal de Psychologie norm, et pathol 2 (5), 
S. 427—438. 1905. 

Die Träume sind geistige Vorgänge, die dem BewufBtsein des Schläfers 
bestimmte Zustände des Gemüts und des Gemeingefühls übermitteln. 

Die Übertragung der Gemeingefühle knüpft an analoge oder ähnliche 
subjektive Erinnerungen an, wenn solche vorhanden sind. Ist das nicht 
der Fall, so wird vergleichbares Erinnerungsmaterial aus Anklängen der 
objektiven Erfahrung und Mitteilung untergeschoben. — Den Gemüts- 
zuständen wird die Traum Vorstellung dadurch angepafst, dafs ein Ereignis 
«upponiert wird, dessen tatsächliches Ablaufen denselben Emotionszustand 
hervorbringen würde. Die Beschränkung geschieht dadurch, dafs aus der 
Erinnerung nur absolut Vergleichbares herangezogen wird: durch eine 
geistige Kesonanz, die grundsätzlich Gleichklang voraussetzt. Die konforme 
Erinnerung wird zur Dominante der Traumvorstellung, auch wenn sie 
seinerzeit mit einer quantitativ viel geringeren Anteilnahme wahrgenommen 
worden ist. 

Aus diesem psychischen Mechanismus der Träume folgt die prinzipielle 
Seltenheit stereotyper Träume. Zu ihrem Zustandekommen muTs sich der 
. gleiche Anlafs unter den gleichen Bedingungen wiederholen: es muTs sich 
eine bestimmte Traumursache ein für allemal unlöslich mit einem be- 
stimmten Trauminhalt verbinden. In den Grenzen der geistigen Gesund- 
heit erfüllen sich die dazu nötigen Voraussetzungen nur in der Jugend: 
stereotype Träume können sich hier also nur an Erinnerungen der Jugend 
binden: Dagegen giebt eine Beihe von Fsychopathischen Zuständen jene 
Bedingungen im weitesten Umfange. Daher sind bei der Epilepsie, bei der 
Hysterie, bei degenerativen Zuständen und im Fhasenwechsel des manisch- 
depressiven Irreseins die stereotypen Träume eine häufige Erscheinung. 
Ihr Auftreten rechtfertigt aber überhaupt und in allen Fällen die Annahme 
einer Psychopathie, wenn ihr Inhalt nicht eben Jugenderinnerungen 
reproduziert. W. Altsb (Lindenhaus). 

Will S. Mokboe. leiUl Elements of Dreams. Jbiim. of Philos., Psycho!, etc. 

2 (24), 8. 650-662. 1905. 
Verf. hatte di« 65 Schülerinnen eines psychologischen Kurses ihre 
Trftume von 6 aufeinanderfolgenden Nächten aufzeichnen lassen und mbri< 
xiert hier die gelieferten Beschreibungen, hauptsächlich nach der Art der 

ZeitBOhrift für Psychologie 43. 9 



130 Literaturbericht. 

Sinnes Wahrnehmungen, welche den Gregenstand des Traumes gebildet hatten 
(Gesichts-, Tast-, Geruchs Wahrnehmungen usw.)- Prandtl (Weiden). 

Jaxbs Ralph Jbwell. The Psychology of DreiBS. Anier. Joum. of Psycho- 
logy 16 (1), S. 1-34. 1905. 

Die Grundlage dieser Untersuchung bildet eine Reihe von Antworten» 
die auf vom Verf. ausgesandte Fragebogen eingingen. Die Fragebogen 
wurden vornehmlich an amerikanische Normalschulen geschickt. Mehr als 
200 Träume von ungefähr 800 Individuen sind verwertet, weiter stellte eine 
Anzahl reiferer Personen aus dem Bekanntenkreis des Autors, die Tage- 
bücher führten, über das was sie geträumt hatten, diese dem Verf. zur 
Verfügung. 

Verf. gibt zu — was auch vorauszusehen war — dafs eine summarische 
Zusammenstellung der auf die Fragen eingegangenen Antworten lange nicht 
für die psychologische Erforschung des Gegenstandes so viel gibt wie eine 
sorgfältige Prüfung und Vergleichung der mitgeteilten Trauminhalte. Von 
der auf das Traumleben bezüglichen Literatur hat J. die deutsche nicht 
weiter berücksichtigt. Die Untersuchungen Schernebs und Fbeuds sind 
nicht erwähnt ; auch versucht der Autor keine neuen theoretischen Gesichts- 
punkte einzuführen, sondern begnügt sich mit einem Referat der bisher 
gelieferten Theorien. 

Aus den Resultaten sei folgendes hervorgehoben. 

Nicht ohne Erfolg werden gewisse Methoden angewendet, um unan- 
genehmen Träumen vorzubeugen. — Das Pubertätsalter bedeutet, wie schon 
von Mosso festgestellt, einen entschiedenen Wendepunkt, was den Inhalt 
des individuellen Traumlebens betrifft ; ein sehr wenig entwickeltes Traum- 
leben will der Autor bei einigen in ländlichen Umgebungen aufgewachsenen 
Individuen skandinavischer und deutscher Herkunft gefunden haben. Die 
motorische Aktivität im Schlafe zeichnet besonders das Kindesalter aus. 
Alter, Ort und Nationalität scheinen für die Träume Bedeutung zu haben. 
Sander träumen von den Ereignissen, die sie in besondere Erregung ver- 
setzen, ziemlich unmittelbar, nachdem solche eingetreten sind; bald nach 
dem Eintritt des erwachsenen Alters, treten solche Träume für eine Weile 
nicht mehr auf; später, bei der reiferen Jugend und im vollerwachsenen 
Alter, ist gewöhnlich der Abstand zwischen einem Ereignis und dessen 
Reproduktion im Traume desto gröliser, je gröfsere Bedeutung das Ereignia 
für das Individuum hat. Es scheint nach begründeter Annahme, als oh 
die Träume vom Fallen und vom Fliegen nur nach der inneren Beurteilung 
der BewuTstseinserregung verschieden sind. Das Urteilsleben gestaltet sich 
in Ausnahmsfällen auch im Traume logisch. Man kann im tiefen Schlaf« 
zustand wissen, dafs man träumt. Die Gefühlserregungen im Traum sind 
zum grofsen Teil durch die organischen Empfindungen bestimmt. Die Ver- 
mischung der Träume mit dem wirklichen Leben ist unter den Kindern 
fast allgemein und kommt auch an jungen und erwachsenen Personen recht 
häufig vor. — Der Einflufs der Träume auf das wirkliche Leben ist viel 
höher anzusetzen, als man sich gewöhnlich vorstellt. — Es gibt keine 
Äufserungsform des Bewufstseins im wachen Zustand, die nicht auch im. 
Schlaf vorkommen könne. Aall (Halle). 



Literatunberichz, 131 

B SE LA GaASSRBis. U l^yeholOgle de l'argot Bevue phüos. 60 (9), 260—289. 1905. 
Jede GeseUschaftsschicht hat eine oder je nach den Umständen mehrere 
Sprechweisen. G. sucht die psychologischen Motive dieser verschiedenen 
Sprechweisen za ergründen. Grobthutsbn (Berlin). 

W. B. BoTCB GiBsoN. Predetemünatieft and PenoBal Indeafonr. Mind N. s. 
15 (56), S. 494—606. 1905. 
Ist die Wirklichkeit an sich schon vollkommen oder hängt der Grad 
ihrer Vollkommenheit davon ab, was wir aus ihr erst machen? Ist es 
möglich, den Widerstreit zwischen Wissen, das nur die Tatsachen der 
Wirklichkeit, und unserem Wollen, das nur die eigenen Vorstellungen im 
Gegensatz zur Wirklichkeit gelten lassen will, irgendwie auszugleichen? — Da 
Verf. nicht befriedigt ist mit den Antworten, welche Hboel und in neuerer 
Zeit McTagoart auf diese Frage gegeben, so versucht er die Lösung des 
Problems aufs neue und zwar von psychologischer Seite aus. — Wissen 
und Wollen stimmen beide darin miteinander ttberein, dafs sie zielbewufste 
Tätigkeiten sind; während aber das Wissen sich damit begnügt zu wissen, 
besteht das Wollen darauf, „die Wahrheit des Willens, aus dem es ent- 
springt^" zum vollen Ausdruck zu bringen, d. h. zu handeln. £s gibt so- 
nach nicht nur ein Wissen von Objekten als Objekten, sondern auch vom 
Subjekt als Subjekt, — womit freilich Verf. sich in Gegensatz stellt zu 
aller Methode der Wissenschaft und speziell auch der Psychologie. — Mag 
auch alle Wahrheit in sich schon vollkommen sein, so wird sie es doch 
auf jeden Fall für uns erst dann, wenn wir sie als vollkommen erkannt 
haben. Und femer, während die Erkenntnis von Objekten die Wahrheit 
als gegeben voraussetzt, ist die Selbstkenntnis die Kenntnis von einem sich 
selbst Bestimmenden, noch zu Bestimmenden. — Bei diesen Sätzen haupt- 
sächlich bleibt BoTCB Gebson stehen, ohne eine endgültige Antwort auf die 
gestellte Frage zu geben. Pbakdtl (Weiden). 

Th. Elbknhahb. Die Aifgabe einer Psychologie der Devtnig als Torarbolt fir 
die fielsteiwUseisehafteil. GieTsen, Kicker. 1904. 26 S. 
Dieser Giefsener Kongrefsvortrag gibt ein allgemeingehaltenes Pro- 
gramm wünschenswerter Vertiefungen, deren die Psychologie der Deutung 
über Scm.RTBKMACHBBs, BöGKHS und DiLTHBTs Theorie der Hermeneutik 
hinaus bedürfe. £. definiert Deutung als den „Vorgang, in welchem wir 
aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Geistiges erkennen und wiedergeben'' 
und grenzt sie von der Einfühlung und dem blofsen Verstehen ab. Er 
verlangt namentlich, dafs die wissenschaftliche Methodenlehre neben der 
Verstandesseite der Deutung auch die Gefühlsseite gründlicher würdige, 
und statuiert ein dem körperlichen Lebensgefühl analoges „Gemeingefühl**, 
welches sich z. B. bei der Auslegung geschichtlicher Einzeldenkmäler als 
eine Art „historisches Totalgefühl" geltend mache. Auch die Mitwirkung 
der Fantasie bei historischer Darstellung sei mehr zu betonen. 

Ettlihobb (München). 

J. A. Lkiobtoh. Seif amd Io^8olf In Prlmltlfe Izporlenoe. Journal ofFnüos., 
Ftyehol. and Scient Methods 2 (14), 372—376. 1906. 
In ziemlich flüchtigen Umrissen deutet L. an, wie er sich die all- 

9* 



132 Literatlirbericht 

mähliche Entwicklung des Selbstbewufstseins , in seiner Sprache aas- 
gedrückt der im Bewnfsteein sich vollziehenden Scheidung von Ich und 
Nichtich, in der Erfahrung des Kindes denkt. Leider unterlftfst er es dabei, 
die Frage des Gegensatzes von Gefühl und Empflndungsinhalt (ein- 
schliefslich der Organempfindungen) zu diskutieren, ohne deren eingehende 
Erörterung es mir nicht möglich scheint, dem Problem des Selbst- 
bewuTstseins wirklich näher zu kommen. In der zweiten Hälfte des Auf- 
satzes werden die Begriffe ^^Erfahrung" und ,, Wissen" auseinander gestellt 
und in ihrem Gegensatz charakterisiert. v. Astbb (München). 

JtjNB E. DowivBT. formal Tariations in the Sense of Reallty. Psychological 
Bulletin 2 (9), S. 297-299. 1905. 

Verf. zeigt an einer Reihe von Beispielen, daCs das Wirklichkeits- 
bewufstsein auch im normalen Leben und auch gegenüber Gegenständen 
der Sinneswahmehmung häufigen Schwankungen unterliegt nnd mehr oder 
weniger dem Bewufstsein des Nichtwirklichen Platz macht (z. B. im Zustand 
der Schlaflosigkeit, der emotionellen Ermüdung usw.). Diese Erscheinungen 
mit organischen Störungen in Zusammenhang zu bringen, gibt noch keine 
befriedigende Erklärung derselben ; Verf. glaubt es daher mit Fällen sich zer- 
streuender Aufmerksamkeit (diffused or distracted attention) zu tun zu 
haben. — Ich denke, es sind Unterschiede zu machen. Da das Bewufstsein der 
objektiven Wirklichkeit eines Gegenstandes durchaus ein anderes ist als 
das der subjektiven Wirklichkeit meiner Wahrnehmung oder Vorstellung 
und beide nebeneinander bestehen, so kann das erstere von wenigstens zwei 
Bedingungen abhängen: einmal von gewissen Eigenschaften meiner Wahr- 
nehmungen, welche dieselben als solche im Gegensatz zu blofsen Vor- 
stellungen kennzeichnen, — Downet nennt sie density und solidity. Jede 
Herabsetzung des Gesamtvorrates der psychischen Kraft, welche eine An- 
näherung an den Zustand des Schlafes und des Traumes ist und die 
Empfindungen zurückdrängt zugunsten der Welt der Phantasien, kann so- 
nach Bedingung für das Bewufstsein der Nichtwirklichkeit werden. Eine 
zweite mögliche Voraussetzung für dasselbe aber ist, dafs dem durch eine 
Wahrnehmung oder Vorstellung wachgerufenen objektiven Wirklichkeits- 
bewufstsein ein anderes objektives Wirklichkeitsbewufstsein hemmend 
entgegentritt. Hierher gehört das Gefühl der Nichtwirklichkeit, welches 
einem plötzlich über uns hereinbrechenden grofsen Schmerz oder einer 
plötzlichen grofsen Freude anhaftet. Pbandtl (Weiden). 



€h. H. Johnston. Tlie Preeeit State of tlie Psyclielegy of FeeU&g. Ffychth 
hgical BuüeHn 2 (5), 161—171. 1905. 
Eine Aufzählung von Aporien in der modernen Gefühlspsychologie. 
In der Selbstbeobachtung bei Gefühl suntersu<;hungen liegt schon eine 
Schwierigkeit. Sind Gefühle von Empfindungen klar zu unterscheiden 
(Wundt), oder nicht (Münbterbebg, Royce, Titchener) ? Sind sie in Elemente 
zerlegbar (Royce, Wundt), oder nicht (Lipps, Tawnby) ? Es ist ja festgestellt, 
dafs bei Gefühlsexperimenten gewisse körperliche Veränderungen statt- 
finden ; aber welchen Vorgängen ihre graphischen Darstellungen entsprechen, 
ist in den meisten Fällen nicht klar. Was soll man mit Gefühlen anfangen. 



Literaturbericht I33 

wie mit Jamäs' „Gefühl der Beziehung" oder Kbügess „Gefühl der Gewifs» 
heit und des Zweifels"? J. geht auf einige experimentelle Gefühlsunter- 
Buchungen näher ein, u. a. auf die von Gbnt, Booas. Seine Ausführungen 
sollen von neuem auf den unsicheren Stand der heutigen Gefühlspsycho- 
logie hinweisen. Gboethuyben (Berlin). 

K4TB Gordon. The Relation of Feellng to Dlscrimlnatlon and ConceptioB. 

Joum. of Fhilos., Psychol. etc. 2 (23), S. 617-622. 1905. 
Grundgedanke der Verf. ist, dafs es nur eine Art elementarer 
psychischer Vorgänge gehe, nicht eine Mehrheit von solchen: dies deshalb, 
weil es „natürlich^ immer nur ein Grundelement geben könne, — da Ein- 
fachheit eines Bings und Verschiedenheit desselben von einer Mehrzahl 
anderer Dinge nicht zugleich möglich sei. Bei der Wahl zwischen Wahr- 
nehmungen und Gefühlen wird der Vorrang letzteren zugestanden, welche 
allein elementar sind. Sie sind es, welche die Kontinuität des psychischen 
Lebenszusammenhanges herstellen und insbesondere die Unterscheidung 
verschiedener Wahrnehmungen bewirken. Den zweiten Teil des Themas 
behandelt die Fortsetzung: 

K. GoBDON. Feellng and Ooneeptlon. Ebda, 2 (24), S. 646--6Ö0. 1905. 

GoRDON findet, dafs die Gefühle und die Begriffe in ihrer Funktion 
sowohl (beide umfassen die Vergangenheit, beide bewirken, angeblich, die 
Kontinuität des Bewnfstseins und ermöglichen das Zustandekommen unserer 
Schätzungen (valuation), womit Verf. ebensowohl Vergleichungs- als Wert- 
urteile meint) als auch in ihrem Inhalt (der Inhalt um so ärmer, je 
umfassender der Begriff, je intensiver das Gefühl) völlig miteinander über- 
einstimmen. Indes wird eine Angabe über die Beziehung der beiden Fak- 
toren zueinander nicht gemacht. Pbandtl (Weiden). 

DxTPBAT. La ^syche-physlolegle deg passlons dam la phUesophle andenae. 

Arch. f. Gesch. d, Fhilos. 11 (3), 395—412. 1905. 

Der Aulsatz, ein Auszug aus D.s „Theorie des passions dans la Philo- 
sophie ancienne", stellt die Ansichten griechischer und römischer Philo- 
sophen über die körperlichen Grundlagen und Begleiterscheinungen der 
Leidenschaften dar. D. bringt diese Ansichten in Verbindung mit den 
Theorien von Rebot, James, Lanos. Es scheint nicht angebracht, überall 
da, wo von physiologischen Grundlagen oder Begleiterscheinungen der 
Gemütsbewegungen die Rede ist, ohne klare Formulierung des modernen 
Problems, Analogien mit solchen Theorien zu suchen. 

Grojsthuysen (Berlin). 

Masselon. Les riactleng affeetlves et Torlg Ine de la donlenr morale. Journal 
de Psychologie normale et pathologique 2 (6), 496—513. 1905. 
Mit DuxAS unterscheidet M. passive Traurigkeit und akuten seelischen 
Schmerz. Bei seelischem Schmerz ist ebenso wie bei passiver Traurigkeit, 
wie M. aus Beobachtungen an Melancholikern schliefst, Niedergeschlagenheit 
infolge Verminderung der geistigen und organischen Funktionen vorhanden ; 
bei seelischem Schmerz kommen aber andere Gefühle hinzu, eine be- 
drückende Angst (angoisse), ein Gefühl der Ohnmacht, der Entmutigung. 






X34 Literaturberichi. 

Den ürtprung dieser Gefühle sieht M. darin, dalis der Deprimierte An- 
strengungen macht, aus dem Zustand seiner Betäubung herauszukommen, 
diese Strebungen aber an seinem geistigen und körperlichen Unvermögen 
scheitern; die Hemmung seiner Strebungen in ihm erzeugt ein Gefühl 
unruhiger Angst. Wie M. zugibt, genügt diese Hypothese nicht, um die 
ganz spontan auftretende Angst bei Melancholikern zu erklären. 

GsoETHUTSBir (Berlin). 

V. GiGNoux. Le rtle d« Jvgemeit diif let phteoBteei affeetifs. Bewe phihs, 
eo (9), 233-259. 1905. 

G. will die „physiologische" Theorie der Gemütsbewegung mit der 
„in tellektualist Ischen" Theorie versöhnen. Bestimmte Urteile erzengen 
gewisse organische Reize, diese Beize wiederum verursachen Gemüts- 
bewegning^n. Um die Möglichkeit, dafs Urteile organische Veränderungen 
hervorbringen, zu begründen, beruft sich G. auf suggestive Vorgänge. Auch 
in der subtilsten Gemütsbewegung will G. organische Reaktionen vorfinden. 
Beim Anblick einer Statue hat unser Körper die Tendenz, die Bewegung 
wiederzugeben, beim Anblick eines Bildes folgen unsere Augen der Zeichnung, 
der Lichtführung ; bei rein geistigen Gemütsbewegungen wirkt die Gehim- 
tätigkeit selbst gefühlserzeugend. 

G. geht von der verkehrten Antithese, die Dumas aufgestellt hat, 
zwischen physiologischer und intellektualistischer Theorie der Gemüts- 
bewegung aus. Auf dem Boden des psycho-physischen Parallelismus, wäre 
die Frage aber so zu stellen: kann der Gehirnprozels, der dem Urteil ent- 
spricht, einen anderen Gehirnprozefs, der dem Gefühl entspricht, erzeugen» 
oder mufs, wie G. meint, zwischen beiden ein peripherischer, oder, wie G. 
auch meint, ein zerebro-nervöser Reiz eingeschoben werden? Der Beweis 
für seine Behauptung in bezug auf die subtileren Gemütsbewegungen ist G. 
nicht gelungen. Eine Theorie, die ästhetische Gefühle auf Augenmuskel- 
empfindungen oder geistige Gefühle auf eine Art Gehimempfindungen 
zurückführt — oder konsequenterweise beides wenigstens teilweise identi- 
fizieren müfste — bedarf keiner Widerlegung. Grobthutsbn (Berlin). 

£. Weber. Krltiflcbes und Bigenes «ber du Weinen bei Gemttsbewegug* 

Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 28 (16. August) 613—622. 
1905. 
Nach einer Kritik der DAswiNSchen und WuNDTSchen Theorien des 
Weinens bei Gemütsbewegungen gibt W. seine eigene Theorie : Bei Unlust- 
affekten entsteht eine Beschleunigung und Schwäche der Herztätigkeit; 
dadurch tritt eine venöse Blutstauung und Druckerhöhung in den kleinsten 
BlutgefäTsen, also auch in den Kapillarnetzen des Auges ein. Dadurch wird 
eine reflektorische Reizung der Tränendrüsen und TränenerguTs bewirkt. 

Groethttysen (Berlin). 

Bbenier des Montmorakd. Les iUU mystiqnet. Bevue phüos. 60 (Jahrg. 30, 7), 
1—23. 1905. 

jie Analyse von Selbstbeobachtungen mystischer Ekstatiker und eine 
ferner Theorien, die die mystische Ekstase zu erklären suchen. 



Literaturbericht. 135 

Die mystische Ekstase ist nach M. nichts Pathologisches. Zur Erklärung 
dienen Prozesse, die unter der Schwelle des Bewufstseins bleiben und sich 
beim Erwachen in heilige Wünsche, scheinbar spontane Tugenden umsetzen. 

Groethutsbn (Berlin). 

G. Dumas. Pathologie du toirire. Revue philos. 59 (6), ö80->ö95. 1905. 

D. fahrt zum Beweis seiner mechanischen Theorie des Lächelns 
(cf. Revtie phüos, 1904. 1. Juli und 1. August) Fälle an, in denen eine 
krankhafte Minderung oder Steigerung des Tonus der Gesichtsmuskeln 
stattfindet. Photographien von Kranken, die an Gesichtsmuskellähmung 
leiden, veranschaulichen den ersten Fall, von Kranken, die an Gesichts- 
muskelkontraktion leiden, den zweiten Fall. Im ersten Fall erhält der 
Gresichtsausdruck etwas Melancholisches, im zweiten Fall nähert er sich, 
wenn die Gesichtsmuskelkontraktion eine nicht zu starke ist, dem Lächeln. 
Der zweite Fall entspricht dem, in den früheren Aufsätzen beschriebenen, 
durch elektrische Reizungen des Facialis verursachten Lächeln. Das 
Lächeln ist also, so fafst D. zum Schlufs seine Theorie zusammen, die 
leichteste Reaktion der Gesichtsmuskeln auf eine beliebige leichte Erregung 
des Facialis. Durch diese Theorie soll keine vollständige Erklärung des 
Sinnes, den das Lächeln im sozialen Leben erhalten hat, gegeben werden. 

Gboethuysen (Berlin). 

JoKASKEB VoLKBLT. Systam dOT ilihetik. I. Bd. München, C. H. Beck. 
1905. XVni u. 592 S. geb. 12 Mk. 

Volkelt kennzeichnet im Vorwort (S. IV) die Richtung seiner Ästhetik 
durch mehrere „Sowohl-Alsauch". Er will den psychologisch-zergliedernden 
Charakter der neueren ästhetischen Bemühungen mit „der tiefblickenden, 
grofedenkenden, emporreifsenden Weise*^ der spekulativen deutschen Ästhetik 
verbinden, er will der sinnlichen Seite des Ästhetischen, auch dem Anteil 
der niederen Empfindungen, gerecht werden und doch daran festhalten, 
dafs das Ästhetische erst innerhalb der höchsten, geistigsten Betätigungs- 
kreise unseres seelischen Lebens zustande kommt, er sucht den Stimmungen 
zu ihrem Rechte zu verhelfen und dabei doch den menschUchbedeutungs- 
vollen Inhalt des Ästhetischen zur Geltung zu bringen. Auch methodo- 
logisch ist seine Ästhetik gekennzeichnet durch den Versuch, psychologische 
und normative Gesichtspunkte zu vereinigen. Indessen würde man dem 
Werke Volkblts Unrecht tun, wollte man verkennen, dafs mit dieser weit- 
herzigen, harmonisierenden Tendenz sich doch eine entschiedene Stellung- 
nahme verbindet. Zwar dafs er die metaphysische Ästhetik, wenn nicht 
ablehnt, so doch zurückdrängt, ist ihm mit allen neueren Ästhetikern aufser 
Ed. V. HAJRTHAim gemein, aber schon die Ablehnung der soziologischen und 
entwicklungsgeschichtlichen Methode trennt ihn von einer gröfseren Gruppe 
modemer Schriftsteller. Sachlich kennzeichnet sich seine Ästhetik als 
Inhaltsästhetik, femer — obwohl selbständige Normen anderer Art auf- 
gestellt werden — überwiegend als Einfühlungsästhetik. Innig damit 
zusammen hängt eine entschiedene Ablehnung des „l'art pour l'art" Stand- 
punktes, eine Vorliebe für die höchsten, weitesten Inhalte des Ästhetischen, 
die „Weltgefühle" wie Volkblt sie gelegentlich nennt. Dieser Standpunkt, 



136 Literaturbericht 

daza der Reichtum an verschiedenen Betrachtungsweisen, eine ausfOhrlich» 
Auseinandersetzung mit fremden Meinungen, eine Fülle von Beispielen 
geben dem Buche seine besondere Stellung. Unter allen mir bekannten 
ästhetischen Werken enthält es die vollständigste systematische Darstellung 
des Stoffes, die seit Ed. v. Habtmann versucht worden ist. Noch stärker 
wird das vermutlich nach Erscheinen des zweiten Bandes hervortreten. 
Während nämlich dieser erste Band in drei Abschnitte zerfällt, die als 
methodische, beschreibende (d. h. psychologische) und normative Grund- 
legung der Ästhetik bezeichnet werden, soll der zweite die Lehre von den 
ästhetischen Grundgestalten (Anmutiges, Erhabenes, Schönes, Charakte- 
ristisches usw.) die Lehre von der Kunst im allgemeinen, das Verhältnis 
der Kunst zur Kultur, die Metaphysik der Ästhetik, die Ästhetik des Natur- 
schönen und die Ästhetik der einzelnen Künste umfassen (vgl. S. 75—77). 

Der methodische Standpunkt des ersten Abschnittes wurde bereits 
gekennzeichnet. Im einzelnen sei erwähnt, dafs V. die experimentelle Be- 
handlung psychologisch-ästhetischer Fragen zwar nicht grundsätzlich ab- 
lehnt, doch aber auf ästhetische Vorfragen einfachster Art einschränkt 
(S. 36). Den Einwand der Geschmacksverschiedenheit gegen eine wissen- 
schaftliche Ästhetik sucht er durch Hinweis auf die fortschreitende Ent- 
wicklung abzuwehren (S. 22). Über den Zusammenhang des beschreibenden 
und des normativen Teiles äufsert er sich (S. 74): „Beide Abschnitte 
gehören eng zusammen. Diese Zusammengehörigkeit geht soweit, dafs die 
Abgrenzung des im ersten Abschnitt beschriebenen „seelischen Gebietes 
erst durch den zweiten Abschnitt ihre Rechtfertigung findet'' . . . „Denn 
erst durch das Ganze der Normen ergibt es sich, dafs die herangezogenen 
seelischen Vorgänge ein eigenartiges, bedeutsames, allgemein-menschliches 
Wertgebiet darstellen, das die ausgezeichnete Benennung des „Ästhetischen'' 
und eine besondere wissenschaftliche Behandlung verdient. Natürlich mufs 
der Ästhetiker, indem er an den ersten Abschnitt herantritt, bereits die 
Normen als Leitfaden für die Heraussonderung der zu beschreibenden 
seelischen Vorgänge stillschweigend vor Augen haben". Für das Gresamt- 
gebiet braucht V. ausschliefslich den Ausdruck „ästhetisch", d. h. er ver- 
wirft mit Gboos die in der deutschen Ästhetik vielfach übliche Bedeutungs- 
erweiterung des Wortes „schön" (S. 77 f.). 

Im zweiten Abschnitt beginnt V. mit der ästhetischen Wahrnehmungs- 
grundlage. Die Wahrnehmung (in der Dichtung wesentlich = Phantasie- 
Anschauung) ist auf ästhetischem Gebiete ausgezeichnet durch geschärfte 
Aufmerksamkeit, sinnliche Frische und meist durch ein gewisses Verlangen, 
Hinstreben nach der Anschauung (S. 881). Der ästhetisch geringe Wert der 
niederen Sinne wird vor allem aus ihrem „Stofflichkeitscharakter" d. h. 
ihrer engeren Verbindung mit dem Wohl und Wehe unseres Leibes, nur 
in zweiter Linie aus dem Mangel an Bestimmtheit, Ordnung und Bedeutsam- 
keit abgeleitet (vgl. bes. S. 100 f.). Ausdrücklich wird (Kap. 3) auf die 
reproduzierten Empfindungen hingewiesen, die das unmittelbar Empfundene 
erst zum allseitig bestimmten Gegenstand ergänzen. Dazu gesellen sich 
weiter „Bedeutungsvorstellungen" — und zwar solche stofflicher und 
technischer Art (z. B. Marmor, Geigenton, Wort etc.) bei allen Künsten, 
dingliche dagegen nur bei den darstellenden Künsten (Kap. 4). V. polemisiert 



Literaturbe/icht 137 

hier gegen die extreme Fassung der „BegrifElosigkeif* bei Kant, betont 
aber, daOs im ttsthetischen wie im gewöhnlichen Verhalten die ausdrückliche 
Bedentungsvorstellung oft durch das blofse ,3ekanntheit8gelahl" (8. 128 f.) 
ereetst wird (Kap. 5). Im Gegensatz zu Fbchkbb schränkt V. den Anteil 
lockerer Assoziationen wesentlich ein. „Nur insoweit die seelischen Funk- 
tionen zur Anschauung hinstreben und sich ihr verfthnlichen, sind sie von 
ästhetischem Belang'' (S. 135). »^Assoziierte Vorstellungen können für die 
ästhetische Würdigung immer nur die Bedeutung eines Dazukommenden 
haben ; sei es, dafs sie für das Verständnis des Gegenstandes nützlich sind, 
sei es, daXs sie einen gewissen schönen ästhetischen Überflufs bilden" 
(S. 140) (Kap. 6). — Nach einer kurzen Betrachtung der symbolischen Vor- 
stellungen (Kap. 7) geht V. dann zu den Gefühlen über. Um diesen Ab- 
schnitt recht zu verstehen, muTs man beachten, dafs V.s Gebrauch des 
Wortes „Gefühl" von dem in der Psychologie üblichen abweicht. Alle die 
unbestimmten, das ganze Selbst betreffenden seelischen Vorgänge und 
Zustände, die Stimmungen, Gemütsbewegungen mit den in sie eingehenden 
Empfindungen und Vorstellungen nennt V. Gefühle. £r unterscheidet die 
Gefühle ausdrücklich von Lust und Unlust, die ihm eine „subjektive und 
formale Betonung der seelischen Vorgänge" sind (S. 181 f.) Den Anregungen 
£. V. IIabtxanns folgend teilt er die Gefühle in persönliche und gegen- 
ständliche (in den Gegenstand hineinverlegte). Die persönlichen Gefühle 
zerfallen in solche der Teilnahme (z. B. Mitleid) und Zustandsgefühle (z. B. 
Niederdrückung, Erhebung) (S. 157 f.). V. sucht dann nachzuweisen, dafs 
die Gefühle im ästhetischen Verhalten herrschen (8. Kap.). — Die besonders 
durch WiTASBK neu angeregte Fra^e, ob die in die Gegenstände projizierten 
Gefühle wirkliche Gefühle oder blofse Gefühlsvorstellungen seien, sucht 
V. durch Unterscheidung mehrerer Fälle zu lösen. £s kommt vor, dafs es 
sich um wirkliche Gefühle mit projizierender Nebenvorstellung handelt, 
in anderen Fällen ist nur die „Gewifsheit der Möglichkeit eines bestimmten 
Gefühles'' vorhanden, aber auch diese bedeutet mehr als blofse Vorstellung 
von Gefühlen. Auch die Gefühle der Teilnahme sind auf ästhetischem 
Gebiete abgeschwächt, nur die Zustandsgefühle haben ihre volle Stärke 
(9. Kap.). — Die Lehre von den gegenständlichen Gefühlen fällt zusammen 
mit der von der Einfühlung. Volkblt, dessen Verdienste auf diesem 
Gebiete ja allbekannt sind, geht sehr ausführlich darauf ein (Kap. 10—14) 
und zwar unterscheidet er die Einfühlung in menschliche Gestalten als 
Einfühlung der eigentlichen Art von der „symbolischen" Einfühlung in 
Untermenschliches. Die Einfühlung kommt z. T. mit Hilfe von Emp- 
findungen des eigenen Leibes besonders Bewegungsempfindungen, z. T. 
anmittelbar, z. T. assoziativ vermittelt zustande. „Das Ziel ist überall das 
gleiche: Verschmelzung der sinnlichen Anschauung mit Stimmung, Strebung, 
Afiekt, Leidenschaft. Die Wege dabin aber sind verschiedenartig" (282). 
Bei der Betrachtung von „Illusion" und „Phantasie" (15. Kap.) unterscheidet 
V. eine ganze Beihe verschiedener Fälle, in denen diese Worte z. T. augen- 
scheinlich verschiedene Bedeutung haben. Das Kapitel gibt denen, die 
geneigt sind, mit Illusion und Phantasie wie mit einfachen und einheit- 
heben Begriffen zu operieren, eine beachtenswerte Lektion. Die Verstandes- 
mäfsige Seite des ästhetischen Eindrucks wird als ästhetisches Beziehen 



138 Literaturbericht. 

und Gliedern (Kap. 16) behandelt. Bei der Abgrenzung der ästhetischen 
gegen aufserästhe tische Lust spielen die Normen besonders deutlich mit. 
Die eigentlich ästhetische Lust wird als sehr zusammengesetzt bezeichnet. 
Im Mittelpunkt stehen die Lustarten, die den Grundnormen des Ästhe- 
tischen entsprechen, die Lust der Einfühlung, die Lust am Menschlich- 
Bedeutungsvollen, die Lust der Entlastung und die Lust an Gliederung und 
Einheit. Dazu treten als allgemeingflltig aber minder wesentlich die 
Funktionslust des ästhetischen Wahrnehmens und die Lust der Gefühls- 
lebendigkeit. Andere Seiten des ästhetischen Wahrnehmens sind zuweilen, 
nicht immer, lustbetont. Dahin gehören die sinnliche Lust des ästhetischen 
Wahrnehmens, die Funktionslust des vorstellungsmäfsigen Verknüpfens, 
die Lust am Vorstellungs- und Gefühlsinhalte des ästhetischen Gegen- 
standes, die Lust an den assoziierten Vorstellungen und die Lust der 
besonderen teilnehmenden und zuständlichen Gefühle^. (S. 3&5.) (17. Kap.) — 
Mit einer kurzen Betrachtung der ästhetischen Urteile (18. Kap.) endet 
dieser zweite Teil. 

Der dritte Teil, die normative Grundlegung der Ästhetik, soll beweisen 
dafs das bisher Zergliederte ein selbständiges, einheitliches und wesentliches 
menschliches Wertgebiet darstellt. „Die ästhetischen Normen sind nichts 
Geheimnisvolles und Mystisches; sondern sie fügen zu einem bestimmten 
seelischen Tatbestande nur die weitere Bestimmung hinzu, daCs in ihm ein 
bestimmtes, wesentliches Bedürfnis der menschlichen Natur seine Be- 
friedigung findet." (S. 368.) Die ästhetischen Normen sind zunächst auf 
Bewufstseins Vorgänge gerichtet, da diese jedoch durch den ästhetischen 
Gegenstand hervorgerufen werden, so kann jede Norm sowohl eine psycho- 
logische wie eine gegenständliche Form erhalten. Gegen den Übereifer des 
Einheitsstrebens ankämpfend, behauptet V. eine Mehrheit ästhetischer 
Normen. „Gäbe es nur eine einzige ästhetische Norm, so würde . . . damit 
gesagt sein, dafs das eigentümlich Ästhetische einen einzigen, psychologisch 
in sich zusammenhängenden Ursprungsort habe. Werden dagegen vier 
voneinander unabhängige Normen angenommen, so bedeutet dies psycho- 
logisch: in unserem Bewufstsein gibt es vier voneinander unabhängige Be- 
dingungskreise, vier selbständige Ursprünge für das Hervorgehen des eigen- 
tümlich Ästhetischen. Jeder Norm entspricht eine bestimmte, psycho- 
logische Quelle des Ästhetischen." (S. 370—371.) Dabei fehlt aber dem 
ästhetischen Gebiete nicht etwa jede Einheit, vielmehr kommt ihm Einheit 
des Zieles und Wertes durchaus zu (1. Kap.). Die erste ästhetische Gnind- 
norm wird in psychologischer Bezeichnung als gefühlserfülltes Anschauen, 
als Einheit von Schauen und Gefühl (2. Kap.), in gegenständlicher als Ein- 
heit von Form und Gehalt bezeichnet (B. Kap.). Form wird dabei als „Ober- 
flächenerscheinung der Gegenstände", Gehalt als „erlebte Bedeutung der 
Gegenstände" (S. 392) bestimmt. Diese Norm nun hat zwei Seiten, sie 
fordert, dafs kein Gehalt ohne sinnliche Gestaltung und dafs keine Form 
ohne Gehalt sei. Für den ersten Teil machen die Kunstzweige mit Vor- 
stellungsüberschufs z. B. Geschichtsmalerei und Programmmusik Schwierig- 
keiten, die eingehend erörtert werden (4. Kap.). Ferner verteidigt V. die 
Phantasie-Anschaulichkeit der Dichtung ausführlich gegen Thbodor Mbtbb 
(5. Kap.), ohne den Wert seiner Ausführungen zu leugnen. An Stelle der 



Literaturbericht 139 

Anschauung tritt nach Volkslt oft die „betonte GewiTsheit der Phantasie 
Anschauungsmöglichkeit" (S. 417), femer werden Bewegungsempfindungen 
des Lesers als „Phantasieleib von Stimmungen" (S. 419) herangezogen. Sie 
beschreibt V. für Goethes Gedicht „Über allen Gipfeln ist Ruh" z. B. als 
„leises Schweben in der Höhe; gegen den Schlufs hin: Ansatz zu leisem 
Herabsinken" (S. 421). Die Forderung der gehalterfüUten Form führt zu 
entschiedener Ablehnung der formalistischen Ästhetik (6. Kap.). — Der 
Gehalt der untermenschlichen Gebilde wird nicht im Sinne des Objektivismus 
als Verkörperung einer objektiven Idee, sondern wesentlich subjektivistisch 
als unwillkürliche Vermenschlichung gefaTst (7. Kap.). Die zweite ästhetische 
Grundnorm fordert gegenständlich gewendet, dafs der ästhetische Inhalt 
menschlich bedeutungsvoll sei. „Der Gehalt eines Gegenstandes ist dann 
menschlich bedeutungsvoll, wenn sich uns in ihm etwas von Zweck und 
Wert des Menschlichen offenbart" (S. 462). Damit ist nichtssagender 
und allzu sonderbarer Inhalt ausgeschlossen. Volkelt bekämpft die z. B. 
von Gajrsiebe, Lotze und Lipps vertretene Einengung des ästhetischen 
Inhalts auf das Gute (S. 467 f.), (8. Kap.). — Psychologisch läfst sich diese 
Norm als Ausweitung unseres fühlenden Vorstellens bezeichnen (9. Kap.). 

— Durch diese Norm hängt das Kunstwerk von der Welt- und Lebens- 
anschauung des Künstlers ab. Man darf nicht eine bestimmte Lebens- 
anschauung von der Kunst fordern, vielmehr ist deren Verschiedenheit ein 
grofses Gut. (10. Kap.) — Bei der dritten Grundnorm geht V. wieder von 
der psychologischen Fassung aus: Herabsetzung des Wirklichkeitsgefühls. 
Wirklichkeitsgefühl haben wir bei Handlungen des Selbsterhaltungstriebes 
und zwar haftet es hier ebenso am objektiven Widerstände wie an unserem 
eigenen egoistischen Willen. Aber auch im sittlichen, religiösen, wissen- 
schaftlichen Verhalten fehlt es nicht. An den Gösichts Wahrnehmungen 
macht es sich als „stofflicher Charakter" geltend, der uns glauben macht, 
hinter den Oberflächen stoffliche Körperlichkeit zu sehen. All dies fehlt 
beim ästhetischen Verhalten und dadurch entsteht ein Kontrastgefühl der 
Entlastung, das allem Ästhetischen seine Freiheit und Leichtigkeit gibt 
(II. Kap.). Anders gefafst kann dies auch als ästhetische Willenlosigkeit 
bezeichnet werden. Ausführlich erörtert V., in welchem beschränkten Sinn 
ein unbestimmt gerichtetes Streben hier doch eintreten kann, und bespricht 
die Grefahr einer Verunreinigung des Ästhetischen. Bei dieser Gelegenheit 
wendet er sich gegen die Ableitung der Kunst aus dem Greschlechtsleben 
(12. Kap.). — Der ästhetische Betrachter haftet an der Oberfläche — sein 
Sehen ist stofflos — daher das Widrige der Wachsfiguren, die auf die Art 
des Stoffes die Aufmerksamkeit lenken (13. Kap.). Auch folgt aus dem 
Wirklichkeitscharakter des Erkennens die Erkenntnislosigkeit des ästhe- 
tischen Verhaltens (14. Kap.). Gegenständlich spricht man dieselbe Grund- 
norm aus, wenn man das Ästhetische als Welt des Scheines bezeichnet. 
Der Gegenstand, so lebensvoll er ist, erscheint nicht als Wirklichkeit im 
vollen Sinne. Darin besteht die allgemeine ästhetische Illusion (15. Kap.). 

— Die vierte ästhetische Grundnorm läfst sich psychologisch als Steigerung 
der beziehenden Tätigkeit (16. Kap.), gegenständlich als Einheit in der 
Mannigfaltigkeit oder organische Einheit fassen (17. Kap.). Wie diese 
Normen zusammenhängen int am besten aus der Zusammenfassung am 



140 Literaturbericht. 

Schlüsse (18. Kap.) zu erkennen : „Das ästhetische Betrachten und Greniersen 
ist eine vielseitigere und gleichgewichts vollere Betfttigungsweise de« 
Menschen als jede andere. Anschauen und Fühlen, Aufsenseite and Inner- 
lichkeit kommen — gemäfs der ersten Norm — im ästhetischen Verhalten 
80 gleichmäfsig kräftig und so innig eins zur Bestätigung wie sonst nirgends. 
Der böse Dualismus der menschlichen Natur ist hier überwunden. Aber 
auch das Willens- und Gedanken leben des Menschen entfaltet sich reichlich 
auf ästhetischem Gebiete. Dabei aber bleiben ihm die Einseitigkeiten des 
Handelns und Erkennens gänzlich ferne. Dafür sorgt die dritte Norm mit 
ihrer Herabsetzung des Wirklichkeitsgefühles. Und auch die Intelligenz 
mit ihrem formalen Verknüpfungs- und Einheitsbedürfnis kommt — gemäijs 
der vierten Norm — zu ihrem Rechte, und auch in dieser Hinsicht handelt 
es sich um keine unorganische Hinzufügung, um kein Nebenher, sondern 
die Gliederung und Einigung ist nichts anderes als eine Ausgestaltung des 
fühlenden Anschauens selber. So ist das ästhetische Verhalten eine In- 
einanderbildung voll Beichtum und Wohlklang. Und um so wertvoller ist 
dieses Gebilde, als sein Inhalt durch jene Gehobenheit ausgezeichnet ist, 
die in der zweiten Norm durch das Menschlich-Bedeutungsvolle zum Aus- 
druck gebracht wurde" (S. 58^—587). 

Absichtlich habe ich das Referat des Gedankenganges nicht durch 
kritische Bemerkungen unterbrochen, damit vor allem die Eigenart des 
Werkes zur Geltung komme. Volkblt wendet sich in zw^ei Punkten gegen 
die Anschauungen, die ich in meiner allgemeinen Ästhetik entwickelt habe, 
erstlich gegen die Trennung der Ästhetik von der Psychologie und zweitens 
gegen den Versuch, das ganze ästhetische Gebiet als Einheit zu fassen. 
Doch ist beide Male der Gegensatz nicht so grofs, wie es auf den ersten 
Blick erscheint. Auch' für Volkelt ist ja eine Einheit des ästhetischen 
Gebietes vorhanden, auch er bestimmt sie als Einheit des Zweckes und 
Wertes. Nun, eine andere Art von Einheit habe ich nie behauptet; nur 
bin ich überzeugt, dafs diese Einheit auch als Grundprinzip der Begriff- 
bildung, Darstellung und Anordnung zur Geltung kommen mufs. Ferner 
gibt ja Volkblt zu, dafs die psychologisch zu beschreibenden Zustände 
doch zunächst nicht psychologisch-deskriptiv, sondern durch die gemeinsame 
ästhetische Bewertung eine Einheit bilden. Dann aber sind eben gerade 
die Grundbegriffe nicht psychologisch. Dafs psychologische Hilfsbegriffe 
eine grofse Rolle in der Ästhetik spielen, dafs ferner die genaue psycho- 
logische Analyse der durch Wertgesichtspunkte als ästhetisch gekenn- 
zeichneten Vorgänge eine wichtige und reizvolle Aufgabe ist, leugne ich 
durchaus nicht. Dafs die Forderung, die gemeinsamen Eigenschaften aller 
ästhetischen Wertungen zu Leitmotiven der Ästhetik zu machen, keine 
blofse systematische Schrulle ist, sondern dafs ihre Befolgung oft allein 
das Wesentliche finden lehrt, zeigt auch Volkeltb Werk an manchen Stellen 
deutlich genug. So leitet er die Gleichberechtigung verschiedener Lebens- 
anschauungen in der Kunst aus der Unbeweisbarkeit der Lebens- 
anschauung ab. Dann müfsten doch aber erweislich falsche Bestandteile 
der Lebensanschauung sich als Fehler am Kunstwerk geltend machen — 
also z. B. müfste es uns stören, dafs im Mittelalter die Erde im Zentrum 
der Welt gedacht und die ganze Welt auf dies Zentrum bezogen wird. 



Litern tiirbeHcht 141 

Nun 18t das bei rein ästhetischer Betrachtung nicht der Fall. Der Grund 
jener Gleichwertigkeit liegt vielmehr darin» dafs rein ästhetisch das Kunst- 
werk als geschlossenes Ganzes ohne Beziehung zur übrigen Welt gewertet 
und angeschaut wird. Dabei fragt es sich nur, ob die darin herrschende 
Anschauungsweise in sich geschlossen, zu dem Gegenstand passend, nach- 
erlebbar sei — nicht ob die sie leitenden Sätze wahr seien. Sobald man 
sich Yom rein ästhetischen Standpunkte entfernt, z. B. pädagogische Gesichts- 
I punkte heranzieht, hört jene Gleichberechtigung auf ; nur in beschränkterem 

I Umfang kann sie dann wiederhergestellt werden, indem man den aufser- 

ästhetischen Wert der ästhetischen Erweiterung des Nacherlebbaren betont. 
Wenn Yolkblts Werk weniger als z. B. Fechmbrs Vorschule der Ästhetik 
unter solchen Entgleisungen leidet, so liegt das daran, dafs Volkjelt den 
Wertgesichtspunkten überall gerecht zu werden sucht, obwohl er ihre 
Eigenschaften und Beziehungen nicht, wie ich es anstrebe, zum Grund- 
motive der ästhetischen Wissenschaft macht. Weit entschiedener mufs ich 
gegen Volkslts Behauptung Protest erheben, dafs einer einheitlichen Norm 
auch ein psychologisch einheitlicher Ursprung entspreche. Hier wird 
deutlich, daüs der Gegensatz unserer Anschauungen ganz wesentlich auf 
dem Gebiete der Psychologie liegt. Volkelt hat von der neueren Psycho- 
logie vieles aufgenommen, aber daneben ist er geneigt, das seinem Werte 
nach Einheitliche auf eine einheitliche psychologische Funktion zurück- 
zuführen. Unter diesem Doppeleinflufs werden seine psychologischen Be- 
griffe vielfach schwankend. Wenigstens mir ist es nicht gelungen, was er 
unter „Gefühl", „Wahrnehmung", „Vorstellung", Assoziation" versteht, mir 
ganz klar zu machen. Dazu kommt, dafs er vielfach das, was logisch als 
Voraussetzung in einem bestimmten Vorgang gesetzt ist, auch als psycho- 
logischen Bestandteil des betreffenden Bewufstseinszustandes ansieht. 
VoLKBLT sucht dann diesen Fehler dadurch wieder gut zu machen, dafs er 
sagt, diese Bestandteile seien in verdichteter, gefühlsmäfsiger Form vor- 
handen. So wird bei der Einfühlung in Untermenschliches immer eine 
Vermenschlichung und eine Abschwächung des Menschlichen — beides in 
verdichteter Form — angenommen. In Wahrheit ist für uns die Auffassung 
einer Form, Farbe, eines Klanges als ausdrucksvoll durchaus nicht not- 
wendig mit der Annahme eines sich ausdrückenden menschenartigen 
Wesens verknüpft — es ist also auch nicht nötig, dafs Vermenschlichung 
und Abschwächung eintrete. Überhaupt vermisse ich bei der Psychologie 
der Einfühlung das Ausgehen von dem allgemeinen Problem des Verständ- 
nisses der Ausdrucksbewegungen. 

Es schien mir im Interesse der Sache geboten, Art und Umfang meines 
Gegensatzes gegen Volkelt scharf hervorzuheben. So wenig dieser Gegen- 
satz mich hindert, unsere 'Ol)ereinstimmung in anderen Dingen freudig zu 
begrüfsen, so wenig mindert er meine Hochachtung vor Volkelts reichem 
Wissen und seinem vorurteilslosen, allseitig prüfenden, vom einzelnen zu 
umfassender Systematik aufstrebenden Geist. J. Cohn (Freibürg i. B.). 

H. Subeck. Übw wuikallMlie «taftthlilftg- ^^schr. f. Phihs, u, philos. Kritik 127 
<1), 1-^17. 1906. . 

Die ^Sänfühlung" besteht nicht darin, dafs das betreffende Musikstück 



1 42 Liter a turberich t. 

tataächlich gewisse Gefühle in uns erregt; sie kann darin, dafs es an- 
schauliche Vorstellungen von Gefühlen in uns weckt, auch nur dann 
bestehen, wenn es sich um Gefühle handelt, „die sich nach auTsen hin 
(pathognomisch) am deutlichsten . . . kundgeben", nicht aber, wenn Gefühle 
wie Neid, Ehrgefühl oder gar „Phantasiegefühle", für die wir nicht einmal 
einen Namen haben, in Betracht kommen. Vielmehr kommt eine Einfühlung 
dann zustande, wenn in der Wahrnehmung sich das gefühlsmftfsige und 
das gegenständliche Moment das Gleichgewicht halten; nur dann vereinigen 
sich die einzelnen gefühlsmäfsigen Betonungen zu einer Gesamtwirkung, 
der Stimmung; nur dann können wir „das Wahrgenommene als Analogon eines 
Beseelten'' auffassen. Dieser Gefühlszustand der Stimmung bewirkt nun, 
dafs der wahrgenommene Gegenstand selbst uns als stimmungsvoll erscheint. 
Wir fühlen also den Gegenstand in uns hinein, indem „wir mit der Vor- 
stellung seines Inhaltes das eben als Stimmung bezeichnete in uns erleben". 
Da der Gegenstand aber doch immerhin ein Aufsending bleibt, „so erscheint 
dieses Äufsere als ein Durchseeltes, und wird dadurch ein Symbol des 
Persönlichen". Diese „ästhetische Illusion*', nämlich dafs „die Kluft zwischen 
Geistigem und Materiellem sich für den Augenblick wenigstens, schliefst" 
ist der Grund für das Lustbetonte in der ästhetischen Stimmung. 

Die aufserordentliche ästhetische Wirkung, speziell der Musik, ist 
bedingt einmal dadurch, dafs hier „die Stimmung sich aus dem Gesamt- 
effekt von Gefühlsqualitäten ergibt, die uns durch die Töne direkt (also 
ohne den Umweg über bestimmte Dingvorstellungen) übermittelt werden", 
— ferner dadurch, dafs „die überreiche Mannigfaltigkeit von Folgen und 
Zusammenklängen der Töne ... in der Instrumentalmusik auch Inhalte 
hervorbringen kann, deren gefühlsmäTsige Anmutung . . . individuell gar 
nicht zu benennen, die also nicht weiter zu klassifizieren sind", dadurch 
also, dafs die „musikalische Einfühlung ... in gewissem Grade schöpferischen 
Charakter'^ hat. — Während mir sonst überall, — auch bei Werken der 
Poesie und der bildenden Künste — durch die diskursive Zusammen- 
fassung der Erscheinungen uns in das Wesen der Sache hineinzuversetzen 
suchen müssen, wird uns allein bei der Musik diese Arbeit „wesentlich 
abgekürzt und erleichtert, weil hier der Stimmungsgehalt durch die Art 
seiner Erscheinung in Tönen, Akkorden, Tonfolgen viel direkter vermittelt 
wird als irgendwo anders'' ; wir kommen somit in der Musik viel unmittel- 
barer zur intuitiven Erfassung des betreffenden Kunstwerkes. 

Es ist, wie gesagt, das Wesen der Einfühlung, dafs wir „das Wahr- 
genommene als Analogon eines Beseelten'' auffassen; dieser Prozels ist 
gleichfalls bei der musikalischen Einfühlung ein direkterer: in der Musik 
darf der Geist „unmittelbar und ohne Mühe sich des Seelenhaften bewuTst 
werden, der aus dem Kunstwerke der Töne zu ihm spricht und die Inhalte 
seines eigenen Gefühlslebens in ihm anklingen lälst." — Unmusikalisch ist 
derjenige, der es nicht liebt, mühelos das Wesen der Dinge zu erfassen, 
dem „das BewuTstsein des Hindurchstrebens zum Kern durch die Schale" 
„der wahre GuTs des Lebens" ist, dem daher „das Verhältnis der Gefühls- 
welt zu den Tönen . . . deshalb belanglos ist, weil hier kein zu über- 
windender Gegensatz von Umhüllung und Wesen mehr heraustritt". (Nach 



Liieraturbericht 143 

Ansicht des Ref. nennt man denjenigen unmusikalisch, der das Wesen des 
Musikwerkes überhaupt nicht zu erfassen imstande ist> nicht den, der es 
allzuschnell erfafst.) Lipmaivn (Berlin). 

SiGM. Freud. Der Witi und seine Besiehang ivm Unbewnfsten. Leipzig 
und Wien, Deuticke. 1905. 205 8. 
Dieses bedeutende Werk ist eben so angenehm und anregend zu lesen, 
wie schwierig zu referieren. Der Gang der Darstellung ist mehr unter- 
suchend als systematisch, die Terminologie zum Teil eigenartig, eine Fülle 
der wertvoUsten Gedanken verbirgt sich fast in fremden Zusammenhängen. 
Eigentlich sollte man auch gar kein Referat davon geben, nur zum Lesen 
Lust machen, denn jeder Psychologe und Ästhetiker wird sich mit Freud 
auseinanderzusetzen und — mag er auch seine Theorien verwerfen — von 
ihm zu lernen haben. 

Es ist daher auch nicht meine Absicht, den Gedankengang Freuds 
wiederzugeben, ihm Schritt für Schritt zu folgen, vielmehr will ich mich 
begnügen, einige Hauptpunkte herauszuheben. Es ist ein Merkmal des 
Witzes, dafs er gemacht, d. h. absichtlich erzeugt wird, um mitgeteilt zu 
werden. Ferner ist für den Witz die häufige Verbindung mit einer Tendenz 
oder einem wertvollen Gehalt bezeichnend. Je nach dem Vorhandensein 
oder Fehlen dieser Faktoren kann man gehaltlose und tiefsinnige, harmlose 
und tendenziöse Witze unterscheiden. Bei den tendenziösen bzw. tief- 
sinnigen mischt sich eine Lust an der Tendenz bzw. am Gehalt mit der 
Lust aa der Technik, die allen Witzen gemeinsam ist. Was an der Technik 
des Witzes wesentlich ist, erkennt man durch Reduktion d. h. Verwandlung 
des Witzes in eine Form, die den Gedanken unverändert läfst, aber nicht 
mehr witzig ist. Nach der Technik unterscheiden sich die Witze in Wort- 
nnd Gedankenwitz, eine Unterscheidung, die sich mit der vorerwähnten 
nicht deckt sondern kreuzt Die beiden Lustquellen lassen sich nicht leicht 
trennen ; wir überschätzen oft die Güte eines Witzes, weil uns der Gedanke 
oder die Tendenz anzieht, und wir werten leicht, verführt durch die witzige 
Form, einen Gedanken zu hoch. Unter den Tendenzen des Witzes sind 
die obecöne (Entblöfsung) , aggressive, zynische (gegen gesellschaftliche 
Institutionen, ethische und andere Forderungen gerichtet) und skeptische 
(gegen die Behauptung des Besitzes der Wahrheit gerichtet) zu unter- 
scheiden. Bei ihnen allen handelt es sich um Befriedigung unterdrückter 
Triebe mit Hilfe des Witzes. In der Zote, für die bei niederen Volks- 
schichten die Anwesenheit einer Frau Bedingung ist, wird der störende 
Dritte durch die Witzeslust gewissermafsen zum Verbündeten gemacht, die 
sexuell reizende Entblöfsung wenigstens in Gedanken vollzogen. Der 
aggressive Witz tritt nur auf, wo das Schimpfen, sei es durch die Stellung 
des Angegriffenen, sei es durch die Bildungshöhe des Angreifenden aus- 
geschlossen ist. Das Gemeinsame der verschiedenen Witztechniken liegt 
in einer Ersparnis an geistigem Aufwände. Beim Wortwitz ist dabei die 
Ersparnis an Worten nicht die Hauptsache, sondern dafs an Stelle einer 
erwarteten Gedankenverbindung eine blofse Wortassoziation tritt. Wo 
der Witz verborgene und unerwartete Gleichheiten feststellt, handelt es 
sich wie bei der Lust des Wiedererkennens ebenfalls um eine Ersparnis. 



144 Litera turberich t. 

Die Widersinnstechniken ermöglichen die Last am Unsinn durch Ersparnis 
der Kritik. Das Kind macht and versteht keine Witze, aber es erfreut sich 
am sinnlosen Spiel mit Worten. Wo diese Lust am Unsinn, die erste Vor- 
stufe des Witzes, infolge der hemmenden Kritik nicht mehr zustande 
kommt, sucht der Mensch sie sich indirekt zu verschaffen, dadurch, dafs 
er der sinnlosen Zusammenstellung von Worten oder der widersinnigen 
Anreihung von Gedanken doch einen Sinn gibt. So entsteht der Scherz, 
die zweite Vorstufe des Witzes, die sich vom Witz dadurch unterscheidet, 
dafs der Sinn des der Kritik entzogenen Satzes kein neuer oder auch nur 
guter zu sein braucht. Als Scherz bezeichnet Fbbüd z. B. die Antwort 
Rokitanskys auf die Frage nach dem Beruf seiner vier Söhne: zwei heilen 
und zwei heulen (2 Ärzte u. 2 Sänger). Wie man sieht, ist die Grenze von 
«Scherz und Witz fliefsend. Die Leistung und Eigentümlichkeit des Witzes 
liegt nicht in ihm allein eigenen Lustquellen, sondern darin, innere 
Hemmungen aufzuheben und durch sie unzugänglich gewordene Lustquelleii 
ergiebig zu machen. „Die Psychogenese des Witzes hat uns belehrt, daCs 
die Lust des Witzes aus dem Spiel mit Worten oder aus der Entfesselung 
des Unsinns stammt, und dafs der Sinn des Witzes nur dazu bestimmt ist, 
diese Lust gegen die Aufhebung durch die Kritik zu schützen'' (S. 110). 
Diesen Schutz verleiht der gehaltvolle Witz dem dargestellten Gedanken, 
der tendenziöse Witz der entblöfsenden , feindseligen, zynischen oder 
skeptischen Tendenz. Die Witzeslust dient hier dazu, die Hemmung gegen 
die Durchsetzung der Tendenz zu überwinden. „Es wird geschimpft, weil 
damit der Witz ermöglicht ist. Aber das erzielte Wohlgefallen ist nicht 
nur das vom Witz erzeugte; es ist unvergleichlich gröfser, um so viel 
gröfser als die Witzeslust, dafs wir annehmen müssen, es sei der vorhin 
unterdrückten Tendenz gelungen, sich etwa ganz ohne Abzug durchzusetzen. 
Unter diesen Verhältnissen wird beim tendenziösen Witz am ausgiebigsten 
gelacht." (S. 115). Der tendenziöse Witz stellt sich in den Dienst von 
Tendenzen um vermittels der Witzeslust als Vorlust durch die Aufhebung 
von Unterdrückungen und Verdrängungen neue Lust zu erzeugen. 

Dieses ganze Verhalten des Witzes steht nun in Analogie zum Traum, 
wie Frbud ihn auffafst. An jedem Tage werden von uns eine Fülle von 
Wünschen und Tendenzen unterdrückt, diese bleiben in einer Mittellage 
zwischen Bewufstheit und Unbewufstheit, die Fbbud als das VorbewuTste 
bezeichnet. Im Schlaf werden diese Tagesreste ins Unbewulste versetzt. 
Hier erfolgt eine Umbildungsarbeit, durch die es gelingt, die Hemmungen 
zu überwinden; das so bearbeitete Traummaterial wird dann zur Wahr- 
nehmung umgestaltet und so im Traume bewuTst. Die Analogie von Witz 
und Traum bei allen offensichtlichen Verschiedenheiten liegt in dem Durch- 
bruch unterdrückter Tendenzen mit Hilfe einer unbewuHsten Bearbeitung. 
„Ein vorbewufster Gedanke wird für einen Moment der unbewulBten Über- 
arbeitung überlassen, und deren Ergebnis alsbald von der bewufsten Wahr- 
nehmung erfaJOst: (S. 141) Die Techniken des Witzes zeigen volle Analogie 
zu den Techniken der unbewufsten Traumarbeit. 

Die Einwände gegen diese Theorie werden sich zum Teil gegen die 
Verwendung des Unbewufsten, zum Teil gegen die IntellektuaUsierong 



LiteratuHmicht 145 

f^afflUsbedingter VoniellnngBabläufe zu richten haben; aber rie werden, 
wie ich glaube, mindestens beim Wits einen Kern von Fbeuds Theorie 
l)estehen lassen. 

Mit der Erklärung des Unterschiedes im Verhalten der witaigen Person 
und derer, denen der Wits mitgeteilt wird, beschäftigt sich Fbsoo ein- 
gehend. Doch ist es schwer, diese Bemühungen kurz wiederzugeben. Eine 
interessante Vergleichung des Witzes mit anderen Arten der Komik be< 
schliefst das wertvolle Buch. J. Cohn (Freiburg i. B.). 

iBTDio Kore. Tht DümtmIIiUm of tk9 ReliglOM CMSfioMms. Fsyckol 
Review Mm, 8up. 6 (4), Whole Nr. 27. 1905. 
Wir haben hier eine Untersuchung der Quellen der Religion vom 
genetisch-psychologischen Standpunkt aus, von welchem si^ als eine be- 
sondere Form von Reaktion angesehen wird. Das Hauptproblem des Verf. 
ist die Entstehung der religiösen Stellungnahme gegenüber der Welt in der 
menschlichen Rasse. Sie ist eine Entwicklung von einem ursprünglichen 
UDspezialisierten Typus der menschlichen Erfahrung. Moderne Naturvölker 
werden vom Verf. viel benutzt mit der Absicht den wirklichen primitiven 
Wilden darzustellen. Unter modernen Wilden entstehen religiöse Gebräuche 
4arch die Bedrückungen des Lebensprozesses, wie die „tuboos*' der Austra- 
lier. Es folgt daraus, meint der Verf., dafs alle religiösen Gebräuche ahn- 
lichen bestimmten Zwecken dienten. Das ist aber doch nicht so ganz klar. 
Sobald nun diese Vermittelungen bestimmter Zwecke ins soziale Bewufst- 
sein emporsteigen, steigern sich auch ihre Werte, was sie dann in die 
religiöse Kategorie hineinsetzt. Es folgt, dafs religiöse Werte sich aus allen 
möglichen Formen des primitiven Lebens heraus entwickeln. Die Religion 
ist eine gewisse Stellungnahme des lebenden Individuums Gott gegenüber. 
Ist die religiöse Stellungnahme aber eine Spezialisierung des Lebens- 
prozesses, so mufs sie auch in funktioneller Beziehung zu diesem Prozefs 
«tehen. In anderen Worten: Ist das religiöse innere Bewufstsein eine all- 
gemeine Eigenschaft des menschlichen Geistes? Ja können wir nur sagen, 
wenn wir die Religion als ein soziales, nicht als ein individuelles Phänomen 
ansehen. Der Inhalt des religiösen Bewufstseins ist überwiegend Gefühl 
und instinktmäfsig. Dies hat zu der irrigen Annahme geleitet, dafs die 
Vernunft nicht wichtig sei in der Erwerbung der Wahrheit. Aufserordent- 
liehe physikalische und andere unverständliche Elemente sind nicht nur 
möglich, sie sind in der Tat notwendig. Aber solche vermuteten Illumi- 
nationen sind nur automatische Äufserungen des BewuHstseins. 

W. W. Elwang (Columbia, Missouri). 

J. D. Stoops. Tbe Psychology of Religion. Journ. of Philos,^ Psychol. etc. 
2 (19), S. 512—519. 1905. 

Über das Erwachen des religiösen Lebens (conversion) ; theologisclie 
Spekulationen in psychologischer Sprache. Pbandtl (Weiden). 

Ibtixo Kno. Tb« Real iid Pieude^sychology ef Religioi. Jaum. of Philo?., 

P9yehol. de. 2 (28), S. €22-626. 1906. 
Gott, Unsterblichkeit und dergleichen Begriffe bezeichnen für den 
Psychologen keine Tatsachen, sondern bedeuten nur die Auslegung und Be- 

Zeltsobrift fOr Psychologie 48. 10 



146 lAtercdurbericht 

Wertung, welche der religiöse Mensch seinem inneren Zdst4ind gibt. Diesen 
letzteren aus dem gesamten Zusammenhang der individuellen Erfahrungen 
zu erklären, ist die Aufgabe der wahren Religionspsychologie. Danach kann 
in dieser nicht die Rede sein von einem Teilnehmen am göttlichen Leben im 
religiösen Zustand; derlei und die obengenannten Begriffe gehören in die 
Metaphysik und Theologie, haben aber nichts zu tun mit psychologischer 
Wissenschaft. Prandtl (Weiden). 

Dromabd. bilde ptychologlqie et ellnlqve sur rfehoprazie. Journal de Psy- 
chologie norm, et pathol 2 (3), S. 386—403. 1905. 

Die Echopraxie ist die Übertreibung eines physiologischen Vorganges, 
der auch beim Geistesgesunden immer nachweisbar bleibt. Auch bei ihm 
ist jede Vorstellung einer Bewegung der Anfang einer Bewegung, die trotz 
der entgegengesetzten Bewufstseinshemmung tatsächlich wenigstens in 
leichter Andeutung stattfindet, wenn jener Vorstellung eine unmittelbare 
Wahrnehmung zugrunde liegt. Es kommt dann zur Psychomotorischen 
Induktion, wie in den „mouvements symboliques" von Gbatiolbt, in der 
unwillkürlichen, gleichgerichteten Bewegung unseres Körpers beim Anblick 
starker bewegter Gegenstände, und bei der reflektorischen Mimik, die der 
begleitende Affekt meist besonders betont. Es gibt aber auch beim Geistes^ 
gesunden eine Echopraxie durch assoziative Gewohnheit : Dromard erinnert 
an das echokinetische Gähnen und die häufige, unwillkürliche Wiederholung^ 
von Grufsstereotypieen. 

Alle diese Erscheinungen sind obligate Folgen aus der kinästhetischen 
Komponente der Bewegungs Wahrnehmung. Ihre Intensität bedingt die 
Lebhaftigkeit der Vorstellung und ihr Energie wert ist meist so grofs, daf» 
die dabei stattfindende geistige Wiederholung der Bewegung die Grenze 
der reinen Subjektivierung überschreitet und eine aktive Nachahmung 
wenigstens andeutet. Diese Nachahmung wird sofort verstärkt, wenn die 
ihr entgegenstehenden Bewufstseinshemmungen aus irgend einem Grunde 
nachlassen. Deshalb erscheint die Echopraxie auch beim Geistesgesunden 
in allen Zuständen von Ermüdung, Zerstreuung und Affekt. 

Deshalb gewinnt sie aber auch ihre grofse Bedeutung und Ausdehn ung^ 
unter pathologischen Verhältnissen, die die gleichen Bedingungen darbieten. 
Dazu gehören neben dem hypnotischen Somnambulismus vor allem die 
Psychasthenie, die Dementia praecox und der idiotische Blödsinn. 

Bei der Psychasthenie kann der Tic eine Echopraxie aus assoziativer 
Gewohnheit darstellen. Häufiger ist ihre direkte Form als Ausdruck der 
grundlegenden Denivellierung der Persönlichkeit. Der Ablauf der 
Echopraxie wird hier mit starker affektiver Note bewufst, er kann in 
gewissen Grenzen durch den Willen unterdrückt werden. — Eine ganz, 
besonders grofse, geradezu beherrschende und kennzeichnende Rolle spielt 
die Echokinese bei einigen Zuständen, die der Psychasthenie nahe stehen (?) : 
bei dem amerikanischen Jumping, bei den Latah- und Myriachitzuständea 
der Malayen und Sibirier und — bei dem — wesensgleichen — Krankheitsbild 
der „ Schaff trunkenheit d'Allemagne'' : vielleicht teilt uns D. gelegentlich 
Näheres über diese merkwürdige Erscheinung mit. 



Literaturhericht 147 

Die Echopraxie in der Dementia praecox erinnert an die Stereotypie, 
denn sie bleibt prinzipiell aufserhalb des Bewuiüstseins und des Willens 
und trägt keinen Stimmungswert. Ihre Ursache ist die psychische Disso- 
ziation, also ein Zerfall der Persönlichkeit, der jeder einmal ins Bewufst- 
sein eingetretenen Vorstellung die Tendenz verleiht, sich dort zu behaupten. 

Beim Idioten kann neben der echten Echopraxie eine Echopraxie „de 
memoire"* vorkommen: eine bewufste „manie de Timitation". Die echte 
Echokinese ist dagegen hier die direkte Folge der hochgradig beschränkten 
Leifltungsfähigkeit, der Defektuosität der Persönlichkeit. 

Das verbindende Moment aller dieser Zustände, die die Echopraxie 
ermöglichen, sieht D. in der ihnen allen gemeinsamen vermehrten Lenk- 
samkeit. Deshalb definiert er die Echopraxie geradezu als eine sehr ein- 
fache und reine Form der Suggestibilität. W. Altee (Lindenhaus). 

Hbbm AKN Planck. Das Problem der moralluhen Willeiufreihelt Archiv f. 
systematische Philosophie 11 (3), S. 323—334. (1906). 

Gleich ScHOPENHAüEE, von dem Planck ausgeht, hält er an der durch- 
gängigen kausalen Bedingtheit der Willensakte fest. Freiheit ist ihm dem- 
nach die Möglichkeit infolge äufseren oder inneren Auftauchens von Vor- 
stellungen in bewufstem, nicht vom unmittelbaren Eindrucke bestimmtem 
Entschlüsse Willenshandlungen vorzunehmen. Je mehr somit das unmittel- 
bare Gefühl ausgeschieden ist, je mehr also Reflexion vorhanden ist, desto 
grölser ist die Freiheit. Moralisch frei ist eine Handlung, wenn sie frei ist 
von Gründen des äufseren Wohlergehens und nur bestimmt durch stärkere, 
innere Motive des geistigen oder moralischen Lebens, durch rein moralische 
oder selbstlose Motive. Soweit sind wir, wenn wir von der psychologischen 
Fassung absehen, mit Planck eins. Widersprechen aber müssen wir ihm, 
wenn er sagt, der Determinismus lasse regelmäfsig nur äufsere, egoistische, 
nicht auch innere, selbstlose Beweggründe gelten. Das fällt dem Determi- 
nismus nicht ein. Wir erinnern nur an die Darstellungen des Determinismus 
von Beneke, Lifps, Winpelband, Pfisteb, dem Keferenten und anderen, 
speziell bei der Begriffsbestimmung der sittlichen Freiheit. Übrigens selbst^ 
wenn diese Darstellungen, in denen die Kontroverse zwischen Indetermi- 
nismus und Determinismus den Kernpunkt bildet, auch von jenen ,,inneren" 
Motiven nicht reden würden, täte es nicht viel zur Sache — zu ihrer 
Sache. Handelt es sich doch hier nicht sowohl um die Qualität der Motive, 
sondern vielmehr darum, ob der Wille d. h. die menschlichen Willensakte 
jederzeit und vollständig von Motiven bestimmt sind oder nicht. Es ist also 
eine formale Frage, eine Frage nach der Form des Geschehens, ob nämlich 
auch die Willenshandlnngen dem gesetzmäfsigen kausalen Zusammenhang 
eingefügt sind oder davon eine Ausnahme machen. Gleichgültig bleibt es 
in diesem Streit, ob die Motive egoistisch oder altruistisch sind. Und 
widersprechen müssen wir Planck auch, wenn er weiter dem Determinismus 
vorhält, er nehme dem Willen die selbst einen Inhalt herbeischaffende 
Aktivität und verflache so dessen Selbstbestimmung zu einem blofs passiven 
Bestimmtsein. Der Determinismus verurteilt das Ich keineswegs zur 
Passivität, auch ihm gilt es als eine Kraft, als einer — und nicht der ge- 
ringste — der Faktoren, die die Handlung herbeiführen. Übrigens klingt 

10* 



148 lAterahurbeneht 

jene Wendung, fOr sich genommen, sUrk an den sogenannten relativen 
Indeterminiamna eine« Kstma^ Scbkll^ GrTBBBLxr und nur des VerfassefB 
-aoadrllckliche Versichernng, dafs alle Handinngen psychologisch notwendig 
seien, schalst ihn daTor, dieser Grnppe der Halb-nnd-Halhen sngeiechnet 
an werden. Den SchlnlB der Abhandhing bildet ein Hinweis auf das philo- 
sophische System Kabl Plahcks, mit dem Vetf. sich im wesentlichen eins 
fohlt. M. OPFim (MUnchen). 

Ahqie L. KsLLooe. Tht PeiilMIttr •t A PfeyiMigkil GeuiteitieB •! RrMdM. 

J<mmal af Fhih9opky, Ftyd^ohgy ßnd Säentifie^eiMk S (10), 8. 960-267. 

1905. 
Ausgehend von der übrigois nicht sutrelfenden — oder doch jetst 
nicht mehr als frOher zutreffenden — Anncht» der Kernpunkt in dem 
gegenwärtigen Streit um die Willensfreiheit liege in der Definition der 
Freiheit als praktischer Wahrheit oder sozialer Notwendigkeit, setzt sich 
Verf. mit Jambs und Müvbtbkbbso auseinander, welche, streng scheidend 
zwischen Psychologie und Philosophie, auf dem Gebiet der ersteren den De- 
terminismuB vertreten , auf dem der Metaphysik aber den Indeterminismus. 
Kbllogo bekftmpft diese Theorie, tritt fflr den Determinismus ein und 
glaubt einen Ausweg zu finden, wenn er Freiheit definiert als eine Be- 
zeichnung für Intelligenz, Ordnung und Methode in unseren Handlungen. 

M. Offmes (München). 



G. Trüc. Um Ulititi ie U ctiMleMe attile. Bevue pkOo: 60 (9), 90O-313. 
1906. 
Die Verantwortlichkeit ist eine Illumon. Sie besteht ursprfinglicfa in 
der Meinung, wir seien frei und unmittelbar die Urheber unserer Hand- 
lungen. Bei Steigerung der geistigen Aktivität steigert sich das Identitftts- 
bewufots^n derart, dafs wir ihm Tatsachen zuschreiben, in denen es nur 
nnbez weifelbar gegenwärtig ist. Zwingt uns nun das gesellschaftüche Zu- 
sammenleben, welches nach T. erst die Moral erzeugt, zu gewissen Hand- 
lungen, so flbereehen wir die Notwendigkeit und glauben frei nach moralischen 
Vorstellungen zu handeln und für unsere Handlungen verantwortlich zu sein. 

Gaoarrnnrazir (Berlin). 



PnuB Jakr. Let tälllllttoM dl BlfMl Beatal. Atti del V. Congreeso 
Intemazlonale di Psicologia tenuto in Roma. Borna» Fonani. 1905. 
8. 110—196. Auch: Bevue dm iditB. Octobie. 1905. 
Die landläufige Anschanung bewertet die gtmdaelle Ausgestaltiuig der 
Geistestäti^eit nach abgeschloesener Entwicklung als eine im wesentlichen 
stationäre GrOfoe. Gegenüber dieser irrigen AuffMsnng betont iäxn die 
Tatsache der kontinuierlichen geistigen Veränderung durch ebenso häufige 
wie erhebliche Schwankungen in der Kraft, der Ausdehirang und der Voll- 
kommenheit der psychischen Prozesse. Diese Schwankungen werden im 
allgemeinen wenig berücksichtigt — sie vudienen aber tatsächlich die 
gröfste Beachtung. Denn ihre subjektive Wahmehmmig und ihre Rück- 
wirkung auf das BewuXstsein begründen eine grolse Reihe von viri* 



i 



■r 



lAteruhfrherieht 149 

erörterten Erscheinungen aus der normalen und der pathologischen Psy^ 
ehoiogie. 

Dasu gehören gewisaa plötiliche ZnstandsUnderungen in der Hysterie. 
Nicht die einfachen Formverschiebungen vom Typus des Transfert, die J. 
im inneren Wesen der Hysterie begründet sieht, sondern die unvermittelten, 
vollständigen Remissionen, in denen der ganze Zustand der Hysterie 
momentan lar&cktritt. Solche radikale Änderungen der Be wufstseins a u s - 
dehnung heben mit der Einengung des Bewufstsains und der Vorsteliungs- 
Utigkeit auch die obligate Suggestibilitat auf; sie sind stets von starken 
Glücks- und Kraftgefflhlen begleitet. Ihr Eintret^i erfolgt euweilen spontan 
oder nach langer Ruhe, meist bindet es sich aber an Gemütsbewegungen 
and Aufregungen jeder Art. Es kann aber auch in der Hypnose erzielt 
werden: man kann also die 8nggestibilitftt durch die Suggestion selbst auf-' 
heben und Kranken mit schweren geistigen Störungen eine normal funktio^ 
nierende Geisteetatigkeit verschaffen. Freilich nur für kurze Zeit; denn, 
die Dauer dieser Schwankungen ist in der Regel sehr beschränkt. 

Das gilt auch für die akuten psychischen Niveauänderungen in 
psychasthenischen Zuständen. Eine klassische geistige Schwankung ist die 
peycholeptische Krise: sie mufs als eine abrupte geistige Denivellierung auf- 
gefafst werden. Entgegengesetzte Ausschläge bedeuten die „lichten Augen- 
blicke'* der entwickelten Psychasthenie, in denen sich die „unzulängliche" 
psychische Leistungskraft momentan zu einer objektiv und subjektiv voll- 
endeten geistigen Geschlossenheit restituiert. Sie folgen besonders häufig 
aus endogenen und exogenen Einflüssen auf den Stoffwechsel, sie schliefsen 
sich bisweilen an ähnliche Anlässe wie die Remissionen der Hysterie: sie 
sind aber nie hypnotisch erreichbar. 

Andere Psychopathien, wie das manisch-depressive Irresein, zeigen 
ähnliche Vorgänge in nicht minder scharfer Ausprägung. 

Aber auch im normalen Geisteszustand finden sich prinzipiell ver- 
gleichbare und bis zur RegelmäXsigkeit häufige Schwankungen von nicht 
geringerer Ausdehnung. Denn sie überschreiten auch da die Grenzen des 
Wesentlichen, indem sie das normale geistige Geschehen ins Pathologische 
übersetzen. So begreift J. den Vorgang der Ermüdung: ihr Auftreten 
bedeutet ihm im Grunde nichts anderes, als die Etablierung eines mehr 
oder weniger ausgeprägten psychasthenischen Zustandes. Ähnlich inter- 
pretiert er die Traumzustände : nur stellt er sie der Hysterie nahe, weil sie 
gleich dieser auf einer weitgehenden konzentrischen Einengung des Be^ 
wulstseins beruhen. Und die gleiche Anschauung überträgt er schlieüslich 
auch auf die emotionellen Zustände. Den psychischen Anteil des Syndroms^ 
das die gemütliche Aufregung, die Forderung einer unvorbereiteten An- 
passung bei dem Gesunden hervorruft, sieht J. nicht mit der alten Lanos- 
sehen Theorie in einer „extramotion'', in einer sekundären Rückwirkung 
physiologischer Vorgänge aufserhalb des Bewufstseins , sondern in einer 
direkten „intramotion'', deren psychischer Effekt bald als Beruhigung, bald 
als Erregung hervortritt. Wovon diese entgegengesetzte Wirkungsmöglichkeit 
eigentlich abhlUigt, läfst er leider unerörtert: zum Nachteil seiner Beweis- 
führung, die in dem eventuellen psychischen Erregungszustand wieder die 



150 Literatwrbericht 

fandamentalen Grandzüge der Psychasthenie nachzuweisen sucht: die 
Insuffizienz oder den Verlust der „Funktion der Wirklichkeit" durch eine 
allgemeine Herabsetzung der allgemeinen psychischen Spannung, auf deren 
Oszillationen Janet schliefslich überhaupt alle Schwankungen der Geistes- 
tätigkeit zurückführt. W. Alteb (Lindenhaus). 

H. Stasblmann. Gelttetkraikhait ud laturwitseucbilt MstMkraiUieit 
iBd Sitte. Miteskrtakheit ud «eBiaUttt fiaislMknilüieit ud MUkul 

München, Gmelin. 1905. 43 S. Mk. 1. 
Verf. wünscht, daCs die physikalisch-chemische Betrachtungsweise in 
der Psychiatrie zwecks Diagnostik und Therapie der Psychosen, besonders 
in deren Frühstadien, mehr als bisher berücksichtigt wird. Das Handeln 
Geisteskranker liegt aufserhalb der Adaptationsmöglichkeit an eine all- 
gemeine Sitte; chemische und physikalische Methoden werden nach ihm 
künftig die Frage beantworten, inwieweit der einzelne zur Bechenschaft 
zu ziehen ist. Er erörtert dann die Beziehungen zwischen Geistesstörung 
und Genialität und bespricht die naturwissenschaftlichen Faktoren des 
Schicksals, der Beaktion der äufseren Welt auf den Menschen. 

Ernst Schultzb (Greifswald). 

H. Stadelmann. Du Wesen der Psychoie auf Gnidlige modener natirwisiei- 
scbaitllcher AischtaiiBg- Heft V. Die Paraioia. Heft VI. Die Iftlepsle. 

München, Gmelin. 1905. S. 18?— 277. 
Im Bahmen eines Referats nicht wiederzugebende Ausführungen über 
das Wesen und die Pathogenese der Paranoia und Epilepsie. 

Ebnst Schultzb (Greif swald). 

Fbanz Kbaheb. Die kortikale Tutllbraug. Monats9chr. f. Psychiatrie u. 
Neuroloffie 19 (2), 129—159. 1906. 
Zur reinen Tastiahmung können nur solche Falle gerechnet werden, 
in denen die Sensibilitätsstörungen zu gering sind, als dafs sie die Störung 
des stereognostischen Perzeptionsvermögens genügend erklaren könnten. Im 
Gegensatz zu der Meinung mancher Autoren, die den Ausfall des Tast- 
Vermögens stets auf einfache Sensibilitätsstörungen zurückführen wollen, 
ist zu betonen, dafs es Falle gibt, in denen eine von den elementaren 
Sensibilitätsstörungen unabhängige und selbständige, das Tastvermögen 
aufhebende Störung vorliegt. Das ergibt sich vor allem aus einem Ver- 
gleich der Fälle hochgradiger Sensibilitätsstörung peripherer Natur ohne 
Tastiahmung mit Fällen geringer Empfindungsstörungen, die noch eine 
Tastiahmung zeigen. In solchen Fällen ist neben der Tastlähmung häufig 
die feinere Motilität in Form einer kortikalen Ataxie affiziert (Bevorzugung 
der peripheren Extremitätenabschnitte). Unter den verschiedenen Emp- 
findungsarten sind besonders die komplizierteren (Lokalisation, Bewegungs 
empfindung usw.) gestört. Das sind diejenigen Wahrnehmungsqualitäten, 
die — gegenüber den einfacheren Sensibilitätsarten (Berührungs-, Schmerz- 
Temperatursinn etc.) — die stärksten Ansprüche an ihre zentrale Ver- 
arbeitung stellen. Wo die höchste Leistung des Tastvermögens, die Fähig- 
keit zur Bildung einer räumlichen Vorstellung von einem Gegenstande, 



LUeraturbericht 151 

snfgehoben ist, sind auch diese Wahrnehmungsakte in der Regel gestört, 
«o dals also absolut reine Tastlähmungen nur aufserordentlich selten sind, 
wenn sie überhaupt vorkommen. 

Das Zustandekommen einer Tastlähmung hat man sich daraus zu 
•erklären, dafs „die Verarbeitung der Wahmehmungselemente zum Tastbilde 
Schaden gelitten haf*; es handelt sich um eine assoziative Störung, um 
eine Lösung der betreffenden kortikalen Assoziationskomplexe (Bonhöffbb). 
Obgleich die Wahmehmungselemente in genügender Weise perzipiert 
werden, können diese nicht derart verarbeitet werden, „dafs das körperliche 
Bild des betreffenden Gegenstandes zum BewnÜBtsein kommt". Den 
wichtigsten Faktor in der Genese der Tastlähmung spielt offenbar eine 
Schädigung der kompliziertesten Akte des Tastens, der Kombination der 
Simultan- und der Sukzessiveindrücke. 

Das Symptom der Tastlähmung weist auf eine kortikale Erkrankung 
hin (Wsrnickb). Die Frage nach ihrer Lokalisation in der Binde läfst sich 
nur allgemein dahin beantworten, dafs sie in naher Beziehung zur moto< 
rischen Rindenprojektion der Hand stehen mufs, dafs beide Projektions- 
felder aber nicht ganz identisch sein können. 

Spiblmbyeb (Freiburg. i. B.)- 

Adolf Mbteb, Aphula. Psychological BMetin 2 (8), S. '^1—277. 1905. 

Mbtbb bespricht Wbbnickbs letzte grofse Veröffentlichung: „der apha^ 
•sische Symptomenkomplex^. In seiner Kijtik wiederholt er die Einwürfe 
von Bastian und Dbjebinb. Darüber hinaus tadelt er besonders die unge- 
nügende Berücksichtigung der partiellen und gemischten Sprachstörungen 
und allgemein die viel zu weit gehende Schematisierung der Tatsachen. 

W. Alteb (Lindenhaus). 

B. Hknnebbbo. Ober viToUstiadige reine Worttanbheit Momtsschr. f. Psy- 
chiatrie u. Neurohgie 19 (1 u. 2), 17—38 u. 169—179. 1906. 

Die klinische Analyse eines seit mehreren Jahren stationären Falles 
von unvollständiger reiner Worttaubheit gibt dem Verf. Veranlassung, einen 
Überblick über den heutigen Stand der Lehre von der reinen Worttaubheit 
in dieser Arbeit zu bringen. Diese Störung ist eine der seltensten Formen 
aphasischer Herderscheinungen. Sie ist charakterisiert durch die Auf- 
hebung des Wortlautverständnisses und durch die Unfähigkeit, 
nachzusprechen und auf Diktat zu schreiben. Diese letzteren Symptome 
«ind als notwendige Folgeerscheinungen des (ersten) Grundsymptomes auf- 
zufassen. 

Die reine Worttaubheit kommt in verschiedenen Graden der Aus- 
bildung vor. Im vorliegenden Falle ist im wesentlichen das Lautverständnis 
für kompliziertere Silben- und Wortgefüge aufgehoben (Satz- oder Rede- 
taubheit) ; Vokale, Diphthonge, einzelne Konsonanten und einfache, häufigere 
Worte werden meist richtig aufgefafst; Melodien werden nicht erkannt. 

Solche Fälle reiner Worttaubheit haben ein allgemeineres psycho- 
physiologisches Interesse vor allem deshalb, weil aus der Art des Defektes 
(der Störung der primären Identifikation [Webmckb]) der Schlufs gezogeA 
werden darf, dafs zwischen Hören und Verstehen (Wortsinn Verständnis) 



152 LitenOuHteru^L 

noch ein dritter geistiger Vorgmng eingeecfaoben ist: des Erkennen der 
gehörten Worte (Wortlantvemtftndnis). Bevor es zu einem Verstftadni» 
des Wortsinnes kommen kann, müssen die gehörten einzelnen Laute an* 
sammengeschmolzen und au dem entsprechenden Wortklangbild verarbeitet 
sein. Diese Fähigkeit der sensorischen Koordination ist in den reinen 
FlUlen von Worttanbheit geschädigt, bzw. aushoben. 

Die Worttanbheit kann dnrch eine peripherisch gelegene Laaion 
(Acnsticns, Labyrinth, Mittelohr) bedingt sein. Fftr die Unterscheidung' 
dieser peripheren Affektionen von den hier in Rede stehenden Fallen 
zerebraler Worttanbheit ist in erater Linie der Nachweis maßgebend, dafa 
das von Bkzold f flr das Verständnis der Sprache als erforderlich festgestellte 
Gebiet der Tonreihe mit ausreichender Hördaner gehört wird. — Wo der 
Sitz dieser zerebralen Herderkranknng ist, lalst sich mit Sicherheit noch 
nicht sagen. Am wahrscheinlichsten ist es, dafs der Herd im Mark des 
linken Schlafelappens liegt und hier die Höhrbahn und die Balken- 
bahn unterbricht. Das sensorische Wortsentrum ist dadurch von den aua 
der Peripherie kommenden Reizen isoliert. SnaLMBTaa (Freiburg i. B.). 

Shefhbbd Ivobt Fbanz. The EaadicatitH af aa Aphasie. Journal of Fhüo^ 
sophy, Psychology and Scientific Methode 2 (22), S. 589—597. 1905. 

Eine interessante Mitteilung Ober die systematisch geförderte und 
kontrollierte Rückbildung einer embolischen Aphasie bei einem 57 jahrigen 
Mechaniker. Die Aphasie war vorwiegend sensorisch, die Sprachstörung^ 
beim Anfang der Versuche noch hochgradig. Das Verständnis war wie da» 
Nachsprechen und Spontansprechen auf wenige kurze Satze beschrankt; e» 
bestand eine hochgradige Pan^hasie. 

Die Reedukation erfolgte in 4 Versuchsreihen. Der Patient wurde 
veranlaTst: 1. 10 Farbentafeln, 2. die Zahlen 1 — 10 (auf Tafelchen) zu unter* 
scheiden, 3. einen kurzen Vers neu und 4. das Vaterunser wieder zu 
lernen. AuTserdem wurde versucht, ihm ein par deutsche AusdrOcke fflr 
vorgezeigte Gegenstände einzuflben. 

Die Versuche geschahen oft, aber nicht regelm&fsig ; die Fehler wurden 
sofort korrigiert, die Ergebnisse tabellarisch eingetragen. Sie zeigten einen 
fast kontinuierlichen Fortschritt Bei der Erlernung der Farbenbeseich- 
nungen stieg der Prozentsatz der Richtigbenennungen in 3 Monaten von 
43,6 auf 96,1. Am schwierigsten blieb die Erkennung von rot, am leichtesten 
wurde blau unterschieden. — Beim Zahlenlernen wuchs der Prozentsatz 
der korrekten Anerkennungen in der gleichen Seit von 42,3 auf 98,6* o- -^^ 
schwierigsten war das Ansprechen von 10, am leichtesten verfügbar war 5. 
Der Versuch mit dem Liedvers sollte aeigen, in wie weit eine Aneignung 
zusammengesetzter Sprachbegriffe möglich war. Die Strophe wurde zwar 
— erst durch Vorlesen, dann durch Selbstlesen der Niederschrift — gelernt» 
aber doch nur sehr langsam und unvollkommen. Dagegen wurde das 
Vaterunser nach 25 Lesungen völlig korrekt aufgesagt: der alte Besitz 
war also sehr viel leichter wieder zu erobern. Das Erlernen der deutschen 
Gegenstandsbezeichnungen gelang nur in engen Grenzen, aber es zeigte 
doch, dafs selbst eine Etablierung ganz neuer Bahnen stattfinden konnte. 
Aber auch sonst schien der graduelle Erwerb in seinem Mechanismus und 



LittratwrberickL 153 

Verlauf nicht einem Wiedererlangen einer früheren Leietnngsfähigkeit zu 
entoprechen, sondern er glich weit mehr der Aneignung einer nenen Ge- 
wohnheit. Daraus schliefst der Verf., dafs nicht die alten Wege wieder- 
geöffnet, sondern neue Leitungen gebahnt wurden — durch ein vikariierendes 
Eintreten der rechten Hemisphäre. W. Altbb (Lindenhaas). 

Ka&l Ffebsdobf. Über ReäedriBg bei Benkbenmaag. Motiat$$chrift f, Psy- 
chiatrie u. Neurologie 19 (2), 108—128. 1906. 
Bei einigen Mischzuständen des manisch-depressiven Irreseins wurden 
Symptomenbilder beobachtet, die sich durch das Nebeneinanderbestehen 
von eigenartiger Affekt- und Denkhemmung und von motorischen auf die 
Sprachbewegungsvorstellungen beschränkten Erregungen auszeichneten. Es 
sind vor allem diejenigen Assoziationen von der Hemmung betroffen, deren 
Auftauchen von der Affektnüance des „Interesses" begleitet ist. Die Kranken 
stehen unter dem Einflufs eines inneren Kededranges, der sie zwingt, alles 
Gehörte schon von ihnen selber Gesprochene innerlich noch einmal nach- 
zusprechen, sich Worte zum wiederholten Hersagen zu suchen etc. „Die 
Denkvorgänge und die Affektreaktionen sind nicht in toto und isoliert 
gehemmt oder erregt, sondern die Hemmung betrifft einen Teil der Denk- 
Prozesse und zugleich einen Teil der Affektreaktionen, während die Erregung 
ebenfalls Denkvorgänge und die entsprechenden Affektreaktionen vereint 
befällt." Spielmeyeb (Freiburg i. B.). 

S. SouKHANOFF. PbobiB du regard. Joum. f. Psychol, u. Neural 6 (6 u. 6), 
241— «47. 1906. 

Die „Blickfurcht" d. i. die pathologische Scheu davor, von einem 
anderen gesehen zu werden, ist nicht eine selbständige Erkrankung, sondern 
nur ein Symptom, und zwar entweder einer angeboren neuropsychischen 
Konstitution, die überhaupt durch Zwangsvorstellungen charakterisiert ist, 
einer „Constitution id^o-obsessive", oder der primären juvenilen Demenz, 
der Melancholie, der Paranoia. Lipmakn (Berlin). 

TH.BRAUK. Die rettgitse Wabnbildttllg. Tübingen, Mohr. 1906. 74 S. Mk. 1,— . 

Xach allgemeinen und zutreffenden Erörterungen über das Wesen, die 
Ursachen, die Richtung, den Inhalt und Ausgang der Wahnbildung berichtet 
Verf. unter ausführlicher Mitteilung von Einzelfällen über seine in einer 
Irrenanstalt gemachten Beobachtungen ; dabei unterscheidet er, je nachdem 
ob die Bildung der Wahnideen auf Trübung des Bewufstseins, auf psychische 
Schwäche oder auf krankhaft gesteigerte Gefühlszustände zurückzuführen 
ist oder ob sie ein Symptom paranoischer Krankheitsbilder abgibt. 

Bei der zusammenfassenden Besprechung seiner Fälle macht er auf 
den Irrtum vieler Laien aufmerksam, als ob die religiöse Wahnbildung für 
den Kranken religiös-sittlich fördernd sei und ein dankbares Feld der Seel- 
sorge erschliefse; sie kann vielmehr geradezu bedenklich werden durch 
Massensuggestion oder Gewalttaten. Überspannte Religiosität kann die 
Entstehung wahnhafter Ideen fördern, wenn sie nicht schon das Zeichen 
beginnender Erkrankung ist. Eine sachverständige Behandlung wird alles 
vermeiden, was direkt oder indirekt der religiösen Wahnbildung Vorschub 
leisten könnte. Ebnst Schultzk (Greifswald). 



154 Literaturbericht 

S. TüRxxL. PiyebUtrlidi-lurliBiialiftitcte PrabloM. Leipsig und Wien, 
Denticke. 1905. 72 S. Mk. 3. 

Das vorliegende Heft erörtert drei verschiedene Fragen. Einmal 
bespricht es die Kompetenz der ärztlichen Sachverständigen, die Frage der 
Zurechnungsfähigkeit zu beantworten. Diese Frage wurde von Platnbb schon 
1740 bejaht, während Kant bekanntlich die philosophische, nicht die medi- 
zinische Fakultät herangezogen wissen wollte. Übrigens vertrat noch vor 
90 Jahren ein Arzt (Costb) den Standpunkt, dafs über zweifelhafte psychische 
Zustände jeder Mensch von gesundem Verstände eben so richtig urteilen 
könnte, wie beispielsweise ein Pinbl oder ein Esquibol. 

In einem zweiten Abschnitte geht er kurz auf die moderne Schule 
ein, die mit dem vagen Begriff der Zurechnungsfähigkeit brechen will und 
in der Reaktion der Gesellschaft auf antisoziale Handlungen nur eine 
Sicherungsmafsregel erblickt. 

Der letzte und ausführlichste Abschnitt beschäftigt sich mit den 
gesetzlichen Bestimmungen des österreichischen Strafgesetzes über die 
Zurechnungsfähigkeit und diskutiert eingehend die Anschauungen, die 
seinerzeit für den Gesetzgeber bei der Formulierung der betreffenden 
Paragraphen mafsgebend waren. Dafs sie nicht mehr zeitgemäfis sind, 
erscheint nicht sonderbar, da das Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1803 
bzw. 1852 stammt, und offenbare Härten werden vielfach nur vermieden, 
indem der Sachverständige sich nicht um die oberstgerichtliche Inter- 
pretation kümmert. 

Einer Reform bedarf es also auch dort. Ernst Schultzs (Greifswald). 



^TiBNNB Rabaud. HifMlti et digteiretceice. Journal de P^chologie 2 (4), 
S. 308—327. 1905. 
R. tadelt die verschwommene, sinnwidrige und Übertriebene Anwendung 
der Ausdrücke Heredität und Degeneration, die ihren wirklichen Inhalt 
allmählich völlig verwischt. Die Heredität gilt heute, wie die Degeneration, 
als ein immanentes Prinzip der Entwicklung, als eine geheimnisvolle Kraft, 
die den Charakter der Nachkommen mafsgebend beeinflufst: das ist eine 
Verfälschung der prinzipiellen Bedeutung. Denn der Begriff der Vererbung 
kann immer nur die einfache Tatsache des Weiterbestehens gewisser Eigen- 
tümlichkeiten der Vorfahren bei den Nachkommen bezeichnen. Das Wesen 
der Heredität wurzelt in ihrer biologischen Entwicklung; ihr Anfang ist 
die Sprossung, die substantielle und konstitutionelle Kontinuität zwischen 
2 Teilen ein und desselben Organismus. Dieser innere Zusammenhang 
bleibt zunächst gewahrt, wenn sich die beiden Teile trennen: er gewähr- 
leistet die Ähnlichkeit als den Ausdruck der Heredität, der grundlegenden 
Ausdehnung und Fortdauer einer lebenden, besonders konstituierten Sub- 
stanz unter der Form mehrerer gleichzeitigen oder aufeinanderfolgenden 
Individuen. Ihr Umfang bleibt jedoch nicht unbeschränkt erhalten. Denn 
die einzelnen Individuen sind in der Regel zu Anpassungen an verschiedene 
Lebensbedingungen gezwungen: dabei wird durch den Erwerb neuer oder 
die Abänderung alter Eigentümlichkeiten der Komplex jener Kontinuität 
mehr oder weniger geschädigt. Es entsteht die Unähnlichkeit» die bis zur 



Literaturhericht 155 

Aufhebung der Heredität gehen kann: nnr in diesem Sinne darf man von 
einer „Auflösung" der Vererbung sprechen. Die Verschiedenartigkeit hängt 
aber immer ausschlieCslich von einem direkten £rwerb des Erzeugten ab: 
sie hat mit der Heredität nur in so weit zu tun, als sie sie allmählich 
Terschwinden läfst. 

Bei allen höheren Wesen steht das Erzeugte in einer doppelten 
Kontinuitäts Verbindung zu beiden Erzeugern. Das bedingt eine doppelte 
Heredität, die sich entweder durch das Prävalieren der einen Seite 
zum Schaden der anderen stärker betont, oder die sich durch 
Summations- und Interferenzvorgänge differenziert. Dabei wird aber auch 
in der Veränderung immer die direkte Fortdauer gewahrt: es handelt 
sich um eine Zusammenstellung, nicht um eine Übertragung von Eigen- 
tümlichkeiten, die wieder durch notwendige Anpassungen des Erzeugten 
in mehr oder weniger grofsem Umfange beeinträchtigt werden können. 
Das geschieht im allgemeinen um so mehr, je früher die Trennung der 
Generationen stattfindet — um so schwächer wird also auch der Komplex 
der Heredität: mit Ausnahme eines bestimmten Anteils der konstant ist, 
weil er eine graduelle Veränderung bedingt: der Degeneration. R. ver- 
steht die Entartung als einen besonderen anatomischen Zustand, eine durch 
ituTsere Einflüsse bestimmte Beschaffenheit der lebenden Substanz, die 
keine Veränderung darstellt, aber eine beginnende Abänderung mit einer 
grundsätzlichen Unbeständigkeit von desintegrierender Tendenz: die „pr6- 
alteration". Sie bleibt sich in ihrem Wesen immer selbst gleich und 
gewinnt nur dadurch, dafs sie sich in der Zeugung mit einer anderen Ent- 
artung kombiniert in jeder Generation eine neue Ausdrucksform. Sie 
kann aus sich selbst heraus keine Eigentümlichkeiten schaffen. Dagegen 
bedingt sie eine erhöhte Empfänglichkeit für äufsere Einwirkungen, denen 
sie also das Individuum in erhöhtem MaTse unterordnet. In den Grenzen 
einer adäquaten Entwicklungsmöglichkeit führt das nur zu immer kompli- 
zierteren Anpassungen : hier bedingt die Degeneration also nur eine immer 
stärkere Differenzierung der Persönlichkeit. Wird die durch sie verursachte 
Empfindlichkeit des Individuums aber über jene Grenzen, über die vor- 
gesehene innere Balanze hinaus durch äufsere Einflüsse in Anspruch ge- 
nommen, 80 kann das nur auf Kosten des inneren Gleichgewichtes geschehen : 
dann vermittelt die „Präalteration" eine „Alteration": die Krankheit, die 
also nicht das notwendige und unmittelbare Produkt der Degeneration 
selbst ist, sondern lediglich eine durch die Degeneration vermittelte Re- 
aktion der ererbten und differenzierten Konstitution auf äufsere Einflüsse. 

Das ist nur ein dürftiger Umrifs von Rabaüds Ausführungen, die mit 
einem ungewöhnlichen Gedankenreichtum eine Fülle der geistvollsten 
^Nutzanwendungen verbinden. Auch auf dem Gebiet des Nervensystems 
sieht er die Heredität um so mehr verschwinden, je gröfser der Anteil der 
Degeneration wird. Aber die Entartung allein kann auch hier weder Ver- 
änderungen noch Krankheiten hervorrufen : sie vermittelt nur die äufseren 
Einflüsse auf ihre inneren Angriffspunkte und akzentuiert ihre Wirkungen 
nach ihrer besonderen lokalen oder allgemeinen Ausprägung. 

W. Alteb (Lindenhaus). 



156 Literatvrberidit 

Alsxakdsb f. Cbambsblain. Primitire ItiriH ^^ ,jMrlif-Wtrit". Atner. 
Jaum. of Fsych. 1% (1), 6. 119--ld0. 1906. 
Der Verf. führt hier zerstreute Tatsachen von anthropologisch-paycho* 
logischem Interesse vor; er bemerkt, daie die allgemeine Annahme einer 
höheren Hörscharfe bei den Wilden oder den barbarischen Völkern nichl 
begründet sei. Sonst ist der Artikel wesentlich philologischer Natur und 
gibt aus der Folklore verschiedener Völker eine grofse Anzahl Belege für 
die allgemeine Schätzung des Gehörssinnes; einige sprachpsychologieche 
Beobachtungen sind verzeichnet. Aall (Halle). 

G. s. Maschsstbe. KzpflrtiMiU om th6 Vireiecti?e Ideu %t Mei ui Wmiom. 
Faychol Review 12 (l), 00-66. 1906. 

Der Artikel beschreibt eine Wiederholung der Versuche Jastbows be* 
treffend Unterschiede in der Häufigkeit von Vorstellungen bei Studierenden 
männlichen und weiblichen Geschlechts. Jastbow liefs seine Studenten 
100 Wörter (keine Sätze) so rasch wie möglich niederschreiben. Er sammelte 
diese Wörter dann in 25 Gruppen. £r verglich die so entstandenen Listen, 
um die Unterschiede der Geschlechter zu bestimmen. Die Verfasserin des 
vorliegenden Artikels vergleicht nun ihre eigenen Ergebnisse mit denen 
Jabtrows, wobei sich im ganzen Übereinstimmung herausstellt. Doch finden 
sich auch kleinere Unterschiede. Z. B. sind Nahrungsmittel beim männ- 
lichen Geschlecht etwas häufiger, kaufmännische Bezeichnungen beim weib- 
lichen Geschlecht etwas häufiger, während bei Jastbow das Gegenteil der 
Fall war. 

Das Gesamtergebnis ist das folgende. 1. Die oberflächlichen Vor- 
stellungen sind solche von gewohnten und interessanten Gegenständen. 
Daher überwiegen Möbel und Dekorationsgegenstände bei Frauen, Werk- 
zeug und Mineralien bei Männern. 2. Handlungen überwiegen bei Männern^ 
Zustände bei Frauen. Männer haben eine Neigung zum Gebrauch voa 
Verben und Adverbien, Frauen zum Gebrauch von Hauptwörtern und 
Adjektiven. 3. Zeit ist wichtiger für Männer, Baum für Frauen. 4. Das 
Abstrakte ist häufiger bei Männern, das Konkrete und Beschreibung 
] läufiger bei Frauen, ö. Männer finden Interesse in den Verhältnissen von 
Gegenständen zu andern Gegenständen, Frauen mehr in der detaillierten 
Analyse der Gegenstände selbst. 

Im allgemeinen ist zu sagen, dafs Männer einen etwas reicheren Vor- 
stellungsschatz zu besitzen scheinen als Frauen. Die weiblichen Studenten 
lösten ihre Aufgabe in kürzerer Zeit als die männlichen. Ob dies jedoch 
die Folge schnellerer Assoziation oder nur schnelleren Schreibens war, 
konnte nicht festgestellt werden. Max Mbyeb (Columbia, Missouri). 

J. H. TüFTs. The Indifidml and hU RelatiOB to Society as reiected in tke 

British Ethics of the Eighteenth Century. Psychol Review Mon, Sup. 6 (2), 

Whole Nr. 25. 58 S. 1904. 

Im Jahre 1898 erschien in The University of Chicago Contributiona 

to Philosophy eine kurze Abhandlung von Tcfts über das Verhältnis des 

Individuums zur Gesellschaft im siebzehnten Jahrhundert, mit besonderer 

Bücksicht auf Gesetze und politische Einrichtungen. Diese Arbeit wird 



Literatmrberickt 157 

nun fortgtsetat in einer hietoriechen und kritischen Behandlung der ethi- 
schen Theorien von SH^rrsBUKT bie Adam Smith. Verf. beschreibt zunftchst 
kun den allgemeinen Charakter des Lebens und Denkens im achtzehnten 
Jahrhundert und entwirft dann ein Bild der Entwicklung des Moralbegrifls, 
wie wir ihn bei den Ethikern dieser Periode finden. Er behauptet, dafs 
die grofsen, richtunggebenden Krftfte des achtzehnten Jahrhunderts 
industrieller und intellektueller Natur gewesen seien, die der vorher- 
gehenden beiden Jahrhunderte dagegen religiöser und politischer Art. 
„Nicht Kirche und Staat, sondern private und Geschäftsangelegenheiten 
standen im Mittelpunkt des Interesses." Wechsel ökonomischer Verhält- 
nisse und Wachsen des Wissens waren daher die Bedingungen, die auf 
den ethischen Individualismus von Maitosville, Btttlbb, Hitme und ihren 
Zeitgenossen bestimmten Elnflufs ausübten. Es ist dann selbstverständlich, 
dafs Adam Smith als der „Interpreter of bis age" gilt. Wenn Eigeninteresse 
die stärkste Naturkraft ist, so ist Smiths Theorie der Moralgefflhle in Über- 
einstimmung mit seiner nationalökonomischen Theorie. Und der Begriff 
eines iininteressierten Zuschauers, darstellend das altruistische Element 
der menschlichen Natur, ist dann ein Produkt der kommerziellen Ent- 
wicklang und des Fortschritts der allgemeinen Bildung. Das Individuum 
ist das Geschöpf der sozialen Tendenzen. 

Im ganzen genommen, Tufts Theorie ist interessant und der Haupt- 
sache nach korrekt. Indessen, seine Behandlung der Zivilisation des acht- 
zehnten Jahrhunderts läfst diese doch etwas einseitiger erscheinen als sie 
tatsäclilich war. Die Ausbreitung des nationalen Einflusses und die Metho- 
distenbewegung beweisen die Existenz politischer und religiöser Tendenzen, 
die nicht vernachlässigt werden dürfen in einem kritischen Studium des 
Verhältnisses des Individuums zur Gesellschaft, wie es sich in der britischen 
Ethik der Periode abspiegelt. Der Artikel ist klar und anregend, scheint 
aber von der gegenwärtig nicht ungewöhnlichen Tendenz beherrscht zu 
sein, die Bedeutung ökonomischer Bedingungen für die Entwicklung anderer 
Elemente der Zivilisation zu überschätzen. Elkin (Columbia, Missouri). 



Jacqüss Stern. Ober die Reae. Archiv für Strafrecht und Strafprozefs 51 (6), 
S. 1—10. 1904. 

Im wesentlichen eine Wiedergabe Wilhelm STEBKScher Gedanken 
(s. Kritische Grundlegung der Ethik als positiver Wissenschaft). Eine 
wenig eingehende Auseinandersetzung mit Liepmanv vermag der Abhandlung 
keinen eigenen wissenschaftlichen Wert zu geben. Gbobthtttsen (Berlin). 

A. Grabowsky. Psychologische TatbesUndsdiagROttik. Beil. z. Allgem. Ztg. 
15. Dezbr. 1905. Nr. 289. 

Verf. referiert zunächst über die Arbeit gleichen Titels von Wbrt- 
HBiMBB und Klein, deren Inhalt den Lesern dieser Zeitschrift durch die Be- 
sprechung in Bd. 39 S. 222 bekannt sein dürfte. Alfbbd Gboss gab dann 
den in dieser Schrift nur angedeuteten Ideen die Ausbildung für die 
juristische Praxis. Gegen die Verwendung im Strafprozefs nun wendet 
wietk Gbabowskt, erstens weil die Methode sich in den Rahmen der be- 



158 Literatwrbericht 

siehenden StPO. nicht einfttgen lasse, zweitens weil „bei intelligenten, 
furchtlosen Personen sehr wohl eine vollkommene Simulation" möglich sei, 
drittens weil zu einer nutzbringenden Verwendung der Methode eine hervor- 
ragende kriminalpsychologische Vorbildung des Experimentierenden er- 
forderlich sei. LiPMANN (Berlin). 



F. GiBABD. 8v raxpreisioA mameriqne de riiMligoiM 4m esptees aiimilei. 

Revue phüos. 00 (9), 290—299. 1905. 
Ein Referat der Theorien von Mamoüvbier, Ch. Richbt, EüoAke Düboib, 
die ein zahlenmäTsig feststellbares Verhältnis von Gehirngewicht und 
Gewicht der organischen Masse eines Individuums, entsprechend der Ent- 
wicklungsstufe der Intelligenz der Basse festzustellen suchen. G. schliefst 
sich der Theorie an, die Dubois im Bulletin de la SocUU Anthrapologique 1897 
entwickelt hat. Gboethutsen (Berlin). 

Jaxes f. Fobteb. A Prelimlnary Study of the Psychology of the Eaglish 
Sparrow. Amer. Joum. of Psychol 15 (3), S. 31»— 346. 
Verf. will einen Beitrag zur Tierpsychologie liefern, indem er den 
englischen Sperling, der in der kurzen Zeit von 40 Jahren in Amerika 
heimisch geworden ist und schon deshalb ein besonders intelligenter Vogel 
zu sein scheint, einer genaueren Beobachtung hinsichtlich seiner psychischen 
Eigentümlichkeiten unterzieht. Er beobachtet Sperlinge in der Freiheit, 
wie sie sich bei einer Futterstelle einfinden und sich ihrem Futter nähern. 
Vor allem aber stellt er auch Versuche mit Sperlingen im Käfig an, Ver- 
suche, deren Anlage im wesentlichen dieselbe ist wie bei den Experimenten, 
die KiNNAHAN in seiner psychologischen Untersuchung von Affen gewählt 
hat. Ihr Futter zu gewinnen durch öffnen eines Behälters oder durch 
Suchen in einem Labyrinth, aus mehreren in einer Reihe aufgestellten 
gleichen oder nach Form und Farbe verschiedenen Behältern denjenigen 
herauszufinden, der das Futter enthält, das sind die Hauptaufgaben, die 
PoBTEBS Sperlinge ebenso wie Kinnamans Affen zu lösen haben. Dabei soll 
hauptsächlich konstatiert werden, ob und wie bald durch Übung eine 
Besserung der Leistungen eintritt, indem etwa die Zeit, die zum öffnen 
des Futterbehälters erforderlich ist, sich verkürzt oder indem die Tiere den 
das Futter enthaltenden Topf aus den übrigen nach einer geringeren Anzahl 
von Fehlversuchen herausfinden. 

Die Ergebnisse seiner Versuche fafst Pobtbb selbst ungefähr in 
folgenden Sätzen zusammen: 

1. Was das öffnen des Futterbehälters und das Futtersuchen im 
Labyrinth betrifft, so zeigen die Sperlinge in der Art und in der (xe- 
schwindigkeit des Lernens grofse Ähnlichkeit mit anderen höher ent* 
wickelten Tieren. Sie lernen sehr schnell durch Erfahrung. 

2. Die Lernmethode der Sperlinge ist die der „mifslingenden Versuche". 
Ein Zeichen des Vorausdenkens und zweckmäfsiger Wahl der Mittel zu 
einem bestimmten Zweck liefs sich nicht beobachten. 

3. Der Umfang ihrer Aufmerksamkeit ist anscheinend eng. Sie pro- 



Liferaturhericht, 159 

fitieren nur von den Erfolgen, die sich eng an eine darauf gerichtete Be- 
mflhang anschliefsen. 

4. Ihre Beharrlichkeit ist überraschend. Unaufhörlich bemühen sie 
sich um das Gelingen des Versuchs, ihr Futter zu gewinnen. 

5. Charakteristisch ist die Vorsicht der Tiere. Jedes neue und seltsame 
Ding wird unter allen möglichen Vorsichtsmafsregeln geprüft. Sinnlose 
Furcht liefs sich nie konstatieren. 

6. Obwohl ihre Handlungen gröfstenteils ideomotorische sind, besitzen 
sie doch die Fähigkeit, ihre Gewohnheiten rasch zu modifizieren. Sie unter- 
scheiden kleine Verschiedenheiten am Apparat und richten ihre Handlungen 
danach ein. 

7. Versuche, die nach einem Intervall von 24 Stunden wiederholt 
worden, lassen erkennen, dafs der Sperling ein verhältnismäfsig gutes 
Gedächtnis hat, besonders wenn man die Resultate den Ergebnissen 
gegenüberstellt, die Kinnaman bei seinen Gedächtnisversuchen mit Affen 
gewonnen bat. 

8. Die Versuche, bei welchen das Futter aus einem von verschiedenen 
gleichen Behältern geholt werden mufste, zeigen, dafs der Sperling, wenn 
er nicht geradezu zählen kann, jedenfalls ein sehr ausgeprägtes Lage- 
bewufstsein hat. Formen konnten in den wenigen Versuchen, die mit 
einem Sperlingsweibchen angestellt wurden, nicht unterschieden werden, 
wohl aber die Farben rot, blau, grün und gelb. 

Da die biologische Bedeutung dieser psychischen Eigentümlichkeiten 
des englischen Sperlings hauptsächlich davon abhängt, ob dieselben nur 
ihm oder auch anderen Vögeln zukommen, so stellt uns Verf. Parallel- 
versuche mit anderen Vögeln und eine vergleichende Psychologie der Vögel 
in Aussicht. Dübr (Würzburg). 

M. A. THAirzits. L'orleitatiOl du pigeOB-foyageir. Bevue sdenüfique s^r. 5, 

Vol. 2. Nr. 14 u. 15. 1904. 
P. BoNKiEB. U qaestlon de l'orieitttlOA lointaine. Ebda. Nr. 27. 1904. 

Der Verf. bespricht verschiedene Theorien über das Orientierungs- 
vermögen der Brieftauben. Der Annahme von db Cyon, dafs sich die Tauben 
durch ihren Geruch leiten lassen, stimmt er nicht zu, da der Geruchssinn 
bei ihnen nur sehr schwach entwickelt ist. Den Einflufs des Windes läfst 
er nur insofern gelten, als er die Schnelligkeit des Fluges begünstigt oder 
vermindert. Auch glaubt er nicht, dafs die Brieftauben den Eisenbahn- 
linien folgen. Denn er konnte beobachten, wie sie Bogen, die die Eisen- 
bahn machte, abschnitten, auch wie sie einen Meerbusen, um den die 
Eisenbahn herumfuhr, überflogen. Wohl aber gibt er de Cton recht, wenn 
er annimmt, dafs bei der Orientierung der Brieftauben Überlegungsvorgänge 
mit wirksam sind. 

Der Verf. wendet sich sodann gegen die Theorie Bonniers, der annimmt, 
dafs die Brieftauben ein gewisses Richtungsgefühl haben, vermöge dessen 
sie sich bei einer Reise stets die verschiedenen Richtungsänderungen 
merken und so die Richtung des Heimatsortes kennen. Er wendet hiergegen 



160 LUeraturberickt 

folgendes ein : Die Heimkehrfähigkeit wird dnrch das Wetter begünstigt oder 
erschwert. Bei ungünstigem Wetter fliegen die Tauben nicht geradewegs 
nach Hause» sondern suchen erst nach dem richtigen Wege. Ungünstiges 
Wetter braucht nicht Sturm usw. zu sein, auch unter Umständen ist das 
Wetter bei hellem schwachbewölktem Himmel, Sonnenschein und Westwind 
ungünstig. Eine leichte Schneedecke macht es den Tauben unmöglich, 
ihren Weg zu finden. Brieftauben, die erst falsch geflogen sind, finden 
sich doch noch zurecht. Die Tauben finden den Bückweg auch nach 
Monaten, unter Umständen nach Jahren. Auch Tauben, die beim Transport 
geschlafen haben, finden sich zurück. In mancher Richtung finden sich 
Tauben leichter zurecht, als in mancher anderen. Tauben finden sich in 
Gegenden, aus denen sie stammen, leichter zurecht als in fremden, selbst 
wenn sie hier lange trainiert sind. All diese Punkte sprechen gegen die 
BoNNiBRSche Auffassung, dafs sich die Tauben durch ein Richtungsgefühl 
leiten lassen. 

Gegen diese Ausführungen Thanzi^' wendet sich nun BoimiBR in der 
oben genannten zweiten Arbeit und verteidigt seine eigene Theorie, indem 
er sie nochmals in kurzen Worten auseinanderlegt: 

Die Fähigkeit, den Rückweg zu finden, ist nicht den Brieftauben allein 
eigen, sondern alle Tiere, der Mensch nicht ausgeschlossen, besitzen sie in 
höherem oder geringerem Grade. Nun hat man immer diejenigen Fälle 
herausgesucht, bei denen die Fähigkeit im hohen Grade entwickelt ist und 
hat bei ihnen etwas ganz Wunderbares gesehen, während man gut daran 
getan hätte, zunächst die Erklärung für die einfachsten Fälle su suchen 
und dann Schritt für Schritt weiter zu gehen. 

Nun wendet er sich im einzelnen gegen die Vorwürfe ThakziIU und 
zeigt, dafs die Fähigkeit der Orientierung dem Menschen zwar im geringeren 
Grade, aber sonst genau in derselben Weise eigen ist, wie den Brieftauben, 
und dafs dieselben Erscheinungen, wie Erinnerung an den Rückweg über 
längere Zeit, geringere Orientierungsfähigkeit bei schlechtem Wetter usw. 
usw., bei beiden Wesen auftreten. C. Zimheb (Breslau). 



\ 



161 



Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung. 

Von 
EbNST V. ASTEE. 

Die folgende Abhandlung ist angeregt worden durch Schij- 
MA2CN8 Untersuchungen der geometrisch-optischen Täuschungen.* 
Sie ist ein Versuch, die Art psychologischer Analyse, die Schümann 
den optischen Täuschungen gegenüber angewandt hatte, auf die 
Frage der Tiefenwahmehmung durch den Gesichtssinn zu über- 
tragen. Auch im einzelnen der Arbeit habe ich dabei mannig- 
fache Anregungen und Hinweise durch Herrn Professor Schumann 
erfahren, für die ich nicht versäumen möchte, ihm an dieser 
Stelle meinen herzlichen Dank zu sagen. 

1. Der Gegensatz des Nativismus und Empirismus 

und das Problem der Tiefenwahrnehmung durch 

den Gesichtssinn. 

Für die Psychologie der Raumwahrnehmung durch den 
Gesichtssinn — die entsprechende Frage bezüglich des Tast- 
raumes soll im folgenden aufser acht bleiben — steht noch 
immer im Vordergrund des Interesses die Frage, ob die Raum- 
wahrnehmung angeboren oder durch Erfahrung allmählich ent- 
standen ist, eine Frage, die bekanntlich durch die widerstreitenden 
Theorien des Nativismus und Empirismus im entgegengesetzten 
Sinn beantwortet wird. Im Gegensatz zu dieser genetisc]hen 
Fragestellung beabsichtige ich im folgenden das Hauptgewicht 
nicht auf eine Erklärung, sondern auf die reine Beschreibung 
des tatsächlich Vorgefundenen oder Erlebten zu legen. Genauer 
handelt es sich natürlich um eine mögUchst scharfe Charak- 



' vgl. Zeit9chr. f. Psychologie 23, S. 1-32, 24, S. 1-33, 30, S. 241—291, 
321-339, 3«, S. 161-185. 

ZeitTOhrift für Psycholojcie 43. 11 



162 Ernst V, Aster. 

teristik und Bezeichnung derjenigen Wahmehmungsinhalte oder 
Erlebnisse, die uns unmittelbar gegeben sind, wenn wir „den 
Raum" oder räumliche Qualitäten wahrnehmen oder wahr- 
zunehmen glauben. 

Trotz dieser Verschiedenheit der mafsgebenden Fragestellung 
knüpfe ich zunächst an den Gegensatz der nativistischen und 
empiristißchen Raumtheorie in bestimmter Hinsicht an. Jede 
genetische Theorie nämlich mufs schliefsHch doch von einer 
Beschreibung des unmittelbar Gegebenen ausgehen, für das eine 
genetische Erklärung gefanden werden soll, in diesem Fall also 
von einer Charakteristik unserer Wahrnehmungseriebnisse, soweit 
sie auf den Raum Bezug haben, sei es nun, dafs sie das Vor- 
handensein oder Nichtvorhandensein solcher bestimmt charak- 
terisierten Inhalte stillschweigend voraussetzt oder ausdrücklich 
behauptet. 

Betrachten wir nun die erwähnten gegensätzlichen Theorien 
unter diesem Gesichtspunkt, so können wir, denke ich, zunächst 
eine ziemhch weitgehende Übereinstimmung konstatieren. Erstens 
dürfte gegenwärtig als ziemhch allgemein anerkannt gelten 
können, dafs die zweidimensionale Ausdehnung unseres Gesichts- 
feldes oder seiner Teile, wie es uns bei ruhendem Äuge gegeben 
ist, die Ausdehnung nach Breite und Höhe eine letzte, nicht 
weiter zurückführbare und unmittelbar gegebene Eigenschaft 
dieses unseres Gesichtsfeldes ist, wie etwa die Farbe desselben 
oder wie die Höhe und Stärke eines Tones. — Sind mit dieser 
ersten einleuchtenden Tatsache der genetischen Erklärung ge- 
wisse Schranken gesetzt^, ein Nativismus innerhalb dieser 
Grenzen also keine Theorie mehr, sondern eine einfache Tat- 
sache, so stehen wir dagegen sofort auf anderem Boden, wenn 
wir zur dritten Dimension, zur Tiefe übergehen. Hier mufs dem 
ersten Satz als ebenso sicher der zweite an die Seite gestellt 
werden, dafs die Ausdehnung nach der Tiefe zu uns nicht in 
gleicher Weise oder in gleichem Sinn als unmittelbare Eigen- 



^ Die einzige Frage, die hier noch gestellt werden kann, ist die, ob 
die gegenwärtige Anordnung im Nebeneinander der Teile unseres Ge- 
sichtsfeldes — diejenige Anordnung, die dem Nebeneinander der gereizten 
Netzhautstellen entspricht — als ursprünglich anzusehen oder ob sie sich 
ipnto- oder phylogenetisch) aus einer anders gearteten entwickelt haL In 
bezug auf diese Frage vertritt Lipps L, Psychologische StuUefi") auch hier 
einen empiristischen Standpunkt. 



Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung. 163 

Schaft des Gesichtsbildes bei ruhendem Auge gegeben ist, wie 
Höhe und Breite. Anders gesagt: wir betrachten Höhe, Breite 
und Tiefe als gleichartige oder gleichwertige Richtungen, wie es 
für uns im Begriff der „Dimension" bereits eingeschlossen liegt. 
Die Gleichartigkeit von Höhe und Breite läfst sich nun un* 
mittelbar an dem dem ruhenden Auge dargebotenen unbewegten 
Gesichtsbild konstatieren, sie sind uns als gleichartige Richtungen 
gegeben. DaTs dagegen die Tiefe als Dimension der Höhe und 
Breite gleichartig ist, können wir nur dadurch konstatieren, dafs 
wir die sich darbietenden Gegenstände nicht nur von einem, 
sondern von mehreren Standpunkten aus betrachten, sei es in- 
dem wir selbst oder indem die Gegenstände vor uns Bewegungen 
ausführen ; nämlich solche Bewegungen, infolge deren die bisher 
„perspektivisch verkürzt" oder „verschoben" gesehene Linie sich 
in ihrer „wahren" Lage und Ausdehnung zeigt — d. h. in einer 
Ebene vor dem Beschauer ausgebreitet erscheint. Nicht aus 
einem gegebenen Gesichtsbild allein, sondern nur durch die 
Kombination verschiedener Gesichtsbilder, die auf dieselben ob- 
jektiven Dinge bezogen werden, insofern alßo durch „Erfahrung", 
können wir das volle Bewufstsein der Tiefe gewinnen, der Tiefe 
als einer Breite und Höbe gleichgeordneten Dimension. — Auf 
der anderen Seite dagegen ist es wiederum eine unleugbare und 
allgemein bekannte Tatsache, dafs in dem jeweils gegebenen 
Gesichtsbild gewisse Momente enthalten sind, auf Grund deren 
wir von einer Wahrnehmung der Tiefe sprechen, und die uns 
zu mehr oder minder sicheren Urteilen über die Entfernung der 
Gegenstände in der Richtung der dritten Dimension Anlafs 
geben. In der näheren Char^teristik dieser Momente nun liegt 
der eigentliche Gegensatz der nativistischen und empiristischen 
Theorie, soweit er sich in der reinen Beschreibung äufsert. 

Nach der Anschauungsweise des Nativismus haftet dem 
jeweils Gesehenen von Haus aus ein bestimmtes Empfindungs- 
moment an, das durch die direkte Entfernung des Gesehenen 
vom Beschauer bedingt ist und uns infolgedessen ein unmittel- 
bares Urteil über diese Entfernung ermöglicht. Wie es schon 
im Begriff einer solchen Tiefenempfindung liegt, haben 
wir in ihr eine letzte, nicht weiter zurückführbare und analysier- 
bare Tatsache des psychischen Lebens zu erblicken. — Dagegen 
wird das Vorhandensein einer solchen Tiefenempfindung vom 
Empirismus geleugnet. Soweit der Empirist seine Analyse 

11* 



164 Em8t V. Aster, 

des Gegebenen positiv durchführt, macht er dann im Gegensatz 
zu jener angeblichen Tiefenempfindung innerhalb des Gesichts- 
feldes aufmerksam auf Dinge, wie Überschneidung, Luft- 
perspektive, Schattengebung usw., Tatsachen, die ich im folgen- 
den als „indirekte Raumkriterien '^ zusammenfassen will; wozu 
noch Momente aus anderen Empfindungsgebieten, Konvergenz- 
und Akkommodationsempfindungen, gestellt werden. 

Nativismus und Empirismus kommen sich schliefslich in 
ihrer Auffassung des Gegebenen noch näher, wenn, wie es wohl 
meist geschieht, die Tiefenempfindung als psychisches Korrelat 
für die physiologische Verschmelzung der beim Sehen in beiden 
Augen stattfindenden Reize betrachtet wird. Nach dieser Auf- 
fassung ergibt sich unmittelbar, dafs die Tiefenempfindung nur 
beim Sehen mit zwei Augen vorhanden sein kann ; in bezug auf 
den räumlichen Eindruck beim monokularen Sehen, soweit er 
eben für das Gesichtsbild besteht, wäre danach zwischen Nativis- 
mus und Empirismus überhaupt kein Gegensatz mehr. 

Es liegt mir daran, den Ausgangspimkt der folgenden, zu- 
nächst rein beschreibenden Untersuchung so allgemein zu halten, 
dafs er noch keine Stellungnahme in dem so bezeichneten 
Gegensatz des Nativismus und Empirismus involviert. Ich 
schränke deshalb einmal meine Fragestellung ein auf das Ge- 
sichtsbild beim monokularen Sehen und füge im nächsten Para- 
graphen noch eine weitere Einschränkung hinzu. Aulßerdem 
aber möchte ich noch ausdrücklich betonen, dafs, wenn ich im 
folgenden auf einige Erlebnisse hinzuweisen suche, die mir für 
die Tiefenwahmehmung charakteristisch erscheinen, mit der An- 
erkennung und Festlegung dieser Erlebnisse noch keineswegs 
die „Tiefenempfindung" des Nativismus etwa abgelehnt ist. Es 
könnte sein, dafs die Tiefenempfindung beim Sehen, das auf 
einen Ausschnitt der Wirklichkeit gerichtet ist, sich mit 
den von mir näher zu bezeichnenden Erlebnissen verbindet. 
Nur dann wäre gegen den Nativismus Stellung genommen, wenn 
man die beschriebenen Erlebnisse als allein mafsgebenden 
Faktor der Raumwahrnehmung, insbesondere auch beim bin- 
okularen Sehen, betrachtet. Ich halte nun eine solche Annahme 
in der Tat für mögUch, komme jedoch auf sie und die ihr ent- 
gegenstehenden Schwierigkeiten erst am Schlufs dieser Arbeit 
kurz zu sprechen. 



Beiträge zur Psychologie der Raumwahimehmung. 165 

2. Der unmittelbare Tiefeneindruck. 

Das uns jeweils gegebene Gesichtsbild wirklicher Gegen- 
stände, das Bild z. B., das ich bei einem Blick aus meinem 
Fenster erhalte, erscheint uns als nach der Tiefe zu ausgedehnt, 
es macht uns einen räumlichen Eindruck. Die Frage, die ich, 
wie am Anfang angedeutet, dieser Tatsache gegenüber stelle, ist 
die nach der Charakteristik, nach der Beschreibung dieses am 
Gesichtsbild haftenden unmittelbar erlebten räumlichen Eindrucks. 
Wie schon gesagt, soll die Frage beschränkt sein auf den mon- 
okularen Eindruck. 

Der unmittelbare Tiefeneindruck, um dessen Be- 
schreibung es sich hier handeln soll, ist zu unterscheiden einmal 
von meinem Wissen, dieser von mir wahrgenommene Gegen- 
stand sei ein dreidimensionales Gebilde, und zweitens von dem, 
was ich weiter oben die indirekten Raumkriterien nannte. Was 
den ersten Punkt anlangt, so genügt es darauf hinzuweisen, dafs 
ich einen Tiefeneindruck gewinnen, dafs ich „Tiefe sehen" und 
dabei genau wissen kann, dies von mir räumlich gesehene Gebilde 
sei in Wahrheit nicht plastisch, sondern eben. Das ist der Fall 
bei jeder perspektivischen Zeichnung. 

Unter indirekten Raumkriterien verstehe ich solche 
Momente, solche Färb- oder Formeigentümlichkeiten des uns ge- 
gebenen Gesichtsbildes, durch das dieses Bild eine Änlichkeit mit 
anderen früher gesehenen besitzt, die wir durch entsprechende 
Erfahrungen als Erscheinungen dreidimensionaler Gegenstände 
kennen gelernt haben (wobei ich natürlich nicht behaupte, dafs 
die bezeichnete Ähnlichkeit mit früher Gesehenem uns als solche 
irgendwie zum Bewufstsein komme). Dafs jedes räumlich auf- 
gefafste Gesichtsbild solche Merkmale, von denen ich Über- 
schneidung und Schattengebuug nur als besonders typisch nam- 
haft machte, an sich trägt und an sich tragen mufs, wenn es 
zum mindesten dem monokularen Sehen einen Tiefeneindruck 
geben soll, bezweifle ich keinen Augenblick, aber das blofse Vor- 
handensein dieser Raumkriterien ist nicht identisch mit dem 
Tiefeneindruck des Gesehenen selbst, sondern nur eine Bedingung 
für das Auftreten desselben. 

Alles das ergibt sich ohne weitere Auseinandersetzungen, 
wenn wir das Problem an einem speziellen Beispiel näher ent- 
wickeln. In Figur 1 ist ein Rhombus gezeichnet. Wir können 



166 



Ernst V. Aftter. 




Fig. 1. 



diesen Rhombus einmal als Rhombus, 
d. h. als planimetrisch-ebene Figur be- 
trachten. Und wir können ihn ein anderes 
Mal — ganz nach Willkür — räumlich auf- 
fassen als perspektivisch gesehene stehende 
oder liegende Platte, etwa die Seite ab 
dem Beschauer am nächsten, ac sich von 
ihm fort direkt in die Tiefe erstreckend. 
Wem es gelungen ist, diese beiden Auf- 
fassungen nacheinander zu vollziehen, in 
dem Rhombus einmal die planimetrische 
Figur und gleich darauf die perspektivische 
Zeichnung zu sehen, der bemerkt ohne 
weiteres, dafs das Bild, das er hier vor 
sich hat, im einen und im anderen Fall ein durchaus anderes 
Aussehen hat. Es sind dieselben vier Striche und dieselbe ein- 
geschlossene Fläche, aber als Ganzes trägt die Zeichnung einen 
anderen, ja einen grundverschiedenen Charakter. Die Frage, die 
ich stelle, ist nun diese: worin besteht dies unmittelbar vor- 
gefundene oder erlebte Moment, das die Zeichnung im einen und 
anderen Fall zu einem verschiedenen Bilde macht? Bzw.: worin 
besteht der eigentümliche Charakter, der dem Bild eignet, wenn 
wir es als plastisches Gebilde auffassen? 

Auch hier wird die plastisch-räumliche Auffassung ermöglicht 
durch das Vorhandensein indirekter Raumkriterien: ich würde 
die räumliche Auffassung nicht vollziehen, wenn ich nicht wüfste, 
dafs aufrechte oder liegende Platten perspektivisch so auszusehen 
pflegen, aber das blofse Bestehen dieser ÄhnUchkeit macht nicht 
den räumlichen Eindruck aus, auf den ich oben hinzuweisen ver- 
suchte, sie ist nur eine Bedingung dafür, dafs ich überhaupt auf 
den Gedanken kommen kann, in dem Bild ein Räumliches zu 
sehen und so jenen Eindruck in diesem Fall willkürlich zu er- 
zeugen. 

Ein Bewufstseinserlebnis beschreiben heifst zunächst, es mit 
anderen verwandten Erlebnissen zusammen ordnen oder diejenige 
Klasse von Erlebnissen bezeichnen, in die es gehört. Dem- 
entsprechend verlasse ich im folgenden Paragraphen das vor- 
liegende Problem, um ganz allgemein die Erlebnisklasse kurz zu 
charakterisieren, die m. M. n. herangezogen werden mufs, um 



Beiträge zur Psychologie dtt' Bautmvah-nelitmmg. \Q^ 

den spezifisch räumlichen Eindruck eines Gesichtsbilde% wissen- 
schaftlich zu beschreiben. 

3. Zur Psychologie der „Auf fassungsf ormen".^ 

Man zeichne sich eine Anzahl von Punkten auf gleich- 
förmigen Hintergrund; beispielsweise in der Form einer Würfel- 
sechs. Dann kann ich, wie jedermann weifs, mich diesen 
6 Punkten gegenüber in verschiedener Weise verhalten. Ich 
kann sie so auffassen, daä sie 3 übereinanderstehende Reihen 
van je 2 oder dafs sie 2 nebeneinanderstehende Reihen von je 
3 Punkten bilden. Je nachdem ich in der einen oder anderen 
Weise die 6 Punkte zusammen ordne, sie „zur Einheit zu- 
sammenfasse^, erhalte ich das eine oder andere Resultat. 
Und je nachdem die eine oder andere Vereinheitlichung geschieht, 
gewinnt das Bild der 6 Punkte für mich ein anderes Aussehen, 
einen anderen Charakter, eine andere „Gestalt-" oder „Gesamt- 
qualität". Wenn wir also davon sprechen, dals wir in dem ge- 
gebenen Gesichtsbild diese oder jene Teile zur Einheit zusammen- 
gfifafst haben, so deuten wir an, dafs das Bild für uns jetzt 
diesen oder jenen eigentümlichen Charakter angenommen habe, 
den jedermann unmittelbar erleben kann, und der einem anderen 
Erlebnis Platz macht, wenn wir eine andere „Vereinheitlichung" 
vollziehen. 

Wir wollen für das Erlebnis, von dem hier die Rede war, 
den Namen der Auff assungsforra gebrauchen. Wenn wir 
von den verschiedenartigen Vereinheitlichungen der Teile eines 
Gesichtsbildes reden, deuten wir hin auf wechselnde bestimmt 
erkennbare Auffassungsformen des Gegebenen. 

Neben diese erste Gruppe von Auffassungsformen treten 
andere. Betrachten wir der Einfachheit halber eine der beiden 
vertikalen Reihen von je 3 Punkten für sich, so können wir 
beliebig den vorderen, mittleren oder letzten Punkt spezifisch 
„beachten", durch die Aufmerksamkeit herausheben, innerlich 
betonen oder zum Schwerpunkt der Figur machen. Wir können 
ihn den beiden anderen Punkten über-, sie ihm unterordnen. 



^ Man vergleiche zu diesem Paragraphen die angezogenen Abhand- 
lungen von ScHUMAifN. Mit Nachdruck macht Lipfs in seinen psychologischen 
Untersuchungen seit längerer Zeit auf die hier zu besprechenden Erlebnisse 
aufmerksam, sonst haben sie m. M. n. in der Psychologie der Gegenwart 
noch nicht diejenige Beachtung gefunden, die ihnen zukommt. 



168 Ernst V. Äster. 

Auch <j^ch diese wechselnde Über- und Unterordnung, durch 
die verschiedenartige Bevorzugung der einzelnen Teile des Ge- 
samtinhalts erhält der letztere einen eigentümlichen unmittelbar 
erlebbaren Charakter, für den man treffend den Ausdruck Apper- 
zeptions- oder Beachtungsrelief gebraucht hat. Auch das 
jeweilige BeachtungsreUef stellt eine bestimmte Auffassungsform 
im gegebenen Gesamterlebnis dar.^ 

Weiter: habe ich vor mir ein Ganzes, das sich aus einer 
gröfseren Anzahl von Teilen zusammensetzt — eine Reihe von 
5—10 Punkten etwa — so ist das Gebilde für mein Erleben ein 
anderes, wenn ich es simultan erfasse und wenn ich es sukzessiv 
durchlaufe. Auch dieser Gegensatz mufs als ein Gegensatz der 
Auffassungsform gef afst und den vorher besprochenen Erlebnissen 
angereiht werden. 

Die angezogenen Tatbestände sollen natürlich nur Beispiele 
aus dieser Klasse von Erlebnissen, die ich als Auffassungsformen 
bezeichne, darstellen; ich beabsichtige nur einen Hinweis, keine 
systematisch vollständige Aufzählung. Für den vorhegenden 
Zweck, den Begriff der Auffassungsform zu illustrieren, werden 
die erwähnten Beispiele genügen. Natürhch läfst sich, was hier 
im Anschlufs an das Beispiel der 6 Punkte durchgeführt wurde, 
mit Leichtigkeit auf jede andere aus Teilen bestehende Figur 
übertragen. 

EUnzuzufügen ist, dafs die verschiedenen Arten von Auf- 



' ScHuxANN gebraucht in seiner Theorie der optischen Täuschungen 
den Begriff der „Zuordnung''. Als einander zugeordnet wird man, meine 
ich — auch mit Rücksicht auf die von Sch. betrachteten Fälle — , allgemein 
die im Gesamtinhalt zur Einheit verbundenen Punkte, im Gregensatz za 
den isolierten Teilen, bezeichnen können. — Man mulis sich hüten, etwa 
die zur Einheit verbundenen einfach mit den beachteten und die isolierten 
mit den unbeachteten Teilen eines Gesamtinhalts zu identificieren. Schon 
das Beispiel der Würfelsechs verbietet dies, in bezug auf die es ohne 
Schwierigkeit gelingt, mehrere gleichmälsig beachtete Einheiten gegen- 
einander zu isolieren. Ebenso kann, wenn wir von gegebenen 3 Punkten 
zwei gegen einen isolieren, der eine im Beachtungsrelief noch dieselbe RoUe 
spielen wie die verbundenen zwei. Dagegen ist zum Begriff der Zuordnung 
zu bemerken, dafs zum mindesten in den hier angeführten Beispielen, wenn 
2 Punkte einander zugeordnet werden, auch die sie verbindende Strecke, 
dieser Teil des weifsen Grundes also, eine nicht unbedeutende Rolle für 
unser Bewufstsein spielt. Umgekehrt läfst sich leicht beobachten, daJjs die 
Strecke zwischen den zwei zusammen gef afsten und dem dritten isolierten 
Punkt für die Beachtung völlig zurücktritt. 



Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung. 169 

fassungsformen Kombinationen miteinander eingehen können bzw. 
in dieser oder jener Weise stets kombiniert zu sein pflegen, sowie 
dafs in diesen Kombinationen die gröfste Freiheit herrscht. Es 
gibt sukzessive und simultane Einheiten, ich kann in einer 
simultan oder sukzessiv erfafsten Reihe beliebige Elemente be- 
tonen, andere unterordnen, andere ganz unbeachtet lassen, ich 
kann innerhalb des Beachtungsreliefs sondern und vereinheit- 
lichen usf. 

Endlich noch eins. Es sei von 3 gleich weit entfernten 
Punkten der mittelste durch Gröfse oder intensive Farbe besonders 
eindrucksvoll gemacht. Dann werde ich ihn unwillkürlich den 
beiden anderen überordnen und auch davon habe ich ein Be- 
wufstsein, ich habe das Bewufstsein, dafs dies Beachtungsrelief 
im Gegenstand, in den Punkten selbst begründet ist, dafs es 
nicht rein „meiner Willkür" entspringt. Im Gegensatz dazu habe 
ich das deutliche Bewufstsein, dasselbe Beachtungsrehef will- 
kürlich hervorgerufen zu haben, wenn die 3 Punkte genau gleich 
stark nnd gleich gefärbt sind. Ebenso gibt es natürliche und 
willkürliche Einheiten — das nah aneinander Gelegene z. B. 
fordert in höherem Grade zur Vereinheitlichung auf, als das weit 
auseinander Liegende. Natürlich ist der Gegensatz, um den es 
sich hier handelt, ein relativer, eine Auffassungsfonn ist mehr 
oder minder gegenständlich bzw. willkürlich und kann für mein 
Bewurstsein als solche gekennzeichnet sein. 

Ich sagte am Schlufs des vorigen Paragraphen, die Aufgabe 
der Beschreibung eines Erlebnisses laufe hinaus auf die Klassi- 
fikation desselben. Abgesehen von dieser Klassifikation kann 
eine „Beschreibung" von Erlebnissen natürlich nur noch in 
einem hinweisenden Aufzeigen bestehen. D. h. ich versuche, 
durch meine Worte den Hörer oder Leser in diejenige Lage zu 
bringen, in der er den betreffenden Tatbestand selbst erleben 
kann. In diesem Sinn bitte ich auch die obige „Beschreibung" 
der Erlebnisse des Beachtungsreliefs, der Vereinheitlichung usw.- 
aufzufassen. 

4. Die spezifische Auffassungsform des Gesichts- 
bildes beim Tiefeneindruck. 
Wie aus dem bisher Gesagten schon hervorgegangen sein 
wird, beabsichtige ich den unmittelbar erlebten Tiefeneindruck, 
den wir einem Gesichtsbilde gegenüber gewinnen, mit einer be- 



170 



Ernst V. Aster. 



stimmten Auffassmigsform dieses Bildes zu identifizieren. Je 
nachdem diese Auffassungsform mehr willkürlich oder mehr im 
Bilde angelegt erscheint, sprechen wir davon, dafs das Bild uns 
einen dreidimensionalen Eindruck mache oder — wie im Fall 
des Rhombus — davon, dafs wir es räumUch auffassen. Diese 
spezifisch räumliche Auffassungsform nun genauer zu bestimmen 
soll die Aufgabe dieses Paragraphen sein. Dabei mufs ich es 
natürlich auch hier dem Leser überlassen, meine Beobachtungen 
nachzuprüfen, ich bemerke nur noch, dafs sie durch entsprechend 
angestellte Versuche an einer gröfseren Anzahl von Versuchs- 
personen bestätigt wurden. 

Ich gehe wiederum aus von dem gezeichneten Rhombus. 
Man fasse die Figur einmal als ebenes Parallelogramm und dann 
zum anderen Mal perspektivisch auf. Dann ergibt sich als erste 
Beobachtung, dafs die ganze Fläche im ersten Fall im wesent- 
lichen simultan, im Fall der räumlichen Auffassung 
aber niemals simultan erfafst, sondern stets suk- 
zessiv durchlaufen wird. Natürlich setzt dieses sukzessive 
Durchlaufen nicht notwendig Augenbewegungen voraus, auch 
bei starrer Fixation kann eine kurze Strecke jederzeit doch mit 
der Aufmerksamkeit durchlaufen, die einzelnen Teile der Strecke 
können nacheinander beachtet werden. Die gleichzeitige Auf- 
fassung der Figur in allen ihren Teilen ist ein sicheres Mittel, 
den räumlichen Eindruck zu zerstören und das Ganze wieder in 
eine Ebene zu verlegen. 

Dieses sukzessive Durchlaufen der Rhombenfläche findet 
nun in bestimmten Linien statt. 

In Figur 2 habe ich denselben Rhombus 
dadurch verändert, dafs ich seine Fläche 
mit Parallelen zur Seite ac durchzogen 
habe. Bei einem Vergleich mit dieser 
Figur mit der ersten wird man erkennen, 
dafs sich hier die räumUche Auffassung 
— ich meine diejenige räumHche Auf- 
iassung, bei der die Seite ac sich vom 
Beschauer aus direkt in die Tiefe erstreckt, 
Seite ab also etwa vom gesehen wird — 
leichter und unmittelbarer einstellt, dafs 
sie für das Bild natürlicher erscheint, als 
bei der leeren Rhombenfläche. (Eine 




Beiträge zur Psychologie der Raumxcah-nthmxmg. 171 

Beobachtung, die sich bei den oben genannten Versuchen 
allgemein bestätigte.) Der Grund für die Tatsache nun ist 
leicht zu bemerken: er liegt darin, dafs das vorher fest- 
gestellte sukzessive Durchlaufen der Rhombenfläche bei der 
räumlichen Auffassung in der Richtung dieser Linien erfolgt. 
Die Linien sind also apperzeptive Hilfslinien, sie unterstützen 
die räumliche Auffassung und lassen sie deshalb natürlicher, 
dem Bilde angemessener erscheinen. — Man könnte hier 
auf den Gedanken kommen, die in Frage stehenden Linien 
wirkten als Schattengebung und legten aus diesem Grunde den 
räumhchen Eindruck nahe. Um diesem Einwand gleich hier zu 
begegnen, mache ich auf Figur 6 aufmerksam. Die stärker aus- 
gezogenen Linien erscheinen der räumlichen Auffassung als 
stehendes Kreuz. Auch hier wird der räumliche Eindruck durch 
die parallele Strichelung verstärkt, es hätte aber keinen Sinn, 
hier von Schatten zu reden, da kein schattenwerfender Gegen- 
stand da ist. Im übrigen komme ich auf die Frage der Schatten- 
gebung noch einmal zurück. 

Wir können das bisher gewonnene Resultat noch allgemeiner 
formulieren. Man sieht nämUch leicht, dafs, wenn mir der 
Rhombus die perspektivische Ansicht eines wirklichen drei- 
dimensionalen Gebildes, einer stehenden Platte etwa darstellt, 
die gezogenen apperzeptiven Hilfslinien diesen Gegenstand als 
Horizontale durchschneiden. So erhalten wir den Satz: Bei 
der räumlichenAuffassung eines Bildes durchlaufen 
wir die gegebene Erscheinung sukzessiv und zwar 
folgen wir dabei denjenigen Geraden, die im wirk- 
lichen dreidimensionalen Raum horizontal in die 
Tiefegerichtetwären. Um Mifsverständnissen vorzubeugen, 
bemerke ich ausdrücklich : wir brauchen uns bei der räumlichen 
Auffassung keineswegs dessen bewufst zu sein, dafs diese Linien, 
denen wir mit der Aufmerksamkeit folgen, solche Horizontale 
sind oder darstellen, davon ist nicht die Rede, sondern nur von 
der tatsächlichen Beschaffenheit der Linien in dieser Hinsicht. 

Für den ausgesprochenen Satz läfst sich eine indirekte Be- 
stätigung in der Tatsache gewinnen, dafs überall da, wo die 
Erfassung der betreffenden Horizontalen erschwert, gestört oder 
gehindert wird, auch für die räumüche Auffassung der be- 
treffenden Figur sich Schwierigkeiten ergeben oder dieselbe ganz 
unmöglich gemacht wird. Ich verweise zunächst auf Figur 3, 



172 



Ernst V. Aster. 



die eine der vorigen entgegengesetzte Schraffierung des Rhombus 
zeigt, sodann auf die zwei Kreisbögen in Figur 4. Die untere 





FiR. 3. 




Fig. 4. 



Figur läfst sich leicht räumUch sehen als Tunnel oder Sattel 
etwa so, dafs der Bogen ab vorn, de hinten ist, wobei die kurzen 
Vertikalen die Rolle der Horizontalen spielen. Die beiden Bögen 
der oberen Figur dagegen, in der die ausgezogenen Teile der 
Radien die Auffassung der Horizontalen verhindern, werden 
unter allen Umständen in einer Ebene gesehen. Andere hierher 
passende Zeichnungen lassen sich leicht dadurch finden, dafs 
man in perspektivischen Bildern einfacher körperlicher Gegen- 
stände — eines Würfels oder Quaders etwa — störende Linien 
oder Schraffierungen anbringt. Man wird dann bald bemerken, 
dafs, solange die räumliche Auffassung andauert, die störenden 
Verbindungen entweder ganz unbeachtet bleiben oder wenigstens 
für das Bewufstsein stark zurücktreten. Bei einfacheren Figuren 
kann ein unangenehmes Schwanken zwischen räumlicher und 
ebener Auffassung die Folge sein, das der Figur selbst eine 
gewisse Unsicherheit gibt. 

Als eine wichtige Folgerung ergibt sich femer aus dem 
Gesagten, dafs die Punkte einer perspektivisch verschobenen 
Horizontalen für den Beschauer, solange er die räumliche Auf- 
fassung vollzieht, eine Einheit — genauer einer sukzessive 
Einheit — bilden, sie sind einander zugeordnet, sie hängen für 
sein Bewurstsein untereinander enger zusammen, als mit den 



Beiträge zur Psychologie der Baumwahrnehmung. 



173 



anderen Punkten der Fläche. Gleichzeitig aber bilden eine, wenn 
auch wohl weniger innige Einheit für sich diejenigen Punkte, 
die vom Betrachter gleichzeitig aufgefafst werden, also die 
Punkte, die auf verschiedenen der gezeichneten Parallelen ge- 
legen gleich weit vom Ausgangspunkt dieser einzelnen Parallelen, 
also von den Grenzlinien ah und de entfernt sind. Dadurch 
wird es verständlich, dafs wir gleichfalls eine Erleichterung der 
räumlichen Auffassung gewinnen, wenn wir diese Punkte durch 
gerade Linien verbinden, also statt der Horizontalen solche 
Linien durch das Bild ziehen, die im Raum (sei es als Vertikale 
oder ebenfalls in horizontaler Lage) auf den betreffenden Hori- 
zontalen senkrecht stehen. 

So entstand Fig. 5. Natürlich folgt die 
Aufmerksamkeit hier nicht den gezeichneten 
Linien selbst, sondern eben denselben Hori- 
zontalen wie vorher. — Bedingt ist diese 
zweite Zusammenordnung einmal dadurch, 
dafs die Punkte, um die es sich handelt, wie 
schon erwähnt beim Durchlaufen der Figur 
gleichzeitig getroffen werden und zweitens 
durch ein ihnen gemeinsames Moment, das 
sich von selbst ergeben wird, wenn wir die 
räumliche Auffassung vollständig charakteri- 
siert haben. ^ 

Zunächst sei im Anschlufs an die bisherigen positiven Be- 
stimmimgen noch ein negatives Moment ausdrücklich hervor- 
gehoben. Wenn ich den Rhombus als diese planimetrisch-ebene 
Figur betrachte, so spielen nicht nur die Seiten, sondern auch 
die Fläche des Parallelogramms und im besonderen die einge- 
schlossenen Winkel eine wesentliche Rolle. Man kann direkt 
sagen: je zwei aneinanderstofsende Linien erscheinen wesentlich 
als Grenzlinien des zwischen ihnen liegenden Winkels. Bei der 
räumlichen Auffassung dagegen bleiben namentlich die Winkel 




Fig. 5. 



* Noch einen besonderen Vorteil bietet Fig. 5 der räumlichen Auf- 
fassung insofern dar, als die in die Tiefe sich erstreckenden Linien, wie 
a c, die wir sukzessiv durchlaufen müssen, um den räumlichen Eindruck zu 
erzielen, hier als eingeteilte Linien erscheinen. Eingeteilten Linien 
gegenüber aber besteht schon an sich, wie Schümann gezeigt hat, die Nei- 
gung snkzessiv zu durchlaufen, womit jedenfalls auch die Überschätzung 
derartiger Linien gegenüber uneingeteilten zusammenhängt. 



174 



Ertisi V. Aster. 



SO gut wie gänzlich unbeachtet, die anstofsenden Linien erscheinen 
wesentlich als Grenzlinien des zwischen ihnen liegenden Winkels. 
Bei der räumlichen Auffassung dagegen bleiben namentlich die 
Winkel so gut wie gänzlich unbeachtet, die anstofsenden Linien 
erscheinen nicht an den Winkel und durch den Winkel anein- 
ander gebunden. Es ist unmöghch, sich während der räumUchen 
Auffassung von der Gröfse des gesehenen Winkels Rechenschaft 
abzulegen. Auch hier kann man zeigen, dafs durch Betonung 
der Winkelflächen die räumlich-perspektivische Auffassung einer 
Figur gestört wird: man vergleiche mit dem stehenden Kreuz 
in Fig. 6, von dem schon die Rede war, dieselben sich schnei- 
denden Linien in Fig. 7. Wollen wir die letztere Figur über- 
haupt räumlich sehen, so kann dies nur so geschehen, dafs wir 
die Kreisbögen, die zur Auffassung der Winkel auffordern, ganz 
unbeachtet lassen. 

Noch ein Umstand fehlt, um die räumliche Auffassung voll- 
ständig zu charakterisieren. Betrachten wir noch einmal den 
Rhombus. Er werde räumlich aufgefafst, so dafs Seite ac vom 
Beschauer fort sich als Horizontale in die Tiefe erstreckt. Dann 




Fig. 6. 



ist immer noch ein doppeltes möglich: es kann Seite ah oder 
Seite rfc als dem Betrachter zugekehrt, als vordere Kante ge- 
nommen werden, die Seite ac kann sich von a nach c oder von 
c nach a in die Tiefe erstrecken. Je nachdem ich in dem Rhom- 
bus die eine oder die andere Ansicht sehe, hat das Bild für mich 



Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnchmung. 



175 



wiederum einen anderen Charakter, eine andere Gestaltqualität, 
oder wie ich dafür jetzt wohl gleich sagen kann, eine andere 
Auffassungsform. Besonders charakteristisch tritt dieser Unter- 
schied hervor bei der bekannten ScHBÖDERschen . Treppenfigur 
(Fig. 8) : ich glaube ein ganz anderes Bild zu sehen, ob die Figur 



P' 

z 



^^ 



e^ 




Fig. 8. 

sich mir als Treppe oder als überhängendes Mauerstück darstellt, 
d. h. ob die eine oder die andere gebrochene Linie {ab oder cd) 
sich als Vorderansicht darstellt. Mit einiger Übung kann man 
es leicht dahin bringen, dafs die eine Ansicht nach Belieben fast 
momentan in die andere umschlägt. — Wundt {Phys. Psydi. 2, 
5. Aufl., S. 647) führt den Gegensatz auf einen Unterschied der 
Augenbewegung zurück. Wir durchlaufen, meint er, die direkt 
in die Tiefe sich erstreckenden Linien stets von vom nach hinten ; 
auf unsere Rhombenfigur angewandt : gehen wir in unserer Auf- 
fassung von a nach c über, so erscheint a, gehen wir umgekehrt 
von c nach a, so erscheint c als der vordere Punkt. Diese Be- 
hauptung wird meiner Meinung nach durch die Beobachtung 
widerlegt: mir wenigstens ist es ohne Schwierigkeit möglich, die 
fragliche Linie von c nach a zu durchlaufen und gleichwohl a 
als vorderen Punkt zu sehen, und umgekehrt. Und zwar ist das 
für mich bei unserem Rhombus ebenso der Fall, wie bei der 
ScHBÖDEBschen Figur. Nebenbei bemerkt kann ich Wündt auch 
darin nicht beistimmen, dafs er unter allen Umständen hier von 
Augenbewegungen spricht, wie schon oben gesagt, kann meiner 
Meinung nach sehr wohl ein Durchlaufen mit der Aufmerksam- 
keit an die Stelle solcher Augenbewegungen treten. 

Dagegen wird man leicht eine andere Beobachtung machen 
können: wenn ich eine bestimmte der beiden möglichen räum- 
lichen Auffassungen beim Rhombus gewinnen will, so kann ich 



176 Ei-nst V. Aster, 

dies dadurch erreichen, dafs ich diejenige Seite, die ich als die 
vordere sehen will, mit der Aufmerksamkeit besonders heraus- 
hebe, besonders beachte. Ebenso die entsprechende gebrochene 
Linie der ScHBÖDEHschen Treppe, nur dafs ich meinen Zweck 
hier noch leichter erreiche, wenn ich die ganze vordere Fläche 
(die Treppe ist ja als Raumgebilde zwischen zwei parallele Flächen 
eingeschlossen) einheitlich ins Auge fasse, d. h. in den Mittel- 
punkt der Beachtimg rücke. Richte ich meine Bemühungen in 
diese Richtung, so stellt sich die gewünschte Ansicht nach einiger 
Zeit von selbst dar. Diese Beobachtung legt sofort die Ansicht 
nahe, dafs es sich hierum ein bestimmtes Be ach tun gsre lief 
der Figur handelt, dafs die Verschiedenheit der einen und anderen 
Ansicht in einer Verschiedenheit des Beachtungsreliefs liegt. So 
verhält es sich meiner Meinung nach in der Tat. 

Sehe ich im Rhombus die Linie ab vorn, so wird die Linie ac 
und die mit ihr parallelen Linien so sukzessiv durchlaufen, dafs 
das Mafs der Beachtung, das die einzelnen Punkte 
der Linien trifft, allmählich zu- bzw. abnimmt (je nach 
der Richtung des Durchlaufens), der vorderste Punkt ist der am 
meisten betonte, der Grad der Beachtung ist ein um so geringerer, 
je weiter der Punkt vom Beschauer entfernt ist. Natürlich liegt 
es uns nun nahe, wenn wir eine Linie sukzessiv durchlaufen, bei 
denjenigen Punkten anzufangen, der für unsere Aufmerksamkeit 
der am meisten hervortretende ist, insofern hat auch die Be- 
hauptung WuNDTs ihr Recht, aber diese Richtung, in der wir die 
Linie verfolgen, ist ein sekundäres Moment und kann, wie die 
obige Behauptung zeigt, auch umgekehrt werden.^ Endlich 
können wir auch für diese Auffassungsform im Bilde eine Hilfe 
anbringen: durch stärkeres Ausziehen einer Grenzlinie w^ird die- 
selbe unserer Aufmerksamkeit aufgedrängt und infolgedessen 
leichter vorn gesehen, durch allmähliches An- bzw. Abschwellen 
der in die Tiefe führenden Parallelen der Figur ebenfalls eine 
bestimmte räumliche Auffassung nahe gebracht. 

Zur Erklärung der Figur 5 bemerkte ich weiter oben, dafs 



^ Wenn wir eine Linie von einem Endpunkt zum anderen mit dem 
Blick verfolgen, so scheint ihr selbst für unseren Eindruck eine Bewegung 
in dieser Richtung innezuwohnen — die Vertikale z. B., die wir von unten 
nach oben durchlaufen, „richtet sich auf. Im vorliegenden Fall kann die 
Linie für unser Bewufstsein sich von vorn in den Raum hinein, in die 
Tiefe erstrecken oder aus der Tiefe auf den Beschauer zukommen. 



Beiträge zur Psychologie der Raumiüah-nehmung. 177 

die Punkte, die gleich weit von der vorderen oder hinteren Grenz- 
linie des Parallelogramms entfernt sind, also in dieser Figur auf 
einer und derselben Parallelen liegen, für uns eine Einheit bilden, 
weil sie durch zwei gemeinsame Momente verbunden sind. Das 
erste liegt darin, dafs sie beim Durchlaufen der Fläche gleich- 
zeitig erfafst werden ; das zweite ergibt sich aus dem zuletzt Ge- 
sagten : es sind Punkte, die durch das gleiche Mafs der Beachtung 
ausgezeichnet sind. Und zwar liegen alle Punkte von „apper- 
zeptiver Gleichwertigkeit" auf derselben Parallelen zur vorderen 
und hinteren Grenzlinie. 

Ich mufs bei diesem „räumlichen Beachtungsrelief" noch 
einen Augenbhck verweilen, um einen möglichen Einwand, der 
eine gewisse Schwierigkeit enthält, nicht unberücksichtigt zu 
lassen. — Das Mafs der Beachtung, das die einzelnen Teile der 
Figur trifft, soll ein geringeres sein für die weiter zurückliegenden 
Teile. Dagegen kann man nicht mit Unrecht den Einwand er- 
heben, dafs ich auch auf den entferntesten Teil einer solchen 
Figur, auf die Linie cd etwa im Rhombus meine Aufmerksam- 
keit gerade einstellen, ihn spezifisch herausheben und beachten 
kann. Um die Sache genau zu formulieren: nicht dafs ich die 
Liinie cd spezifisch beachten kann, ist für die gegebene Dar- 
stellung eine Schwierigkeit, sondern eine spezifische Beachtung 
dieser Linie unter Festhaltung derjenigen Auffassung, die die 
Linie ab als vom, cd also als hinten vom Beschauer aus be- 
trachtet, negativ ausgedrückt ein Beachten von cd, ohne dafs 
entweder für unsere Auffassung eben dies c d zur vorderen Linie 
wird oder aus dem räumhchen Zusammenhang überhaupt heraus- 
tritt und isoliert erscheint. Ist es nun möglich, in dieser Weise 
oder unter diesen Bedingungen eine solche Linie im Vorder- 
grund des Bewufstseins spezifisch beachtet festzuhalten, so kann, 
scheint es, der Gegensatz des immittelbar erlebten „vorn" und 
^hinten" nicht auf den des mehr und minder Beachteten, des 
Über- und Untergeordneten^ zurückgeführt werden. 

Ich möchte nun in der Tat nicht bestreiten, dafs es inner- 
halb gewisser Grenzen möglich ist, eine solche Aufmerksamkeits- 
richtung durchzuführen und eine Zeitlang festzuhalten, aber ich 
glaube, dafs gerade wer einen Versuch in dieser Hinsicht unter- 



* Als „über-** und y,untergeordnet** bezeichnen wir die mehr und minder 
beachteten Teile eines zur Einheit verbundenen Ganzen. 

Zeitschrift für Fiychologie 49. 12 



178 Ernst V, Aster, 

nommen hat, mir meine Darstellung der Sachlage am ersten 
bestätigen wird. Ich bitte den Gegner, speziell an unserem 
Rhombus den Versuch anzustellen. Dann ergibt sich, wenn ich 
richtig beobachte, zunächst, dafs die Aufgabe ihre nicht geringen 
Schwierigkeiten hat. Es ist natürlich nicht schwer, die Linie cd 
in den Mittelpunkt der Beachtung zu stellen, aber es ist schwer, 
die vorherige räumliche Auffassung dabei festzuhalten. Und ich 
stelle weiter nun die Frage an den Beobachter: ist, wenn die 
Aufgabe soweit gelöst erscheint, als es möglich ist, die vordere 
Linie ab für unser Bewufstsein in der Tat so zurückgetreten, 
wie umgekehrt die Linie cd bei der „natürlichen" Auffassung, 
d. h. bei derjenigen, für die ab vom und zumeist beachtet er- 
scheint? Ich glaube, man wird mir zustimmen, wenn ich von 
meiner Beobachtung ausgehend sage: nach wie vor drängt sich 
die vomstehende Linie ab dem Bewufstsein auf. Oder um die 
Sache noch anders auszudrücken. Ich sagte schon im zweiten 
Abschnitt: es ist etwas für unser Bewufstsein durchaus Ver- 
schiedenes, ob ich aus einer Reihe von Inhalten einen willkürlich, 
vielleicht mit bewufster Willensanspannung durch die Aufmerk- 
samkeit heraushebe und beachtend festhalte oder ob ich den 
Eindruck habe, dieser Inhalt selbst zwinge mich so zu verfahren, 
es sei das NatürUche, ihn so aufzufassen. Diesen Gegensatz 
kann man auch hier hereinziehen: unter einer gewissen An- 
spannung meines WoUens halte ich die Aufmerksamkeit auf die 
Linie cd gerichtet, aber zugleich „drängt" sich die Linie ab dem 
Bewufstsein auf, sie zwingt mich oder fordert mich auf, sie zu 
beachten; ein Moment, das sich deutlich meinem Bewufstsein 
kundgibt. Dasselbe kann man endlich auch so ausdrücken: Ich 
kann den hinteren Teil einer solchen Fläche beachten, aber ich 
habe das deutliche Bewufstsein, diese Beachtungsrichtung sei 
invers. Dem tut es keinen Eintrag, dafs die ganze räumliche 
Auffassung, wenn sie an dem Rhombus geübt wird, an sich will- 
kürlich ist und sich für mein Bewufstsein auch so kundgibt — 
habe ich die Auffassung einmal gewählt, so kann sie doch einen 
Zwang auf mich ausüben, eine Forderung an mich stellen, so- 
lange ich sie festhalte. Es ist auch meine freie Wahl Schach zu 
spielen, tue ich es aber, so bin ich an den vorgeschriebenen 
Gang der Figuren gebunden. Schliefshch behaupte ich mit Be- 
stimmtheit: gelingt es, der Beachtung der hinteren Grenzlinie 
cd diesen Charakter des Inversen und Willküriichen zu nehmen, 



Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung. I79 

80 ist auch die festzuhaltende räumUche Auffassung nicht mehr 
vorhanden, sei es, dafs sie der entgegengesetzten oder einer 
ebenen Ansicht Platz gemacht hat. 

Zur Bestätigung können noch andere Beobachtungen heran- 
gezogen werden. Ich sagte schon, dafs der Rhombus uns be- 
sondere Schwierigkeiten darbietet, wenn wir jene inverse Rich- 
tung der Aufmerksamkeit ihm gegenüber durchführen wollen. 
Das nicht nur unwillkürlich sich aufdrängende, sondern auch 
tatsächlich mit Bewufstsein festgehaltene Beachtungsrelief ist bei 
einer so einfachen Figur in höherem Grade Bedingung für das 
Bewufstsein dieser bestimmten räumlichen Richtung, als bei einer 
Zeichnung, die von vornherein uns ausgesprochener als räum- 
liches Bild anmutet. Man zeichne in dem bekannten einfachen 
Schema das perspektivische Bild eines Würfels — man wird 
finden, dafs es hier leichter ist, die Aufmerksamkeit auf eine 
hintere Grenzkante einzustellen und den räumüchen Eindruck 
dabei festzuhalten — die entsprechende vordere Kante drängt 
sich deutlich auf, ohne dafs doch hier in dem Mafse die Gefahr 
vorhegt, dafs das ganze Bild in die umgekehrte räumliche Ansicht 
umschlägt oder ganz und gar eben wird. Das Ganze erscheint, 
um einen Vergleich zu gebrauchen, weniger labil und es erfordert 
daher eine geringere Willensanstrengung, die fraghche Auffassung 
festzuhalten. In noch höherem Mafse gilt endUch dasselbe, wenn 
wir an die Stelle der Zeichnung überhaupt einen Ausschnitt der 
Wirküchkeit setzen. — 

Ich glaube damit die Auffassungsform, die einem räumüch 
gesehenen Gebilde als solchem eignet, vollständig charakterisiert 
zu haben. Wenn wir ein gegebenes Bild räumhch-perspektivisch 
auffassen, so durchlaufen wir dasselbe sukzessiv geleitet durch 
die in die Tiefe führenden Horizontalen. Die zwischen den 
Grenzlinien der Figur liegenden Winkelflächen treten dabei für 
unser Bewufstsein völlig zurück. Endhch tritt für unser Beachten 
die vom liegende Seite des räumlich gedachten Gebildes am 
meisten in den Vordergrund, während das Mafs der den einzelnen 
Punkten der Erscheinung geschenkten Beachtung um so mehr 
abnimmt, je weiter der Punkt von der vorderen Grenzlinie oder 
Fläche entfernt ist. Der eigentümliche Charakter des Bildes, auf 
den wir in diesen Worten hingewiesen haben, ist das ihm an- 
haftende räumUche, dreidimensionale Moment. Hat ein Bild wie 
der oft erwähnte Rhombus diesen Charakter, diese Auffassungs- 

12* 



180 Ernst V. Aster. 

form, 80 sagen wir: wir sehen es räumlich. Weiter können wir 
an dem Bild selbst Veränderungen vornehmen — Andeuten der 
parallelen Horizontalen, stärkeres Ausziehen der vorderen Grenz- 
linie usw. — die gerade diese Auffassungsform erieichtem, auf 
ihr Zustandekommen daher hinwirken. Je mehr dies der Fall 
ist, um so mehr erhält die Auffassungsform für unser immittel- 
bares Bewufstsein den Charakter des Natürlichen, Selbstverständ- 
lichen, im anderen Fall des Willkürlichen. Je nachdem das eine 
oder andere stattfindet, geben wir unserem Erleben Ausdruck, 
indem wir sagen, dafs das Wahrnehmungsbild selbst uns einen 
räumlichen Eindruck mache oder dafs wir es räumlich sehen 
oder auffassen. 

Vielleicht wird man nun das Ergebnis meiner Untersuchung 
zugeben — bis auf einen Punkt. In der Eonsequenz der von 
mir gebrauchten Worte liegt es bereits angedeutet, dafs ich die 
beschriebenen Erlebnisse nicht blofs mit dem räumhehen Ein- 
druck eines solchen Bildes, wie der Rhombusfigur, in irgend- 
welchen äufseren Zusammenhang bringen, sondern dafs ich ihn 
mit diesem Eindruck direkt identifizieren will. Und ich halte es 
in der Tat für richtig, zu sagen: Der räumliche Eindruck eines 
solchen Bildes, dem wir Ausdruck geben, indem wir von einem 
„räumlich sehen" desselben sprechen, dieser Eindruck ist iden- 
tisch mit der beschriebenen Auffassungsform. Vielleicht meint 
man dagegen, jene Auffassungsform sei da, aber sie sei nur die 
letzte Bedingung des eigentlichen räumlichen Eindrucks. Dann 
wäre der räumliche Eindruck noch ein besonderes Erlebnis. Das 
Vorhandensein eines solchen besonderen Erlebnisses nun kann 
ich natürlich nicht widerlegen, aber mir scheint, die direkte 
Beobachtung gibt uns kein Recht zu seiner Annahme. Es bleibt 
also hypothetisch. Und die Notwendigkeit dieser Hypothese ver- 
mag ich nicht einzusehen. 

Auseinanderzuhalten ist freilich dreierlei: erstens meine 
„Absicht", der Zeichnung gegenüber diese Auffassung zu voll- 
ziehen, sowie die allmähliche Durchführung dieser Absicht, die 
Bemühungen, die ich z. B. aufwende, um die eine gebrochene 
Linie der ScHBÖDEEschen Figur in meinem Bewufstsein möglichst 
hervortreten zu lassen. In diesem vorbereitenden Stadium ist 
die Auffassungsform noch nicht da, noch nicht erlebt. Zweitens 
die Auffassungsform selbst und drittens meine Behauptung, dafs 
ich nun das Bild räumlich sehe. Für diese Behauptung ist die 



Beiträge zur Psychologie der Baumtcahrnehmutig, JgJ 

Au£fas8UBg8forni freilich „Bedingung^' und jene Bemühungen 
und Vorbereitungen werden wir in jedem Sinn als Vorbedingungen 
für das Zustandekommen des räumüchen Eindrucks bezeichnen 
können und müssen. 

Vielleicht meint man Bchliefslich, es fehle für die aufgestellte 
Behauptung noch ein ^experimentum crucis'', d. h. es müsse 
noch gezeigt werden, dafs, wenn wir einer beliebigen Figur gegen- 
über einmal zufällig gerade diese Auffassung vollziehen, wir uns 
auch dann veranlafst fühlen, imsere Auffassung eine räumliche 
zu nennen, von einem Räumlichsehen der Figur zu sprechen. 
Demgegenüber möchte ich nur noch darauf hinweisen, dafs die 
Auffassungsform, die ich hier charakterisiert habe, eine ganz 
bestimmte unter unzählig vielen mögUchen ist. Wir werden 
kaum je in die Lage kommen, gerade diese Auffassimgsform 
— man denke nur an die allmähliche Abnahme der auf die 
Teile der sukzessiv durchlaufenen Linien fallenden Beachtung — 
zufällig zu vollziehen. Damit fällt die Möglichkeit fort, sich auf 
diesem Wege von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Be- 
hauptung zu überzeugen. 

5. Konsequenzen für die Wahrnehmung wirklicher 
Körper und für die künstlerische Wiedergabe des 

Raumes. 
Dieselbe Auffassungsform, die im vorigen Paragraphen an 
der räumhchen Auffassung einer möglichst einfachen geo- 
metrischen Figur demonstriert wurde, können wir mit leichter 
Mühe wiederfinden, wenn wir zur Wahrnehmung eines Aus- 
schnitts der wirklichen körperlichen Welt übergehen und auf die 
Art und Weise achthaben, wie wir uns in unserer Auffassung 
diesem gegenüber verhalten. Ich mache nur kurz aufmerksam 
auf allbekannte Tatsachen. Jedermann weifs, wie anregend es 
für die räumliche Auffassung ist, wenn sich durch die gesehene 
Landschaft hindurch ein Weg oder ein Bach in die Tiefe er- 
streckt, einen wie starken, auch für das monukulare Sehen 
unaufhebbaren räumlichen Eindruck uns die geradewegs in die 
Tiefe führende Strafse oder ein Kirchenschiff macht, dem wir 
mit dem Blick folgen. Weg und Bach sind die vom Beschauer 
in die Tiefenrichtung wegführenden Horizontalen. Eine ganze 
Reihe solcher Leitlinien ist beim Blick in die Strafse vorhanden, 
sie werden gebildet durch die Linien des Fufsbodens, die Grenze 



182 Erngt r. Aster. 

des Trottoirs, die Spitzen der Laternen, die Kronen der Bäume, 
die Firste und Fensterreihen der Häuser usw. (Natürlich sind 
diese Horizontalen bei der umfassenderen Gröfse des Bildes nicht 
mehr unter sich sämtlich parallel wie in den einfachen geo- 
metrischen Figuren, sondern gegeneinander geneigt.) 

Auf der anderen Seite geben alle Vertikalen im Bild, die 
senkrechten Linien der Häuser, die Latemenpfähle, die auf der 
Strafse gehenden Menschen usw. Apperzeptiouslinien der zweiten 
Art an die Hand, wie sie Figur 5 zeigte, d. h. Zusammenordnungen 
solcher Punkte, die gleich weit von der Ebene des Beschauers 
entfernt sind imd daher wie oben bemerkt eine Einheit zweiter 
Ordnung bilden. Die allmähliche Abnahme in der Gröfse dieser 
Vertikalen, die perspektivisch bedingte Verkleinerung — man 
denke an die Bäume einer Allee — ist eine unmittelbare objek- 
tive Bedingung für die allmähliche Abnahme der ihnen zukommen- 
den Beachtung, für die Abstufung der innerlichen Betonung, also 
für die Eigentümlichkeit des Beachtungsreliefs, von der am Schlufs 
des vorigen Paragraphen die Rede war. 

Hinzuzufügen ist nur eins: an die Stelle jeder einzelnen in 
die Tiefe führenden Linie, der wir bei der Betrachtung einer 
solchen geometrischen Figur folgen, von denen im vorigen Para- 
graphen gesprochen wurde, treten hier ganze Reihen entsprechen- 
der Linien. Auch diese Reihen von Horizontalen und ebenso 
von vertikalen Linien, die dadurch ausgezeichnet sind, dafs sie 
(als Vertikale) gleich weit von der Ebene des Beschauers oder 
(als Horizontale) gleich hoch über der Ebene des Fufsbodens 
stehen, schliefsen sich zu Einheiten zusammen, sie bilden für 
uns Ebenen.^ Eine solche Ebene ist zunächst einmal die Fufs- 
bodenebene selbst, des weiteren denke man an die unzähligen 
hintereinander stehenden vertikalen und übereinander liegenden 
horizontalen Ebenen, die durch die sich entsprechenden Linien 
der beiden sieh gegenüber stehenden Häuserreihen bestimmt 
werden. Durch eine solche Schar sich schneidender Ebenen also 



^ Für die vertikalen Linien ergibt sich dies schon von selbst aus den 
Prinzipien des vorigen Paragraphen: die Punkte der vertikalen Linien 
bilden für uns eine Einheit ihrer apperzeptiven Gleichwertigkeit wegen. 
In den geometrischen Figuren nun liegen alle Punkte von apperzeptiver 
Gleichwertigkeit auf einer und derselben Linie — in einem Ausschnitt der 
Wirklichkeit auf einer und derselben Ebene. 



Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehnmng, 183 

werden wir in das räumlich gesehene Bild hinein und in die 
Tiefe geleitet. 

Aus dem Gesagten ergeben sich von selbst Vorschriften für 
die künstlerische Darstellung des Raumes und der Körperlichkeit 
— Vorschriften, die von den Malern aller Zeiten instinktiv befolgt 
worden sind. Der Maler mufs uns durch Apperzeptionslinien 
bzw. Flächen in den ideellen Raum seines Bildes hineinführen, 
sei es nun, dafs diese Linien durch Naturobjekte, die die Land- 
schaft durchziehen, oder durch den Gang des Lichtes oder durch 
Gruppen von Menschen gebildet werden, die ihrerseits durch 
Handlung und Bewegung in einer entsprechenden leitenden Ver- 
bindung stehen. Dies Hineinführen in den Raum mufs ein gleich- 
mäfsiges sein, d. h. die Apperzeptionslinien müssen sich ohne 
Schwierigkeit zu entsprechenden Ebenen zusammenschhefsen. 
Sonst erscheint der Raum an einer Stelle flach, an der anderen 
tief. Im besonderen darf kein einzelner Teil aus der vorderen 
Bildebene hervorragen. Geschieht dies doch, sagen wir etwa mit 
einem Arm, so liegt die entstehende Störung darin, dafs das 
gleichmäfsige sukzessive Hineinschreiten in das Bild verhindert 
wird: von der vorderen Bildebene gehen wdr sukzessiv in den 
Raum hinein, durchlaufen also von vorn nach hinten, sind aber 
gleichzeitig gezwungen, um den Arm aufzufassen ihn von hinten 
nach vorn zu durchlaufen, also eine Bewegung in umgekehrter 
Richtung zu vollziehen. Dasselbe störende Moment tritt ein, 
wenn die Wiedergabe einer Landschaft durch den Maler oder 
Photographen von einem zu nahen Standpunkt erfolgte, d. h. von 
einem Standpunkt, auf dem das Auge verschiedener Einstellungen 
bedarf, um die näheren und entfernteren Teile der wirklichen 
Landschaft deutlich zu sehen. Das Bild zerfällt alsdann in zwei 
Teile, von denen wir den einen (entfernteren) von vorn nach 
hinten, den anderen aber von hinten nach vorn durchlaufen. 

Um ein allmähliches und gleichmäfsiges Hineingleiten in die 
Tiefe zu ermöglichen, darf der Maler die Aufmerksamkeit nicht 
durch zu scharf umrissene Konturen oder scharf abgegrenzte 
Farbflecke festhalten, die Betrachtung würde in diesem Fall eine 
ruckweise werden. Hier liegt die wichtigste Aufgabe der Licht- 
führung im Bilde: die Modellierung der Körper wird gegeben 
durch Flächen, deren Grenzen durch das daräber geleitete ge- 
meinsame Licht ineinander übergehen und die dadurch in die 
allgemeine Tiefenbewegung hineingezogen werden. Im Gegen- 



184 ^rnst V. Aster. 

satz dazu wird mit grell abgesetzten Farben und Konturen ge- 
arbeitet, wo der räumliche Eindruck vermieden ist und vermieden 
werden soll : man denke an das Ornament oder an fignrale Dar- 
stellungen, wie wir sie etwa an japanischen Malereien kennen. 

Noch eins sei ausdrücklich hervorgehoben. Als ich von 
unserer Figur 2 sprach, von dem durch parallele Linien zer- 
schnittenen Bhombus, verwahrte ich mich dagegen, dafs man 
diese Parallelen etwa als Andeutung einer Schattierung auffasse 
und darauf ihre raumgebende Wirkung zurückführe. Diese Auf- 
fassung liegt deshalb nahe, weil wir in einer Zeichnung tatsäch- 
lich den Schatten wesentlich durch eine solche Art von Schraf- 
fierung anzugeben pflegen. Man denke speziell etwa an die 
Wiedergabe eines Zylinders: wir deuten die beschattete Seite an 
durch Striche, die der Rundung des Körpers folgen, also model- 
lierend wirken. Darin liegt an sich ein Problem: in der Natur 
ist ims doch der Schatten keineswegs in solchen Strichen, sondern 
in einer einfachen, mehr oder minder tief en Dunkelheit gegeben ; 
wie kommen wir dazu, ihn in dieser Weise darzustellen? Die 
Lösung des Problems liegt sehr nahe: wir „stilisieren" in der 
Wiedergabe des Schattens, d. h. wir benutzen sie, um gleichzeitig 
Apperzeptionslinien zur Anregung des räumlichen Sehens anzu- 
bringen. Die schraffierenden Linien, die der Rundung des 
Zylinders folgend seine beschattete Seite markieren sollen, sind 
Linien, die am Körper entlang als Horizontale in die Tiefe führen. 
Also nicht die parallelen Linien wirken raumgebend, weil sie die 
Wiedergabe eines Schattens sind, sondern in der Wiedergabe eines 
Schattens pflegen wir uns solcher Linien zu bedienen, weil sie 
an sich raumgebend wirken, d. h. die spezifisch räumliche Auf- 
fassungsform nahelegen. 

Ich möchte diesen Paragraphen nicht schliefsen, ohne einer 
Bestätigung zu gedenken, die das hier Erörterte von einer Seite 
erhält, der man feines Gefühl für räumliche Wirkung ganz ge- 
wifs nicht absprechen wird. Ich denke an das Buch Adolf 
Hiu)EBRANDs „Das Problem der Form in der bildenden Kunst**.^ 
Ich zitiere aus dem Buch nur wenige Stellen, die ich wohl nach 
dem Gesagten nicht näher zu erläutern brauche. 

„Unsere Vorstellung erfafst den Raum, indem sie in der 
vollen Ausdehnung unseres Sehfeldes eine Bewegung nach der 



* 3. Aufl., Strafsburg 1901. 



Beiträge zur Psychologie der Raunmahrnehmung. 185 

Tiefe ausführt, nach der Tiefe strebt. Wenn wir uns Einzel- 
körper in diesen Raum gestellt denken, so bilden dieselben so- 
zusagen Widerstände gegen diese allgemeine Tiefenbewegung, 
Flächenerscheinungen, die nicht weichen. Durch die allgemeine 
Tiefenbewegung erhalten sie jedoch Volumen, und, je nachdem 
diese Flächenerscheinung bestimmt präzisierte Merkmale besitzt, 
an denen die Tiefenbewegung hingleitet, erhalten sie plastische 
Form." 

„Auf diese Weise werden alle räumhchen Beziehungen und 
alle Formunterschiede von einem Standpunkte aus sozusagen 
von vom nach hinten abgelesen." 

. . . „Die erste und zweite Dimension steht als Flächen- 
erscheinung der dritten Dimension als Tiefenbewegung entgegen. 
!Es handelt sich also in der Darstellung um die Anregung zu 
dieser einzigen, einheitlichen Tiefenbewegung. . . . Von der Er- 
scheinung mufs die Anziehungskraft ausgehen, welche die Vor- 
stellung stark nach der Tiefe zieht. Das Wesen der einheitlichen 
Darstellung liegt demnach darin, dafs ihr eine einheitliche 
Anziehungskraft nach der Tiefe innewohnt." (a. a. o. 8. 56, 56.) 

6. Perspektivische Gröfsen- und Winkelschätzung. 

Wenn wir unseren Rhombus einmal als ebene Figur und 
einmal als räumliches Bild betrachten, so erscheint uns im 
letzteren Fall unweigerlich die in die Tiefe sich erstreckende 
Linie (ac) erheblich länger. Die Täuschung ist aufserordentlich 
frappant imd solange die räumliche Auffassung anhält ganz un- 
überwindlich. Wir „sehen" die Linie länger. Es genügt nicht, 
wenn man sich, was zunächst wohl das Nächstliegende ist, zur 
Erklärung dieser Tatsachen auf die „früheren Erfahrungen" be- 
ruft, die uns eben „gezeigt haben", dafs perspektivisch gesehene 
Strecken in Wirklichkeit länger sind, als wir sie sehen. Auf 
jeden Fall haftet an der perspektivisch gesehenen Strecke selbst 
ein Moment, das uns zur Änderung unseres Gröfsenurteils ver- 
anlafst — wir wissen nicht nur, die Strecke ist gröfser, sondern 
wir „sehen" sie gröfser oder glauben sie gröfser zu sehen. ^ 



* Von allen Fällen, in denen ein blofses „Vl^issen" vorliegt, sehe ich 
in diesem ganzen Paragraphen grundsätzlich ab. Um ein Beispiel anzu- 
führen: ich stehe auf einem hohen Berge und wundere mich über die auf- 
fallende Kleinheit der unten gehenden Menschen; trotzdem „weifs" ich, dafs 



186 Ernst V. Aster. 

Vielleicht ist dies Moment durch frühere Erfahrungen bedingt 
oder wenigstens zum Teil dadurch bedingt, die erste Aufgabe 
aber ist, nach diesem Moment selbst zu fragen. 

Ich sehe nun zunächst von dieser Wirkung früherer Er- 
fahrungen ganz ab und suche den Grund für die Änderung des 
Gröfsenurteils in einem Moment der räumlichen Auffassungs- 
form, ohne jedoch diesen Faktor für den einzigen erklären zu 
wollen. 

Es ist eine seit langem bekannte optische Täuschung, dafs 
eine vertikale Linie gegenüber einer gleich langen horizontalen 
überschätzt wird. Für diese Täuschung hat Schümann, wie mir 
scheint mit Recht, als letzten Grund die Tatsache verantwortlich 
gemacht, dafs wir eine vertikale Linie sukzessiv von unten nach 
oben durchlaufen, während die Horizontale simultan erfafst wird. 
Jene Auffassungsform ist die für die vertikale Linie natürliche, 
ihr anhaftende, für unser Bewufstsein durch sie bedingte, nicht 
von uns willkürlich vollzogen. Damit wu'd nun die Vertikale 
für uns zu einer Linie, der eine bestimmte Richtung eignet, 
eine Richtung von unten nach oben, im Gegensatz zur Horizontalen, 
die eine in sich ruhende Linie ist, d. h. gar keine bestimmte 
Richtung besitzt. Ist nun damit für unser Bewufstsein allgemein 
auch eine Überschätzung der in dieser Richtung gehenden Länge 
der Vertikalen verbunden, so ist klar, dafs für die von vom in 
die Tiefe gehende Linie etwas Entsprechendes gelten mufs. Wie 
die Vertikale von unten nach oben „sich aufrichtet", so „erstreckt 
sich" die in die Tiefe gerichtete Linie von vom nach hinten 
oder umgekehrt, d. h. wie wir jene von unten nach oben, so 
durchlaufen wir diese von ihrem einen zu ihrem anderen Ende. 

In Figur 9 habe ich genau denselben Rhombus wie in 
Figur 2, aber um einen Winkel von 90 Grad gedreht, gezeichnet, 
so dafs die vorher vertikale Linie ab jetzt für den Beschauer 
eine horizontale Lage einnimmt. Vergleicht man diese Figur 
mit der früheren, so bemerkt man ein Doppeltes. Dem zum 



diese Menschen durchaus keine Zwerge, sondern so grofs sind wie ich. 
Hier liegt ein Wissen vor, weil die Überzeugung von der Richtigkeit meines 
Gröfsenurteils, mit dem Tatbestand, den ich da sehe, gar nichts zu tun hat. 
Wenn ich im Gegensatz zu Fällen dieser Art im Text von einem „Sehen" 
der Gröfse gesprochen habe, so heifst das genauer: Das Gröfeenurteil ist 
für das Bewufstsein unmittelbar an den gegebenen oder gesehenen Tat- 
bestand gebunden, es wird im Hinblick auf denselben abgegeben. 



Beiträge zur Psychologie der Raumwahmehmung. 



187 



Vergleich herangezogenen allgemeinen Gegensatz von horizontaler 
und vertikaler Linie gemäfs erscheint in Figur 2 die Linie ab 
gröfser als in Figur 9. Aufserdem aber erscheint die Tiefe der 
letzten Figur gröfser als die der ersten, die Linie ac also und 
ihre Parallelen in Figur 9 länger als in Figur 2. Bei genauerem 
Zusehen wird man dann noch entsprechend der ScHUMANNschen 
Beobachtung konstatieren können, dafs in Figur 2 auch die hier 
vertikal liegende Linie ab von unten nach oben sukzessiv durch- 
laufen wird, in Figur 9 dagegen als Horizontale simultan auf- 




Figur 9. 



gefafst ist. (Dieses sukzessive Durchlaufen ist von dem Verfolgen 
der Linien in die Tiefe hinein leicht zu trennen und findet, 
wenn ich recht beobachte, unabhängig von diesem statt. Wir 
gehen, scheint mir, zuerst die Linie ab von unten nach oben 
durch und folgen dann den über die Fläche verstreuten ac 
parallelen Geraden in die Tiefe. Freilich ist das Verhältnis 
beider Bewegungen durch direkte Beobachtung nicht ganz leicht 
zu bestimmen.) Hierin liegt eine Bestätigung des vorher Gesagten. 
Die Bewegung nach der Tiefe erscheint intensiver, wenn sie nicht 
einer Bewegung von unten nach oben, sondern einer in ruhender 
Lage auf gef afsten Horizontalen gegenübersteht, das sich Erstrecken 
in die Tiefe der gesehenen Fläche macht uns einen stärkeren 
Eindruck, wenn sie die einzige ausgesprochene Richtung der 
Fläche ist und nicht mit der vertikalen Richtung kollidiert. Wie 
wir die Täuschung, in der uns die Vertikale gröfser erscheint 
als die gleichlange Horizontale, dadurch wegbringen können, dafs 
wir die Horizontale von einem zum anderen Ende durchlaufen, 
wodurch sie für unser Bewufstsein zugleich der Vertikalen ähnlich 
wird — die Ähnlichkeit liegt eben in der nun gemeinsamen 
Auffassungsform — so können wir auch den Unterschied der 
Figur 2 und 9 verschwinden lassen, wenn wir in Figur 9 ab 
sukzessiv durchlaufen oder in Figur 2 simultan auffassen. Im 



188 JSrnst V. Aster. 

ersteren Fall machen uns beide Rhomben den Eindruck aufrechtr 
8tehender, im zweiten Fall den Eindruck horizontal liegender 
Platten. 

Ich verlasse diesen Punkt, um zu anderen Fällen perspektivi- 
scher Gröfsenschätzung überzugehen, in denen ebenfalls die 
räumliche Auffassungsform von Bedeutung ist. Es ist eine be- 
kannte Tatsache, dafs wir die gesehene Gröfse zweier Gegen- 
stÄnde, die sich in verschiedener Entfernung von unserem Auge 
befinden, sehr schwer vergleichen können. Es ist kaum möglich, 
zu sagen, was gröfser gesehen wird, der in einer Entfernung von 
10 cm gehaltene Federhalter oder der Ofen in der Ecke des 
Zimmers. Immer drängt sich störend die wirkliche Gröfse des 
gesehenen Gegenstandes dazwischen, d. h. das Urteil wird nach 
dieser Richtung abgelenkt. Experimentell ist dies bestätigt 
worden durch G. Mabtiüs\ der von seinen Versuchspersonen 
verschieden lange und verschieden weit entfernte Stäbe auf ihre 
wahrgenommene Länge hin vergleichen liefs. 

Zum Teil wenigstens ist für diese Tatsache ganz sicherlich 
der Umstand verantwortlich zu machen, dafs wir von dem einen 
zum anderen Vergleichsobjekt, wenn sie sich in verschiedenen 
Entfernungen vom Auge befinden, in den uns bekannten in die 
Tiefe gehenden Horizontalen übergehen. — Angenommen wir 
haben zwei Linien in derselben Ebene, die wir auf ihre Länge 
hin vergleichen wollen. Beide sind eine Strecke weit voneinander 
entfernt, so dafs wir zum Zweck des Vergleichs von einer zur 
anderen übergehen müssen. Ist nun der Längenunterschied 
nicht sofort in die Augen fallend, so pflegen wir darauf zu achten, 
ob die eine Linie von der anderen um ein Stück überragt ^vird. 
Sind die Linien gleichgerichtet, so gehen wir daher von der 
einen zur anderen in Parallelen über, die auf dem Endpunkt 
der Linien senkrecht stehen (in den punktierten 
Linien der Figur 10, wenn a und b die zu vergleichen- 
den Linien sind) und sehen zu, ob bei diesem Über- 
gang auf der zweiten Linie ein Stück heraus- 
geschnitten wird, oder umgekehrt zwischen den 
Endpunkten dieser zweiten Linie und den Parallelen 
noch ein freier Raum bleibt oder endlich beide 
Flg. 10. zusammentreffen. Wenden wir dies nun an auf 

* Wundts Philosophische Sttidiefi 5, S. 601 ff . 



Beiträge zur Psychologie der Baumwahmehmung. 189 

Gegenstände, die sich in verschiedener Entfernung vom Auge 
befinden, so werden wir hier durch die räumliche Auffassung 
verhindert, in den entsprechenden Parallelen vom einen zum 
anderen überzugehen, also bei der „Projektion" des einen 
Bildes auf das andere, wenn ich mich so ausdrücken darf 
(natürlich handelt es sich nicht um eine absichtliche Konstruk- 
tion), die wahrgenommene, sog. scheinbare Gröfse des zuerst 
betrachteten Bildes festzuhalten. Anstatt dessen gehen wir fort 
in den bekannten Horizontalen, die, wie ebenfalls bekannt, im 
Gesichtsfeld nicht mehr parallel sind, sondern perspektivisch ver- 
schoben, je weiter wir sie in die Tiefe verfolgen, um so mehr 
sich einander nähern, um am Horizont sich zu vereinigen. Gehen 
wir also z.B. vom näheren zum ferneren Objekt über, so schneiden 
die Linien, in denen wir das erste auf das zweite übertragen, 
auf dem zweiten ein Stück heraus, das nicht gleich dem Bilde 
cles ersten, sondern kleiner als dieses und zwar so grofs ist, wie 
das nähere Objekt uns in der Entfernung des anderen erscheinen 
würde. Stützt sich nun darauf unser Gröfsenurteil, so ist klar, 
dafs wir in diesem Urteil nicht das Gröfsenverhältnis der un- 
mittelbar gegebenen Bilder, sondern das der wirklichen Gegen- 
stände gewinnen. Um ein Urteil über die Gröfse der ersteren 
zu gewinnen, müssen wir die räumliche Auffassung selbst über- 
winden, darin liegt die Schwierigkeit dieser Aufgabe. Und auch 
wenn wir uns in dieser Hinsicht bewurstermafsen Mühe geben, 
gleitet die Aufmerksamkeit doch immer wieder ab in die Richtung 
der Horizontalen hinein, die Parallele nähert sich ihr an und 
wir erhalten ein Gröfsenverhältnis, das zwischen dem der wirk- 
lichen und der scheinbaren Gröfsen liegt. ^ 

Der Weg, den wir bei diesem Vergleich wider unseren 

' Eine bekannte optische Gröfsen tauschung entsteht, wenn man eine 
Reihe von Linien, deren Gröfse stufenweise zunimmt, gleichmäfsig unter- 
einander zeichnet uifd unter der letzten, gröfsten, in gleichem Abstand eine 
gleichlange Strecke anbringt. Bei einem Vergleich dieser beiden Strecken 
wird die letzte unterschätzt. Die Erklärung, die Schümann (a. a. O. Bd. 30, 
8. 248 ff.) für diese Täuschung gibt, beruht auf demselben Prinzip, wie die 
obenstehende Interpretation der perspektivischen Schätzung: Durch die 
L&ngenzunahme der sukzessiv durchlaufenen Strecken wird die Aufmerk- 
samkeit veranlafst, in schrägen Linien nach aufsen an den Endpunkten 
der untersten Vergleichslinie vorbeizugehen, während für gewöhnlich beim 
Vergleich gleichlanger Strecken die Linien, in denen wir von einer zur 
anderen flberg^en, die Endpunkte verbinden — s. o. 



190 Ernst V. Äster, 

Willen einschlagen und der uns daher zu einem anderen, als 
dem beabsichtigten Ergebnis führt, wird im übrigen in sehr 
vielen Fällen von uns in durchaus zweckentsprechender Weise 
benutzt, um die wirkliche Gröfse zweier Gegenstände zu ver- 
gleichen, die wir in verschiedener Entfernung vor inis sehen, 
eine Aufgabe, die ja auch praktisch von ungleich gröfserer 
Wichtigkeit ist, als die Vergleichung scheinbarer Gröfsen. Will 
ich z. B. wissen, wie sich zwei Menschen, die in verschiedener 
Entfernung vor mir auf der Strafse gehen, in ihrer Gröfse zu 
einander verhalten, so gehe ich in den einschliefsenden Hori- 
zontalen vom einen zum anderen fort. Die untere Horizontale 
ist mir durch den Fufsboden gegeben, die obere ziehe ich vom 
Kopf des mir Näheren und sehe zu, ob sie über dem Scheitel 
des zweiten Menschen hingeht, ihn berührt oder imterhalb des- 
selben schneidet Aus demselben Grunde bemerken wir zunächst 
nicht oder kaum das allmähliche Kleinerwerden des Menschen, 
der sich in gerader Linie von uns entfernt; wir folgen ihm 
mit dem Blick in der Horizontalen, die von seinem Scheitel be- 
schrieben wird. 

Um nicht einseitig zu erscheinen, möchte ich nun aber an 
dieser Stelle noch ausdrücklich bemerken, dafs, für so wichtig 
ich die Auffassungsform für unsere perspektivische GröCsen- 
schätzung halte, ich sie doch nicht allein dafür verantwortlich 
machen möchte. Die Ansicht, die ich zu Anfang zunächst zu- 
rückwies, dafs ein unmittelbarer Einfiufs früherer Erfahrungen 
vorliege, wenn sich unser Urteil über die Gröfse perspektivisch 
gesehener Gegenstände eher nach der wirklichen Gröfse dieser 
Gegenstände, als nach der „scheinbaren", d. h. tatsächlich ge- 
sehenen ihrer Bilder richte, trifft in gewisser Weise doch einen 
richtigen Punkt; und ich möchte an der Hand eines Beispiels 
aus anderem Gebiet wenigstens andeuten, in welcher Hinsicht 
eine solche direkte Einwirkung der Erfahrung meiner Meinung 
nach in der Tat vorhanden ist. 

Es wird wohl jedem schon einmal vorgekommen sein, dafs 
er beispielsweise in der Nacht ein Geräusch gehört hat, von dem 
er zunächst nicht weifs, was es ist und woher es kommt. Es 
scheint ein ziemlich weit entferntes lautes Stampfen, Knarren 
und Scharren zu sein. Mit einemmal leuchtet uns eine Einsicht 
auf: es ist das Nagen einer Maus im eigenen Zimmer, wie wir 
jetzt deutlich erkennen. Mit dem Augenblick nun, in dem uns 



Beiträge zur Psychologie der Raumwahrnehmung. 191 

diese Erkenntnis kommt, hat das Geräusch, das genau dasselbe 
Geräusch ist wie vorher, einen anderen Charakter. Es ist nicht 
mehr laut, sondern leise. Das heifst natürlich nicht, dafs sich 
die Intensität des Geräusches selbst, diese Eigenschaft des Schalls 
geändert hat, wohl aber der Eindruck, den mir diese Intensität 
macht. Das Geräusch machte mir erst den Eindruck eines 
lauten, jetzt den eines leisen Geräusches. 

Dieser absolute Gröfsen- oder Intensitätseindruck, den mir 
das Gehörte macht und den man nicht näher beschreiben, son- 
dern nur erleben kann, ist, wie man aus dem angeführten Bei- 
spiel sieht, nicht nur von der zur Zeit wahrgenommenen Lautheit 
des gehörten Schalls abhängig, sondern auch von der Art, wie 
wir dem gegebenen Inhalt gegenübertreten, von den früheren 
Erfahrungen also, die wir an verwandten Inhalten gemacht 
haben. Das Nagen einer Maus haben wir als ein unter allen 
Umständen leises Geräusch kennen gelernt, von dem stampfenden, 
dröhnenden Schritt einer Menschenmenge dagegen wissen wir, 
dafs sein Geräusch nur unter besonderen Bedingungen, nämlich 
für den Fernstehenden, von geringer Intensität oder Lautheit 
ist. Diese Abhängigkeit von der Art, wie wir den Gegenstand 
betrachten oder unseren bisherigen Erfahrungen eingliedern, hat 
einmal zur Folge, dafs, wenn wir denselben Inhalt erst als einen 
entfernten Gegenstand dieser und dann als einen näher befind- 
lichen Gegenstand von jener anderen Art auffassen, mit diesem 
Wechsel der Auffassung auch der absolute Gröfseneindruck sich 
ändert. Das war im angeführten Beispiel der Fall. Andererseits 
folgt eben daraus eine natürlich nur relative Unabhängigkeit 
dieses Gröfseneindrucks von den Veränderungen, die mit dem 
in Rede stehenden Inhalt selbst vor sich gehen, nachdem wir 
ihn einmal als Gegenstand einer bestimmten Art erkannt und 
eingeordnet haben, solange wir eben diese Einordnung festhalten. 
Daher wird der unmittelbare Gröfseneindruck innerhalb gewisser 
Grenzen unverändert bleiben, wenn der Gegenstand, auf den er 
sich bezieht (natürlich unter der Voraussetzung, dafs wir ihn 
nach wie vor als „denselben Gegenstand" betrachten), seine Ent- 
fernung und demgemäfs auch seine scheinbare Intensität oder 
Gröfse allmählich wechselt. 

Was ich hier mit Absicht zunächst am Beispiel einer Inten- 
sität entwickelt habe, gilt nun ebenso für die extensive Gröfse, 
für die räumliche Gröfse oder Ausdehnung. Auch hier müssen 



192 Em8t V. Aster. 

wir von einem unmittelbaren Gröfseneindruck sprechen. Und 
da dieser Gröfseneindruck in sehr vielen Fällen das abgegebene 
Gröfsenurteil unmittelbar beeinflulst, so vermittelt er in der Tat 
einen Einflufs früherer Erfahrungen auf dieses Gröfsenurteil ; ein 
Einflufs, der sich einerseits darin zeigt, dafs wir in unserem 
Urteil über die wirkliche Gröfse in verschiedener Entfernung 
gesehener Gegenstände uns durch die scheinbare Gröfse der 
wahrgenommenen Gesichtsbilder nicht beirren lassen, sowie darin, 
dafs, wenn wir über diese scheinbare Gröfse allein urteilen 
wollen, unser Urteil nach der Richtung der wirklichen Gröfsen- 
Verhältnisse hin abgelenkt wird, wie es am Anfang dieses Para- 
graphen ausführlicher auseinandergesetzt wurde. Auf den Ein- 
flufs dieses unmittelbaren Gröfseneindrucks möchte ich auch 
andere wohlbekannte Tatsachen zurückführen, wie die scheinbar 
gigantische Gröfse naher (regenstände im Nebel und die schein- 
bare Kleinheit weit entfernter Dinge in der klaren G^birgsluft 
— Tatsachen, die mit dem Beispiel der Tonintensität, mit dem 
ich diese Erörterung begann, eine gewisse Verwandtschaft haben. 
Eine nähere Ausführung dieser Dinge gehört indessen nicht . 
mehr in den Rahmen dieser Arbeit.^ 

An diesen Exkurs über die Gröfsenschätzung schUefsen sich 
von selbst einige Bemerkungen über die perspektivische Winkel- 
schätzung und den Einflufs, den wir auch hier der räumlichen 
Auffassungsform zusprechen müssen. Ich erwähnte weiter oben, 
dafs bei der räumlichen Auffassung des Rhombus die zwischen 
zwei anstofsenden Linien liegende Winkelfläche für unsere Auf- 
merksamkeit völlig zurücktritt und dafs es uns daher ganz un- 
möglich ist, zu gleicher Zeit ein Urteil über die Gröfse dieses 
Winkels zu gewinnen. Wir können diese negative Feststellung 
noch durch eine positive ergänzen: der Winkel erscheint uns 
während wir die Figur räumlich sehen, nicht als ein spitzer bzw. 
stumpfer Winkel von der Gröfse, wie er da gezeichnet wurde, 
sondern als rechter Winkel. Das heifst wiederum nicht etwa: 



^ DaTs aufserdem noch, wie man hier und da hehauptet hat, ein 
direkter Zusammenhang zwischen Entfernung des Objekts and wahr- 
genommener Bildgröfse bestehe, dafs also die Bildgröfse mit wachsender 
Entfernung des Objekts eine direkte physiologisch bedingte Vergröfserung 
erfalire, kann ich nur für durchaus unwahrscheinlich halten. Jedenfalls 
müfsten, um eine solche Behauptung zu rechtfertigen, neue experimentelle 
Tatsachen ins Feld geführt werden. 



Beiträge zur Psychologie der Baumwahrriehmung. 



193 



wir ^wisee»^, dafs rechte Winkel perspektivisch lEädi als Bpiüate 
oder Stümpfe zeigen, sondern wir glauben den rechten Winkel 
tu se-hen. Um diese Tatsache zu yerstehen, muTs man sich 
überzeugen, dafs dem rechten Winkel 4Üs solchen ebenfalls eine 
gane bestimmte Auffasstcngsform eignet. 

Um dies zu illustrieren, verweise ich (im Anschlufs an 
ScmiMAim) auf die drei Winkel in Figur 11 und 12. 



Fig. 11. 




Fig. 12. 

Beide Zusammenstellungen unterscheiden sich auf den ersten 
Blick dadurch, dafs in Figur 11 der rechte Winkel eine deutlich 
vom spitzen wie vom stumpfen Winkel unterschiedene eigenartig 
selbständige Winkelform neben jenen beiden darstellt, während 
in Figur 12 eigentlich nur die beiden Formen des spitzen und 
stumpfen Winkels deutlich unterschieden sind und der rechte 
Winkel nur als eine Übergangsform zwischen beiden erscheint; 
wir fühlen uns angesichts dieser Zeichnung gar nicht versucht, 
dem Winkel von 90® eine besondere Stellung einerseits gegen- 
über denjenigen von 30, 40, 50® imd andererseits gegenüber 
denen von 100, 120, 130® anzuweisen. Eine Folge dieser Tat- 
sache, auf die Bohumann aufmerksam macht, ist es, dafs wir in 
der Darstellung der Figur 12 den rechten Winkel schwer heraus- 
erkennen, er wird im allgemeinen als spitzer bezeichnet. 

Daraus ergibt sich zunächst, dafs die eigentümhche Auf- 
fassungsform, die den rechten Winkel als solchen auszeichnet, 

Zeitschrift für Psychologie 48. 13 



194 £ni«f V. Aster. 

nur zutage tritt, wenn wir dem Winkel die Lage der Figur 11 
geben. Diese Lage nun ist dadurch bezeichnet, dafs der eine 
der beiden Schenkel eine ausgesprochene vertikale, der andere 
eine horizontale Richtung einschlagt Das Hervortreten dieser 
Richtungen ist es, das unsere Auffassung des Winkels beherrscht; 
um ihretwillen sprechen wir davon, dafs im rechten Winkel die 
sich schneidenden Geraden ^aufeinander senkrecht stehen". Indem 
nun die Aufmerksamkeit sofort auf die Linien selbst und ihre 
entgegengesetzte Richtung gelenkt wird, tritt die Winkelfläche 
für unsere Auffassung vollständig zurück. Zugleich erhalten die 
beiden Schenkel des rechten Winkels eine relative Selbständigkeit 
auch gegeneinander. Dagegen erscheinen die Schenkel des spitzen 
sowohl wie die des stumpfen Winkels im wesentlichen nur als 
Begrenzungslinien der eingeschlossenen Winkelfläche und zugleich 
als durch diese Fläche aneinander gebunden. Die Auffassungs- 
form des rechten im Gegensatz zu der des spitzen und stumpfen 
Winkels zeichnet sich also dadurch aus, dafs die in ihrer diver- 
gierenden Richtung aufgef afsten und verselbständigten Seiten im 
Vordergrund des Bewufstseins stehen, während die Winkelfläche 
cwischen ihnen keine Rolle spielt. Dazu mag noch kommen, 
dafs der eine Schenkel als Vertikale aufgefafst — d. h. wie wir 
es bei Vertikalen zu tun pflegen, von unten nach oben durch- 
laufen wird, während die andere Linie dagegen die „ruhende" 
Horizontale darstellt. Tragen wir diese AuflEassungsform jetzt 
an die Winkel der Figur 12 heran, so gelingt es leicht, auch hier 
den rechten Winkel zu „sehen". 

Gehen wir nun zurück zum räumlich aufgefafsten Rhombus, 
so läfst sich leicht zeigen, dafs durch die räumliche Auffassung 
der tatsächlich spitze Winkel bei c bzw. der stumpfe Winkel bei 
a eine Auffassungsform erhält, die in allen Punkten der für den 
rechten Winkel charakteristischen Auffassungsform entspricht. 
Ich stellte, wie man sich erinnern wird, schon vorhin fest, dafs, 
wenn wir von der räumlichen zur ebenen Auffassung des Rhombus 
übergehen, die Winkelfläche, die vorher gänzlich unbeachtet blieb, 
als charakteristische Einheit heraustritt und die beiden Linien 
als Grenzlinien dieser Fläche erscheinen. Dafs für die räumliche 
Auffassung diese Linien auch gegeneinander verselbständigt sind, 
ergibt sich schon aus ihrer verschiedenen Richtung und aus der 
RoUe, die die Verschiedenheit dieser Richtung für unser Bewufst- 
sein spielt, wenn auch die vertikale hier durch die in die Tiefe 



Beiträge zur Psychologie der Raumwahmehmung. 195 

gehende Liide ersetzt wird. Endlich verlangt die Tiefenrichtung, 
wie die Vertikale, das sukzessive Durchlaufen. 

Die gemeinsame Auffassungsform nun macht es ohne weiteres 
verständlich, dafs der spitze Winkel in räumlicher Auffassung 
eben als rechter uns erscheint. Ebenso ergibt sich daraus, dafs 
eine besondere Schwierigkeit bestehen mufs, spitze Winkel als 
solche perspektivisch darzustellen. In der Tat wird in der per- 
spektivischen Ansicht ein spitzer Winkel nur glaublich, wenn 
eine starke Bewegung in die Tiefe schon gegeben ist, in die er 
hineingezogen wird ; wenn er also zu vorhandenen rechten Winkeln 
in Gegensatz tritt, da ja die räumliche Bewegung, wie wir ge- 
sehen haben, nur durch die perspektivische Darstellung rechter 
Winkel gewonnen werden kann. Andererseits liegt wieder eine 
gewisse Gefahr für den Zeichner oder Maler darin, dafs er Winkel, 
die in Wirklichkeit rechte sind, in allzu starker perspektivischer 
Verschiebung wiedergibt : es macht sich dann der ausgesprochen 
spitze oder stumpfe Winkel als Gegengewicht gegen die räum- 
liche Auffassung geltend, d. h. er legt dem Beschauer nahe, ihn 
eben als spitzen und stumpfen Winkel und nicht in der Weise 
des rechten aufzufassen. Das ist der Fall z. B. wenn ein Gebäude 
von einem zu nahen Standpunkt auf ebener Erde aufgenommen 
wurde. Ich erinnere an das bekannte „Stürzen" der Linien auf 
Photographien dieser Art, das eine so unangenehme Unsicherheit 
in die räumliche Auffassung hineinbringt. 

Mit dieser Winkelauffassung hängt endUch noch ein Punkt 
zusammen. Ich erwähnte mehrfach die in der Lehre von der 
Perspektive elementare Grundtatsache, dafs die für die räumliche 
Auffassung so wichtigen Horizontalen in perspektivischer Ansicht 
nicht mehr parallel, sondern gegeneinander geneigt gesehen 
werden. Auch hier besteht ein Gegensatz zwischen dem was 
wir wirklich sehen und dem, was wir zu sehen glauben: die im 
Oesichtsbild gegen den Horizont hin zusammenlaufenden Linien 
scheinen uns doch deutlich parallel zu sein. — Die Erklärung 
dieser Tatsache ist der für die Winkeltäuschung gegebenen genau 
entsprechend. Auch die parallelen Linien (speziell die horizontal 
oder vertikal gerichteten) haben eine bestimmte Auffassungsform 
die genau ebenso bei den perspektivisch gesehenen Linien trotz 
ihrer Neigung wiederkehrt. Schumann beschreibt diese Auf. 
fassungsform, indem er sagt, bei einem Paar vertikal oder hori- 
zontal gerichteter Parallelen seien die einander gegenüberliegenden 

13* 



196 Ernst V. A$ter. 

Punkte, die Endpunkte jeder auf beiden Parallelen eenkredit 
stehenden Verbindungdinie also, einander zugeordnet. Dieee 
Zuordnung besteht nun 2;wi8chen den entsprechenden Punkten 
der perspektivisch gesehenen Horizontalen genau so vermöge der 
Einheit, die die appereeptiv gleidiwertigen und simultan auf- 
gefarsten Punkte in der räumlichen Auffassung bilden. Objektiv 
ist diese Zuordnung angedeutet bew. angeregt dtu^ch jede Vertikale 
im Bilde '(vgl. die Ausführungen des vorigen Para^aphen). 

7. Die Entstehung der räumlichen Auffassungsform. 
Ihre Bedeutung für das binokulare Sehen. 

Im Aoschlufs an das im vierten Paragraphen gewonnene und 
in den letzten Abschnitten zur Verständlidimachung einer Reihe 
von Tatsachen benutzte Resultat drängt sich nun vor allen Dingen 
die Frage auf: wie kommen wir dazu, diese Auffassungsform 
als räumliche zu bezeichnen? Genauer gesagt: wie kommen 
wir dazu, wenn wir einem gegebenen Inhalt gegenüber diese 
Auffassung vollziehen, dem in der Behauptung Ausdruck zu 
geben, dafs wir nun den betreffenden Gegenstand, wie z. B. den 
Rhombus, räumlich sehen? 

Diese Frage ist eine Frage der genetischen Psychologie. 
Wir verlassen also mit ihr das im wesenthchen bisher einge- 
haltene Gebiet der reinen Beschreibung. 

Die Frage ist beantwortet, wenn es uns gelingt, zu zeigen» 
dafs für jeden wirküch dreidimensional ausgedehnten Gegenstand 
gerade diese Auffassungsform die natürliche ist oder dafs sie uns 
noch schärfer ausgedrückt durch einen solchen Gegenstand auf- 
gezwungen wird. Verhält sich dies so, ist jede Auffassung eines 
wirküch - räumlichen Gegenstandes notwendigerweise so und 
nicht anders beschaffen, dann ist es damit auch verständlich, 
dafs das Vorhandensein dieser Auffassungsform uns genügt, um 
von einer „Wahrnehmung" der dritten Dimension zu reden. Eine 
weitere Erklärung dieses Tatbestandes ist dann weder möglich 
noch erforderlich. — Dafs sich dies nun in der Tat so verhält, 
dafs diese von uns als räumlich bezeichnete Auffassungsform 
durch die Dreidimensionalität der betrachteten Gegenstände selbst 
direkt bedingt ist, läfst sich leicht einsehen. Ich brauche hier 
gröfetenteils nur an Dinge zu erinnern, die schon im Lauf dieser 
Abhandlung Erwähnung gefunden haben. 

Was zunächst das sukzessive Durchlaufen der sich in die 



Beiträge zur Psychologie der Baumtcah-nehmung. 197 

Tiefe erstreckenden linien a];igeht, so ist diese Tatsache un- 
schwer als notwendige Folge des binokularen Sehens zu begreifen. 
H&It man einen Federhalter so vor sich, dafs seine Länge direkt 
nach der Tiefe zuweist und betrachtet das Objekt mit beiden 
Augen, so sieht man bei starrer Fixation nur einen Punkt des 
Halters einfach, alle anderen doppeh ; wobei zugleich der erfolgten 
EUnsteUung wegen der einfach gesehene Teil der Linie an Schärfe 
und Deutlichkeit der Umrisse die anderen übertrifft. Will man 
also überhaupt eine solche Linie als £inheit in allen Teilen deut- 
lich und klar vor sich haben, so ist man auf das sukzessive Er- 
fassen angewiesen. Natürlich ist das sukzessive Durchlaufen in 
diesem Fall mit Augenbewegungen verbunden, es ist jedoch nicht 
weiter verwunderUch, dafs diese Augenbewegungen, wo sie nicht 
mehr notwendig sind, wie bei zweidemensionalen Darstellungen 
räumlicher Objekte durch die blofse Bewegung der Aufmerksam- 
keit ersetzt werden. Übrigens sind wir auch beim einäugigen 
Betrachten einer Linie, die sich in die Tiefe erstreckt, auf ein 
sukzessives Durchlaufen mehr oder minder angewiesen, da ja 
das Auge immer nur für den jeweilig fixierten Punkt akkommo- 
diert ist. 

Um die Tatsache zu verstehen, dafs wir uns gerade die 
Horizontalen eines räumlichen Gegenstandes aussuchen, um 
ihnen mit dem Bück zu folgen, muTs man sich zunächst gegen* 
wärtig halten, dafs die Horizontale schon in jedem reinen Flächen- 
bild eine sehr bedeutsame RoUe für unsere Auffassung spielt; 
sie ist für uns die wichtigste Orientierungslinie. Davon kann 
man sich bei jeder geometrischen Figur, wie schon bei jedem 
leeren Blatt Papier überzeugen. Die Figur steht auf der Hori- 
zontalen, gruppiert sich symmetrisidi um dieselbe, und zeichnen 
wir sie mit Willen oder au» Versehen so, dafs sie zur mafs- 
gebenden Horizontalen des Blattes oder der Tafel in keinem 
solchen Verhältnis steht, so erscheint sie dem Betrachter sofort 
ale schief, d. h. sie erhält eine ganz bestimmte Richtung für die 
Auffassung, in der sie sich erstreckt, und es fällt der Winkel 
auf, den diese Richtung mit der mafsgebenden Horizontalen 
bildet. (Eine einzige Ausnahme macht aus leicht verständlichen 
Gründen der Kreis, in dem kein Radius oder Durchmesser aus* 
gesogen ist.) Will man diesen Eindruck vermeiden, so bleibt 
nichts anderes übrig, als bewufst und absichtlich von den Kon« 
turen des Blattes, auf dem die Zeichnung sich befindet, zu ab« 



198 Ernst V. Aster. 

strahieren. Und wenn uns dies gelungen ist, so erscheint uns 
die „Richtung**, nach der sich die Figur vorher „erstreckte" und 
die mit der Horizontalen einen Winkel bildete, nunmehr selbst 
als Horizontale, auf der sich die Figur aufbaut oder um die sie 
sich gruppiert. Man kann diese Beobachtungen leicht nach- 
prüfen, wenn man ein Dreieck auf ein rechteckiges Stück Papier 
zeichnet — einmal so, dafs die eine Seite des Dreiecks mit der 
horizontalen Seite der Unterlage gleichgerichtet ist imd einmal 
so, dafs beide Richtungen divergieren. 

Spielen nun die Horizontalen in der Auffassung des in einer 
Ebene ausgebreiteten Bildes eine so wichtige Rolle, so müssen 
wir uns auch an diese Horizontalen halten, wenn wir uns im 
Raum orientieren wollen. D. h. genauer: wir sehen ein per- 
spektivisch verschobenes Bild, z. B. eine rechteckige Fläche in 
perspektivischer Ansicht. Sollen wir uns nun über das Gesehene 
überhaupt orientieren, sollen wir es richtig bestimmen, sollen wir 
es z. B. als rechteckige Fläche, d. h. als dasselbe wiedererkennen, 
was in einer Ebene gesehen dieses bestimmte uns wohlbekannte 
Aussehen zeigte, so müssen wir vor allem die Linien zu erfassen 
suchen, nach denen unsere Auffassung jenes ebene Grebilde „kon- 
struierte **. Das Heraussuchen der perspektivisch gesehenen Hori- 
zontalen also mufs entstehen, sobald wir uns mit Hilfe des 
Gesichtsbildes im Raum zu orientieren suchen, denn es ermög- 
licht allein ein unmittelbares Wiedererkennen der in einer Ebene 
gesehenen Bilder in der perspektivisch verschobenen Form. 

Auf den dritten Punkt, der die räumliche Auffassung 
charakterisiert, das Zurücktreten der spitzen oder stumpfen 
Winkelfläche, brauche ich hiemach wohl nicht näher einzugehen, 
es dient unmittelbar demselben Zweck der Orientierung im Raum, 
dem Zweck, dajs perspektivisch Gesehene dem entsprechenden in 
einer Ebene gesehenen Bild möglichst ähnlich zu machen. 

Um sich die Entstehung dieser Momente der Auffassungs- 
form anschaulich zu machen, denke man sich eine bestinunt um- 
rissene Fläche aus der ebenen allmählich in die perspektivische 
Ansicht übergeführt, etwa die vordere Seite eines Würfels, die 
man im Auge behält, während der Würfel gedreht wird. Die 
allmählich kontinuierliche Veränderung der Ansicht, die uns ver- 
anlafst, in dem sich Verändernden nicht verschiedenerlei, sondern 
eines und dasselbe zu sehen, führt uns ebenso unwillkürlich dazu, 
die charakteristischen Formen der langsam ihr Aussehen wechseln- 



Beiträge zur Psychologie der Baumwahmehmung, 199 

den Figur nach Möglichkeit festzuhalten bzw. das Veränderte 
(Winkelfonn) zu ignorieren. 

Was endlich das eigentliche Beachtungsrelief in der räum- 
lichen Auffassungsform betrifft, so braucht wohl keine besondere 
Erklärung dafür gegeben zu werden, daTs das Nähere innerhalb 
des Gesichtsbildes sich der Aufmerksamkeit in höherem Grade 
aufdrängt als das Entferntere. Schon die gröfsere Schärfe und 
Deutlichkeit der Umrisse, die gröfsere Masse der Erscheinung 
in der Nähe und das allmähliche Verschwimmen von Farbe und 
Form in der Feme mufs ja dahin wirken. Wie sehr uns dies 
Verhältnis selbstverständhch geworden ist, sieht man daraus, 
dafs wir das doch von räumlichen Verhältnissen hergenommene 
Bild des ^Hintergrundes'' auch in Fällen anwenden, in denen 
wir wissen, dafs es sich um keinen räumlichen Unterschied, 
sondern nur um den Gegensatz des Beachteten imd Unbeachteten 
bzw. des mehr oder minder Beachteten handelt : im Schachbrett, 
sagen wir, heben sich die weifsen Felder vom schwarzen Hinter- 
grunde ab u. dgl. m. 

Endlich möchte ich hervorheben, dafs auch für das Zustande- 
kommen der räumlichen Beachtungsreliefs das Sehen mit zwei 
Augen ein günstiges Moment darstellt. Man stelle einen Würfel 
so vor sich hin, dafs die vordere Fläche sich gerade in der Mitte 
des Gesichtsfeldes befindet. Dann sieht bekanntlich das linke 
Auge noch ein Stück der linken, das rechte ein Stück der rechten 
Seitenfläche. Daher sind, wenn wir mit beiden Augen sehen, 
rechte wie linke Seitenfläche ein wenig sichtbar. Aber beide 
gehören nur dem Gesichtsfeld je eines Auges an und erhalten 
daher gegenüber dem scharfen, deutlich und klar hervortretenden 
Bild der beiden Augen sichtbaren Mittelfläche etwas Unsicheres, 
Schwankendes, Verwaschenes. Ein Unterschied in der Beachtung 
ist die notwendige Folge. 

Das Resultat der bisherigen Untersuchung dieses Paragraphen 
können wir, denke ich, kurz dahin zusammenfassen, dafs die 
Wahrnehmung räumlich ausgedehnter Gegenstände, insbesondere 
wenn wir hinzunehmen, dafs diese Wahrnehmung mit beiden 
Augen geschieht, diejenige Auffassungsform, die wir in den 
vorhergehenden Abschnitten als spezifisch räumliche erkannt und 
bezeichnet haben, tatsächlich notwendig macht. 

Hier ist nun der Ort, noch einmal auf die Position des 
Nativismus und auf seinen Gegensatz zum Empirismus 



200 £m9f V, A^ttr. 

zurückzukommen^ von dem ich- im Anfang dieser Abhandlung 
ausgegangen bin. 

Per Nativismua behauptet, wie man sieh erinnern wird, das 
Vorhandensein einer beeonder^i Tiefenempfindung beim 
binokularen Sehen, physiologisch bedingt durch die Verschieden- 
heit der Bilder auf beiden Netzhäuten. Mit Recht kann sich 
der Nativismus für diese Behauptung auf zwei Dinge berufen: 
auf den Umstand, daCs wir durch zwei Augen zweifellos ein 
deutlich plastischeres Bild des Gegenstandes erhalten als wir es 
haben, wenn wir das eine Auge sehliefsen, und die damit zu- 
sammenhängende experimentell bestätigte Tatsache, dafa unser 
Urteil über räumliche Entfernungen beim binokularen Sehen ein 
sehr viel sichereres und genaueres ist. Die Schwäche seiner 
Position bleibt dagegen für den Nativismus, daCs seine Tiefen^ 
empfindung immer etwas Hypothetisches behält; wür erfahren 
nicht recht, worin sie denn nun eigentlich bestehen soll. 

Im Ansdilufs daran möchte ich zum SehluTs wenigstens die 
Möglichkeit andeuten, auch die Tiefenempfindung des Nativismus 
ganz durch die räumliche Auffassungsform zu ersetzen. Der 
Vorzug, den das Gesichtsfeld beider Augen vor dem einäugigen 
hat, bestände dann nur noch darin, dafs erstere der räumlichen 
Auffassungsform günstigere Anhaltspunkte darbietet. Welches 
diese unterstützenden Momente im einzelnen sind, darauf brauche 
ich hier nicht noch einmal zurückzukommen. Ihre durch die 
Gewohnheit unterstützte Wirkung bestände darin, dals uns an* 
gesichts des binokularen Gesichtsfeldes ein simultanes Erfassen 
des Gregebenen, eine andere als die spezifisch räumliche Zu« 
sammenordnung und Beachtung so gut wie unmöglich ge* 
macht würde, dafs also die räumUche Auffassungsform in ganz 
besonderem Mafse an dem Gesehenen selbst zu haften schiene, 
für unser Bewufstsein als unabtrennbare Eigenschaft zu ihm 
gehörte. Als Gegensatz könnte man hinzufügen, dafs beim 
Sehliefsen des einen Auges im Gegenteil die Vermeidung der 
räumüchen Auffassung in gewisser Weise erleichtert werde : Das 
gleichmäfsig dunkle Gesichtsfeld des geschlossenen Auges spielt 
ja für uns während der Betrachtung auch eine gewisse Rolle, 
es wirkt ähnlich wie ein leichter Schleier, den wir über das Ge- 
sehene breiten und der die gleichmäfsige Verbindung und simul* 
tane Erfassung aller Teile desselben erleichtert. Dazu kommt 
die plötzliche Verkleinerung des Gesichtsfeldes, die in derselben 



Beiträge zur Psychologie der Baumicahmehmung. 201 

Richtung wirkt. Eine Bestätigung dafür läge in der Beobachtung, 
dab, weim wir das eine Auge schliefsen, das Gesichtsbild uns 
meist nicht sofort, sondern erst nach einer kleinen Weile flacher 
erschBint: die Änderung der Auffassungsform stellt sich erst 
allmählich ein. 

Nicht verschweigen will ich, dafs ich in dieser Vermutung 
lebhaft bestärkt worden bin durch das vor nicht allzu langer 
Zeit von der Firma Zeifs in Jena unter dem Namen „Verant" 
in den Handel gebrachte Stereoskop für das einäugige Sehen. 
Ohne mich auf eine nähere Beschreibung des für die Psychologie 
recht bedeutsamen Instruments hier einlassen zu wollen, bemerke 
ich nur, dafs man in dem Apparat die Photographie einer Land- 
schaft oder eines Gebäudes durch eine lanse betrachtet. Diese 
Linse ist so konstruiert und vor die Photographie gebracht, dafs 
wir ein virtuelles verzeichnungsfreies Bild derselben erhalten, 
und zwar wird dieses Bild dem Auge tmter denselben Umständen 
(Schatten, Gröfse, Deutlichkeit) dargeboten, unter denen es vom 
Orte des Aufnahmeobjektivs aus die Gegenstände selbst erblicken 
würde. Der Erfolg zeigt nun^ dafs wir durch den Veranten mit 
eiaem Auge ein geradezu frappant plastisches Bild des Geseheneu 
erhalten. Ich weifs nicht, wie sich die nativistische Theorie mit 
diesen Beobachtungen abfinden will: nur dadurch, dafs der 
Photographie gegenüber die gleichen Bedingungen geschaffen 
werden, unter denen das Auge beim Anblick der Objekte selbst 
steht, steigt der plastische Eindruck derart auffallend. Übrigens 
sprechen die Beobachtungen durch den Veranten ebenso wie 
gegen die Tiefenempfindung auch gegen den EinfiuTs von be- 
sonderen Konvergenz- und Akkommodationsempfindungen, auf 
die der bisherige Empirismus bekanntlich mehr oder minder 
Wert legte, und die im übrigen mit der nativistischen Tiefen- 
empfindung den Nachteil des Hypothetischen gemeinsam haben. 
(Damit ist natürlich nichts gesagt gegen die durch die jeweilige 
Konvergenzstellung oder Akkommodation der Augen bedingten 
Faktoren des Gesichtsbildes selbst: sie können sehr wohl raum- 
gebende Bedeutung haben, d. h. zur räumlichen Auffassung ver- 
anlassen, wie das ja weiter oben für das Doppeltsehen genügend 
betont wurde.) 

Besonders interessant ist ferner der folgende Verantversuch, 
den mir Herr Prof. Schümann vor kurzem bei einem Besuche 
des Berliner Instituts zeigte. Bringt man vor jedes Auge eine 



202 Enist V. Äster. 

Verantlinse, so kann man nun den beiden Augen zwei genau 
identische Photographien darbieten und erhält trotzdem sofort 
den vollen plastischen Eindruck. Wäre die Tiefenempfiindung 
ursprünglich an das Sehen mit disparaten Netzhautstellen ge« 
bunden, so müfste beim erstmaUgen Sehen mit identischen Stellen 
ein Hindernis für die Tiefenwahmehmung gegeben sein, das 
höchstens durch Übung überwunden werden könnte. Tatsächlich 
stellt sich aber das plastische Sehen sofort bei der ersten Be- 
trachtung ein. 

Positiv gesprochen scheint mir aus den Verantversuchen mit 
Sicherheit hervorzugehen, dafs in bezug auf die Tiefenwahr* 
nehmung zwischen monokularem und binokularem Sehen nur 
ein relativer Unterschied besteht. Ein solcher aber liefse sich 
wohl auf die oben angegebene Art erklären. 

Nehmen wir dies an, so ergibt sich in grofsen Zügen etwa 
folgendes Bild einer Entstehung der Tiefenwahmehmung durch 
den Gesichtssinn. 

Gegeben ist uns das Gesichtsfeld als zweidimensional aus* 
gedehnte Mannigfaltigkeit. Gehen wir nun aus von einem be- 
stimmten in diesem Gesichtsfeld gegebenen Inhalt — ich wähle 
als Beispiel die vordere Fläche eines Würfels — , so lernen wir 
durch bestimmte Erfahrungen das Gesehene als ein räumhch 
ausgedehntes, als einen im Raum, also nach drei Dimensionen 
verschiebbaren Gegenstand kennen. Die Erfahrungen, durch die 
wir diese Einsicht gewinnen, bestehen darin, dafs, wenn wir 
bestimmte Bewegungen unseres Körpers ausführen, das gesehene 
Quadrat sich in eine Reihe bestimmter anderer Bilder — schief- 
winkliger parallelogrammartiger Figuren, die durch die wechselnde 
Beschattung zugleich einen bestimmten Farbcharakter erhalten — 
verwandelt, die wir sämtlich als verschiedene Ansichten, Er- 
scheinungen oder wie man sich nun ausdrücken will „desselben** 
Gegenstandes betrachten. Ein Gegenstand im dreidimensionalen 
Raum ist ein Gegenstand, um den wir „herumgehen" oder den 
wir von verschiedenen Seiten anschauen können. Indem wir 
nun diese Erfahrungen machen, streben wir danach, uns im 
Raum zu orientieren, d. h. in den perspektivischen Ansichten 
das ursprüngliche Quadrat unmittelbar wiederzuerkennen, ohne 
erst eine Drehung oder Bewegung des Körpers ausführen zu 
müssen. Aus diesem Streben ergibt sich von selbst, wenn wir 
die Eigentümlichkeiten des binokularen Gesichtsfeldes (Doppel- 



Beiträge zur Psychologie der Raumwalimehmung, 203 

bilder; relative Undeutlichkeit des nur mit einem Auge Ge- 
sehenen usw.) noch hinzunehmen, die eigentümhche Auffassungs- 
form, von der hier die Rede war. Den einfachen Gesetzen der 
Assoziation gemäfs wirkt endlich, nachdem wir einmal diese 
Erfahrungen gemacht haben, wie ich sie hier am Beispiel der 
Würfelfläche geschildert habe, in Zukunft eine solche parallelo- 
grammartige Figur als „indirektes Raumkriterium ^ und es stellt 
sich daher bei ihrem Anblick sofort auch die räumliche Auf- 
fassungsform wieder ein. 

Indem sich nun diese Auffassungsform für die Wahrnehmung 
räumlich ausgedehnter Gegenstände notwendig herausstellt, wird 
sie zum Zeichen oder Merkmal dieser räumlichen Ausdehnung. 
D. h., wo sich diese Auffassungsform uns aufdrängt, „wissen" 
wir, das Gesehene ist räumlich; und geben diesem Wissen in 
entsprechendem praktischen Verhalten oder in entsprechenden 
Urteilen Ausdruck. Dabei kann es freilich sein, dafs wir das 
deutliche Bewufstsein der „Subjektivität" diese Auffassungsform 
haben, das Bewufstsein, dafs wir sie absichtlich hervorgerufen 
haben. Dann fällt jenes Wissen fort — anstatt zu sagen, der 
Gegenstand sei räumlich, sagen wir dann : wir sehen ihn — will- 
kürUch — räumlich ; wie es bei unserem Rhombus der Fall war. 
Endhch kann es vorkommen, dafs das unmittelbare Bewufstsein 
ans die räumliche Auffassungsform nicht als willkürlich, sondern 
als im Gegenstand selbst liegend erkennen läfst; die Erfahrungen 
aber, für die dies Erlebnis Zeichen oder Merkmal ist, stellen 
sich nicht ein, wir können von dem Gegenstand nicht von ver- 
schiedenen Seiten die entsprechenden verschiedenen Ansichten 
gewinnen oder wissen im Voraus, dafs dies nicht der Fall sein 
wird, dafs der Gegenstand also nur flächenhaft ausgebreitet ist. 
In diesem Fall reden wir von räumücher Illusion, unter be- 
sonderen Umständen von räumlicher Darstellung. 

(Euigegangen am 6. Juli 1906.) 



204 



(Aus dem psychologischen Institut der Universität Göttingen.) 

Über subjektive Mitten verschiedener Farben auf 
Grund ihres Kohärenzgrades. 

Von 

Siegfried Jacobsohn, (f ) 
(Schlafs.) 

§18. Die Faktoren, welche im Sinne derBeharrungs- 

tendenZjUnddie jenigen, welche in entgegengesetzter 

Richtung wirken. 

Ich komme zu den Faktoren, welche teils im Sinne des 
Festhaltens an dem biaher gefällten Urteile, im Sinne der sog. 
Beharrungstendenz, teils in entgegengesetzter Richtung wirken.^ 
Ich beginne mit den letzteren. 

Die Erwartung * gleicher Kohärenz auf beiden Seiten spielte 
bei meinen Versuchen keine sehr grofse Rolle. Dennoch hatten 
die Beobachter frühzeitig das Gefühl, in der kritischen Zone, 
d. h. nahe der SteUe, an der sie das Urteil „unentschieden^ 
fällen müfsten, zu sein. Um sie nicht vom Anfang eines Ver- 
suches an unsicher zu machen, und um zu verhindern, dafs sie 
aus „Besorgnis, die Grenze zu überschreiten^ (K. K.), aus „Furcht, 
sich zu verrennen" (M.) das Urteil „unentschieden" zu früh ab- 
gäben, mufste bei jedem Versuche immer sehr weit entfernt von 
der Zone der Unentschiedenheit mit dem auf- oder absteigenden 
Verfahren begonnen werden. Bei der Annäherung an die Gegend 
des „unentschieden" bemerkte der Beobachter dann, wenn er 

* Auf die Ausführungen auf S. 93, nach denen die Angleichung in 
einer dieser beiden Richtungen wirkt, falls die Versuchsperson nicht die 
Gegenprobe macht, sei hier verwiesen. 

■ Über den Einflufs derselben bei Angells Versuchen s. S. 88. 



über subjektive Mitten ^r8ö?iied, Farben auf Gr%md ihres Kohärenzgrades. 205 

auch schon zu Anfang des Versuches in der kritischen Zone zu 
sein geglaubt hatte, immer deutlicher, dafs der Unterschied der 
Kohlüfenzgrade beider Beiten doch noch ziemlich grofs sei. Die 
Änderangeln, welche der Versucfasieiter an der mittleren Scheibe 
Yomabm, durften jedesmal nur klein sein, weil die Versuche' 
person sonst unsicher wurde und infolgedeasen das Urteil „\m* 
entochieden'^ zu früh hätte abgeben können. M. z. B. erklärte^ 
er bereue sofort, wenn er zw^mal hintereinander „viel kleiner*' 
gesagt habe, er gewinne dadurch gar nidit an Zeit^ weil er 
nach der dann vorgenommenen gröüseren Veränderung der 
msMeren Scheibe erst sehr lange prüfen müsse. Natürlich war 
die Stufengröfse in der kritischen Zone am kleinsten, doch da 
dieselbe ziemlich grofs war, glaube ich nicht, dafs die Versuchs- 
personen auf Grund der Verminderung der Stüfeugröfse „unenir 
schieden^ urteilen konnten, eher mögen sie darin einen Ansporn 
zu noch sorgfältigerer Prüfung empfunden haben. Die Aus- 
führung eines Versuches stellte an die Ausdauer und Aufmerk- 
samkeit der Versuchspersonen mehr als gewöhnliche Anforde- 
rungen. Bei Versuchspersonen, die denselben nicht gewachsen 
sind, kann es leicht geschehen, dafs sie, um endlich mit einem 
Versuche fertig zu werden, „unentschieden" sagen, bevor sie bei 
sorgfältiger Prüfung dazu berechtigt wären. Diese Gefahr ist 
um so gröfser, je stärker die Ermüdung der Versuchspersonen 
ist. Am Schlüsse der Sitzung war die Ermüdung der Beob- 
achter oft recht beträchtlich, und wenn auch die subjektive 
Sicherheit des Urteils bei Ja. im Laufe der Sitzung zuzunehmen 
pflegte, so fühlte sich dagegen Sch., zumal als im Sommer grofse 
Hitze im Dunkelzimmer herrschte, durch das Urteilen so ange- 
strengt, dafs er trotz einer Erholungspause nur mit grofser Un- 
sicherheit am Ende der Sitzung zu urteilen imstande war. In- 
folge der Ermüdung war es unmöglich, die Versuche allgemein 
noch länger, als es schon geschah ^, auszudehnen, um mehr Urteile 
an jedem Versuchstage zu erhalten. 

Entgegen den im vorstehenden genannten Faktoren wirken 



* Wenn ein Beobachter das Urteil „viel kleiner" gefällt hatte, wurde 
an der mittleren Scheibe eine gröfsere Veränderung vorgenommen, als wenn 
er nur „kleiner** gesagt hatte. 

• Je nach der Schwierigkeit des Falles und dem Charakter der Ver- 
suchspersonen dauerten die 8 Doppel versuche V« bis l'/i Stunden, die vier 
bei Herrn Professor M. im Maximum 55 Minuten. 



206 Siegfried Jacobsohn, (f) 

folgende im Sinne des Festhaltens an dem bisher gefällten 
Urteile. 

1. Es bildet sich dadurch, dafs zwei Scheiben im Gegensatz 
zu den beiden anderen — die mittlere Scheibe ist hierbei doppelt 
gezählt — bis zur Erreichung eines gewissen Punktes sozusagen 
von selbst zusammentreten, eine gewisse Übung heraus, gerade 
diejenigen, welche anfänglich leichter zusammengingen, auch 
dann noch leichter zusammenzufassen, wenn es ohne diesen 
Übungsfaktor nicht mehr der Fall wäre.^ Dieser Einflufs der 
Übung wird noch dadurch gesteigert, dafs die beiden Scheiben 
geringerer Kohärenz zu Anfang eines Versuches oft überhaupt 
nicht als Paar aufgefafst werden. „Wenn zwei Scheiben sehr ähn- 
lich sind", erklärte C-, „so urteile ich vorschriftswidrig oft, indem 
ich nur diese beiden zusammenfasse, ohne den Unterschied der 
anderen beiden messend beachtet zu haben".* 

Ebenso meinte Ka.: „Wenn man das Urteil schnell abgibt, 
betrachtet man hauptsächlich die beiden Scheiben, welche sich 
leichter zusammenfassen lassen," und Sch. erklärte, als sich zu 
Anfang eines Versuches die beiden linken Scheiben am leich- 
testen kollektiv vereinigen liefsen: „In diesem Falle werde ich 



* K. K. empfand diesen Einflufs der Übung, denn er sagte: „Ich bin 
gewohnt, von den einander am nächsten stehenden Farben auszugehen, sie 
bilden einen gewissermafsen einheitlichen Komplex, der zwar im Laufe 
des Versuches allmählich uneinheitlicher wird, aber eben, weil ich immer 
von ihm ausgehe, nicht in dem Mafse, als mir der andere einheitlicher 
wird.** Das würde wohl bewirken, meinte er, dafs sich seine Urteile im 
auf- und absteigenden Verfahren kreuzen; denn er sei „sich bewufst, dafs 
es ihm durch die Gegenprobe, die er stets mache, nicht vGllig gelinge, 
diesen Einflufs zu vermeiden". 

' In ähnlicher Weise äufserte sich S. J. 

' Wenn C. hinzufügte: „Meine Urteilsausdrücke beziehen sich daher 
immer auf das Paar mit dem anfänglich kleineren Unterschiede/' so ist zu 
bemerken, dafs sich die ausschliefsliche Anwendung des Ausdruckes „kleiner" 
(„rechts kleiner" oder „links kleiner**) bei ihm erst allmählich herausgebildet 
hatte, wenn auch seine Bevorzugung frühzeitig eingetreten war. Ebenso 
war es Sch. ergangen. Dagegen brauchte Ka. mit wenigen Ausnahmen am 
Anfang des Versuchszyklus stets den Ausdruck „gröfser" („rechts gröfser" 
oder „links gröfser"), jedoch nach Einführung der Ausdrücke „schwerer" 
und „leichter" stets den Ausdruck „leichter**. Die oben angeführte Be- 
merkung von Ka. ist bei Benutzung des Ausdruckes „leichter** gefallen. 
IL, K. K. und M. bedienten sich ausnahmslos der Ausdrücke „kleiner* und 
^leichter**, A. und Ja. ebenso ausnahmslos des Ausdrucks „gröfser**. 



über snbjeklive Mitten verschied. Farben auf Crrund ihres Kohärenzgrades. 207 

mir gar nicht bewufst, dafs das rechte Farbenpaar schlecht zu- 
sammenzufassen geht, sondern die linken beiden Scheiben 
treten einfach zusammen.^ Man erklärt also oft zu Anfang eines 
Versnches den Kohärenzgrad des einen Paares für gröfser, nur 
weil die Seitenscheibe des anderen Paares vollkommen heraus* 
fällt. Dieser dem Einflüsse des absoluten Eindruckes verwandte 
Vorgang beschränkt die Übung im Zusammenfassen der beiden 
Scheiben geringerer Kohärenz. 

2. Bei der Annäherung an die Gegend der Unentschiedenheit 
schwanken die Versuchspersonen häufig frühzeitig, ob die Schwierig- 
keit des Zusammenfassens bei dem einen Paare ebensogrofs wie 
bei dem anderen oder gröfser als bei diesem sei; dafs sie aber 
nicht kleiner sei, können sie mit Sicherheit angeben. Wäre es 
in solchem Falle gestattet, „unentschieden" zu urteilen, so würde, 
da bei dem auf- und bei dem absteigenden Verfahren das Urteil 
„unentschieden" verhältnismäfsig früh gefällt wurde, der Bereich 
dieses Urteiles allzugrofs sein. Deshalb bestimmte die Instruktion, 
dafs dieses Urteil nur abgegeben werden dürfe, wenn die Ver- 
suchsperson völlig im unklaren darüber wäre, auf welcher Seite 
möglicherweise eine gröfsere Kohärenz bestände. Diese Instruktion 
kann in Verbindung damit, dafs die Versuchsperson im Verlaufe 
des Versuches die Annäherung an die s. M. zunehmen sieht, den 
Beobachter veranlassen, selbst in Fällen beginnender Unsicherheit, 
mit dem Urteil „unentschieden" noch zurückzuhalten in der 
Hoffnung, den Punkt der Kohärenzgleichheit später noch besser 
zu treffen.^ 

3. Diese Hoffnung findet gelegentlich eine Unterstützung 
durch „das Bewufstsein, dafs man voriges Mal mit mehr Be- 
friedigung „unentschieden" gesagt hat." Daher wartet die Ver- 
suchsperson jetzt länger mit diesem Urteil „um mit der alten 
Befriedigung „unentschieden" sagen zu können" (C). 

4. Von dieser Art der Beharrungstendenz, die aus dem „Be- 
dürfnis der Versuchsperson, sicher abzuschlielsen" (M.), hervor- 
geht, ist wohl zu unterscheiden diejenige, welche aus Nachlässig- 
keit entspringt. 



^ Die Erwägnng, ob nicht bei einer weiteren Veränderung der mittleren 
Scheibe die Kohftrenzgleichheit beider Seiten noch besser getroffen würde, 
kehrte, trotz des Bestrebens, ansschliefslich den gegebenen FaU zu be- 
urteilen, bei C. häufig wieder. 



208 Siegfried Jacdbsohn. (f) 

5. Diejenige Seitenscbeibe , welche sieb am Anftmg einei 
Verßtiches am schwersten mit der mittleren Sdieibe koUektiv 
auffassen läTst, fällt durch ihren grofsen qualitativexi Unterschied 
von den beiden übrigen Scheiben leicht sehr anf . Sie f&ilt um 
so mehr auf, als die mittlere Scheibe dadurch, dafis scie xu Anfang 
jedes Versuches qualitativ der anderen Seitenscheibe nAber steht, 
auf der ihr qualitativ femer stehenden besonders gut sichtbar 
die Kontrastfarbe hervorruft. Da nun, wenn eine Seitenacheibe 
besonders auffällt, ihr die mittlere Scheibe zur Erreichung der 
Kohärenzgleichheit sehr angenähert werden muüs \ so wirkt der 
Umstand, daTs sich die eine Scheibe qualitativ allein stellt, dabiii, 
dafs das Urteil „unentschieden^ verhältnismäfsig spät gefällt 
wird.* 

Die im Sinne der Beharrungstendenz wirkenden Faktoren 
waren bei meinen Versuchen nicht selten von gröfserem Ein- 
flüsse als diejenigen, welche in entgegengesetzter Bichtung wirkten. 
So war die Kreuzung der bei dem auf- und absteigenden Ver- 
fahren gewonnenen Werte deutlich ausgeprägt bei Herrn Professor 
Müller, der gewifs sehr vorsichtig und langsam urteilte und 
selbst erklärte, er würde nicht so viel Zeit zum Urteil brauchen, 
wenn er nicht die Beharrung in der kollektiven Auffassung 
fürchtete. Dieses Beispiel zeigt am besten, dafs die „Beharrungs- 
tendenz" bei diesen Versuchen anders beurteilt werden muls als 
bei dem Heben von Gewichten und manchen anderen Versuchen. 

§ 19. Die Faktoren, welche die Gröfse der mittleren 

Variation bestimmen. — Das Gedächtnis. 

Könnte man die s. M. ohne Fehlerquellen mit idealer G^ 

nauigkeit bestimmen, so müfsten die Resultate der Versuche auf- 

und absteigender Art um einen mit der Unterschiedsschwelle 

^ 8. S. 88ff. 

' Entsprechend gab Ka., als er Unterschiedsgleichungen zwischen 360® 
Karmin und (270« Grün Nr. 3 + 90« Karmin) anstellte, an: Ist die mittlere 
Scheibe „ursprünglich der roten Seitenfarbe sehr ähnlich, so bleibt das 
betreffende Urteil länger bestehen, als wenn man von der entgegengesetzten 
Seite kommt. Das liegt daran, dafs einem dann das Grünliche im Gegen- 
satz tVL den beiden roten Scheiben als besonders auffällig in die Augen 
springt. Andererseits, wenn die mittlere Scheibe ursprünglich selbst der 
grünen nahe steht, so springt die rote Scheibe wegen ihrer starken Farbig* 
keit besonders in die Augen, man mufs sich deshalb mit der Farbt^eit 
der Mitte ihr sehr annähern". 



über subjdctive Mitten verschied, Farben auf Gnmd ihres Kohärenzgrades, 209 

wachsenden Betrag voneinander abweichen. Da die Unterschieds- 
schwelle bei Farbenschwachen gröfser als bei Farbentüchtigen 
ist, mülste die Variation bei jenen gröfser als bei diesen sein. 
Bei Mischung einander sehr ähnlicher Farben müfste sie eben- 
falls gröfser sein als bei Mischung sehr unähnlicher Farben, da 
bei jenen die Unterschiedsschwelle gröfser als bei diesen ist.^ 
Prinzipiell liefse sich dagegen allerdings die Möglichkeit geltend 
machen, dafs es eine Reihe von Nuancen der mittleren Farbe 
geben könnte, die, obwohl sie ganz verschieden aussähen, sich 
gleich leicht mit den beiden Seitenfarben vereinigen liefsen. 
Diesen Fall sollte man daran erkennen, dafs keine Kreuzung der 
Urteile eintritt und die Variation, wenn man die Versuche des 
auf- und absteigenden Verfahrens zusammenf afst, besonders grofs 
ist. Bei meinen Versuchen scheint dieser Fall nicht eingetreten 
zu sein, es fand vielmehr häufig Kreuzung der Urteile statt. 

Räumliche Ungleichmäfsigkeiten der drei Scheiben, wie sie 
in der Auffassung derjenigen Versuchspersonen bestehen, bei 
denen die drei Scheiben je nach dem Grade ihrer Eindringlichkeit 
Terschiedene scheinbare Entfernungen vom Beobachter besitzen, 
müssen ebenso wie der Wechsel in der Stärke der Nachbilder 
und des Kontrastes zur Steigerung der V^ariation beitragen, weil 
sie das Urteilen erschweren. Da alles, was das Urteilen er- 
schwert, auch bei den gewissenhaftesten und nicht ermüdeten* 
Versuchspersonen eine Zunahme der Variation bewirkt, ist es 



' Aus dem oben genannten Grunde kann man daraus, dafs die mittlere 
Variation bei einer ünterschiedsgleichung gröfser ist als bei einer anderen, 
Ton derselben Versuchsperson hergestellten Unterschiedsgleichung, nicht 
achliefsen, dafs auch die Schwierigkeit des Urteilens bei jener Ünterschieds- 
gleichung gröfser als bei dieser ist. Nur wenn die zur Herstellung der 
8. M. dienenden Farben dieselben geblieben sind, kann die Zu- oder Ab- 
nahme der Gradzahl der mittleren Variation bei ein und derselben Ver- 
suchsperson zur Orientierung darüber dienen, ob die Schwierigkeit des 
Urteilens zu- oder abgenommen hat. Natürlich darf man auch dann nur 
mit Vorsicht Schlüsse über die Schwierigkeit des Urteilens aus der Gröfse 
der mittleren Variation ziehen, weil bei einem Wechsel der Lage der s. M. 
die ünterschiedssch welle nicht dieselbe bleibt. 

' Bei M. fanden die Versuche, da er am Tage keine Zeit hatte, abends 
zwischen 8V4 und 10 V2 Uhr statt; er war dabei sehr abgespannt. Bei den 
anderen Beobachtern war die Versuchszeit nach Möglichkeit so festgesetzt, 
da£B die Versuchspersonen während derselben möglichst wenig ermüdet 
waren. 

Zeitacbrift ftir Psychologie 43. 14 



210 Siegfried Jacobsohn, (f) 

von Wichtigkeit zu wissen, wann das Urteilen am schwierig- 
sten ißt.^ 

In der vorliegenden Literatur ist, ohne dafs über den Urteils- 
modus Näheres mitgeteilt wird, vielfach angegeben, daTs die Ver- 
gleichung übermerkUcher Empfindungsunterschiede bei sehr 
kleinen und sehr grofsen Unterschieden besonders schwierig ist.* 
Ebenso erklärte der Beobachter C. bei meinen Versuchen an 
Tagen, an denen ihm das Zusammenfassen je zweier Farben 
sehr leicht wurde, dafs er, eben weil ihm auf beiden Seiten 
das Zusammenfassen auffallend leicht falle, ziemlich unsicher 
sei beim Vergleichen der Schwierigkeiten des Zusammenfassens. 
Er fügte hinzu : „Bei dem anderen, heute nicht vorgekommenen 
Extrem, wo die Zusammenfassung zweier Farben sehr schwer ist, 
besteht eine ganz ähnliche Schwierigkeit des Vergleichens." 

Zu einem teilweise anderen Resultate bezüglich der Schwierig- 
keit des Urteilens gelangten K. K. und S. J.' Als sie Unter- 
schiedsgleichungen anstellten, bei denen infolge allmähhch 
wachsenden Ersatzes der einen Seitenfarbe durch die andere der 
Unterschied der beiden Farben, zwischen denen die s. M. zu 
finden war, immer mehr verkleinert wurde — so kleine Unter- 
schiede, wie Neiglick in Anwendung zu bringen suchte, kamen 



^ Infolge der Unterschiede in der Schwierigkeit des Urteilens teilten 
meine Versnchspersonen C, Ka. und Soh. wiederholt unabhängig voneinander 
die Unentschiedenheitsurteile in zwei Klassen, nach C.s Ausdruck in 

1. „solche mit Befriedigungscharakter,'' d.h. solche, die „mit dem Ge- 
fühle der Befriedigung darüber" verbunden sind, „dafs man den Punkt 
getroffen hat, an dem sich die beiden Seiten gleich leicht susammenfassen 
lassen" ; 

2. „solche, mit gequältem Charakter," d. h. solche, die verbunden sind 
„mit dem quälenden Gefühle, dafs man nicht weifs, wie man urt-eilen soll 
und nur aus Verzweiflung „unentschieden" urteilt'*. 

" Vgl. z. B. betreffs kleiner Unterschiede im Gebiete des Gesichts* 
Sinnes Neiglick in Philos. Studien 4, 8. 54 und Amrnt ebenda 16, S. 169, be- 
treffs grofser Unterschiede in demselben Gebiete Nbiolick ebenda 4, S. 44, 
betreffs des Tongebietes Stumpf in Zeiischr. f. Pgychol u. Physiol. 1, 8. 420, 
sowie seine Tonpsychologie S. 129, betreffs des Zeitsinnes bei kleinsten 
Intervallen Meümann in Philos. Studien 9, 8. 266. 

* Bei den Unterschiedsgleiehungen, welche diese beiden Beobachter 
herstellten, kamen einerseits kleinere (s. die in den §§ 3 und 5 aufgeführten 
Versuche), andererseits wohl auch gröfsere (s. die im § 6 aufgeführten Ver- 
suche) Farbenunterschiede vor als bei allen anderen Unterschiedsgleichungen, 
die ich herstellen liefs. 



über subjektive Mittai verschied. Farben auf Orund ihres Kohärenzgrades. 211 

bei meinen Versuchen nicht vor — , fiel K. K. das Urteilen 
immer leichter, je kleiner die Unterschiede wurden.^ Als dagegen 
bei der Herstellung einer s. M. unter Benutzung einer auf den 
Seitenkreiseln nicht vorhandenen Farbe die Unterschiede der 
Farben sehr grofs wurden, erklärte K. K. nicht nur das Urteilen 
für „unheimlich schwer*'*, für „eine Marter", sondern er erklärte 
sich schliefslich sogar bei Anwendung der Kohärenzmethode 
aufserstande , „ein überzeugtes Urteil zu fällen".* Mir selbst 
erschien das Urteilen bei sehr kleinen Unterschieden recht an- 
strengend infolge der ununterbrochen hohen Aufmerksamkeits- 
anspannung, die nötig ist, da man sich fortwährend in der 
kritischen Zone bewegt und die Unterschiede infolge ihrer Klein- 
heit nur bei angestrengter Aufmerksamkeit bemerkt, aber eigent- 
lich schwierig fand ich das Urteilen nicht. Schwierig erschien 
es mir bei grofsen Unterschieden. Dann fiel die Erleichterung 
des Urteilens, welche das Hinüberlaufen der mittleren Scheibe 



' Entsprechend sank die mittlere Variation bei K. K., während auf 
dem mittleren Kreisel die zur Herstellung der Mitte dienenden Farben bei- 
behalten wurden, von 6^,0 in der Unterschiedsgleichung zwischen je 360® 
Karmin und Grau t auf 3o,l (oder 3*3) bei Ersatz von 90« (oder 180») des 
Seitengrau durch die Farbe und sogar auf 1^,9, als der betreffende Ersatz 
270 • erreichte. 

Ebenso sank die mittlere Variation bei K. K. von 12^0 in der Unter- 
schiedsgleichung zwischen je 360 <^ Karmin und Grün Nr. 3 auf 6^,4 (oder 
4^,7), als unter Beibehaltung derselben zur Herstellung der Mitte dienenden 
Farben der Unterschied der Scheiben durch Zumischung von 90« Karmin 
Eur grünen (oder von 180« Grün Nr. 3 zur karminfarbenen) Seitenfarbe 
VMTingert wurde. 

' In Übereinstimmung mit dieser Selbstbeobachtung steht es, dafis die 
mittlere Variation bei K. K. von 3« 3 in der Unterschiedsgleichung zwischen 
360« Karmin und (180« Grau t + 180« Karmin) auf 6^0 stieg, als unter 
Beibehaltung des Karmin und Grau t zur Herstellung der s. M. der Unter- 
schied der Farben dadurch vergrOfsert wurde, dafs die 180 « des Grau t auf 
dem einen Seitenkreisel durch ebenso viele Grade des Grau Nr. 4 ersetzt 
wurden. 

Dagegen stimmt mit dieser Selbstbeobachtung nicht überein, dafs die 
mittlere Variation bei K. K. von 6«,6 auf 5«,0 und dann auf 3«,4 sank, als 
nach Herstellung der s. M. zwischen je 360« Karmin und Grau t erst 90« 
und dann 180« des Grau t auf dem einen Seitenkreisel durch Grün Nr. 1 
ersetzt wurden, während die s. M. weiter ausschliefslich mittels Karmin 
tmd Grau t hergestellt wurde. 

* Aue diesem Anlais versuchte K. K., wie S. 80 f. angegeben wurde, nach 
der Methode der Farbenbänder zu urteilen. 

14* 



212 Siegfried Jaeobsohn. ff) 

zur dritten mit sich brachte, fort^, and die Vereinigung zweier 
Scheiben zu einem Paare war auf beiden Seiten so gewaltsam, 
dafs ich nicht leicht wuTste, wo sie es am meisten war. Dann 
erschwerten die Nachbilderscheinungen das Urteilen in hohem 
Grrade. Dann war die Leichtigkeit der Paarbildung, wenn sie 
durch die Qualitätsunterschiede der drei Farben beeinflulst wurde, 
eine wesentlich andere, als wenn die Eindringlichkeit einer Farbe 
sehr empfunden wurde. Besonders diese in verschiedener Rich- 
tung wirkenden Einflüsse, welche die Qualität der Farben und 
ihre Eindringlichkeit auf die kollektive Auf&ssung ausübten, 
liefsen mich bei aller Anstrengung oft kaum zu einer Ent- 
scheidung darüber kommen, wo die Mitte liege, während ich bei 
kleinen Unterschieden das Gefühl hatte, dafs man die Mitte 
ziemlich genau bestimmen könne, wenn man nur genügend auf- 
merksam sei.^ 

Dafs die Schwierigkeit des Urteilens mit der Gröfse der 
Unterschiede zunimmt, glaube ich auch bei der Versuchsperson 
Ja. beobachtet zu haben. Möglicherweise ist es auch C. so er- 
gangen, nur dafs er nicht ausdrücklich einen Unterschied gemacht 
hat zwischen anstrengend infolge der erforderten Aufmerksam- 
keitsanspannung und schwierig im engeren Sinne. Nur bei 
grofsen Unterschieden geschah es mitunter, dafs meinen Versuchs- 
personen das Urteilen im Laufe der Versuchsstunde trotz fort- 



' 8. S. 86f. 

' Mit den oben angeführten Selbstbeobachtungen stimmt das Fallen 
und Steigen der mittleren Variation bei den von mir angestellten Be- 
stimmungen der s. M. überein. Es sank die mittlere Variation bei mir, 
während die zur Herstellung der Mitte dienenden Farben beibehalten wurden, 
von 5^,8 in der Unterschiedsgleichung zwischen je 360® Karmin und Gran t 
auf 4»,6 als 90», und auf 3« 9, als 180®, und schliefslich auf 2®,2, als 270* 
des Seitengrau durch Karmin ersetzt waren. Die mittlere Variation sank 
ferner bei mir von 4®,1 in der Unterschiedsgleichung zwischen je 360* 
Karmin und Grün Nr. 3 auf 2*^,0 (oder 2®, 4), als unter Beibehaltung der zur 
Herstellung der s. M. dienenden Farben der Unterschied der Seitenfarben 
durch Zumischung von 90® Karmin zur grünen (oder von 180® Grün Nr. 3 
zur karminfarbenen) Seitenfarbe verringert wurde. 

Die mittlere Variation stieg bei mir von 3®,9 in der Unterschieds- 
gleichung zwischen 360® Karmin und (180® Grau t +180® Karmin) auf 4^,7 
und dann auf 10®,2, als unter Beibehaltung des Karmin und Grau t zar 
Herstellung der s. M. der Unterschied der Farben dadurch vergrölsert 
wurde, dafs die 180® des Grau t auf dem einen Seitenkreisel durch Grau 
Nr. 4 und dann durch Weifs ersetzt wurden. 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Orund ihres Kohäremgrädes, 213 

schreitender Übung immer schwerer wurde, ohne dafs ihre Er- 
müdung merklich gestiegen war. Sie bemerkten immer mehr 
Faktoren, die ihr Urteil beeinflussen wollten, und wurden beim 
Urteilen nach Kohärenz bald mehr zur Eindringlichkeitsmitte 
(wenn ich mich kurz so ausdrücken darf), bald zur Helligkeits- 
mitte oder zur reinen Qualitätsmitte hingezogen. Hieraus begreift 
sich, wenn eine Versuchsperson (K. K.) trotz bisher bewiesener 
Aufmerksamkeit plötzlich erklärte, bisher falsch geurteilt zu 
haben, und wenn Ja., als er die s. M. von Grün h und Orange 
bestimmen sollte, das Urteilen anfangs für leicht hielt, dann 
aber erklärte, es „tritt der Fall ein, dafs sich zwei Scheiben in- 
folge ähnlicher Farbigkeit leichter zusammenfassen lassen als die 
beiden anderen, dafs sie sich aber infolge grofser Verschieden- 
heit ihrer Eindringlichkeit schwerer zusammenfassen lassen als 
die beiden anderen. Durch die Verschiedenheit der Farbigkeit 
mid Eindringlichkeit wird das Urteil fast unmöglich gemacht." 

Ob man den Schwierigkeiten des Urteilens dadurch entgehen 
kann, dafs man sich die Farbe zu merken sucht, bei der man 
zuerst das Urteil „unentschieden^ gefällt hat, ist eine interessante, 
das Gedächtnis betreffende Frage. ^ Die Erinnerung an frühere 
UrteUsfäUe wird dadurch erleichtert, dafs infolge des Kontrastes 
die Färbung der beiden Seitenscheiben je nach dem Tone der 
mittleren Scheibe eine verschiedene ist. So ist z. B. bei Ver- 
suchen über die Unterschiedsgleichung zwischen Karmin und 
Grau die graue Seitenscheibe um so grünlicher, je mehr Karmin 
die mittlere Scheibe enthält; wollte man sich eine bestimmte 



^ Bei einem mit Herrn Professor Müller gelegentlich angesteUten 
Versache blieb die Genauigkeit, mit der er sich eine Farbe merkte, hinter 
derjenigen zurück, mit welcher er nach Kohärenz urteilte. M. hatte am 
Schlüsse des ersten Versuchstages , welcher der Unterschiedsgleichung 
zwischen Rotgelb und Grau t gewidmet war, bei einem Versuche des auf- 
steigenden Verfahrens „unentschieden'' geurteilt, als 203® Rotgelb auf der 
mittleren Scheibe vorhanden waren. Er wurde aufgefordert, sich diese 
färbe zu merken, dann wurde unter Beibehaltung derselben Raumlage 
— es war die zweite — die mittlere Scheibe im absteigenden Verfahren 
80 lange geändert, bis M., ohne die Kohärenzmethode zu Hilfe zu nehmen, 
glaubte, dieselbe Farbe wieder vor sich zu sehen. Dies geschah, als die 
mittlere Scheibe 183® Rotgelb enthielt, d. h. um 20® weniger als die Farbe, 
welche er sich merken sollte. Die mittlere Variation dagegen betrug bei 
M. für die zweite Raumlage des ersten Versuchstages bei Anwendung der 
Kohärenzmethode nur 6,4®. 



214 Siegfried Jacobsohn, (f) 

Färbung der mittleren Scheibe merken, so würde der Grad der 
Grünlichkeit, den die graue Seitenscheibe bei dem betreffenden 
Farbentone der mittleren Scheibe annimmt, das Wiedererkennen 
des Farbentones der mittleren Scheibe erleichtem. Wahre kollektive 
Auffassung jedoch schränkt die Mitwirkung des Gedächtnisses 
sehr ein. Denn bei ihr ist die Aufmerksamkeit der Versuchs- 
person nicht auf das Merken der mittleren Farbe gerichtet, 
sondern ganz und gar durch die Vergleichung der Kohärenz in 
Anspruch genommen. Durch den Wechsel der Raumlage, welcher 
nach jedem Doppelversuche stattfand, wird die Erinnerung an 
frühere Urteilsfälle ganz besonders erschwert. Selbst Sch., der 
gesagt hatte, er müfste bei dem zweiten Versuche jeder Raum- 
lage sehr ankämpfen gegen die Tendenz abzuwarten, bis der im 
voraufgehenden Versuche beim Urteil „unentschieden" gebotene 
Reiz wieder geboten würde, erklärte, diese Tendenz nicht zu 
haben, sobald die Raumlage gewechselt würde, jeder Wechsel 
der Raumlage gäbe ihm etwas ganz Neues. ^ 

Mitunter weichen die Mittelwerte beider Raumlagen sehr 
voneinander ab, während die mittlere Variation bei jeder Raum- 
lage klein ist. Man darf daraus nicht schliefsen, daTs sich die 
Versuchsperson zwei Farben, eine für jede Raumlage, gemerkt 
hätte. Wohl mag es dem Beobachter zu schwer fallen, die Farbe, 
welche er sich nach dieser Annahme bei der einen Raumlage 
eingeprägt haben soll, in der anderen wieder zu erkennen, doch 
ist es etwa leichter, zwei Farben bei dem ständigen Wechsel der 
Raumlagen zu behalten als eine? Diese Annjdime ist ebenso 
überflüssig wie willkürlich. Denn die Abweichungen der Mittel- 
werte beider Raumlagen lassen sich auch in anderer Weise ver- 
stehen. 

Unterschiede im Funktionieren der die Augen nach rechts 
und nach links drehenden Muskeln, seien sie nun durch ana- 
tomische Defekte oder Übung bedingt, können ihre Ursache sein. 
Wird nämlich das Urteil wesentlich durch das Hinüberlaufen 
der mittleren zur dritten Scheibe beim Hinübersehen zu dieser 
bestimmt, so wird, wenn man z. B. durch Lesen eine gröfsere 
Übung erworben hat, die Augen von links nach rechts als um- 

' Ebenso bemerkte 8. J., es „scheint durch den Wechsel der Raum- 
lage die Mitwirkung des Gedächtnisses sehr beschränkt zu werden". Be- 
sonders bei Ja. finden sich zahlreiche Bemerkungen, die zeigen, wie stark 
er den Wechsel der Raumlage jedesmal empfand. 



über subjektive Mitten veischied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades. 215 

gekehrt zu bewegen, eine gröfsere Kohärenz des rechten Paares 
vorgespiegelt werden. In solchem Falle wird man z. B. bei Ver- 
suchen über die Unterschiedsgleichung zwischen Karmin und 
Grau bei der ersten Raumlage, bei der die graue Seitenscheibe 
rechts steht, weniger Grau zur s. M. benötigen als bei der zweiten 
Raumlage, bei der die graue Seitenscheibe links steht.^ Femer 
kann dadurch, dafs der Ärmel des Versuchsleiters immer an 
derselben Stelle sichtbar^ war, ein Raumfehler hervorgerufen 
worden sein. Weil sich aufserdem die S. 88 erwähnten sub- 
jektiven räumlichen Ungleichmäfsigkeiten in der Stellung der 
drei Scheiben nicht in beiden Raumlagen gleich stark bemerkbar 
zu machen brauchen^, kann sowohl die Lage der s. M. wie die 
mittlere Variation bei beiden Raumlagen verschieden sein. 

Eine gewissenhafte Versuchsperson wird, wenn sie Erinne- 
rungen an die eigenen früheren Urteile hat, stets danach streben, 
sich nicht durch dieselben beeinflussen zu lassen. Die Instruktion 
verlangte von den Beobachtern nicht, dafs sie sich bemühten, 
gleichmäfsige Ergebnisse in bezug auf die Lage der s. M. zu 
erreichen, gleichmäfsig sollte nur die Sorgfalt sein, mit der die 
Beobachter in jedem einzelnen Falle die Kohärenz prüften. Wenn 
Ka. bei Versuchen über die Unterschiedsgleichung zwischen Blau 
und Grau t die Meinung äufserte, dafs er am Schlüsse der Sitzung 
anders als am Anfange derselben geurteilt habe, weil die graue Seiten- 
scheibe im Laufe der Versuche immer mehr hervorgetreten sei *, 

* Umgekehrt brauchte Ja. mit Ausnahme der Versuche über die Unter- 
Bchiedsgleichungen zwischen Orange und Grau t stets von der in der ersten 
Kaumlage links stehenden Farbe bei der ersten Raumlage weniger zur s. M. 
aia bei der zweiten Raumlage, d. h. es wurde ihm die Zusammenfassung 
der beiden linken Scheiben leichter als die der beiden rechten. Ebenso 
erging es H. mit einer unbedeutenden Ausnahme an dem ersten der beiden 
Versuchstage, an denen sie die s. M. zwischeu Karmin und Grau Nr. 19 
bestimmte. Dieselbe Tendenz, wenn auch weniger ausgeprilgt, zeigte S. J. ; 
vergleicht man nämlich in den Tabellen die Mittelwerte der beiden Raum- 
lagen, so findet man, dafs S. J. von der auf der linken Seitenscheibe be- 
findlichen Farbe in 21 Fällen eine kleinere und nur in 8 Fällen eine gröfsere 
Gradzahl zur s. M. gebraucht hat, als er von derselben benötigte, wenn 
diese rechts stand. 

« 8. S. 44. 

' Sie taten es nicht für S. J. 

* Diese Beobachtung Ka.s war richtig; denn von durchschnittlich 
117,^9 bei den vier Vor versuchen stieg infolge der Eindriuglichkeitszunahme 
der grauen Seitenscheibe der Graugehalt der s. M. auf durchschnittlich 
130,^6 bei den letzten vier Versuchen derselben Sitzung. 



216 Siegfried Jacobsohn, (f) 

Bo entsprach das mit diesen Worten ausgedrückte Bestreben 
Ka.8, unbekümmei't um Erinnerungen an frühere Urteilsfalle, 
jeden einzelnen Fall für sich zu prüfen, ganz meinen, mit Hilfe 
der Instruktion immer wieder von neuem eingeschärften dies- 
bezüglichen Versuchsabsichten. Findet man grofse Unterschiede 
in den Resultaten der beiden Versuchstage eines Beobachters 
bei verhältnismäfsig geringer Variation an jedem einzelnen Ver- 
suchstage, so ist man noch nicht zu der Annahme gezwungen, 
dafs sich die Versuchsperson im Laufe einer Sitzung durch das 
Gedächtnis bestimmen liefs. Denn wenn, wie wir gesehen haben^ 
psychische Schwankungen im Laufe einer Versuchsstunde auf- 
treten \ so kann es nicht wundernehmen, dafs der psychische 
Habitus verschiedener Versuchstage, wie er sich in den Urteilen 
ausdrückt, mitunter grofse Abweichungen aufweist. Würde man 
den aus den Resultaten beider Versuchstage abgeleiteten Mittel- 
wert der s. M. der Berechnung der mittleren Variation zugrunde 
legen, so würde man keine Rücksicht auf eine an beiden Ver- 
suchstagen etwa vorhandene Verschiedenheit des psychischen 
Habitus nehmen. Es ist deshalb in den Tabellen die mittlere 
Variation für jeden Tag gesondert angegeben worden. 



Anhang: Tabellen. 

Erläuterung zu d^en Tabellen. 

Die Überschrift jeder TabeUe gibt diejenigen Farben an, welche bei 
den Unterschiedsgleichungen zwischen den betreffenden Farben als Seiten- 
farben dienten. Wo eine Farbe in der Überschrift ohne Angabe einer 
Gradzahl genannt ist, erstreckte sie sich anf dem betreffenden Seitenkreisel 
über alle 360 ». 

Die subjektive Mitte ist, wenn nichts anderes angegeben, durch 
Mischung der in der Überschrift genannten Farben hergestellt worden. 
Die Zahlen, welche die Tabellen aufführen, bedeuten die zur s. M. benötigten 
Grade derjenigen Farbe, welche in der Überschrift zuerst genannt ist. Sie 
sind, wenn nichts anderes angegeben ist, durch die bezügliche Gradzahl 
der in der Überschrift an zweiter Stelle genannten Farbe auf 3Ö0** zu 
ergänzen. 

Die erste Raumlage (R) ist dadurch charakterisiert, dafs in ihr die- 
jenige Farbe links steht, die in der Überschrift zuerst genannt ist. In der 
zweiten Raumlage steht dieselbe Farbe rechts. 



» 8. S. 210 über den Wechsel im Urteilen bei K. K. 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Chrund ihres Kohärenzgrades. 217 

Die mittlere Variation (A) ist fttr den Mittelwert jeder Baumlage be- 
sonders berechnet. 

Tabelle 16 nimmt eine gesonderte Stellung ein, sie bezieht sich nicht 
auf die Unterschieds-, sondern auf die Eindringlichkeitsgleichungen und 
gibt in Graden den Schwarzzusatz an, den die eindringlichere der beiden in 
der Überschrift genannten Farben empfangen mufste, damit ihre Ein- 
dringlichkeit bis zu der der anderen Farbe herabgesetzt würde. 



Tabelle 1. 
Karmin — Grau Nr. 19. 



Be- 

obachter 




I R 


A 


HB 


A 


Durchschnitt aus 
lu.IIJB A 


M. 


1. Tag 

2. Tag 


106,7 
116,1 


14,0 
4,7 


116,4 
109,9 


5,1 
7,3 


111,1 
113,0 


9,6 
6,0 


H. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


110,9 

90,8 
87,1 


9,3 

8,9 
22,3 


113,1 

87,2 
96,3 


6,2 

12,7 
17,5 


112,0 

89,0 
91,7 


7,8 

10,8 
19,9 


6. J. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


88,9 

93,7 
86,6 


15,6 

4,4 

3,7 


91,7 

98,8 
90,1 


15,1 

6,2 
10,1 


90,3 

%,2 
88,3 


15,3 

5,3 
6,9 




Durchschnitt 


1 90,1 


4,0 


94,5 


8,1 


92,3 


6,1 



Tabelle 2. 

Karmin — Grau t 



Be- 












Durchschnitt aus 


obachter 




I R 


A 


II R 


A 


IU.IIJB 


A 


M. 


1. Tag 

2. Tag 


211,1 
189,8 


15,3 
13,3 


194,8 
193,0 


12,5 

5,8 


202,9 
191,4 


13,9 
9^ 




Durchschnitt 


200,4 


14,3 


193,9 


9,1 


197,2 


11,7 


H. 


1. Tag 

2. Tag 


157,3 
150,4 


6,5 
11,3 


162,3 
154,0 


4,5 
10,0 


159,8 
152,2 


5,5 
10,6 




Durchschnitt 


153,8 


8,9 


158,1 


7,3 


156,0 


8,1 


8. J. 


1. Tag 

2. Tag 


120,3 
122,5 


4,8 
6,2 


132,2 
126,6 


8,2 
4,1 


126,2 
124,5 


6,5 
5,1 




Durchschnitt 


121,4 


5,5 


129,4 


6,1 


125,4 


5,8 


K. K. 


1. Tag 

2. Tag 


144,5 
167,7 


6,3 
4,1 


146,7 
172,5 


5,6 
10,5 


145,6 
170,1 


6,0 
7,3 




Durchschnitt 


156,1 


5,2 


159,6 


8,0 


157,8 


6,6 



;' A 



i3ir.^''0tL t^'s'Ji^ßf .• u — 









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t l 










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7/i 




« 


LxIL« A 


i4 




229^ 7^ 
2903 7,1 




// ,f^ ,,4U ,,;,.rK 


C'^f/, 


M 


2:'/./> 


*3 


^0,3 7,4 


•r 4 


1 7»y 
'4 lf*<i 








».1 

73 


189J» 7,1 
192^ 5,6 




\hut h4/),/,»U 


mr, 


U,l 


1^,« 


7^ 


191,1 6,3 



Tabelle 4. 

IKMI" KMriiiln (270» Grau t + 90» Karmin). 



Mit 

nliiM'lilMl 




i. « 


5.4 
Ü.9 

4a 


11. B 

190,6 
219,3 
304,9 

313,1 
313»3 


A 


Durchschnitt ans 
I. u. IL ß A 


l\ U. 


\ Tun ' iim.i 


2,9 
1,6 


191.8 4,1 

218.9 2,0 




2,3 

3.8 
9,7 
«y7 


205,4 3,1 

214,2 2,3 
212,8 6,9 


l^uvh^viuuU 5iU»S 


:J.v> ili:i 


2l3y6 4^» 






\ \ 









A L :lI1Ä A 




J»-.' 






über subjektive Mitten verschied. Farben auf Grund ihres Kohärenzgrades, 219 



Tabelle 6. 
)» Karmin— (90® Grau t + 27ü<> Karmin). 



Be- 
obachter 




I. E. 


A 


II. R ' 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. II. R A 


K K. 


1. Tag 

2. Tag 


326,7 
329,4 


1,6 
2,0 


324,7 

328,8 


2,2 
1,7 


325,7 1,9 
329,1 1,8 


8. J. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


328,1 

308,5 
309,8. 


1,8 

2,6 
2,2 


326,7 

313,0 
309,8 


1,9 

1,7 
2,3 


327,4 1,9 

310,8 2,2 
309,8 2,3 




Durchschnitt 


309,2 


2,4 


311,4 


2,0 


310,3 2,2 



Tabelle 7. 
(190O Karmin + 170» Grau t) und (350» Grau t + 10» Karmin). 



Be- 
obachter 




I. R 


A 


IL R 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. II. R A 


S. J. 


1. Tag 

2. Tag 


87,5 
90,1 
88,8 


1,8 
3,3 
2,5 


88,9 
89,5 


4,0 
6,9 


88,2 2,9 
89,8 4,6 




Durchschnitt 


89,2 


4,9 


89,0 3,7 



Tabelle 8. 
(180<> Karmin -f 180« Grün Nr. 3) — 360» Grün Nr. 3. 



Be 












Durchschnitt 


aus 


obachter 




I. R 


A 


U. R 


A 


I. u. II. R 


A 


K. K. 


1. Tag 

2. Tag 


94,5 
98,9 


3,0 

7,8 


94,9 
101,7 


2,9 
6,0 


94,7 
100,3 


3,0 
6.4 




Durchschnitt 


96,7 


5,4 


98,3 


4,0 


97,5 


4.7 


S. J. 


1. Tag 

2. Tag 


90,8 
85,7 


3,1 

2,1 


94,7 
87,2 


2,7 
1,9 


92,8 
86,4 
89,6 


2,9 
2,0 




Durchschnitt 


88,3 


2,6 


90,9 


2,3 


2,4 


Ka. 


1. Tag 

2. Tag 


95,2 
93,0 


2,4 
2,6 


94,5 
93,2 


1,4 
1.4 


94,9 
93,1 


1,9 
2,0 




Durchschnitt 


94,1 


2,5 


93,9 


1,4 


94,0 


1,9 



220 



Siegfried Jacohsohn. (f 



Tabelle 9. 
Karmin — Grün Nr. 3. 



Be. 

obachter 




I. fi 


A 


II. R 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. n. Ä A 


K. K. 


1. Tag 

2. Tag 


195,5 
178,3 


11,0 
11,6 


194,2 
178,2 


12,4 
13,0 


194,8 11,7 
178,2 12,3 


S. J. 


Durchschnitt i 186,9 

1. Tag 195,8 

2. Tag 190,6 


11,3 

3,8 
4,5 


186,2 

200,1 
203,4 


12,7 

4,7 
3,6 


186,5 12,0 

197,9 4,2 
197,0 4,0 




Durchschnitt 


193,2 


4,1 


201,7 


4,1 


197,5 4,1 



Tabelle 10. 

)• Karmin— (270» Grün Nr. 3 + 90« Karmin). 



, Be- 












Dnrchschnitt 


ao8 


obachter 




I. R 


A 


II.fi 


A 


I. u. U. B 


A 


K. K. 


1. Tag 

2. Tag 


210,1 
209,2 


ö,7 
4,8 


211,6 
204,6 


7,4 
7,6 


210,8 
206,9 


6.5 
6,2 




Durchschnitt 


209,6 


5,2 


208,1 


7,5 


206,9 


6,4 


8. J. 


1. Tag 

2. Tag 


226,2 
233,6 


1,4 
2,0 


233,0 
237,9 


äi 


229,6 
236,7 


1,7 
2,4 




Durchschnitt 


229,9 


1:7 


235,5 


2,4 


232,7 


2,0 


Ka. 


1. Tag 

2. Tag 


209,1 
213,2 


4,2 

3,1 


211,1 
215,4 


6,9 
6,6 


210,1 
214,3 


5.6 

4,8 




Durchschnitt 


211,1 


3,7 


213,2 


6,7 


212,2 


6,2 



Tabelle 11. 

Karmin — Grau t 

unter Mittenfindung ausschliefslich mittels 

Karmin und Grau Nr. 4. 



Be- 
obachter 




I. R 


A 


II. R 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. II. R A 


S. J. 


1. Tag 

2. Tag 


172,8 
1873 


8,4 156,1 
12,3 161,6 


5,2 
17,1 


164,5 6,8 
174,5 14,7 




Durchschnitt 


180,1 


10,4 


158,9 


11,1 


169,5 10,7 



über subjektive Mitten verschied. Farben auf Chrund ihres Kohärenzgrades. 221 



Tabelle 12. 

)<> Karmin— (180* Grau Nr. 4 + 180» Karmin) 
unter Mittenfindung ausschliefslich mittels 
Karmin und Grau t. 



Be- 
obachter 


I.R 


A 

5,1 
3,3 


II. R 


A 


Durchschnitt 
I. u. n. B 


aus 
A 


K. K. 


1. Tag 

2. Tag 


214,3 
222,4 


219,1 
226,0 


6,2 
5,5 


216,7 
224,2 


ö,7 
4,4 


S. J. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


218,3 

211,3 
218,0 


4,2 

5,4 
6,4 


222,5 

226,2 
226,3 


5,9 

4,1 
3,1 


220,4 

218,7 
221,6 


5,0 

4,8 
4,7 




Durchschnitt 


214,6 


5,9 


225,7 


3,6 


220,2 


4,7 



Tabelle 13. 

360» Karmin — (180» Weifs + 180» Karmin) 

unter Mittenfindung ausschliefslich mittels 

Karmin und Grau t. 



Be 

obachter 




I. R 


A 


II. R 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. II. R A 


8. J. 


I.Tag 
2. Tag 


177,4 
177,4 


9,6 
13,3 


189,0 
188,5 


11,4 
6,7 


183,2 10,5 
182,9 10,0 




Durchschnitt 


177,4 


11,4 


188,7 


9,0 


183,1 10,2 



Tabelle 14. 

360» Karmin — (270« Grau t + 90» Grün Nr. 1) 

unter Mittenfindung ausschliefslich mittels 

Karmin und Grau t. 



Be- 
obachter 




I. R 


A 


II. R 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. II. R A 


,KK. 


1. Tag 

2. Tag 


139,7 
128,2 


2,4 
8,1 


140,5 
128,6 


3,7 
ö,6 


140,1 3,1 
128,4 6,9 




Durchschnitt 


133,9 


5,3 


134,5 


4,6 


134,2 6,0 



222 



Siegfried Jacobtohn. (f) 



Tabelle 15. 

360« Karmin — (180« Grau t + 180« Grün Nr. 1) 

unter Hittenfindnng aaMchlieTiilich mittek 

Karmin nnd Gran t. 



obachter 




I. R 


6,4 
3,4 


n. B 


A 


Durchschnitt aas 
L n. n. jB A 


K. K. 


1. Tag ' 85,4 

2. Tag . 95,9 


79,5 
96,6 


1,1 
3,9 


82,6 3,3 
96,2 3,6 




Dnrchschnitt 


90,6 


M 


88,1 


2,5 


1 89,4 3,4 



Tabelle 16. 
EindriBrllehkeitg-eieieliiuigeB. 



Orange und Gran t. 



Beobachter 


Schwarz 


A 




zum Orange 


C. 


214,3 


15,3 


Ja. 


241,7 


16,7 


A. 


116,0 


8,2 


8CH. 


201,2 


7,9 


Ka. 


165,6 


13,6 





Blan und Grau t 




Schwarz 






zum Grau 


A 


C. 

Ja. 

A. 

SCH. 

Ka. 


105,8 

— 0,5* 

226,5 

— 168,4» 

149,4 


25,9 
35,6 

9,7 
13,1 

3,6 




Rot und Ori 


singe 




Schwarz 






zum Orange 


A 


C. 

Ja. 

A. 

8CH. 

Ka. 


103,7 
87,0 
208,1 
114,1 
123,8 


38,8 
31,2 
7,2 
19,0 
12,6 


( 


Grrün h und 


Grau t. 




Schwarz 






zum Grün 


A 


C. 

Ja. 


132,1 
228,5 


12,3 
31,7 



Rot nnd Grau t. 



Beobachter 


Schwarz 


A 




zum Rot 


C. 


104,3 


33,1 


Ja. 


150,3 


11,7 


A. 


49,0 


44,7 


SCH. 


30,5 


23,7 


Ka. 


127,7 


6,2 



Violett und Grau t. 
Schwarz 
zum Grau A 



c. 


154,8 


12,8 


Ja. 


128,5 


10,7 


A. 


255,2 


3,0 


SCH. 


186,7 


31,0 


Ka. 


195,5 


7,0 




Violett und 


l Blau. 




Schwarz 






zum Blau 


A 


C. 


291,5 


11,0 


Ja. 


162,3 


31,6 


A. 


148,0 


5;8 


SCH. 


285,6 


15,6 


Ka. 


136,6 


10,4 



Ja. 



Grün h und Orange. 
Schwarz 
zum Orange A 

I 233,0 I 18,7 



» Das negative Vorzeichen bedeutet, dafs die blaue, nicht die grauo 
Scheibe den Schwarzzusatz erhalten hat. 



über gubjektive Mitten verschied. Fachen auf Qrund ihres Kohärenzgrades, 223 



Tabelle 17. 
Orange — Grau t. 



Be- 
obachter 




I. E 


A 


IL B 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. II. R A 


C. 


1. Tag 

2. Tag 


180,7 
188,9 


8,3 
3,8 


188,8 
186,8 


10,6 
6,8 


184,7 
187,8 


9,4 
5,3 


Ja. 


Durchschnitt 

I.Tag 
2. Tag 


184,8 

144,7 
135,2 


6,0 

10,3 
13,0 


187,8 

140,8 
132,9 


8,7 

7,1 
7,5 


186,3 

142,8 
134,0 


7,3 

8,7 
10,3 


A. 


Durchschnitt 

I.Tag 
2. Tag 


13y,9 

155,3 
154,9 


11,7 

9,8 
3,4 


136,9 

139,2 
165,3 


7,3 

9,5 
7,4 


138,4 

147,3 
155,1 
151,2 

241,3 
247,6 


9,5 

9,6 
5,4 


SCH. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


155,1 

236,5 
249,7 


6,6 

7,2 
5,9 


147,2 

246,0 
245,6 


8,5 

13,7 
9,3 


7,5 

10,4 
7,6 


Ka. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


243,1 

159,7 
183,8 


6,5 

13,8 
4,8 


245,8 

156,0 
185,7 


11,5 

5,3 
6,0 


244,4 

157,8 
184,7 


9,0 

9,6 
6,4 




Durchschnitt 


171,7 


9,3 


170,8 


6,7 


171,3 


7,5 



Tabelle 18. 
Bot — Gran t. 



Be- 
obachter 




I. R 


A 


ILA 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. IL B A 


C. 


1. Tag 

2. Tag 


229,3 
224,7 


12,1 
8,3 


217,3 

228,8 


6,6 
4,4 


223,3 
226,7 


9,3 
6,4 


Ja. 


Durchschnitt 

I.Tag 
2. Tag 


227,0 

191,8 
156,0 


10,2 

10,5 
15,7 


223,0 

215,2 
164,7 


5,6 

ö,l 
17,0 


225,0 

203,5 
169,8 


7,9 

7,8 
16,3 


A. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


173,4 

200,5 
195,7 


13,1 

2,5 
4,1 


189,9 

196,3 
193,3 


11,1 

5,3 
1,4 


181,7 

198,4 
194,5 


12,1 

3,9 
2,8 


8CH. 

Ka. 


Durchschnitt 
I.Tag 

1. Tag 

2. Tag 


198,1 

337,2 

240,5 
230,7 


3,3 

7,2 

9,0 
4,7 


194,8 

327,5 

241,7 
233,0 


3,4 

4,2 

6,8 
4,0 


196,4 

332,3 

241,1 
231,8 


3,3 

6,7 

7,9 
4,3 




Durchschnitt 


235,6 


6,8 


237,3 


6,4 


286,5 


6,1 



224 



Siegfried Jacobtohn. (f) 



Tabelle 19. 
Blau — Qrau t. 



Be- 
obachter 




I.R 


A 


IL R 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. II. R A 


C. 


1. Tag 

2. Tag 


237,7 

256,8 


7,7 
5,8 


236,0 
254,3 


10,7 
5,3 


236,8 
255,5 


9,2 
5,5 


Ja. 


Durchschnitt 

I.Tag 
2. Tag 


247,2 

234,0 
217,3 


6,7 

12,7 
20,3 


245,1 

243,3 
234,7 


8,0 

17,0 
11,4 


246,2 

238,7 
226,0 


7,4 

14,8 
15,8 


A. 


Durchschnitt, 225,6 

1. Tag 1 242,7 

2. Tag 1 247,6 


16,5 

2,4 
5,1 


239,0 

248,3 
246,4 


14,2 

6,3 
2,9 


232,3 

245,5 
247,0 


15,3 

4,4 
4,0 


SCH. 

Ka. 


Durchschnitt 
1. Tag 

1. Tag 

2. Tag 


245,1 

263,9 

247,0 
231,4 


3,8 

7,2 

4,2 
4,4 


247,4 

262,2 

244,9 
229,2 


4,6 

6,2 

5,7 
2,4 


246,2 

263,0 

246,0 
230,3 


4,2 

6,7 

4,9 
3,4 




Durchschnitt 


239,2 


4,3 


237,0 


4,1 


238,1 


4,2 



Tabelle 20. 
Violett — Grau t. 



Be- 












Durchschnitt ans 


obachter 




I. B 


A 


II. JB 


A 


I. u. IL B 


A 


C. 


I.Tag 


238,6 


2,4 


246,0 


3,7 


241,8 


3,0 


2. Tag 


247,8 


4,1 


251,2 


9.5 


249,6 


6,8 




Durchschnitt 


243,2 


3,2 


248,1 


6,6 


246,6 


4.9 


Ja. 


1. Tag 


225,6 


6,9 


236,8 


6,8 


230,7 


6,3 


2. Tag 


189,8 


14,7 


2103 


16,9 


200,0 


15,8 




Durchschnitt 


207,7 


10,8 


223,0 


11,3 


215,3 


11,1 


A. 


I.Tag 


264,3 


3.8 


258,3 


2,4 


261,3 


2,9 


2. Tag 


267,8 


3,6 


269,8 


8,6 


268,8 


3,5 




Durchschnitt 


266,0 


3,4 


264,0 


3,0 


265,0 


3.2 


8CH. 


I.Tag 


208,3 


9.1 


216,5 


11,2 


211,9 


10.1 




2. Tag 


237,2 


4,2 


237,0 


0,8 


237,1 


2,5 


Ka. 


1. Tag 


234,8 


5,1 


242,2 


1,7 


238,5 


3,4 




Durchschnitt 


236,0 


4,6 


239,6 


1,2 


237,8 


2,9 



über subj^Hve Mitten verschied. Farben auf (hrund ihres Kohärcnzgrades, 225 



Tabelle 21. 
Rot — Orange. 



Be- 
obachter 




I. R 

232,3 
245,7 


A 


II. R 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. II. R A 


C. 


I.Tag 
2. Tag 


10,3 
3,8 


231,9 
236,3 


6,7 
2,2 


232,1 
241,0 


8,6 
3,0 


Ja. 


Durchschnitt 

I.Tag 
2. Tag 


239,0 

205,6 
1903 


7,1 

7,3 
6,3 


234,1 

208,8 
199,9 


4,4 

9,2 

1,8 


236,5 

207,2 
195,1 


6.7 

8,2 
4,0 


A. 


Darchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


197,9 

230,3 
230,8 


6,8 

6,6 
3,6 


204,4 

232,6 
228,1 


6,5 

6,4 
9,1 


201,1 

231,4 

229,5 


6,1 

6,5 
6,3 


SCH. 

Kl. 


DurchBchnitt 

1. Tag 

I.Tag 

2. Tag 


230.5 

173,3 

232,8 
234,9 


4,5 

6,9 

6,3 
6,6 


230,3 

181,2 

.228,8 
233.8 


7,3 

11,6 

8,0 
6,8 


230,4 

177,2 

230,8 
234,4 


6,9 

9,2 

6,6 
6,2 




Durchschnitt 


233,8 


6,4 


231,3 


7,4 


1 232,6 


6,4 



Tabelle 22. 
Violet t — Blau. 



Be- 


. 










Durchschnitt aus 


obachter 




I. B 


A 


II. R 


A 


I. u. II. R 


A 


C. 


1. Tag 


164,6 


3,7 


159,2 


2,8 


161,8 


3,2 


2. Tag 


163,3 


7,2 


164,6 


6,0 


163,9 


6,1 




Durchschnitt 


163,9 


5,4 


161,8 


3,9 


162.9 


4,7 


Ja. 


1. Tag 


160,3 


5,6 


177,3 


4,1 


168,8 


4,8 


2. Tag 


141,7 


6,7 


155,0 


, 3,8 


148,3 


6,2 




Durchschnitt 


161,0 


6,1 


166,1 


4,0 


158,6 


5,0 


A 


1. Tag 


161,8 


3,1 


159,8 


3,9 


160,8 


3,5 




2. Tag 


158,3 


6,9 


162,4 


3,6 


160,3 


4,7 




Durchschnitt 


160,0 


4,5 


161,1 


3,7 


160,6 


4,1 


ScH. 


1. Tag 


137,2 


6,9 


130,8 


9,7 


134,0 


7,8 




1. Tag 


161,7 


4,2 


167,7 


4,3 


169,7 


4,3 


Ka. 


2. Tag 


161,4 


4,9 


149,8 


3,0 


160,6 


4,0 




Durchschnitt 


156,6 


4,6 1 


153,7 


3,7 1 


156,1 


4,1 



Zeitschrift fdr Psychologie 43. 



15 



226 



Siegfried Jacobsohn, (f) 



Tabelle 23. 
Grün h — Grau t. 



Be- 
obachter 


I. E 


A 


II. JB 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. II. JR A 


C. 


1. Tagi 

2. Tag 


188,3 
199,9 


3,9 
8,4 


188,0 
196,4 


7,3 
3,6 


188,2 
198,2 


5,6 
6,0 


Ja. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


194,1 

141,5 
147,2 


6,2 

10,7 
12,3 


192,2 

161,8 
148,5 


5,0 

5,8 
15,8 


193,2 

151,7 
147,8 


5,8 

8,3 
14,1 




Durchschnitt 


144,3 


11,5 


155,2 


10,8 


149,7 


11,2 



Tabelle 24. 
Grün h — Orange. 



Be- 
obachter 




I. R 


A 


n,R 


A 


, Durchschnitt aus 
1 1. u. II. R A 


C. 


1. Tag 

2. Tag 


147,9 
158,4 


9,9 
4,4 


149,0 
158,7 


4,3 
10,2 


148,6 
158,5 


7,1 
7,3 


Ja. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


153,2 

162,3 
126,8 


7,2 

13,7 

6,8 


153,8 

172,4 
140,8 


7,2 

6,6 
14,3 


153,5 

1 167,4 
( 133,6 


7,2 

10,1 
10,6 




Durchschnitt 


144,6 


10,3 


156,4 


10,5 


1 150,6 


10,4 



Tabelle 25. 
Rotgelb — Grau t. 



Be- 
obachter 




I. R 


A 


II. R 


A 


Durchschnitt aus 
I. u. II. R A 


M. 


1. Tag 

2. Tag 


222,9 
188,6 


7,9 
10,7 


190,3 
184,9 


6,4 
5,6 


206,6 
186,8 


7,1 
8,2 


H. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


205,7 

161,1 
159,9 


9,3 

5,9 
5,5 


187,6 

172,2 
166,0 


6,0 

8,7 
4,2 


196,7 

166,6 
163,0 


7,6 

7,3 
4,9 


8. J. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


160,5 

138,2 
134,1 


5,7 

7,5 
4,4 


169,1 

143,7 
141,7 


6,4 

6,9 
6,2 


164,8 

140,9 
137,9 


6,1 

7,2 
5,3 




Durchschnitt 


136,1 


5,9 


142,7 


%P 


139,4 


6,2 



über siibjektive Mitten verschied. Farben auf Qrund ihres Kohärenzgrades. 227 



Tabelle 26. 
Karmin — Rotgelb. 



Be- 
obachter 




I. R 


A 


II. E 


A 


Durchschnitt ans 
I. u. II. B A 


M. 


1. Tag 

2. Tag 


163,9 
165,0 


14,9 
13,5 


165,6 
181,1 


10,4 
10,8 


164,7 
173,1 


12,6 
12,2 


H. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


164,4 

140,6 
135,2 


14,2 

4,1 
6,6 


173,4 

156,0 
157,8 


10,6 

7,0 
8,3 


168,9 

148,3 
146,5 


12,4 

5,5 

7,4 


8. J. 


Durchschnitt 

1. Tag 

2. Tag 


137,9 

129,5 
125,8 


5,3 

4,0 
6,8 


156,9 

144,7 
138,8 


7,6 

9,9 
2,8 


147,4 

137,1 
132,3 


6,5 

6,9 

4,8 




Durchschnitt 


127,6 


5,4 


141,7 


6,4 


134,7 


5,9 



Tabelle 27. 
Helligkeit der s. M. 

n Beziehung zum arithmetischen und geometrischen Mittel 
der Seitenhelligkeiten.^ 



1 

1 


arith- 
metisches 
H.-Mittel 


geo- 
metrisches 
H.-Mittel 


tatsächliches 
H.-Mittel 


Abweichu 

arith- 
metischen 
H.-Mittel 


ngen vom 
geo- 
metrischen 
H.-Mittel 






Karmin — Grau Nr. 19 (zu Tabelle 1). 




M. 


91,6 


81,9 


76,1 




- 6,8 


H. 


95,2 


84,0 


72,9 




-11,1 


8.J. 


100,3 


87,0 


76,0 




-11,0 






Karmin — Grau t (zu Tabelle 2). 




M. 


142,1 


141,8 


141,2 




^ 0,6 


H. 


145,6 


145,5 


146,4 


+ 0,8 








Karmin — Grau Nr. 4 (zu Tabelle 3). 




M. 


188,5 


180,1 


172,9 




- 7,2 


8. J. 


197,2 


191,5 


194,3 


- 2,9 


+ 2^ 






Karmin — Grün Nr. 3 (zu Tabelle 8). 




K.K. 


160,2 


159,5 


159.7 


- 0,5 


+ 0,2 



^ Die Zahlen bedeuten Grade WeiTs. 

Zur Erleichterung der Übersicht ist, wenn die Helligkeit der s. M. 
unter dem geometrischen Mittel der Seitenhelligkeiten liegt, ihre Differenz 
mit dem arithmetischen Mittel nicht aufgeführt worden, ebensowenig wie 
ihre Abweichung Tom geometrischen Mittel, wenn die Helligkeit der s. M. 
über dem arithmetischen Mittel der Seitenhelligkeiten liegt. 

15* 



228 



Siegfried Jacobsohn, (f) 



M 

1 


arith- 
metisches 
H.-Mittel 


geo- 
metrisches 
H.-Mittel 


tatsächliches 
H.-Mittel 


Abweichungen vom 

arith- geo- 

metischen metrischen 

H.-Mittel H.-Mitt©l 




3600 Karmin — (270® Grün Nr. 3 + 90« Karmin) ( 


zu Tabelle 9). 


K.K. 


166,5 1 


156,1 1 157,8 1 + 1,3 






(1800 K 


armin + 180« Grün Nr. 3) — 360o Grün Kj. 3 






(zu Tabelle 10). 




K.K. 


167,7 


167,5 1 167,0 1 
Orange— Grau t (zu Tabelle 17). 


- 0,5 


0. 


168,1 


167,3 


168,7 1 + 0,6 ' 




Ja. 


162,3 


161,9 


159,8 1 


- 2,1 


Ka. 


166,6 


165,0 


164,9 


- 0,1 






Rot—Grau t (zu Tabelle 18). 




C. 


112,9 


106,1 


103,2 




- 2,8 


Ja. 


109,0 


100,3 


106,6 


- 0,4 


+ 8,3 


Ka. 


117,3 


112,2 


106,6 




- 6,6 






Blau — Grau t (zu Tabelle 19). 




C. 


83,5 


48,5 


58,5 


- 25,0 


+ 10.0 


Ja. 


81,7 


42,6 


61,5 


— 20,3 


+ 18,9 


Ka. 


84,7 • 


51,9 


63,1 


— 21,6 


+ 11,2 






Violett— Grau t (zu Tabelle 20). 




C. 


91,9 


70,0 


70,2 


— 21,7 


+ o;2 


Ja. 


91,2 


68,3 


79,3 


- 11,9 


+ 11,0 


Ka. 


95,1 


76,6 


77,0 


-18,1 


+ 0,4 






Rot — Orange (zu Tabelle 21). 




C. 


129,5 


117,1 


112,2 




- 6,0 


Ja. 


119,7 


107,2 


113,4 


- 6,3 


+ 6,3 


Ka. 


131,4 


122,2 


117,3 




- 4,9 






Violett — Blau (zu Tabelle 22). 




C. 


23,9 


22,4 


23,1 


- 0,8 


+ 0,7 


Ja. 


21,4 


19,2 


20,3 


- 1,1 


+ 1,1 


Ka. 


28,3 


26,2 


26,8 


- 1,5 


+ 0,6 






Grün h — Orange (zu Tabelle 24). 




C. 


172,7 


172,3 i 174,5 


+ 1,8 




Ja. 


161,9 


161,5 j 163,7 


+ 1,8 








Rotgelb — Grau t (zu Tabelle 25). 




M. 


141,1 


140,7 


140,1 




- 0,6 



über subjektive Mitten verschied, Farben auf Crrund ihres Kohärenzgrades. 229 

Leider hat der Verfasser der vorstehenden Abhandlung 
seine Untersuchungen nicht weiter führen können, da ein früher 
Tod seinem Leben ein Ende setzte. Wir haben in dem Ver- 
storbenen einen Mitarbeiter imd Freund verloren, der trotz des 
schweren Leiden, mit dem er in heldenhafter Weise Jahre hin- 
durch rang, allen, die ihn gekannt haben, als ein Muster 
geistiger Frische und voller Hingabe an die Wissenschaft in 
Erinnerung bleiben wird. 

Professor Dr. G. E. Müllbb. 

(Eingegangen am 20. Juli 1906,) 



230 



Literaturbericht. 



A. BiKXT. L'ime et le etr^. Paris, Flammarion. 1905. 288 8. 

„Ce livre est un long effort pour ^tabiir une distinction entre ce qa*on 
appelle l'esprit et ce qn'on appelle la mati^re.'' Zu diesem Zwecke wird 
zuerst die Materie besprochen, und nachgewiesen, dafs wir von der 
Aufsenwelt nur unsere Empfindungen kennen, da doch dieselbe erfahrungs- 
gemftffl nicht anders als durch Vermittlung des Nervensystems sich uns 
offenbare. Mit dem Namen „äulsere Gegenstände*' werden bisweilen die 
gegebenen Empfindungskomplexe selbst, bisweilen auch deren „causes 
provocatrices" bezeichnet; von den letzteren können wir allerdings mit 
Sicherheit wissen, dafs sie bestehen, nicht aber, was sie sind; auch die 
geometrischen und mechanischen Qualitäten gehören nur dem Empfindungs- 
komplez, nicht der zugrunde liegenden Wirklichkeit an. Darum ist diese 
Wirklichkeit („l'X de la mati^re") nicht Gegenstand der wissenschaftlichen 
Untersuchung, sondern hat sich diese auf die Erforschung der Beziehungen 
zwischen den Empfindungen zu beschränken. — Was sodann den Geist 
anbelangt, wird zuerst auf den Gegensatz zwischen Erkenntnisgegenständen 
und Erkenntnisakten hingewiesen, und sodann bemerkt, dafs von den 
Erkenntnisgegenständen nicht nur die Empfindungen, sondern auch die 
mit denselben wesensgleichen Vorstellungen, und vielleicht (nach der 
LANOB-JAMESschen Theorie) selbst die Gefühle eben von derjenigen Natur 
sind, durch welche sich die materiellen Erscheinungen (also zwar nicht 
„rx de la matiöre'', aber doch alles, was wir von der Materie erfahren) 
auszeichnen. Es seien also alle Erkenntnisgegenstände (das Wahrgenommene, 
Vorgestellte, Gefühlte) der Materie zuzurechnen, dagegen dem Geiste blo(s 
die Erkenntnisakte (das Wahrnehmen, Vorstellen, Fühlen), welche der Verf. 
unter dem Namen Bewufstsein („conscience") zusammenfafst. Dagegen sei 
der Begriff des Geistes ebensowenig demjenigen des Subjekts (einem sich 
auf einen Erkenntnisgegenstand beziehenden Refiexionsprodukt) gleich- 
zusetzen, wie durch die Verstandeskategorien zu bestimmen (da kein Grund 
vorliege anzunehmen, dafs die kategorialen Beziehungen den Gegenständen 
erst vom Bewufstsein zuerteilt werden). Von den Erkenntnisgegenständen 
sei anzunehmen, dafs sie auch ohne Bewufstsein fortexistieren können; 
dagegen sei ein BewuDstsein ohne Gegenstände undenkbar. Das Arbeits- 
gebiet der Psychologie endlich sei dahin zu bestimmen, dafs dieselbe gewisse 
Gesetze erforsche, welche sämtlich oder zum gröfseren Teile Gesetze der 
Vorstellungen (Assoziationsgesetze) und also nach dem Vorhergehenden 



Literaturbeticht 231 

Gesetze materieller Erscheinungen sind, sich aber von den sonstigen Gesetzen 
materieller Erscheinungen wesentlich durch ihren teleologisch-adaptativen 
Charakter unterscheiden. — Das dritte und letzte Buch bespricht die Ver- 
bindung von Geist und K6rper. Indem der Verf. diese beiden Namen 
nach den obigen Begriffsbestimmungen deutet, also unter „Geist" den 
Erkenntnisakt, und unter „Körper" den Erkenntnisgegenstand (genauer: 
den Erkenntnisinhalt) versteht, gelingt es ihm mit leichter Mühe nachzu- 
weisen, dafs diese beiden unzertrennlich zusammengehören, dafs insbesondere 
dem Geiste nur eine unvollständige, gleichsam virtuelle Existenz zukommt 
(ähnlich wie nach Kant den apriorischen Denkformen), und dafs demnach 
der Geist weder als etwas selbständig neben dem Körper Bestehendes, noch 
als der Schöpfer der körperlichen Welt, noch als ein Produkt körperlicher 
Ursachen, noch endlich als eine Parallelerscheinung zum Körper gedacht 
werden kann; womit denn Dualismus, Idealismus, Materialismus und 
Parallelismus für widerlegt gelten. Diesen Theorien stellt der Verf. schlieüs 
lieh seine eigene, ausdrücklich nur als eine Hypothese vorgetragene, gegen- 
über. Die Hauptschwierigkeit des Problems von der Beziehung zwischen 
Geist und Körper erblickt er in der Tatsache, dafs einerseits das Bewufst- 
sein durch Gehimprozesse bedingt erscheint, und dafs andererseits in diesem 
Bewufstsein nicht die Gehimprozesse selbst, sondern deren äufsere Ursachen 
zur Wahrnehmung gelangen. Um diesen Sachverhalt zu erklären, nimmt 
der Verf. an, dafs in der sensorischen Nervenerregung zwei Bestandteile 
vorkommen : ein konstanter, welcher von der Natur des nervösen Apparates 
herrührt, und ein variabler, in welchem sämtliche Eigenschaften des reiz- 
aussendenden Objektes vertreten sind. Das Bewufstsein wirke nun wie 
ein Dialysator: es vernachlässige, wie auch sonst, den konstanten Bestand- 
teil, und lasse den variabeln Bestandteil hervortreten, demzufolge denn 
dieser ausschliefslich zur Wahrnehmung gelangt. Damit sei zugleich erklärt, 
dafs die motorische Nervenerregung unter allen, und die sensorische unter 
einigen Umständen unbewufst bleibt: in jenem Falle fehle das variable 
Element, und in diesem sei es entweder auf ein Minimum herabgesetzt 
(Abstumpfungserscheinungen) oder es finde eine Verspätung in der Analyse 
statt (Ablenkung der Aufmerksamkeit). 

Das ist der Hauptinhalt des geistreichen Buches; wo es ein Werk 
BiNBTS gilt, wird es kaum nötig sein hinzuzufügen, dafs die klare und 
elegante, anschauliche und anregende Art der Darstellung dem Leser manchen 
genufsreichen Augenblick bereitet. Dennoch drängt sich auch manche Frage 
auf. Was zuerst die Art und Weise betrifft, wie der Verf. zwischen Geist 
und Körper unterscheidet, so ist allerdings das Definieren schliefslich Sache 
der Willkür : ob man die leere Form des Bewufstseins der gesamten übrigen 
Wirklichkeit — , oder ob man das gegebene Bewufstsein in seiner Totalität 
den nichtgegebenen äufseren Ursachen der Empfindungen gegenüberstellen 
will, darüber läfst sich höchstens aus Zweckmäfsigkeitsrücksichten eine 
Debatte führen. Aber eben die Zweckmäfsigkeit der BufBTschen Schnitt- 
weise vermag ich durchaus nicht einzusehen. Er selbst legt (S. 4) seiner 
Untersuchung folgendes Kriterium zugrunde: „on doit chercher la man!- 
festation de Tesprit, s*il existe, sp^cialement dans le domaine des faits dont 
s*occupe la Psychologie, et la manifestation de la mati^re dans le domaine 



232 Literaturbericht. 

oü travaillent les physiciens"; während aber die zweite der obenerwähnten 
Einteilungen diesem Kriterium vollständig entspricht, würde sich nach der 
ersteren, vom Verf. vorgetragenen, die Psychologie nur für einen ver- 
schwindenden und aufserdem noch wenig scharf begrenzten Teile wirklich 
mit Psychischem beschäftigen. Nun wendet allerdings Butkt gegen jene 
zweite Einteilung ein, dafs man eben von den Ursachen der Empfindungen 
(seinem „X de la mati^re") nichts wissen könne, und dafs also nach ihr die 
Naturwissenschaft ihren Gegenstand verlieren und sich in Psychologie auf- 
lösen müTste. Aber diese Meinung ist wohl nicht ganz richtig. Die Gesetz- 
lichkeit, welche die Naturwissenschaft untersucht, ist eben nicht in Ver- 
hältnissen zwischen den Empfindungen, sondern (auch nach Binsts Meinung) 
in Verhältnissen innerhalb jenes „X de la mati^re'' begründet, und spiegelt 
sich in der Aufeinanderfolge der Empfindungen blofs gelegentlich ab; von 
jenem X und seiner Gesetzlichkeit ist uns demnach zwar auf direktem 
Wege keine absolute, wohl aber eine relative Kenntnis erreichbar, und die 
Naturwissenschaft hat mit der Vervollständigung dieser relativen Kenntnis 
für ungemessene Zeiten noch vollauf zu tun. Auch lälst sich die bloüs in 
ihrer Abspiegelung gegebene Gesetzlichkeit des X von der eigenen Gesetz- 
lichkeit der Empfindungen (wie sich dieselbe etwa in den Kontrast- und 
Hemmungserscheinungen offenbart) wenigstens prinzipiell vollkommen 
scharf trennen, und ist sie auch tatsächlich in der Wissenschaft stets, mit 
mehr oder weniger klarem Bewufstsein, von derselben getrennt worden. 
Bis auf weiteres finde ich also keinen einzigen Grund, die alte und allgemein 
angewandte Unterscheidung zwischen Geist und Materie durch eine neue 
zu ersetzen. — Noch bedenklicher als die BiNBTschen Begriffsbestimmungen 
an und für sich scheint mir die Art und Weise, wie er dieselben seiner 
Kritik der verschiedenen Welthypothesen zugrunde legt Denn diese Welt- 
hypothesen haben doch sicher mit dem „Geiste*' und der „Materie", welche 
sie entweder selbständig existieren oder auseinander hervorgehen oder sich 
parallelistisch entsprechen liefsen, nicht die Form und den Inhalt des Be> 
wufstseins, sondern vielmehr das ganze Bewufstsein und die in den Emp- 
findungen sich offenbarende, an sich aber aufserbewuTste Wirklichkeit 
gemeint ; wenn also der Verf. dieselben unter Voraussetzung seiner eigenen 
Begriffsbestimmungen bekämpft, so bekämpft er eben Windmühlen. — Und 
was nun schliefsllch seine eigene Theorie betrifft, so sieht es fast danach 
aus, als ob er bei der Begründung derselben seiner eigenen ausdrücklichen 
Anerkennung des „X de la matiäre" doch wieder untreu geworden wäre. 
Allerdings hat er dieses X als unerkennbar aus der Wissenschaft verbannt, 
aber damit ist es doch nicht aus der Welt geschafft worden ; vielmehr bleibt 
es nach wie vor, auch wenn wir übereinkommen nicht weiter darüber zu 
reden, die wahre und echte, einzige Ursache unserer Empfindungen. Wir 
dürfen allerdings fortfahren, uns die Ursache unserer Baumwahrnehmung 
als den mit allen Empfindungsqualitäten ausgestatteten realen Baum vor- 
zustellen (ähnlich wie wir auch nach Kopbrniküs uns die Sonne als bewegend 
vorstellen): wir müssen uns aber bewufst bleiben, dafs alle jene Emp- 
findungsqualitäten erst nach dem Nervenprozesse auftreten, und daCs wir 
vor demselben eben nichts weiter als das „X des Baumes" zu setzen be- 
rechtigt sind. Wenn dem aber so ist, wie kann dann ein Problem darini 



Literaturbericht 233 

liegen „que la conscience, öveill^e directement par une ondulation nerveuse, 
ne pergoive pas cette ondnlation, mais per^oive k sa place Tobjet extörieur" 
(S. 249)? Als wirklich existierend haben wir nichts weiter vorauszusetzen 
als das X des äufseren Gegenstandes, das X des Nervenprozesses und den 
resultierenden Empfindungskomplex; der Empfindungskomplex aber ist, 
wie BmBT ausdrücklich betont hat, ebensowenig als ein Abbild des X des 
äuüseren Gegenstandes, wie als ein Abbild des X des Nervenprozesses zu 
denken; sondern er verhält sich zu beiden blofs als die Wirkung zu ihrer 
indirekten bzw. direkten Ursache. Man kann also mit durchwegs gleichem 
Rechte sagen, daüs sich das X des Nervenprozesses, wie dafs sich das X 
des äufseren Gegenstandes in der gegebenen Empfindung uns bemerklich 
mache; nur macht sich ersteres selbstverständlich uns in anderer Weise 
bemerklich, als wenn es, statt unmittelbar die Empfindung zu erzeugen, 
ähnlich wie das zweite durch Vermittlung des X des Auges und des X 
eines zweiten Nervenprozesses eine Empfindung erzeugte. Was wir also 
damit meinen, wenn wir sagen, dafs wir beim Sehen eines Baumes eben 
den Baum und nicht den Nervenprozefs sehen, ist nichts weiter als dieses : 
dafs wir etwas anderes sehen als wir sehen würden, wenn das X des 
Nervenprozesses sich durch ähnliche Vermittlungen, wie jetzt das X des 
Baumes, uns bemerklich machte. Oder mit anderen Worten: in der Emp- 
findungswelt sind alle X durch ihre sinnlich vermittelten Wirkungen ins 
Bewufstsein vertreten, und da das X des Baumes ein anderes ist als das X 
des Nervenprozesses, so müssen auch die Empfindungen, welche diese 
beiden X vertreten, verschieden aussehen. Damit ist, wenn ich richtig 
sehe, das vom Verf. gestellte Problem als ein blofses Scheinproblem nach- 
gewiesen, und die von ihm vorgetragene Hypothese überflüssig geworden; 
das zurückbleibende Problem aber, wie die von der empirischen Forschung 
einmal innerhalb des Bewufstseins, sodann in der Welt der X und endlich 
zwischen beiden Welten festgestellten Abhängigkeitsbeziehungen zusammen 
bestehen können, m. A. n. das eigentliche, sehr reelle und sehr schwierige 
Problem von der Beziehung zwischen Geist und Körper, — dieses Problem 
ist vom Verf. nicht berührt worden. Hbymans (Groningen). 

P. BoNNisR. T a-t-U nne p8y€hologie hvinaliief Rev. scientifigue. ö. Serie. 
4, S. 641—644. 1905. 
Der Verf. wendet sich mit seiner Frage, die genauer lauten sollte: 
„Giebt es eine besondere Psychologie des Menschen ?'^ gegen den psycho- 
logischen „Anthropozentrismus", der sich in doppelter Form geschichtlich 
darstelle, dem zentripetalen und dem zentrifugalen. Jener sage von jedem 
lebenden Wesen „est, ergo cogitat'', erhöhe also das organische Gesamt- 
niveau, um den Menschen möglichst hoch zu stellen. Dieser tue das Gegen- 
teil, um den Menschen desto höher zu stellen. In Wirklichkeit gebe es 
so wenig eine „menschliche Psychologie**, wie es eine besondere menschliche 
Pathologie, Physik oder Chemie gebe. Es sei wohl richtig, dafs jedes 
lebende Wesen „denke", aber der Nachdruck liege darauf, dafs es denke 
„tel qu*il est, et pas autrement^'. „La psychologie est la domaine subjectif 
qui est au centre de notre Physiologie, comme Thomme a ^t^ longtemps 
au centre de Tunivers." 



234 LiteraturberidU. 

Damit ist natürlich trotz alier Geistreichigkeit nichts Nenee gesagt. 
So lange wir eben auf diese „subjektive Domftne'' angewiesen sind und 
uns in ihr leidlich zurechtzufinden glauben, wird alle Psychologie in dieser 
oder jener Form anthropozentrisch bleiben mflssen. 

Die feulletonistisch pointierende Darstellungs weise lAÜst vermuten, dafs 
es dem Autor selbst nicht darum zu tun war, der Frage von allen Seiten 
gerecht zu werden. Immerhin hätte er sich seine billigen Ausfälle gegen 
jeden metaphysischen Ausbau der Philosophie sparen können. 

AcKEBKNECHT (Stettin). 

F. Arnold. Tbe Ullity of Mental Life. Journal of Fhilos., Fsychol. and Scient 
Methods 2 (18), 487—493. 1905. 
Der Verf. macht den Versuch, die — sukzessive und simultane — 
Einheit des Bewufstseins zu analysieren. Im besonderen verteidigt er 
die ,,Assoziationspsychologie" gegen den Vorwurf, dafs sie eine falsche 
„atomis tische'* Betrachtung des Seelenlebens involviere. Freilich müsse 
man den Begriff der Assoziation richtig fassen: Wir erleben nicht Inhalte 
und Assoziationen zwischen den Inhalten als getrennte Faktoren, sondern 
wir erleben eine Einheit und zum Zwecke der wissenschaftlichen Be- 
trachtung lösen wir diese Einheit auf in Ideen, Gefühle etc. auf der einen 
und assoziative Verbindungen dieser Elemente auf der anderen Seite. 

V. AsTEB (München). 

Paul Schultz. Gehirn und Seele. VIII, 189 S. Leipzig, Barth. 1906. M. 5,60, 
geb. M. 6,60. 

Das Werk enthält die von Prof. P. Schultz während einer Reihe von 
Jahren gehaltenen öffentlichen Vorlesungen. 

Vor drei Jahren hatte der Verf. die eingehend behandelte und be- 
deutend erweiterte Einleitung in dieser Zeitschrift veröffentlicht und in 
derselben in der Hauptsache sein philosophisches Glaubensbekenntnis, die 
unbegrenzte Hingabe an Kant8 transzendentalen Idealismus entwickelt. 
Damals auch hatte er die weitere Herausgabe dieser Abhandlungen in 
Aussicht gestellt, doch eine jahrelang seine Kraft erschöpfende Krankheit 
raffte ihn schnell dahin, ehe er zu der Verwirklichung dieses Gedankens 
kam. So konnten dieselben nur herausgegeben werden in der Fassung, die 
er ihnen als Vorlesungen gegeben und mancherlei wäre wohl, hätte er 
selbst sie veröffentlicht, unter seiner bildnerischen Hand in andere Form 
gekleidet worden. Daher dürfen sie auch der Lage der Sache nach auf 
unbedingte Vollständigkeit keinen Anspruch erheben, aber auch so ver- 
mögen sie durch die Eigenart der Behandlung des Stoffes den Leser zu fesseln. 

Wenn der Verf. dieselben auch als populär-wissenschaftliche bezeichnet, 
da sie für Hörer aller Fakultäten offen standen, so bringt er doch darin 
eine solche Fülle spezieller, besonders nervenphysiologischer Fragen, da& 
wohl auch Fachleute sie mit Interesse verfolgen werden. 

Nach den einleitenden Worten über die Grenzen der Naturerkenntnis 
stellt er sofort den erkenntnis theoretischen Gesichtspunkt dar, unter 
welchem er den Stoff behandeln und welche Vorstellung von dem all- 
gemeinen Verhältnis von Materie und Bewufstsein er seinen beeondereä 



lAteraturbericht 235 

naturwissenschaftlichen Betrachtungen zugrunde legen will. Das ist der 
KANTsche transzendentale Idealismus und auf dieser Grundlage fufsend, 
f afst er das Verhältnis von Gehirn und Seele als zeitlich psycho-physischen 
Parallelismus auf, dessen naturwissenschaftlichen Nachweis er dann weiter 
durchzufahren versucht. Dahei geht er zunächst von dem Seelenbegriff 
aus, wie er in den verschiedenen philosophischen Systemen behandelt 
wurde, die allein auf Hypothesen aber das Wesen der Seele begründet, der 
nur mit Tatsachen rechnenden Naturwissenschaft eine befriedigende Antwort 
über das Problem nicht zu geben vermögen. Dann wendet er sich der 
Überlegung zu, worin das Geistige besteht und ob dasselbe nur auf den 
Menschen beschrankt sei oder auch den Tieren zukomme. 

Zunächst wirft sich dabei die Frage nach dem Unterschied von Mensch 
und Tier auf, die entsprechend der DABWiKschen Lehre dahin beantwortet 
werden mufs, dafs derselbe kein Wesensunterschied, sondern nur ein 
gradueller sein kann, der in dem dauernd aufrechten Gang und der Aus- 
bildung der Sprache bedingt ist. Um den geistigen Entwicklungsgang des 
Menschen zu verstehen, mufs man von dem Seelenleben der Tiere aus- 
gehen. Bis zu einem gewissen Grade kommen diese zur Bildung von All- 
gemeinvorstellungen und AsBoziationsvorgängen, wie an einigen charakte- 
ristischen Beispielen erläutert wird. Das Seelenleben der höheren Säugetiere 
hat sich dann stufenweise zu demjenigen des Menschen entwickelt. 

Dieses darzutun wird die ganze organische Stufenleiter von den 
Elementarorganismen an behandelt, der Aufbau des Nervensystems, der 
Keflezbögen, die Entwicklung des Gehirns besprochen und die Instinkt- 
handlungen als vererbte Beflexhandlungen erklärt. Wie nach dem bio- 
genetischen Grundgesetz von Habckel die Entwicklungsgeschichte des 
Individuums eine abgekürzte Wiederholung der Entwicklungsgeschichte 
des Stammes darstellt, so gilt dasselbe auch für einzelne Organe und 
besonders für das Gehirn, dessen Anatomie und Physiologie bei den 
Wirbeltieren und dann vornehmlich dem Menschen nun eingehend wieder- 
gegeben wird. 

Die stetige Zunahme des Gehirns in der Tierreihe veranlafst nun 
weiter Betrachtungen über das absolute und relative Hirngewicht als MaTs- 
Stab für die Höhe der Intelligenz, über den Einflufs von Geschlecht und 
Rasse und führt zu einer Kritik der Phrenologie Galls. Dieser schliefst 
eich dann ein Überblick an über die Verrichtungen des menschlichen 
Gehirns und die moderne Lokalisation der Himoberfläche, die Assoziations- 
zentren und das Grenzgebiet von geistigem Gesund- und Kranksein. Eine 
kurze Behandlung der Halluzinationen und Illusionen, der Theorien des 
Schlafes und Traumes und der Hypnose schliefst den Gang der Abhandlungen. 

Ist aus dem ganzen Aufbau schon die interessante Auffassung des 
Themas zu ersehen, so gewinnt der Inhalt noch ganz besonders durch die 
gewandte, vielfach dichterische Sprache und die klare Darstellungsweise. 
So dürfte auch das geschriebene Werk, wie es bei den gesprochenen 
Vorlesungen eine Reihe von Jahren hindurch der Fall war, bald einen 
grofsen Freundeskreis gewinnen. H. Beyer (Berlin). 



236 Literaturbericht 

A. H. PiERCE. Inferrod Conscions States and the Eqnallty Axiom. Journal of 
Philos,, Fsychol. and Scient. Methoda 2 (6), 160—165. 1905. 

Der Verf. wendet sich gegen das, was er das „STUMPF-SiouTsche Argu- 
ment'' für das Vorhandensein anbemerkbarer Empfindungen bzw. Emp- 
findungsunterschiede nennt. Die genannten Autoren gehen aus von dem 
Fall, dafs von drei ihrer Intensität nach nah aneinander liegenden Emp- 
findungen (Tönen) die zwei äufsersten — Si und S^ — deutlich unter- 
Bcheidbar sind, während jede derselben auch bei schärfster Anspannung 
der Aufmerksamkeit keinen Unterschied gegen die mittlere Empfindung 
82 mehr erkennen läTst. Nach dem bekannten Grundsatz „sind zwei Dinge 
einem dritten gleich, so sind sie auch untereinander 'gleich" müfste 
81 >=s Si sein. Da dies nach Aussage unseres unmittelbaren Bewufstseins 
nicht der Fall ist, mufs auch zwischen 81 und St bzw. 8^ und 5, ein, wenn 
auch für uns nicht mehr bemerkbarer unterschied bestehen. P. bekämpft 
diese Argumentation, indem er sich gegen das herangezogene, mathematische 
Axiom wendet: Das Axiom sei so gar nicht gültig, es müsse genauer lauten: 
8ind zwei Dinge unter bestimmten Bedingungen einem dritten gleich, so 
sind sie untereinander gleich, vorausgesetzt, daTs noch dieselben Bedingungen 
vorliegen. Es sei aber nicht notwendig, dafs beim Vergleich des 8i mit i^ 
dieselben — physiologischen — Bedingungen vorhanden sind, wie beim 
Vergleich von Si und 8^. — In dieser Form vermag Ref. die Schlüssigkeit 
des Einwandes nicht einzusehen. Wenn zwei Inhalte gleich sind, so gilt 
für sie das fragliche Gleichheitsaxiom, ganz gleichgültig, ob sie das eine 
Mal unter diesen, das andere Mal unter jenen Bedingungen stehen. Nur 
dann können die „Bedingungen" des Vergleichs in Betracht kommen, wenn 
das 81 in dem Moment, in dem es mit 8^ verglichen wird, durch die neu 
eintretenden physiologischen Bedingungen eben selbst ein anderes wird, 
als es vorher war, da es mit 8^ zusammengestellt wurde. Das wäre ein 
möglicher, aber freilich hypothetischer Gedanke. 

Etwas anders liegt die Sache freilich, wenn F., wie er es gelegentlich 
tut, seinem Gesetz die Form gibt: Zwei Inhalte, die einem dritten gleich 
erscheinen, erscheinen nur so lange einander gleich, als dieselben 
Bedingungen des Vergleichs vorliegen. Dies Gesetz gilt freilich, aber es 
hat mit dem mathematischen Gleichheitsaxiom nichts zu tun und bedeutet 
keineswegs eine Einschränkung seiner Gültigkeit. Nur könnte P. — was 
wohl in der Konsequenz seiner Worte liegt, aber nicht deutlich aus- 
gesprochen ist — hinzufügen, es habe keinen Sinn, bei Empfindungsinhalten, 
die einer objektiven Messung nicht zugänglich sind, noch von „Gleichheit" 
zu reden, — das „Gleichsein" könne hier eben nur noch die Bedeutung 
des „Gleicherscheinens" haben. v. Aster (München). 



M. Marage. SeisibiUti speciale de Poreille phyiiologiqne po«r certaines 
TOyeUes. Comptes rendm 140, 87—90. 1905. 

— Contributlon i Vitaüe de Torgane de Gort i. Ebda. 732—734. 

— Ponrqnoi certains sonrda-maets entendent mienx les sons graves qve les sois 
algu. Ebda. 780—781. 

1. Verf. bestimmte auf freiem Feld mit Hilfe einer Vokalsirene die 
Hörschwellen für die fünf Hauptvokale bei 125 m Distanz. Das Energie- 



Literaturberickt 237 

minimum, das eben noch genügte, um den Vokal hörbar zu machen^ liegt 
für jeden Vokal bei einer bestimmten Tonhöhe, nahe dem Eigenton des 
Vokals. Hieraus erklärt sich, warum beim Gesang der Vokal der Höhe 
des Melodietones angepafst wird (geringster Energieaufwand und gröfste 
Tragfähigkeit); femer, warupa Redner die Vokale a und o bevorzugen: 
e und i tragen nur in hoher Lage, u (Eigenton C2, Energieminimum bei 
C = -Olö kgm) ist in normaler Stimmlage zu anstrengend. Weiter schliefst 
Verf. aus seinen Versuchen, dafs es für Hörschärfeprüfungen unerläfslich ist, 
Schwingungen von bestimmter Art und bekanntem Grundton zu ver- 
wenden. 

2. Verf. wiederholte die bekannten HENSBNschen Versuche an Mysis, 
die von Helmholtz für seine Resonanzhypothese in Anspruch genommen 
wurden. Stimmgabeltöne und Vokale auf verschiedener Tonhöhe (Vokal- 
sirene) wurden zu einem kleinen Wasserbehälter geleitet, in dem sich 
die Crustacee befand. Eine Vibration der Schwanzhärchen des Tieres 
konnte auch dann nicht beobachtet werden, wenn die Tonintensität die für 
das menschliche Ohr auf grofse Entfernung gültige Schwellenenergie (s. o.) 
übertraf. Bei Versuchen mit Trompeten tönen (Hensbn hatte ein cornet ä 
pistons benützt) zeigte sich zwar eine Bewegung der Härchen, doch liefs 
sich keine selektive Wirkung der verwendeten Tonhöhen (d, und C4) 
erkennen. 

3. Die Versuche wurden auch auf andere Tiere, denen Gehörorgane 
fehlen, ausgedehnt. Serpula (ein Borsten wurm) zog ihre Tentakeln sofort 
ein, wenn der Vokal u auf hi erklang; die Reaktion blieb (bei gleichem 
Vokal und gleicher Energie) bei &2 und b^ aus. Ähnlich reagierte Cyona 
intestinalis. Krabben, denen die globi abgetragen wurden, berühren beim 
Erklingen tiefer Töne augenblicklich die verletzte Stelle mit den Beinen. 
Verf. stellt diese Beobachtungen in Parallele mit dem Befund, dafs manche 
Taubstumme, denen die Sprachperzeption vollständig fehlt, den (synthe- 
tischen) Vokal u auf /i bei einer Energie von 0-005 kgm noch wahrnehmen, 
e auf fi und i auf f^ dagegen nicht, wie grofs auch die Intensität sei. Es 
handelt sich hier offenbar ebenso, wie bei den Tierversuchen, um Tast- 
empfindungen. Als praktische Eonsequenz ergibt sich, dafs nach der Form 
der Hörschärfekurve diejenigen Taubstummen erkannt werden können, bei 
denen Hörübungen von vornherein aussichtslos sind. 

HoRNBOSTEL (Berlin). 

V. FoRTi und B. Barrovecchio. Ein weiterer Beitrag rar KenntBis des Yibratieis- 
gefflhlfl. Medizinische Klinik. 1905. Nr. 34. 
Verf. untersuchten drei Patienten, die eine Dissoziation der Sensi- 
bilitätsarten nach dem syringomyelitischen Typus zeigten. Das Vibrations- 
gefühl war nur in den Zonen erloschen, wo der Tastsinn aufgehoben war, 
während es völlig ungestört blieb, wo nur Schmerz- und Temperatur- 
empfindung aufgehoben waren. Neben entschiedenen Störungen von 
Schmerz- und Temperaturempfindung waren Tastsinn und Vibrosensibilität 
intakt.' Erhaltung, Herabsetzung und Aufhebung des Vibrationsgefühls 
stimmten mit denjenigen des Tastsinnes völlig überein, während die 
Störungen von Schmerz- und Temperatursensibilität verschieden waren. 



238 lAteraturbericht. 

Das Verhalten des Vibrationsgefühls Eeigte in allen drei Fällen die auf- 
fallendste Analogie mit denjenigen des Tastsinnes, -während es sich von 
dem der Schmerz- und Temperaturempfindung wesentlich unterschied. 
Alles spricht dafür, dafs Tastsinn und Vibrationsgefühl ÄuTserungen einer 
einzigen Sensibilitätsart sind. Umpfsnbach (Bonn). 

w. Mo DoüGALL. On a lew lethod for tb0 Stvdy of GoictrrMt letttal Operitioiis 
and of lental Fatigae. Bntish Journal of Psychology 1 (4), 435—445. 1905. 
Die Vorrichtung, welche Verf. beschreibt, läfst mit gleichmäfsiger 
Schnelligkeit einen Papierstreifen rotieren, auf dem Versuchsperson nach 
Vorschrift irgendwelche bestimmte Zeichen anzubringen hat. Gleichzeitig 
setzt auf dem Streifen ein Schreibstift auf, welcher auf diesem eine gerade 
Linie zieht, solange er nicht durch einen Zug an einer Seidenschnur aas 
seiner Normallage gebracht wird und alsdann irgend welche Kurven 
beschreibt. Letzteres kann durch eine Reaktion der linken Hand bewerk- 
stelligt werden, so dafs es also möglich ist, auf demselben Papierstreifen 
unmittelbar übereinander den Verlauf zweier verschiedener gleichzeitiger 
Tätigkeiten zu notieren und daraus die Wirkungen der Konkurrenz, der 
£rmüdung, geistiger Getränke usw. unmittelbar abzulesen. 

Pbandtl (Weiden). 

F. N. Halbs. Materials for tbe Psycho-Goaetle Theory of Gomparlsoi. British 
Journal of Fsychology 1 (3), 205—239. 1905. 
Da auf dem Gebiete der Kinderpsychologie noch wenig oder nichts 
zur psychogenetischen Untersuchung der Vergleichungsurteile geschehen 
ist» so beschränkt sich Verf. auf die Ausdrucksmittel der primitiven Wort- 
sprachen sowie der Gebärdensprache der Taubstummen sowohl als unzivlli- 
sierter Völker, erzielt aber auch so ein reichhaltiges Material mit bestimmt 
ausgeprägter GesetzmäTsigkeit, die um so bedeutsamer erscheint, als ein 
Parallelismus der Entwicklung auf beiden Gebieten nicht zu verkennen ist. 
Danach äufsert sich auf der untersten Stufe der Entwicklung die Ver- 
gleichung zweier Gegenstände in einfacher Bejahung der in Frage gezogenen 
Eigenschaft bei dem einen, und in einfacher Verneinung derselben bei 
dem anderen Gregenstand („Opposition"). Unmittelbar fortgebildet erscheint 
diese Ausdrucksweise, wenn der Taubstumme die (absolute oder relative) 
Gröfse eines jeden der zu vergleichenden Gegenstände nacheinander durch 
eine eigene Gebärdebewegung angibt und den Unterschied der beiden 
Gröfsen unmittelbar aus dem Unterschied der Bewegungen erkennen läfst, 
oder wenn in der Wortsprache die einfache Bejahung durch den Zusatz 
verstärkt wird, dafs nur dem einen Gegenstand die fragliche Eigenschaft 
zukomme („Exclusion"). Weiterhin vereinen sich dann wieder Gebärden- 
und Wortsprache, indem die Gröfise des einen Gegenstandes (der Grad 
seiner Eigenschaft) als gegeben gesetzt und die des anderen dann daraus 
abgeleitet oder an ihm als einem MaCsetab gemessen wird („Separation*^). 
Daneben kann in der Wortsprache noch die besondere aus der Exklusion 
weitergebildete Form treten, in welcher der Urteilende die beiden Gegen- 
stände als nebeneinander befindlich denkt und alsdann von dem «inen 



Literaturbericht 239 

derselben eine verneinende oder bejahende Aussage macht („Apposition"). 
Eine leiste Stufe der Entwicklung ist es, wenn, in der Gebärdensprache 
sowohl als den primitiven Wortsprachen, ein eigenes Zeichen für die 
Begriffe Mehr und Weniger eingeführt, somit zur Komparation die Gradation 
hinEugefttgt wird. Prandtl (Weiden). 

F. C. Frbmch. The RelattoA of Psycbolq;! to the PhUosophy of RelisioiL 

Journal of Fhilos,, Fsychol. and Sdent. Methods 2 (26), S. 701—707. 1905. 
Frsnch erblickt in der Annahme von James (,The Varieties of Beligious 
Experience^j, dafs im menschlichen Greistesleben und zwar in dessen unter- 
bewufsten Vorgängen ein Eintreten des Übersinnlichen erfolge, einen Wider- 
spruch mit dem wissenschaftlichen Charakter der Psychologie, sofern diese, 
ebenso wie die Naturwissenschaft, nur einen geschlossenen Zusammenhang 
natürlicher Vorgänge kenne, und sofern die psychologische Form der 
religiösen Erlebnisse auch bei anderen Erscheinungen des geistigen Lebens 
sich finde. Damit sei die Realität eines Übersinnlichen, eines vernünftigen 
Weltgrnndes, nicht bestritten, für die vielmehr gerade der rationale, gesetz- 
mäfsige Charakter der äufseren und inneren Erfahrung einen Erweis liefere. 

M. ScHEiBB (Leipzig). 

8. Frbud. Brtchstfick einer Hysterie-Analyie. Monatsschr. f. Psychiatrie u. 
Neurol 18 (4 u. 5), 8. 285—309, 408-467. 1906. 

F. geht von der Ansicht aus, dafs die Verursachung der hysterischen 
Erkrankungen in den Intimitäten des psychosexuellen Lebens der Kranken 
gefunden wird, und dafs die hysterischen Symptome der Ausdruck ihrer 
geheimsten verdrängten Wünsche sind. Die Vertiefung in die Probleme 
des Traumes ist eine unerläfsliche Vorbedingung für das Verständnis der 
psychischen Vorgänge bei der Hysterie und den anderen Psychoneurosen. 
Fb. glaubt schon 1900 in seinem Buche „Die Traumdeutung" nachgewiesen 
zu haben, dafs Träume im allgemeinen deutbar sind, und dafs sie nach 
vollendeter Deutungsarbeit sich durch tadellos gebildete an bekannter Stelle 
in dem seelischen Zusammenhang einfügbare Gedanken ersetzen lassen. 
Der Traum stellt einen der Wege dar, wie dasjenige psychische Material 
zum Bewufstsein gelangen kann, welches kraft des Widerstrebens, das sein 
Inhalt rege macht, vom BewuIiBtsein abgesperrt, verdrängt und somit 
pathogen geworden ist. Der Traum ist einer der Umwege zur Umgehung 
der Verdrängung, eines der Hauptmittel der sogenannten indirekten Dar- 
steUnngsweise im Psychischen. 

Das vorliegende Bruchstück aus der Behandlungsgeschichte eines 
hysterisehen Mädchens soll nun zeigen, wie die Traumdeutung in die 
Analyst) eingreift. F. behauptet, jeder Traum sei ein als erfüllt dargestellter 
Wunsch; die Darstellung sei eine verhüUende, wenn der Wunsch ein ver- 
dringter, dem Unbewufsten angehOriger sei, und auüBer bei den Kinder* 
titamen habe nur der unbewufste oder bis ins Unbewufste reichende Wunsch 
die Kraft, einen Traum zu bilden. Ohne verallgemeinern zu wollen, meint 
Verf.; „Ein ordentlicher Traum steht gleichsam auf zwei Beinen, von denen 
das eine den wesentlichen aktuellen Anlafs, das andere eine folgenschwere 



240 Literaturbericht 

Begebenheit 'der Kinderjahre berührt. Zwischen diesen beiden, dem Kinder- 
erlebnis und dem gegenwärtigen, stellt der Traum eine Verbindung her, 
er sucht die Gegenwart nach dem Vorbild der frühesten Vergangenheit 
umzugestalten. Der Wunsch, der den Traum schafiEt, kommt ja immer aus 
der Kindheit; er will die Kindheit immer wieder von neuem zur Realität 
erwecken, die Gegenwart nach der Kindheit korrigieren." 

In der vorliegenden Analyse sucht Fs. zu beweisen, wie die Traum- 
deutung zur Aufdeckung des Verborgenen und Verdrängten im Seelenleben 
verwendet werden kann. Umpfbnbach (Bonn). 

A. Pick. Zur Aialyte der Elemente der Anmsle. Monatsschr. f. Psychiatrie u. 
Neurol 18 (1), S. 87—96. 1906. 
Auf Grund musikpsychologischer Studien kennen wir als an den 
Tönen zu unterscheidende Faktoren: die Qualität, resp. Stellung in der 
Tonreihe, die sogenannte Höhe und den Gang der Melodie, Intensität und 
Stärke, Klangfarbe, Rhythmus. Dazu kommt noch der Gefühlsausdruck. 
P. erweist nun zunächst an klinischem Material das Vorkommen von 
Störungen dieser einzelnen Faktoren im Bereiche der Amusie. Das klinische 
Material ist bisher nicht sehr grofs. Die Sache selbst gehört in den Rahmen 
der aphasischen Störungen. P. glaubt durch Zusammenfassen des bisher 
auf diesem Gebiete Vorhandenen die klinische Lehre von der Aphasie, die 
jetzt an 'einem gewissen toten Punkt angelangt sei, über diesen hinaus- 
zubringen. Brissattd hat bereits Störungen der Intonation als Aphasie 
d'intonation als etwas Besonderes aus den Erscheinungen der Aphasie 
herausgehoben, wobei er hauptsächlich den expressiven Teil der Sprache 
im Auge hatte. Doch gilt dies auch vom impressiven Teil, wie P. durch 
eigene einschlägige Tatsachen beweist. Auch in der Intensität der Sprache 
kommen Störungen vor. Die aphasischen Störungen sind noch einer viel 
weitergehenden Analyse fähig, und von einer Verwertung der dadurch nach- 
gewiesenen Einzelsymptome ist eine weitere theoretische und praktische 
Vertiefung des Studiums jener Störungen zu erhoffen. 

Umpfekbach (Bonn). 

R. LiPscHiTz. Z«r itlelogie der lelaneholie. Manatssdir. f. Psychiatrie u. 
Neural 18 (3 u. 4), S. 193—221, 358-381. 1905. 
L. hat sich der Mühe unterzogen, 351 Fälle von Melancholie nach der 
ätiologischen Seite hin zu gruppieren und mit den betreffenden Angaben 
der Literatur zu vergleichen. Unter den ca. 30000 Aufnahmen der letzten 
5 Jahre befanden sich 1,2% Melancholische im Sinne Zishens, und zwar 
0,35% Männer und 2,89% Frauen. Die stärkere Beteiligung der Frauen 
sucht L. im Organismus der Frau selbst» nicht in äuTseren Ursachen. Dafs 
das Maximum der Häufigkeit mit der Zeit des Klimakteriums zusammen- 
fällt, macht es wahrscheinlich, dafs es sich hierbei um einen direkten 
ätiologischen Zusammenhang mit der Rückbildung der Geschlechtsorgane 
handelt, um eine durch die Involution bedingte Erhöhung der Disposition. 

Umpfbnbach (Bonn). 



241 



Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen. 

Von 
Prof. Th. Ziehen in Berlin. 

3. E. Mach. 

Gegenüber dem logischen Standpunkt Schuppes hebt sich 
der physikalische Eenst Machs sehr scharf ab. Um so beachtens- 
werter ist, dafs beide in vielen erkenntnistheoretischen Fragen 
nnter sich und mit Avenariüs übereinstimmen. Im folgenden 
will ich versuchen auch gegenüber den MAcnschen Lehren meine 
Erkenntnistheorie, die bei mancher Übereinstimmung in vielen 
wesentlichen Punkten abweicht, zu rechtfertigen. Die Schrift 
Machs, die für seine Erkenntnistheorie namentlich in Betracht 
kommt, ist: 

Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des 
Physischen zum Psychischen. Jena, 6. Fischeb. 1. Aufl. 1886, 
2. Aufl. 1900, 3. Aufl. 1901, 4. Aufl. 1903. Mir war leider nur 
die 1. und die 4. Auflage zugänglich. Der oben angegebene 
Titel ist derjenige der 4. Auflage; der erste erschien unter dem 
Titel „Beiträge zur Analyse der Empfindungen". Ich werde im 
folgenden stets die 4. Auflage zitieren, wofern nichts anderes 
ausdrücklich bemerkt ist, und zwar kurz als „A. d. E." Dazu 
ist dann noch in letzter Zeit das grofse Werk „Erkenntnis und 
Irrtum", Leipzig, J. A. Baeth 1905 gekommen, welches ich kurz 
„E. u. I." zitieren werde. ^ 

Auch die zahlreichen physikalischen und physiologischen 
Arbeiten Machs sind reich an erkenntnistheoretischen Ausblicken. 
Ich werde sie im folgenden stets mit vollem Titel zitieren. 



^ Ein groÜBer Teil dieses Manuskripts war bereits fertig gestellt» als 
dies nene Werk erschien. 

Zeitschrift für Psychologie 43. IB 



242 Th. Ziehen, 

a) Der erkenntnistheoretische Fundamental- 
tatbestand bei Mach. 

Der Fundamentalbestand für Mach ist „eine geringe Zahl 
von gleichartigen Elementen", die in bald flüchtigerer, bald 
festerer Verbindung vereinigt sind (A. d. E. S. 17). Mach fügt 
dann selbst hinzu, man nenne diese Elemente gewöhnlieh 
Empfindungen, er ziehe aber vor, kurzweg von Elementen zu 
sprechen, da in der Bezeichnung „Empfindungen" bereits eine 
einseitige Theorie liege. Er unterscheidet femer sofort 3 Arten 
von Elementarkomplexen, nämlich (ebda. S. 7) 

1. Elementarkomplexe ABC . . ., welche man gewöhnlich 
Körper nennt; 

2. den Komplex KLM . . ., der unser Leib heifst und ein 
durch Besonderheiten ausgezeichneter Teil der ersteren ist, imd 

3. den Komplex er, /?, y . . ., d. h. den Komplex von Willen, 
Erinnerungsbildern usw. 

Ich kann mit dieser Statuierung des erkenntnistheoretischen 
Fundamentalbestandes fast vollkommen übereinstimmen. Die 
Elementarkomplexe ABC entsprechen meinen t- und ©-Empfin- 
dungen, die Komplexe KLM meinen v- Empfindungen. Ich 
gebe dagegen nicht zu, dafs mit der Bezeichnung „Empfin- 
dungen" eine einseitige Theorie verknüpft ist. Wie ich bereits 
in einer früheren Auseinandersetzung erörterte, ist jede Be- 
zeichnung für die uns gegebenen sinnlich lebhaften Erlebnisse 
Mifsverständnissen ausgesetzt.^ Das Wort Erscheinung weckt 
den Nebengedanken an ein extrapsychisches Ding, welches er- 
scheint, das Wort Empfindung den Nebengedanken an ein in- 
dividuelles Ich, welches empfindet. Der erkenntnisiheoretische 
Fundamentaltatbestand mufs von beiden Nebengedanken frei- 
gehalten werden. Erwägt man aber, dafs die sinnlich lebhaften 
Erlebnisse sich absolut decken mit dem, was in der Psychologie 
als Empfindung bezeichnet wird, dagegen keineswegs mit dem, 
was in der Naturwissenschaft als Erscheinung bezeichnet wird, 
da bei einer solchen fast stets bereits viele individuelle Zutaten 
weggedacht sind, so scheint mir die Bezeichnung Empfindung 

^ Die Ursache, weshalb sprachliche Bezeichnungen für diese all- 
Umfassenden Erlebnisse des erkenntnistheoretischen Fundamentalbestandes 
fehlen, liegt offenbar darin, dafs für unser Denken und unsere Verständi- 
gung gerade immer ein Herausgreifen eines Teils oder eines Einzelnen in 
erster Linie in Betracht kommt. 



Erkenntnistheoretische Äu8einander8etzu9tg€n. 243 

bei weitem vorzuziehen. Es bedarf nur eben der ausdrücklichen 
Hinzufügung, daTs die Bezeichnung keinerlei hypothetisches Ich 
involviert. Die MACHsche Bezeichnung Elemente und Elementen- 
komplexe erscheint mir schon deshalb unzweckmäfsig, weil die 
Zerlegung in relativ wenige einfache Bestandteile, welche der 
Bezeichnung zugrunde liegt, für das zu Bezeichnende vom all- 
gemeinsten erkenntnistheoretischen Standpunkt aus durchaus 
unwesentlich ist. 

Ebensowenig kann ich Mach beistimmen, wenn er den 
Unterschied zwischen den -42? C- und den a/?y-Elementen nur in 
der Art ihrer Verbindung findet. Dieser Unterschied besteht 
auch xmabhängig von allen Verbindungen mit anderen Elementen. 
Jetzt sehe ich eine Kose, im folgenden Augenblick stelle ich sie 
vor. Der Unterschied ist vor allem ein qualitativer. Wir be- 
zeichnen ihn als sinnUche Lebhaftigkeit. Er ist nicht definierbar, 
sondern nur erlebbar. Gewifs sind auch die Bedingungen des 
Auftretens für Empfindung und Vorstellung verschieden, aber 
ebenso gewifs ist dies nicht, wie Mach behauptet, der einzige 
Unterschied. ^ 

Endlich übersieht Mach, wenn er die Gefühle schlechthin 
zu den Empfindungen rechnet, die psychologische Tatsache, dafs 
sie teils mit ABC- bzw. -K'Li/- Elementen, teils mit a^^y- Ele- 
menten verbunden sind (sensorielle und intellektuelle Gefühlstöne). 
Ich halte es für notwendig, dafs auch in dieser Beziehung der 
erkenntnistheoretische Fundamentalbestand genau so dargestellt 
wird, wie ihn die psychologischen Tatsachen darbieten. 

Vollständig stimme ich wieder mit Mach überein, wenn er 
das Ich aus dem erkenntnistheoretischen Fundamentalbestand 
völlig streicht.^ 

Es versteht sich bei der Anschauung Machs geradezu von 
selbst, dafs er die Introjektion verwirft, wie dies Avenaeius, 
Schuppe und ich getan haben.* Nur wenn er statt dessen von 



* Vgl. meine Erkenntnistheorie S. 60 ff. Vgl. auch Mach, E. u. I. S. 20. 

* Als eine „provisorische Fiktion" wird es E. u. I. S. 13 bezeichnet. 

' Historisch bemerke ich noch, dafs Mach die Introjektion niemals so 
klar wie Avenabius und Schuppe als Hauptquelle vieler erkenntnis- 
theoretischer Irrtümer erkannt hat. Implicite enthält wohl schon die 
1. Auflage seiner Analyse der Empfindungen (1885/86) die Verwerfung der 
Introjektion oder, wie Mach es jetzt ausdrückt, die Beseitigung der Extra- 
jektion. Schuppe hat die Introjektion bereits 1870 bekämpft. Avenamus 

16* 



i 



244 Th. Ziehen. 

einem engeren oder stärkeren Zusammenhang der Empfindungen 
im Ich spricht, bedarf diese übrigens vorläufige Behauptung 
einer näheren und klareren Feststellung (siehe unten). 



b) Der Unterschied und das Verhältnis des 
Physischen und Psychischen. 

In der Auffassung dieses Unterschieds und Verhältnisses 
weichen Machs Ansicht und die meinige weit voneinander ab, 
viel weiter, als es bei oberflächlicher Betrachtung scheint. Mach 
glaubt, dafs das Physische imd das Psychische identisch ist. Er 
formuliert dies etwa folgendermafsen : wenn ein A, z. B. das Grün 
oder, wie ich sagen würde, die individuell bestimmte Grün- 
empfindung eines Blattes gegeben ist, so kann ich entweder 
seine Abhängigkeit von anderen Empfindungen äufserer Reize 
BCDE oder seine Abhängigkeit von dem Netzhautprozefs XYZ 
(ich würde sagen dem kortikalen Prozefs in der Sehsphäre) unter- 
suchen ; dasselbe identische A ist im ersteren Fall physikalisches, 
in letzterem psychisches Element. Ich glaube demgegenüber, 
dafs das A, so wie es uns gegeben ist, ausschliefslich ein 
psychisches Element ist, und stütze die Berechtigung der Be- 
zeichnung „psychisch" darauf, dafs es mit allen den individuellen 
Zufälligkeiten, sog. Täuschungen usw. behaftet ist, welche nach 
der herkömmlichen Bezeichnungsweise das Psychische charakteri- 
sieren. Das A hängt einerseits von BCDE und andererseits von 
X YZ ab ; sowohl ß CD E wie X YZ sind nur als Empfindungen 
gegeben. Durch diese doppelte Abhängigkeit spaltet sich A je- 
doch nicht, es bleibt, wie Mach selbst sagt, eines und dasselbe. 
Diese doppelte Abhängigkeit würde an sich noch niemals zu 
einer doppelten Auffassung des -4 (als eines physikalischen und 
eines psychischen Elements) führen, geschweige denn berechtigen. 
Mach ist hier mit seiner, erkenntnistheoretischen Analyse auf 
halben Wege stehen geblieben. Ich führe diese Analyse in 
folgender Weise zum Ziel. Die gegenseitige Abhängigkeit des A 
von BCDE ergibt die Kausalgesetze, diese sind nur ein Ausdruck 
dieser gegenseitigen Abhängigkeit von ABC DE, Diese Kausal- 



hat in seiner Schrift aus dem Jahr 1876 „Philosophie als Denken der Welt 
gemäfs dem Prinzip des kleinsten Kraftmafses'' (2. Aufl. 1903, namentlich 
8. 53 ff.) die Introjektion noch nicht überwunden. 



Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen, 245 

gesetze^ ergeben sich exakt jodoch nur nach bestimmten Um- 
formungen oder Reduktionen der ABC DE, d. h. nach Ehmina- 
tion zahlreicher individueller Eigentümlichkeiten der ABCDE- 
Anders die Abhängigkeit zwischen A einerseits und dem him- 
phj Biologischen Prozessen X YZ andererseits. Diese Abhängigkeit 
ist eine doppelte. Sie zerlegt sich in 2 prinzipiell ganz ver- 
schiedene Abhängigkeiten. Erstens ist nämlich der himphysio- 
logische Prozefs XYZ von dem A abhängig, populär ausgedrückt : 
er wird hervorgerufen von dem A. Diese Abhängigkeit gehorcht 
ganz denselben Kausalgesetzen wie die gegenseitige Abhängigkeit 
der ABCDE untereinander. Wie die letztere ist sie exakt auch 
nur dann festzustellen, wenn ich sowohl das A wie die X YZ in 
bestimmter Weise umgeformt oder reduziert habe, d. h. wieder 
die individuellen Eigentümlichkeiten eliminiert habe. Solange 
mir nur die Empfindung des grünen Blattes in ihrer perspekti- 
vischen Verkürzung, in ihrer Beeinflussung durch die zwischen- 
liegenden Luftschichten und namentlich durch den Zustand 
meines Nervensystems gegeben ist, und solange mir auch die 
Empfindung der Sehrinde nur als eine graue aus Ganglienzellen 
und Fasern zusammengesetzte Schicht gegeben ist, wiederum 
behaftet mit zahllosen individuellen Eigentümlichkeiten und Zu- 
fälligkeiten, besteht ein exakter Kausalzusammenhang nicht. Ich 
mufs erst alle diese individuellen EigentümUchkeiten eliminieren, 
mit dem Physiker an Stelle der Blattempfindung und der Rinden- 
empfindung ^ ein von diesen Zufälligkeiten befreites Etwas setzen, 
um die kausalen Veränderungen exakt gesetzmäfsig vom Blatt 
bis zur Rinde verfolgen zu können. Diese erste Abhängigkeit 
zwischen A einerseits und X YZ andererseits entspricht also ganz 
der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen AB CDE untereinander. 
Dafs sie nicht gegenseitig ist wie die letztere, d. h. dais nicht 
auch die X FZ nach dem Kausalgesetze A verändernd beeinflussen,'' 
erklärt sich aus der Lage von XYZ in unserer Schädelkapsel; 
diese Lage erklärt uns gerade nach den Kausalgesetzen ohne 
weiteres, dafs die X YZ nicht oder fast nicht kausal verändernd auf 
A wirken können.* Prinzipiell ist dieser Unterschied keineswegs. 

^ Biese Gesetze sind auch mit den Kräften der Physik identisch. Es 
ist noch ein Rest von Scholastik, wenn wir die Kräfte als „Ursachen" von 
Bewegungen oder Veränderungen bezeichnen. 

' Binde im Sinne des Gen. objectivus. 

' Eine Ausnahme bieten z. B. unsere bewufsten, sog. „willkürlichen" 
Bewegungen. 



246 ^- Ziehen, 

Auch unter den ABCDE ist die Abhängigkeit nicht immer 
gegenseitig. Die verändernde kausale Wirkimg von B auf A 
kann sehr grofs sein, während die verändernde kausale Wirkung 
von A auf B zu Null herabsinkt. Die Sonne schmilzt den Schnee, 
während der Schnee auf die Sonne keine oder fast keine Wirkung 
ausübt. Aufser dieser ersten Abhängigkeit, welche mit der kau- 
salen innerhalb der ABCDE identisch ist, ergibt aber die 
Analyse sofort noch eine zweite, die prinzipiell verschieden ist. 
Unter dem Einflufs von XYZ ändert sich A, Wenn mein Seh- 
organ X YZ (im weitesten Sinne) farbenblind ist, ändert sich A. 
Wenn ich ein blaues Glas vorsetze und damit die Kausalwirkungen 
von A abweichende Veränderungen von X YZ hervorrufen, ändert 
sich A, Diese Abhängigkeit ist von der kausalen verschieden. 
Sie entspricht nicht den Kausalgesetzen, sondern der spezifischen 
Energie der Sinneszentren (im weitesten Sinne). Der wesentUche 
Unterschied liegt darin, dafs diese Veränderungen des A nicht 
Funktionen der Zeit sind. Der Sonnenstrahl JB, der den Schnee 
A schmilzt, braucht dazu eine bestimmte Zeit; ganz ebenso auch 
der von dem Schnee A ausgesendete Lichtstrahl, der eine Ver- 
änderung (Erregung) in meiner Sehsphäre XYZ hervorruft. 
Anders bei der 2. Abhängigkeit. Wenn in meiner Sehsphäre eine 
beliebige Veränderung eintritt, so ist mit dieser Veränderung 
sofort auch die Veränderung des A gegeben. Die Veränderungen 
in der Hirnrinde nehmen kürzere oder längere Zeit in Anspruch, 
aber mit einer Veränderung der Hirnrinde ist sofort, in absolutem 
ParalleUsmus auch die Veränderung des A gegeben. Diese zweite 
Abhängigkeit, welche zwischen A einerseits und XYZ anderer- 
seits besteht, habe ich als Parallelgesetzlichkeit ^ bezeichnet. Sie 
ist einseitig,* insofern nur A sich imter dem Einflufs von XYZ, 
nicht aber XYZ unter dem Einflufs von A verändert. Im Be- 
•reich der Parallelgesetzlichkeit ist A stets die abhängige V^ariable, 
während im Bereich der Kausalgesetzlichkeit A bald die abhängige 
bald die unabhängige Variable und meistens im einen Fall 
das eine, im andern das andere ist. Und auch damit ist die 
erkenntnistheoretische Analyse nicht erledigt. Es ergibt sich 
nämlich nun sofort noch, dafs die obenerwähnten, zur exakten 
Darstellung der Kausalgesetzlichkeit erforderlichen Reduktionen 

^ Sie ist das Tatsächliche an dem sog. psychophysischen Parallelismus. 
' Daher habe ich auch von Rückwirkungen gesprochen im Gegensatz 
zu den kausalen primären Einwirkungen der ABCDE auf die XYZ. 



ErkenntnistheoreHsche Auseinandersetzungen. 247 

oder Eliminationen, welche oben noch nicht näher bestimmt 
werden konnten, vollständig zusammenfallen mit der Ausschaltung 
eben jener Einflüsse der Parallolgesetzlichkeit. 

Damit ist auch erst der wichtigste Ursprung der Unter- 
scheidimg des Psychischen und Physischen aufgedeckt. Auch 
der naivste Mensch vollzieht die soeben angeführten Reduktionen 
oder Eliminationen, allerdings unvollständig, unsystematisch und 
oft auch unrichtig. Schon die einfache Tatsache, dafs die 
optischen AB CD usw. verschwinden, wenn ich die Augen schliefse, 
zwingt efne solche primitive Reduktion geradezu auf. Das Redu- 
zierte (die Reduktionsbestandteile) hat man als das Physische 
bezeichnet. Die Erkenntnistheorie bestätigt diese Reduktionen 
und berichtigt und vervollkommnet sie zugleich mit Hilfe der 
Naturwissenschaft. Abgeschlossen sind diese Reduktionen nie- 
mals, da wie die Erforschung der Naturgesetze, so auch die Er- 
forschung der Parallelgesetze schwerlich jemals vollständig ge- 
lingen wird. Die erkenntnistheoretische Reduktion ist von der- 
jenigen des naiven Bewufstseins insofern nur graduell verschieden. 
In anderer Beziehung befreit sie uns allerdings auch von einem 
naheliegenden Irrtum des naiven Bewufstseins, dem Irrtum näm- 
lich, als seien diese Reduktionsbestandteile etwas ganz Heterogenes, 
welches als Physisches oder Materie dem Psychischen entgegen- 
gesetzt werden müfste. Mit der Reduktion ist gar kein quali- 
tativ neues Attribut gewonnen worden, sondern nur eine be- 
stimmte Komponente, die mehr oder weniger individuelle 
Parallelwirkung, eliminiert worden. Es liegt sonach zu einer 
solchen gegensätzlichen Gegenüberstellung oder zur Konstruktion 
eines ganz heterogenen physischen Etwas nicht die geringste 
Berechtigung vor.^ 

Damit stellt sich das Verhältnis des Psychischen zum 
Physischen doch ganz anders dar als in der Darstellung Machs.* 
Nachdem ich nunmehr den Unterschied der MACnschen imd 



^ Ich erinnere hier auch daran, daüs dieser Gegensatz nicht stets in 
dieser Schärfe bestand, sondern im wesentlichen erst durch die Stoiker 
und das Christentum eingeführt worden ist. Vgl. Zibhbn, Über die all- 
gemeinen Beziehungen zwischen Gehirn und Seelenleben, Leipzig 1902. 

* Wie wenig Mach den Unterschied zwischen den Parallelgesetzen und 
den Naturgesetzen erkannt hat, ergibt sich z. B. auch aus Mech. in ihrer 
Entw. S. 493, wo er die unwesentliche Verschiedenheit des Hungers und 
der chemischen Affinität usw. betont. 



248 Th, Ziehen. 

meiner Darstellung scharf gekennzeichnet habe, würden die 
Argumente pro und contra zu vergleichen und damit eine Ent- 
scheidung zwischen den beiden Auffassungen herbeizuführen 
sein. DaTs rein logische Argumentationen zu einer solchen Enir 
Scheidung ungeeignet sind, bedarf heute keines Beweises mehr. 
Es kann sich nur darum handeln, die beiden Auffassungen nach- 
und mitzudenken und zu vergleichen, welche die gesamten 
empirischen Daten vollständiger und widerspruchsloser^ in all- 
gemeinen, möglichst einfachen^ Sätzen wiedergibt. Legt man 
diese Kriterien ' zugrunde, so glaube ich, dafs meine Atiffassung 
den Vorzug verdient. Die MACHsche Auffassimg* ist unvollständig : 
sie berücksichtigt die tatsächhche totale Verschiedenartigkeit der 
Abhängigkeiten zwischen den ABC DE . . . XYZ nicht und 
verweist uns statt dessen in unklarer Weise nur auf die Ver- 
schiedenheit von BCDE einerseits und XYZ andererseits, zu 
denen A in Abhängigkeitsbeziehungen steht. 

In einem in den Ann, d, Naiurphilos. erscheinenden Aufsatz 
habe ich neuerdings den Wesensunterschied zwischen den beiden 
Gresetzlichkeiten, der Natur- und der Parallelgesetzlichkeit noch- 
mals erörtert und die Wege zur Feststellimg der Parallelgesetze 
gezeigt. Ein oberes, allerdings hypothetisches Parallelgesetz habe 
ich an derselben Stelle zu entwickeln versucht. 



Mach hat seine erkenntnistheoretischen Anschauungen 
nirgends systematisch weiter ent¥^ckelt. Nur ip zwei Richtungen 
hat er einen weiteren Ausbau versucht, nämlich bezüglich der 

* Aus der Vollständigkeit und Widersprucbslosigkeit ergibt sich ohne 
'weiteres auch das AvENABiussche Kriterium (Kr. der r. Erf. Nr. 848): die 
Haltbarkeit, d. h. die Erfüllung von Erwartungen. 

' Diese Einfachheit entspricht dem MACHSchen Prinzip der Ökonomie 
des Denkens. Über die Geschichte dieses Prtnzipes ist P. Volkmakn zu 
vergleichen. 

' Auch die von RiSMAiiii für die Naturwissenschaft gegebene Definition 
„als Versuch die Natur durch genaue Begriffe aufzufassen*' (Ges. math. 
Werke und wissensch. NachiaTs, Leipzig, 1876, S. 489) deckt sich mit diesen 
Kriterien. 

*• Auch Machs letztes Werk (£. u. I. S. öff.) bringt in diesem Punkt 
keinen Abschlufs, Er drückt sich nnr wesentlich vorsichtigeT aus, indem 
er nicht mehr das Psychische und das Physische identisch setzt, sondern 
nur behauptet (S. 9\ dafs beide gemeinsame Elemente enthalten. Auch 
findet sich hier die Bemerkung (^S. 21\ dafs das Empfinden zugleich physisch 
und psychisch sei. 



ErkcnntnxBtheoreixBche Auseinandersetzungen. 249 

Zeit- und Raumanschauung. Auf diese beiden Punkte wird sich 
daher meine folgende Auseinandersetzung speziell noch richten. 
Zum Schlufs werde ich dann noch kurz auf die MAcnsche Auf- 
fassung des Massenbegriffes, soweit sie erkenntnistheoretisches 
Interesse hat, eingehen. 

c) Zeitanschauung nach Mach. 

Mach knüpft seine wichtigsten Erörterungen über die Zeit- 
anschauung an eine Kritik der NEWTOKschen Zeitlehre an (Die 
Mechanik in ihrer Entwicklung, 4. Aufl., 1901, S. 232). Aufser- 
dem ist er in seinem neuesten Werk nochmals auf die Zeitfrage 
zurückgekommen (E. u. I. S. 415 ff.). Ich lege dem Folgenden 
zunächst vorzugsweise seine ältere Darstellung zugrunde. 

Mach verwirft die NEWTONsche Lehre, derzufolge zwischen 
einer absoluten (wahren, mathematischen) und einer relativen 
(scheinbaren, gewöhnlichen) Zeit zu unterscheiden ist. Ins- 
besondere wendet er sich gegen die Annahme einer „absoluten 
Zeit" ; er behauptet : „wenn ein Ding A sich mit der Zeit ändert, 
so heifst dies nur, die Umstände eines Dinges Ä hängen von 
den Umständen eines anderen Dinges B ab" (S. 233). Ebenso 
heilst es in E. und L, S. 426: „in physikalischer' Hinsicht sind 
Zeit und Raum besondere^ Abhängigkeiten der physikalischen 
Elemente voneinander. Hierin liegt meines Erachtens der Grund- 
irrtum der MACHschen Zeitlehre. Schon ein ganz einfaches Bei- 
spiel lehrt, dafs die MACHsche Erklärung zu weit ist oder, wenn 
M. den Nachdruck auf die Besonderheit der Abhängigkeit 
legt, ganz unbestimmt ist, da diese Besonderheit nicht angegeben 
wird. Die Stellung eines zweiarmigen Hebels hängt von der 
Achsenreibung, der Länge der Hebelarme und den beiden 
Gewichten ab. Trotz dieser gegenseitigen Abhängigkeit ist keine 
Zeit gegeben. Jedes beliebige statische Verhältnis beweist 
uns dasselbe. Die Zeit kommt — populär ausgedrückt — erst 
hinzu, wenn die Gleichgewichtslage eine bestimmte Zeit dauert. 
Daraus ergibt sich ganz unzweideutig, dafs die einfache Abhängig- 
keit schlechthin jedenfalls zur Erklärung der Zeit nicht genügt. 



* ^Physikalisch" ist hier im Gegensatz zu phj'siologisch gemeint. 

* Die Beifügung des Wortes „besondere" unterscheidet diese Erklärung 
von der älteren, Mach kommt aber auf die Besonderheit dieser Abhängigkeit, 
wie sie im folgenden sich ergeben wird, nicht zu sprechen. 



> 



260 Tli, ZUlien 

Aber andererseits ist die MACHsche Definition auch zu eng : es 
ist nämlich die von ihm geforderte Abhängigkeit nicht immer 
notwendig. Man denke sich eine isoUerte, von anderen Dingen 
in keiner Weise beeinflufste Kugel A, die in beliebigem Rhythmus 
die Farbe ihrer Oberfläche ändert. Sicher müfsten wir diesem 
Prozefs einen zeitUchen Verlauf zuschreiben, obwohl das Ding A 
hier vollkommen isoliert ist, also keinerlei Abhängigkeit von 
anderen Dingen vorliegt. Mach wird hiergegen einwenden, dafs 
ein solcher Prozefs nicht tatsächlich vorkommt. Demgegenüber 
mufs ich jedoch hervorheben, dafs uns in der überwiegenden 
Mehrzahl der Fälle zunächst gerade solche scheinbar unbeein- 
flufste, isolierte zeithche Prozesse gegeben sind, und dafs wir 
erst nachträglich die physikalischen Abhängigkeiten festgestellt 
haben. Nun ist ja allerdings die Annahme zulässig, dafs diese 
physikalischen Abhängigkeiten durchgängig, d. h. allgemein 
vorhanden sind. Deshalb ist es jedoch ohne besonderen Beweis 
nicht zulässig, diese durchgängige physikahsche Abhängigkeit 
einfach mit der physikalischen Zeit zu identifizieren. Das Onus 
probandi hegt hier offenbar Mach ob. Die Zeit spielt bei vielen 
physikaUschen Abhängigkeiten eine Rolle, aber sie ist mit diesen 
Abhängigkeiten nicht identisch. 

Ich will zur Illustrierung dieser Sätze noch ein anschauliches 
Beispiel geben. Eine Kugel bewege sich geradlinig unter dem 
Einflufs einer Kraft K mit beschleunigter Geschwindigkeit. Für 
diese Phase könnte man die MACHsche Zeitauffassung noch 
eventuell gelten lassen. Nun höre im Augenblick x die Kraft 
K plötzUch auf zu wirken. Dann wird die Kugel der Trägheit 
zufolge sich mit der im Augenblick x erlangten Endgeschwindig- 
keit gleichmäfsig geradlinig fortbewegen. Die Abhängigkeit von 
K ist geschwunden. Sollen wir nun wirklich dieser Fortbewegung 
keine Zeit mehr zuschreiben ? Der Charakter der Bewegung hat 
sich geändert, aber die Zeit ist doch nicht weggefallen. Mach 
wird auch hiergegen vielleicht einwenden, dafs es unzulässig sei 
bei der Beobachtung der Kugel die Abhängigkeit von der Lage 
der Erde (Mech. in ihrer Entw. S. 233) unbeachtet zu lassen, 
und dafs die letztere Abhängigkeit auch während der 2. Phase 
der Kugelbewegung vorhanden sei. Demgegenüber würde ich 
fragen : also, wenn wir auf einer unbewegten, von anderen Welt- 
körpem nicht umgebenen Erde uns befänden, würde plötzlich 
die Zeit für die 2. Phase jener Kugelbewegung verschwinden? 



Erkenntnistheoretische Äuseiiianderseizungen, 251 

Ich glaube, auch Mach würde Bedenken tragen, diese Frage zu 
bejahen. 

Mach könnte auch fragen, warum ich nur Exempla ficta 
— ficta, insofern eine tatsächUch niemals vorhandene Isolierung 
des als Beispiel gewählten Prozesses vorausgesetzt wird — bei- 
bringe. Der Grund hegt in der oben bereits hervorgehobenen 
durchgängigen allgemeinen Abhängigkeit der physikahschen 
Prozesse, selbst der entferntesten, untereinander. Wenn das aber 
genügte, um die Zeit mit dieser allgemeinen gegenseitigen Ab- 
hängigkeit zu identifizieren, so könnte man jede andere allgemeine 
Eigenschaft der Dinge (z. B. Temperatur) mit demselben Recht 
mit dieser Abhängigkeit identifizieren. Das Onus probandi läfst 
sich also nicht abschütteln. 

Ich fasse diese Erörterung dahin zusammen: es gibt 
erstens Abhängigkeiten AB ohne Zeit und zweitens 
auch Zeit ohne Abhängigkeiten; ergo ist die Zeit 
nicht mit der Abhängigkeit AB identisch, und die 
Ändern ngvon^mit derZeit darf nicht identifiziert 
werden mit der Abhängigkeit AB. 

Recht hat Mach hingegen natürlich insofern, als er behauptet, 
dafs eine „absolute Zeit" „an gar keiner Bewegung abgemessen 
werden kann" (S. 234). Es erhebt sich vielmehr jetzt auch für 
uns die Frage, welchen Sinn Newtons absolute Zeit etwa hat, 
nachdem Machs Zeitaüffassung sich nicht bewährt hat. 

Der erkenntnistheoretische Fundamentaltatbestand ist uns 
bereits als eine Sukzession von Empfindungen und Vor- 
stellungen gegeben. Die Zeitlichkeit ist sonach eine allgemeine 
Eigenschaft des ursprünglich Gegebenen. Eine leere Zeit^ 
existiert nicht. Bei dem erkenntnistheoretischen Prozefs der 
Reduktion haftet die Zeithchkeit am Reduktionsbestandteil. Sie 
erweist sich dabei von der KausalgesetzUchkeit vöUig unabhängig. 
Wo sie in den Kausalgesetzen figuriert, ist sie stets die unab- 
hängige Variable. Irgend eine Definition oder Erklärung für sie 
zu geben ist selbstverständhch ganz ausgeschlossen. Man kann 
die zeitliche Ordnung, die Sukzession nur durch Erleben kennen 
lernen, nicht aus irgendwelcher Definition. 

Damit ist schlechterdings bereits die Allgemeinauffassung 



' Offenbar schwebte Newton eine solche leere Zeit bei seiner absoluten 
Zeit vor. 



252 Th, Ziehen. 

der physikalischen Zeit erschöpft. Nur zwei auch von Mach 
besprochene Einzelbeziehungen bedürfen noch einer besonderen 
Besprechung: erstens die Richtung und zweitens das Mafs 
des Zeitablaufs. 

Ich beginne mit der Richtung des Zeitablaufs. Mach 
sagt in bezug auf diese (Mech. in ihrer Entw., 4. Aufl., S. 235): 
„Wenn wir sagen, dafs die Zeit in einem bestimmten Sinn ab- 
läuft, so bedeutet dies, dafs die physikalischen (und folglich 
auch die physiologischen) Vorgänge sich nur in einem bestimmten 
Sinn vollziehen. Alle TemperaturdiflEerenzen, elektrischen Diffe- 
renzen, Niveaudifferenzen überhaupt werden sich selbst über- 
lassen nicht gröfser, sondern kleiner. Betrachten wir zwei sich 
selbst überlassene, sich berührende Körper von ungleicher 
Temperatur, so können nur gröfsere Temperaturdifferenzen im 
Erinnerungsfelde mit kleineren im Wahrnehmimgsfelde zu- 
sammentreffen, nicht umgekehrt. In allen diesem spricht sich 
durchaus nur ein eigentümlicher tiefgehender Zusammenhang 
der Dinge aus." Auch dieser Argumentation kann ich nicht 
beistimmen. Die von Mach angezogene entropische Nivellierungs- 
tendenz aller physikalischen Prozesse ist eine höchst interessante 
Tatsache der Kausalgesetzlichkeit in ihrer Beziehung zum Zeit- 
ablauf, d. h. in ihrer Abhängigkeit von t, sagt aber über den 
Ablauf von t selbst gar nichts aus. t würde ebenso „ablaufen", 
auch wenn diese Nivellierungstendenz nicht bestände. Wir 
können sie wegdenken, ohne in unserer Vorstellung des Zeit- 
„ablaufs" irgend etwas ändern zu müssen.^ Die Behauptung, 
dafs der Ablauf der Zeit in einer bestimmten Richtimg mit 
dieser bestimmten Richtung der physikalischen Vorgänge iden- 
tisch sei, schwebt ganz in der Luft. 

An Stelle der MACHschen Argumentation ist vielmehr folgende 
zu setzen. In der gegebenen, als nicht weiter erklärbar einfach 
hinzunehmenden Sukzession der physikalischen Vorgänge (richtiger 
der Reduktionsbestandteile) zeigt sich eine merkwürdige Ab- 
hängigkeit von t t selbst läuft überhaupt nicht ab, schon des- 
halb, weil es vöUig inhaltlos ist. Nur unseren Empfindungen 
und Vorstellungen und den physikalischen Vorgängen als deren 

* An sich iet diese Probe mit dem Wegdenken gewifs nicht ent- 
scheidend, aber sie zeigt uns gewifs soviel, daTs die MACHsche Identifikation 
zweifelhaft und beweisbedürftig ist, und nun bleibt noch dazu jeder Be- 
weis aus. 



Erkenntnistheoretische Auseinandeisetzungen. 253 

Reduktionsbestandteilen kommt ein „Ablauf" zu. Dieser Ablauf 
der physikalischen Prozesse bedeutet aber, wenn wir die später 
zu erörternden quantitativen Beziehungen einstweilen beiseite 
lassen, zunächst nur die Sukzession in einer bestimmten Reihen- 
folge, nämlich derjenigen, die uns tatsächlich gegeben ist. In 
den Gesetzen, die wir aus dieser Reihenfolge abstrahiert haben, 
•und die, wie wir dann sagen, diese Reihenfolge bestimmen, zeigt 
sich mm eine merkwürdige allgemeine Beziehung zu t, die jetzt 
etwas genauer erörtert werden soll. 

Fällt eine Kugel aus der Höhe Xj in senkrechter Richtung 
unter dem ausschliefslichen Einflufs der Schwerkraft g und ohne 
jede Anfangsgeschwindigkeit, so läfst sich für jedes t nach dem 
bekannten Fallgesetz die Höhe -X, angeben, bis zu welcher die 
Kugel nach den bez. t Sekunden gefallen ist. Bei vollständig 
gegebener Anfangssituation und bekanntem Gesetz läfst 
sichjede <- Situation (Folgesituation, Schlufssituation) berechnen. 
Letztere ist, wie wir etwas mifsverständlich sagen, „eindeutig 
bestimmt".* Wir wollen nun die Frage umkehren: Vollständig 
gegeben sei die Schlufssituation der Kugel in -Xg, also vor allem die 
auf der Höhe X^ erlangte Endgeschwindigkeit v; femer sei bekannt, 
dafs unter dem ausschliefslichen Einflufs der Schwerkraft g durch 
Fall in senkrechter Richtung ohne Beteiligung einer Anfangs- 
geschwindigkeit der Punkt X^ erreicht worden ist ; dann können 
wir auch rückläufig für jedes kleinere t die Höhe X berechnen: 

sie ist „eindeutig bestimmt" (s = -^ <^|, und wir können ebenso 
auch die bestimmte Höhe X^ angeben, in welcher der Fall be- 
gonnen hat (s ^ ^j. In diesem speziellen Beispiel läfst sich 

also nicht nur die Folgesituation aus der Ausgangssituation, 
sondern auch diese aus jener ableiten. Auch die Wirkung hat 
in diesem Fall nur eine eindeutig bestimmte Ursache.- Die 

^ Dies Eindeutig-bestimmt-sein bedeutet tatsächlich nichts anderes, als 
dafs tatsflrchlich die Dinge immer nur eine Veränderung (nicht zugleich 
zwei) durchmachen, und dafs diese Veränderung einzigartig ist (im Sinne 
von Pbtzoldt). 

• Auf die MACHsche Kritik des Ursachenbegriffs (vgl. auch E. u. I. 
S. 273 ff.) kann ich hier nicht eingehen. Viele Einwände Maohs fallen, 
wenn man, wie dies unerläfslich ist, als Ursache stets die Gesamt Situation 
im Augenblick 1 (streng genommen die „Welt"situation) und als Wirkung 
die Gesamt Situation im Augenblick 2 bezeichnet. 



> 



254 TIl Ziehen. 

Berechenbarkeit ist für fortschreitende und für rückschreitende 
^'s ganz ebenso gegeben. 

In der übergrofsen Mehrzahl der Fälle trifft dies jedoch 
nicht zu. Schon wenn ich in dem soeben angeführten Beispiel 
der Kugel eine bestimmte Anfangsgeschwindigkeit a gebe, ge- 
staltet sich die Berechenbarkeit für fortschreitende und für rück- 
schreitende <'s verschieden. Für fortschreitende f 's, bei gegebener 
Anfangssituation und bekanntem Gesetz ist sie noch immer ganz 

ebenso vorhanden (5 = o^ -|- ^tA- Für rückschreitende ^*s hin- 
gegen, also bei gegebener Schlufssituation (oder gegebenem v) und 
bekanntem Gesetz läfst sich die Anfangssituation nicht berechnen : 
sie ist nicht eindeutig bestimmt. Ebensowenig kann ich be- 
rechnen, wo sich vor beliebigen t Sekunden die Kugel befunden 
hat. Sowohl die Gleichung * v =^ a -^ gf wie die Gleichung 

s := at + ^ t^ enthalten zwei Unbekannte und sind daher nicht 

auflösbar. Die rückläufige Berechenbarkeit fehlt hier also. Nur 
die fortschreitenden fs ergeben eindeutig berechenbare Situationen. 
Damit ist in der Tat erfahrungsmäfsig eine merkwürdige 
Beziehung der Kausalgesetze zur f-Reihe festgestellt. Dies hat 
jedoch gar nichts mit der Richtung des Ablaufs der t-Reihe zu 
tun — die letztere läuft überhaupt nicht ab — , sondern es handelt 
sich nur um eine merkwürdige Eigenschaft des Ablaufs der 
physikalischen Prozesse mit Bezug auf die ^Reihe. Da die so- 
eben besprochene Beziehung hiernach auch gar nichts zur Er- 
klärung der /-Reihe beitragen kann, so erscheint auch das all- 
gemeine Programm einer künftigen Mechanik, welches Mach 
S. 269 andeutet, ganz unausführbar. Die von Mach speziell 
hervorgehobene allgemeine Nivellierungstendenz der physika- 
lischen Vorgänge mit wachsenden t ist schon deshalb von ge- 
ringerer Bedeutung, weil nicht alle physikahschen Vorgänge auf 
Niveaudifferenzen beruhen oder wenigstens zurzeit noch nicht 
sich auf solche zurückführen lassen.^ Jedenfalls ist aber auch 



* f bedeutet hier die seit Beginn des Falles verflossene Zeit, t eine 
variable bis zum Erreichen der Höhe X, verflossene Zeit. 

* Der Versuch Machs, die Geschwindigkeit als einen physikalischen 
Niveauwert zu deuten i^Mech. in ihrer Entw. S. 357», scheint mir nicht ge- 
lungen ; wenigstens könnte die Geschwindigkeit nur in ganz anderem Sinne 
als Xiveauwert aufgefalst werden als s. B. die Temperatur. 



Erkenntnistheoretische Äuseinatidersetzungen. 255 

diese Eigenaxtigkeit weder mit t identisch noch zur Erklärung 
von t oder auch nur zur Erklärung einer bestimmten Ablaufs- 
richtung von t irgendwie geeignet. Auch hier handelt es sich 
nur um eine interessante Beziehung der Kausalgesetze zur f-Reihe. 

Gegen das verführerische Gleichungsbild, welches Mach j 

S. 235 u. 536 (Mech. in ihrer Entw.)^ einführt, sind bei dieser m 

Sachlage gleichfalls erhebliche Bedenken gerechtfertigt. Unter 
den gleichzeitigen Dingen bestehen an sich überhaupt keine durch 
Gleichungen ausdrückbaren gesetzlichen Beziehungen (abgesehen 
natürlich von den rein geometrischen). Die Gesetze der Statik, 
welche man vielleicht gegen diese Behauptung ins Feld führen 
könnte, geben uns nicht an, warum eine bestimmte Lage besteht, 
sondern nur, warum sie sich nicht ändert. Alle in Gleichungen 
ausdrückbaren Gesetze beziehen sich auf die Sukzession zweier 
Situationen, und diese Sukzession wird im Sinne der oben durch- 
geführten Überlegungen für wachsende fs eindeutig bestimmt. 
Stillschweigend enthalten daher auch alle Gesetze t Das Gesetz 
der statischen Momente für den Hebel lautet freilich in der üb- 
hchen Form: p^Z^ =zp^l^^ so dafs von t nicht die Rede ist. Der 
Sinn des Gesetzes ist jedoch ein anderer, nämlich folgender: 
wenn das Verhältnis p^ l^ = p^ \ besteht, so jfindet mit wachsendem 
t keine Lageveränderung statt.* Die VeränderHchkeit der Natur 
beruht nicht, wie Mach glaubt, darauf, dafs die Zahl der 
Gleichungen, denen n Gröfsen genügen, kleiner ist als «, sondern 
darauf, dafs bislang ein AUgemeinzustand nach Analogie des 
p^ l^ =p^l^ noch nicht erreicht ist.^ 

Zweitens wäre das Mafs des Zeit„ablaufs" zu besprechen. 
Es ist zweifellos, dafs ein absolutes Zeitmafs nicht existiert. Ich 
glaube auch nicht, dafs Newton bei seiner absoluten Zeit an ein 
solches gedacht hat. Ein solches könnte ganz im Sinn der ab- 

' Vgl. auch Die Prinzipien der Wärmelehre S. 325. 

* Dies steht mit den Erörterungen S. 249 natürlich nicht in Widerspruch, 
Dort hiefs es : mit einer gegenseitigen Abhängigkeit, wie sie das Hebelgesetz 
in seiner statischen Fassung ausdrückt, ist die Zeit noch nicht gegeben. 
Jetzt heifst es: der Sinn des Gesetzes geht dahin, dafs, wenn in diesem 
Fall ein Zeitablauf hinzukommt, keine' Lage Veränderung eintritt. 

' Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant zu erwägen, 
dafs ein homogener zentrierter Zustand (im Sinne etwa der LAPLACEschen 
Theorie) niemals zu der jetzt uns gegebenen asymmetrischen, nicht zen- 
trierten Welt hat führen können. Er ist als Anfangssituation — in der 
üblichen Fassung wenigstens — ausgeschlossen. 



» 



256 ^^*- Ziehen. 

soluten Marseinheiten von Gauss doch eben nur aus den beiden 
anderen Grundeinheiten (Masse und Länge) abgeleitet sein. Eine 
solche Ableitung ist aber bekanntUch nicht möglich.^ Im übrigen 
ist nicht abzusehen, weshalb irgend ein bestimmter in der Zeit 
ablaufender Prozefs vor irgend einem anderen den Namen eines 
absoluten verdienen und deshalb als absolutes Zeitmafs Ver- 
wendung finden sollte. Mach hat (Prinz, d. Wärmelehre S. 338 ; 
vgl. auch Mech. in ihrer Entw. S. 237) die Ansicht ausgesprochen, 
dafs die Entropie des Weltalls, wenn sie überhaupt bestimmt 
werden könnte, eine Art absoluten Zeitmafses darstellen würde. 
Dabei müfste aber die Endlichkeit des Weltalls in räumhcher 
Beziehung vorausgesetzt werden und damit ein absolutes Raum- 
mafs, Voraussetzungen, die jedenfalls nicht unbedenklich sind. 
Man kann diese Überlegung auch durch den Satz ausdrücken : 
der Zeitablauf selbst vollzieht sich als Reihe ohne bestimmtes 
Mafs, man darf dabei nur nicht vergessen, dafs ein leerer Zeit- 
ablauf eben gar nicht existiert. Will man sich doch ein Bild 
von der Zeit losgelöst von den Objekten machen, so wäre höch- 
stens ein Vergleich mit der Reihe der Zahlen statthaft, ein 
Vergleich, der allerdings im Hinblick auf die psychologische Er- 
werbung der Zahlvorstellungen mehr als einen Vergleich bedeutet. 
Auch die Zahlenreihe läuft ohne fixierte Geschwindigkeit ab, 
auch die Zahlen sind nur Eigenschaften der Objektreihen usf. 

d) Raumanschauung nach Mach. 

Mach unterscheidet in seinem Hauptwerk (A. d. E.) den 
geometrischen Raum und das System unserer Raumempfindungen, 
den physiologischen Raum. Er nimmt an (S. 140), dafs unsere 
geometrischen Begriffe sich durch räumliche Vergleichung der 
Körper, der -45Cuntereinander ergeben, dafs dagegen unsere 
Raumempfindungen durch die Abhängigkeit der Elemente ABC 



^ Die bekannte HELMHOLTzsche Ableitung einer Zeiteinheit aus der 
dritten KspLERSchen Kegel bzw. aus dem Gravitationsgesetz (vgl. Wiss. Abb. 
2, S. 996) kann nicht als eine solche gelten, da sie die Gravitationskonstante 
enthält, die selbst dreidimensional ist. Dabei möchte ich bemerken (vgl. 
auch VoLKHANN, Einführung in das Studium d. theoret. Physik usf. Leipzig 

1900, S. 102), dafs die Längeneinheit in der Attraktionsformel I - ^^ * j mit 

dem l der Dimensionsformeln nicht schlechthin identifiziert werden darf. 



ErkenntnistheoretUche Auseinandersetzungen. 257 

von den Elementen unseres Leibes KLM bestimmt sind.^ Es 
empfiehlt sich bei der Diskussion dieser Lehre die einzekien 
Sätze, aus welchen sie zusammengesetzt ist, zu trennen. 

Erstens behauptet Mach, dafs besondere Raumempfin- 
dungen existieren, während ich mit vielen anderen nur räumliche 
Eigenschaften der Empfindungen gelten lasse. Mach teilt 
geradezu z. B. die Gresichtsempfindungen in Farbenempfindungen 
und Raumempfindungen ein. Dabei gibt er selbst zu (S. 84), 
dafs beide wohl voneinander unterschieden, aber nicht isoliert 
voneinander dargestellt werden können. Aber auch mit dieser 
Einschränkung ist die MACHsche Einteilung der Gesichtsempfin- 
dungen in Farbenempfindungen und Raumempfindungen irre< 
führend, weil bei ihr die Tatsache nicht zum Ausdruck kommt, 
dafs die Farbenempfindung ausschUefslich ein Spezialfall der 
Gesichtsempfindung ist, während Raumempfindungen auch den 
Berührungsempfindungen und den kinästhetischen Empfindungen, 
wahrscheinlich sogar allen Empfindungen zukommen. Die Gegen- 
überstellung hätte daher lauten müssen „Qualitätsempfindungen 
und Raumempfindungen", und hierfür war alsdann im Hinblick 
auf ihre von Mach selbst zugestandene ' Untrennbarkeit zu setzen : 
„Quahtät und räumliche Anordnung als Eigenschaften der Emp- 
findung". 

Zweitens behauptet Mach, dafs die Raumempfindung in 
bestimmter Weise „mit motorischen Prozessen zusammenhängt" 
(A. d. E. S. 105), dafs die willkürKche Augenbewegung ganz oder 
teilweise die Raumempfindung zu ersetzen vermag und mit ihr 
gleichartig ist (ebd. S. 105 imten), dafs der Wille, Blickbewegungeu 
auszuführen, oder die Innervation (?) die Raumempfindung selbst 
ist (ebd. S. 107 u. 129 u. 137). Erläuternd ist hierzu noch zu 
bemerken, dafs Mach besondere zentral entstehende Innervations- 



^ Die Darstellung Machb in seinem letzten Werk (E. u. I. S. 331 ff.) 
bringt nichts wesentlich Neues. Die Bemerkungen S. 337 ff. über das Ver- 
hältnis des geometrischen Raumes zum physiologischen sind in vielen Be< 
siehungen sehr aufklärend, nur ist die Erklärung der Raumempfindungen aus 
Organempfindungen (S. 339) eine Diallele und sonach mifslungen. Das ein- 
zelne Elementarteilchen müfste eine Selbstempfindung seiner Lage haben 1 
Übrigens gibt Mach zu, dafs er nur eine physiologische Umschreibung des 
psychologisch Beobachteten gibt; indes sind solche Selbstempfindungen der 
Lage alles andere eher als eine zweckmäfsige physiologische Umschreibung. 
Hier rächt sich eben das Fehlen der Erkenntnis des Parallelgesetzes. 

> Z. B. auch A. d. E. S. 142. 
Zeitsohrift f&r Psychologie 4t. 17 



258 Th. Ziehen. 

empfindungen nicht annimmt (ebd. S. 136) und die Willens- 
bewegung im Prinzip, wie ich, als eine „durch Erinnerungen 
modifizierte Reflexbewegung" (S. 133) auffafst. Leider kann ich 
mich den soeben angefühi-ten Sätzen Machs gröfstenteils nicht 
anschliefsen. Dafs bei unserer empirischen Orientierung im 
Raum motorische Prozesse eine Rolle spielen, ist richtig. Die 
bekannte BBOWN-LoTZEsche Hypothese^ über die Bedeutung der 
Bewegungsvorstellungen für die Lokalisation der Empfindungen 
gibt diesen Zusammenhang der Raumeigenschaft der Emp- 
findungen und der motorischen Prozesse wahrscheinlich richtig 
wieder. Der von Mach behauptete Zusammenhang existiert 
hingegen meines Erachtens nicht. Mach stützt sich dabei in 
letzter Linie auf folgenden S. 105 von ihm beschriebenen Ver- 
such.* Wenn ich ein Objekt A fixiere, so dafs es sich auf der 
Macula lutea in m abbildet, so erscheint mir ein oberhalb A 
gelegenes Objekt B^ welches sich auf der Netzhaut in einer be- 
stimmten Tiefe xmterhalb der Macula lutea z. B. in g abbildet, 
in einer gewissen Höhe. Erhebe ich nun den Blick und fixiere 
z. B. ein zwischen A und B gelegenes Objekt (7, so kommt daa 
Netzhautbild von B nicht mehr auf g^ sondern auf eine Netz- 
hautstelle zwischen m und g, etwa h zu liegen. Entspricht nun 
dieser aufwärts gerichteten Verschiebung des Netzhautbildes dea 
Objektes B von g nach h eine abwärts gerichtete Scheinbewegung^ 
des Objektes B oder bleibt B ruhig? Mach behauptet, dafs B' 
ruhig bleibt, und schliefst eben hieraus, dafs die willkürliche 
Augenbewegung, im Gegensatz zu reflektorischen und passiven 
Augenbewegungen, die Höhenempfindung ganz oder teilweise zu 
ersetzen vermag, mit ihr gleichartig ist, kurz gesagt, algebraisch 
mit ihr sumnaierbar ist. Demgegenüber mufs ich durchaus be- 
streiten, dafs B seine frühere Höhe beibehält, also ruhig bleibt. 
Da es sich um indirektes Sehen handelt, ist die Beobachtung 
natürlich erheblich erschwert, indes bei einiger Übung erscheint 
mir das Ergebnis doch ganz unzweifelhaft: B senkt sich. 
Aufserdem beweist auch wohl die Tatsache, dafs nach dem 
Wechsel des Fixationspunktes Objekte oberhalb C im Sehraum 

^ Es ist vielleiclit nicht überflüssig hervorzuheben, dafs schon Bbrkblbt 
und Htjue diese Bedeutung der Bewegungsvorstellungen angedeutet haben. 

' Bei der Wiedergabe des Versuches habe ich die Buchstaben- 
bezeichnungen zur Erleichterung des Verständnisses etwas anders als Mach 
gewählt. 



Erketintnistheoretische Atuettiandersetzungm, 259 

hinzugekommen sind, welche vor dem Wechsel des Fixations- 
pimktes nicht sichtbar waren, schon genügsam, dafs B sich gesenkt 
haben mufs. Es besteht also gar keine Nötigung, wie Mach S. 137 
sagt: anzunehmen, dafs die Raum werte unseres Sehraumes auch 
von den Koordinaten des Blickpunktes abhängen. — Der zweite 
von Mach angegebene Versuch (S. 106) ist nach meiner Er- 
fahrung überhaupt nicht in exakter und konstanter Weise aus- 
zuführen. Je nachdem die Kittmasse sich den Augäpfeln an- 
schliefst, und je nachdem der Blickversuch nach rechts mehr oder 
weniger forciert wird, fällt der Versuch verschieden aus. Auch 
James ist der zweite MACHsche Versuch nicht gelungen. Für die 
Behauptung Machs, dafs bei willkürlichen Augenbewegungen 
keine Verschiebung der Objekte eintrete, beweist er übrigens 
überhaupt nichts. Endhch gibt Mach einen dritten Versuch an 
(S. 107), dessen Ausfall ich bestätigen kann, während ich ihn 
ganz anders deute. Betrachtet man in einem recht dunklen 
Zimmer ein Licht A und führt dann eine rasche Blickbewegung 
nach einem tieferstehenden Licht B aus, so scheint A einen rasch 
verschwindenden Schweif nach oben zu beschreiben. Mach be- 
hauptet, der Schweif sei ^.selbstverständlich ein Nachbild, welches 
erst bei Beendigung oder kurz vor Beendigung der Blickbewegung 
zum Bewufstsein komme, jedoch, was eben merkwürdig sei, mit 
Ortswerten, welche nicht der neuen Augenstellung und Inner- 
vation, sondern noch der früheren Augenstellung und Innervation 
entsprechen.^ Ich halte den bezüglichen Schweif gar nicht für 
ein Nachbild, sondern einfach für die Scheinbewegung des Lichtes 
A, welche infolge der Verschiebung seines Bildpunktes notwendig 
so eintreten mufs. Übrigens hat auch Lipps die MACHsche Deutung 
angefochten. Dabei gebe ich gerne zu, dafs in dem ersten Mach- 
schen Versuch gelegentlich unter dem Einflufs der Vorstellung 
des gewöhnlich mich umgebenden festen Erdraumes mit fest- 
stehenden Objekten von der Scheinverschiebung des Objektes 
abstrahiert wird — wir haben genug derartige Beispiele, in 
welchen wir Scheinverschiebungen mit Hilfe der Vorstellung 
eben ihrer Scheinbarkeit ignorieren — , aber das ist eine sekundäre 
Vorstellungsarbeit, welche mit dem einfachen Empfindungsprozefs 
nichts zu tun hat. Unsere Bewegungsvorstellungen sind in 
gewissem Sinne den Höhenempfindungen summierbar, keineswegs 
aber unsere bewufsten Bewegungen als solche. 

Auch die Beziehungen der Kopf bewegungen zur räumlichen 

17* 



260 Th, Ziehen. 

Lokalisation hat Mach meines Erachtens nicht richtig wieder- 
gegeben. Mach untersucht zuerst den übrigens tatsächlich fast 
niemals verwirklichten Fall, dafs bei einer Kopfdrehung ohne 
absichtliche Fixation eines Objektes die Augen wie reibungslose 
träge Massen an der Drehbewegung sich nicht beteiligen, und 
behauptet, dafs hierbei die Objekte ruhig bleiben (S. 108). Ich 
mufs hier wiederum die tatsächliche Richtigkeit der Beobachtung 
bestreiten. Für mich erfolgt bei demselben Versuch meist eine 
sehr deutliche gegensinnige Scheinbewegung der Objekte. Tat- 
sächlich wird nämUch der Hergang gestört durch die bekannten 
begleitenden, vorwiegend im Sinne der Kopfdrehung erfolgenden 
Augenbewegungen; aufserdem wird der Bulbus infolge von Reibung 
bei der Drehung des Kopfes doch wohl auch etwas mitgeschleppt. 
Die begleitenden Augenbewegungen sind im übrigen bei will- 
kürlichen Kopfbewegungen ziemUch kompliziert. Nicht selten 
eilt sogar eine gleichsinnige Augenbewegung überkompensierend 
der Kopfbewegung voraus und mufs dann zum Teil wieder rück- 
gängig gemacht werden, seltener entspricht sie der Kopfbewegung 
wenigstens annähernd. Andererseits können zuweilen auch 
Fixationsbewegungen nicht so vollständig unterdrückt werden, wie 
es die Versuchsanordnung vorschreibt. Ein zu Anfang des Ver- 
suches in der Fixationslinie gelegenes Objekt übt zuweilen doch 
einen Fixationsreiz während der Kopfbewegung aus, so dafs 
Innervationen erfolgen, die der letzteren gegensinnig sind. Dazu 
kommt schliefshch der oben bereits erwähnte korrigierende Ein- 
flufs unserer Bewegungsvorstellungen, wie sie in diesem Fall der 
Vestibularapparat vermittelt. So erklärt sich, dafs der Versuch 
sehr inkonstant ausfällt, dafs zuweilen auch die entgegengesetzte 
Scheinbewegung beobachtet wird oder unter dem Einflufs von 
Bewegungsvorstellungen vom Beobachter in der Vorstellung kon- 
struiert wird. Jedenfalls ist der Versuch ganz ungeeignet die 
prinzipielle Frage der Bedeutung der räumlichen Eigenschaften 
der Empfindung irgendwie aufzuklären. Übrigens scheint Mach 
in seinem neuesten Werk (E. u. I.) auf diese ganze hier unter 2 
besprochene Auffassung der Raumempfindungen (als identisch 
mit Innervationen) verzichtet zu haben oder wenigstens kein 
Gewicht mehr zu legen. Was er freiüch jetzt an die Stelle setzt, 
kann ich, wie oben (S. 267, Anm. 1) erörtert, erst recht nicht aner- 
kennen. 

Nach meiner Auffassung gehören gerade die räumlichen 



Erkenntniatheoretische Auseinandersetzungen. 261 

Eigenschaften der Empfindung durchweg dem Beduktionsbestand- 
teil an. Da meine Erkenntnistheorie nun gar keine Projektionen 
oder Exteriorisationen der Empfindungen kennt und braucht, so 
ist das Suchen nach einer „Erklärung" der räumUchen Eigen- 
schaften überhaupt ganz widersinnig. Es handelt sich nur 
darum festzustellen, wie die Zuordnung des einzelnen kortikalen 
Elements zu einem bestimmten Raumelement entstanden ist. 
Aber auch diese Frage findet vom Standpunkt meiner Erkenntnis- 
theorie eine befriedigende Antwort. Der Angriffspunkt der 
Parallelreflexion eines zentralen Elements v wird 
Im allgemeinen durchweg Fall für Fall bestimmt 
durch den Ort des jeweils auf v wirkenden Reizes. 
Ist z. B. ein Lichtreiz (im Sinn eines Reduktionsbestandteils), 
und wirkt dieser auf ein Element v der Sehsphäxe (wiederum 
im Sinn eines Reduktionsbestandteils), so findet die Reflexion im 
Sinn des Parallelgesetzes von v auf o statt : das v ist im Augenblick 
dem zugeordnet. Alle Schwierigkeiten der nativistischen und 
empiristischen Theorien scheinen mir hiermit sich wesentUch zu 
vermindern. Nativistisch ist meine Theorie nur etwa insofern, als 
sie der Empfindung eine von allen physiologischen Prozessen 
unabhängige primäre räumliche Anordnung zuschreibt, nati- 
vistisch freilich in einem ganz anderen Sinn als die übUchen 
nativistischen Theorien. Die räumliche Anordnung der Emp- 
findung braucht nicht erst auf den mystisch -unbegreiflichen 
Wegen, welche der Empirismus vorschlägt, zu entstehen, imd 
sie ist doch auch keine wunderbare angeborene Eigenschaft der 
Rindenelemente. Die Zuordnung zwischen dem einzelnen 
Reduktionsbestandteile und dem Rindenelement ist in meiner 
Theorie allerdings nur empirisch gegeben. Sie wechselt auch 
fortwährend, insofern dasselbe Rindenelement bald von jenem 
bald von diesem, bald von einem hier bald von einem dort 
gelegenen Objekt (Reduktionsbestandteil) gereizt bzw. erregt 
wird. Damit fällt die Klippe fort» an der die seitherigen 
sogen, nativistischen Theorien sämtUch scheiterten: die häufigen 
Ungenauigkeiten und Veränderlichkeiten der räumlichen Pro- 
jektion. Bei meiner Erkenntnistheorie existiert eine solche Pro- 
jektion nicht, da eine Introjektion nicht existiert; die Anordnung 
der Empfindung ist primär gegeben im Reduktionsbestandteil, 
und die Zuordnung im Sinn des Parallelgesetzes ist von den 
empirischen Erregungsbeziehungen abhängig, aus deren mannig- 



262 Th. Ziehen. 

fachen UDgenauigkeiten und Veränderlichkeiten uns die Un- 
genanigkeiten und VeränderHchkeiten der Parallelzaordnang ohne 
weiteres yerständlich werden. Die Anordnung nach Dimensionen 
ist unveränderlich. Die Zuordnung ist phylogenetisch und onto- 
genetisch geworden und in gewissen Grenzen veränderlich. 
Wenn die Rückenhaut von drei Nadelspitzen berührt wird, die 
miteinander bestimmte Winkel bilden und voneinander um be- 
stimmte Abstände entfernt sind, so wird behauptet, dafs die 
taktile Empfindung diesem Tatbestand nur sehr ungenau ent- 
spricht oder mit anderen Worten die Zuordnung ungenau ist. 
Indes liegt diese Ungenauigkeit gar nicht in der taktilen Empfin- 
«dung als solcher, sondern im wesentUchen nur in der Über- 
setzung in optische Vorstellungen. Diese ist mangels 
Übung und speziell mangels gemeinschaftlicher Mittelglieder in 
Form von Bewegungsvorstellungen ^ (inkl. optischer Tastempfin- 
dungen) ungenau, nicht aber die taktile Empfindung als solche. 
Auch die Tatsache der WEBEBschen Tastkreise stellt sich von 
diesem Standpunkt aus etwas anders dar. Wenn zwei Nadelspitzen 
innerhalb eines Tastkreises aufgesetzt werden und, wie man 
sagt, als eine empfunden werden, so kommt die letztere Un- 
genauigkeit bzw. Fehlerhaftigkeit im wesentlichen erst dadurch 
zustande, dafs ich von der Versuchsperson die Übersetzung ihrer 
Berührungsempfindung in optische Vorstellungen verlange. Dies 
„Verlangen" liegt schon in der Tatsache, dafs bei diesen Ver- 
suchen allenthalben das wissentliche Verfahren angewendet wird, 
' sie liegt schon in der Frage : wieviel Nadelspitzen sind es gewesen? 
Aber auch, wenn wir — von der optischen Übersetzung* ganz 
abgesehen — nur die Angabe der Zahl der Berührungen ver- 
langen, so ist dies bereits eine Übersetzung in Vorstellungen, 
und die Ungenauigkeit der Antwort beruht im wesentlichen auf 
der Ungenauigkeit dieser Übersetzung. Freilich kommt dazu 
ein weiteres Moment. ' Es ist sehr wahrscheinlich, dafs die ein- 
zelne Nervenfaser die aufgenommene Erregung nicht vollständig 



* Also nur bei dieser Übersetzung, nicht bei der Lokalisation selbst 
spielen diese assoziierten Bewegungsvorstellungen eine Bolle. 

' Die erhebliche und interessante Rolle, welche ich diesen optischen 
Übersetzungen zuschreibe, ergibt sich schlagend aus den langwierigen 
Untersuchungen, welche ich mit Prof. Sakaki im letzten Jahr angestellt 
habe und welche von letzterem demnächst ausführlich veröffentlicht werden. 

• Deshalb wurde schon oben hinzugefügt: „im wesentlichen". 



Erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen. 263 

und ausschliefslich auf ein kortikales Element überträgt, und es 
ist aufserdem sicher, dafs ein Hautreiz wie ein Nadelstich in der 
Regel nicht nur eine, sondern mehrere Nervenfaserendigungen 
der Haut reizt. Damit mufs selbstverständUch die Genauigkeit 
der Zuordnung eine weitere Schädigung erfahren. 

Auf dem Gebiet der Gesichtsempfindungen sind genau die- 
selben Überlegungen anzustellen, nur kommen für das Doppel- 
auge, da viele optische Reize auf beide Netzhäute wirken, noch 
einige Erklärungsschwierigkeiten hinzu, welche nicht nur psycho- 
logisch, sondern auch erkenntnistheoretisch das gröfste Interesse 
beanspruchen. 

Hier handelt es sich nämlich erstens um den Fall, dafs auf 
zwei sog. „identische" Stellen beider Netzhäute bzw. die ent- 
sprechenden zentralen Elemente a und a verschiedene Reize 
einwirken, also um den sog. Wettstreit der Sehfelder. Die. Be- 
obachtungstatsachen stimmen hier durchaus mit dem überein, 
was meine Erkenntnistheorie fordert: infolge der Supraposition 
der Reflexionen, welche von a und a ausgehen, kommen Misch- 
empfindungen zustande. Ebenso erklärt sich die weitere Tat- 
sache, dafs die bez. Empfindungen sich zuweilen auch ablösen 
oder verdrängen, statt sich zu mischen, sofort aus den Erörte- 
rungen S. 81 ff. meiner Erkenntnistheorie. 

Zweitens handelt es sich um den Fall, dafs ein und der- 
selbe Reiz y auf zwei ,.nicht-identische" Netzhautstellen bzw. die 
entsprechenden ebenfalls als „nicht-identisch" anzusehenden zen- 
tralen Elemente c und d'^ wirkt, ein Fall, wie er z. B. in sehr 
einfacher Weise bei einer Augenmuskellähmung* gegeben ist. 
Bekanntlich tritt in diesem Fall sog. Doppelsehen ein, und dieses 
kann nur, wenn die Lähmung nicht sehr erheblich ist oder, 
anders ausgedrückt, der Lagenunterschied zwischen c und d' von 
der Identität nicht zu weit entfernt ist, allmählich korrigiert 
werden, so dafs schliefslich die beiden Bilder wieder verschmehsen. 
Wären die Parallelzuordnungen absolut und unveränderlich wie die 
Kausalbeziehungen, und hätte speziell das S. 261 in gesperrtem Druck 



^ Ich will die Stellen der linken Netzbaut durch lateinische Buch- 
staben ohne Strich, die korrespondierenden der rechten durch lateinische 
Buchstaben mit Strich bezeichnen. Als das gelähmte Auge nehme ich im 
folgenden stets das rechte an. 

* Auch eine passive Bewegung eines Auges oder eine Schieloperation 
kann als Beispiel genommen werden. 



264 3^. Ziehen, 

angeführte Parallelgesetz strenge und ausschlielsliche Gültigkeit, 
so müfste offenbar auch nach der Lähmung die Reflexion von 
d' auf y erfolgen, und Doppelsehen könnte nicht eintreten. Nun 
sind aber die Parallelzuordnungen, wie die ganze Entwicklungs- 
geschichte lehrt, geworden^ und von empirischen Faktoren 
beeinfluTst. Infolge einer phylogenetisch entstandenen, ererbten 
Anlage und einer ontogenetischen Gewohnheit ist die Reflexions- 
richtung von rf' nicht nur von der Lage des jeweils auf d' ein- 
wirkenden Reizes abhängig, sondern auch in gewissen Grenzen 
an die Reflexionsrichtung von d gebunden — in gewissen 
Grenzen, da ja die Beobachtung lehrt, dafs eine allmähliche 
Korrektur des Doppelsehens innerhalb gewisser Grenzen möglich 
ist. Ob bei der in Rede stehenden ontogenetischen Gewohnheit 
Bewegungsvorstellungen eine Rolle spielen, ist für diese Erörte- 
rung gleichgültig.* 

Damit kehre ich zu Mach zurück. Ich hoffe wenigstens so- 
viel gezeigt zu haben, dafs meine erkenntnistheoretischen An- 
schauungen sich mit den Tatsachen der physiologischen Optik 
mindestens ebensogut vereinigen lassen als diejenigen Maghs. 

Ich gehe nunmehr zu den Erörterungen Maohs über den 
absoluten Raum über, welche M. wie die analogen bereits 
besprochenen Erörterungen über die absolute Zeit an eine Kritik 
der NEWTONschen Lehren anknüpft (Mech. in ihrer Entw., 4. Aufl. 
S. 237 ff.). Mach verwirft auch den absoluten Raum und die 
absolute Bewegung der NEWxoNschen Lehre und zwar aus folgen- 
den Gründen : es seien blofse Gedankendinge, die in der Erfahrung 
nicht aufgezeigt werden könnten ; wenn wir die Beziehung eines 
Körpers K zu anderen Körpern A, B, C . , , , weglassen würden, 
so könnten wir überhaupt nicht wissen, wie sich K dann bei 
Abwesenheit von J., JB, C . . . . benehmen würde ; auch würde 
uns jedes Mittel fehlen, das Benehmen des Körpers K zu be- 
urteilen u. s. f. (vgl. S. 240). 

Demgegenüber hätte ich etwa dasselbe zu wiederholen, was 
ich bezüglich der absoluten Zeit auseinandergesetzt habe; jetzt 



'Sie stellen insofern geradezu das fortschreitende Prinzip gegenüber 
dem überwiegend konservativen Prinzip der Kausalität dar. 

' Zur Entscheidung dieser Frage bedürfte es namentlich auch wieder- 
holter Kontrolluntersuchungen Über das Vorhandensein sensibler Kerven- 
fasern in den Augenmuskeln und in der TsMOMschen Kapsel und über 
passive Bewegungsempfindungen der Augäpfel bei Blinden. 



Erketintnistheoretiache Auseinandersetzungefi. 265 

will ich in etwas anderer Form diese Sätze nochmals für den 
Raum entwickeln. Der Begriff des absoluten Raumes ist durch 
die NBWTONsche Definition nicht eindeutig bestimmt. Man kann 
darunter sehr verschiedenes verstehen. Bezeichnet man als ab- 
soluten Raum einen solchen, für den ein bestimmtes, nicht auf 
Vergleichung von wenigstens 3 Körpern beruhendes absolutes 
Raummafs vorhanden sein soll, so ist ein solcher absoluter 
Raum ein Unding. Ebenso ist ein absolutes räumliches Ko- 
ordinatensystem mit einem absoluten Nullpunkt nicht weniger 
widersinnig als ein absoluter Null- oder Anfangspunkt der Zeit. 
Versteht man hingegen unter einem absoluten Raum nur die 
Tatsache, dafs den Reduktionsbestandteilen als solchen räumliche 
Eigenschaften zukommen, welche von der Relativität der Parallel- 
prozesse unabhängig sind, so ist gegen einen solchen absoluten 
Raum nichts einzuwenden. Er ergibt sich sogar bei dem Elimi- 
nationsverfahren als eine notwendige Reduktion. Das Beispiel 
der zwei Körper K und K\ welche sich nach der Richtung ihrer 
Verbindungslinie Beschleunigungen erteilen, die ihren Massen 
m und m' verkehrt proportional sind, wird meines Erachtens von 
Mach mit Unrecht angeführt. Er behauptet, dafs nur durch die 
Anwesenheit noch anderer Körper festgestellt werden könne, dafs 
die Beschleunigung nach der Richtung der Verbindungshnie 
stattfinde (also im Sinn der Annäherung). Demgegenüber hebe 
ich hervor, dafs — bei bekanntem Gesetz — die Richtung der 
Beschleunigung sich auch ohne andere Körper eindeutig daraus 
ergibt, dafs die Beschleunigung mit der Zeit zunimmt, woraus auf 
die Tatsache der Annäherung zu schHefsen ist. Nur die räumliche 
Messung der Bewegung ist uns unmöglich, solange ein 3. Bezugs- 
körper fehlt. Ebensoweit reicht auch die Beweiskraft des be- 
rühmten NEWTONschen Argumentes und Versuchs, demzufolge 
z. B. Zentrifugalkräfte nur bei absoluten und nicht bei relativen 
Rotationsbewegungen auftreten. Meines Erachtens ist hiermit in 
der Tat bewiesen, dafs der Reduktionsbestandteil des rotierenden 
Körpers Veränderungen seiner räumlichen und zeitlichen Eigen- 
schaften erfährt, d. h. eine Bewegung (im weitesten Sinn) aus- 
führt, zu deren näherer Bestimmung d. i. Messung allerdings 
Bezugskörper notwendig sind. Allerdings hat Mach Recht, wenn 
er behauptet, dafs wir niemals und nirgends eine absolute Ruhe 
imd eine absolute Bewegung beobachten, aber dies teilen beide 
mit allen Reduktionsvorstellungen: sie gehören nicht den Emp- 



266 ^TÄ. Zühen. 

findungen an, sondern sind Vorstellungen, zu denen wir durch 
Reduktion der Empfindungen gelangen. Die Richtigkeit und 
Notwendigkeit der Reduktion wird aber durch die von Newton 
hervorgehobene Beobachtung an rotierenden Körpern erhärtet. 

e) Der Massenbegriff Machs in erkenntnis- 
theoretischer Beziehung. 

Auch der Massenbegriff ist von meinem Standpunkt das 
Ergebnis einer erkenntnistheoretischen Reduktion, allerdings ein 
viel unabgeschlosseneres ^ als z. B. der Raum- und Zeitbegriff. 
Mach hat das sehr grofse Verdienst, diese Reduktion von allem 
Mystischen entkleidet zu haben. Das Massen Verhältnis ist nichts 
anderes als das negativ umgekehrte Verhältnis der Gregen- 
beschleunigungen (Mech. in ihrer Entw. S. 228 u. S. 279). Frei- 
hch wird dabei, wie Boltzmann mir mit Recht hierzu bemerkt 
zu haben scheint,* der Satz der Gleichheit der Wirkung und 
Gegenwirkung vorausgesetzt. Indes scheint mir damit kein Ein- 
wand gegen die MACHsche Analyse gegeben zu sein, da dieses 
Prinzip empirisch auch unabhängig von dem Massenbegriff fest- 
steht. Vom erkenntnistheoretischen Standpunkt wird man sich 
jedoch nunmehr weiter fragen müssen, ob der MACHsche Satz nur 
angibt, wie wir zum Massenbegriff gekommen sind und wie wir 
die Masse jederzeit messen können, ob er also nur den Reduktions- 
prozefs und eine Mefsregel angibt, oder ob er auch das Wesen 
des Reduktionsbestandteiles bereits erschöpft und sonach als eine 
abschUefsende Reduktion zu betrachten ist. Die letztere Alter- 
native trifft offenbar nicht zu, sofern wir sicher mit dem Massen- 
begriff die Gesamteigenartigkeit eines bestimmten Raum- 
elements zu einer bestimmten Zeit nicht erschöpft haben. Es 
sind also noch weitere bzw. andere Reduktionen erforderlich. In 
der Tat ist ja die Physik fortgesetzt mit solchen weiteren Re- 
duktionen (Atomistik, Energetik usw.) beschäftigt, denen die Er- 
kenntnistheorie in keiner Weise vorzugreifen fähig ist. 



^ Dies geht schon aus den mannigfachen Weiterbiidungs versuchen 
(Atomtheorie usw.) hervor. 

' Über die Grundprinzipien und Grundgleichungen der Mechanik, 
Vorles. an der Clark üniversity 1899 (auch Pop. Schriften, Leipzig 1905, 
S. 293). 



Erkefintniatheoretische Auseinandersetzungen, 267 

.Dem grofsen Lebenswerk Machs konnte ich in diesen Aus- 
einandersetzungen nicht gerecht werden. Zum Teil liegt es auf 
nicht-erkenntnistheoretischem Gebiet, zum Teil hat es wenigstens 
zu den von mir vorgeschlagenen erkenntnistheoretischen An- 
schauungen, welche ich hier zu verteidigen wünschte, keine Be- 
ziehungen. Nur eine vorbildliche Eigenschaft der MACHschen 
Forschungsweise, soweit sie erkenntnistheoretisch ist, möchte ich 
hier zum Schlufs noch hervorheben. Allenthalben vergleicht 
Mach die physikalischen und die psychologischen Vorgänge und 
Gesetzlichkeiten. Hierin erblicke ich die eigentliche Aufgabe der 
Erkenntnistheorie. Man hat sie lange Zeit auf das Eiiacken 
leerer Nüsse angewiesen, indem man von ihr Gewifsheitstheorien 
u. dergl. Handlangerdienste für legitimationsbedürftige meta- 
physische Systeme verlangte. Eine lösbare und wichtige Auf- 
gabe findet sie nur in jenem Vergleich physikalischer und psycho- 
logischer Tatsachen, der in der Binomie meiner Erkenntnistheorie 
wiederkehrt und der viele Untersuchungen Machs in vorbild- 
licher Weise auszeichnet. 

(Eingegangen am 19. August 1906.) 



268 



Über Nachempfindungen 
im Gebiete des kinästhetischen und statischen Sinnes. 

Ein Beitrag zur Lehre vom Bewegungsschwindel 
(Drehschwindel). 

Von 
Dr. Hans Abels (Wien). 

Einleitung. 

Der Anstofs zu den vorliegenden Untersuchungen lag in 
Beobachtungen und Studien über Seekrankheit, die Verfasser in 
längerer Tätigkeit als Arzt des österreichischen Lloyd reichlich 
anzustellen Gelegenheit hatte. Mufs doch die Seekrankheit, wie 
jetzt ziemlich allgemein angenommen, als eine Form des Be- 
wegungsschwindels bezeichnet werden, wenn auch, wie ich selbst 
glaube, die übUche Definition des letzteren in einigen Punkten 
zu erweitern wäre, um diese Subsmnmierung zu gestatten. Doch 
wie dem immer sei, Seekrankheit und Bewegungssehwindel ge- 
hören sicher innig zusammen, und Momente die bei dem einen 
Erscheinungskomplex eine ausschlaggebende Rolle spielen, dürfen 
bei dem anderen keineswegs vernachlässigt werden. 

Die zwei Momente nun, die sich bei der Beobachtung der 
Seekrankheit zuerst aufdrängen und die in der Physiopathologie 
dieser Aflektion eine hochwichtige Bedeutung einnehmen, sind: 
erstens die auTserordentlichen individuellen Unterschiede 
und zweitens der fast noch bedeutsamere Einflufs der Ge- 
wöhnung. Die individuelle Verschiedenheit besteht darin, daCs 
es einerseits Menschen gibt, die nie die geringste Anwandlung 
von Seekrankheit verspüren, an dem anderen Ende wieder solche, 
die, selbst wenn sie durch ihren Beruf dauernd an das Seelebea 
gefesselt sind, niemals völlig frei davon werden, und daTs schlieüs- 
Uch das Gros der Menschen unzählige Zwischenstufen zwischen 



I 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 269 

diesen beiden Extremen repräsentiert. Die Gewöhnung aber 
äofsert sich dadurch, dafs die bei einem Individuum aufgetretenen 
Erscheinungen auch bei Gleichbleiben der Stärke der Schaukel- 
bewegungen innerhalb von Stunden oder Tagen bedeutend nach- 
zulassen pflegen, um bei künftigen derartigen Gelegenheiten, falls 
die Zwischenpause keine allzulange ist, nicht mehr in derselben 
Intensität aufzutreten. Jedenfalls aber erfolgt die Angewöhnung 
bei einer zweiten derartigen Probe ungleich schneller. Diese 
Tatsachen sind jedem, der einige Zeit zur See tätig war, geläufig, 
ebenso wie allen ernsteren Autoren über Seekrankheit, wenn sie 
auch zumeist nicht genügend gewürdigt werden. 

Wenden wir uns nun dem Bewegungs- und in specie dem 
Drehschwindel zu, so sehen wir, dafs hier eben dieselben beiden 
Momente, namentlich aber das zweite eine höchst bedeutsame 
Bolle spielen, dafs ihnen aber kaum irgendwelche Beachtimg 
geschenkt wurde, weil von dem Standpunkte der bisherigen 
Theorien wenig damit anzufangen war. Denn betrachtet man 
wirklich die Tatsachen der Schwindelgewöhnung einigermafsen 
näher, und sieht man also, dafs der eine Mensch unter denselben 
Umständen heftigsten Schwindel bekommt, unter denen der andere 
völlig frei davon bleibt, und noch mehr, dafs ein und der- 
selbe Mensch, der ursprünglich während und nach einer gewissen 
Bewegung (im allgemeinen Drehbewegung) die ausgesprochensten 
subjektiven und objektiven Symptome des Drehschwindels auf- 
gewiesen hat, im Laufe von Stunden oder längstens Tagen in 
einen solchen sich verwandeln kann, der unter denselben Um- 
ständen nicht die geringsten Schwindelerscheinungen verspürt 
oder darbietet, so mufs man allerdings zu der Überzeugung ge- 
langen, dafs der Schwindel weder auf einer spezifischen und 
inhärenten Funktionseigentümlichkeit der mit dem Vestibular- 
apparate in Verbindung tretenden peripheren oder zentralen 
Nervenpartien und noch viel weniger auf einer mechanischen 
Unvollkommenheit des die Reize aufnehmenden Endapparates 
im statischen Organ beruhen könne, da hierin sich unmögUch in 
so kurzer Zeit eine grundsätzliche Wandlung vollziehen könnte. 

Ohnehin befindet sich die gegenwärtig zumeist gemachte 
Annahme von der langen Nachdauer einer durch momentane 
Drehbeschleunigung erzeugten Empfindung im strikten Gegen- 
satze zu allen unseren übrigen Erfahrungen in der Sinnes- 
physiologie, wohingegen bei Verfolgung des oben teilweise an- 



270 ÄafW Abels, 

gedeuteten Weges man zu Anschauungen über die Drehempfindung 
(und den Drehschwindel) gelangt, die in wohltuender Überein- 
stimmung mit den bezüghch der anderen Sinnesgebiete gültigen 
stehen. 

Es wird unsere Aufgabe sein, nach einer kurzen Darlegung 
der bisherigen Entwicklung der Hypothesen, die bei entsprechen- 
der Würdigung obiger sowie anderer bisher unbeachteter Tat- 
sachen sich ergebende Anschauung in systematischer Form dar- 
zulegen, wobei allerdings gerade alle komplizierteren Experimente 
über Drehschwindel und ihre Ausdeutung auf den Schlufs auf- 
gespart werden müssen. Ist es doch, wie ich glaube, eben dem 
Umstände, dafs man unmittelbar von diesen, ich möchte sagen, 
unphysiologischen, d. h. mit den gewöhnlichen Lebens- 
bedingungen des Organismus in Widerspruch stehenden Versuchen 
ausgehend, das normale Verhalten der Drehempfindung er- 
schliefsen zu können glaubte, zuzuschreiben, dafs man zu wider- 
spruchsvollen Annahmen über dieselbe gelangte. 

Es ist hier der Ort, um die Möglichkeit von Mifsverständ- 
nissen vorweg abzuschneiden, nachdrücklich darauf hinzuweisen, 
dafs durch die folgenden Untersuchungen in keiner Weise die 
MACH-BREüEBsche Theorie von der Bewegung perzipierenden 
und statischen Funktion des Vestibularapparates, von der Be- 
einflusisung desselben durch Gravitation, Zentrifugalkraft und 
überhaupt jede Art von Beschleunigung irgendwie tangiert wird, 
für welch letztere Sätze ich im Gregenteile neue Beweise zu 
liefern hoffe. 

Ebenso ist es nötig, zwei weitere Begriffsabgrenzungen bzw. 
Festlegungen vorzunehmen, um das Arbeitsgebiet der folgenden 
Untersuchungen klarer abstecken zu können. Vor allem werden 
wir uns mit dem Zustandekommen des eigentlichen Schwindel- 
gefühles nicht direkt zu befassen haben. Erwähnt sei nur, dafs 
dasselbe nach den berufensten Autoren (Mach, Hitzig, Ewald, 
Nagel) durch Zusammentreffen nicht übereinstimmender Emp- 
findungen des statischen Sinnes, des optischen Apparates und 
des kinästhetischen Sinnes gegeben sei. Eine mit dem tatsäch- 
lichen Bewegimgszustande des Organismus in Widerspruch 
stehende Bewegungsempfindung (z. B. Drehempfindung nach 
Rotation) erzeugt, solange kontrollierende Sensationen von Seiten 
anderer Sinnesorgane nicht vorhanden sind, oder auch in dem- 
selben Sinne einer Täuschung unterliegen, kein oder nur unbe- 



über NacJiempfindungen im Gebiete des kinästl^etkchen u. statischen Sinnes. 271 

deutendes Gefühl des Verwirrtsems und demgemäfses Unbehagen, 
welches sich hingegen bei Vorhandensein solcher widersprechender 
Sensationen sofort einstellt und eventuell bis zum Ekel steigert. 
Nur dieses Gefühl des Verwirrtseins bezeichnet der Sprach- 
gebrauch als Schwindel und mit Recht, da offenbar auch nur in 
diesem Falle jener aus dem Konflikte widersprechender 
Sensationen entspringende komplizierte Prozefs vorliegt. Die 
einfache Bewegungstäuschung hingegen z. B. das Gefühl des 
Bewegtseins bei tatsächlich ruhendem Körper haben wir eigent- 
lich kein Recht schon als solches dem Schwindel zuzurechnen. 
Ebenso nimmt auch Hitzig ^ den entsprechenden konträren Fall 
vom Schwindel aus, wenn man nämlich trotz fortdauernder gleich- 
mäfsiger Progressivbewegung (z. B. im Eisenbahnwaggon) keine 
Bewegungsempfindung hat. Es müssen also, wenigstens theo- 
retisch, Bewegungstäuschung und Schwindelempfin- 
dung schärfer als dies bisher üblich war, getrennt werden. In 
Wirklichkeit begegnen wir allerdings aus leicht ersichtlichen 
Gründen relativ selten gefälschten Bewegungsempfindungen, die 
völlig frei von Schwindelgefühlen sind, so dafs wir, wenn auch 
unsere Besprechung zunächst nur den ersteren gelten soll, nicht 
gänzlich von letzteren werden abstrahieren können. 

Ebenso haben wir die Absicht von der diffizilen und strittigen 
Frage möglichst abzusehen, ob bei den hier einschlägigen Ver- 
suchen und Beobachtungstatsachen die Dreh empfin düng des 
Primäre sei, ob also die zugleich mit ihr auftretenden reak- 
tiven Bewegungen der Augen, des Kopfes oder ganzen 
Körpers erst von jener Empfindung ausgelöst werden, oder ob 
jene auf diesem beruhe oder schliefslich beides durch einen dritten 
Vorgang erzeugt werde.* Uns genügt es zu konstatieren, — imd 
dies mufste auch den bisherigen Bearbeitern unseres speziellen 
Gebietes genügen, da darüber hinaus unsere sichere Kenntnis 
nicht reicht — dafs bei den hier zu betrachtenden Versuchen, 



^ £. Hitzig. Der Schwindel. Spez. Pathol. u. Therap., herausgegeben 
von NoTHNAGBL 12, II. T., II. Abt. Wien 1898, S. 25. 

* Einigen sehr bemerkenswerten A!:^fschlur8 hierüber geben die Beob* 
achtungen von Baeany. Siehe diesbezüglich in seiner neuesten Arbeit: 
Untersuchungen über den vom Yestibularapparat des Ohres reflektorisch 
ausgelösten rhythmischen Nystagmus und seine Begleiterscheinungen. 
Monaisschr, f. OhrenheUk. 40, die interessanten Ausführungen S. 211 u. 
S. 276. 



272 -H«w» ^^€^' 

wann immer wir in der Lage sind, beide Seiten des Reizerfolges 
zu beobachten oder durch verläfsliche Analogie zu kontrollieren, 
im allgemeinen stets beides nebeneinander und parallel oder 
einander ersetzend zu konstatieren ist. Die Worte Drehschwindel 
und Nachschwindel werden denn auch von den meisten Autoren 
in dem Sinne gebraucht, dafs sie bei Experimenten an Tieren 
zunächst die objektiven Bewegungserscheinungen, bei Beob- 
achtungen am Menschen, speziell sich selbst, zunächst die auf- 
tretenden Empfindungen damit bezeichnen. 

Wir werden also im Interesse der Einfachheit der Darstellung 
häufig nur von der Empfindung sprechen, ohne die sie begleiten- 
den Reaktionsbewegungen der Augen usw. jedesmal ausdrücklich 
zu erwähnen, und es wird an den Deduktionen nichts geändert 
durch den Umstand, dafs allerdings zuweilen die primäre Dreh- 
empfindung nur undeutlich oder gar nicht zum Bewufstsein ge- 
langt. In dieser Beziehung verhält sich der statische Sinn ganz 
analog dem Unästhetischen, dessen Nachrichten uns allerdings 
bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit bewufst orientiert sein 
lassen über die Stellung und Bewegung unserer Glieder, für 
gewöhnlich jedoch zur Regulierung unserer Bewegungen ver- 
arbeitet werden, ohne dafs alle Einzelstufen der Bewegung zu 
unserem Bewufstsein gelangen. Diese Art der Verwertung der 
Nachrichten des statischen wie des kinästhetischen Sinnes ge- 
reicht uns, wie Gab ausführt^, natürUch nur zum Vorteile, da 
durch stetes Bewufstwerden derselben die Aktionen nur weniger 
prompt und unsicherer werden müfsten. Wenn also in manchen 
selbst der subjektiven Experimente bei gewissen Versuchs- 
bedingungen die primäre Drehempfindung zurücktritt gegenüber 
den reaktiven Bewegungen z. B. der Augen und den dadurch 
ausgelösten sekundären Erscheinungen wie Gesichtsschwindel, so 
ist dies für uns irrelevant aus dem schon erwähnten Grunde, 
weil wir nicht die Abhängigkeitsverhältnisse der beiden Seiten 
des Reizerfolges voneinander, sondern des Reizerfolges 
als Ganzen — gleichgültig ob von auTsen oder innen betrachtet 
— vom Reize, und zwar vorzüglich in zeitlicher Beziehung, 
zu analysieren haben werden. 



^ Gab: Die statischen Funktionen des Ohres. Handbach der Ohren 
heilkunde von Schwartse. I. 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 273 

Grundtatsachen. Machs Hypothese. 

Unser Thema beschränkt sich den letzten Ausführungen zu- 
folge im wesentlichen auf die im Gebiete der Bewegungs- 
empfindungen auftretenden Täuschungen und zwar namentUch 
die bierher gehörigen Nachempfindungen; in erster Linie und 
als Hauptzielpunkt unserer Untersuchung werden wir die nach 
Drehbewegungen auftretende Drehempfindung zu betrachten 
haben. 

Die Grundtatsachen dieses Gebietes hat in klarster und ein- 
fachster Form zuerst Mach festgelegt. Wir wollen dieselben, 
seiner Darstellung folgend, zunächst kurz wiedergeben.^ 

Die Versuchsperson wird in einem Papierkasten, also bei 
Abschlufs des optischen Kontaktes mit der Aufsenwelt, in einer 
beliebigen Stellimg jedoch in gut unterstützter Lage des Körpers 
um eine vertikale Achse in Rotation versetzt. „Jede Dreh- 
bewegung wird sofort dem Sinne nach und der beiläufigen 
Gröfse nach erkannt. Erhält man aber einige Sekunden lang 
die Rotation gleichförmig, so hört allmählich das Gefühl der 
Drehung ganz auf. Es tritt das Gefühl einer entgegengesetzten 
Drehung auf, wenn man den Apparat sich selbst überläfst, so 
dals er einen verzögerten Gang annimmt. Dies Gefühl der 
Gegendrehung wird äuTserst heftig, wenn man den Apparat 
plötzUch anhält, und dauert je nach der Stärke der Rotation 
allmählich abnehmend einige Sekunden." „Man empfindet 
also nicht die Winkelgeschwindigkeit, sondern die 
Winkelbeschleunigung." „Wird der Apparat IV«— 2 
Sekunden nach dem Anhalten plötzlich wieder in demselben 
Sinne in Bewegung gesetzt, so verschwindet das Gefühl der 
Gegendrehung, welches in der Pause auftritt. Die durch eine 
Winkelbeschleunigung erzeugte Drehempfindung hat also eine 
beträchtliche Nachdauer und kann durch eine entgegengesetzte 
Winkelbeschleunigung aufgehoben werden." „Solange man sich 
ruhig verhält, ist die Rotationsachse nach dem Anhalten auch 
immer die Achse der scheinbaren Gegendrehung." Diese bei 
allen Versuchen bestehende Abhängigkeit der Richtung der 
Scheinbewegung von der Stellung des Kopfes, eine Abhängig- 
keit, die schon dem älteren Dabwin und Purkinje bekannt war. 



^ £. Mach: Grundlinien der Lehre von den Bewegnngsempfindungen. 
Leipzig 1875. S. 26fl. 

Zeitschrift fttr Psychologie 43. 18 



274 Sans AbeU, 

drückt Mach noch in folgender anschaulicher Weise aus: y,Man 
kann sozusagen mit der nachdauemden Drehempfindung den 
Kopf in eine beliebige Lage bringen und die Achse der schein- 
baren Drehung, welche durch die anfangliche, wirkliche Drehung 
bestimmt ist, macht alle Bewegungen des Kopfes mit, ihre Lage 
im Kopfe ist unveränderlich." Ebenso wie die Richtung der 
Scheinbewegung ändert sich konform der Stellung des Kopfes 
auch die Richtung der reaktiven Bewegungen der Rumpf- und 
Extremitätenmuskulatur und dementsprechend die Erscheinungen 
des Tastschwindels. ^ 

Die zweite Grundtatsache, die von Mach in seinen Versuchen 
festgelegt wurde, besteht darin, dafs ein in einem Kasten ein- 
geschlossener Beobachter — der sich jedoch diesmal in einiger 
Entfernung von der Rotationsachse befindet, also eine sogenannte 
Karussellbewegung durchmacht — nachdem die Winkelge- 
schwindigkeit eine konstante geworden ist und das Drehgefühl 
aufgehört hat, konstant samt dem Kasten in geneigter Stellung^ 
zu sein glaubt und zwar mit dem Kopfe von der Rotationsachse 
weg. „Man empfindet die Richtung der resultierenden Massen- 
beschleunigung und hält diese für die Vertikale." Ein in dem 
Kasten aufgehängtes Pendel, das je nach der erreichten Rotations- 
geschwindigkeit und der entsprechenden Zentrifugalbeschleunigung^ 
etwa um 10 — 20 ** seithch ausschlägt, hält man während der 
Rotation für vertikal, den Kasten und sich selbst aber für schief. 

Was nun die Deutung der angeführten Tatsachen, in erster 
Linie des uns vorzüglich interessierenden ersten Grundphänomens 
anbelangt, so haben wir schon darauf hingewiesen, dafs Mach 
hieraus die beiden Folgerungen zieht, 1. dafs es die Winkel- 
beschleunigung ist, die die Drehempfindung auslöst, und 
2. dafs diese Empfindung viel länger anhält als die Beschleunigung 
selbst. „Denn sehr bald nach Unterbrechung der Drehung werden 
alle Massenbeschleunigungen aufgehört haben, während man 
noch immer eine Bewegung empfindet." ^ Das nach einer 
Rotation auftretende Gefühl der Gegendrehung wird also auf- 
gefafst nicht als veranlafst durch irgend welche mit der Dauer 
jener Drehung im Zusammenhang stehende Vorgänge, sondern 
als ausgelöst lediglich von der die Rotation beschliefsenden 



» Mach a. a. 0. S. 95, 96. 
« Mach a. a. 0. S. 28. 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästJietischen u. statischen Sinnes. 27& 

negativen WlBkelbeschleiinigang, wobei jedoch obigem Prinzipe 
entsprechend die Drehempfindung zeitlich die auslösende Be- 
schleunigung bedeutend überdauern würde. Die Ursache dieser 
eigentümUchen Erscheinung verlegt Mach, wie aus mehrfachen 
Stellen der zitierten Schrift hervorgeht, in den nervösen Apparat, 
in die periphere Nervenleitung oder wahrscheinlicher das der- 
selben zugehörige Zentrum, welche Nervenapparate zum Unter- 
schiede von den den anderen Sinnesorganen zugeordneten die 
Eigenschaft besitzen sollten, schon auf einen momentanen Beiz 
hin eine Empfindung von recht wesentlicher Dauer zu vermitteln. 
Über die höchst auffallende und auch von Mach selbst mehrfach 
erwähnte Divergenz eines solchen Verhaltens gegenüber allen 
anderen Tatsachen der Sinnesphysiologie sucht Mach a. a. O. 
S. 116 durch folgende Erwägung hinwegzukommen: „Man kann 
sagen, die Beschleunigung erregt die fortdauernde Empfindung 
einer Cresch windigkeit." „Teleologisch ist dies leicht zu be- 
greifen, denn es handelt sich hauptsächUch darum, eine Vor- 
stellung von der Geschwindigkeit zu erlangen, in welche 
wir bei der Bewegung geraten sind."^ Andererseits verkennt 
Magh selbst durchaus nicht die aus dieser supponierten eigen- 
tünüichen Sonderstellung hervorgehenden Schwierigkeiten und 
meint daher, dafs „unser Erklärungsprinzip jedenfalls nur provi- 
sorisch ist".* 

Es sei nun — zugleich auch zur Vereinfachung der späteren 
Ausführungen — gestattet, hier sogleich einige Bemerkungen 
über die Grundlagen dieses „provisorischen" Erklärungsprinzips 
anzuknüpfen. Zuvörderst ist ohne weiteres ersichtlich, dafs beim 
Zustandekommen desselben folgende aprioristische Annahme eine 
gewisse Rolle gespielt hat. Dafs ein im Innern des Organismus 
befindliches und zur Registrierung von dessen Bewegungen be- 
stimmtes Perzeptionsorgau zimächst nur auf Beschleunigungen 
ansprechen kann, war ja klar. „Die mechanische Wechselwirkung 



^ Einzuwerfen wäre hier sofort, dafs bei den doch ebenso häufigen 
und lebenswichtigen Progressivbewegungen (Gehen, Laufen, Springen), wie 
bekannt, keine deutliche Nachdauer der betreffenden Empfindungen nach- 
zuweisen ist, ohne dafs hierunter die Vorstellung von der dabei erreichten 
Geschwindigkeit Schaden leidet. 

» Mach: Physikalische Versuche über den Gleichgewichtssinn des 
Menschen. Sitzungsberichte der kaiserl. Akademie der Wissenschaften in 
Wien 1873. Bd. 68. lU. Abt. 8. 1^5. 

18* 



276 ^<^^ Abels. 

der Massen besteht in gegenseitiger Beschleunigung. Es 
hat also von vornherein eine grofse Wahrscheinlichkeit, dals 
blols Beschleunigungen empfunden werden. ^ ^ Dafür sprach 
auch die alltägliche Erfahrung, dafs man selbst von bedeutenden 
Geschwindigkeiten, mit denen sich der eigene Körper fortbewegt, 
z. B. im Eisenbahnwaggon bei Ausschlufs der Gesichtswahr- 
nehmungen nach Gröfse sowohl wie nach Richtung keinerlei 
Empfindung hat, solange die Bewegung eine gleichförmige ist, 
Beschleunigungen also ausgeschlossen erscheinen. Ist nun auch 
der Grundsatz, dafs ein derartiges mit einem mechanisch wirken- 
den Endapparate versehenes Sinnesorgan unmittelbar nur auf 
Beschleunigungen reagieren kann, vom physikaUschen Stand- 
punkte unzweifelhaft richtig, so ist dabei doch in physiologischer 
Hinsicht die Möglichkeit vorhanden, wie wir später des Ge- 
naueren auszuführen haben werden, dafs „Geschwindigkeit^ und 
zwar Winkelgeschwindigkeit das Substrat einer Empfindung 
abgebe. 

Ein weiteres bemerkenswertes Faktum besteht darin, dafs, 
wie Mach a. a. O. S. 28 sich selbst ausdrückt, die dem grölsten 
Teile der Versuche zugrunde liegenden Erscheinungen „dem 
Gebiete des sogenannten Drehschwindels angehören". Schwindel 
ist nun etwas, das nach allgemeiner wie medizinischer Sprachs- 
resp. BegrifEsfassung zum mindesten dem Grenzgebiete des 
Physiologischen und Pathologischen zuzurechnen ist. Dafs es 
aber, wie schon einmal betont, sehr prekär erscheint, gerade aus 
diesem Gebiete die wichtigsten Daten für die Grundlinien der 
Physiologie eines Sinnesorganes zu holen, wird uns um so klarer, 
wenn Mach a. a. 0. S. 31 weiterhin sagt: Die Empfindungen 
der Drehung sind viel auffallender* (als diejenigen der Pro- 
gressivbewegung) und führen in Form des Drehschwindels 
leichter zu Täuschungen.* Und doch hat sicher die Be- 
stimmung eines Sinnesorgans nichts zu tun mit der Leichtigkeit 
zu Täuschungen zu führen; die Deutlichkeit und Exaktheit der 
von ihm vermittelten Empfindungen und damit die Wertung des 
Sinnesorgans stehen vielmehr im allgemeinen mit dieser Leichtig- 
keit, Täuschungen zu veranlassen, geradezu im umgekehrten 
Verhältnisse. 



^ Mach: Grundlinien usw. S. 22. 

' Im Original nicht gesperrt gedruckt. 



über Nachempfindwigen im Gebiete des hitiästhetischefi u. statiscJien Sinnes. 277 

Der merkwürdigste Umstand aber und ein für den Charakter 
des gegebenen Erklärungsprinzips als „provisorischen" sicher in 
hohem Grade mitbestimmender ist der folgende. Mach vergleicht 
in einem eigenen Kapitel die Bewegungsempfindungen mit den 
anderen Sinnesempfindungen und bespricht die im Bereiche der 
letzteren zu beobachtenden positiven und negativen Nachbilder. 
Die Erscheinungen von dem zweiten (negativen) Typus bringt 
er mit dem Umstände in Verbindung, dafs „einem konstanten 
Reiz in der Regel eine an Stärke abnehmende Empfindung ent- 
spricht, dafs aber mit der Erschöpfung des Organs Folgezustände 
eintreten, durch welche das Organ seinen ursprüngHchen Zustand 
wieder zu gewinnen sucht". ^ Nun konstatiert Mach an ver- 
schiedenen Punkten seiner Untersuchungen, dafs die Bewegungs- 
empfindung auch bei fortdauernder Beschleunigung also fort- 
dauerndem Reize Erschöpfung in ausgiebigem Mafse nachweisen 
läfst, indem gleichbleibenden Reizintensitäten abnehmende Emp- 
findungsstärken entsprechen. Trotzdem mufs er von seinem 
Erklärungsprinzipe aus in den zusammenfassenden Stellen seiner 
Darstellung diesem Satze von der Erschöpfung der Bewegungs- 
empfindung bei fortdauerndem Reize schroff den anderen gegen- 
überstellen : „Beim Erlöschen des Reizes zeigt sich keine negative 
Phase der Bewegungsempfindung".* 

Wir werden diesem Widerspruche in unseren Untersuchungen 
Rechnung zu tragen haben und seine Lösung wird eine unserer 
wichtigsten Aufgaben sein. 

Bbeuers Hypothese. 

Bbeueb, von denselben Grundtatsachen und denselben teleo- 
logischen Betrachtungen ausgehend, sucht zur Erklärung das 
physikalische Verhalten des Endapparates heranzuziehen. Auch 
er nimmt an, dafs die Empfindung einer momentanen Be- 
schleunigung eine bedeutende Nachdauer habe, und sagt darüber 
in seiner neuesten Arbeit folgendes : ^ 

Während diese Nachdauer bei anderen Sinnesorganen die 
Übereinstimmung zwischen Objekt und Empfindung stört und 

» Mach a. a. O. S. 56. 

« Mach a a. O. S. 64 u. S. 124. 

• J. Bbbusb: Studien Ober den Vestibularapparat. Sitzungsberichte 
der kaiaerl. Akademie der Wissenschaften in Wien, Bd. CXII, Abt. III, 
1903, S. 3. 



278 -Saw« Abels. 

darum möglichst eingeschränkt wird, ist sie bei Empfindung der 
Drehung die wesentliche Bedingung dieser Übereinstimmung. 
Während das positive Nachbild beim Gehör kaum existiert und 
beim Gesichte für mäfsige Intensität des Reizes nur Bruchteile 
von Sekunden andauert, währt es Minuten, bis die Drehungs- 
empfindung erloschen ist, welche an den plötzlichen Beginn und 
an das Ende einer längeren Rotation anschUefst. Eine Theorie 
der Drehungsempfindung hat also zu erklären, worauf diese lange 
Nachdauer der Beschleunigungserregung beruht." 

Dieses vermeintliche, mit allen anderen sinnesphysio- 
logischen Tatsachen im Widerspruche stehende Verhalten führt 
nun Bbbuer in seiner diesem Spezialproblem gewidmeten Hypo- 
these, die allerdings im Laufe der Zeit gegenüber den fort- 
schreitenden Kenntnissen über das physikalische und histologische 
Verhalten des Bogengangsystems einige Wandlungen erfahren 
hat, auf eine grobe mechanische Unvollkommenheit 
des Endapparates zurück, der zufolge dem Nerven schon 
stets sozusagen gefälschte, mit den Erregungs Ursachen, 
i. e. den Beschleunigungen , durchaus nicht parallel 
gehende Nachrichten übermittelt werden. Wir stellen nun- 
mehr die BfiEüBÄsche Hypothese im wesentlichen mit seinen 
eigenen Worten dar, und zwar empfiehlt es sich zur Veranschau- 
lichpng des dabei ausschlaggebenden Gedankenganges auch die 
ersten Fassungen derselben zu berücksichtigen. 

„Jeder häutige Bogengang mit der seine beiden Mündungen 
verbindenden Partie des Utrikulus bildet eine kreisförmige an 
einer Stelle erweiterte, mit Flüssigkeit gefüllte Röhre. Wird ein 
solcher Röhrenring geradlinig fortbewegt, so bedingt die Träg- 
heit des Wassers keine Verschiebung desselben gegen die Röhren- 
wände .... Wenn aber ein solcher Flüssigkeitsring statt einer 
geradlinigen Bewegung eine Kurve in seiner Ebene beschreibt, 
so bleibt das Wasser um den Betrag seiner Winkeldrehung 
zurück, d. h. es verschiebt sich längs der Röhrenwände, es strömt 
in der Röhre." ^ „Hätte ich einen solchen Röhrenring mit 
Flüssigkeit gefüllt und mit irgend einem Apparate versehen 
(etwa in der Art des Hämatachometer von Vieeordt), welcher 
Richtung und Geschwindigkeit des Strömens der eingeschlossenen 



* J. Breueb: Über die Funktion der Bogengänge des Ohrlabyrinthee. 
Medizin. Jahrbücher. Wien 1874. S. 79. 



über Nachenipfindungen im Gebiete des kinästhetische^i u. statischen Sinnes. 279 

Flüssigkeit anzeigt, so würden die Angaben dieses Apparates 
jede bei der Bewegung der Röhre geschehene Abweichung von 
der geraden Richtung, jede Drehung des Röhrenringes in seiner 
Ebene anzeigen und zu messen erlauben; verbände ich drei 
solche mit Indikatoren versehene Röhrenringe miteinander, so 
dafs sie in verschiedenen Ebenen orientiert wären, so würden 
die Angaben des Apparates erlauben bei beliebiger Bewegung 
desselben im Räume die geschehene Winkeldrehung nach 
Richtung und Grölse zu bestimmen.''^ „Ein solcher Indikator 
liegt uns aber vor Augen in den Ampullarendigungen des 
Akustikus. Mikroskopische Haare ragen in die Endolymphe 
hinein als Ausläi^er eigentümlicher Epithelzellen, die anderer- 
seits mit Ausläufern der Ampullamerven in Verbindung, deren 
Endorgane bilden."* 

„Wenn ein mit Flüssigkeit gefüllter Röhrenring seine 
Drehung begiont, so macht, wie wir gesehen haben, die Flüssig- 
keit eine relativ rückläufige Bewegung. Dauert die Drehung 
an, so wird die lebendige Kraft dieser Strömung nach und nach 
durch die Reibung und Adhäsion an den Röhrenwänden auf- 
gezehrt werden, natürlich um so rascher, je enger die Röhre ist, 
und die Flüssigkeit bewegt sich dann mit dem Ringe in gleichem 
Sinne und gleicher Geschwindigkeit; das System ist dann in 
innerer Ruhe. Hält der Röhrenring nun plötzlich in seiner 
Drehung inne, so hat doch die Flüssigkeit die lebendige Kraft 
ihrer Bewegung; sie wird ihrem Beharrungsvermögen folgend, 
so lange im Sinne der früheren Drehung des Ringes weiter- 
strömen, bis auch die lebendige Elraft dieser nachläufigen 
Bewegung durch die Adhäsion aufgezehrt ist. Übertragen wir 
dies auf die Bogengänge und verbinden wir es mit unserer An- 
nahme, dafs jede Strömung der Endolymphe in uns die Vor- 
stellung erzeugt, wir würden in der Ebene des betreffenden 
Ganges und in dem (der Strömungsrichtung) entgegengesetzten 
Sinne gedreht. Es ergibt sich daraus als notwendige Konsequenz 
unserer Annahme, dafs wir nach länger anhaltender Drehung 
unseres Kopfes in irgend einer Ebene beim Stillhalten die 
Empfindung haben müssen, wir würden in derselben Ebene im 
entgegengesetzten Sinne zurückgedreht."' 

^ J. Bsetteb: Über die Funktion der Bogengänge des Ohrlabyrinthe». 
Medizin. Jahrbücher. Wien 1874. S. 79. 

« Ebda. S. 80. » Ebda. S. 92. 



280 -Ha»» ^b<^' 

„Wie ein System von in sechs verschiedenen Ebenen ge- 
stellten Röhrenringen eine Drehung so analysiert, dafs in jedem 
Binge die Komponente wirksam wird, die der Stellung der 
Ebene des Ringes zur Drehebene entspricht, so wird auch die 
nachläufige Bewegung in den verschieden gestellten Bogen- 
gängen verschieden stark sein ; daraus dann der obigen Annahme 
nach die für jede Drehebene anders bestimmte, aus jenen Einzel- 
perzeptionen resultierende Vorstellung einer Drehung des Kopfes 
entstehen. Und zwar ist diese Vorstellung die einer rück- 
läufigen, der früheren Drehung entgegengesetzten Bewegung, 
denn die Strömungen in den Bogengängen sind nachläufige, mit 
der Kopfdrehung gleichsinnige. 

Da Strömungen in Röhrenringen relativ zur Wand gleich 
bleiben, in welche Stellung wir auch den Ring bringen mögen, 
so muls auch die scheinbare Drehung, bei Stellungsveränderung 
des Kopfes, diese Veränderung mitmachen." ^ 

Gegenüber den solchergestalt entwickelten Anschauungen, 
die in ähnlicher Form auch Bbown ausgesprochen hatte *, wurde 
von Mach und Rosenthal eingewendet, dafs eine länger dauernde 
Strömung der Lymphe bei den Reibungsverhältnissen und 
Dimensionen der häutigen Kanäle undenkbar sei, und Bbeueb 
anerkannte die Richtigkeit dieser Einwendung.* Er erörtert 
Maghs Erklärungsversuch mittels eines eigenartigen zentralen 
Vorganges und fährt dann fort : * 

„Ich möchte eine rohere aber fafslichere Vorstellung vor- 
schlagen. 

Die Endolymphe übt jedenfalls, auch wenn ein länger 
dauerndes Strömen derselben unmöglich ist, durch ihr Trägheits- 
moment bei jeder Beschleunigung auf die nervösen Endorgane 
der Ampulle, die Hörhaare, einen momentanen Druck aus. Wir 
müssen wohl annehmen, dafs der erregende Vorgang im Nerven- 
endapparate, hier im Hörhaare, darin besteht, dafs diese gebogen 
und dadurch die Druck- und Spannungsverhältnisse in ihm ge- 
ändert werden. Solange (innerhalb kurzer Zeiträume) diese 
Änderung dauert, dauert wohl auch der Erregungsvorgang in 

* Ebda. 8. 93 u. S. 94. 

■ Journal of Anatomy and Phyaiology 8. 

' J. Breuer: Beiträge zur Lehre vom statischen Sinn. Medizin. Jahr- 
bücher. Wien 1875. 8. 124. 

* Ebda. 8. 125. 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetiachen u. statischen Sinnes. 281 

der zugehörigen Nervenfaser und die dadurch bedingte Empfin- 
dung. Sollten wir aber annehmen, dafs die Wirkung des Lymph- 
druckes auf die Gestalt der Hörhaare eine momentan ver- 
schwindende sei, so würden wir diesen eine sehr hohe Elastizität 
zuschreiben, denn sie müfsten dann augenblicklich ihre frühere 
Gestalt wiederherstellen. Es scheint mir nun unschwer, sich 
vorzustellen, dafs sie eine solche Elastizität nicht besitzen, und 
dafs sie nach einem momentanen Stofs der Endolymphe, resp. 
der Otolythen nach der Richtung des Stromes sozusagen ver- 
bogen bleiben. 

Bei den gewöhnlichen kurzen Drehbewegungen folgt dem 
Stofse der Endolymphe in der einen Richtung beim Bewegungs- 
anfang, alsbald der Gegenstofs in der entgegengesetzten Richtung 
beim Bewegungsschlusse. Die noch verbogenen Haare würden 
durch diesen Gegenstofs, der ja nie stärker sein kann, als der 
Anfangsstofs, in die normale Stellung zurückgeführt werden. 
Erfolgt dieser Gegenstofs nicht, d. h. dauert die Bewegung des 
Kopfes gleichmäfsig fort, so gewinnen die Haare erst durch ihre 
eigene Elastizität langsam ihre ursprüngliche Gestalt wieder; bis 
diese hergestellt wird, haben wir, entsprechend und proportional 
der Verbiegung derselben, also in abnehmender Intensität, die 
Vorstellung einer Bewegung. Dasselbe geschieht am Schlüsse 
einer Bewegung, wenn diese lange genug gedauert hat, dafs die 
Wirkung des Anfangsstofses schon ausgeglichen ist, und nun 
keine Verbiegung der Nervenfasern mehr zu kompensieren ist. 
In diesem Falle erfolgt die Verdrückung der Haare nach der 
entgegengesetzten Richtung, und wir haben dementsprechend 
die Empfindung einer der ursprünglichen entgegengesetzten 
Bewegung." 

In seiner neuesten Arbeit nun, in der Bbeueb unter anderem 
wertvolle Studien über die Einwirkung des Kokains auf die 
AmpuUamerven und neue Untersuchungen über gesonderte elek- 
trische Reizung der einzelnen Ampullen bringt, kommt Bbeueb 
auf Grund eigener und fremder Untersuchungen über den feineren 
Bau des Endapparates in der Ampulle zu einer abermals modi- 
fizierten Anschauung. Er sagt mit Bezug auf die oben an- 
geführte Hypothese:^ 



^ J. Bbeusb: Studien über den Vestibularapparat. Sitzungsberichte d. 
kaiserl. Akad. d. Wissenschaften in Wien, Bd. 112, Abt. 3, 1903. 



282 JJan« Abels. 

„Die hier entwickelte Vorstellung hat das Mifsliche, dafs sie 
"den Erregungsvorgang der Nerven in das Zellhaar verlegt; dieses 
"aber ist em Kutikulargebilde und es ist gewifs nicht wahrschein- 
lich, dafs es mit dem Nerven in so direktem Zusammenhang 
stehe, dafs seine Deformierung selbst Grundlage der Nerven- 
erregung sei. 

Weiter wird hier vorausgesetzt, dafs die Haare voneinander 
•unabhängig, nebeneinander stehen, wie die Getreidehalme auf 
dem Felde oder wie kurzgeschnittenes Kopfhaar. Dies aber 
scheint mit den Bildern nicht zu stimmen, welche man bei der 
mikroskopischen Untersuchung mit den jetzt übHchen Methoden 
vom Endapparate der Ampullen gewinnt." 

Die Haare flottieren nämlich nicht, wie es für die früher 
geschilderten Vorgänge nötig wäre, frei in der Endolymph- 
flüssigkeit, sondern „mit üblichen Härtungsmitteln behandelte 
häutige Ampullen zeigen, dafs alle Zellhaare des Nervenepithels, 
durch eine nun erstarrte Zwischenmasse verklebt, verschieden 
geformte, aber bei jeder Tierspezies für jede einzelne Ampulle 
konstante Gebilde darstellen," die sogenannte Cupula terminalis, 
„die äuTseren Konturen derselben sind scharf und rein; sie fallen 

zusammen mit dem Verlaufe der peripherst gelegenen Zellhare 

Ebenso fällt ... die obere Grenzfläche des Gebildes mit den Spitzen 
der Zellhaare zusammen." ^ 

„Die Cupula wird durch den Stofs des im Kanal verschobenen 
Endolymphringes als Ganzes verschoben." „Da die Cupula aber 
durch die Zellhaare an der Crista befestigt ist, so wird die Ver- 
lagerung durch die Haare gehemmt; diese selbst aber werden 
gespannt. Diese Streckung und Spannung betrifft aber nur die 
unterste Strecke der Haare zwischen Epithel und Cupula in der 
Länge von 0,01 bis 0,02 mm (eine Region nämlich, in der nach 
Bbbüers histologischen Befunden die Zellhaare frei von Zwischen- 
substanz sind, welche demgemäfs nicht bis an die Oberfläche der 
Crista reichen soll); das Ausmafs der möglichen Verschiebung 
der Cupula ist also sehr klein." * 

„Ist nun bei einer Kopfdrehung durch den Stofs oder Druck 
der Endolymphe die Cupula einer Ampulle verschoben worden, 
so erfolgt meistens alsbald der Gregenstofs, welcher das Anhalten 



» Ibid. S. 6 u. 7. 
« Ibid. S. 11. 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 283 

der Drehung begleitet; denn die allermeisten Kopfdrehungen 
sind ja von sehr kurzer Dauer. Dieser dem ersten entgegen- 
gesetzt gerichtete Endolymphstofs führt die Cupula in ihre 
normale Lage zurück und hebt damit die Spannung der Haare 
und den Zug auf, der während der Drehung auf die Epithelien 
gewirkt hat. 

Handelt es sich aber nicht um eine km*ze, sondern um den 
Beghm einer länger anhaltenden Drehung, so erfolgt jener Gegen- 
stofs der Lymphe nicht und die Herstellung des normalen Zu- 
standes wird nur durch die elastischen Kräfte der gespannten 
Haare, Deckplatten und wie wir sehen werden durch die Re- 
traktion von Schleimbändern und -Tropfen^ bewirkt. 

Diese Kräfte sind offenbar minimal und es braucht längere 
Zeit, bis die Cupula wieder in ihrer normalen Lage über dem 
Cristarücken schwebt. 

Solange dies nicht der Fall ist, besteht die abnorme Spannung 
der Haare und der Zug an den EpitheUen und solange wird auch 
die Empfindung der Drehung erzeugt. Ist bei fortdauernder 
Drehung die Normallage der Cupula hergestellt, so erfolgt durch 
die Trägheit der bewegten Endolymphe der momentane Nach- 
stofs derselben; dieser verlagert die Cupula wieder nach der 
anderen Seite und während sie langsam in die Normalstellung 
zurückgeführt wird, besteht die Empfindung einer der früheren, 
realen, entgegengesetzten Drehung: Drehschwindel."* 

Es liegt uns ferne in eine Kritik der Darlegungen Breuers 
eingehen zu wollen, wenn auch ein Hauptpunkt in dem histo- 
logischen Verhalten, welcher für die BREXjERsche Hypothese, wie 
er selbst erklärt, eine conditio sine qua non darstellt — wir meinen 
das Freibleiben der untersten Stücke der Zellhaare von Zwischen- 
substanz — nach den Befunden anderer Autoren und bei anderen 
Tierspezies durchaus nicht unbestritten ist. Wir werden hiervon 
-um so mehr Abstand nehmen, als das vermeintliche Problem, 
auf den durch eine momentane Beschleunigung erzeugten Er- 
regungsvorgang eine länger dauernde Empfindung zurückführen 
zu müssen, nach der Art unserer Fragestellung überfiaupt gröfsten- 
teils in Wegfall kommt. 

Nur auf einen Punkt, nämlich das Verhältnis der Breueb- 



^ Im Original nicht gesperrt. 
« Ibid. S. 13 u. 14. 



284 Ha?»9 Abels, 

sehen Hypothesen zu den auffallenden Fakten der Gewöhnung 
an Drehschwindel, müssen wir an dieser Stelle kurz ein- 
gehen, insofern es gerade die hier bestehende Unvereinbarkeit 
war, die den wesentlichen Anstofs zu vorliegender Untersuchung 
gegeben hat. 

Die ursprüngliche Ansicht von Beeueb und Bbown, der- 
zufolge beim Anhalten einer längeren Drehbewegung ein durch 
die Trägheit hervorgerufenes länger dauerndes Nachströmen des 
Endolymphringes bestehen sollte, als Ursache für den Nach- 
schwindel, liefs natürlich keinerlei Erklärung des Gewöhnungs- 
phänomens zu. 

Bei der nächsten Fassung seiner Hypothese machte Bbeue» 
den, wenn auch sehr vorsichtigen, Versuch, eine Erklärung für 
die „grofse Adaptionsfähigkeit, welche das Organ der Bewegungs- 
empfindungen sicher hat," zu geben, indem er sagt:^ 

„Ich glaube nun in allen diesen Fällen es für denkbar halten 
zu dürfen, dafs unter dem Einflüsse häufiger in der sonst imge- 
wohnten Richtung erfolgender und nicht durch Gegenstofs kom- 
pensierter Endolymphstöfse (bei ungewohnten, länger dauernden 
Bewegungen) sich allmähUch die Elastizität der Hörhaare steigere, 
dieselben rascher ihre normale Gestalt wieder gewinnen und 
dementsprechend die Dauer der Bewegungsnachempfindung, des 
Schwindels abnehme." 

Ich mufs gestehen, dafs es mir und soweit ich sehe auch 
anderen sehr schwer fällt, sich vorzustellen, dafs die sogenannten 
Hörhaare, also EpitheUalgebilde in so kurzer Zeit, im Laufe von 
Tagen oder selbst nur Stunden eine derartige Änderung ihrer 
Wesens- und Funktionseigenschaften erfahren sollten, wie wir sie 
sonst höchstens bei einzelnen Bestandteilen des Zentralnerven- 
systems anzunehmen geneigt sind. 

Im Rahmen der neuesten Fassung von Breuers Hypothese, 
wonach die im Anfange oder am Ende einer langen Dreh- 
bewegung erfolgende Verschiebung der Cupula durch die mini- 
malen elastischen Kräfte eines Schleimtröpfchens * langsam wieder 
ausgeglichen werden soll, bleibt für die „grofse Adaptionsfähig- 
keit", die Breuer in der früheren Arbeit selbst betont, absolut 
keine ErklänmgsmögUchkeit, da man wohl von einer „Tränierung" 

' Mediz, Jahrbuch 1875, S. 126. 

* Studien über den Vestibularapparat 8. 25. 



über Nachempfindungen im Gebiete de» JdnästhetiscJien ic. statischen Sinnes. 285 

eines Schleimtröpfchens in bezug auf seine Elastizität nicht gut 
sprechen kann ; und Bbetiee gibt diesen äufserst schwerwiegenden 
Mangel seiner Hypothese stillschweigend zu, indem er die Ge- 
wöhnung in seiner neuesten Arbeit gar nicht erwähnt. Nicht 
verschweigen können wir, dafs auch sonst die Annahme eines 
Schleimtröpfchens als wichtigsten agierenden Faktors in dem 
mechanischen, reizaufnehmenden Apparate eines Sinnesorganes, 
das wir uns doch mit der in einem Organismus überhaupt er- 
reichbaren Promptheit funktionierend vorzustellen gewohnt sind, 
entschieden uns eine ganz singulare Stellung einzunehmen scheint. 



Wenn wir nun auf Grund eigener Beobachtungen und Ver- 
suche sowie zahlreicher von anderen, meist auf diesem Gebiete 
sehr versierter Autoren stammender Forschungsergebnisse es ver- 
suchen, eine Darstellung der Nachschwindelerscheinungen zu 
Uefem, die zugleich, wie schon bemerkt, die Physiologie des 
statischen Sinnes in einigen wichtigen Punkten der Physiologie 
der anderen Sinne um ein BeträchtUches annähert, so werden 
wir das Kapitel der komplizierteren Schwindelerscheinungen so- 
wie der Gewöhnung als eines der verwickeltsten erst in Angriff 
nehmen können, nachdem wir das Verhalten der Drehempfindimg, 
öamentlich in zeitlicher Beziehung, erst an klarer liegenden, 
jedoch bisher in diesem Sinne wenig ausgewerteten Versuchs- 
ergebnissen studiert haben. 

Oalyanisclier Schwindel und Nachschwindel. 

Nachdem schon Pübkinje^ die Folgeerscheinungen einer 
galvanischen Durchströmung des Schädels in querer Richtung 
beschrieben, hat Hitzig * die ersten eingehenderen Untersuchungen 
auf diesem Gebiete angestellt. Seine Ergebnisse lauteten : Galva- 
nischer Schwindel entsteht nicht durch momentane Ströme, 
«ondem nur, wenn galvanische Ströme von merkUcher Dauer 
durch den Kopf geleitet werden. Die Versuchsperson schwankt 
mit dem Kopfe oder ganzen Körper bei der Kettenschliefsung 
nach der Seite der Anode. Die Gesichtsobjekte zeigen während 

^ PiTRKiNjE. Med. Jahrbuch d. österr. Staates 6. 1820. 

• Hitzig. Über die beim Galvanisieren des Kopfes entstehenden 
Störungen der Mnskelinnervation und der VorsteUungen vom Verhalten 
im Räume. Beicherts u. Du Bois-Reymonds Archiv. 1871. 



286 -Sa»» ^A^^' 

der Stromdauer eine entgegengesetzte Scheinbewegong, d« h. sie 
scheinen wie ein aufrechtes, dem Gesichte paralleles Bad von der 
Anode zur Kathode zu kreisen. Diese Scheinbewegungen werden 
durch den unbewuTsten Augennystagmus bedingt. Die zuckende 
Phase desselben geschieht in der Richtung des positiven Stromes, 
die langsame Bewegung im umgekehrten Sinne. Die Ver- 
schiebung der Netzhautbilder durch den letzteren Akt, wird, da 
die Bewegung unbewufst geschieht, auf die Gegenstände bezogen 
und erzeugt die Scheinbewegung, die der ruckartigen Bewegung 
entsprechenden Bilder werden überhaupt nicht perzipiert. Nach 
der Öffnung der Kette konnte Hitzig folgende Erscheinungen 
konstatieren : Schon nach Einwirkung so schwacher Ströme, dafs 
deren Schlufs oder Stromdauer keinerlei Wirkung erzeugte, wurde 
nachträglich eine mehr minder ausgesprochene Unsicherheit über 
das räumliche Verhalten des eigenen Körpers oder der aufser- 
halb gelegenen Dinge jedoch ohne Scheinbewegung von be- 
stimmter Richtung beobachtet Bei starken Strömen (während 
deren Stromdauer übrigens die Erscheinungen eine allmähliche 
Abschwächung erfuhren) erfolgte auf Öffnung der Kette Schwanken 
und Gefühl des Gedrehtwerdens nach der Kathodenseite, und 
diese Empfindung hielt manchmal geraume Zeit an. 

Die Resultate späterer von anderer Seite wiederholter Unter- 
suchungen können wir hier übergehen, da sie nur in nebensäch- 
lichen Punkten, namentlich in der Beurteilung der Scheinbewegung 
des eigenen Körpers abweichen, und di\ für uns zunächst nur 
jene zuletzt erwähnten Erscheinungen i. e. die nach dem Auf- 
hören eines galvanischen Stromes auftretenden, von Interesse 
sind. Erst in der Arbeit von Jensen (Über den galvanischen 
Schwindel. Pflüg er s Archiv 64) finden wir die hierauf bezüg- 
lichen Fakten in dankenswertester Präzision, ebenso wie sämtliche 
bei der galvanischen Reizung objektiv zu eruierenden Tatsachen 
untersucht und erörtert. Jensen verteidigt den zuerst von Bbböeä 
aufgestellten, von vielen anderen Autoren (Ewai^d, Kbeibl, 
PoLLAK u. a.) bekräftigten Satz, dafs der galvanische Schwindel 
von elektrischer Erregung des Labyrinthes abhänge, gegenüber 
den Einwürfen Steehls, der an normalen und labyrinthlosen 
Tauben und Fröschen keine Differenz im Verhalten gegenüber 
dem galvanischen Strome gefunden haben wollte. Jensen stellte 
nun in seinen exakten Untersuchungen an normalen und labyrinth- 
losen Tauben fest, dafs man die Erscheinimgen des eigent- 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetiachen u. statischen Sinnes. 287 

liehen galvanischen Schwindels von den sogenannten 
Nebenreaktionen unterscheiden müsse, ^elch letztere auch 
schon Ewald erwähnt, ohne sie genauer zu beschreiben. Jenskn 
weist nach, dafs es diese und nur diese im allgemeinen ruck- 
artig verlaufenden Nebenreaktionen (Jeksek nennt sie daher auch 
Zackungsreaktionen) sind, welche bei normalen und labyrinth- 
losen Tauben in gleicher Weise vorkommen und zwar zumeist 
erst bei etwas höheren Stromstärken als die ersten eigentlichen 
Schwindelreaktionen. Ihre Entstehung wird durch Narkose- 
versuche mit Wahrscheinlichkeit auf die direkte Reizung moto- 
rischer Zentren zurückgeführt. 

Im Gegensatze hierzu stehen die nur bei normalen Tauben 
auftretenden, dem Kopfnystagmus (Breuer) bei Botationen fast 
in allen Punkten analogen Erscheinungen, die Jensen zum Unter- 
schiede von den sehr passageren Nebenreaktionen Dauer- 
reaktionen nennt. Sie bestehen in einer mit geringer, ziem- 
lich gleichförmiger Geschwindigkeit ausgeführten Neigung des 
Kopfes und zwar beim Kettenschlufs nach der Anoden-, bei der 
KettenöfEnung nach der Kathodenseite. Sowie diese Neigungen 
eine gewisse Gröfse erreicht haben, so werden sie von gegen die 
Mittellinie gerichteten nystagmusartigen Zuckungen unterbrochen. 
Der einzige Unterschied gegenüber dem Kopfnystagmus bei 
Botationen ist, wie Jensen a. a. 0. S. 191 sagt, der, „dafs im vor- 
liegenden Falle der Winkel, welcher den Reaktionsphasen ent- 
spricht, jeweils gröfser ist als derjenige der Nystagmusphasen, 
so dafs der Kopf in jeder Reaktionsphase sich dem Neigungs- 
maximum mehr nähert. Erst nachdem das letztere erreicht ist, 
werden bei den wenigen noch verlaufenden Nystagmusbewegungen 
die Winkel der beiden Phasen gleich. Im erreichten Neigungs- 
maximum kommt der Kopf ganz allmählich zur Ruhe, indem 
der Nystagmus schwächer und seltener wird." Die Off nungs- 
dauerreaktion unterscheidet sich von der Schliefsungsdauer- 
reaktion (abgesehen natürlich von der entgegengesetzten Richtung) 
in gar nichts, als dafs sie erst bei etwas gröfserer Stromstärke 
auftritt und in dem räumlichen Ausmafse stets hinter dieser 
zurückbleibt, während sie ihr dem Charakter nach vollkommen 
gleicht. Die Zeitdauer der Öffnungsdauerreaktion kann schon 
bei Stromstärken von 0,35-0,5 Milli-Ampöres 15 Sekunden be- 
tragen, bei 1,5 Milli-Ampöres sogar eine Minute. Jensen steht 
nicht an, diese Erscheinungen als einen galvanischenNach- 



288 ^an» '^^«^* 

schwinde! in völlige Analogie zu dem Nachschwindel 
nach Rotationen zu bringen. 

Das Vorhandensein eines typischen galvanischen Nach- 
schwindels ist bis jetzt unseres Wissens für eine Theorie des 
Schwindels im allgemeinen nicht verwertet worden. Dies ist um 
so auffallender, als ja die erste, unmittelbarste und, wie uns 
scheint, völlig zwingende Folgerung aus jenen Tatsachen die ist, 
dafs zur Erklärung eines solchen, nach einer für die Lebens- 
bedingungen des Organismus abnormen Reizung zurückbleibenden 
Nachschwindels auf eine vermeintliche Unvollkommenheit des 
unter gewöhnUchen Bedingungen die mechanische Energie auf- 
nehmenden und der Nervenendigung als Reiz übermittelnden 
Endapparates nicht rekurriert werden kann. Denn es wird wohl 
niemandem einfallen, sich vorzustellen, dafs durch den gal- 
vanischen Strom die Bogenflüssigkeiten in Rotation versetzt, die 
sogenannten Hörhaare verbogen oder die Cupula verschoben 
wurde. Vielmehr ist es klar, dafs der elektrische Reiz direkt 
die Nervenendigung (eventuell Sinneszellen) trifft. Wir sind also 
zur Erklärung d i e s e s Nachschwindels einzig und allein auf das 
Gebiet des Nervenapparates verwiesen. Und es wird sich allerdings 
dann sofort die Frage erheben, ob der völUg analoge und ebenfalls 
auf abnorme Reizung hin auftretende Nachschwindel im Grefolge 
von Rotationen auf gänzlich verschiedenen Gründen beruhen sollte. 

Wenn wir nun an die Deutung des galvanischen Schwindels 
herantreten, so müssen wir zunächst folgende MögUchkeit ins 
Auge fassen. Es wäre denkbar, wenn auch von vornherein sehr 
unwahrscheinlich, dafs die ganzen Erscheinungen des Nach- 
schwindels nur vom Öffnungsschlage des galvanischen Stromes 
abhängen, und demgemäfs durch eine Eigentümlichkeit der mit 
dem Vestibularapparat in Verbindung stehenden Teile des 
Nervensystems bedingt wäre, ähnlich wie sich etwa Mach vor- 
stellte, dafs eine momentan erregte Drehungsempfindung sowie 
ihre motorischen Begleiterscheinungen eine bedeutende Nach- 
dauer besitzen sollten. Abgesehen davon, dafs eine solche An- 
nahme in der Sinnesphysiologie ohne jede Analogie dastünde, 
ist sie für unseren Fall schon aus folgenden Gründen zu ver- 
werfen. Die SchUefsungsdauerreaktion müssen wir notwendig 
als eine Folgeerscheinung des fortdauernden galvanischen 
Stromes auffassen, und nicht etwa nur des Stromschlusses. 
Halten sie doch bei nicht zu geringen Stromstärken während 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes, 289 

der ganzen Stromdauer an, wenn auch langsam sich abschwächend. 
Ein Erlöschen kommt „bei stärkeren Strömen und mangelnder 
Gewöhnung", wie Hitzig bemerkenswerterweise angibt, nicht 
vor. Die allmähliche Abschwächung der Wirkung während der 
Stromdauer werden wir aber ohne weiteres nach dem Vorgange 
von Ewald und Jensen mit der Tatsache in Verbindung bringen, 
dafs man auch bei mehrmaligen aufeinanderfolgenden Versuchen 
am selben Tiere bald zu höheren Stromstärken greifen mufs, um 
gleiche Wirkungen zu erzielen, dafs also die EmpfängUchkeit 
für elektrische Reizung sich abstumpft. Wenn also ein an- 
haltender Reiz Erscheinungen einer bestimmten Art hervor- 
ruft, so ist es kaum angängig, Dauererscheinungen vollkommen 
identischer Art (nur von entgegengesetztem Vorzeichen), die 
nach dem Aufhören jenes Reizes auftreten und oft recht lange 
anhalten, einem momentanen Reize (dem Öffnungsschlage) 
zuzuschreiben. Wir müssen vielmehr für die Erklärung des 
galvanischen Nachschwindels auch nach einer andauernden 
Ursache fahnden. Ob nun diese im Nervenapparate zu suchende 
Ursache als Überreizung oder Ermüdung (mit Beziehung auf die 
oben erwähnte rasche Erschöpfbarkeit für elektrische Reize) oder 
als reparatorischer Zustand aufgefafst wird, ob die subjektive 
Empfindung etwa als negatives Nachbild bezeichnet werden soll, 
ist zxmächst ziemlich gleichgültig. Wohl aber können wir mit 
höchster Wahrscheinlichkeit den Satz aufstellen: Der gal- 
vanische Nachschwindel mufs von einem im Nerven- 
apparat durch einige Zeit anhaltenden Folgezustand 
der nach Art und Dauer abnormen Reizung abhängen. 

Um nun die oben erwähnte Möglichkeit, sich den galvanischen 
Nachschwindel als blofs vom Öffnungsschlage hervorgebracht 
vorzustellen, völUg zu vernichten und zu gleicher Zeit jene 
Deutung des rotatorischen Nachschwindels zu beseitigen, welche 
annimmt, er sei nur durch eine momentane Reizung (beim An- 
halten der Rotation) hervorgebracht, wäre es natürüch von 
gröfster Wichtigkeit, wenn es gelänge, den Nachweis zu erbringen, 
dafs die momentan erregte Drehungsempfindung oder die ihr 
zugeordneten motorischen Reaktionsbewegungen den Reizungs- 
akt nicht wesenthch überdauern. 

Im folgenden Abschnitt wollen wir diesen Nachweis versuchen, 
(Schlufs folgt.) 



Zeitschrift für Psychologie 43. 19 



290 



Besprechung. 



W. A. Lay. Experimentelle Didaktik. Ihre Gnmdlegnnf mit besonderer Rftck* 
siebt anf Hnskelsinn, Wille nnd Tat. I. Allgemeiner Teil. 2. Aufl. Leipzigs 
Nemnich. 1905. 595 S. Mk. 9,00. 

„Wider Erwarten schnell wurde die 1. Auflage vergriffen", schreibt der 
Verf. in dem neu hinzugefügten Vorwort (S. X) der vorliegenden „2. Auflage". 
Ein Vergleich dieser sog. „neuen Auflage*' (S. XVIII) mit der ersten ISM 
jedoch nicht den geringsten Zweifel darüber bestehen, dafs es sich nur um 
eine Titelauflage handelt. Ein für das „Vorwort zur ersten und zweiten 
Auflage" eingeschobener Druckbogen und eine Änderung des Inhalts- 
verzeichnisses — wozu allerdings die im Text stehen gebliebenen Über- 
schriften der „1. Auflage'' sehr schlecht passen — bilden die einzigen Ver- 
änderungen dieser „neuen Auflage". Natürlich sind auch die samtlichen 
zahlreichen Druckfehler der „1. Auflage" und — das Druckfehlerverzeichnia 
wieder mit erschienen. 

Die „erste Auflage*' ist in dieser Zeitschrift 35, S. 307 ausführlich und im 
allgemeinen zutreffend besprochen, unter anderem auch als „Exzerpt und 
Kompilation" (S. B12) bezeichnet worden. Eine eingehende Beschäftigung 
mit dem Buch, auf die ich durch psychologisch-didaktische Studien geführt 
wurde, hat mich jedoch erkennen lassen, dafs nicht nur grobe, ober- 
flächliche Kompilationen, sondern in sehr vielen Teilen geradezu 
Plagiate vorliegen. 

Das trifft vor allem für den Abschnitt über die „Triebbewegungea 
und Spiele des Kindes" (S. 45 — 104) zu, der mit Ausnahme weniger Seiten 
fast wörtlich K. Gboos, Die Spiele der Menschen, Jena 1899, entnommen 
ist. Die Quelle wird nicht genannt. Dafs Lay S. 46 bei der Definition des 
Spiels den Namen Gboos erwähnt, läüBt doch nicht im geringsten erkennen,, 
dafs dessen eben genanntes Werk die „Quelle" des ganzen Kapitels 
bildet. Erst auf S. 50 Anm. 5 heifst es, nachdem schon fünf Seiten aus- 
geschrieben worden sind: „Groos a. a. 0. S. 62", ohne dafs jedoch vorher 
der Titel angegeben wäre. Die Disposition des Gaoosschen Werkes l&Tst 
sich bei Lay bis ins einzelne verfolgen. Durch eine Gegenüberstellung des 
Textes der Vorlage und der Ausführungen des Verf.s gewinnt man einen 
deutlichen Einblick in die Arbeitsweise Lays. 



Bespreckwng. 



291 



Lat schreibt 8. 45 (ohne An- 
ftihrangszeichen] : 

„Nach Pbrez darf en wir annehmen, 
dafs ein Kind von 2 Monaten schon 
Lust über die Berührung empfand, 
als es sanft gestreichelt wurde. Mit 
3 Monaten sucht das Kind sich durch 
Bewegungen jenes Lustgefühl der 
Berührung selbst zu verschaffen." 



Bei Gboos steht S. 8: 

„Nach PjBrbs kann man annehmen, 
dafs ein Kind von 2 Monaten, das 
sanft gestreichelt wird, schon Lust 
über die Berührung empfindet. Von 
diesem Moment an wäre dann die 
Möglichkeit gegeben, dafs ei9 sich 
den Berührungsreiz durch seine Be- 
wegungen SU verschaffen sucht." 



Als Quelle zitiert dann Lat in der Fufbnote einfach das von Gboos 
8. 8 u. 9 angeführte Werk : B. Pbbbz, Les trois premi^res annöes de l'enfant. 
5. td. Paris 1892. S. 38 u. 46. Oder vgl. 



Lat 8.46 : „Nach Stallet Hall wird 
die Nase nicht blofs betastet, sondern 
manchmal mit deutlichen Zeichen 
von WlTsbegier in an ,investigating 
way' gezupft und gerieben.'^ 



Gboos 8. 9 : „. . . sagt Stanlet Hall, 
wird sie (die Nase) doch mit deut- 
lichen Zeichen von Wifsbegier be- 
tastet und manchmal auch ,in an 
investigating way' gezupft und ge- 
rieben." 



Auch hier führt Lat als Quelle nicht etwa Gboos an, sondern das von 
Gboos zitierte Werk: 8tanlet Hall, 8ome Aspects of the early Sense of 
Seif. American Journal of Psychol 9, Nr. 3. 1898. In dieser Weise ist der 
ganze Abschnitt aus Gboos ausgeschrieben worden. 

Für eine etwaige Nachprüfung, durch die man erst ein deutliches Bild 
von dem aufserordentlichen Umfang dieser Abschreiberei gewinnt, sind in 
der nachfolgenden Übersicht die bei Lat und Gboos sich entsprechenden 
Seiten angeführt. Die einigen Seitenzahlen beigefügten Namen zeigen an, 
da£8 Lat den Titel des von Gboos benutzten und bei ihm in Fufsnoten 
regelrecht zitierten Werkes des betreffenden Autors unverglichen einfach 
von dort übernommen hat, wodurch der Anschein erweckt wird, als ob 
ihm die zahlreich angeführte Spezialliteratur direkt als Quelle gedient hätte. 
(Dafs die wissenschaftliche Gepflogenheit, sekundäre Quellen auch als solche 
zu kennzeichnen, Lat nicht unbekannt ist, zeigt die erste Fufsnote auf 
S. 76, wo die verfängliche Entlegenheit eines Werkes von Lombboso den 
Verf. zu der Zitation „Nach Lombboso, zitiert von Gboos a. a. 0. 8. 276" 
gezwungen zu haben scheint.) Vgl. 



Lat: 
Seite öl 
„ 64,66 
„ 66 

„ 67 

„ 68 

„ 69 

„ 70 

„ "ja 

« 74 



Gboos: 
Seite 63, 64 (Jahbs), 67, 73. 
„ 96, 97, 101—107. 
„ 116, 117, 120, 121, 275, 122. 
„ 123 (Pbetbb), 124, 125 (James). 
„ 126, 128 (Pbetbb). 
„ 129, 130 (SoüBiAu), 131—134, 138, 140. 
„ 141, 147, 142. 
„ 7, 217 (Lazabus), 218. 
„ 220, 222, 224, 226—228, 233. 
236, 248, 269, 261. 



19* 



292 



Besprechung. 



Seite 261, 250, 254. 

„ 276, 276 (Emminghaus), 277. 

„ 278, 286, 284, 287, 286 (Pollock). 

„ 289, 302, 803 (Schneider). 

„ 372 (Tracy), 373. 

„ 374, 376, 377 (Sioismund), 379 (Pbbyeb). 

„ 387, 377, 388-391. 

„ 393, 392 (Baldwin), 404. 

„ 414, 413 (Nachtioal). 

„ 432, 434, 435, 450, 451. 

„ 436. 

„ 444 (Baldwin). 

„ 416 (Joüpfroy). 

., 421, 420. 

„ 423. 

„ 425 (Stricker), 427, 424, 428 (Contempwary J3metr). 

„ 427, 428 (der engl. Text bei Groos von L. tibersetzt). 

„ 419 (Th. Lipps), 428, 429. 

Wie Iftcherlich und unsinnig das durch die bei Lay beliebte Um- 
stilisierung der Vorlage entstehende Produkt werden kann, möge ein Bei- 
spiel zeigen. Groos schreibt S. 129: „Schon der einjährige Läu£ling hebt 
alle Steinchen auf, um sie fortzuschleudern . . .'' Daraus macht Lay 
S. 69: „Schon das dr ei jährige (I) Kind hebt Steinchen auf, um sie fortzu- 
schleudern ..." 

AuTser diesem Abschnitt über die Triebbewegungen hat Lay noch aus 
dem Werke von Groos die Ausführungen auf S. 292 und 301 ff. ohne 
Quellenangabe herübergenommen. Vgl. 



Seite 75 




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76 




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77, 


78 


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79 




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96 




»» 


97 






98 
99 





Lay S. 292 (ohne Quellenangabe 
und Anführungszeichen): 

„Bei Natur- und Kulturvölkern 
sind Knaben und Jünglinge eifrig 
bestrebt, mannhaft die Schmerz- 
reaktion zu unterdrücken. Der Indi- 
aner erträgt standhaft die schmerz- 
lichen Narbenzeichnungen, der Stu- 
dent das Zunähen der Schmisse, 
und Grofs und Klein suchen bei 
den Wechselfällen des Spiels die 
Gefühlsän&erungen der Unlust zu 
unterdrücken." 



Groos S. 212: 

„Die Selbstbeherrschung bei körper- 
lichem Schmerz gUt überall als ein 
Zeichen der Mannhaftigkeit und 
wird sowohl von den Natur- 
völkern als auch von unseren 
Knaben und Jünglingen eifrig 
. . . geübt. Das ruhige Ertragen 
der schmerzlichen Narben- 
bezeichnungen bei so vielen 
primitiven Stämmen, die Stand- 
haftigkeit des Indianers . . ^ 
die Selbstüberwindung des 8ta- 
denten, der beim Flicken 
seiner Schmisse Scherze macht 

und die scheinbare Gleichgültig^ 

keit bei den Wechselfälien des 
Hasardspieles geböreii hierher.* 



Besprecßiung. 



293 



Die Erörterungeü Lays über das Einlernen von Bewegungshemmangen 
(S. 301 ohne Quellenangabe) stehen fast wörtlich bei Gboos S. 211, 213, 214. 
Die sich dort findenden Quellenangaben für die angeführten Spiele hat 
Lay weggelassen. Zu S. 138 u. 139 vgl. Gboos S. 180 u. 182. 

Ebenso flüchtig und sorglos sind die beiden Abschnitte über den sog. 
„Muskelsinn'' (S. 10—32) kompiliert, zum Teil wörtlich ausWüNDTS Fhysiol, 
Psychologie, 4. Aufl. abgeschrieben. 



Lay S.13 (ohne Erwähnung WuNDTß, 
nur unter Angabe der bei Wundt sich 
findenden Originalquellen) : 

„Leydbn und Bbbnabd(I) fanden, 
dafs bei Störungen der Hautempfind- 
lichkeit die Empfindlichkeit für das 
Heben von Gewichten in normaler 
Weise (I) fortbestehen kann und be- 
haupteten wieder die Existenz von 
Innervationsempfindungen. Sie glaub- 
ten sich hierzu um so mehr be- 
rechtigt, als man gefunden hatte, 
dafs in Fällen, wo die Muskeln atro- 
phisch geworden und durch den 
elektrischen Strom nicht mehr reiz- 
bar waren, die Wahrnehmung der 
Stellung und Bewegung der Glieder in 
einem gewissen Grade erhalten blieb." 
Aus Wü»DT hat Lay auch die 



Wundt a. a. O. I* S. 427: 



„Lbydbn und Bbbnhabdt fanden, dafs 
bei Sensibilitätsstörungen der Haut 
die Empfindlichkeit für das Heben von 
Gewichten in normaler Gröfse fortbe- 
stehen kann. Beide Beobachter sahen 
in dieser Tatsache einen Beweis für 
die Existenz zentraler Innervations- 
empfindungen, um so mehr, da auch 
in solchen Fällen, wo die Muskeln 
atrophisch geworden waren und 
ihre elektrische Reizbarkeit verloren 
hatten, noch die Wahrnehmung der 
Stellung und Bewegung der Glieder 
in einem gewissen Grade erhalten 
geblieben war." 

Spezialliteratur unkontrolliert über- 
nommen, wobei dann die seltsamsten Versehen vorgekommen sind, wie die 
Verwechslung des französischen Physiologen Ol. Bsbnabd mit M. Bbbnhabdt, 
wodurch im Text ein Widerspruch entsteht (S. 13, Anm. 4). Die Zitate 
Tbbndblenbübo (S. 12), Abnold, Bebnabd, Vibchow (auch bei Wxrtnyr fälschlich 
Bd. 67 statt 47), Archiv /". Fsychiatrie und Raubbb (S. 13, Anm. 1, 2, 3, 4 u. 
S. 14) stammen sämtlich aus Wundt (4. Aufi., I, S. 427). 
Zu Lay S. 18, 19 vgl. Wundt U* S. 24, 27, 28, 32 u. Anm. 1. 

Das Kapitel über „Die Aufmerksamkeit und ihre Bewegungen'' (S. 134ff .) 
ist ein Exzerpt aus der 1. Aufl. von Ribot, Psychologie de l'attention und 
gröfstenteils nur eine wörtliche, dazu noch mangelhafte Übersetzung der 
Vorlage. 



Ohne Quellenangabe schreibt Lay 
S. 136: 

„Es wird allgemein angenommen, 
dafs im Zustande der Aufmerksam- 
keit die beteiligten Zentren des 
Gehirns eine erhöhte Blutzufuhr auf- 
weisen, die eine Erweiterung der 
betreffenden Blutgefäfse zur Voraus- 
setzung hat. Diese wird herbei- 
geführt von vasomotorischen Nerven, 



Bei Ribot heifst es etwas ausführ- 
licher S. 22: 

„II est extrömement probable et 
presque universellement admis, que 
l'attention ... est accompagn^e de 
l'hyperh^mie locale de certaines par- 
ties du cerveau . . . Cette hyperh^mie 
locale a pour cause une dilatation 
des artäres qui a elle-mäme pour 
cause l'action des nerfs vasomoteurs 



2d4 



Bupr^kwng. 



die vom Willen nnabhftngig sind, 
aber anter dem EinfluTs von €tomüte- 
bewegnngen stehen. Mosso u. a. 
haben experimentell nachgewiesen, 
daijs die leichteste and fiflchtlgste 
Gemütsbew^fang yermehrte Blut- 
zufahr nach dem Gehirn verursacht." 



sur les tuniques musculaires des 
art^res. Les nerfs vaso-moteurs de- 
pendent du grand sympathique, qui 
est Boustrait k Taction de la Toloat^, 
mais qui subit toutes les influences 
des ^tats affectifs. Les expMenees 
de Mosto, entre autres, montrent qui 
r^motion la plus l^g^re, la plus fugi- 
tive, cause un afflux de sang au 
cerveau." 

Vgl. weiter bei Lay und Bibot die Seiten 135:21; 196:22—24, 27; 
137:3(V-32; 138:38; 139:47 (beginnt Chap. IL L*attention rolontaiie); 
140 : 99; 142 : 62 (Was Lat ohne Quellenangabe über die Beobachtung Pbbxe' 
sagt, steht hier mit Angabe der Quelle; sogar die darauf folgenden päda- 
gogischen Erörterungen stammen aus der Vorlage), 143 : 41 ; 144 : 109. Lats 
Darlegungen Aber die krankhafte Ausartung der Fähigkeit der Aufmierk- 
samkeit (8. 149 ff.) sind ein dürftiger Auszug aus dem 3. Kap. Rmors: Les 
^tets morbides de Tattention (8. 115, 117, 120, 124, 162, 163). Vgl. 



Lat S. 149 (ohne Quellenangabe): 

„Kinder und viele Frauen sind 
zerstreut. Sie sind nicht fähig, eine 
gewisse Zeit einen Gegenstand zu 
fixieren oder bei einer Vorstellung 
zu verweilen, sondern gehen unauf- 
hörlich von einem Dinge zum andern, 
vcm einer Vorstellung zur andern 
über und wenn sie auch noch so 
unbedeutend ist. Sie sind in einem 
Zustand beständiger Unruhe . . ." 

8. 150: „Die motorischen Apparate 
sind immer anormal durch Läh- 
mungen, Krämpfe, Muskelsteifigkeit, 
Epilepsie oder einen Automatismus, 
der endlos dieselben Bewegungen 
wiederholt ..." 

In ähnlicher Weise ist das folgende Kapitel über „Assoziation und 
Assimilation '^ (S. 154 — 164) aus Ziehen, Leitfaden der physiol. Psychologie, 
Baldwin, Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse, und 
MÜNSTEBBEBG, Grundzüge der Psychologie, zusammengeschrieben worden. 
Aus Ziehen (a. a. O. 8. 173) stammen die Ausführungen auf 8. 154 u. 155, 
die zum Teil fast wörtlich der Vorlage entnommen sind, ohne daCs dieselbe 
genannt wird. Vgl. 



Rebot 8. 115: 

„II (die Zerstreuung) se rencontre 
fr^quemment chez les enfants et chez 
les femmes . . . incapable de se fixer 
d*une mani^re quelque peu stähle, qni 
passent incessamment d'une id^e k 
une autre, au grö des changements 
les plus fugitifs de leur hnmeur on 
des ^vönements les plus insignifiants 
dans leur milieu. G'est un ^tatper- 
p^tuel de mobilit^ . . ." 

8. 161: „ ... II präsente toujours 
des anomalies: paralysies, convul- 
sions, contractures, Epilepsie ou un 
automatisme bom^ qui r^pete sans 
fin les m^mes mouvements . . ." 



Lat 8. 156: 

„So oft der Komplex a und b er- 
regt wird, findet eine Miterregung 
der von ihnen ausgehenden Bahnen 
statt. Man mufs annehmen, dafs . . . 



Ziehen 8. 173: 

„So oft a und b zugleich erregt 
wurden, fand eine Miterregung der 
von a und 6 ausstrahlenden Bahnen 
statt ... die Folge der öfteren Er- 



Be9pre(^Hng. 296 



durch Wiederholung die Bahn aus- 
gesehliffen werde . . /' 



regung . . . Wird sein, dafs die Bahn 
ab ^auBgeechliffen^ wird . . /' 



Das Zitat bei Lat aus Passt (S. 158) steht bei Baldwin S. 288. Der 
psychologische Vorgang des Wiedererkennens wird von Baldwin (S. 293) mit 
fast genau denselben Worten erklärt. Lat setzt (S. 161) in dem Beispiel nur 
für „Pfirsich '^ Apfel und ändert dementsprechend die Anfangsbuchstaben p 
in o(I). Die Nennung BALDwiNsauf S. 161 läfst eine derartige Benutzung 
seines Werkes durchaus nicht erkennen. Wenn Baldwin S. 289 sagt : ,,Wir 
können alle diese Elemente . . . unter das allgemeine Prinzip der Gewohn- 
heit bringen . . /', so schreibt Lat 6. 160: ,|Die Assimilation läfst sich 
meiner Ansicht nach(I) unter das allgemeine Prinzip der Gewohnheit 
bringen.'' Die Erörterungen über die biologische Bedeutung des Wieder- 
erkennens (S. 162), die Latb geistiges Eigentum zu sein scheinen, sind auch 
ohne Quellenangabe mit unerheblichen Änderungen der Vorlage ent- 
nommen. Vgl. 



Lat S. 162: 

„Ein Hund, der die Peitsche seines 
grausamen Herrn zum ersten Male 
sieht, erhalte Prügel. Wenn er die 
Peitsche wieder sieht und erkennt, 
so stutzt er, fürchtet sie und flieht 
oder will fliehen . . . Das Fliehen 
des Hundes entspricht aber dem 
Überleben desjenigen Geschöpfes, 
das zum Leben geeignet ist. Daraus 
erkennen wir die grofse biologische 
Bedeutung des Wiedererkennens.'' 



Baldwik S. 2991: 
„Ein Hund, der die Peitsche zum 
ersten Mal sieht, erhält seine Prügel. 
Das nächste Mal jedoch sieht er die 
Peitsche, er erkennt sie mit dem 
unmittelbaren Trieb zu stutzender 
Aufmerksamkeit, Furcht und Flucht 
. . . Ich brauche nicht hinzuzufügen, 
dafs das Fliehen des Hundes vor 
seinem grausamen Herrn (vgl. Lat 
oben) dem Überleben desjenigen Ge- 
schöpfs, das zum Leben geeignet ist, 
entspricht." 

Aus MÜN8TEBBEB0 Stammt nicht nur der unter Anführungsstriche ge- 
setzte Satz auf S. 160, sondern auch die voraufgehenden Ausführungen 
über die motorischen Elemente in der Assimilation (vgl. Mvnsterbbbg S. 551). 
Über die Quelle Lats für die S. 251 ff., 323 ff., 584, 589-^91 gegebenen 
Ausführungen vgl. diese Zeitschrift 35, S. 312. 

Der Abschnitt „Didaktische Experimente über Anffassungs typen" 
(8. 251 ff.) ist entnommen aus Stebn „Über Psychologie der individuellen 
Differenzen", ohne dafs die Quelle auch nur mit einem Worte erwähnt 
wäre. Durch die Quellenangabe bei Lat S. 251 Anm. 1: „Binbt, Psycho- 
logie individuelle. La description d'un objet. AnnSe psychol 8, S. 296—832. 
1896", wird der Eindruck erweckt, als ob das von Stbbn benutzte und 
zitierte französische Werk auch von Lat benutzt worden sei. Nicht nur 
die Beschreibung der Experimente Bikets hat Lat fast wörtlich der Arbeit 
Stxbnb entnommen, sondern auch die von Stebn gegebene Charakterisierung 
und Klassifizierung der Typen, sowie dessen Kritik der BiKETSchen Ver- 
suche. Latb eigene Arbeit beschränkt sich auf die Übersetzung der Schüler- 
anfsätze, die Stkbh im Original wiedergibt. 

Aus demselben Werk stammen die Ausführungen Lats über die 
„mental tests" (S. 589 ff.), wo ebenfalls Stebns Name nicht erwähnt wird. 



296 



Besprechung. 



Dagegen ist auch hier wieder die Quellenangabe „La Psychologie indivi- 
duelle. AnnSe psychol 2, S. 464. 1896", aus Stbbn (S. 36 u. Nr. 60 der 
Bibliographie) übernommen. Das Schlimmste jedoch ist, dafs Lat die 
,,mental tests'' empfiehlt, ohne irgend einen der vielen Gründe Stebns gegen 
ihre Anwendung auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu entkräftigen. 
Was Lat jedoch aus der Kritik Sterns pafst, übernimmt er fast wörtlich, 
um es als sein geistiges Eigentum auszugeben. Vgl. z. B. 



Lay S. 590 (ohne Quellenangabe): 
„Bei diesem Vorschlage wird das 
Binnesleben nicht beachtet; die 
beiden Psychologen begründen dies 
mit der Tatsache, dafs die psychi- 
schen Differenzen der Individuen 
um so gröfser und um so deutlicher 
zu erkennen sind, je höher die see- 
lischen Funktionen stehen.*' 



Stebn a. a. O. S. 36: 

„Es fehlt merkwürdigerweise ganz 
das Empfindungsleben, was BoniT 
und Hbnri mit dem an sich richtigen 
Satze begründen, dafs die psychi- 
schen Differenzen um so bedeutender 
und deshalb leichter erkennbar seien, 
je höher die seelischen Funktionen 
stehen." 



Das Zitat aus Kbabpelin (Lay S. 406) ist unverglichen der Vorlage 
(Stebn, Psychol. der individuellen Differenzen S. 120) entnommen. Wie 
sklavisch Lay beim Ausschreiben seiner Vorlage gefolgt ist, mögen zwei 
Beispiele zeigen. Bei Ebbinghaus, Grundzüge d. Psychologie, 1. Aufl., S. 674 
heilst es: „. . . Bei weitergehender Übung im Lesen aber nehmen die 
Zahlen immer noch weiter ab. Ich selbst lese 100 derartige Worte in etwa 
16 Sek.", und Lay schreibt S. 324 (ohne Anführungszeichen): „Bei weiter- 
gehender Übung im Lesen nehmen die Zahlen noch weiter ab; ich selbst (I; 
lese 100 Worte desselben Textes in 17 Sek." 

Die Wiederholung der Überschrift bei Lay auf S. 354 „Schnelligkeit 
des Lernens** von S. 350 „Geschwindigkeit des Lernens" erklärt sich 
psychologisch dadurch, dafs Lay bei Ebbinghaus S. 648 im Text „schnelles 
Lernen "* gelesen hat und schon die S. 350 (nach Ebbinghaus S. 641) gesetzte 
Überschrift vergessen hatte. 

Der Abschnitt über den Willen als biologische Erscheinung (S. 356 ff.) 
ist ein Plagiat aus Münsterbebg, Grundzüge d. Psychologie. In welcher 
Weise die Vorlage ausgeschrieben worden ist, möge eine Probe zeigen. 



Lay schreibt ohne Anführungs- 
striche oder Quellenangabe S. 357: 

„Die Fliege legt ihre Eier auf 
Stoffe, die der auskriechenden Larve 
<lie geeignete Nahrung liefern. Das 
Experiment beweist, dafs es be- 
stimmte chemische Diffussionen (1) 
sind, die die Muskelkontraktionen, 
die zum Legen der Eier erforderlich 
sind, reflektorisch auslösen, die z. B.(! j 
vom Fleisch, nicht aber vom Fette 
ausgehen.'* 



Bei Münsterberg S. 465 liest man: 

„Die Fliege legt ihre Eier auf 
solche Stoffe, in denen die aus- 
kriechenden Larven die passende 
Nahrung finden; das Experiment 
zeigt, dafs es bestimmte chemische 
Diffusionen sind, die in der Fliege 
die zur Eiablage führende Muskel- 
kontraktion reflektorisch auslösen, 
chemische Diffusionen, die yom 
Fleisch etwa, aber nie vom Fett 
ausgehen." 



Besprechung, 297 

In solcher Weise ist das ganze Kapitel abgeschrieben worden, ohne 
dafs der Name Münstbrbergs auch nur ein einzigesmal genannt wird. 
Man vgl. 





Lay: 




Münstebberg: 


Seite 356 


Seite 464. 


„ 357 


» 


464, 466, 465. 




, 358 


» 


466-468, 


: 


, 359 


yy 


467, 471. 


: 


, 360 


* 


470—473 u. MüNSTERBBRO, „Die Willenshandlung" S. 42 ff. 




, 361 


» 


474, 475. 




, 362 


» 


475-477 u. „Willenshandlung*' S. 45, 47, 48. 




„ 363 


j» 


477 u. „Willenshandlung** S. 52 ff. 




„ 364 


II 


47&-479. 




„ 365 


» 


479—481. 



Die Angabe Lays (S. 357) über die Beobachtungen Lobs, Bethes, 
Verwobns u. a. stehen bei Mümsterbbrg S. 464; die Titel der Werke sind 
dem Literaturverzeichnis bei Münsterbbrg (S. 482) entnommen. 

Eine ebenso ungeschickte wie kritiklose Kompilation ist das folgende 
Kapitel „Der Wille als physiologisch-psychologische Erscheinung^^ (8. 368 ff.). 

Der erste Teil des Abschnittes über „Prüfungen und Zensuren** 
(S. 456 ff.) entstammt fast wörtlich einem Aufsatz von C. Andbeab „Zur 
Psychologie der Examina" {Zeitachr. f. päd. Fsychol. 1899, S. 113 ff.). Zitiert 
ist die Arbeit erst 10 Seiten später (S. 467) und zwar nur als „Andbeab, 
Psychologie der Examina 8. 126". Dem Leser bleibt überlassen zu erraten, 
dafs Lay damit den Aufsatz in jener Zeitschrift meint. Auch das Zitat 
aus Wähle (Lay S. 465) findet man bei Andreae S. 117. Weitere Beispiele 
der „Quellen'' Lays zu geben, verbietet der Raum. 

Es ist selbstverständlich, dafs ein in solcher Weise zusammen- 
geschriebenes Buch auch den bescheidensten Ansprüchen, die in bezug auf 
Angabe der Quellen, Form der Zitate, Stil usw. an eine wissenschaftliche 
Arbeit zu stellen sind, nicht genügt. Auf die Wiedergabe einer für einen 
anderen Zweck angefertigten Zusammenstellung der zahlreichen Fehler und 
Mängel, die Lays Arbeit in dieser Hinsicht zeigt, mufs ich des Raummangels 
wegen verzichten. Einige Beispiele mögen genügen. Die meisten Literatur- 
angaben hat der Verf. uuverglichen aus seiner Vorlage übernommen; sie 
sind sehr oft falsch, fast immer aber unvollständig und unzuverlässig. 
Dieser Umstand wiegt um so schwerer, als Lay in seinem Artikel „Ex- 
perimentelle Didaktik" in Reins Encykl. Handbuch d. Pädag. VIII, Erster 
Ergänzungsband S. 313 aufser auf seine eigenen Schriften nur auf die in 
diesem Werk angegebene Literatur verweist. Autoren w^erden zitiert 
„a. a. O.", ohne dafs der Titel des Werkes vorher genannt worden ist 
(S. 48 Anm. 1, 50 Anm. 5 u. ö.). Der Fehler erklärt sich durch flüchtiges 
Ausschreiben der „Quelle". Auflage und Bandzahl werden oft ausgelassen, 
so dafs die betreffenden Zitate wenn überhaupt, nur nach langem Suchen 
zu finden sind (vgl. S. 88, wo Bd. III fehlt und S. 110). Falsch ist die 
Bandzahl S. 13 Anm. 3, 144, 439 Anm. 2, die Seitenzahl S. 342, 441 u. ö. 
Angaben wie Andbeab, Psychol. d. Examina (S. 467) oder Chrisman, Paido- 



296 Besprecfmng. 

logie (S. 583) und eine Reihe ähnlicher, sind ohne nähere Bezeichnung 
natürlich vollst&ndig anbranchhar. 

Von allen durch AnfQhrungsstriche eingeschlossenen Zitaten ist 
fast kein einziges wortgetreu; manche sind so entstellt, dafs sie unver- 
ständlich oder vollkommen widersinnig werden. 8. 298 heifst es „Wenn 
wir uns das Nervensystem . . . wie ein System von Flüssigkeiten (!) 
vorstellen . . ."; in der Quelle (Münsterbebo) steht „FlOssigkeitsbetten"; oder 
S. 320 „Die Prämissen zum Wollen (I) sind uns zur Gewohnheit ge- 
worden . . ", während bei Siowabt richtig steht: „Die Prämissen zu 
wollen ist uns zur Gewohnheit geworden", was auch allein Sinn hat. 
Andere Zitate werden willkürlich geändert; so setzt der Verf. 8. 113 statt 
„Empfindungen^^ einfach ,,Bewegungen" und läfst S. 182 „Optiker" fort usw. 

An Schreib-, Druck-, Rechenfehlern und ähnlichen Flüchtigkeiten habe 
ich Über fünfzig gezählt. Fremdwörter und Eigennamen sind oft mit Kon- 
sequenz falsch geschrieben z. B. Dentriten (S. 35, 36 — in der Vorlage 
(Verwohn) richtig — , 294), Difussion (S. 110 u. 357). Die Flüchtigkeit des 
Verf.s erstreckt sich sogar auf die im „Führer durch den Rechtschreib- 
unterricht (3. Aufl. S. 97 u. 98) gegebene und hier wiederum verwertete 
Fehlerstatistik, aus der Lay seine didaktischen Forderungen ableitet, indem 
in 6 von 8 Fällen die Durchschnittsfeh 1er zahl rein numerisch falsch be- 
rechnet ist. Diese zum Teil bedeutenden und das Endresultat modifizieren- 
den Rechenfehler haben sich durch alle drei Auflagen des „Führers" ge- 
halten und sind auch in die im Anschlufs an Latb Versuche entstandene 
ausgedehnte pädagogische Literatur Übergegangen (so auch in die Tabelle 
bei LoBSiBN, Zeitschr. f. Phüos. u. Fädag., 1903, S. 143). 

Jedoch nicht nur für die Form, sondern ganz besonders auch für den 
Inhalt des Werkes ist die Arbeitsweise seines Verf.s verhängnisvoll ge- 
worden. Dem ganzen Werk fehlt der einheitliche Aufbau, was der Verf. 
auch selbst empfunden zu haben scheint, da er in der vorliegenden 
„2. Aufl." das Inhaltsverzeichnis nach gröfseren Gesichtspunkten geändert 
hat, obwohl im Text die Überschriften der „1. Aufl.*' stehen geblieben sind. 
Die psychologische Terminologie ist verworren, da bald die termini des 
einen, bald die davon abweichenden des anderen Autors aus der Vorlage 
übernommen sind. 

Es ist um so bedauerlicher, dafs das Werk so überaus sorglos und 
oberflächlich gearbeitet ist, als man seiner Tendenz (vgl. diese Zeitschrift 
215, S. 311 ff.) im allgemeinen zustimmen mufs. 

H. C. CoBDSKN (Halle a. S.). 



299 



Literaturbericht. 



JosBF EisBNMsiER. UlltemcIiVIlgei SV HelUgkeitsftage. Halle a. S., Niemeyer. 
1905. 66 S. 

Im ersten Teile der Abhandlung weist N., sich im wesentlichen Hkbing, 
auch AuBSBT, Helmholtz, Ebbinghaüs u. a. anschlieDsend , nach, dafs die 
Schwarzempfindung so gut ein positiver Bewufstseinsinhalt, eine echte Emp- 
findung ist, wie irgend eine andere Gesichtsempfindung. Insbesondere wird 
der Beweis mit aller Gründlichkeit gegen Fick durchgeführt, dessen 
Kriterien gegen den positiven Charakter der Schwarzempfindung nach der 
Reihe als unhaltbar dargetan werden. 

Der zweite Teil behandelt die Frage, was unter „Helligkeit" einer 
Gesichtsempfindung zu verstehen ist. Zunächst wird daran erinnert, dafs 
unter Intensität einer Empfindung nur das Quantum derselben verstanden 
werden kann, ihre Extensität (Kant). Je geringer die Intensität derWeifs- 
empfindung wird, desto gröfser wird die der Schwarzempfindung. Helligkeit 
und Intensität sind demnach keineswegs identische Begriffe, sondern die 
Helligkeit hat irgendwie mit der Ähnlichkeit zum Weifs zu tun. Hsamo, 
welcher diese Gedanken zuerst konsequent aussprach und durchführte, 
läfst eine Weüjskomponente in jeder Empfindung enthalten sein, und die 
Helligkeit soll wesentlich von deren GrOfse abhängen, während die Dunkel- 
heit, ebenfalls ein positives Empfindungsmerkmal, durch den Wert der 
Schwarzkomponente bestimmt ist. Dazu kommt, dafs nach Hebing jede Farbe 
eine spezifische Helligkeit hat, welche vom Gelb durch Bot und Grün zum Blau 
abnimmt. Mithin hängt nach Hbbing die Helligkeit einer Gesichtsempfindung 
von dem spezifischen Helligkeitswert der Komponenten ab und von dem 
Werte mit dem jede Komponente in einer Empfindung enthalten ist. 
Eisbkhammbb wendet sich in diesem letzten Funkte gegen Hbbing, indem 
er nachweist, dafs die spezifische Helligkeit einer Farbe nicht als deren 
Weifswert definiert werden kann, da die reinen Farben kein WeiTs oder 
Schwarz enthalten sollen, trotzdem aber die Helligkeit mitbestimmen. 

Es kommt vielmehr darauf hinaus, „dafs die Helligkeit aller Gesichts- 
qualitäten in der Verwandtschaft oder Ähnlichkeit mit Weifs, die Dunkelheit 
in der Ähnlichkeit mit Schwarz zu suchen sei'^ Das gemeinsame Merkmal 
aller Gesichtsempfindungen, die „Helligkeit", wird bezüglich der ver- 
schiedenen Farbenqualitäten nicht auf teilweise Gleichheit zurückgeführt, 
sondern auf die Vergleichbarkeit nahestehender Spezies einer Gattung, der 
Gesichtsqualitäten. Der farbige Beetandteil einer Empfindung ist für sich 



300 Literaturbericht 

der Extensität nach variabel und beeinflurst die Helligkeit bzw. Dunkelheit 
durch sich, nicht durch seinen Weifswert. 

Die Helligkeit hat, wie in Teil 3 im Anschlufs an Ebbinohaüs erörtert 
wird, so wenig wie irgend ein anderer psychischer Vorgang den Wert einer 
in Einheiten mefsbaren Gröfse. Es gibt hier nur ein gleich, gröüser oder 
kleiner, aber keine Antwort auf die Frage, wieviel gröfser oder kleiner. 
E. sucht freilich für die Helligkeitsunterschiede der Schwarz- Weifsreihe 
dem Gröfsenbegriff Gültigkeit zuzusprechen, indessen (nach Ansicht des 
Ref.) ohne Erfolg. Der Vergleich verschiedener Farben, auch über dem 
Umwege durch das WeiTs, läfst sich, wie E. erneut darlegt, in keiner Weise 
messend bewerkstelligen. 

Das Resultat der ganzen Untersuchung fafst E. dahin zusammen: 
1. „Sowohl die absolute Helligkeit bzw. Dunkelheit, wie auch die Helligkeits- 
bzw. Dunkelheitsunterschiede sind nur innerhalb der Graureihe wahre 
Gröfsen und sind unabhängig von der Gröfse der Weifs- bzw. Schwarz- 
komponenten. 2. Bei allen anderen Gesichtsqualitäten kann nur in ganz 
uneigentlichem Sinne von der Gröfse der absoluten Helligkeit bzw. Dunkel- 
heit und der Helligkeits- bzw. Dunkelheitsunterschiede gesprochen werden, 
insofern nämlich jede Qualität in bezug auf Helligkeit bzw. Dunkelheit 
irgend einem Grau gleichsteht und die Gröfse der absoluten Helligkeit 
bzw. Dunkelheit oder die Gröfse der Helligkeits- bzw. Dunkelheitsunter- 
Bchiede der entsprechenden Graunuancen stellvertretend eintreten können." 

Man ersieht aus dem Bericht, dafs die Erörterungen Eisenmeiebs aus- 
Bchliefslich die psychologische Analyse der Gesichtsempfindungen betreffen 
und die Frage der Abhängigkeit der Empfindungen von Lichtreizen in 
keiner Weise zum Gegenstand haben. H. Piper (Kiel). 

T. R. Robinson. Stereoscopic Yision and ito Relation to Inteiuity tnd aaality 
of Light Sensation. First Article: Stereoscopic Vision and Intensity. üni- 
versity of Toronto Studies, Psyckological Series 2 (2), S. 39—81. 1904. 
Die Untersuchung geht von den Befunden Fechnbrs und Aubsrts aus, 
dafs bei Vorhalten eines Rauchglases vor ein Auge das binokulare Gesichts- 
feld eine gewisse Verdunkelung erfährt, sich aber beim Schliefsen des mit 
dem Glase armierten Auges wieder aufhellt (Fechnebs paradoxer Versuch), 
und dafs der Verdunkelungseffekt in gleicher Stärke durch ein bestimmtes, 
schwach absorbierendes Glas und ein bestimmtes stark absorbierendes Glas 
hervorgebracht wird (konjugierte Punkte). Geht man in der Reihe stark 
absorbierender Gläser zu immer weniger absorbierenden über und sucht 
zu jedem aus der Reihe schwachabsorbierender dasjenige auf, welches den 
gleichen Verdunkelungseffekt hat, so zeigt sich, dafs die letzteren zunehmend 
stärker absorbierend ausfallen; die Absorptionsvermögen der konjugierten 
Gläserreihen konvergieren also bis zu einem „Minimumpunkt*' und das 
diesem entsprechende Absorbens bewirkt die gröfste Verdunkelung des 
binokularen Gesichtsfeldes; die Helligkeit hat ihr Minimum. 

Robinson beantwortete in früheren Versuchen folgende Frage : da einer- 
seits das Gesichtsfeld beider Augen bei gleicher Lichtstärke beider Ketz- 
hautbilder um einen gewissen Betrag heller ist als das eines Auges, da 
andererseits beträchtliche Herabsetzung der Lichtstärke des Bildes eines 



Literaturbericht. 301 

Auges eine Verdankelung des binokularen Gesichtsfeldes zur Folge hat, so 
mufs es zwischen den monokularen Reiz werten, welche verdunkelnde und 
denjenigen, welche aufhellende Wirkung auf das binokulare Gesichtsfeld 
ausüben, einen „Indifferenzpunkt" geben, einen Wert monokularer Ver- 
dunkelung, bei welcher die Helligkeit des Gesichtsfeldes so ist, als wenn 
das verdunkelte Auge überhaupt nicht mitsähe. Welches sind diese Werte 
bei verschiedenen absoluten Beleuchtungsstärken? Es ergab sich, dafs bei 
geringer Reizstärke des Hellauges ein relativ grofser Bruchteil dieses Reizes, 
dem anderen Auge zufliefsend, weder aufhellend noch verdunkelnd wirkte, bei 
grofsen Reizstärken bedurfte das Dunkelauge eines geringeren Bruchteiles. 
Das Verhältnis der Reizstärken von Hell- und Dunkelauge, bezüglich des 
Indifferenzpunktes ist also kein für alle Intensitäten konstantes, nach 
Robinson auch nicht bezüglich des Minimumpunktes (contra Fbchner und 
Attbbrt). 2. Die Stärke des Reizung des Dunkelauges mufs im Vergleich zu 
der des Hellauges recht erheblich sein; sie mufs mindestens V? bis Vi Ö© 
nach den Bedingungen) der Reizstärke des Hellauges betragen, um für die 
Helligkeit der Gesichts Wahrnehmung ohne Effekt zu sein. 

R. fragt sich nun, ob auch der stereoskopische Effekt einer Doppel- 
aufnahme, deren Einzelbilder verschieden lichtstark sind, erst zustande 
kommt, wenn die relative Lichtstärke des dunkleren Bildes die Schwelle 
(Indifferenzpunkt) passiert hat, bei welcher es das binokulare Gesichtsfeld 
aufhellend beeinflufst. Es ergab sich: 1. dafs die Minimallichtstärke des 
lichtschwächeren Bildes, welches noch stereoskopischen Effekt zuliefs, mit 
der Lichtstärke des helleren Bildes im gleichen Sinne, aber nicht pro- 
portional variierte (letzteres contra Fechner und Aübert); 2. dafs sehr 
geringe Lichtstärken des lichtschwächeren Bildes genügten, um stereo- 
skopische Wirkungen zuzulassen (bei sehr grofsen Intensitäten Vioo bis Viooo» 
bei schwachen Vö bis Vz der Lichtstärke des helleren Bildes); 3. wenn auch 
„Indifferenzpunkt'' und Schwelle für stereoskopischen Effekt bezüglich der 
Art der Abhängigkeit von der absoluten Intensität sich analog verhalten, 
so liegen sie doch sehr weit voneinander. Der stereoskopische Effekt ist 
bei Bildern möglich, welche den paradoxen Versuch sicher ausfüren lassen. 

R. versucht — mit aller Reserve — eine Erklärung seiner Befunde zu 
geben; er meint, ein Teil der im stärker belichteten Auge durch den Reiz 
aktivierten Energie käme dem anderen schwachgereizten zu Hilfe, um das 
körperlich Sehen zu ermöglichen, dies könne dann aber bei geringen Reiz- 
stärken nur auf Kosten der Helligkeit geschehen (paradoxer Versuch). Beim 
Monokularsehen käme die Energieverwendung zur Erzielung der Stereo- 
skopie nicht in Frage, daher die gröfsere Helligkeit bei dieser Sehweise. 

Ehe R. zu seinen Versuchen über stereoskopischen Glanz übergeht, 
erörtert er die Faktoren für das Zustandekommen des Glanzes im all- 
gemeinen, namentlich erinnert er an die Theorie Wundts, nach welcher 
solche Objekte glänzen, die Licht teils regelmäfsig, teils diffus reflektieren 
und infolgedessen jedem Auge ein anderes Bild von Helligkeitsverteilung 
geben. Die Helligkeitsunterschiede, welche identische Netzhautstellen 
treffen, wirken teils durch Kontrast, teils durch Tiefenwirkung, welch 
letztere sich bei Augenbewegungen steigern kann und das wesentliche 
Moment für die Glanzwirkung abgibt. Der auch monokular erhältliche 



302 Literaturberieht 

Metallglanz hängt nach Kibsohhamks Theorie, wdche B. ausführlich zitiert, 
von kleinsten monoknlaren paralaktischen BUdverftndeningen ah, die beim 
Betrachten kleinster reflektierender Flachen schon durch kaum merkliche 
Schwankungen der Akkommodation und Fixation bedingt sein können. 

Anknüpfend an den bekannten Versuch, daüs Stereoskopbilder Glanz 
zeigen, wenn das eine Einzelbild schwarz auf weifs, das andere wei£9 auf 
schwarz gezeichnet, beobachtet werden, suchte B. nun festzustellen, welche 
Helligkeitsdifferenz zwischen beiden als Minimum erforderlich ist, um 
Glanzeffekt zu geben. Jedes Bild konnte durch Episkotister verdunkelt 
werden. Es ergab sich 1. dafs das eine Bild wenigstens 1 Vs bis 3 mal heller 
sein mufste als das andere, wenn die binokulare Kombination Glanz haben 
sollte (Minimum); 2. dafs bei einem Verhältnis der Helligkeiten von etwa 
1:1800 der Glanzeffekt verschwand (Maximum); 3. um guten Glanz zu 
zeigen, konnte das Helligkeitsverhaltnis Weifs zu Schwarz zwischen 
9,64:62,6 und 375,69:920 wechseln; Urteile der letzten Art hatten gewisse 
Schwierigkeiten. H. Piper (Kiel). 

B. BouRDON. L'itat actael de la qnestioa du seu nrasaiUlre. Revue 
scientifique 2, Nr. 4 u. 6. 1904. 

Verf. gibt eine Übersicht über die Ansichten, die heute über die 
Empfindungen der Bewegungen, Lage unserer Glieder in bezug auf deren 
physiologische Grundlage herrschend sind. Die dem inneren Ohr ent- 
stammenden Empfindungen sowie die sogen. Innervationsempfindungen, 
deren Existenz doch recht zweifelhaft ist, schliefst er von seiner Be- 
sprechung aus. 

Für die Kenntnis von den Bewegungen unserer Glieder kommen zu- 
nächst die durch Dehnung und Druck auf der Haut entstehenden Emp- 
findungen in Betracht. Jedoch zeigt die gut erhaltene Bewegungsemp- 
findung bei völliger Anästhesie der Haut, daDs letztere keine allzu grofee 
Rolle spielen kann. 

Der Ursprung der Bewegungsempfindungen liegt vielmehr, wie Gold- 
8CHBIDEB einwandfrei gezeigt hat, in den aus den Gelenken stammenden 
Empfindungen; jedoch sind es nach des Verf. Ansicht nicht nur die Über- 
züge der Gelenke, aus denen die Sensationen stammen, sondern auch, die 
an den Gelenken ansetzenden Bänder und die unter der Haut gelegenen 
Organe, welche die Gelenke umgeben. 

In bezug auf die Empfindungen, welche uns die Schwere vermitteln, 
kann sich Verf. nicht der Ansicht Gk)u>8CHEn)BBs anschliefsen , dafs man 
zwischen den durch ein aufgelegtes Gewicht hervorgerufenen Empfindungen 
und denen des Widerstandes scharf unterscheiden müsse, er führt vielmehr 
beide Empfindungen auf die der Anstrengung zurück, welche in den Sehnen 
ihren Sitz hat. 

Die Lageempfindungen haben ebenfalls ihre anatomische Grundlage 
in den Gelenken und den an ihnen ansetzenden Bändern. Jedoch spielen 
hier wohl auch Empfindungen mit, welche aus der Dehnung und Faltung 
der Haut stammen. 

Zum Schlüsse formuliert Verf. noch einmal die den ganzen Gegenstand 



Literaturbericht 3Ö3 

betreffenden Probleme und gibt eine genane Abgrenzung und Beschreibung 
der einzelnen hierbei in Betracht kommenden Phfinomene. 

MosKiswicz (Berlin). 

J. E. Wallace Wallin. Optical Illnsioiis of Reversible Perspective: a Volume 
of Historical and £xperimental Besearches. Princeton. 1905. 330 8. 
Bei dem grofsen Umfange der vorliegenden Untersuchungen und der 
Fülle der darin enthaltenen, zum grölsten Teil eigens aufgestellten Versuche 
mag hier natürlich von einer detaillierten Wiedergabe ihres Inhaltes ab- 
gesehen werden.* Dagegen werde ich die theoretischen Folgerungen W.s 
wiederzugeben versuchen und die experimentellen Instanzen anführen, die 
nach seiner Ansicht für die auch von ihm vertretene „Sensation theory*' 
zu sprechen scheinen. Als eine solche Instanz gilt nach W. zunächst die 
Tatsache, dafs es möglich ist, eine Beziehung herzustellen zwischen dem 
jeweiligen Beiz und der zugeordneten »impression', und dafs diese Beziehung 
eine exakte quantitative Bestimmung zuläfst. Diese angebliche Tatsache 
soll nach den Mitteilungen des Verf. zeigen, dafs die ursächlichen Momente 
der Illusionen, wie solche durch W. geprüft worden sind, nicht von „vague, 
general, unmensurable psychic constituents, like the Imagination or judgmenf' 
abhängig sein können, wiewohl natürlich den individuellen Verschieden- 
heiten (S. 97, 135) ein breiter Spielraum offen gelassen wird. 

Die Störungen an den Vorstellungen sind auf periphere Ursachen 
zurückzuführen — in dem speziellen Fall optischer Täuschungen natürlich 
auf Störungen des „Netzhautbildes" und dessen Entstehungsbedingungen. 
Als erstes Merkmal für den sensorischen Ursprung der geometrisch-optischen 
Täuschungen führt also W. die Abhängigkeit der Täuschung vom Beize 
an und betont es gegen die Urteilstheorie mit voller Schärfe. Er ist aber 
dabei nur solange im Bechte, als er die Urteilstheorie bekämpft. Denn die 
von ihm behauptete Abhängigkeit der Täuschung vom Beize besteht für 
die geometrisch-optischen Täuschungen nicht im geringsten: diese stellen 
sich ein oder schwinden ohne jede Änderung der vorhandenen Sinnesreize. 
Dies glaubt Bef. in seinen Untersuchungen zur Psychologie des Grestalt- 
erfassens (vgl. Untersuchungen zur Gegenstandstheorie u. Psychologie hrsg. 
von A. Mbinono Nr. V) zur Genüge sichergestellt zu haben. Auüserdem 
sind a. a. O. § 19 ff. auch noch weitere Kriterien angeführt und deren 



^ Das Werk zerfällt in zwei Hauptabschnitte: eine geschichtlich 
geordnete Zusammenstellung der vorhandenen Vorarbeiten auf dem Gebiete 
optischer Täuschungen mit besonderer Berücksichtigung der rein perspek- 
tivischen und eine Darstellung der eigenen Untersuchungen, welche folgende 
Kapitel umfasst: (I) New figures; Nature of experimental records, (II) Per- 
spectivity in momentary exposures correlations, (III) Distance and size 
estimations, growt of Visual forms and incidental Suggestion s, (IV) Acco- 
modation and the third dimension. Distance equation of white and black 
rods. Fixation an reversion tests, (V) The effect of Suggestion upon per 
spectivity with school children, (VI) The duration and alternation of per 
spective reversions, (VII) Perspective presentations and practice. 



304 Literaturberidit. 

Galtigkeit experimentell nachgewiesen, welche die Unabhängigkeit der 
geometrisch'Optifichen Tänschnngen vom allfiüligen Sinnesreize anXser 
jeden Zweifel setzen dürften. NatOrlich maus man aber nicht, wie W. zu 
glaaben scheint, allein für die Urteilstheorie eintreten, wenn man sich 
für berechtigt hält, gegen eine ,,sensorische Theorie" der optischra 
Täuschung Stellung nehmen zu müssen. Es liegt vielmehr (wie dies Ref. 
a. a. O. gezeigt zu haben glaubt) die Möglichkeit vor, die vorliegenden Tat- 
sachen der optischen und übrigen Täuschungen weder durch Heranziehung 
der nicht einmal genau fafsbaren Urteils theorie noch der sicher unhaltbaren 
sensorischen Theorie und dennoch ohne Übertretung des Vorstellungs- 
gebietes dem Verständnis näherzurücken. Bei der knappen Raumbemeesung 
eines Berichtes kann natürlich auf diesen Punkt nicht nochmals ein- 
gegangen werden. Auch hier, wie dies weiter unten öfters der Fall sein 
wird, mufs sich Ref. mit dem Hinweis auf einschlägige, teils eigene, teils 
anderwärtige Untersuchungen begnügen. 

Zur weiteren Begründung seiner sensorischen Auffassung optischer 
Täuschungen führt auch W. die Tatsache an, dafis die Illusionen noch fort- 
bestehen, wenn man von ihnen auch Kenntnis hat. Die Kenntnisnahme 
solcher Täuschungen vermag nur unsere Benennung der allAlligen 
psychischen Daten, nicht aber deren Natur (304) zu bestimmen. Der Um- 
stand aber, dafs eine Täuschung trotz unseres besseren Wissens weiter be- 
steht, besagt nur, dafs sie keine Urteils-, nicht aber, dafs sie eine £mp- 
f indungstäuBchung ist, — wie dies W. zu glauben scheint. In der Tat 
sind solche Täuschungen, wie Ref. im Hinblick auf die Ergebnisse seiner 
bereits angeführten Untersuchungen berechtigterweise behaupten zu dürfen 
glaubt, weder Urteils- noch Empfindungs- sondern Produktions- 
täuschungen, das heifst m. a. W. sie beruhen auf Anomalien, die sich dann 
im Vorstellungsvorgange einstellen, wenn auf Grund von Sinnesdaten ein 
realitätsloser Gegenstand, wie z. B. eine räumliche Gestalt erfafst wird. 

Im übrigen soll nach W. für die sensorische Theorie hauptsächlich 
die „empirische Korrelation^* zwischen Illusion und Bewegung der Augen 
sprechen, wofür die Müller - LvEKSchen Figuren, die Figuren aus super- 
ponierten Segmenten Wundts, die mit horizontalen oder senkrechten 
Parallelen ausgefüllten Vierecke u. ä. (wie Streckentäuschungen, veränder- 
liche Richtungstäuschungen u. gl. M.) günstige Instanzen darstellen sollen. 
Natürlich aber nur soweit, als man, wie dies bei W. der Fall zu sein scheint, 
die Gegeninstanzen zu dieser Auffassung unberücksichtigt läfst. Als eine 
solche kommt hauptsächlich, von den sonstigen Unzulänglichkeiten der 
Augenbewegungs theorie gegenüber den zu erklärenden Tatsachen ganz ab- 
gesehen (vgl. darüber die Untersuchungen des Ref. a. a. O. § 27), der 
empirisch festgestellte Mangel einer konstanten Korrelation zwischen 
Täuschungsrichtung und Art der Augenbewegungen in Betracht 
(vgl. darüber C. H. Judd, The Mülleb-Lybb Illusion, Psych, Review Monograph. 
Supplem.VII. 1. S. 55—82; E. H. Camrron a. W. M. Stbble, The Poogbk- 
DOBPP Illusion, ebenda S. 82—112, C. H. Judd a. H. C. Coxjbten, The Zollkeb 
IllvLBion, ebenda S. 112 — 139, und letztlich S. M. Stbatton: Simmetry ,Linear 
Illusions* an the Movements of the Eye. Psych. Review XIII Nr. 2. S. 82—96). 
Die de facto gefundene partielle Korrelation zwischen Augenbewegungen 



lAteraturbericht 305 

und Tänschungsrichtung beim Betrachten der MuLLBB-LTBBSchen Figur ist 
aber nach der Meinung des Bef . auf folgende Art su verstehen : Die Augen- 
bewegungen sind ihrer praktischen Bedeutung fflr das Leben nach haupt- 
sftchlich dazu da, um das direkte, deutlichste Sehen rasch zu vermitteln.- 
Sind nun wie bei den zwei Typen der MüLLKR-LYEBschen Figur die Schenkel 
einmal nach innen, ein andermal nach auXisen gewandt, so wird natür- 
licherweise zum deutlichen Sehen sämtlicher Figurenkomponenten eine 
Überschreitung der Hauptlinienendungen mit dem Blick wohl erforderlich, 
wenn die Schenkel nach aufsen gerichtet sind, indes sie ausbleiben 
kann, wenn die Schenkel nach innen gewendet sind. Obwohl aber ein 
solches Verhalten der Augenbewegungen nicht jedesmal, d. h. bei jedem 
Versuch, anzutreffen ist, bleibt die T&uschung trotzdem bestehen und 
zwar auch dann, wenn die Richtung und Grölse der Augenbewegungen der 
Natur und Gröfse der Täuschung wiedersprechen, — ein deutliches 
Zeichen für die nebensächliche Rolle der leider allzuoft immer wieder 
herangezogenen Augenbewegungen für das Entstehen geometrisch-optischer 
Täuschungen. 

Als Gegenstück zur motorischen Konzeption der optischen Täuschungen 
und deren weiteren Begründung wird natürlich das Schwinden der Täuschung 
als angebliche Folge der Fixation angeführt. Auch dieser Hinweis bewährt 
aber seine Beweiskr^t leider nur, solange man die sicheren Erfahrungen 
unberücksichtigt läfst, die die Aufrechterhaltung der optischen Täusclj^ungen 
bei momentaner Exposition der Figuren auTser Zweifel setzen (vgl. 
darüber vor allem Einthoveh in Pflüg er 8 Archiv für die ges, Physiologie 
71, S. 34). Wie der Einflufs der Fixation, der sich wohlgemerkt sowohl 
in einer Täuschungs er höhung als einer -Herabsetzung kundgeben 
kann, zu verstehen sei, hat Ref. in seinen bereits angeführten Unter- 
suchungen klarzustellen versucht (a. a. O. IV). 

Zu den physiologischen Teilursachen wird von W. natürlich auch die 
Irradiation hinzugerechnet mit dem Hinweise auf Münstbbbbbg und Lehmann. 
Auch ein Einflufs von Linsenanomalien und des indirekten Sehens, wie 
einen solchen Stöhb und Einthoven festzustellen glaubten, berührt W. 
sympathisch. Unglücklicherweise sind aber auch bezüglich des Anteiles 
dieser Momente an dem Entstehen optischer Täuschungen die teilweise 
gleichzeitig mit den Untersuchungen Wallins erschienenen, experimentellen 
Widerlegungen der Positionen Münstbbbbbgs, Lehmanns und StÖhbs durch 
die Arbeiten von Witasek und Benüssi-Libl überzeugender als die Be- 
gründung derselben durch die genannten Autore (vgl. zu Münstebbero und 
Lehmann, Bentjssi-Liel : Die verschobene Schallbrettfigur in Unters, zur Geg. 
u. Psych., hrsg. v. A. Meinono VI und die Besprechung {diese Zeitschrift 
41, S. 204 f.) des Ref. über Lehmann: „Irradiation als Ursache geometrisch- 
optischer Täuschungen^; zu Stöhbs Auffassung Witasek: „Die Natur der 
geometrisch-optischen Täuschungen", diese Skitschrift 10). 

Auch der Einflufs der relativen Lage und Gröfse der Figuren auf die 
resultative Täuschung soll nach der Meinung des Verf. auf Grund einer 
sensorischen Theorie „leicht** verständlich sein. Allerdings aber nur, solange 
man die Bedeutung des subjektiven vorstellungsmäfsigen Verhaltens der 

Zeitschrift für Psychologie 43. 20 



305 lAt^r^tmrixndä. 

Ve nuthrn penon meht m wfirdigen geiemt, und keine Gelegenheit 
giriiabt hmL die ünwesentlichkeit der Ldige sowie übertimpt aller mlaerer 
Reixbedingnngen für da« Entatriien optiacher Täoaeliiingen, vem nur be- 
wümrnU aobjektire 'an anderer Stelle mit A- nnd G-Beaktmi beaeielmete) 
Voralellangabedininingen konstant gehalten werden, selbst an fiberprnfen 
''rf^ darüber des Bef. ^Experimentelles fiber VofstellnngsinadiqnaUieit I.*^ 
diete ZeÜMchrifi 12. 8. 22 ff^ nnd .Die Psrchologie in Italien'* ^Sammebeferat] 
im Ardnv f. d. getarnte Ffychologie 7, 8. 141 . Bezfi^ch der Übnng auf 
dem Gebiete optischer Täasefanngen, Ton welcher aach WAixnr, wie Junn 
Tor ihm nar eine Anisemng kennt, nikmlich die Herabsetxnng der 
Tftnschnng. neigt W. ebenfalls m einer physiologischen Dentnng derselben 
hin. Vielleicht wird er anch diese Angelegenheit für weniger erledigt 
halten, wenn er dav^Hi Kenntnis nehmen wird, daÜB. wie Ref. wiederholt 
gexeigt hat fArekiv f. d. ges. P9ych. 6, 8. 126—127 nnd Unten, zur Geg. iL 
F$yek, hrsg. v. Mscfose V, § ^ff-.s zwei Ühangs&olserangen anantreffen 
sind, von welchen nur die eine im Sinne der Herabsetz an g, die andere 
aber im Sinne der Erhöhung. der Täoschong wirkt, wobei noch zn 
bemerken ist, dafs die Reizbedingangen für beide Formen der Übung, 
wie überhaupt für das Zastandekommen der Täuschungen selbst ganz, 
unwesentliche Bestimmungen sind. 

Nach dieser — wie wir gesehen haben — kaum haltbaren Begründung 
seiner Sensationstheorie zur Erklärung optischer Täuschung, wendet 
sich W. zur theoretischen Auffassung der perspektivischen Täuschungen 
und der von ihm untersuchten und teilweise neu erfundenen Täuschungs^ 
figuren. Darfiber sind die Details im Originale nachzusehen. Auch für 
diese Figuren soll sich die sensorische Deutung bewähren ; zugunsten dieser 
Auffassung sollen Momente, wie die Allgemeingültigkeit der in Rede stehen- 
den Illusionen und ihre Abhängigkeit von gegebenen Übungsbedingungen 
sprechen; weiter die Tatsache, dafs die „trügerischen" Vorstellungen, was 
Unmittelbarkeit, Spontaneität und Klarheit anlangt, nicht im geringsten 
hinter den „un trügerischen"* zurückbleiben. Sie bestehen trotz unseres 
Wissens, und ist ein grofser Aufwand von Übung nötig, um eine domi- 
nierende Perspektive zu überwinden. Auch gelingt die Überwindung durch 
Übung dort besser, wo weniger ausgesprochene Fixationsmotive vorliegen. 
Immerhin sind ihre Wirkungen von kurzer Dauer; die ursprüngliche ri^er- 
spektive'^ gewinnt bald wieder die Oberhand, ein Zeichen, dafs die Gründe 
hierzu nicht in einer „Vorstellungslaune'' zu suchen sind (310). Auch ist 
die Art der Fixation bedeutend mafsgebender als die Phantasiebetätigung 
des Subjektes und hängt die Art des perspektivischen Auffassens von den 
verschiedenartigsten „physikalischen" Bedingungen (Beleuchtung, Linsen,. 
Entfernung usw.) ab. 

Aus alledem ergibt sich für W. der Schlufs, dafs die Umkehrung auf 
bestimmten retinalen Bedingungen beruhen, die die Reize zu beeinflussen 
vermögen. Dafür sollen hier und da eintretende „Distorsionen", die auf 
eine Verschiedenheit der retinalen Zustände hinweisen, sprechen, aufser- 
dem die Verschiedenartigkeit des perspektivischen Wirkung verschiedener 
Figuren in bezug auf Dauer, Entfernung (75), Umkehrungszeit (242 ff.}, 
Suggestibilität (229), Auffälligkeitsgrad eines besonderen perspektivischen 



Literaturbericht 307! 

Motives (82. 241), die gröfsere oder geringere Bedeutung der Fizatioiuh 
richtung (Kap. XU), manche Unterschiede beim monokularen und bin* 
okularen Sehen (114, 118, 122, 126, 157). Gegen eine Urteilsauf fassang spricht 
auch die Abhängigkeit der Illusionen von äulseren Bedingungen, die Ver- 
schiedenheit der Umkehrungszeit für je ein Auge (157), die Bedeutung der 
Konvergenz für manche Detailerscheinungen (146) und der Einflufs des 
Gesichtswinkels (löO, 312). Doch verlangt die Umkehrung kaum eine- 
bestimmte Lage deis Netzhautbildes und haben daher die Fixationslinien 
keine so hohe Bedeutung (812). Umkehrungen sind aufserdem auch jlm 
indirekten Sehen (284 f.) möglich und werden durch verschiedene 
Meridiane verschieden beeinflufst. Dartiber aber liegen seitens Walliit keine 
Messungen vor. 

So anregend die Versuche — speziell die Bestimmungen der Perspek- 
tivenbeharrlichkeit und der Überwindung einer perspektivischen Auffassung 
durch willkflrliches Vorstellen der entgegengesetzten Perspektive — sind, 
die W. in seinen Untersuchungen mitteilt, um so weniger vermögen, wie 
oben angedeutet wurde, seine theoretischen Ausführungen zu überzeugen. 
Er geht, wie erwähnt, von der Voraussetzung aus, die geometrisch- 
optischen und die perspektivischen Täuschungen seien ,psychologisch' 
gleicher Natur; glaubt weiter nachweisen zu können, dafs erstere „Emp- 
findungstäuschungen" sind, und verwendet dann diese vermeintliche 
Erkenntnis auch für das Verständnis der perspektivischen Illusionen, 
eigentlich nur im Hinblick auf die übrigens auch nicht so durchschlagende 
Bedeutung der Fixation, Beleuchtung und Bewegung des Auges für das 
Zustandekommen und den Wechsel des perspektivischen Eindruckes. Bef. 
hat bereits oben auf die Gründe hingewiesen, die eine Auffassung der 
geometrisch -optischen Täuschungen als „Empfindungstäuschungen'' nicht 
gestatten; hier mufs er noch des weiteren hinzufügen, dafs auch die 
Gleichstellung von geometrisch -optischen Täuschungen, genauer Gestalt- 
täuschungen oder inadäquaten Gestaltvorstellungen und perspektivischen 
Täuschungen nicht frei von jedem Bedenken sein dürfte. Schon der 
Umstand, dafs für das Erleben einer perspektivischen Täuschung das 
Gegebensein einer „Annahme*' wesentlich erscheint, weist darauf hin, dafs 
die psychologische Sachlage eine ganz andere ist als bei den üblichen 
geometrisch-optischen Täuschungen, wo der ganze Vorgang das Vorstellungs- 
gebiet nicht überschreitet. Dafs eine , Annahme' beim Erleben eines Per- 
spektiveneindruckes wirklich dabei ist, dürfte aber niemand bezweifeln 
wollen, der auch nur ganz flüchtig bei einem der von W. angestellten 
Versuche Selbstbeobachtung übt. Auch ist in Erinnerung zu rufen, 
dafe das eigentliche „äufsere" Beizmaterial bei perspektivischen Um- 
kehrungen doch unverändert bleibt, dafs die Bewegung der Augen 
etwa vom oberen zum unteren Ansatzpunkt der Diagonale bei der Würfel- 
figur, als solche gleichwertig ist mit der Bewegung vom unteren 
Punkt zum oberen, — zu einem Akkommodations- oder Konvergenzwechsel 
bietet sich aber, da die Zeichnung auf einer Ebene aufgetragen ist, 
keine Gelegenheit und somit auch keine zum assoziativen Wachrufen einer 
Tiefenvorstellung durch eine bestimmte Akkommodations- oder Kon- 

20* 



308 Literaturbericht 

vergenzveränderung. Es erscheint daher natürlicher anzunehmen, dals die 
perspektivische „Vorstellang" (oder, wie an anderer Stelle Ref. sa seigen 
versuchen wird, „Annahme") selbst das Frühere und Unmittelbare sei, und 
dafs die Fixation nur soweit von Bedeutung ist, als das zunächst Betrachtete 
auch — in den meisten Fällen wenigstens — näher zu sein scheint. 

Alles N&here über die Details der Ergebnisse W.s behält sich Bef . bis 
nach durchgeführter Kontrolle der Hauptversuche W.s vor. 

Bbnussi (Gras). 

I. F. K1S8OW. Ober die geemetrlteh-optüielieB Ttisehnngei. Archiv für die 
gesamte Psychol. 6, 8. 289—905. 1905. 

II. L. BoTTi. Ell Beitrag nr Keuitiis ier TarUbeli geemetriieh-eptisdiei 
StrecketttlnfclraBgeB. Ebenda, S. 906—316. 

I. 1. Eine Gerade erscheint länger, wenn sie an einem ihrer Enden 
durch einen zu ihr senkrechten Strich begrenzt ist. Da Verf. ,,über genaue 
Wertangabe*' nicht verfügt, „muls'' er sich „auf die allgemeine Bemerkung 
beschränken, dafis er die Erklärung für diese und ähnliche Tatsachen im 
Bewegungsmechanismus der Augen sucht" (290). So können auch beim 
Vergleichen „Änderungen^* eintreten, „die das Auge zur Ruhe oder Bewegung 
zwingen" (291). Warum aber und ob überhaupt bei der Vergleichung von 

. mit Yi > B niit ruhigem; bei der Vergleichung von 



"ff 



Täuschung 

bsoU als eil 
standen w 
nicht zum 



B mit 71; , dagegen mit bewegtem Auge erfafst werden soll, ist 

nicht zu ersehen (291). Immerhin räumt K. ein, dafs die Tatsache der 
scheinbaren Verkürzung von A und C auch durch andere Motive mit- 
bestimmt werden könne. 

2. Die scheinbare Vergröfserung einer begrenzten Geraden nimmt ab, 
wenn man* die Begrenzungslinie verlängert: So ist die 
Täuschung bei A geringer als bei B. Dieses Zurückgehen 
eine Kontrastwirkung im Sinne Wumxrs ver- 
werden. Die scheinbare Verlängerung wird 
zum Verschwinden gebracht. 
A ' ^ Ist die Normalstrecke beiderseits durch Senkrechte 

begrenzt, so bleibt die scheinbare Verlängerung, solange 
die Senkrechten eine bestimmte Gröfise nicht überschreiten, bestehen (293). 
Werden die Senkrechten deutlich gröfser, so tritt ein Wechsel in der 
scheinbaren Gröfse der Normalstrecke ein. Dies, nach EL natürlich, weil 
beim Vergleichen bald die eine bald die andere Strecke mit relativ ruhendem 
oder bewegtem Auge erfafst wird (293). Der Wechsel konnte auch von 
Schümann (Beiträge zur Analyse der Gesichts Wahrnehmung. 1904. S. 102). 
Aufser dieser Erklärung gibt es für E. offenbar keine. Dals K. sich von 
einer Urteilstäuschung bisher nicht hat überzeugen können, wird ihm 
Bei um so mehr glauben, je weniger er sich mit der Bewegungstheorie 
einverstanden erklären kann. 




3. Bei ^ erscheint b am längsten, weil diese Gerade am 



Literaturbericht 309 

meisten auffällt und der Blick in dieser Richtung leichter wandert 
Auch zwischen b und c tritt ein Grölsenwechsel ein, bald erscheint b, 
bald c als die gröfsere Gerade, weil der Blick „relativ leicht von einer 
Strecke xur anderen hinüber wandern kann*' (295). Eine perspektivische 
Dentung lehnt K. mit der Begründung ab, dafs die Täuschung auch bei 
Versuchspersonen besteht, die die Figur nicht perspektivisch erfassen. Er 
hätte hinzufügen können, dafs perspektivische Annahmen das Aussehen 
des Angeschauten nicht zu verändern imstande sind. 

4. Bei 5' ^ , erscheint a grOfser, als wenn b fehlt. Wird b 

besonders lang, so nimmt die scheinbare Verlängerung ab. Abschlielsend 
berührt K. die sogenannte MüLLBB-LTSRsche Kontrastfigur. Dafs diese 
Täuschung nicht auf eine Kontrastwirkung zurückgehe, meint K. im Hin- 
blick auf den Umstand mit Recht behaupten zu dürfen, dafs, während bei 
einseitiger Begrenzung durch eine kleinere Gerade immer eine Ver* 
längerung vorgetäuscht wird, bei einseitiger Begrenzung durch eine gröfsere 
Gerade die Normalstrecke immer noch, wenn auch geringfügig über- 
schätzt wird, die beiderseitig durch gröfsere Geraden begrenzte, aber zu 
unsicheren widersprechenden Ergebnissen führt. Dafür, dafs hierbei die 
Normalgerade doch schlieÜBlich unterschätzt werde, macht auch K. 
nochmals den Umstand verantwortlich, dafs beim längeren Hinschauen eine 
ruhige Fixation der mittleren Strecke begünstigt wird (300) und die Be- 
wegung über diese hinaus gehemmt wird. Dagegen überschreitet die 
Augenbewegung die Abgrenzungsstelle bei einseitiger Begrenzung. Im 
Grunde stellt sich diese Figur als ein Spezialfall zweier MuLLSB-LTBBScher 
Konfluxionsfiguren mit den Schenkeln nach aufsen dar. Auch bei diesen 
Figuren tritt eine relative Abschwächung der scheinbaren Verlängerung 
bei übermäfsiger Länge der Schenkel ein. Nach Wuin)T, und daher natürlich 
auch nach K., als Folge einer Hemmung der Augenbewegungen. Warum 
eine analoge Abschwächung bei sehr langen Schenkeln der entgegen- 
gesetzten Figur nicht eintritt, wird nicht zu erklären versucht, auch nicht 
die Erfahrungen berücksichtigt, denen zufolge die Täuschungen von Augen- 
bewegungen ganz unabhängig zu sein scheinen. Der Versuch des Ref., 
diese und ähnliche Erscheinungen durch den Hinweis auf Gesetze des 
Gestaltvorstellens einheitlich dem Verständnis näher zu rücken, wird eben- 
sowenig berücksichtigt, als die von ihm gegen die Augenmuskelntheorien 
geltend gemachten Einwände. K. begnügt sich mit der Anführung der 
hier gemeinten Untersuchungen des Ref. beim Terminus „Konfluxion**. 

II. Wie KiBSOw an Wunbt, so lehnt sich B. an Kiesow, zur Deutung 
einiger von ihm untersuchten Figuren. Diese ergeben einige Variationen 
der auch in der Arbeit K.s erwähnten Strecken täuschungen. Eine nähere 
Untersuchung der Sachlage behält sich B. vor. Bbnxjssi (Graz). 



E. Th. ERDKAinv. Drei Beltrige n eiior allgeBetieB Tlimie der Begriffe. 

Leipzig, Mutze. 1904. 26 S. 
Verf. versteht unter einem Begriffe folgendes: 1. Ein Begriff ist wieder- 
holbar. 2. Er ist umgrenzt, stellt eine relative Einheit ein Ganzes dar. 



310 Literaturbericht. 

• 3. Er ist von einer zusammengesetzten Gefühlsqualität begleitet, einer 
' Kombination von Dasselbigkeit und Bekanntheit. 

Meistens ist der Begriff an ein Wort gebunden, aber nicht immer. 
Einer Reihe solcher eingeübter, wiederholbarer., umgrenzter Funktionen, 
eben dieser Begriffe, entsprechen entweder überhaupt keine Worte oder 
eine Anzahl von Worten, ganze Sätze. Solche Gebilde sind in der Psycho- 
logie als Gestaltsqualitäten und Gesamtvorstellungen beschrieben. Solche 
Worte sucht Verf. näher unter Anlehnung an Avenabius* Lehre von den 
Koordinationssystemen zu beschreiben. Ein Koordinationssystem ist eine 
funktionelle Verbindung mehrerer Partialsysteme. Es gibt simultane und 
sukzessive Eoordinationssysteme, je nachdem die Partialsysteme gleichzeitig 
oder in fester Aufeinanderfolge ablaufen. 

Zu ersteren, den simultanen, gehören die Raumbilder, die Körper, die 
Begriffe von bestimmten Ortschaften, die musikalischen Intervalle, die 
einzelnen Silben, das Ich. 

Zu den sukzessiven Koordinationssystemen gehören alle eingeübten 
Tätigkeiten, als Melodien, alle mehrsilbigen AVorte, alle Veränderungen oder 
Vors tellungs Inhalte, Vorgänge, Prozesse, alle bewufsten und unbewufsten 
Gewohnheiten, die Zeitabschnitte, z. B. ein Tag, ein Monat. Auf Koordi- 
nationssystemen beider Art beruhen alle sprachlichen Begriffe. 

Die logische Bedeutung der Merkmale beruht auf der Gröfse ihres 
Übungswertes, ist also biologisch bestimmt. 

Darauf, dafs ein Partialsystem Glied mehrerer Koordinationssysteme 
ist, beruht die Verwandtschaft der Begriffe. 

Die Inhalte menschlicher Aussagen, d. h. die Sätze sind auch Koordi- 
nationssysteme beider Art. 

In einem zweiten und dritten Abschnitte werden dann diese Be- 
trachtungen an einzelnen Begriffen, deren Inhalte Gefühlswerte und zeit- 
liche Gestaltsqualitäten sind, sowie ganz kurz an den Begriffen des Ver- 
stehens und Begreifens fortgesetzt. Moskiewicz (Berlin). 

-H. Kleinpetsb. Die Erkeuitiitotlieorie der Ittarfoncbiiig der 9ei;aiwart. 

Leipzig, J. A. Barth. 1905. 156 S. | 

Kleinpetsb hat sich entschieden um die Philosophie der Gegenwart 
ein Verdienst erworben, indem er in vorliegendem Buch die Anschauungen 
derjenigen erkenntnistheoretischen Richtung, die im wesentlichen durch 
die Gedanken £. Machs begründet und bestimmt worden ist, in knapp 
zusammenfassender Form dargestellt hat. Es ist das um so mehr zu 
begrüfsen, als sich die Mehrzahl unserer Naturforscher zu dieser Richtung 
mehr oder minder ausgesprochen zu rechnen pflegt^ ohne dafs man doch 
' bisher eine einheitliche Darstellung dieser Art besessen hätte. 

K. geht aus von einer Analyse des Begriffs der Erkenntnis selbst 
Danach stellt sich ihm die Erkenntnis dar als ein psychischer Vorgang in 
einem einzelnen Individuum, der genauer als auf einen bestimmten Zweck 
gerichtete WUlenshandlung bestimmt werden muCs. Dieser Zweck ist 
letzten Endes kein anderer als der, die vom einzelnen gemachten Er- 
fahrungen der Gesamtheit mitzuteilen und dadurch den anderen unan- 
genehme persönliche Erfahrungen zu ersparen. Es folgt unmittelbar aus 



Litnaturbericht. [ 311 

dieser Bestimmung, dafs wir streben müssen, jenes Ziel auf dem einfachsten 
Wege zu erreichen, dafs also die Erkenntnis sich durch die Rdcksicht auf 
das bekannte „Prinzip der Ökonomie des Denkens'* leiten lassen muls. 
Daraus, dafs die Erkenntnis nur als Einzel Vorgang im Individuum ver- 
wirklicht sein kann, folgt. ihre Relativität und die Bindung aller Erkennt- 
nisse an die allgemeine Voraussetzung einer gleichen Anlage der Menschen. 
Die Tatsachen selbst, um deren Mitteilung bzw. „einfachste Beschreibung" 
es sich für die Wissenschaft handelt, sind der einzig unmittelbar gewisse 
Ausgangspunkt jeder Erkenntnis. — Die gesamte Erkenntnis wird eingeteilt 
in formale und historische Erkenntnis. Die historische Erkenntnis im 
strengsten Sinn besteht in der Feststellung bestimmter historischer Einzel- 
fakta» bestimmter einzelner Erfahrungen. Diese Fakta treten uns entgegen 
als etwas Gegebenes, von unserem Willen Unabhängiges. Dagegen hat es 
die formale Erkenntnis im eigentlichen Sinn des Worts nur mit willkürlich 
von uns gebildeten Begriffen zu tun, deren Eigenschaften sie systematisch 
auseinanderlegt. Formale Wissenschaften dieser Art sind Logik und 
Arithmetik. Die grofse Mehrzahl aller Wissenschaften, im besonderen 
Physik und Chemie sind weder rein formal noch rein historisch, sie 
benutzen die gegebenen und konstatierten Tatsachen, aber sie treten an 
diese Tatsachen mit willkürlich gewählten Voraussetzungen heran, also mit 
formalen Sätzen, von denen wir von vornherein nicht wissen können, wie- 
weit die Tatsachen sich in sie schicken werden. Zu diesen Voraussetzungen 
gehört z. B. die, dafs, was der' einzelne zu bestimmter Zeit und an 
bestimmtem Ort beobachtet hat, unter denselben Bedingungen von ihm 
oder anderen wiedergefunden werden wird. Durch Kombination dieser 
willkürlichen Voraussetzungen mit den gegebenen Tatsachen entstehen die 
eigentlichen Naturgesetze. Aufser jenen Definitionen und diesen Natur- 
gesetzen gibt es nach K. keine wissenschaftlichen Behauptungen, alle sind 
entweder der einen oder der anderen Klasse zuzuzählen. 

Hier ist vielleicht der Punkt, der am deutlichsten die Einseitigkeit 
der ganzen Auffassung zeigt. Die Grundsätze der Logik und Arithmetik 
sollen lediglich den Charakter von Definitionen besitzen. Es soll zur 
Definition der Gleichheit etwa gehören, bzw. aus ihr abzuleiten sein, dafs 
wenn ein A gleich einem B, dann auch B gleich A ist. Aber die Definition 
der Gleichheit läfst sich nur auf einem einzigen Wege geben: durch den 
Hinweis auf das jedermann bekannte Erlebnis, in dem wir die Gleichheit 
zweier Tatbestände erfassen oder erleben. Indem wir dies Erlebnis haben, 
wissen wir zugleich, dafs das, was wir hier erleben, von der Beihenfolge 
in der Betrachtung der Elemente unabhängig ist — aber dies Bewufstsein 
ist nicht identisch mit dem Erlebnis der Gleichheit, kann also auch nicht 
aus dem Begriff der Gleichheit „hergeleitet" werden. Ebensowenig ist es 
eine blolse willkürliche Annahme, es hat gar keinen Sinn, es durch Er- 
fahrungen prüfen zu wollen ; seine absolute Gültigkeit hat nichts zu tun 
mit der relativen Geltung eines empirischen Gesetzes, das immer durch 
widerstreitende Erfahrungen widerlegbar bleibt, wenn wir auch diesen 
Widerstreit in vielen Fällen, um das Gesetz aufrecht zu erhalten, durch 
Hilfsannahmen beseitigen. -> Wie mit diesem Grundsatz so steht es auch 
mit den Axiomen der Logik, etwa mit dem Satz, der den eigentlichen Sinn 



312 Litei'aiurhericht. 

des Identitätsgesetzes abgibt : ist ein Satz wahr, so ist er es nicht hier und 
jetzt oder für ein bestimmtes Individuum, sondern immer nnd überall, 
sowie für jeden. Der Begriff der „Wahrheit" kann nur ebenso definiert 
werden, wie der der Gleichheit: durch den Hinweis auf das Erlebnis der 
Wahrheit, auf das innerliche Zustimmen oder Jasagen. Und im Wesen der 
Wahrheit gründet jener Satz, ohne aus ihrer ,,Definition'' herleitbar zu sein. 
Daraus ergibt sich ferner, dafs die „Relativität" der Wahrheit ein leeres 
Wort ist. 

Auf der Grenze der formalen und historischen Wissenschaften steht 
nach K. die Geometrie einschliefslich verwandter Erscheinungen. Sie hat 
es zunächst zu tun mit selbstgemachten, willkürlich gebildeten Gregen- 
ständen, insofern sie ihre Sätze an Phantasiebildern beweist. In dieser 
Beziehung stehe sie auf einer Stufe mit den formalen Wissenschaften, die 
es ja auch mit willkürlich gebildeten Begriffen zu tun haben, und ent- 
wickle nur, was sich aus den nach bestimmten Regeln erdachten Phantasie» 
bildern ablesen läfst. Sobald sie aber die Voraussetzung mache, dafs diese 
Phantasiebilder in der Wirklichkeit vorkommen, dafs die wirklichen Drei- 
ecke, Quadrate etc. den in der Phantasie des Mathematikers erdachten ent- 
sprechen, werde die Geometrie Naturwissenschaft und stelle damit Be- 
hauptungen auf, die der Bestätigung durch direkte Messung bedürften. Dafs 
die reine unangewandte Geometrie von unserer Willkür abhängig sei, zeige 
die Möglichkeit mehrerer Geometrien. Die nichteuclidische Geometrie 
sei ein ebenso berechtigtes geometrisches System wie die Euclidische, so- 
lange wir nur bei unseren Phantasiebildern bleiben und nicht zu den 
wirklich ausmefsbaren Gebilden der Wahrnehmung übergehen. — Zur 
Kritik braucht man, glaube ich, nur die Frage auf zuwerfen, wie das 
Phantasiebild einer LoBATSCHSFSKijschen Geraden wohl aussehen mag. 
Erstaunlich ist auch die Behauptung, dafs wir nie imstande wären, an den 
wirklich gezeichneten Gebilden die räumlichen Verhältnisse mit solcher 
Schärfe zu erfassen, wie an den Schöpfungen unserer Phantasie. Soviel 
ich sehe, unterscheiden sich die Phantasiebilder von den wirklich gesehenen 
Gestalten genau umgehrt durch geringere Schärfe, schwankende Umrisse 
und Mangel an Klarheit. 

Schliefslich verstehe ich nicht, warum K. überhaupt einen solchen 
Wert auf die „willkürlich gebildeten Phantasiebilder" als Grundlagen der 
Greometrie legt. Bei Cormblius, dessen „Psychologie" er verschiedentlich 
mit Achtung zitiert, hat diese Beziehung einen ganz bestimmten Sinn: 
C. versucht die Allgemeinheit der geometrischen Sätze darauf zu 
gründen, dafs sie sich an Phantasiebildem demonstrieren lassen, mit Rück- 
sicht auf die symbolische Funktion dieser Bilder, die sie zum Repräsentanten 
aller der Art nach gleichen Gebilde stempelt. K. betont dagegen immer 
nur unsere Willkür beim Erschaffen der Phantasiebilder, die doch, soviel 
ich sehe, sich eben nur darauf bezieht, dafisi wir willkürlich jetzt und hier 
ein solches Bild hervorrufen können, uns aber keineswegs erlaubt, Bilder 
hervorzuzaubern, die nicht Abbilder bestimmter gesehener Figuren oder 
gewisse Kombinationen solcher darstellen. — Das BewuDstsein der Willkür 
spielt überhaupt bei K. eine Rolle, der ich nicht zu folgen vermag: so soll 
es unmöglich sein, solche psychischen Tatsachen einer Kausalerklärung zu 



Literaturbericht 313 

unterwerfen, die wie die Denkakte, sich für unser Erleben a s willkürlich 
oder spontan kennzeichnen. 

Alles in allem: mir scheint die K. Schrift wird der Mannigfaltigkeit 
der Tatsachen der menschlichen Erkenntnis nicht gerecht, weil sie allzu- 
sehr vom Beispiel der Physik aus die Dinge ins Auge fafst. Um in ihrer 
eigenen Redeweise zu sprechen, die MACH-E^LBiNPETEBSche Erkenntnistheorie 
ist eine hypothetische Darstellung des Wesens und der Aufgabe der Er- 
kenntnis, die sich durch Einfachheit auszeichnet, die aber doch allzu 
einfach ist, um für die komplizierte Natur der Erkenntnistatsachen eine 
wirkliche Abbildung abgeben zu können. v. Aster (München). 



Chr. D. Pflaüm. Die iifgabe wisseBMhifUicher isthetlk. Arch, f. syst. PAOes. 
10, 43a-480. 1904. 
Ästhetik ist Wissenschaft, sie ist ebensowenig wie irgend eine andere 
Wissenschaft normativ, sie hat es mit Werten zu tun und zwar ist sie (477) 
„Erkenntnis der rein intensiven Wertungen von Geistesinhalten". Der 
Begriff „rein intensiv" ist dabei in dem vom Bef. in seiner allgemeinen 
Ästhetik definierten Sinne gebraucht. Diese These erläutert Pflaum durch 
eine Übersicht über frühere Deflnitionsversuche und bekundet dabei ein 
reiches historisches Wissen. In dieser Materialsammlung ist der Hauptwert 
des Aufsatzes zu sehen; wenigstens kann Bef. nicht finden, dafs die 
Definition selbst in ihrer etwas unbestimmten Gestalt einen wesentlichen 
Fortschritt darstellt. J. Cohn (Freiburg i. B.). 

G. VoBBRODT. Zu Religloispiychologle: Prinilpiei ud Pathologie. Theol. 

Studien u. Kritiken, herausg. von Proff. E. Kautzsch u. E. Haupt, Gotha. 

1905—1906. S. 237—303. 
Der Aufsatz knüpft an an den auch in dieser Zeitschrift 38, S. 74 f. 
besprochenen Vortrag von Joh. Naumann über die Frage: Ist lebhaftes 
religiöses Empfinden ein Zeichen geistiger Krankheit oder Gesundheit? 
sowie an eine ÄuTserung desselben Autors, der in Verteidigung seiner 
Positionen des Vortrages in einem Artikel der „Christlichen Welt"* 1904, 40, 
8. 938 f. den Beweis versucht, dafs „alles geistige und alles religiöse Leben 
von Krankheit durchsetzt sei''. Diese letztere Bemerkung scheint der ander- 
weiten Auffassung von Naumann zu widerstreiten, die auch der Bezensent 
dieser Zeitschrift hervorhebt, nämlich, dafs eine starke religiöse Anlage nicht 
eine Minderwertigkeit, sondern eine Mehrwertigkeit mit allen Vorzügen 
und Mängeln einer solchen sei. Auch sonst liegen bei Naumann Wendungen 
und Forderungen vor, die den modernen Psychologen ernstlich befremden 
müssen, deren Nachprüfung jedoch die in Deutschland fast gar nicht, im 
Ausland aber kräftig emporgewachsene Religionspsychologie anregen können. 
Daher werden in Anlehnung an die Äuüserungen von N. die in der 
Überschrift angedeuteten zwei Gesichtspunkte erörtert: I. Zur Psychologie 
der Religion und zwar die Fragen: 1. Bewufstseinsinhalt oder auch 
Form? sowie ob man von 2. Beligiöser Empfindung? als solcher 
reden dürfe. IL Religion und Geisteskrankheit und zwar 1. Religion 
nicht Ekstase, 2. Verhältnis von Religion zum Wahn. 



314 Literaturhericht 

Unter den Prinzipienfragen * der Beligionspsychologie, die von französisch 
nnd englisch redenden Gelehrten öfter aufgegriffen sind, dürfte die Erörterung 
wichtig sein über das vieldeutige und in der Theologie wie der gesamten 
Wissenschaft häufig zitierte Verhältnis von Inhalt und Form. Die Natur- 
. Wissenschaft bevorzugt in den Formelementen usw. sichtlich die Form^ der 
Theologie steht der Inhalt derart voran, dafs darüber die Form der psy- 
chischen Vorgänge vernachlässigt oder gar verachtet wird. Es kommen 
bei derlei Überlegungen drei von mir aufgewiesene Hauptfälle in Frage, 
nämlich 1. der Inhalt theologischer Erörterungen, sowie die Form des zu- 
gehörigen Gefühls, 2. der Gegensatz von Inhalt und Form erstreckt sich 
auf Religion und übriges Geistesleben, 3. die CJnterscheidungslinie läuft 
durch den Bewufstseinsinhalt des Religiösen und den zugeordneten Vor- 
gang. Ohne Zweifel unterscheiden sich nicht nur Fall 2 . je von 1 und 3, 
sondern auch die letzteren beiden untereinander, sofern im Fall 1 der 
Gedanke an Gott auch ästhetisch oder verstandesmäfsig verarbeitet werden 
kann, in Fall 3 nur spezifisch-religiös in Betracht kommt. Die Lösung der 
aufgedeckten Schwierigkeiten wird zugleich mit Bezug auf die in der 
modernen Theologie überwiegenden Erkenntnisfragen versucht durch 
schärfere Darlegung des psychologischen Bereiches der Religion. 

Ferner wird der Begriff der Empfindung, der immer mehr zur Um- 
schreibung gewisser Funktionen der höheren Zentren sich einschleicht, auf 
die von der Psychologie festgelegte Domäne der niederen Sinnessphäreu 



* Bei dem auf Drängen eines Freundes durch mich vom 12. — 15. Juni 
d. J. abgehaltenen Religionspsychologischen Kursus ist u. a. die 
Er6/terung der Prinzipienfragen fortgesetzt. Begriff und Umfang der Re- 
ligionspsychologie sowie deren Stellung im Bereich der Psychologie waren 
der Ausgangspunkt der Verhandlungen, bei denen namentlich auch die 
Frage, ob die Experimentaluntersuchungen der ausländischen Religions- 
psychologie möglich und nötig seien, von den Teilnehmern bejaht wurde: 
im Sinn der Fragebogenmethode wurde — nicht von mir — eine Probe 
vorgelegt; übrigens dürfte sich aufser der letzteren noch manche andere 
Methode aus der Ezperimentalpsychologie auf die Rellgionspsychologie 
übertragen lassen. Aufser der Psychotechnik der Seelsorge, des Kon- 
firmandenunterrichts sowie der Predigt und anderen Kapiteln der an- 
gewandten Religionspsychologie wurde die Psychobiologie in religions- 
psychologischer Bedeutung behandelt: wenn die Psychologie heute sichtlich 
zur biologischen Fundamentierung strebt, so ist die theoretische Biologie 
auf breitester Basis der Botanik, Zoologie und Psychologie auszubauen 
(vgl. aufser den Arbeiten von Dbiebch und Gebr. Rbinke den umfassenden 
Schwanengesang von Ed. von Habtuank, das Problem des Lebens, Sachsa 
1906). Die Lektüre des Aufsatzes über die Sozialpsychologie der Predigt 
aus The American Journal of Religions Psychology and B^ucation herausgeg. 
von Stanley Hall I, S. 288 ff. (der erste abgeschlossene Band ist von mir 
besprochen in Habnack- Schübers Theol. Literaturz. 1906, Nr. 7) gab den 
Teilnehmern des Kursus eine Probe der ausländischen Religionspsychologie. 
Näheren Bericht über den Kursus werden einzelne theologische Zeitschriften 
geben. 



Literaturbd'icht 315 

edngeschränkt, sowie die Bedeutung der sogenannten Empfindung für die 
. höheren Zentren bestimmt. Auch die- Vagheit des Gefühls bßi Naumann 
gibt AnlafSy die in meinen „Beiträgen £ur religiösen Psychologie" an- 
gefangenen Erörterungen über diesen Punkt fortzusetzen, indem statt einer 
blols formellen Einteilung der Gefühle ein Schema versnobt wird . 1. der 
Vorbedingungen, 2. der Funktionalität. 

Der zweite Hauptabschnitt betrachtet die Beligion unter dem Gesichts- 
punkt der Ekstase, die zunäclist rein psychologisch, bzw. psychiatrisch in 
Auseinandersetzung mit Kraspblin und Ach^lis gewürdigt wird, deren mehr- 
deutiger Typus jedoch sich für die Beligion als völlig unzutreffend erweist. 
Für das Verhältnis von Beligion zum „Wahn*' selbst werden die Bedingungen 
und Symptome beiderlei Seelentatsachen erörtert, dann aber die Beligion 
als noch zu wenig beachtetes Therapiemittel gegen den Wahn begründet 
und ^omit der psychobiologische Faktor der Beligion als einer „inner- 
adaptation", wie die amerikanische Beligionspsychologie es angibt, betont. 

Selbstanzeige (Alt-Jefsnitz). 

M. Offner. Willensfreiheit, Znrechnviig vad Yerantwortmig. Leipzig, Barth. 
1904. 103 S. Mk. 3,—. 

Verf. geht davon aus, dafs frei sein immer bedeutet frei sein von 
etwas und dafs man daher immer nur von einem Freisein in gewissen 
Beziehungen reden kann, während man gleichzeitig in anderer Beziehung 
unfrei ist. So ist das menschliche Handeln frei zu nennen, wenn es von 
keinen äufseren, dem Physischen angehörigen Faktoren, also z. B. Lähmung, 
Fesselung der Glieder, sondern nur von den psychischen, im Willen gelegenen, 
Motiven abhängig ist. So ist denn auch die Freiheit des Willens — um 
diese Freiheit allein handelt es sich bei der Frage nach der Willensfreiheit — 
derjenige Zustand, in dem man das will, was in seiner wahren und unver- 
änderten Natur liegt, und in dem man nicht nur nicht von äufseren Ein- 
flüssen, sondern auch nicht von Momenten bestimmt wird, die die eigene 
Individualität beeinflussen. 

So ist nicht nur der Erwachsene, sondern auch das Kind, der Idiot, 
der Verbrecher frei, insofern in ihrem Handeln sich ihre Natur kundgibt. 
Unfrei ist der Hypnotisierte, da sein Wille von einem anderen beeinflufst 
wird, unfrei der Soldat, insofern er in einem durch Drill beigebrachten 
blinden Gehorsam handelt; unfrei der Tobsüchtige und Fieberkranke, bei 
denen die Krankheit die normale Persönlichkeit zerstört hat. Nach dieser 
klaren und bestimmten Definition wendet sich Verf. der Frage zu, ob 
Determinismus oder Indeterminismus bestehe. Unter' ersterem versteht er 
die eindeutige Bestimmtheit aller Willenshandlungen durch die äufseren 
Umstände und den durch Vererbung, Anlage, Erziehung usw. entstandenen 
Charakter, der Art, dafs bei gleichen äufseren und inneren Umständen 
immer dieselbe Willenshandlung resultieren mufs. Der Indeterminismus 
hingegen spricht den Willenshandlungen die Eindeutigkeit ab, in dem Sinne, 
dafs zwar nicht oft aber doch manchmal bei gleichen äufseren und inneren 
Bedingungen zwei verschiedene Willenshandlungen erfolgen können. 

Bei der Entscheidung zwischen beiden Standpunkten mufs zunächst 



316 Literaturbericht, 

festgestellt werden, dafis der Indeterminismas das Kausalgesetz preisgibt» 
ferner mit dem Energiegesetz in Konflikt kommt, dafs alsdann im Seelen- 
leben Regellosigkeit und Zufall herrseben müfsten. 

Ferner wäre jedem Schlüsse von der Handlung eines Menschen auf 
dessen Charakter die Berechtigung genommen. Denn wenn gerade die 
bedeutungsvollen Entschlüsse frei sind, d. h. nicht mit Notwendigkeit aus 
seinem Charakter hervorgehen, dann darf ich auch nicht von diesen Ent- 
schlossen auf seinen Charakter schliefsen. Sind andererseits die bedeutungs- 
losen, nebensächlichen Handlungen frei, so kann man den Menseben nicht 
f flr die bedeutungsvollen Handlungen verantwortlich machen. Allen diesen 
Schwierigkeiten, in die sich der Indeterminismus mit Notwendigkeit ver- 
wickelt, entgeht man, wenn man sich zum Determinismus bekennt, was 
Verf. auch rückhaltlos tut. Die nächste Frage ist naturgemäfis die, wie vom 
Standpunkte des Determinismus das doch tatsächlich vorhandene Freiheits- 
■ gefühl zu erklären ist. 

Verf. unterscheidet hierbei drei Formen, in denen dieses Gefühl auf- 
tritt: vor, bei und nach dem Willensentscheid. Das Freiheitsgeffihl nach 
der Tat besagt: wir hätten auch anders handeln können. Aber da wir doch 
immer nur Tatsächliches, nie aber Mögliches erleben können, so kann 
dieses Gefühl nur bedeuten, dafs uns zwar eine grofse Reihe von Gründen, 
die uns gerade zu dieser Handlung veranlafsten, bekannt waren, aber doch 
auch Gründe in uns auftauchten, die eine andere Handlung hätten herbei- 
führen können. Unterstützt wird dieses Freiheitsgefühl durch die an uns 
oft erlebte Tatsache, dafis wir bei scheinbar gleichen Umständen zu ver- 
schiedenen Zeiten verschieden gehandelt haben. Da wir uns der ausschlag- 
gebenden Momente nicht bewufst geworden sind, entsteht in uns die Über- 
zeugung, wir hätten so oder so handeln können. Wir würden vielleicht 
ein zweites Mal in demselben Falle anders handeln, da wir doch die Folgen 
gewisser Handlungen besser voraussehen können, als das erste Mal. Ähnlich 
liegt der Tatbestand vor der Willensentscheidung. 

Verf. hätte hier noch auf einen von Windblband neuerdings mit Recht 
hervorgehobenen Punkt aufmerksam machen können, dafs nämlich das 
Freiheitsgefühl vor der Tat zum groÜBen Teil Freiheit des Handelns und 
nicht des WoUens bedeutet; d. h. in der Überzeugung besteht, dafs ich, 
wie ich mich auch entscheiden werde, imstande bin, entsprechend zu 
handeln. 

Wenn man nun einwendet, dafs man im Falle einer eindeutigen Ver- 
knüpfung zwischen Motiv und Willensentschlufs diese Notwendigkeit doch 
während der Tat erleben müfste, so bemerkt Verf. ganz richtig, daCs es 
überhaupt unmöglich ist, die Notwendigkeit zu erleben, da diese ja gar 
nicht in den Vorgängen selbst liegt, sondern nur durch unsere Betrachtungs- 
weise in sie hereingetragen wird. 

Dafs das Freiheitsgefühl überhaupt nicht entscheiden kann über die 
Frage, ob Determinismus oder Indeterminismus, zeigt das Beispiel dee 
Hypnotisierten, der, obwohl doch im höchsten Grade determiniert, sich 
doch durchaus frei fühlt. Nachdem so Verf. den Determinismus gegen alle 
Angriffe verteidigt hat, zeigt er, dafs alle ethischen Begriffe, Reue, Scham etc. 
sich durchaus mit dem Determinismus vertragen, ja ihn geradezu verlangen. 



Literaturbericht. 317 

Ebenso steht es mit dem Begriff der Zurechnung. Zurechnen kann 
ich einem anderen nur etwas, wenn diese die vollständige Ursache dieser 
zugerechneten Tat ist; die Zurechnung verlangt also geradezu, dals die 
Tat jedes Menschen völlig determiniert ist durch die in diesem Menschen 
liegenden Eigenschaften. Zurechnung und Determinismus fordern also 
einander gegenseitig. Zurechnungsfähig ist dann der Mensch, der sich so 
betätigen kann, wie es seiner wahren Natur seinem Charakter entspricht, 
nur ein solcher Mensch kann für seine Handlungen verantwortlich gemacht 
werden, und verantwortlich fühlt sich auch der Mensch nur für die Hand- 
lungen, die aus seiner eigensten Natur entsprungen, und die ihm in keiner 
Weise aufgedrungen sii^d« 

So kann denn Verf. zum Schlüsse mit Recht sagen, dafs Verantwortung, 
Zurechnung, Determinismus einander nicht nur nicht ausschliefsen, sondern 
geradezu einander tragen und halten. Moskiewicz (Berlin). 

H. GoMPBBz. Ober die Walfficbeinllclikeit der WUlententscheidungen. Ein 

empirischer Beitrag zur Freiheitsfrage. Sitzungsbericht der Kaiserlichen 
Akademie der Wissenschaften in Wien. 1904. Bd. 149. 17 S. 

Verf. will, unabhängig von jeder metaphysischen Theorie des Deter- 
minismus oder Indeterminismus vom rein empirischen Standpunkte einiges 
zur Frage nach der Wahrscheinlichkeit von Willensentscheidungen bei- 
tragen. 

Er stellt dabei folgende Überlegung an. 

Unter Motiv versteht Verf. die Vorstellung eines Effektes, die nicht 
von aufsen gegeben ist, sondern der alle subjektiven willensbestimmenden 
Momente anhaften, kurz, ein Motiv ist der Träger einer motorischen Tendenz. 
Einem solchen Motive kommt eine bestimmte Lebhaftigkeit zu, die als Mafs 
für die willensbestimmende Kraft oder das Mafs des Motives gelten kann. 

Tritt nun ein Konflikt mehrerer Motive, also ein Schwanken ein, so 
ist der Vorgang folgender: 

Das eine Motiv setzt mit dem Maximum seiner Lebhaftigkeit ein, 
sinkt dann infolge Ermüdung nach einiger Zeit ab, während jetzt das 
zweite Motiv bis zum Maximum seiner Lebhaftigkeit ansteigt, bis es nach 
einiger Zeit wieder absinkt, um dem ersten Motive wieder Platz zu machen. 
Es besteht also kein Konkurrieren, sondern ein Alternieren der Motive. 

Eine einfache Zeichnung ergibt nun mathematisch, was die Erfahrung 
bestätigt, dafs die Herrschaftsphasen dieser Motive in bezug auf ihre Dauer 
sich verhalten wie ihre Maximalstärken. 

Dieser Prozefs des Schwankens wird nun durch die Willensentscheidung 
beendet, die die in dem Moment ihres Eintretens herrschende Effektvor- 
stellung realisiert. 

Der Inhalt einer Willensentscheidung hängt also davon ab, in die 
Herrschaftsphase welches Motives diese Entscheidung fällt. 

Eine Abhängigkeit zwischen dem Prädominieren eines der beiden 
Motive und dem Zeitpunkte besteht nun nicht, es handelt sich hier viel- 
mehr um das Zusammentreffen zweier voneinander völlig unabhängiger 
Kausalreihen. Dies ist aber das Gebiet des Zufalles und der Wahrschein- 
lichkeitsbestimmung. Je länger ein Motiv verweilt, um so wahrscheinlicher 



318 Literaturbericht 

ist es, dafs der Zeitpunkt der Entscheidung in die Herrschaftsphase dieses 
Motives fällt; und da die Dauer der einzelnen Motive abhängig ist von 
ihrer Stärke, so verhalten sich die Wahrscheinlichkeiten für die Realisierung 
zweier Motive durch die Willensentscheidung wie ihre Stärken. Es ist 
daher sehr wahrscheinlich, dafs das stärkere Motiv auch siegt, aber nicht 
notwendig. 

Dieser Gedankengang, dafs das stärkere Motiv zwar mit grofser Wahr- 
scheinlichkeit aber nicht notwendig siegt, findet nach des Verls Ansicht 
seine Bestätigung in der täglich zu machenden Erfahrung, dafs wir bei 
einem Menschen, dessen Gesinnung wir sehr genau zu kennen glauben, 
irgend eine Handlung im gegebenen Falle nie mii absoluter, sondern nur 
mit einer gewissen Zuversicht erwarten und dafs tatsächlich oft die besten 
Menschen einmal eine schlechte Handlung begehen und umgekehrt. 

Es kann nach des Ref. Meinung nicht zugegeben werden, dafs dieser 
Gedankengang stichhaltig ist. 

Es ist unmöglich, anzunehmen, dafs das Dominieren eines Motives 
unabhängig ist von dem Eintreten der Willensentscheidung. Was ist denn 
überhaupt diese Willensentscheidung, wenn sie nicht von den Motiven 
beeinfiufst wird? Dann hätte ja ein Abweichen der einzelnen Gründe, ein 
Überlegen überhaupt keinen Zweck, wenn der Wille doch nicht sich nach 
den Motiven richtet. Indem Verf. den Willen unabhängig von den Motiven 
sich entscheiden läfst, setzt er ja seine Freiheit schon voraus, die er erst 
beweisen will. Also eine petitio prinzipiil Auch das Schema, das Verf. 
aufstellt, besteht, wie die Erfahrung lehrt, nicht zu Recht. Es besteht kein 
blofses Alternieren der Motive ; alles Überlegen vor der Entscheidung besteht 
doch gerade darin, möglichst viel positive Momente für das eine Motiv 
herbeizuschaffen und das entgegengesetzte Motiv zu entkräften, es wächst 
also die Stärke des einen Motives auf Kosten des anderen und die Ent- 
scheidung tritt ein, wenn die hemmende Wirkung des einen Motives durch 
eine gleich stark treibende Kraft des anderen aufgehoben ist und diese 
noch einen Überschufs an solcher treibenden Kraft besitzt. 

Verf. definiert selbst das Motiv als den Träger der motorischen Ten- 
denzen, d. h. doch jedes Motiv will sich in die Handlung umsetzen, wenn 
es nicht von entgegengesetzten Motiven gehemmt wird. Alles Überlegen 
besteht also im Fortschaffen solcher Hemmungen, indem durch das Nach- 
denken die hemmenden Gründe entweder als nicht stichhaltig erwiesen 
werden, oder Gesichtspunkte herbeigebracht werden, die die Realisierung 
eines Motives trotz aller Hemmungen wünschenswert erscheinen lassen. 
Es werden also entweder die Kräfte des einen Motives gestärkt oder die 
des entgegenstehenden vermindert. In dem Augenblick aber, wo ein Motiv 
stark genug ist, die Hemmungen zu überwinden, setzt es sich in die Tat 
um; das folgt ohne weiteres aus der Definition, die Verf. dem Motiv gibt, 
als dem Träger einer motorischen Tendenz. 

Damit ist aber erwiesen, dafs der Zeitpunkt der Willensentscheidung 
wohl abhängig ist von den einzelnen Motiven. Wovon sollte er auch sonst 
abhängig sein, und grundlos kann er doch nicht eintreten! 

Damit ist auch gegeben, dafs es nicht möglich ist, den Motivenkonflikt 
so darzustellen, dafs die Motive sich abwechselnd folgen. Es ist in gewisser 



Literaturbericht. 319 

Weise allerdings ein Konkurrieren und kein Alternieren. Die Motive 
wandeln sich doch im Laufe der Überlegung immerfort, und solange noch 
die einzelnen Motive nacheinander im Bewufstsein auftreten, besteht noch 
ein vorbereitendes Überlegen, bis ein Motiv so stark ist, dafs es die anderen 
nicht mehr neben sich duldet. 

Ich entscheide mich doch im allgemeinen nicht deshalb, weil ich von 
aufsen dazu getrieben werde, etwa weil der Zug abfährt, oder weil die 
Spannung so grofs ist, dafs mir die Geduld reifst, wie Verf. es als das' 
Alltägliche hinzustellen scheint — und der Determinismus ist gewifs der 
letzte, der so etwas behauptet — sondern ich entscheide mich doch, weil' 
ich das eine für richtiger halte zu tun, als das andere. 

Dafs wir nun allerdings nie mit Sicherheit die Handlungen eines 
Menschen voraussagen können, was gewifs niemand leugnen wird, oder 
richtiger gesagt, dalJB wir uns oft irren, denn schliefslich erwarten wir von 
einem guten Menschen doch auch immer gute Taten, das brauchen wir 
nicht dadurch zu erklären, dafs zwei voneinander unabhängige Kausalreihen 
in diesem Menschen ablaufen; viel ungezwungener erklärt es sich doch 
dadurch, dafs wir den Charakter eines Menschen eben nie genau ergründen, 
und dafs wir nie sagen können, welche Bedeutung die von aufsen auf ihn. 
eindringenden Ereignisse für ihn besitzen. Moskeewicz (Berlin). 



£. KoDENWALDT. Avfftabme des geistigen Inventars Gesunder als Mafutab ftr 
Defaktprflfangen bei Kranken. Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neural, 17. 
Erghft. S. 17—84. 1905. 
Gegenstand der diesmaligen Untersuchung waren 174 Kekruten des 
Leib-Kürassier-Regiments Nr. 1 in Breslau, und handelt es sich nur um 
Kenntnisprüfungen, nicht Intelligenzprüfungen. Auf die Untersuchungen 
kann hier nicht näher eingegangen werden. Das Besultat ergibt einen Tief- 
stand des geistigen Inventars, eine solche Fülle nicht erwarteter Defekte 
in grofsem Prozentsatz, wie sie bisher in der psychiatrischen Literatur 
niemals angenommen wurde. Es folgt aus den vorliegenden Untersuchungen 
jedenfalls für die Psychiatrie, dafs eine reine Prüfung des Wissensdefektes 
nicht verwendbare Resultate ergibt, denn jeden Defekt des Wissens kann, 
man auch beim Gesunden erwarten. Aus der Art der Reaktion glaubt R. 
aber folgendes schliefsen zu dürfen: Aus der Art, wie die betreffenden 
Leute über ihren Besitzstand orientiert oder nicht orientiert sind, läfst sich 
vorsichtig eine Scheidung zwischen Begabten und Unbegabten machen., 
Wissen und Begabung will R. nicht irgendwie übereinbringen, findet aber 
doch nach den Tiefpunkten eine Übereinstimmung. Wer auffällig grofse 
Defekte, lange Gesam tunters uchungszeiten aufweist, ist meist auch im 
praktischen Leben dumm. Auf das Fehlen einiger wichtig erscheinender 
Begriffe, wie „Unterschied" und ,. Gegenteil" legt R. weniger Gewicht. Da- 
gegen scheint ihm bei der Beurteilung der Begabung wertvoll, wie weit die . 
Untersuchten verstehen, sich bei gleichen Begriffen aus einer gewohnten 
Denkrichtung in eine andere zu versetzen, z. B. beim Rückwärtsherzählen 
der Monate. Umfvekbach (Bonn). 



320 Literatvrbericht 

M. isssBLur. Assoiiattoisven«6lie M eii«m foreBsIseh begitoelitetom Falle ?oi 
epileptischer tteisteSftAnug. Monatuekr, f. Pgychiatrie u, Neurol, 18. Erghft. 
S. 419-446. 1905. 
Die Versuche sind dadurch von grolsem Interesse, dafs sie 6V2 Jahre 
auseinander liegen und sich im grofsen ganzen decken. Das für die 
Assoziations weise der Epileptiker Charakteristische findet sich auch hier: 
die Ärmlichkeit des Vorstellungsschatzes, Stereotypien und Perseverationen, 
der egozentrische Charakter der assoziativen Verbindungen etc. Auffallend 
ist auch in diesem Fall die grolse Einförmigkeit der Keaktion und die 
frappant hohe Zahl der Wiederholungsphftnomene. Fast durchweg wurde 
mit Adjektiven reagiert. Interessant ist, dafs eine beträchtliche Anzahl 
von Assoziationen in ganz gleicher Form nach BVs Jahren wiederkehren. 
Es kann sich hierbei natürlich nicht um eine mechanische Fixation handeln. 
Solche Reaktionen können nach I. nur als durch die spezielle Individualität 
bedingte aufgefafst werden. Umpfenbach (Bonn). 

W. V. Bbchtbbew. Ober elie Form der Ptraphisie. Monatsschr. f. Fsychiatrir 
u. Neural 18 (6), S. 525-632. 1905. 

Verf. weist hier an der Hand von zwei Krankengeschichten auf Fftlle 
von Paraphasie hin, die nicht selten die transkortikale Aphasie begleiten, 
jedoch auch selbständig auftreten können. Kranke dieser Art merken selbst 
nicht, wenn sie Worte verwechseln, dafs ihre Worte den Begriffen nicht 
entsprechen und anderen daher unverständlich sind. Solche Fälle möchte 
B. als transkortikale Paraphasien oder Dissymbolien unterscheiden. Hier 
ist der Sprachapparat der Kontrolle der Begriffe entzogen, es besteht also 
eine Störung der Leistungen, die die höchsten Begriffszentren mit den 
Sprachzentren verbinden. Die Sprache ist hier unbehindert, aber sie 
erscheint als eine Reihe sinnlos assoziierter, bisweilen auch falsch zusammen- 
gesetzter Wörter und bleibt deshalb anderen unverständlich. 

In den beiden Fällen von B. handelt es sich höchstwahrscheinlich 
um einen Erweichungsherd der linken Hemisphäre, wobei hauptsächlich die 
Leitungen zwischen den höheren Begriffszentren und dem motorischen 
Sprachzentrum betroffen sind, letzteres ist verschont geblieben. 

Umpfenbach (Bonn). 

H. Oppenheim. Psychotherapeutische Briefe. Berlin, Karger. 1906. 44 S 

Ein vortr^iches Büchlein für Nervöse und solche, die sich mit ihrer 
Behandlung zu befassen haben. Besser als es durch aligemein gehaltene 
Darstellungen und Anleitungen möglich sein dürfte, lehrt es das Wesen 
der Psychotherapie durch konkrete Beispiele kennen, nämlich durch eine 
Anzahl von Briefen an Patienten, in die vielfach die Auseinandersetzungen 
der Sprechstunde verwebt worden sind. Sie zeigen uns anschaulich, wie 
ein erfahrener und gebildeter Praktiker es anfängt, die Kranken von ihren 
Autosuggestionen oder den selbstgeschaffenen Folgen ihrer Eigenbeobachtung 
zu befreien, sie trotz ihres Widerstrebens wieder Glauben und Vertrauen 
zu sich selbst gewinnen zu lassen und ihnen dadurch ihre Leistungs- 
fähigkeit wieder zu geben. Ebbinohaus (Halle). 



321 



Beiträge zur speziellen Psychologie 
auf Grund einer Massenuntersuchung. 

Von 
G. Heymans und E. Wieesma. 

Zweiter Artikel. 

2. Oesehlechtsanlage und Erblichkeit. 

Das im vorigen Paragraphen zusammengestellte und geordnete 
Material gestaltet und erfordert eine weitere Bearbeitung. Schon 
eine oberflächliche Durchmusterung der auf die einzelnen Fragen 
dich beziehenden Zahlen läTst es nämlich als wahrscheinUch 
erscheinen, dafs, neben der väterhchen und mütterlichen Erblich- 
keit, noch ein weiterer selbständiger charakterbestimmender Faktor 
in der Geschlechtsanlage gegeben ist. Diese Wahrscheinlich- 
keit ist nicht schon unmittelbar in der Tatsache enthalten, dafs 
bestimmte Eigenschaften bedeutend öfter bei Männern als bei 
Frauen vorkommen und umgekehrt: denn es könnte ja sein, dafs 
solches einfach in dem Gegebensein gleicher Verhältnisse bei der 
älteren Generation, in Verbindung mit dem bereits festgestellten 
Überwiegen der gleichgeschlechtlichen Erblichkeit, begründet 
wäre. Dafs z. B. in den Familien, auf welche unsere Unter- 
suchung sich bezieht, von den Töchtern fast 61 "/oi von den 
Söhnen dagegen kaum 45 ^Iq als „emotionell^ (Frage 9) bezeichnet 
wurden, könnte einfach daran hegen, dafs auch die Mütter weit 
mehr emotionell sind als die Väter (59 '% gegenüber 45,5 %), und 
dafs nun jene Mütter ihre Emotionahtät vorzugsweise auf die 
Töchter, diese Väter ihre Nichtemotionalität vorzugsweise auf die 
Söhne vererbt hätten. Dafs sich aber die Sache nicht so einfach 
verhält, läfst sich aus den vorliegenden Ergebnissen, mit gröfserer 
oder geringerer Deutlichkeit, direkt nachweisen. Es würde 
nämlich die vorgetragene Erklärung nur dann als eine genügende 

Zeitschrift lür Psychologie 43. 21 



322 ö. Heytnans wid E. Wiersnia. 

anerkannt werden können, wenn (in dem angeführten BeiBpiel) 
das Übergewicht der emotionellen Töchter und der nicht- 
emotionellen Söhne ausschliefslich in den Familien mit über- 
wiegend emotionellen Müttern vorkäme, w&hrend in den (weniger 
zahlreichen) FamiUen mit überwiegend emotionellen Vätern auch 
die Söhne mehr emotionell wären, und zwischen den Söhnen 
und Töchtern aus Eltern von gleicher Emotionalität kein durch- 
gängiger Unterschied sich feststellen liefse. Eben dies ist aber 
nicht der Fall. Ohne Zweifel ist die betreffende Ungleichheit 
am gröfsten bei den Kindern von nichtemotionellen Vätern und 
emotionellen Müttern (Emotionalität bei 38^/© der Söhne, bei 
63% der Töchter); aber sie findet sich auch in den Familien» 
wo Vater und Mutter beide emotionell (62 % ^dl^ 71 7ti)i beide 
unsicher (36 % und 38 7o) oder beide nicht emotionell sind (36 \ 
und 49%); und sie fehlt selbst nicht bei den Kindern von 
emotionellen Vätern und nichtemotionellen Müttern (41 *7.i und 
61 *7o). Wir dürfen also mit Sicherheit schliefsen, dafs die Töchter 
aus den untersuchten Familien, auch abgesehen von der 
gröfseren oder geringeren Emotionalität der Väter 
und Mütter, in höherem Grade emotionell beanlagt sind als 
die Söhne; was vermutlich wohl auf entfernteren ErbUchkeits- 
beziehungen beruhen wird, aus den vorliegenden Daten aber 
nicht weiter erklärt werden kann. Und durchwegs analoge» 
wenn auch bald mehr bald weniger deutUch ausgesprochene 
Regelmäfsigkeiten ergeben sich, wenn wir die früher vorgeführten 
Tabellen durchmustern, in welchen die auf alle sonstige Fragen 
sich beziehenden Antworten zusammengefaTst worden sind. 

Aus diesem Sachverhalt ergibt sich nun die Frage, ob ea 
nicht möglich sein sollte, das Mafs zu bestimmen, in 
welchem einerseits die Geschlechtsanlage, ab* 
gesehen von allen direkten väterlichen und mütter* 
liehen Er blichkeitseinflüssen, und in welchem 
andererseits eben diese väterlichen und mütter^ 
liehen Erblichkeitseinflüsse die Entstehung be- 
stimmter Charaktereigenschaften mitbedingen. Diese 
Frage ist zustimmend zu beantworten. Halten wir uns für die 
vorläufige Orientierung wieder an das obige Beispiel, so ist zu* 
nächst klar, dafs, wenn erstens die vorliegenden Antworten 
unbedingt zuverlässig wären, und wenn zweitens keine anderen 
Einflüsse als Geschlechtsanlage und väterliche und mütterliche 



Beiträge zur apetieüen Psychologie auf Ghrund einer Maasenunter suchung. 323 

Erblichkeit auf die Charakterbildung eingewirkt hätten, die 
Frequenz, mit welcher in den einzelnen Gruppen emotionelle 
und nichtemotionelle Söhne und Töchter vorkommen, eine direkte 
zahlenmäfsige Bestimmung des Maises, in welchem jene drei 
Einflüsse gewirkt haben, gestatten würde. Wir dürfen nämlich 
annehmen, dafs in den Fällen, wo die Frage nach der Emotio- 
nalität weder für den Vater noch für die Mutter beantwortet 
worden ist, diese beiden sich ebensowenig nach der einen wie 
nach der anderen Richtung merkHch vom Durchschnitt entfernen * 
und also auch weder in der einen noch in der anderen Richtung 
den Grad der Emotionalität bei ihren Kindern durch Vererbung 
merklich beeinflufst haben. Es würden demnach in diesen Fällen 
(die Gruppe ?-? der Tabelle IX) unter den erwähnten Be- 
dingungen überhaupt keine Erblichkeitseinflüsse, sondern nur 
der Einflufs der Geschlechtsanlage wirksam sein, und das Mafs 
dieser Wirksamkeit würde sich aus den vorliegenden Zahlen 
direkt ablesen lassen. Sodann würden sich aus den Ergebnissen 
für andere Gruppen, wo entweder nur für den Vater oder nur 
für die Mutter die gestellte Frage beantwortet worden ist, mittels 
einfacher Subtraktion ebenso direkt die Wirksamkeit der Erblich- 
keitseinflüsse quantitativ bestimmen lassen; und aus den so 
gewonnenen Werten müfsten sich die für die übrigen Gruppen 
gewonnenen Resultate im voraus genau berechnen lassen. — Nun 
sind aber tatsächlich jene beiden Bedingungen gewifs nicht erfüllt : 
die Antworten werden teilweise subjektiv gefärbt sein, und es 
werden auf die Charakterbildung, aufser Geschlechtsanlage und 
Erblichkeit, noch viele andere Faktoren eingewirkt haben; auch 



^ Diese Annahme scheint uns gestattet, weil erstens unsere Bericht- 
erstatter ausdrücklich ersucht wurden, sich zur Beschreibung eine Familie 
auszuwählen, deren Mitglieder in zwei Generationen sie genau kannten, 
und weil zweitens auch in der Tat fast überall die Anzahl der beantworteten 
Fragen eine genaue Bekanntschaft mit der betreffenden Person beweist; 
demzufolge denn in den meisten Fällen das Unbeantwortetlassen einer 
Frage wohl als ein Zeichen dafür gelten darf, dafs bei der betreffenden 
Person wenigstens stärkere Ausschläge nach einer oder der anderen Seite 
sich nicht feststellen llefsen. Sollte aber auch in einigen Fällen das Fehlen 
einer Antwort auf völliger Unkenntnis der Sachlage in bezug auf die gestellte 
Frage beruhen, so ist von diesen Fällen doch anzunehmen, dafs sie ent- 
weder in die grofse Masse der anderen verschwinden, oder dafs die darin 
vorliegenden Abweichungen vom Durchschnitt sich nach dem Gesetze der 
grofsen Zahlen kompensiert haben. 

21* 



324 ö- Heymans und E. Wiersma. 

ist von allen diesen störenden Umständen zwar zu erwarten, dafs 
sie sich im grofsen und ganzen, nicht aber, dafs sie sich voll- 
ständig und exakt kompensiert haben. Unter diesen Umständen 
läfst sich also in bezug auf das Mafs der Wirksamkeit der drei 
bekannten Faktoren keine volle Gewifsheit, sondern nur eine 
gröfsere oder geringere Wahrscheinlichkeit erzielen: es ist für 
jede der 9 vorliegenden Gruppen auf Grund der Untersuchungs- 
ergebnisse eine Gleichung aufzustellen, und es sind dann aus 
diesen 9 Gleichungen die walirscheinlichsten Werte der drei darin 
vorkommenden Unbekannten nach der Methode der kleinsten 
Quadrate zu berechnen. Für sämtliche Fragen, welche, wie die 
vorliegende, zwischen zwei entgegengesetzten Abweichungen vom 
Durchschnitt die Wahl lassen, findet diese Berechnung folgender- 
weise statt: 

Mit dem Namen Geschlechtsanlage bezeichnen wir 
die mit dem Geschlecht gegebene stärkere oder 
schwächere Anlage zumAuftreten einer bestimmten 
Eigenschaft, und messen dieselbe durch die hypothetisch zu 
ermittelnde relative Häufigkeit, in welcher jene Eigenschaft bei 
den Angehörigen des betreffenden Geschlechts auftreten würde, 
wenn alle sonstigen das Auftreten dieser Eigenschaft oder ihres 
Gegenteils begünstigenden Einflüsse fehlten (den Geschlechts- 
koeffizienten G). Ebenso nennen wir väterlichen bzw. 
mütterlichen Erblichkeitseinf lufs die Verstärkung 
oder Abschwächung, welche jene Anlage durch das 
Vorkommen der betreffenden oder der entgegen- 
gesetzten Eigenschaft beim Vater bzw. bei der 
Mutter erfährt, und messen dieselbe durch die Zu- oder Ab- 
nahme jener auf der Geschlechtsanlage beruhenden Häufigkeit, 
welche in denjenigen Fällen, wo der Vater bzw. die Mutter die 
betreffende oder die entgegengesetzte Eigenschaft besitzt, bei 
Abwesenheit aller sonstigen das Auftreten dieser Eigenschaft oder 
ihres Gegenteils begünstigenden Einflüsse sich ergeben würde 
(väterlich er bzw. mütterlicher Erblichkeitskoeffi- 
zient V3I). Durch Hinzufügung eines kleinen « oder t zu den 
betreffenden Buchstaben deuten wir an, dafs es sich speziell um 
die Geschlechts- oder Erblichkeitsverhältnisse bei den Söhnen 
bzw. bei den Töchtern handelt: es stellt also beispielsweise 
Gt den Geschlechtskoeffizienten bei den Töchtern, Ms den mütter- 
lichen Erblichkeitskoeffizienten bei den Söhnen vor. Endlich 



Beiträge zur spezielleti Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung. 325 

soll p für je eine der Gruppen von Familien, welche wir früher 
überall in bezug auf jede Eigenschaft unterschieden haben, die 
Anzahl der Söhne bzw. Töchter vorstellen, bei welchen die 
betreffende Eigenschaft nach den Ergebnissen unserer Enquete 
tatsächlich vorkommt, und n die Gesamtanzahl der Söhne bzw. 
Töchter aus dieser Gruppe. Dann gelten, wenn wir die Gruppen 
in der nämlichen Ordnung vorführen, wie in Tabelle IX und in 
den sonstigen gleich eingerichteten Tabellen geschehen ist, all- 
gemein folgende Bedingungsgleichungen (in welchen, je nachdem 
sich die Untersuchung auf die Söhne oder auf die Töchter 
richtet, nach obigem die Buchstaben (r, V und M noch mit dem 
Zeichen s oder t zu versehen sind): 



G-\-V — M= 
G-\-V = 






2 



* 



n, 



's 



G—V-{-M=^* 

G — V = ^« 

n. 

G +M= 



'» 

w, 
G -M=^ 

G =-^ 

Mittele einer einfachen Berechnung ergeben sich hieraus 
(wenn dem verschiedenen Gewichte der vorliegenden Daten durch 
Multiplikation der Glieder je einer Gleichung mit dem ent- 
sprechenden y'n Rechnung getragen wird) die Normalgleichungen : 

(i:n)G + (n,+n,4-n,-n, -«g — n.) V + 

+ (»I +»» + «e — »4 — »»7 — »9) -M'= ^P 
(n, +n, +«4 — n, -«g — »»») G^+ (»i +"« +«i+»»« + «» +«») ^+ 
+ (♦»! - «4 — «« + «!.) ^=Pi +Pi +P4 -P«—Ps —P» 

(«l+»»8+»a — «4 -«7 — »:.) G+(«, —»4 — «6+»»») ^ + 

+ («1 + »« + »4 -f «e + »7 + «») ^ = Pi +P» +1»« —Pi —P: - P» 



326 (^' Heymaru und E. Wiertma. 

welche ohne weiteres die Ermittlung der wahrscheinlichsten 
Werte von 6?, F und M gestatten. 

Wie oben bemerkt wurde, gilt dieses Schema nur für die- 
jenigen Fragen, welche zwischen zwei entgegengesetzten 
Eigenschaften die Wahl lassen (1, 2a, 2b, 3, 5, 8, 9, 10, 12, 
13, 14, 15 a, 15 b, 16, 17, 19, 20, 22, 25, 26, 27 a, 28, 29, 30, 31, 
32, 34, 37, 39, 40, 42, 44, 46, 47, 48, 50, 54, 58, 59, 66, 67, 68, 
69, 73, 74 a, 74 b, 83, 84, 85, 89 a, 89 b und 89 c); für die anderen, 
welche nur nach dem Vorkommen einer Eigenschaft sich 
erkundigen (4, 24, 38, 51b, 75, 76, 78, 79, 81, 88b und 90) wird 
die Sache bedeutend einfacher, da hier nur vier Gruppen v<hi 
Familien zu unterscheiden sind, und demnach auch nur vier 
Bedingungsgleichungen aufgestellt werden können: 

G =?^ 

aus welchen folgende Normalgleichungen hervorgehen: 

(v^T) G + K + n,) V+{n,-^ v^)M=2p 
(n, +n,)6 + (n, +n,) V + n, M =A +Ä 
(n, +n3)(? + w, V-\-in,+n^)M = p, + p. 

Dagegen wird die Sache komplizierter bei denjenigen Fragen, 
welche zwischen mehr als zwei Eigenschaften die Wahl 
lassen (6, 7, 11, 18, 21, 27b, 35, 41, 43, 45, 49, 51a, 52, 53, 55, 
56, 57, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 70, 71, 72, 77, 80, 82, 86, 87 und 88 a). 
Hier würde eigentlich, je nach der Anzahl jener Eigenschaften, 
eine Berechnung mit 7, 9 oder mehr Unbekannten stattfinden 
müssen; es läfst sich aber, um Zeit und Mühe zu ersparen, das 
Problem in mehrfacher Weise vereinfachen. Wenn nämlich, 
wie meistenteils der Fall ist, jene Eigenschaften eine Stufenreihe 
bilden, so kann man (wie bereits in unserer früheren Abhand- 
lung geschehen ist) entweder die Vertreter der Mittelstufe den 
Fraglichen beizählen und blofs die äufseren Stufen einander 
gegenüberstellen (z. B. Fr. 43: aufsergewöhnliches — gutes oder 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Qrund einer Massenuntersuchung, 327 

fragliches — schlechtes Gedächtnis), oder die Abweichungen 
vom Durchschnitt nach einer Seite zusammenzählen und sie 
den Abweichungen vom Durchschnitt nach der anderen Seite 
gegenüberstellen (z. B. Fr. 61: demonstrativ — fraglich — ver- 
schlossen oder Heuchler; Fr. 61a: geizig oder sparsam — frag- 
lich — flott in Geldsachen oder verschwenderisch). Die erstere 
Methode wird offenbar den Vorzug verdienen, wo die beiden 
äufseren Stufen gleich zahlreich, die zweite, wo eine derselben 
nur durch wenige Individuen vertreten ist; beide machen es 
möglich, kompliziertere Fälle auf das erstere der obigen Schemata 
zurückzuführen. — Aufserdem können aber die betreffenden 
Fälle noch in einer anderen Weise der Rechnung zugängUch 
gemacht werden, nämlich so, dafs man abwechselnd je eine der 
Eigenschaften, welche in der Frage unterschieden werden, für 
die Gruppenbildung ausschliefsUch in Betracht zieht; also jedes- 
mal 4 Gruppen unterscheidet, je nachdem die in Betracht ge- 
zogene Eigenschaft bei beiden Eltern, beim Vater, bei der Mutter 
oder bei keinem der Eltern vorkommt, und dann für jede der 
unterschiedenen Eigenschaften gesondert untersucht, in welcher 
Häufigkeit sie bei den Kindern aus jeder Gruppe sich findet. 
Unterscheidet also die Frage zwischen n Eigenschaften, so 
kommen n- Sätze von je 4 Bedingungsgleichungen heraus, 
welche nach dem oben an zweiter Stelle dargestellten Schema 
zu behandeln sind. — Wie leicht ersichtlich, hat diese letztere 
Methode im Vergleiche mit der ersteren den Vorteil, dafs sie 
eine detailliertere Einsicht in die vorliegenden Verhältnisse ge- 
stattet; dagegen den Nachteil, dafs sie mit kleineren Anzahlen 
arbeitet und demnach weniger zuverlässige Resultate verspricht. 
Wir haben tiberall, wo die Fragestellung es ermöglichte, die 
beiden Methoden in Anwendung gebracht, um die Ergebnisse 
der einen dru^ch diejenigen der anderen kontrolheren zu können ; 
im Interesse der Raumersparnis und der Übersichtlichkeit sind 
aber im folgenden meistenteils nur die Resultate der ersteren, 
gröberen aber zuverlässigeren Methode mitgeteilt, und diejenigen 
der zweiten nur dann hinzugefügt worden, wenn sie irgendwie 
geeignet erschienen, über die vorliegenden Verhältnisse ein 
klareres Licht zu verbreiten. 

Endlich gibt es noch drei Fragen (23, 33, 36), in bezug auf 
welche besondere Umstände vorliegen (für 23 der Mangel an 
Daten für die mütterliche ErbUchkeit, für 33 und 36 der Einflufs 



328 ö^- Heymans und E. Wiernma. 

von Anlagen oder Erzähltalenten anderer Art als die eben unter- 
suchten), infolge deren eine etwas modifizierte Problemstellung 
nötig wurde; wir kommen darauf an Ort und Stelle zurück. 

Schliefslich ist noch zu bemerken, dafs wir nach obigem 
überall, wo das neungliedrige Schema (S. 325) Anwendung fand, 
die hereditären Wirkungen entgegengesetzter Eigenschaften (wie 
etwa emotionell und nichtemotionell) als gleich und entgegen- 
gesetzt betrachtet haben; also von der Annahme ausgegangen 
sind, dafs beispielsweise ein emotioneller Vater die Chancen 
seiner Kinder auf Emotionalität um gleichviel steigert, wie ein 
nichtemotioneller Vater diese Chancen herabdrückt. Die jedes- 
mal für F und M gefundenen Werte beziehen sich also nur auf 
den Durchschnitt aus diesen beiden Wirkungen; wir haben ge- 
glaubt, uns mit diesem Durchschnitt begnügen zu müssen, um 
nicht genötigt zu sein, wieder mit zu kleinen Gruppen zu ar- 
beiten. 

Wir gehen jetzt dazu über, in bezug auf die einzelnen 
Fragen (für deren Wortlaut jedesmal nach der betreffenden 
Seite aus unserem ersten Artikel in Bd. 42 dieser Zeitschrift ver- 
wiesen wird) die für ff, F und M erhaltenen Werte in Reih und 
Glied geordnet vorzuführen. Die den betreffenden Angaben vor- 
hergeschickten Worte „Methode I" bzw. „Methode II" bedeuten, 
dafs die Berechnung nach dem oben S. 325 angegebenen neun- 
gliedrigen bzw. nach dem S. 326 angegebenen viergliedrigen 
Schema stattgefunden hat. 

I. Bewegungen und Handeln. 

Frage 1 (Bd. 42, S. 87). Methode I 

beweglich und geschÄftig: Gs = 0,461 Gt = 0,480 

y, = 0,108 Vt = 0,078 

Mm ■= 0,061 Mt = 0,071 

gesetzt und ruhig : G» = 0,610 Gt = 0,472 

F* = 0,080 Yt = 0,068 

M, = 0,045 Mt = 0,078 

Das bedeutet also: von den Söhnen sind, abgesehen von 
direkten Erblichkeitseinflüssen, 46,1 % zur Beweglichkeit und 
51 " zur Ruhe, von den Töchtern 48 7« zur Beweglichkeit und 
47,2 ®/„ zur Ruhe veranlagt. Die Anlage zur Beweglichkeit er- 
höht sich, wenn der Vater bzw. die Mutter beweglich ist, bei 
den Söhnen mit 10,8 bzw. 6,1 "/o, bei den Töchtern mit 7,8 bzw. 



Beiträge zur speziellen PsycJiologie auf Grund einer Massenuntersuchung. 329 

7,1^/0; und ebenso die Anlage zur Ruhe, wenn der Vater bzw. 
die Mutter ruhig ist, bei den Söhnen mit 8 bzw. 4,5 7oi und bei 
den Töchtern mit 6,8 bzw. 7,8 7,, • 

Von Geschlechteswegen sind also die Söhne etwas mehr zur 
Ruhe, die Töchter etwas mehr zur Beweglichkeit veranlagt. Dem 
entsprechen die Prozentsätze, welche sich aus dem unverarbeiteten 
Gresamtmaterial ergeben: 

Von den Vätern sind 36®/o beweglich, 58% ruhig 



„ „ Müttern „ 


38% 


n 


66% 


„ „ Söhnen „ 


420/0 


n 


54% 


. n t, Töchtern „ 


«•/. 


n 


50% 


Von s&mtlichen Mftnnern „ 


40 »/o 


n 


'66% 


„ „ Frauen „ 


42«/, 


n 


52% 



Die väterlichen und mütterUchen Erblichkeitskoeffizienten 
verhalten sich, wie auf Grund unserer früheren Untersuchung 
(Bd. 42, S. 88) zu erwarten war: es herrscht überall, mit Aus- 
nahme der Vererbung der Beweglichkeit auf die Töchter, die 
gleichgeschlechtliche Erblichkeit vor. Wir werden auf diese 
(mehr oder weniger vollständige) Übereinstimmung zwischen den 
früher direkt aus dem Rohmaterial, jetzt durch Berechnung ge- 
wonnenen Ergebnissen nicht jedesmal wieder zurückkommen, 
sondern nur bedeutendere Abweichungen verzeichnen. 

Frage 2 (Bd. 42, S. 89). 

a) Mafs der Tätigkeit (s. Bd. 42, S. 89 ') Methode I 

eifrig: Gm = 0,480 Gt = 0,53ö 

Vb = 0,138 Vi = 0,053 

Mm = 0,081 Mt = 0,169 

faul: a. = 0,155 Gt = 0,151 

Vm = 0,033 Vt = 0,024 

Mm = 0,045 Mt = 0,070 



* Dafs bei der vorliegenden Frage nicht mit Unrecht, statt eine ein- 
fache Stufenfolge stets eifrig — zeitweise eifrig — fanl anzunehmen, die 
zweifache Unterscheidung nach Mafs und Konstanz der Tätigkeit eingeführt 
wurde, erhellt aus den nach Methode II gewonnenen Zahlenwerten. Die- 
selben weisen aus, dafs die Faulheit der Eltern in weit gröfserem Mafse 
die Wahrscheinlichkeit zeitweise eifriger, als die Wahrscheinlichkeit stets 
eifriger Kinder herabsetzt; sowie auch, dafs die Stets-eifrigkeit der Eltern 
weit mehr die Gefahr vermindert, zeitweise eifrige, als die andere, faule 
Kinder zu bekommen. 



s. 


n 


61% 


yt 


,, 22»/. 


T. 


tt 


12% 


» 


« 17% 


Mä. 


M 


1S% 


J> 


.. 18% 


Fr. 


7t 


78% 


w 


.; 1*% 



330 (r. Heymans utid E. Wierama. 

b) Konstanz des Maises der Tätigkeit. Methode I 

steto eifrig oder faul : Qg = 0,638 Gt = 0,690 

Vi = 0,116 Vi = 0,046 

Ms = 0,030 Mt = 0,086 

zeitweise eifrig: G$ = 0,327 Gt = 0,282 

Vs = 0,110 7/ = 0,064 

Ms = 0,023 Mt = 0,081 

Es zeichnen sich also die Töchter vor den Söhnen sowohl 
durch ein gröfseres Mafs der Tätigkeit wie durch eine gröfsere 
Konstanz dieses Mafses aus, was den aus dem Rohmaterial zu 
gewinnenden Projentverhältnissen entspricht: ' 

von den V. sind 86% stets eifrig, 9% zeitweise eifrig, S% faul 
„ „ Mü. „ 87 /^ „ „ 9 /o „ „ 1 Iff „ 

7®'* 

7 0/ 
» »> * /o »f 

„ 5% „ 



Frage 3 (Bd. 42, S. 90). Methode I 

beschäftigt: Gs = 0,437 Gt = 0,582 

Vs = 0,101 7< = 0,036 

Ms = 0,064 Af« = 0,095 

bequem: Gs = 0,475 Gt = 0,350 

7, = 0,068 Vt = 0,028 

Ms = 0,072 3f< = 0,083 

Übereinstimmend die Prozentsätze aus dem Rohmaterial: 

von den V. sind 62% beschäftigt, 29 \ bequemlich 
., „ Mü. „79% . 14% 

41% 

36 o/o 

I» 23 /o „ 

Frage 4 (Bd. 42, S. 91). Methode II 

vernachlässigen verpflichteter Arbeiten: Gs = 0,171 Gt = 0,091 

Vs = 0,086 Vt = 0,069 

Ms = 0,138 Mi == 0,175 



s. 


f> 


52 0/. 


T. 


>» 


65»;, 


Mä. 


>» 


6&% 


Fr. 


i> 


70% 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Orund einer Massenunter suckung. 331 



Prozentsätze aus dem Kohmaterial : 

von den V. sind 10% geneigt, verpflichtete Arbeiten zu vernachlässigen 
„ „ Mü. „ 4^,0 



S. 
T. 

Mft. 
Fr. 



18% 
11% 

15% 

8% 



Frage 5 (Bd. 42, S. 91). Methode I 

aufschieben : G» = 0,408 0/ = 0,340 

Vs = 0,052 Vt = 0,035 

Ms = 0,027 Mt = 0,107 

angreifen: G» = 0,418 Gt = 0,491 

V» = 0,081 Vt = 0,037 

M, = 0,072 Mt = 0,151 



Aus dem Rohmaterial; 
von den V. sind 28% geneigt zum Aufschieben, 63% zum Angreifen 



Mü. 

S. 
T. 

Mä. 
Fr. 



18% 

37% 
27% 

32% 

24% 



67 "/o „ 

49% „ 

&8% „ 

54% „ 

62% „ 



Frage 6 (Bd. 42, S. 92). Methode I 

leichtverzagt: G^, = 0,239 G/ = 0,239 

F. = 0,077 Vi = 0,066 

M» = 0,012 Mt = 0,139 

starrsinnig: G» = 0,201 Gt = 0,171 

r, = 0,065 Yt = 0,020 

M, = 0,043 Mt = 0,017 ^ 



Die nahezu gleiche Tendenz der beiden Geschlechter zum 
Leichtverzagtsein und die gröfsere Tendenz des männlichen Ge- 
schlechts zum Starrsinn werden durch die aus dem Rohmaterial 
gewonnenen Prozentverhältnisse bestätigt : 



^ Die Berechnung nach Methode II weist aus, dafs in der Tat zwischen 
„leichtverzagt" und „starrsinnig" d^r deutlichst ausgesprochene Gegensatz 
vorliegt. 



„ Mü. 


„ 24»/. 


„ 8. 
» T. 


„ 24«/, 
„ 26«/, 


,. Mft. 
„ Fr. 


„ 24% 
„ 25»/, 



13«/. 




19% 




17 7. 




IS«/. 




15% 




G,= 


0.471 


Vt = 


0,083 


Mi = 


0,094 


G, = 


0,420 


Vt = 


0,077 


M,= 


0,100 



332 6?. Heynians und E. Wiersma. 

von den V. sind 23% leichtverzagt, 46% beharrlich, 16% starrsinnig 

45 % 

42 «0 
42 0/, 

» 43 /o „ 

>} 43 /q „ 

Frage 7 (Bd. 42, S. 93). Methode I 

impulsiv : Gs = 0,414 
Vs = 0,098 
Ms = 0,042 

bedächtig oder Prinzipienmensch ^ : 0$ = 0,486 

Vm = 0,104 
Ms = 0,065 

Prozentsätze aus dem Rohmaterial: 

von den V. sind 27% impulsiv, 56% bedächtig, 11% Prinzipienmensch 
„ „ Mü. „ 39% „ 44% „ 5% 

„ „ 8. „ 37% „ 47% „ -7% 

„ „ T. „ 44% „ 39% „ 6% 

„ „ Mä. „ 34% „ 50% „ 8% 

V „ Fr. „ 42% „ 41% „ 6% 

Frage 8 (Bd. 42, S. 94). Methode I 

resolut: G, = 0,478 Gt = 0,508 

Vs = 0,082 . Vt =- 0,117 

M» = 0,038 Mt = 0,089 

unentschlossen f 6?« = 0,307 Gt = 0,311 

F« = 0,067 Vt = 0,083 

Ms = 0,025 Mt = 0,090 

Prozentsätze aus dem Rohmaterial: 

von den V. sind 61 % resolut, 29 % unentschlossen 



Mü. 


>» 


49% 


» 


30% 


S. 


»> 


60% 


» 


29% 


T. 


w 


5B% 


9^ 


27% 


Mä. 


f1 


60% 


i> 


29% 


Fr. 


iJ 


53 7o 


J> 


28% 



* Die Zusammenfassung dieser beiden Gruppen wird durch die nach 
Methode II gewonnenen Zahlenwerte gerechtfertigt, indem sich heraus- 
stellt, dafs die Bedächtigkeit der Eltern der Impulsivität der Kinder ent- 
gegenwirkt, dagegen ihrer Grundsätzlichkeit eher förderlich ist, und um- 
gekehrt. 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Chruiid einer Massenuntersuchung. 333 



Wie man sieht, ist die gröfsere Resolutheit der Frauen aus- 
schhefslich ein Privilegium der jüngeren Generation. 

IL Gefühle. 
Frage 9 (Bd. 42, S. 95). Methode I 



emotionell : G« » 0,423 
?, = 0,107 
M, = 0,065 

nicht emotionell: G» = 0,443 
Vs = 0,089 
Ms = 0,059 

Aus dem Rohmaterial: 



Gl = 0,574 
Vi = 0,061 
Mt = 0,077 
Gl = 0,300 
Vt = 0,037 
Mt = 0,048 



von den V. sind 46% emotionell, 38®/o nicht emotionell 
Mü. „ 590/0 „ 25% „ 

S. „ 45% „ 41% „ 

T. „ 61% „ 28% „ 

Mä. „ 45% „ 400/0 „ 

Fr. „ 60 0/0 „ 270/, „ 



Frage 10 (Bd. 42, S. 95). Methode I 

heftig : 



kühl und sachlich: 



G, = 0,428 
Vs = 0,083 

Ms = 0,074 

Gs = 0,417 
Vs = 0,091 

Ms = 0,091 



Gt = 0,427 
Vt = 0,066 
Mt = 0,070 

Gt = 0,353 
Vt = 0,076 
Mt = 0,107 



Die nahezu gleiche Anlage beider Geschlechter zur Heftig- 
keit, und die stärkere Anlage des männUchen Geschlechts zur 
Kühle und Sachlichkeit im Gespräch werden durch die aus dem 
Bohmaterial gewonnenen Prozentzahlen bestätigt: 

von den V. sind 40 o/^, heftig, 41 0/^ kühl und sachlich 



Mtt. 

S. 
T. 

Mä. 
Fr. 



38 0/0 

43% 
43% 
42 0^ 
41% 



36% 

42% 
36% 

42% 



Frage 11 (Bd. 42, S. 96). Methode I 



reizbar : 



Gs = 0,412 
Vs = 0,058 
Ms = 0,069 



Gt = 0,449 
Vt = 0,067 
Mt - 0,041 



334 ^' Heymans und E. Wienma. 

^tmütig oder nicht in Zorn zn yersetzen*: 

G, r= 0,490 Gt = 0,477 

V, = 0,064 Vt = 0,066 

M, = 0,072 Mt = 0,067 

Die Prozentsätze ans dem Rohmaterial lassen vermuten, dais 
die stärkere Anlage der Franen zur Reizbarkeit sich auf die 
jüngere Greneration beschränkt: 

von den V. sind 41 % reisbar, 49 % gatmfltig, 2 ® ^ nicht in Z. zu yersetzen 

„ ., Mü. „ 37 /u ^ 52 „ 3 ,Q „ n n n » 

SQQ Ol AQ 0/ 9 0' 

T Üio/ IAO' 9 Of 

,, „ Fr. „ 41 • o f> 49 ^ ^ 2 /q 



ft IT » 



Frage 12 (Bd. 42, S. 97). Methode I 

kritisch: G, = 0,414 Gt = 0,408 

F. = 0,082 Vi = 0,031 

AT, = 0,060 Mt = 0,053 

idcaliflierend: Gs = 0^247 G< = 0,312 

V, = 0,089 Vi = 0,030 

3f, = 0,039 Mt = 0,059 

Aus dem Rohmaterial: 

von den V. sind 36 % kritisch, 33 % idealisierend 

„ „ Mü. „ 34 % „ 37 •/o „ 

Jt **■ /O »I ^^ lo » 

« >.> T. „ 41 /o „ 31 /© „ 

„ „ Ma. „ 400/, „ 28% 

Frage 13 (Bd. 42, S. 98). Methode I 

mifstranisch: G* = 0,238 Gi = 0,234 

F, = 0.069 Vt = 0,043 

Jf, = 0,034 Mt = 0,053 

gntglänbig: G, = 0,371 Gr = 0,406 

F. = 0,132 Vt = 0,080 

J6 = 0,056 Mt = 0,072 



^ Methode II ergibt Zahlenwerte, nach welchen das 6ar-nicht-in-Zorn« 
zn-versetsen-sein sich fast ebeBSo nahe mit der Reisbarkeit wie mit der 
Gutmütigkeit berühren würde. Doch ist bis auf weiteres ammnehmen, daÜB 
dieses Resultat nur der sehr geringen, störenden Umständen einen groisen 
EinfluTs gestattenden Anzahl (29) der Angehörigen jener ersteren Gruppe 
zuzuschreiben sein wird. 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Qrund einer Massenuntersuchung. 335 



Aus dem Rohmaterial: 

von den V. sind 17% miTstranisch, 43 \ gutgläubig 
„ „ Mü. „ 26% „ 47% 



S. 
T. 

Mft. 
Fr. 



21% 
21% 
20% 
23% 



42% 
44% 

42% 

45% 



Frage 14 (Bd. 42, S. 98). Methode I 



tolerant: G» = 0,6ö2 
V» = 0,072 
M* = 0,129 

intolerant: Gs = 0,192 
Vi = 0,046 
Mi = 0,099 



Gt = 0,686 
Vt = 0,053 
Mt = 0,104 

Gt = 0,113 
Vt = 0,017 
Mt = 0,040 



Au8 dem Rohmaterial: 



von den V. sind 82% tolerant, 10% intolerant 
„ „ Mü. „ 79% „ 11% 

w >i T. „ 79 % „ 7 % „ 

„ „ Mä. „ 80«/o „ 9% 

„ „ Fr. „ 79% „ 8% 



Frage 15 (Bd. 42, S. 99). 

a) Eonstauz oder Wechsel der Stimmung (s. Bd. 42, S. 100). 
Methode I 



wechselnd: G» = 0,371 
Vm = 0,051 
Mi = 0,063 

konstant: Gs = 0,597 
Vi = 0,056 
Mi = 0,055 



Gt = 0,363 
Vt = 0,070 
Mt = 0,049 

Gt = 0,624 
Vt = 0,063 
Mt = 0,050 



b) Vorwiegen von Lust- oder Unluststimmungen. Methode I 



heiter: Gs = 0,293 
Vi = 0,138 
Mi = 0,113 

schwermütig : Gi = 0,053 
Vi = 0,013 
Mi = 0,024 



Gt = 0,359 
Vt = 0,164 
Jf< = 0,168 

Gt = 0,055 
7/ = 0,019 
Mt = 0,021 



336 ^- Seymans und E. Wiersma. 

Hiermit übereinstimmend ergibt die direkte Untersuchung 
des Rohmaterials eine gröfsere Frequenz der Heiterkeit bei den 
Frauen, und eine gleiche Frequenz des Stimmungswechsels bei 
beiden Geschlechtern in der jüngeren Generation ; aufserdem ein 
merkliches Überwiegen der gleichmäfsig ruhigen Stimmung bei 
den Männern: 

von den V. sind 31 ^/^ heiter, 4 % schwermütig, 35 ®/o wechsehid, 28 ^/o ruhig 



., ,. MO. 


,. 34% 




6% 


V 


29% 


25 o/o 


„ ,. s. 


.. 37 0/0 




^•o 


»» 


33»^ 


2-2 0/0 


»J JT -*•• 


„ ^So/o 




4% 


?' 


330/0 


16«/. 


„ „ M». 


„ 350/0 




4% 


»t 


34o;o 


24o,„ 


,. „ Fr. 


„ 41*/. 


t» 


5% 


»» 


31»/« 


200/o 



Interessant sind hier die Ergebnisse der Methode 11. Die- 
selben weisen aus, dafs die Heiterkeit bei den Aszendenten nicht 
nur der Schwermut, sondern auch der wechselnden und der 
gleichmäfsig ruhigen Stimmung bei den Deszendenten ausnahms- 
los entgegenwirkt, während umgekehrt die Schwermut bei den 
Aszendenten nicht nur die Schwermut, sondern auch die 
wechselnde und die gleichmäfsig ruhige Stinmiung bei den Des- 
zendenten begünstigt, und nur zur Heiterkeit im ausgesprochenen 
Gegensatze steht. 

Frage 16 (Bd. 42, S. 101). Methode I 

ängstlich : Gs = 0,257 Gt = 0,251 

Vm = 0,094 Vt = 0,126 

Ms = 0,047 Mt = 0,085 

leichtmütig: Gs = 0,443 Gt =^ 0,382 

Vs = 0,082 Vt =- 0,078 

Ms = 0,071 Mt = 0,063 

Prozentsätze aus dem Rohmaterial: 

von den V. sind Sd\ ängstlich, 28®/o leichtmütig 
„ „ Mü. „ 37 «/o „ 23% 



s. 


»» 


270/0 


W 


430/0 


T. 


>» 


270/0 


?» 


370/0 


Mä. 


f> 


300/0 


11 


38»/. 


Fr. 


iy 


31"/. 


11 


32»/. 



Beiträge z%ir apeeieüef^ Ftychologie auf Grund einer Maasenuntersuchung. 887 



III. Sekundärfünktion. 
Frage 17 (Bd. 42, S. 102). Methode I 



schnell getrOstet: Q$ = 0,384 
7* = 0,137 
M, = 0,114 

Unge unter dem Eindruck: G» = 0,168 

Vs = 0,064 
Ms = 0,061 

Prozentsätze : 



Gt = 0^19 

Vt = 0,106 

Mt = 0,092 

Gt = 0,250 
Vi = 0,066 
Mt = 0,077 



«von den V. sind 46 % schnell getröstet, 21 % lange unter dem Eindmek 
„ „ Mü. „ 29% „ „ 43% „ 

n ,. 8. „ 400/, ^ ^^ 16 0/^ ,, 

„ „ M&. „ 42% „ „ 18% „ 

„ „ Fr. „ 32% „ „ 31% „ 

Frage 18 (Bd. 42, S. 102). Methode I 



sogleich versöhnt: G$ = 0,437 
7. = 0,126 
Mi = 0,093 



Gt = 0,446 

Vt = 0,096 

Mt = 0,083 



«inige Zeit verstimmt oder seh werversöhnlich ^ : 

G, = 0,434 Gt = 0,431 

Vi = 0,130 Vt = 0,102 

Mi = 0,097 H^ = 0,083 

Die m diesen Zahlen sich ausdrückende gröfsere VersöhnUch- 
keit des weiblichen Geschlechtes läTst sich am Rohmaterial nur 
bei der jüngeren Generation feststellen: 



' Die Berechnung nach Methode II weist ans, dafs die Noch-einige- 
Zeit- Verstimmten und die Schwerversöhnlichen zusammengehören, dem* 
entsprechend wir die frühere Zusammenschlagnng der Verstimmten mit 
4en Fraglichen (Bd. 42, S. 103) durch die im Texte gebotene Kombination 
-ersetzt haben. Jene Kombinationsweise ergibt folgende Zahlen : 



sogleich versöhnt ; Gt = 0,361 
Vi = 0,140 
Mi = 0,147 

schwerversöhnlich : G« = 0,170 
Vi = 0,081 
Mi = 0,036 
Zeitschrift für Psychologie 43. 



Gt = 0,382 
Vt = 0,114 
Mt == 0,093 
Gt = 0,169 
Vt = 0,079 
Mt = 0,064 



22 



888 



G, Heymans und E, Wiersma. 



Ton den V. sind 42 % sogleich versöhnt, 29 % noch einige Zeit verstimmt 



Mü. 


» 


38»/. 


» it 


33% „ 


»» 


8. 


»» 


41'/. 


tt V 


31% „ 


M 


T. 


t> 


43«/. 


11 » 


31% „ 


»» 


Mä. 


»> 


42% 


1) 11 


30% „ 


»> 


Fr. 


ti 


41% 


11 11 


32% „ 


JT 








20% BchwerrersOhnlich 










17% 


l> 










14% 


>» 










13% 


11 










16% 


»» 










15% 


•> 




age 


19 (Bd. 


42, S. 103). 


Methode I 




wechselnd : 


G, = 0,221 


Oi = 


0,270 








V, = 0,034 


Vi = 


0,039 








M, = 0,041 


M,= 


0,061 


beharrlich : 


O, = 0,541 


Gt = 


0,589 








V. = 0,077 


Vt = 


0,070 








M, = 0,117 


M,= 


0,095 



Dem Rohmaterial zufolge gilt die gröfsere Beharrlichkeit der 
Frauen in ihren Zuneigungen nur für die jüngere Generation: 

von den V. sind lb% wechselnd, 74<>/o beharrlich 
„ „ Mü. „ 20«/o „ 660/, 

„ „ S. „ 18 0/0 „ 65 0/, 

„ „ T. „ 22 o/o „ 67 0/, 

„ „ Mä. „ 17*/o „ 68 0/, 

„ „ Fr. „ 210/, „ 66 0/, 



Frage 20 (Bd. 42, S. 104). Methode I 



alte Erinnerangen : Gg = 0,353 

Vm = 0,102 

16 »0,065 

neue Eindrücke: Gw = 0,355 

Vt = 0,060 

16 = 0,059 



Gt = 0,369 
Vt = 0,085 
Mt = 0,101 

Öt = 0,340 

Vt = 0,018 

Mt = 0,117 



Das Rohmaterial macht wahrscheinhch, dafs sich das Ver- 
hiltnis zwischen den Geschlechtsanlagen von der älteren bis zur 
jüngeren Generation umgekehrt hat: 



Beiträge tiir speziellen Psychologie auf Grnnd einer Massenuntersnchung, 339 

von den V. sind 69% f. alte Erinnergn., 13% f. neue Eindrücke interees. 
„ Mü. „ 680/, „ „ „ 15 0/, „ „ 

„ 8. „ 45 Iq „ ,, „ 290/, j^ ^^ ,^ ^^ 

T 47 0/ 97 0/ 

»f ^' n ^' lo fi if •» «• /o »» »» »? M 

„ Mä. „ 63% „ „ „ 24% „ „ 

„ IT. „ rv) /q „ „ „ 21 Iq „ „ „ ,^ 

Frage 21 (Bd. 42, S. 105). Methode I 

Steckenpferde: Gt = 0,198 Gt = 0,200 

V, = 0,040 F^ = 0,074 

M, = 0,088 Mt = 0,099 

leicht zu bereden: G$ = 0,144 ö< = 0,154 

V, == 0,009 Vt = 0,016 

3f, = 0,043 Mt = 0,025 > 

Prozentsätze aus dem Rohmaterial: 

V. d. V. 8. 330, Steckenpferdreiter, 50 0/, f. n. A. zugängl., 7o/, leicht z. bereden 
,,Mü.„ 350/0 „ 330/0 „ , 170, „ „ , 

„ „S. „ 22% „ 510/, ^ „ 140/0 ,, „ 

. „T. „240/0 „ 440/0 „ „ 140/0 , „ „ 

,.Mä.„ 260/0 „ 510/0 „ „ 110/, ^ ^ ^ 

,.,Fr. „28o/o „ 400/0 „ „ 150/0 „ „ , 

Die nahezu gleiche Anlage beider Geschlechter zur leichten 
Beredbarkeit scheint also auch erst ein Produkt jüngerer Zeit zu 
sein; dagegen zeigt sich die gröfsere Anlage zur Steckenpferd- 
reiterei bei den Frauen, sowie die gröfsere Zugänglichkeit für 
neue Auffassungen bei den Männern in beiden Generationen. 



* Die Berechnung nach Methode II ergibt einen viel deutlicher aus- 
gesprochenen Gegensatz zwischen Steckenpferdreiterei und leichte Bered- 
barkeit einerseits, Zugftnglichkeit für neue Auffassungen andererseits, als 
zwischen Steckenpferdreiterei und leichte Beredbarkeit. Offenbar haben 
wir es hier wieder mit dem bekannten Zusammenhang zwischen Auto- und 
Heterosnggestibilität zu tun. — Legen wir der Berechnung nach Methode I 
jenen ersteren Gegensatz zugrunde, so ergeben sich folgende Zahlen : 

Steckenpferde oder leicht zu bereden : G» = 0,863 Gt = 0,363 

Vs = 0,052 Vt = 0,066 

Mm = 0,023 Mt = 0,096 

für neue Auffassungen zugänglich: Gs = 0,603 Gt = 0,466 

V* == 0,062 Vt = 0,065 

Ms = 0,029 Mt = 0,104 

22* 



340 ^- Hey maus und E, Wie^^sma. 

Frage 22 (Bd. 42, S. 106). Methode I 

veränderungssüchtig : G» = 0,451 Qt = 0,465 

F,== 0,095 F< = 0,029 

lf* = 0,070 lf/= 0,081 

Gewohnheitsmensch: &« = 0,240 G<= 0,267 

7, = 0,113 F«= 0,061 

Jtf, = 0,116 Jif< = 0,112 

Auch hier ist die geringe Verschiedenheit in den Geschlechts- 
anlagen charakteristisch für die jüngere Generation, wie die 
Prozentsätze aus dem Rohmaterial ausweisen: 

von den V. sind 17 ^/o verftnderungssüchtig, 63 \ Gewohnheitsmensch 
„ „ Mü. „ 26o/o „ 490/0 

„ « S. „ 390/, , 32«/o 

„ n T. „ 430/, „ 31% 

„ n Mä. „ 31% „ 43% 

„ „ Fr. „ 370/, „ 38% 

Frage 23 (Bd. 42, S. 106). 

Wie oben (S. 327 — 328) bemerkt wurde, lassen sich hier, infolge 
des Fehlens von Daten in bezug auf die mütterliche Erblichkeit, 
unsere gewohnten Methoden nicht anwenden, sondern mufs eine 
andere, und zwar eine viel einfachere Berechnungsweise dafür 
eintreten. Unterscheiden wir nämlich jetzt, statt der Väter und 
Mütter, die Väter mit mehrfachem und mit einmaligem Berufs- 
wechsel, und stellen wir die entsprechenden väterlichen Erblich- 
keitskoeffizienten vor durch V bzw. F^, während G wieder den 
Geschlechtskoeffizienten für mehrfachen oder einmaligen Berufis- 
Wechsel bedeutet, so haben wir vier Sätze von Gleichungen nach 
folgendem Schema: 

GA-V =^ 

G =^ 

aus welchen sich also jedesmal die drei Unbekannten ohne 
weiteres ermitteln lassen: 

mehrfacher Berufswechsel: Gs = 0,112 Gt = 0,043 

V's = 0,014 V't = — 0,015 

Vs =0,180 Vt =0,136 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Mcuisenunteriuchung. 34 1 

einmaliger Berufswechsel: Gm = 0,122 Gt = 0,056 

V, = 0,060 VU = 0,000 

Vs = 0,046 Vt = 0,074 

Also, wie sich erwarten liefs, starke und regelmäfsige Erblich- 
keit des (hauptsächlich von Temperaments- und Charaktereigen- 
schaften abhängigen) mehrfachen Berufswechsels, schwache und 
unregelmäfsige Erblichkeit des (vielfach durch äufsere Umstände 
bestimmten) einmaligen Berufswechsels. Aufserdem stärkere An- 
lage zu beiden bei den Söhnen, was den Prozentsätzen aus dem 
Rohmaterial entspricht: 

,von den V. haben 3% mehrfach, 12% einmal den Beruf gewechselt 



„ „ 8. „ 12»/, 


13% 


n n n 


r, n T. „ b'U 


6% 


n n n . 


„ „ Mft. „ 9»/, 


13% 


n n n 


Frage 24 (Bd. 42, S. 107). 


Methode II 


gTofse Pläne: Q, = 0,174 




Gi = 0,084 


V. = 0,148 




Vi = 0,067 


M, = 0,149 




Mt = 0,299 


von den V. Bind 12% oft mit grofsen Plänen beec 


„ „ Mü. „ 6»/, , 


n 


n n 


» » 8. „ 20»/, , 


n 


» » 


„ „ T. „ 11% „ 


n 


n T» 


„ „ Mft. , 17% „ 


n 


» n 


„ „ Fr. „ 9% „ , 


n 


» n 


Frage 26 (Bd. 42, S. 107). 


Methode I 


ferne Zukunft: G. = 0,315 




Gt = 0,281 


V, = 0,089 




Vi = 0,058 


M. = 0,070 




Mt = 0,072 


sofortige ReenlUte: G, = 0,869 




Gt = 0,316 


V. = 0,075 




Vi = 0,048 


M, = 0,087 




Mt = 0,097 



Prozentsätze : 

V. d. V. sind 47 »/o mehr durch Znkunft, 24% mehr durch sof. Res. beeinflufst 

» » Mtl. „ ^T\ rt w » 22% „ „ „ „ n 

j» »» 8- n ^*/o n n n^/on nun n 

„ „ T, „ 30% „ ,, „ 30 /q „ „ „ „ n 

n n Mä. » 39% „ „ „ 30% „ K n n n 

1» » ^» n ^^Vo n n » 27 % „ „ „ „ „ 



342 ^- Seymans und E. Wiergma. 

Frage 26 (Bd, 42, S. 108). Methode I 

Übereinstimmung: 0$ = 0,600 Gt = 0,520 

V, = 0,094 Vt = 0,074 

Mt = 0,134 Ut = 0,110 

Widerspruch: 9$ = 0,186 Gi = 0,163 

F, = 0,054 Vt = 0,060 

M, = 0,028 Jf/ = 0,011 

Prozentsätze : 

von den V. bei 69®/© Übereinstimmung, bei lb% Widerspruch 

„ , Mü.„ 62% „ „ 12% 

. « S. , 620/, ^ ^ 140/^ 

. . T. „ 62% , „ 13% 

„ „ Mä.„ 65% , „ 14% 

, „ Fr. „ 62% „ „ 12% 



IV. Intellekt und Verwandtes. 
Frage 27 (Bd. 42, S. 109). 

a) Auffassungsvermögen. Methode I 

leichte Auffassung: Gt = 0,447 Gt = 0,444 

V» = 0,194 Vt = 0,121 

Mi = 0,065 Mt = 0,148 

schwere Auffassung: G, = 0,069 Gi = 0,086 

V, = 0,013 7/ = 0,022 

M» = 0,017 Jf/ = 0,048 

b) Verstand. Methode I 

verständig: G, = 0,428 Gt = 0,384 

Vi = 0,142 Vt = 0,098 

Jf, = 0,044 Mt = 0,098 

oberflächlich oder dumm : Gi = 0,232 Gt = 0,272 

Vi = 0,018 7/ = 0,058 

Mi = 0,029 Jf/ = 0,058 

Entsprechend die Prozentsätze aus dem Rohmaterial: 

V. d. V. sind 60 % leicht auffassend, 60 % verständig, 13 % oberflächl., 2 % dumm 

„ „Mü., 49% „ „ 45% „ 23% „ 5% , 

„ „ S. , 59% „ „ 61% „ 18% „ 4% , 

, , T. , 57% „ „ 44% „ 19% „ 5% , 

„ „Mä., 59% „ „ 54% , 16% , 3% , 

„ „ Fr. „ 52% „ „ 45% „ 20% „ 5% „ 



Beiträge twr speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuehung. 349 

Frage 28 (Bd. 42, S. 111). Methode I 

Menschenkenner: Qs = 0,421 Gt = 0,348 

V, = 0,093 Vt = 0,060 

M, = 0,118 Mt => 0,093 

nicht Menschenkenner: Gt = 0,269 Gt => 0,311 

Vs = 0,065 Vt == 0,067 

Mi = 0,062 Mt = 0,079 

Prozentsätze : 

von den V. sind 67 ^/o Menschenkenner, 2i% nicht 
, . Mü. „ 40«/p „ 28% „ 

n n S. „ 47% „ 240/, „ 

. n T. „ 370/, ^ 290/, „ 

„ „ Mft. „ 510/, ^ 24o/o , 

„ , Fr. „ 380/, ^ 280/, , 

Frage 29 (Bd. 42, S. 112). Methode I 

praktisch: G, = 0,575 Gt = 0,583 

y, = 0,104 Vt = 0,060 

Mm = 0,068 ilf< ^ 0,068 

unpraktisch: Gi = 0,218 Gt = 0,223 

Fi = 0,070 Vt = 0,037 

M, = 0,028 Mt = 0,049 

Prozentsätze : 

von den V. sind 72 o/, praktisch, 14 o/, unpraktisch 

, „ Mü. , 670/, ^ 160/, 

„ n 8. „ 670/, ^ 160/^ 

, „ T. „ 650/, ^ 170/^ 

, „ Mä. „ 690/, ^ 150/^ 

„ „ Fr. „ 660/, ^ 170/^ 

Frage 30 (Bd. 42, S. 112). Methode I 

weitblickend: G» = 0,552 Gt = 0,524 

Vm = 0,140 Vt = 0,072 

3f, = 0,068 Mt = 0,118 

beschränkt: G» = 0,220 &/ = 0,265 

Vi = 0,091 Vt = 0,078 

ACi == 0,069 Mt = 0,099 



t44 ^- JJ^ytno'ns und E. Wiersma. 

Prozents&tze : 

von den V. sind 67% weitblickend, 18% beschrftnkt 
, , Mü. , 44«/o „ 30% 

n « S. , 64% , 16% 

„ . T. „ 67% , 22% 

„ „ Mä. „ 66% , 16% 

„ , Fr. „ 62% „ 25% 

Frage 31 (Bd. 42, S. 113). Methode I 

selbfltftndig: Q» = OjMS Ot = 0,496 

V* = 0,125 Vt = 0,118 

Ms = 0,061 Mt = 0,109 

Nftchsch Walser: Q» = 0,266 G< = 0,906 

Vm = 0402 Vt = 0,076 

If« = 0,026 Mt = 0,066 

Proients&tze aus dem Rohmaterial: 

▼on den V. sind 69 % selbständig, 13 % Nacbschwätaer 

„ „ Mo. „66/0 „ 24/0 „ 

„ „ 8. „ 64% „ 20% 

, , T. „ 59% „ 24% 

„ „ Mä. „ 66% „ 18% 

„ „ Fr. „ 58% „ 24% 

Frage 32 (Bd. 42, S. 113). Methode I 

entschieden: &, = 0,509 Gt = 0,479 

F. = 0,056 Vi = 0,040 

Mm = 0,046 Mi = 0,112 

bedingungsweise: G, = 0,226 Gt = 0,206 

F. = 0,033 Vi = 0,027 

Mm = 0,044 Jf< = 0,061 

Prosentsätse : 
Toa den V. taTsem sich 52% entschieden, 27% bedingungsweise 



n Mtt. 


rt 


n «•/, 


r» 


22»/, 


n 8. 


•• 


.. 58»/, 


•t 


21% 


, T. 


•^ 


. ä«»/. 


•» 


18% 


- M«. 


t» 


» 58»/, 


w 


2S% 


n ^ 


w 


, 49% 


V. 


»•; 



Frage 33 (Bd. 42, S. 114). 

Bei dieser Frage findet die Berechnung wesentlich nadi 
Methode 11 statt; nur mnfs hier, da neben dem Emflnls des 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Chrund einer Massenuntersuchnng. 345 

gleichnamigen Talentes auch der Einflufs sonstiger Talente bei 
den Eltern zu ermitteln versucht wurde, jedesmal eine vierte, 
den hierauf sich beziehenden Erblichkeitskoeffizienten vorstellende 
Unbekannte T eingeführt werden. 



•) Mathematisches Talent: Q, = 0,109 




6, = 0,013 


r, = 0,322 




V, = 0,127 


M, = 0,490 




Ml = 0,987' 


TV = 0,009 




Ti = 0,030 


Prozentsätze : 






von den V. haben 15**/, mathematischee Talent 


„ „ Mü. „ 1% 




11 11 


„ „ 8. „ 17«/. 




11 11 


„ „ T. „ 5% 




11 •? 


„ „ Mft. „ 16% 




11 11 


., „ Fr. „ 3% 




11 11 


b) Sprachtalent: Q, = 0,086 




Gl = 0,074 


V, = 0,176 




Yt = 0,211 


M, = 0,187 




Mt = 0,403 


T, = 0,009 




Tt = 0,046 


Prozentsätze : 






von den V. haben 14 


•/o 


Sprachtalent 


„ „ Mfl. „ 10 


•/. 


11 


„ „ 8. „ 13 


% 


11 


„ „ T. „ 16 


% 


11 


„ „ Mft. „ 13 


•/» 


11 


„ „ Fr. „ 14 


•/. 


11 


«) Murikalisches Talent: G, = 0,077 




Qt = 0,087 


V. = 0,277 




. Yt = 0,271 


M, = 0.422 




Ml = 0,405 


T. = 0,110 




Tt = 0,118 


Prozentsätze : 






TOn den V. haben 13% musikalisches Talent 


„ „ MO. „ 12% 




11 11 


„ « 8. „ 19% 




11 ♦» 


„ „ T. „ 21% 




11 11 


„ „ Mä. „ 17% 




11 11 


„ „ Fr. „ 18% 




11 11 



' Diese Zahlen sind unzuverlftssig: s. Bd. 42, S. 115. 



346 ^ BqfmamM mmd K Wlarmm. 

d- Zetdienuleftt: G« = OjOI3 Gt = OSBA 

y, = 0,^6 Ff == 0a42 

Um = 0.131 Mt = 0334 

Tm = 0.064 Ti = aOI2 

ProzeniBftize: 

ron den V. haben 10*« Zeichentalent 
. . Mft. ., 4% 

.. , S. . 10% 
. - T. -, 7% 

.. . Mt . 10% 

^ ^ Fr. ^ 6», 

e Schriftetellerbchee Talent: G< = O.OeO Gi = 0.038 

F, = 0.174 Ff = 0,181 

16 = 0,0741 Mt = aia5 

r. = 0,014 r« = 0,014 

Prozentsätze : 

Ton den V. haben 10 *« schiiftstellerischee Talent 



•• 


.. 3Itt. ,. 


6% 




^ 


•« 


r 


- s. „ 

. T. „ 


9% 




•» 


•» 


9* 


,. M*. . 
. Fr. „ 


9\ 

7\ 






»1 


f) Talent fOr Schaaapiellnmst: 


(?* = 

F.= 

16 = 

r, = 


0,026 
0,274 
0,224 
0,039 




Gl = 0,038 
Fl = 0,206 
16=0,358 
Tt = 0,044 



Prozentsätze : 

Ton den V. haben 4% Talent fflr Schanspielkaniit 

>f » "• ff " /o w »? »• 

f »> Mä. ,, 5 /0 ,. „ „ 

g) Talent der Nachahmung: Q* = 0,0ö5 Gi = 0,040 

V» = 0,218 Vt = 0,283 

16 = 0,189 16 = 0,341 

T» = 0,090 Tt = 0,066 



Beiiräge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung 347 

Prozentsätze : 

von den V. haben 1\ Nachahmungstalent 
„ „ Mü. „ 50/0 

V » S. „ 12 7o ,. 

»» »♦ ^* M 1^ /o ff 

. ,, Mft. „ 10 o/o 

»f » Fr. „ 8®/o ^, 

Frage 34 (Bd. 42, S. 119). Methode I 

witzig: G» = 0,424 Gi = 0,428 

y, = 0,071 7/ = 0,085 

M, = 0,101 Ml = 0,102 

nicht witzig: G» = 0,275 Gt = 0,300 

Vs = 0,039 F< = 0,061 

Ms = 0,121 iJf/ = 0,103 
Prozentsätze : 

von den V. sind 44% witzig, 30% nicht 



Mü. 


» 


26«/. 


M 


38»/. 


8. 


M 


430/. 


>» 


28% 


T. 


» 


«•/. 


M 


30% 


Mä. 


»? 


tö^U 


»> 


29% 


Fr. 


»f 


36% 


>» 


33% 



Frage 35 (Bd. 42, S. 119). Methode I 

gespr&chig oder Gesprächsführer: ^ Gi = 0,640 Gt = 0,649 

7, = 0,041 Vi = 0,068 

Ms = 0,081 lf< = 0,111 



^ Die Berechnung nach Methode II weist aus, dafs die Gesprächigkeit 
der Eltern nicht nur der Neigung zur Schweigsamkeit, sondern auch der 
Neigung, sich der Führung des Gesprächs zu bemächtigen, entgegenwirkt 
und umgekehrt, während andererseits die hereditäre Beziehung zwischen 
der Schweigsamkeit und der Neigung, sich der Führung des Gesprächs zu 
bemächtigen, nach beiden Richtungen eine vorwiegend positive ist. Wenn 
wir dementsprechend die Führer des Gesprächs und die Stillen zusammen 
den Gesprächigen gegenüberstellen, so ergeben sich folgende Zahlen: 

gesprächig: Gs = 0,560 Gt = 0,624 

Vs = 0,060 Vt = 0,053 

Ms = 0,100 Mt = 0,119 

Gesprächsführer oder still: Gs = 0,345 Gt = 0,264 

Vs = 0,045 Vi = 0,044 

Ms = 0,091 Ml = 0,074 

Die Paradoxie jenes Resultates läfst sich teilweise heben, wenn man über- 
legt, dafs sowohl der Stille wie der Führer des Gesprächs, statt sich für 
die Worte anderer zu interessieren, seinen eigenen Gedanken nachhängt; 
nur dafs der eine dieselben für sich behält, während der andere sie änfsert. 



348 G- Seymans und E, Wienma. 



still und in sich gekehrt: G» = 0.255 

F. = 0,018 
M» = 0,075 


<?« = 0,232 
F< = 0,049 
Jt6 = 0,081 


Prozentsätze : 








den Y. aind 64% geeprftchig, 12% geneigt, 
„ Mtt. . 71% „ 5% „ 


8. d. F. d. Gespr. 


. S. „ 64% 
. T. . 70% 


•» 


8«; . 

6% - 


»•••?••• •« 


., Mft. ^ 64% 

r Fr. . 70% 




9% - 
6% „ 

lÖ«, 8tiU 

15 •, „ 

19% „ 
15% _ 

18«. . 
15 r, „ 





Frage 36 (Bd. 42, S. 120l 

Hier liegen die Sachen genau so wie bei Frage 33 (S. 344 — 345) ; 
es ist also fär jedes Erzähltalent, neben den anf dieses besondere 
Talent sich beziehenden Erblichkeitskoeffizienten V und If, noch 
ein weiterer Erblichkeitskoeffizient E zu berechnen, welcher den 
hereditären EinfluTs sonstiger Erzähltalente bei den EUteru auf 
das in Untersuchung stehende Erzähltalent der E^inder zur Dar- 
stellung bringt. 

a) Anekdoten: Qt = 0.173 Gi = 0,101 

F. = 0.209 Tt = ai28 

J6 = 0.196 Mi = ai64 

E, = 0.010 Et = 0.022 

Prozentsätze : 

von den V. sind 26% gote Anekdotenenthler 
» , M(L ^ 11% . 

. ., S. .. »% « 
.. ^ T. .. 16% ., 

- .. Ml. .. 2o^. .. 
^ .. Fr. .. 14»« .. 

b- Längere Geeehichten: Gm = a046 Gt -= a028 

V, = ai37 Vi = ai43 

Ms = ai4o Mi = 0J46 

£, = 0.087 Et = a062 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung, 349 



Prozentsätze 


• 




von den 


V. 

Mü. 


sind 19% 


11 11 
11 11 


S. 
T. 


11 
11 


lä-/. 
11% 


11 11 
11 11 


Mä. 
Fr. 


11 
11 


14»/, 
12«/, 



sind 19% gute Erzähler von längeren Geschichten 



11 11 
11 11 


11 11 11 
11 11 11 


11 11 

11 11 
11 11 


11 11 11 

11 11 11 
1 11 11 



c) Selbsterfundene Geschichten: Gs = 0,027 

V* = 0,061 
M, = 0,119 
Es = 0,026 



Gt = 0,085 
Vt = 0,200 
Mt = 0,248 
Et = 0,070 



Prozentsätze : 
von den V. sind 11% gute Erzähler selbsterfundener Geschichten 



„ „ Mü. „ 13% „ 


w 


Fl » 8- j) 6'/o n n 

„ « T. „ 17% , 




„ „ Mä. , 8% n 
, „ Fr. , 16% „ 


n 


Frage 37 (Bd. 42, S. 122). 


Methode I 


weitschweifig: G» = 0,181 

y, = 0,062 

Mi = 0,036 


Gt = 0,187 

Vi = 0,039 

Mt = 0,056 


bündig u. sachüch: G» = 0,520 
7. = 0,069 
M^ = 0,089 


Gt = 0,476 
Vt = 0,074 
Mt = 0,090 



Prozentsätze: 
von den V. Bind 21% weitschweifig, 64% bflndig und sachlich 



Mtt. 



Mft. 
Fr. 



„ 27% 

n 157. 
. 177« 

177. 
21% 



36% 

667. 
60% 

66% 
46% 



Frage 38 (Bd. 42, S. 123). Methode ü 

liAaflges Auftischen der nftmlichen Geschichten: 0-$ ^ 0,050 Ot = 0,026 

V, = 0,084 Vi = 0,062 

M, = 0,203 M, = 0,191 



350 ^- Heymans und E. Wiermna. 

Prozentsätze : 
von den V. tischen 29^0 häufig die nämlichen Geschichten auf 

„ „ Mtt. „ 157o „ „ r « n 

n n *-• n "/onn n n Ji 

„ y, Mä. » ^< /o » n I» n n 

TTr 100/ 

Frage 39 (Bd. 42, S. 123). 

Hier ergibt Methode I unzuverlässige Resultate,* weil (be- 
sonders bei den Frauen) die Grenze zwischen „nicht'' und 
„fraglich" sich praktisch oft unmöglich bestimmen läfst Bessere 
Auskunft verspricht die Behandlung nach Methode II: 

öffentliche Reden: G» = 0,187 Gt = 0,051 

F, = 0,168 Vi = 0,037 

M, = 0,106 Mi = 0,(B4 

Prozentsätze : 

von den V. können 42®/« leidlich öffentliche Reden halten 



MO. 


n 


4% 


8. 


n 


27 7o 


T. 


n 


7»/« 


Mä. 


»1 


32% 


Fr. 


n 


ß'/o 



Frage 40 (Bd. 42, S. 124). Methode I 

gnter Beobachter: G» = 0,470 Gt = 0,460 

r. = 0,100 Vt = ojyi2 

M* = 0,145 Mt = 0,143 

schlechter Beobachter: G, = 0,186 Gi = 0,210 

V, = 0,056 Vi = 0,049 

Mm = 0,0-45 Mi = 0,031 

Prozentsätze : 

von den V. sind 53% gute, 18% schlechte Beobachter 



n 


„ Mü. „ 53% „ 15% 


T» » 


r 


„ S. „ 57% „ 17% 


R n 


1 


„ T. „ 54% „ 18% 


n » 


« 


„ Mä, „ 55% „ 17% 


JJ r 


•1 


„ Fr. „ 54% , 17% 


1» a 


> öffentliche Reden: G« = 0,256 


Gi = a066 




Vs = 0,094 


Vf = 0,083 




J6 = - 0,019 


M, == — 0,004 




nicht: G. = 0,423 


Gt = 0,312 




Vs = 0,077 


Fl = 0,088 




16 = 0,118 


Jff = 0,323 



Beiträge zur 8pezieüen Psychologie a\if Qrund einer Massenuntersuchung. 351 

Frage 41 (Bd. 42, S. 125). Methode I 
sehr gutes musikalisches Gehör: G» = 0,204 Gt = 0,210 

Vs = 0,113 Vt = 0,057 

Ms = 0,141 Mt = 0,163 

schlechtes musikalisches Gehör : Gs = 0,210 Gt = 0,169 

Vi = 0,209 Vt = 0,116 

.W, = 0,212 Jtf/ = 0,139» 

Prozentsätze: 

▼on den V. haben 1S% ein sehr gutes, 42% ein gutes, 30% ein schl. m. G. 
„ „ Mft. „ 120/0 „ „ „ 460/, ^ ^ 230/, „ „ , „ 

» « S. « 177o . . „ 450/, „ „ 270/, , , „ , 

» jj T. „ lo /o „ „ „ o2 /, „ „ 19 Iq „ „ „ „ 

„ „ Mä. „ 16 o/o „ „ 

„ „ Fr. „ 160/, ^^ ^^ 

Frage 42 (Bd. 42, S. 126). Methode I 

geschickt: Gt = 0,486 Gt = 0,605 

Vs = 0,094 7/ = 0,067 

Ms = 0,093 Mt = 0,115 

ungeschickt: Ö« = 0,225 Gt = 0,156 

Vs = 0,061 F< = 0,057 

Ms = 0,017 iV< = 0,037 

Die weit gröfsere Greschicktheit der Frauen wird durch die 
Prozentsätze aus dem Rohmaterial, für die ältere noch mehr als 
für die jüngere (reneration, bestätigt: 

von den V. sind 52 o/, geschickt, 200/, ungeschickt 



44% 


11 


V 


27% „ 


» 


11 


f? 


Ö0% 


11 


11 


20% „ 


11 


11 


11 



Mü. „ 72% 


» 


6% 


8. „ 68% 


»? 


19% 


T. „ 70% 


11 


11% 


Mä. „ 56% 


11 


20% 


Fr. „ 71% 


11 


9% 



' Nach den Ergebnissen der Methode II scheint doch die Bezeichnung 
„gut" im Sinne unserer Berichterstatter etwas Aber dem Durchschnitt zu 
liegen, da die hereditären Beziehungen gut-schlecht überall negativ, die- 
jenigen gut-sehr-gut dagegen vermischt verlaufen. Fassen wir dem- 
entsprechend die sehr gut und die gut Beanlagten in eine Gruppe zu- 
sammen, so kommen folgende Zahlen heraus: 
sehr gutes od. gutes mus. Gehör: Gs = 0,513 Gt = 0,636 

Vs = 0,160 Vt = 0,106 

Ms = 0,155 Mt = 0,124 

schlechtes musikalisches Gehör: Gs = 0,359 Gt = 0,244 

Vs = 0,140 Vt = 0,098 

Ms = 0,144 Mt = 0,094 



362 ^- SeymariB und E. Wiersma. 

Frage 43 (Bd. 42, S. 126). Methode I 

aufsergewöhnliches Gedächtnis : Ot = 0,105 Gt = 0,070 

Vi = 0,142 Vt = 0,093 

Ms =: 0,074 Mi = 0,079 

schlechtes Gedächtnis; G, = 0,079 Gt = 0,070 

V, = 0,075 Vt = 0,027 

Ms = 0,002 Mt = 0,116 

Prozentsätze : 

▼. d. V. haben 17% ein anfsergew., lb% ein gutes, 4% ein schlechtes G«d 
„ „ Mä. „ 11% „ „ 74% „ „ 9% „ „ „ 

1} )> S» >» 12 /o M » 75 /o „ „ 7 /o „ „ „ 

» n T. „ o /o „ „ 78 /q „ >f 7 /q „ „ ,^ 

M » ^^* »» ^^ /o f> »I '^ /o W »» " /o M M «» 

w M Fr. „ 9% „ „ <6 /0 „ „ 8 /o „ „ „ 

V. Neigungen. 

Frage 44 (Bd. 42, S. 258). Methode I 

auf gutes Essen und Trinken haltend: G« = 0,504 Gt = 0,323 

V. = 0,142 Vi = 0,088 

M, = OSm Mt = 0,141 

nicht auf gutes Essen u. Trinken haltend: G» = 0^283 Gt = 0,411 

Vm = 0436 Vt = 0,108 

Ms = 0,114 Mt = 0^86 

Die viel geringere Neigung zur Grastronomie bei den Frauen 
zeigt sich in gleicher Weise in den Prozentsätzen für beide 
Generationen : 

von den V. halten 43 ®o ^^ gutes Essen und Trinken, 37% nicht 

„ „ Mfl. „ 90*0 n n n n » ^% 



• S. , 49», „ „ 


»» 


a» 


30% 


T 31 • 


w 


M 


«% 




9 


^ 


38«. 


» *> **• j» 31 „ „ „ 


W 


- 


«•.. 


Frage 45 (Bd. 42, S. 259). Methode I 






Tnnkenhold oder regelmaüng: G« = 0^46 




Gl 


= ao66 


Vs = 0414 




r. 


= 0.088 


Jtf. = a00ft 




it, 


= 0^048 


dann und wann oder nie: 6s = 0,530 




Gt 


= 0^499 


V, = 0^06 




r, 


= €UD14 


IG == 0.174 




au 


= 013»» 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Orund einer Massenuntersuchung. 358 



Prozentsätze : 

V. d. V. sind 3 \, Trunkenbolde, trink. 31 \ regelm., 50% dann u. wann, iS\ nie 
„ „Mü.„ 0% 

R 10/ 

>» >» *^* » *■ /o >» 

TOO/ 
„ „ • w ^ /O t» 

„ „Ma. „ 27, 



,Fr. 



0»/. 



3% 


n 


«7, 


99 


»» 


>f 


307. n 


20% 


99 


67 7o 


» 


» 


ff 


ll*/. » 


20/. 


» 


467. 


W 


f> 


ff 


307. „ 


28«/. 


M 


667, 


»1 


W 


ff 


127. „ 


37. 


» 


467. 


» 


ff 


ff 


307. ,. 



Frage 46 (Bd. 42, S. 260). Methode I 

ausschweifend: G» = 0,146 Gt = 0,034 

7, = 0,057 7< = 0,020 

Mi = — 0,003 jMi = 0,004 

enthaltsam: G, = 0,332 Gt = 0,228 

7* = 0,113 Vt = 0,160 

if, = 0,259 Mt = 0,386 

Prozentsätze : 



von den V. sind 67. 


aasschweifend, 697, 


enthaltsam 


„ „ MO. 


27. 


» 


69% 


ff 


„ « 8. 


ll"/. 


n 


58% 


ff 


„ ,. T. 


27. 


n 


68% 


ff 


„ „ Mä. 


9*/. 


rj 


62% 


ff 


» „ Fr. 


27. 


» 


62% 


f» 



Frage 47 (Bd. 42, S. 260). Me&ode I 



mit sich zufrieden: 



nicht mit sich zufrieden: 



Gs = 0,391 
Vs = 0,095 
M» = 0,067 

Gs = 0,818 
7, = 0,108 
M» = 0,071 



Gt = 0,247 
Vt = 0,106 
Mt = 0,080 

Gt = 0,408 
Vt = 0,098 
Mt = 0,082 



Die Prozentsätze ergeben einen bedeutsamen Unterschied 
jswischen den Frauen der älteren und der jüngeren (reneration: 

von den V. sind 35 % mit sich zufrieden, 31 7o nicht 



IJ 


„ Mü. „ 


29 7, , 


»? 


» s. „ 


397. ., 


>» 


„ T. „ 


267, „ 


t1 


„ Mft. „ 


37 7. , 


t1 


« Fr. „ 


27 7. „ 


ZeitMhrin »r Fiydiologie 43. 





32 


/o ff 


31 


% „ 


40 


/o fr 


31 


•/. „ 


37 


•/, „ 



354 



G. Heymana und E. Wiersma. 



Frage 48 (Bd. 42, S. 261). Methode I 



eitel und gefallsüchtig: Gm = 0/287 

V, = 0,059 

Ms = 0,064 

iiiifseres wenig beachtend : Gm = 0,348 

Vm = 0,136 
Ms = 0,0J2 



Gl = 0,364 
Vt = 0,018 
Mt = 0,134 

Gt = 0,271 
Vt = 0,098 
Mt = 0,136 



Nach den Prozentsätzen ist die gröfsere Gefallsucht den 
Frauen in beiden Generationen eigen: 

von den V. sind 10 % eitel und gefallsüchtig, 61 % umgekehrt 
„ Mü. „ 16o/o „ „ „ 490/0 

„ 8. „ 23% „ „ ^0/- 

„ Mfe. „ 19/0 „ „ 
„ Fr. „ 250/0 ,. „ 



370/0 

öOo/o 
420/0 



Frage 49 (Bd. 42, S. 262). Methode I 

ehrgeizig: Gs = 0,327 Gt = 0,286 

Vt = 0,122 Vt = 0,106 

Ms = 0,060 Mt = 0,089 

sich im Hintergrunde haltend: Gs =0,1722 Gt = 0,207 

Vs = 0,078 Vt = 0,071 

Ms = 0,067 Jlf r = 0,079 ^ 

Prozentsätze : 

T. d. V. s. 330/0 ehrgeiiig, 24 0/0 gleichgült., 19 0/0 geneigt s. i. Hintergr. z. halt. 



„ Mü. „ 250/0 

„ 8. „ 34 /o 

„ T. „30% 

„ Mft. „ 36«/, 

„ Fr. „ 28<>/o 



16«/, 
26% 
24»/. 
26«/. 
21»/. 



32 % 
16»/. 
20% 

17% 
26% 



Frage 50 (Bd. 42, S. 263). Methode I 

geldsüchtig: ö. = 0,274 ff« = 0,139 

V, = 0,099 Vt = 0,038 

M, = 0,106 Mt = 0,036 

aneigennatzig: ff< = 0,343 ff< = 0,432 

V. = 0,122 Vt = 0,089 



M, = 0,206 



M, = 0,186 



' Nach Methode II liegt in der Tat zwischen diesen beiden Eigen« 
Schäften der stärkste Gegensatz vor. 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer MoMetmntersuchung. 355 



Die gröfsere Uneigennützigkeit der Frauen bewährt sich in 
beiden Generationen: 

von den V. sind 24% geldsttchtig, 43% nneigennfitzig 
„ MO. „ 13% „ 60% 

„ S. „ 21% „ 46% 

,, T. „ 12% .. 52% 

„ Mft. „ 22% „ 44% 

,. Ft. „ 12% „ 51% 



Frage 51a (Bd. 42, S. 263). Methode I 



geizig oder sparsam: 0$ = 0,362 




Gt = 0.465 


V, = 0,091 




Vt = 0,078 


M» = 0,064 




Mt = 0,157 


flott oder verschwenderisch: Gs = 0,526 




Gt = 0,405 


V» = 0.091 




Vt = 0,092 


Ms = 0,053 




Mt = 0,017 


Prozentsätze : 






Ton den V. sind 2 % geizig, 44 % sparsam 


.41% 


flott, 2% verschwe 


„ „ Mü. „ 3% ., Ö6% „ 


29% 


„ 2% 


M „ S. „ H% „ Sb% „ 


41% 


„ 10% 


. „ T. „ 2o/o „ 46% „ 


34% 


„ 6% 


,. „ Mä. „ 3% „ 38% . 


41% 


. 7% 


.. ., Fr. ., 2% ,. öOo/o „ 


32% 


„ 5% 


Frage 51b (Bd. 42, 8. 263). j 


Methode 11 


oft in Schulden: Gs = 0,055 




Gt = 0,009 


Vs = 0,098 




Vt = - 0,034 


Ms = 0,119 




Mt = 0,078 



Prozentsätze : 



von den V. befinden sich 3% oft in Schulden 

M ?; Mü. „ ,, 2 /q „ „ ,, 

»T ?> '-'• >» 11 " /O 11 11 11 

T t ®/ 

11 11 ■*■• M >» *■ /o >» >» » 

„ ,, Ma. „ „ Iq „ „ „ 

Fr 1 ®y 



Frage 52 (Bd. 42, S. 265). Methode I 
herrschsüchtig 



Gs = 0,173 
V, = 0,116 
Ms = 0,062 



(?/ = 0,234 
Vt = 0,065 
Mt = 0,103 



23* 



356 ^- Heymans und E. Wiersma. 

lenkbar: Gm = 0,136 Gt == 0,136 

r. = 0,006 Vt = 0X)22 

Jtf, = 0.(©6 16 = 0.046» 

Wie die Prozentsätze auszuweisen scheinen, ist die grolsere 
Herrschsucht des weiblichen, und die gleiche Lenkbarkeit beider 
Geschlechter erst ein Produkt der neueren Zeit: 

V. d. V. sind 24 ^o herrechsüchtig, 55 •« geneigt Freih- x, taflsen, 12% lenkb. 



„ Mfi. „23». „ «•., 


n 


» 


17% 


„ S. „ 19». .. 03«^. 


»• 


» 


13% 


.. T. „ 25 •„ „ 47». 


»> 


«f 


13% 


„ M«. . 21% . 54% 


*i 


f" 


13*,. 


.. Fr. , 34». ., 46% 


- 


- 


15% 


Frage 53 (Bd. 42, S. 266). Methode I 






streng oder i&rtlich und sorgsam*: G, = 


0,235 


Gi 


= 0,286 


r. = 


0,075 


Yt 


= 0,024 


J6 = 


Qf&l 


Mi 


= 0,002 


geneigt viel Freiheit ru lassen: Gs = 


0.156 


Gt 


= 0,121 


F. = 


: 0,087 


Vi 


= 0,(B3 


U,= 


= 0,047 


Mi 


= 0.006 



Bei der Beurteilung der Prozentsätze ist auf den Umstand 
zu achten, dafs für die Angehörigen der jüngeren Creneration, 
welche zum gröfseren Teil noch keine Kinder haben, die Rubrik 
„fragUch^ aufserordentlich stark vertreten ist: 

' Die Berechnung nach Methode II ergibt einen ansgeeprocheiieii 
G^ensmti zwischen der Neigung, jedem seine Freiheit zu lassen einerseits, 
und der Herrschsucht oder der Lenkbarkeit andererseits, während die 
heredit&re Beziehung zwischen Herrschsucht und Lenkbarkeit naheso gleich 
oft positiv wie negativ ist Auch hier wird wieder an den Znaamw^^nhang 
zwischen Auto- und Heterosuggestibilitftt zu denken sein. — Folgen wir 
jener Andeutung, so gewinnen wir nach Methode I folgende Zahlen: 
herrschsüchtig oder lenkbar: G, = 0,338 Gi = 0,384 

Vm = O.OiO Vt = 0,016 

Ms = 0.'^Ö2 Mt = 0,038 

jedem seine Freiheit lassend: Gm = 0,516 Gt = 0^468 

Vm = 0,105 Vi = 0,054 

Af. = - 0,010 Mi = 0,054 

* Diese Kombination wurde bevorzugt, weil die Berechnnng nach 
Methode II den stärksten Gegensatz zwischen freiheitlicher und Bftrtlicher. 
einen weniger starken zwischen freiheitlicher und strenger, nnd den 
•ch wachsten zwischen strenger nnd zärtlicher Eraiehnng anzeigt. 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Qrund einer Massenunterstichung. 367 



von den V. üben 24 ®/o strenge, 2b % zärtliche, 42 % freiheitliche Erziehung 



MO. „ 


18% 


S. „ 


9 7. 


T. „ 


7% 


Ma. „ 


14 7o 


Fr. „ 


11% 



50 O/o 

17 «/o 
22% 
20% 
33% 



29% 
13% 
12% 
23% 
18% 



Frage 54 (Bd. 42, S. 267). Methode I 

gütig gegenüber Untergebenen: Ot = 0,616 

V» = 0,122 



nicht gütig gegenüber Untergebenen 



Prozentsätze : 



Ms = 0,081 

G» = 0,071 

F, = 0,000 

Ms = 0,029 



Gl = 0,670 

Vt = 0,124 

Mt = 0,044 

Gt = 0,123 
Vt = 0,050 
Mt = 0,026 



von den V. sind 86% gütig, 5% nicht gütig gegenüber Untergebenen 
„ „ Mü. „ 83% „ 13% „ 

j» 11 ". „ 77 Iq „ 5 /o „ „ 

11 11 T. „ 80% „ 6% „ 
„ „ Mä. „ 80% „ 5% „ 



Fr. 



81 % 



9% 



Frage 65 (Bd. 42, S. 268). Methode I 



mitleidig und hilfsbereit: Gs = 0,505 

Vs = 0,107 

Ms = 0,130 

egoifitiBch oder grausam ^: Gs = 0,305 

Vs = 0,082 
Ms = 0,091 



Gt = 0,643 
Vt = 0,082 
Mt = 0,090 

Gt = 0,166 
Vt = 0,029 
Mt = 0,048 



Das stärkere Mitleid und der geringere Egoismus der Frauen 
wird durch die Prozentsätze für beide Generationen bestätigt: 

von den V. sind 75 % mitleidig, 14 % egoistisch, % grausam 
Mü. „ 83% „ 9% „ 0% „ 

S. „ 67% „ 18% „ 1% „ 

T. „ 76% „ 11% „ 0% ., 

Mä. „ 70% „ 16% „ 1% „ 

Fr. „ 79% „ 10% „ 0% 



' Diese Kombination wird durch die verschwindend geringe Anzahl 
der „Grausamen'^ nahe gelegt. 



358 Ö« Heymans und E. Wiersnia. 

Frage 56 (Bd. 42, S. 269). Methode I 

persönlich tätig: G, = 0,124 Gt = 0,190 

Vs = 0,086 Vt = 0,100 

Ms = 0,063 Mt = 0,174 

in keiner Weise tfttig: G, = 0,171 Gt = 0,109 

Vs = 0,072 Vt = 0,016 

M, = 0,088 Mt = 0,074 » 

Prozentsätze : 
von den V. sind 32®/o persönlich, 40% durch Geldbeiträge, 11% nicht tätig 
, „ MO. „ 26% „ 37% „ 

„ , S. „ 15% „ 31% , 

n n T. „ 24% „ 27% „ 

„ „ Mä. „ 21 /q „ 34 ,0 ^ 

Frage 57a (Bd. 42, S. 270). Methode I 

politisches Interesse: Gs = 0,500 
V, = 0,154 
Jtf, = 0,013 

kein politisches Interesse : G» = 0,241 

\\ = 0,079 
16=0,030 

Prozentsätze : 

von den V. haben 84 ®o politisches Interesse, 12^,0 nicht 
, „ Mü. „ 2S\ „ r, 32% , 

» „ S. . 62% „ . 18% . 

» r T. „ 27% „ „ 30 ,0 ,, 

, , Mä. „ 70% , „ 16% , 

r r IT- » ^*'« •♦ w 31*0 

Frage 57 b (Bd. 42, S. 270). Methode I 

radikal: G* = O.IW Gt = 0,125 

r, = 0.100 Vt = 0,050 

Ms = 0,039 Jtfi = 0,060 

konservativ: Gs = 0,066 Gt = 0,038 

T', = 0,131 Vt = 0,067 

3f, = 0H>17 Mt = 0,111 



1» 


ö% 


n 


14% 


r 


10% 


n 


13% 


n 


»•/o 


le I 




Gt = 


: 0,215 


Vt = 


0,084 


Mt = 


0,124 


Gt = 


0,296 


Vt = 


0,0(3 


Mt = 


0,120 



' Die Berechnung nach Methode II ergibt einen absoluten GegenBmU 
swiBchen persönlicher Tätigkeit und vollständiger Abstinenz aof philmn- 
thropischem Gebiet, einen weniger ausgesprochenen Gegensatz zirischen 
persönlicher Tätigkeit und blolsem Geldbeisteuem. und kaum noch einen 
Gegensatz zwischen bloCsem Geldbeisteuem und vollständiger Ahetinenx. 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuckung, 360 

Prozentsätze : 

von den V. ßind 9% radikal, 56% gemäTsigt, 19% konaervativ 

, , MO. „ 3% „ 12% , 12% 

„ „ 8. „ 18% „ 36% „ 9% 

, , T. , 12% , 10% „ 5% 

„ „ Mä. „ 15% „ 43% , 12% 

, „ Fr. „ 8% , 11% „ 8% 

Frage 58 (Bd. 42, S. 271). Methode H 

politisch tätig: G, = 0,108 Gf = 0,027 

Vs = 0,041 Vt = 0,001 

Ms = 0,014 Mt = 0,009 

Prozentsätze : 

von den V. sind 12 % politisch tatig 

„ „ Mü. „ 1% 

n p "• n * 10 n n 
T 9 01 

„ „ Mä. „ 9% 

n « Fr. p 2% „ „ 

Frage 59 (Bd. 42, S. 272). Methode I 

patriotisch: G, = 0,273 Gt = 0,233 

Vs = 0,143 Vt = 0,124 

Ms = 0,101 Af< = 0,160 

nicht patriotisch: Gs = 0,416 Gt = 0,322 

F, = 0,138 Vt = 0,129 

M, = 0,114 If/ = 0,147 

Prozentsätze : 

von den V. sind 42% patriotisch, 32% nicht 

„ „ Mö. „ 28% „ 28% r 

„ „ 8. „ 29% „ 40% „ 

„ „ T. „ 25% , 30% „ 

, „ Mä. „ 34% „ 37% , 

. . Fr. „ 280/, ^ 29% „ 



Frage 60 (Bd. 42, S. 273). Methode I 

G» = 0,594 Gi 

Vs = 0,073 Vi 

Ms = 0,061 Mt = 0,100 



natürlich: Gs = 0,594 Gt = 0,590 

7, = 0,073 Vt = 0,047 



9f^ G. Heymans und E. WicrBma. 



gMwungen oder gesiert': O. 

V, 
M, 
Prozentsätze : 


II II II 
111 




Vt = 0,027 
Ml = 0,092 


von 


den V. Bind 740/, 
„ Mü. „ 71% 


natürlich^ 

n 


, 16% 
17% 


gecwungen, 6% 

6% 


n 
n 


„ 8. » 66% 
„ T. „ 66% 




21% 
18«/. 


7% 
» 117, 


n 
II 


. M». „ 69% 

„ Fr. , 68% 


n 


197. 
18% 


6% 
97. 



Frage 61 (Bd. 42, S. 274). Methode I 

demonstrativ: G» = 0,439 Gt = 0,444 

V, = 0,060 Vi = 0,083 

Ms = 0,016 Mt = 0,048 

▼erechloBsen oder Heuchler«: Gm = 0^3 Gt = 0,319 

V, = 0,049 Vt = 0,043 

M, = 0,026 Mt = OfTS 
Prozentsätze : 

von den V. sind 43% demonstrativ, 36% verschlossen, 1% Heuchler 
„ „ Mü. , 34% „ 36% „ 1% „ 

n n S. „ 44 /q „ 34 /q „ 1 /q „ 

„ . T. „ 46% „ 30% , 1% 

„ „ Mft. „ 44% „ 36% „ 1% n 

„ , Fr. „ 41% „ 32% „ 1% 

Frage 62 (Bd. 42, S. 274). Methode I 

ehrlich hervortretend: G» = 0,684 Gt = 0,652 

Vi = 0,116 Vt = 0,063 

Ms = 0,076 Mt = 0,081 

diplomatisch oder intrigant»: Gs = 0,260 Gt = 0,225 

Vs = 0,069 Vt = 0,066 

Ms = 0,058 Mt = 0,064 

^ Die Zusammenfassung von „gezwungen^' und „geziert*' in eine Gruppe 
wird durch die nach Methode II berechneten hereditären Beziehungen durch* 
gängig gerechtfertigt. 

* Methode II ergibt eine stärkere Verwandtschaft der Heuchler zu 
den Demonstrativen als zu den Verschlossenen und einen maximalen 
Gegensatz zwischen den beiden letzteren ; doch ist die Zahl der als Heuchler 
Bezeichneten so gering, dafs die Zusammenfassung derselben mit den 
Demonstrativen oder den Fraglichen die obigen Resultate kaum merklich 
beeinflufst. 

' Methode II ergibt sehr innige Beziehungen zwischen diesen beiden 
Eigenschaften, und einen ausgesprochenen Gegensatz beider zum ehrlichen 
Hervortreten. 



Beiträge zw speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung, 361 

Nach den Prozentsätzen zu urteilen, ist die gröfsere Ehrlich- 
keit der Frauen eine Errungenschaft neuester Zeit: 

von den V. sind 73% ehrlich, 16% diplomatisch, 1% intrigant 

„ „ Mü. „ 70o/o „ 16% „ 4% 

„ „ S. „ 69% , 17% „ 2% „ 

„ „ T. „ 72% , 13% „ 3% 

„ „ Mä. „ 71% „ 17% „ 2% , 

„ , Fr. „ 71% „ 14% „ 3% 

Frage 63 (Bd. 42, S. 275). Methode I 

vollkommen glaubwürdig: (?.« = 0,516 G< = 0,575 

y,== 0,113 7/ = 0,1 12 

J/, = 0,121 3/< = 0,104 

übertreibend, aasschmückend oder lügnerisch * : fr* = 0.377 Gi = 0,338 

r,==. 0,085 yr = 0,083 

A/, = 0,097 Jtf< = 0,089 

Nach den Prozentsätzen scheinen die Frauen auch in der 
WahrheitsHebe erst in der jüngeren Generation die Männer über- 
flügelt zu haben: 

V. d. V. sind 65% glaubw., 15% übertreib., 12% ausschmück., 2% lügnerisch 
„ „ Mü.„ 63% „ 17% „ 8% „ 4% 

. « S. „ 6U% „ 12% „ 15% „ 4% 

3 /o »» 

4% 

3% 



Gt = 0,654 
Vi =■ 0,064 
Mt = 0,154 
Gl = 0,119 
Vt = 0,033 
Mt = 0,059 

^ Der gemeinschaftliche Gegensatz dieser drei Merkmale zur Glaub- 
würdigkeit, sowie ihr gegenseitiger Zusammenhang, wird durch die Resultate 
der Methode II sichergestellt; allerdings ist dieser Zusammenhang ein 
bedeutend engerer zwischen „ausschmückend" und „lügnerisch", als zwischen 
„übertreibend" und „ausschmückend" oder „übertreibend" und „lügnerisch". 
Dies war zu erwarten: die Übertreibung ist meistens ein Produkt über- 
mäTsiger Gefühlswertung, während das Ausschmücken gewöhnlich bei kaltem 
Blute stattfindet. 

* Die Berechnung nach Methode II bestätigt die vorgenommene 
Gruppierung, insofern die hereditären Beziehungen zwischen „unbedingt 



»I » *• » 


6Ö0/0 „ 


15% 


); 


9 


'lo 


„ „ Mä. „ 


62 »/o „ 


l-'»/. 


Jt 


14 


% 


» II Fr. „ 


65»/, „ 


16 7o 


>J 


9 


% 


Frag 


:e 64 (Bd. 


42, S. 


277). : 


Methode I 




unbedingt zuverlässig 


: Gs 


= 0,541 










Vs 


= 0,143 










Ms 


= 0,131 


Grenzen des Gesetzes oder unehrlich* 


: G, 


= 0,287 










Vs 


= 0,115 










Mi 


= 0,087 



362 



G. Htymana und E. Wiersma. 



Die Prozentsätze ergeben eine merklich grölsere Zuverlässig- 
keit der Frauen in beiden Generationen: 

V, d. V. sind 83 »/o unbed. zuverl., 11 »/o ehrl. ino. d. Gr. d. Ges., 1% unehrL 
„ Mü. „ 86 7o „ „ 4% „ „ „ ., 1% 



S. 
T. 

Mä. 
Fr. 



76o/„ 

82 o/o 
78% 

83 o/o 



11 7o 

4% 

11% 
4% 



17o 
0% 

1% 
1% 



Frage 65 (Bd. 42, S. 278). Methode I 

warm oder konventionell: G$ = 0,185 Gt = 0,336 

Vs = 0,117 Vi = 0,126 

Mm = 0,096 Ml = 0,193 

Spötter oder gleichgültig: G» = 0,6ö0 Gt = 0,512 

Vs = 0,160 Vt = 0,119 

Ms = 0,067 Ml = 0,192 

Die Prozentsätze aus dem Rohmaterial bestätigen die stärkere 

Religiosität des weiblichen Geschlechts in den beiden Grenerationen: 

V. d. V. sind 26 o/o warm, 2S% konvent. religiös, 50/0 Spötter, 33 0/0 gleichgültig 
„„Mü.„ 340,0 „ 300,, ., „ 10/^ „ 250/0 



S. 



Mft. 
Fr. 



13% 
200.0 

n% 

260' 



300,, 

13 «^ 
230/0 

18% 
260,0 



OO' 
" 
Q 0/ 
ö /o 

70/ 



51% 
39% 
45% 
330,0 



Frage 66 (Bd. 42, S. 279). Methode 1 

Kinderfreund: Gs = 0,443 Gt = 0,594 

Vs = 0,119 Vi = 0,053 

Ms = 0,125 Mt = 0,156 

nicht Kinderfreund: Gs = 0.180 Gi = 0,144 

Vs = 0,028 Vi = 0,018 

Ms = 0,042 Mt = 0,064 

Prozentsätze : 

von den V. sind 64 0, Kinderfreund, 16 Oo nicht 



Mü. 


. 72», 


11% 


S. , 


. 59». 


14% 


T. . 


.71% 


9% 


Ma. . 


. 60», 


1*% 


Fr. . 


.71% 


10», 



luverllfcsstig'' und „ehrlich Innerhalb der Grenien des Geeetaes'* überall 
negativ, diejenigen iwischen „ehrlich innerhalb der Grenzen des Gesataes** 
and „unehrlich** dagegen eben80 oft positiv als negativ sind. 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung. 363 



Frage 67 (Bd. 42, S. 279). Methode I 

Tierfreund: Gs = 0,495 Gt = 0,429 

Vs = 0,134 Vi = 0,166 

Ms = 0,096 Mt = 0,146 

nicht Tierfreund : G$ = 0,226 Gt = 0,262 

Vs = 0,067 Vt = 0,097 

Ms = 0,090 Mt = 0,112 
Prozentsätze : 

von den V. sind 61 % Tierfreund, 25 7o nicht 

„ Mö. „ 48 o/o „ 25 0/, ^^ 

V s- „ 550/, „ 190/0 „ 

V T. „ 510/, ^^ 200/, „ 
„ Mä. „ 540/, „ 210/, „ 
n Fr. „ 50 0/, ^^ 220/, „ 

Frage 68 (Bd. 42, S. 280). Methode I 

Höhergestellte: (?, = 0,157 G« = 0,196 

Vs = 0,077 Vt = 0,115 

Ms = 0,127 Mt = 0,153 

Niedrigergeßtellte : Gs = 0,150 Gt = 0,090 

Vs = 0,065 Vt = 0,022 

Ms = 0,068 Mt = 0,070 

Prozentsätze : 

den V. gehen 18 0/, vorzugsw. mit Höher-, 10 0/, mit Niedrigergest. um 

Mü. „ 210/, „ „ 10 0/^ 



8. 
T. 

Mä. 
Fr. 



17% 
22 0/, 

22 0/, 



14% 
8% 

13% 
9% 



Frage 69 (Bd. 42, S. 281). Methode I 

verschieden: G, = 0,154 0/ = 0,162 

Vs = 0,081 Vt = 0,090 

Ms = 0,024 Mt = 0,016 

gleich: Gs = 0,607 Gt = 0,628 

Vs = 0,146 Vt = 0,155 

Ms = 0,095 Mt = 0,068 
Prozentsätze : 

V. d. V. verhalt, sich 90/, verschieden, 82 0/, gleich geg. Höher- u. Niedrigergest. 

?i 820/, ^^ ^^ ^^ 

7fto/ 

j> 790/, ,. ,, „ 
7Q0/ 

80% ,. ,. 



Mü. 


ti 


,. 8% 


S. 


11 


„ 8% 


T. 


}> 


„ 8% 


Mä. 


»; 


„ 8»/o 


Fr. 


t» 


,. 8% 



364 



6. Heymans und E. Wiersma. 



Frage 70 (Bd. 42, S. 281). Methode I 



mutig: G, = 0,465 




Gl = 0,397 


V, = 0,102 




Vi = 0,095 


M, — 0,063 




Ml = 0,117 


furchtsam oder feig': Qt = 0,300 




Gl = 0,387 


V, = 0,062 




Vi = 0,087 


M. = 0,056 




Ml = 0,117 


Prozentsätze : 






von den V. sind 43 "/o mutig, 


30«/, furchtsam, 1°/, fei 


,. „ MO. „ 39 »/o „ 


32»/, 


ö% „ 


„ ., S. „ 480/0 „ 


27 0/, 


a'A. „ 


„ „ T. ,. 42»/, „ 


350/0 


3»/« „ 


„ „ Mä. „ 46 7« ., 


280/0 


•» 2 /o J 


„ „ Fr. „ 40 »/o ,, 


m\ 


40/0 , 


Frage 71 (Bd. 42, S. 282). 


Methode I 


Vergnügungssucher: Q» = 0,281 




Gt = 0,304 


V. = 0,118 




Vi = 0,131 


M. = 0,1 ('.2 




Mt = 0,169 


einsiedlerisch: G, = 0:127 




Gt =- 0,039 


V. -- 0,017 




Vt = 0,056 


M. = 0,04« 




Mi = 0,026« 


Prozentsätze : 






von den V. sind 24 % Vergnflgnngssucb 


ler, 65 «/o 


häuslich, 6»/o ei 


,. „ Mü. „ 19«/, 


69 o/o 


„ 67o 


„ „ S. „ 32 »/o 


49*/o 


,, n^ 


„ „ T. „ 35<>/„ 


520/0 


„ 50/0 


„ „ Mä. „ 29''/„ 


560/, 


. i07o 


., „ Fr. „ 29% 


68 0/0 


11 6% 



* Die Zusammengehörigkeit von „furchtsam" und „feig" wird durch 
die Berechnung nach Methode II durchgängig bestätigt. 

* Nach den Ergebnissen von Methode II stehen sich Vergnügungs- 
sucher und Häusliche schroff gegenüber, während zwischen VergnOgungs- 
suchern und Einsiedlern, sowie auch zwischen Häuslichen und Einsiedlern, 
neben den negativen auch positive hereditäre Beziehungen vorliegen. Für 
jenen ersteren Gegensatz ergibt Methode I; 

Vergnügungssucher: G» = 0,383 Gt = 0,436 

Vs = 0,064 Vi = 0,088 

Ms = 0,064 Mi = 0,107 

häuslich: G» = 0,397 Gt = 0,4'>2 

Vs = 0,086 Vt = 0,048 

Ms = 0,110 Mi = 0,125 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Ghrund eitler Massennntersuchung. 365 

Frage 72 (Bd. 42, S. 283). Methode I 

Beden über Sachen : ö, = 0,345 Gt = 0,260 

Vi = 0,275 Vt = 0,077 

Mi = 0,164 Mt = 0,192 

Beden über sich selbst: Gi = 0,107 Gt = 0,088 

Vi = 0,066 Vt = 0,004 

Mi = 0,034 Mt = 0,053 ^ 

Die Prozentsätze zeigen bedeutsame Unterschiede an zwischen 
den beiden Geschlechtem und den beiden in Untersuchung ge- 
nommenen Generationen: 

V. d. V. reden 61®/o vorzugsw. üb. Sachen, 7% Ob. Pers., b% üb. sich selbst 
„ Mü. „ 250/, ^, ^^ 370/^ ^^ 6% 

„ S. „ 53% „ „ 10% „ 6% 

« T. „ 330/0 „ „ 260/, ^^ go;^ 

„ Mä. „ 56o/o „ „ 90/, „ 60/, 

» Fr. „ 300/, ^^ ^^ 300/^ ,, 70/^ 

Frage 73 (Bd. 42, S. 284). Methode I 



Liebhaber: Gi = 0,305 
Vi = 0,153 
Jf, = 0,014 




Gt = 0,181 
Vt = 0,089 
Mt = 0,104 


abgeneigt: Gi = 0,198 

Vi = 0,164 

J£, = 0,152 




G/ = 0,324 
Vt = 0,112 
Mt = 0,332 


Prozentsätze : 






von den V. sind 17 0/, Liebhaber, 
„ . Mü. „ 50/, 


53 0/, abgene 
62 0/, 


V »» °' 11 ^ /o 




34 0/, 
66% „ 


„ „ Mft. „ 22% 

„ „ Fr. „ 7»/o 


11 
11 


41% 

68% M 


Frage 74a (Bd. 42, S. 286). 


Methode I 


viel lesen: G, = 0,468 
V. = 0,0«8 
M. = 0,017 




ffr = 0,494 
7/ = 0,042 
Mt = 0,111 


wenig lesen: G< = 0,406 

V, = 0,082 

1£, = 0,011 




Gt = 0,334 
7/ = 0,051 
Mt = 0,113 



' Das Vorliegen eines maximalen Gegensatzes zwischen dem Reden 
über Sachen und über sich selbst wird durch Methode II bestätigt. 



366 



6r. Heymans und E. Wiersnia. 



Prozentsätze : 



von den V. lesen öO®/o viel, 36% weni^ 
Mfi 41 ^1 AX ^1 

8 4Q 0/ QO 0/ 

>T »I T. „ 50 /o ,, 33 /q „ 
„ „ Mä. „ 48% „ 38% „ 
„ „ Fr. „ 47% „ 37% „ 



Frage 74b (Bd. 42, S. 285). Methode I 

genau und geordnet behalten: G» = 0,383 Ot = 0,34ö 

F, = 0,141 Vt = 0,151 

yU = 0,110 Mt = 0,113 

ungenau und verwirrt behalten: Gs = 0,142 Gt = 0,193 

Vs = 0,011 Vt = 0,031 

Ms = 0,045 Mt = 0,067 



Prozentsätze : 

von den V. behalten 66% genau u. geordnet, 13% ungenau u. verwirrt 
„ „ Mü. „ 33% „ „ 21% 

•t »I "• >! '" /o n Ti 1° /o 11 n 

•I » T. „ 42 /j „ ,, 17 /j „ „ 



Mä. 
Fr. 



50 »/o 
38»/„ 



13% 
19% 



Frage 75 (Bd. 42, S. 286). Methode II 



abstrakte Grübeleien 


0, 


= 0,154 


Gt = 0,093 




V. 


= 0,194 


Vt = 0,073 




M. 


= 0,129 


Mt = 0,046 


Prozentsätze : 








von den V. vertiefen sich 15% >n 


abstrakte Grübe 


„ ., Mü. 


>J 


„ 10% „ 


V ?> 


., ., s. 


» 


. 19 % „ 


tr •> 


., ., T. 


?1 


„ 11 % „ 


T> » 


„ „ Mft. 


l> 


„ 18% „ 


»» II 


„ ,. Fr. 


M 


„ 11% ,. 


T» IJ 



Frage 76 (Bd. 42, S. 287). Methode II 



Sammeleifer: Gt = 0,110 

Vz = 0,228 

Ms = 0,091 



Gt = 0,056 
Fi = 0,145 
Mt = 0,031 



Beiträge zur speziellen Psychologie auf Ghrund einer Massemmtersuchung. 367 



Prozentsätze : 



von den V. sind 12®/o Sammler 
M „ Mü. „ 4% „ • 

11 »f S. „ 14 Iq „ 

M 11 ■'■• 11 ' 10 11 

11 11 Mä. „ 13% 

11 11 Fr. „ 6®/o „ 



Frage 77 (Bd. 42, S. 287). Methode II 



Neuerungssucht: Gm = 0,0H0 
y, = _0,0S 
Ms = 0,243 



Gt = 0,030 
7/ = 0,463 
Mi = 0,184 



Diese Zahlen sind wegen der sehr geringen Anzahl der als 
Neuerer zu bezeichnenden Personen unzuverlässig. 

Prozentsätze : 



von den V. sind 1 % 
„ „ Mü. „ 30/, 


Neuerer 

1» 


11 11 S. „ 3% 
„ „ T. „ 40/, 


11 
11 


„ „ Mä. „ 3% 
» 11 Fr. „ 4% 


11 
11 


78 (Bd. 42, S. 289). Methode II 


Sportliebe: Gs = 0,467 

Vi = 0,225 

Mi = 0,133 


Gt = 0,231 
Vt = 0,217 
Mt = 0,209 


Ȋtze : 

von den V. sind 48% Sportliebhaber 
„ „ Mü. „ 16 0/0 


„ „ s. „ 590/0 

„ „ T. „ 370/, , 


11 
11 


„ „ Mä. „ 550/0 
„ „ Fr. „ 29% 


11 
11 



Frage 79 (Bd. 42, S. 289). Methode II 



Verstandesspiele: G* = 0,228 
V* = 0,253 
Ms = 0,056 



Gt = 0,087 
Vt = 0,119 
Mt = 0,137 



368 



G, Heymans und E. Wiersma. 



Prozentsätze : 

von den V. sind 58 % Liebhaber von Verstandesspielen 
„ Mü. „ 25 «/o 

1t ^' >> *'*' /o » >» »J 

T 19®/ 

»j -■■• >• *•' /o »> I» > 

„ Mä. „ 46% 

„ Fr. „ 22% „ „ „ 

Frage 80 (Bd. 42, S. 290). Methode H. 

Hier sind, da von den Eltern nur 6 Väter als Hochspieler 
bezeichnet wurden, dieselben mit den sonstigen Glücksspielen! 
in eine Gruppe zusammengefafst worden: 



Glücksspiele: G» 


= 0,112 




Gt = 0,029 


7. 


= 0,210 




Vt = 0,088 


M, 


= 0,400 




Mt = 0,368 


Prozentsätze : 








von den V. sind 1 % 


Hochspiele 


r, 6% 


sonstige Glücksa 


„ ,, Mü. „ 0% 


j> 


3% 


9* 99 


„ „ S. „ 2\ 


M 


12% 


» M 


„ „ T. „ 0% 


1) 


4% 


79 >» 


„ ,, Mä. „ 2% 


>? 


10% 


11 11 


„ M Fr. „ 0% 


>? 


4% 


91 11 



Frage 81 (Bd. 42, S. 290). Methode H 

Yerwandtschaftsbeziehungen und Yermögensverhältnisse : 

Gs = 0,Ü2Ü Gt = 0,067 

Vs = 0,134 Vt = 0,206 

Mm = 0,128 Mt = 0,188 

Prozentsätze : 

von den V. sind 39 % bewandert in Verwandtschaftsbez. usw. y. Bekannten 
Mü. „ 51% 

8. „ 13 /o „ „ 

T. „ 25% 

Mä. „ 22% „ „ 

Fr. „ 340/0 



VI. Verschiedenes. 

Frage 82 (Bd. 42, S. 291). Methode I 

Komplimentenschneider : Gg = 0,060 Gt = 0,069 

Vs = 0,062 Vt = 0,136 

Ms == 0,113 Mt = 0,109 



Beiiräge zur spezieüm Fsychologie avf Orund einer Massenunter9uchung. 369 



grob: 


G, 


=•0,076 




Vm 


= 0,036 




Ms 


= 0,010 


Prozentsätze : 






11 den V. sind 14% 


KOD 


apliment 


„ Mü. „ 80/, 




1 


„ S. „ 9% 




1 


„ T. „ 80/, 




f 


„ Mä. „ 110/, 




y 


„ Fr. „ 8o^ 




t 



Gt = 0,036 
Vt = 0,028 
if< = 0,043» 



85o/o „ 30/, 

79% „ 70/, 
860/0 „ 30/, 

77% „ 70/, 
850/0 „ 30/, 

Frage 83 (Bd. 42, S. 292). Methode I 

zerstreut : Gm = 0,322 Gt = 0,218 

V* = 0,060 Vt = 0,085 

Mm = 0,045 Mt = 0,061 

stete wach: G, = 0,374 Gt = 0,501 

Vi = 0,108 Vt = 0,071 

M, = 0,093 Mt = 0,116 

Nach den Prozentsätzen ist die gröfsere Disposition zur Zer- 
streutheit den Männern der jüngeren Generation eigentümüch: 

von den V. sind 18 0/, zerstreut, 62 0/, stete wach 
„ „ Mü. „ 200/, „ 550/, „ 

j» 11 S. „ 27 /, ,, 4o /, „ „ 

»» »» T. „ 19 /, „ 56 /, „ „ 

„ „ Mä. „ 240/, „ 610/, „ „ 

„ „ Fr. „ 190/, „ 66 0/, ^^ ^^ 

Frage 84 (Bd. 42, S. 293). Methode I 

reinUch und ordentüch: G$ = 0,628 Gt = 0,616 

Vm = 0,068 Vt = 0,090 

M, = 0,063 Ml = 0,108 

» Methode II weist nach, dafs die hereditären Beziehungen zwischen 
Komplimentenschneiderei und Grobheit 6 mal positiv gegen 3 mal negativ, 
diejenigen zwischen Komplimentenschneiderei und Höflichkeit dagegen 
stete, und diejenigen zwischen Höflichkeit und Grobheit mit einer Aus- 
nahme negativ sind. Legen wir diese stärksten Gegensätze der Berechnung 
nach Methode I zugrunde, so ergeben sich folgende Zahlen: 

Komplimentenschneider oder grob: Gs = 0,284 Gt = 0,180 

7, = 0,091 Vt = 0,091 

Ms = 0,096 Mt = 0,033 

höflich: Gs = 0,647 Gt = 0,764 

Vs = 0,096 Vt = 0,097 

Ms = 0,119 Mt = 0,059 

Zeitschrift für Psychologie 43. 24 



870 



G. Heymant und E. Wienma, 



unordentlich : Gi = 0,339 

Vi = 0,065 

Ms = 0,069 



Gt = 0,299 
Vt = 0,094 
Mt = 0,097 



Die stärkere Neigung der Frauen zur Reinlichkeit und 
Ordnung dokumentiert sich in den Prozentsätzen für beide 
Generationen : 

von den V. halten 68®/o auf Reinlichkeit u. Ordnung, 20% sind unordentl. 
„ „ Mü. „ 820/, ^^ ^^ ,, 12 0/^ 

„ „ S. , 620/, ^^ ^^ ^^ 26 0/, 

16% 



T. 


>» 


TB% 


Mä. 


»> 


64<'/. 


Fr. 


11 


767. 



Frage 85 (Bd. 42, S. 293). 

pttnktUch: Gi = 0,495 
r, = 0,146 
M. = 0,064 

nicht pünktlich: G, = 0,303 

V. = 0,092 

3f. = 0,028 



Methode I 

Gl = 0,619 
Vi = 0,100 
itfi = 0,069 

Gt = 0,246 
r, = 0,053 
16 = 0,027 



Nach den Prozentsätzen haben die Männer erst in der 
jüngeren Greneration ein bedentendes Plus an Pünktlichkeit ganz 
oder fast ganz verloren: 

von den V. sind 81 % pünktlich, 8 % nicht 
„ „ Mtt. „ 630/, „ 13 7o 



S. 
T. 

Ma. 
Fr. 



63«/, 
62% 

69% 
62% 



22% 
19'/, 

17 7o 
17% 



Frage 86 (Bd. 42, S. 294) eignet sich aus den dort ange- 
gebenen Gründen schwerUch zur Ermittlung von Geschlechts- 
und Erblichkeitskoeffizienten. 

Prozentsätze : 

V. d. V. reden 9 % würdevoU, 35 % eachl., 27 % gemütl., 3 % ironisch, 7 % drauf los 
„ MO. „ 4% „ 16% „ 46% „ 1% „ 16% 



S. „ 7% 

T. „ 6% 

Mft. „ 8% 

Fr- „ 67o 



27% 
207o 
30% 
18% 



28% 
34% 
27% 
38% 



6% 
*7. 

67. 
3% 



117« 
17% 

10% 
17 7, 



Beiträge ztw speziellen Ftychologie auf Grund einer Massenunteretichung. 371 - 



Frage 87 (Bd. 42, S. 296). 
merkung wie bei Frage 86. 
Prozentsätze : 



Hier gilt die nämliche Be- 



V. d. V. reden 3 ^/o schleppend, ß% schreiend, 53 7o gleichm., 8% abbeiisend 



„ Mü. „ 60/. „ 57. 


)l 


61»/, 


„ 2% 


„ 8. „ 4% „ 7% 


»? 


61»/. 


n 10% 


„ T. „ 6% „ 6»/. 


»» 


64% 


„ 8% 


„ Mä. „ 3»/. „ 7«/, 


yt 


61% 


„ 9% 


„ Fr. „ 6% „ 60/. 


»» 


67% 


„ 6% 


Frage 88a (Bd. 42, S. 296). 




Methode I 




viel lachen: 6. = 0,378 




Gi = 


= 0,621 


V. = 0,069 




Vt = 


= 0,102 


M, = 0,050 




Mi = 


= 0,082 


wenig oder nie lachen: Q$ = 0,415 




Qt = 


= 0,301 


V, = 0,078 




F« = 


= 0,128 


M, = 0,082 




Mt = 


= 0,082 



Prozentsätze : 

von den V. lachen 27% viel, 50 % wenig, 1% nie 

„ Mü. „ 330/, ^^ 470/^ ^^ 10/^ ^^ 

„ S. „ 36 0/0 „ 430/, „ 10/. „ 

„ T. „ 48% „ 34% „ 1% „ 



Mä. 
Fr. 



33% 
43% 



45% 
39% 



1% 
1% 



Frage 88b (Bd. 42, S, 296). Methode II 

lachen um eigene Witze: Qm = 0,062 Gt = 0,0 

Vi = 0,104 Vt = 0,031 

Mi = 0,053 Mt = 0,197 

Prozentsätze : 

von den V. lachen 9% um eigene Witse 

„ „ Mü. I, 1 /o t» »I M 

11 II S. „ Iq „ „ „ 

II II T. „ O Iq „ „ „ 
II li -MÄ« II • /o II II II 
11 II *'• M 2 /o „ „ „ 



Frage 89 a (Bd. 42, S. 297). Methode I 

bei Krankheit mutig: Gs = 0,312 Gt = 0,364 

V» = 0,103 Vt = 0,063 

Mm = 0,078 Mt == 0,143 



24» 



372 ^- -Erey^MaiM und E, Wtermna. 



bei Krankheit Ängstlich: G, = 0,222 
7, = 0,092 
Mi = 0,014 




Qt = 0,269 
Fi = 0,060 
1£, = 0,043 


Prozentsätze : 






von 

11 


den y. Bind 24% bei Krankheit mutig, 81% ftr 

„ Mü. „ 47% „ „ „ 22% 


11 
11 


„ S. „ 33% „ 
„ T. „ 40% „ 


11 
11 


,, 22% 
„ 26% 


11 
11 


„ Mä. „ 30% „ 
„ Fr. „ 42% „ 


11 
11 


„ 26% 
„ 24% 



Frage 89b (Bd. 42, S. 297). Methode I 

bei Krankheit geduldig: Gm = 0,280 Gt = 0,364 

Vi = 0,121 Vt = 0,081 

Mi = 0,081 Mt = 0,101 

bei Krankheit ungeduldig: Gi = 0,258 Gt = 0,228 

Vi = 0,089 Vt = 0,066 

Mi = 0,036 Mt = 0,046 

Prozentsätze : 

von den V. sind 41% bei Krankheit geduldig, 31% ungeduldig 
Mü. „ 58% „ 



10 



S. „ 

T. „ 41% 

Mä. „ 36% 

Fr. „ 47% 

Frage 89c (Bd. 42, S. 297). Methode I 

bald Ärztliche Hilfe einrufen: Gi = 0,274 

Vi = 0,061 
Mi = 0,003 

nicht bald ÄrztUche Hilfe einrufen: Gi = 0,180 

Vi = 0,046 
Mi = 0,047 

Prozentsätze : 

von den V. suchen 37% bald Ärztliche Hilfe, 24% nicht 

„ „ Mü. „ 34% ,. „ „ 28% „ 

11 11 S. „ 28 /o „ „ „ 17 /d ,, 

11 11 T. „ 30 Iq ,, „ „ 19 /o „ 

,, „ Mä. „ 31 Iq „ „ „ 20 Iq „ 

11 11 Fr. „ 32% „ „ „ 23% „ 



14% 


11 


24% 


11 


20% 


11 


26% 


11 


18% 


11 


Gt 


= 0,295 


Vt 


= 0,069 


Mt 


= 0,045 


Qt 


= 0,204 


Vi 


= 0,061 


Mt 


= 0,091 



Beiträge zur spezieUen Psychologie auf Orwnd einer MasaenunterstKihung^ 373 



Frage 90 (Bd. 42, S. 299). Methode II 

psychische Störungen: Gt = 0,095 Qt = 0,125 

Vi = 0,237 Vt = 0,157 

M, = 0,159 Mt = 0,136 

Prozentsätze: 

von den V. haben 15% &n psychischen Stömngen gelitten 



JIIU. „ 


^° /o » 


ff 1t 1 


s. „ 


16% „ 


»» 11 >J 


T. , 


187. „ 


11 11 1 


Ma. , 


, 167o „ 


11 11 1 


Fr. , 


IS»/. „ 


11 11 11 



Damit wären also für die verschiedenen Charaktereigen- 
schaften, anf welche unsere EnqnSte sich bezieht, so genau wie 
die vorliegenden Daten es gestatten, die Geschlechts- und die 
Erblichkeitskoeffizienten bestimmt. In unserem ersten Artikel 
haben wir das uns zur Verfügung gestellte Rohmaterial in sach- 
gemäTser Ordnung vorgeführt; in diesem zweiten demselben 
eine mathematische Bearbeitung zuteil werden lassen; in einem 
dritten Artikel hoffen wir zunächst aus den gewonnenen Resultaten 
einige theoretische Folgerungen zu ziehen. 

(Eingegangen am 14, Auguet 1906.) 



874 



Über Nachempfindungen 
im Grebiete des kinästhetischen und statischea Sinnes« 

Ein Beitrag zur Lehre vom Bewegungsschwindel 
(Drehsch Windel). 

Von 

Dr. Hans Abels (Wien). 
(SchlolB.) 

Dauer einer knrz erregten Drehempflndnng. 

Wenn wir uns nach den Mittehi umsehen, um zu einer ver- 
lälsUchen Kenntnis über den zeitUchen Verlauf einer durch 
momentanen resp. sehr kurzen Reiz hervorgerufenen Dre&- 
empfindung zu gelangen, so stehen uns scheinbar zwei Haupt- 
wege offen, Experimente am intakten Organismus und solche 
am freigelegten Vestibularapparate. Der uns für unseren Zweck 
vorschwebende ideale Fall wäre natürlich der, wenn es bei 
irgend einer Versuchsanordnung gelänge, auf das völlig ruhende 
Organ einen momentanen (sehr kurzen) Beiz im Sinne einer 
Drehbewegung einwirken zu lassen, also unkompliziert durch 
andere etwa entgegengesetzte oder sonstwie geartete Reizmomente. 
Sehen wir nxm zu, ob und wie weit diese Forderung bei den 
beiden E^ategorien von Versuchen erfüllbar ist. 

Die erste Gruppe gliedert sich naturgemäfs, abgesehen von 
sonstigen Unterschieden der Versuchsanordnung, in kurze Dreh- 
bewegungen (ähnlich wie sie auch bei natürUchem Verhalten des 
betreffenden Individuums vorkommen) xmd in längere Rotationen. 
Bei den wenig ausgiebigen Drehbewegungen im Ausmalse von 
nicht über 180 • oder höchstens 360** folgt der einen Winkel- 
beschleunigung alsbald eine entgegengesetzte. Da wir nun 
mannigfaltige Anhaltspunkte haben, anzunehmen, dafs solche 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 376 

einander entgegengesetzte Empfindungen und natürlich auch 
ihre motorischen Begleiterscheinungen interferieren resp. einander 
aufbeben können, so ist uns damit für diesen Fall die Möglich- 
keit genommen, den ungestörten Verlauf einer einzelnen, ein- 
deutig gerichteten, durch momentanen Drehreiz hervorgerufenen 
Empfindung zu studieren. Bei den lange dauernden Rotationen 
ist es allerdings möglich, die beiden entgegengesetzten Winkel- 
beschleunigungen zeitUch genügend auseinander zu halten, um 
eine Interferenz der von denselben ausgelösten Reizerfolge aus- 
zuschhefsen. Dagegen stoisen wir hier auf ein anderes gewichtiges 
Bedenken. Um unser Desiderat einer einwandfreien Beobachtung 
zu erfüllen, müfsten wir Sicherheit darüber haben, ob das Organ 
und der im Zusammenhang damit stehende nervöse Apparat in 
der Zwischenzeit zwischen den beiden auf die Winkelbeschleuni- 
gung bezogenen Reizerfolgen tatsächlich völlig reizlos, ruhend 
oder richtiger in dem einem ruhenden Organismus entsprechenden 
Zustande sei. Dafs eine solche Annahme aber keineswegs ohne 
weiteres gerechtfertigt erscheint, geht aus manchen bekannten 
Tatsachen hervor, namentlich aus der Veränderung, welche die 
Vorstellung über die Richtung der Schwerkraft während einer 
Rotation erleidet, offenbar dxu*ch die Beeinflussung des Labyrinths 
von Seiten der Zentrifugalbeschleunigung, ferner aber aus weiteren 
Gründen, die wir allerdings erst bei der Erörterung der Rotations- 
bewegungen eingehender darzulegen imstande sind. Jedenfalls 
ist aber auch hier die Erfüllung unserer Forderung: kurze, ein- 
deutig gerichtete Winkelbeschleunigung einwirkend auf ein vor- 
und nachher völlig reizloses Organ, in Frage gestellt. 

Überschauen wir nunmehr die grofse Anzahl von Experi- 
menten am freigelegten statischen Organe, so scheiden sich bei 
weitem die meisten von selbst aus, wegen der zu weit gehenden 
Schädigung des Organs in den einen Fällen, in den anderen 
aber, weil die Reizerfolge zu diffus, nicht genügend distinkt imd 
daher mit den durch eine eindeutige kurze Drehung hervor- 
gerufenen unmöglich in Parallele zu setzen sind. Nur gegenüber 
einem Versuche reduzieren sich diese Ablehnungsgründe auf 
einen minimalen, imd wie ich glaube, vemachlässigbaren Rest, 
demjenigen Versuche nämhch, bei welchem die Nervenendstelle 
einer Ampulle auf eine mit der natürlichen so gut wie identi- 
sche Art gereizt wird. Der Versuch wurde zuerst von Bbeuek 
angestellt, später von Ewald in vervollkommneter gänzUch ein 



376 ^<^^ ^^^• 

wandfreier Form wiederholt und ergab in häufiger Ausführung 
stets dasselbe exakte Resultat. 

Es wird ein knöcherner Bogengang vorsichtig eröffnet, wobei 
allerdings ein Teil der Perilymphe abfliefst, was aber erf ahrungs- 
gemäfs bis auf eine geringe Herabsetzung der Empfindlichkeit 
des Organs keinen Schaden tut und sicher keine prinzipielle 
Änderung in den Reizbarkeitsverhältnissen des Labyrinthes er- 
zeugt. Um nun in dem häutigen Kanal und dadurch in der 
Ampulle eine Druckerhöhung resp. Strömung herbeizuführen, 
berührte Breuer den Kanal mit einem spitzen PapierschnitzeL 
Da diese Reizart noch den Nachteil hat, dafs erstens das An- 
drücken aus freier Hand bei der Kleinheit der in Frage kommen- 
den Teilchen unmöglich in gleichmäfsiger Weise bewerkstelligt 
werden kann, und daher sich durch die Druckschwankungen 
stets rückläufige Reizmomente zugesellen, und zweitens die 
Reizung auch schwer am entfesselten Tiere möglich ist, so hat 
Ewald ^ dieselbe in ingeniöser Weise durch seine Methode des 
„pneumatischen Hammers^ ersetzt. Die Berührung resp. Kom- 
pression des häutigen Kanals erfolgt hierbei durch einen feinsten 
Stift, der jedoch vorne zur Vermeidung von Verletzungen einen 
Kautschuküberzug trägt. Der Stift bewegt sich mit seinem 
breiteren, hinteren Ende in einem hohlen Zylinderchen, das 
wiederum durch eine auf den Schädel des Versuchstieres auf- 
gegipste Ansatzplatte in absolut unveränderlicher Stellung er- 
halten wird. Die Bewegung des Stempels in dem Zylinderchen 
wird nun mittels eines an dem letzteren angebrachten langen 
Gummischlauches durch Luftverdichtung und -Verdünnung be- 
wirkt. Dabei ist Sorge getragen, dafs die Bewegung jeweils nur 
in einem Sinne erfolge, dafs also z. B. an ein Vorschlagen des 
Stiftes sich nicht unmittelbar ein Zurückweichen anschliefsen 
kann. Um nun aber die Fortpflanzung des Druckes und die 
Strömungsrichtung in dem häutigen Kanäle ebenfalls zu einer 
vollkommen eindeutigen zu machen, brachte Ewald nahe an der 
Kompressionsstelle, gegen das glatte Bogengangende zu, eine 
sogenannte Plombe an, durch die Endo- und Perilymphströmung 
nach dieser Seite ausgeschlossen wird. Der kleine Apparat 
wurde zuerst aus Stahl, später aus Glas verfertigt und war daher 



' Ewald: Physiologische Untersuchungen über das Endorgan des 
J^ervus octavuB. Wiesbaden 1892. 



über Nacheinpfindungen im Gebiete des kinäsihetischen u. atatischen Sinnes. 377 

auTserordentlich leicht. Der Anschlag des Stiftes, dessen Hub- 
höhe nur 0,5 mm betrug, konnte auch an den empfindlichsten 
Hautstellen nicht perzipiert werden. 

Beim Versuche steht nun die Taube vollkommen entfesselt 
in einem Drahtkäfig und wird durch den kleinen Apparat in 
ihren Bewegungen absolut nicht behindert. Die Reizung ge- 
schieht dann, ohne daCs die Taube durch irgend ein anderes 
Sinnesorgan Kenntnis yon dem Vorgang erhalten würde. Der 
Effekt ist nach Ewalds Worten folgender:* Der pneumatische 
Hammer befindet sich über dem rechten Canalis extemus. 
Zwischen ihm und dem glatten Ende ist eine Plombe eingesetzt. 
Läfst man nun den Hammer anschlagen, ohne ihm eine Rück- 
wärtsbewegung zu gestatten, so erfolgt eine starke bis 90^ be- 
tragende Drehung des Kopfes nach links genau in der Ebene 
des horizontalen Kanals. Zu dieser Drehung gesellt sich 
niemals irgend eine andere Bewegung des Kopfes hinzu, auch 
habe ich nicht ein einzigesmal gesehen, dafs die Bewegung in 
umgekehrter Richtung erfolgt wäre. Gewöhnlich geht nach 
dieser Bewegung der Kopf unmittelbar darauf in die 
Normalstellung zurück.* Wir ziehen dann den Hammer 
zurück und erhalten eine Kopfdrehung nach rechts, welche eben- 
falls genau in der Ebene des Kanals abläuft, aber ungleich 
schwächer als die erste Bewegung ist. Die beliebige Wieder- 
holung ergibt immer mit gröfster Präzision das gleiche Resultat 
Dabei machen die Augen stets eine mit dem Kopfe gleichsinnige 
Bewegung. An den beiden anderen (vertikalen) Kanälen erhält 
man ebenfalls Kopfbewegungen genau in der Kanalebene. Ein 
Unterschied besteht nur darin, daTs an diesen Kanälen der Rück- 
sprung des Hammers mit der starken, das Aufiachlagen mit der 
schwächeren Reaktionsbewegung beantwortet wird. 

In völlig analogen Versuchen fand Bbthb * auch am Hechte, 
dafs der Kopf sofort wieder in die Normallage zurücksank. 

Ganz dasselbe Resultat hatte Ewald übrigens auch bei einer 
anderen Versuchsanordnung erzielt, nämlich bei dem „Präparat 
der Brücke". So nennt Ewald jene Operationsmethode, bei der 



» a. a. O. S. 264. 

» Im Original nicht durch den Druck hervorgehoben. 
" A. Bbthb: Über die Erhaltung des Gleichgewichtes. II. Mitteilung. 
Biohg. Zentralblatt U, S. 580. 



378 ^A^ ^^^9. 

ein Stück eines knöchernen Kanals völlig herausgesägt wird, so 
daTs nur mehr der (völlig intakte) häutige Kanal die beiden 
Stümpfe brückenartig verbindet. Wird nun (Versuch 67)* der 
häutige Kanal und zwar der horizontale, mit einer dünn ge- 
schliffenen Pinzette an der freiliegenden Stelle komprimiert, so 
erfolgt eine vehemente Drehbewegung des Kopfes. „LäCst man 
die Pinzette geschlossen, so beruhigt sich das Tier soforf^ 
und man kann durch ÖflEnen der Pinzette die umgekehrte Be- 
wegung hervorrufen. 

Über die hohe Bedeutung, die diese so äufserst präzisen 
Versuche sonst noch für die Theorie der Drehempfindung haben, 
kann ich mich hier nicht verbreiten. Für uns ist zunächst 
nachstehende Folgerung aus denselben von eminenter Wichtigkeit. 

Bei allen Experimenten welcher Art immer, bei denen wir 
eine länger andauernde Drehempfindung beobachten oder (bei 
Tieren) aus der Analogie mit denselben Versuchen am Menschen 
mit Sicherheit erschliefsen können, sehen wir der andauernden 
Drehempfindung auch eine andauernde Beaktionsbewegung 
parallel gehen. Dieselbe besteht aus einer dem Sinne der Dreh- 
empfindung entgegengesetzten, anhaltenden Drehung des 
Kopfes oder der Augen, häufig beider, eine Bewegung, die zu- 
meist durch wiederholte kurze Ruckbewegungen in der Richtung 
gegen die Normalstellung zurück unterbrochen und dadurch zu 
einer intermittierenden gestaltet wird. Wenn wir also eine voll- 
kommen ausgesprochene, jedoch nur ganz kurz dauernde Re- 
aktionsbewegung sehen, so haben wir das volle Recht, auch auf 
eine nur ebenso kurz dauernde Drehempfindung zu schUefsen. 
Dabei ist noch zu bemerken, dafs der Reiz bei den besprochenen 
Versuchen nicht einmal ein nur momentaner ist, da die Aus- 
gleichung der Druckdifferenz von dem Bogengänge durch die 
Ampulle in den übrigen Endolymphraum doch sicher eine ge- 
wisse, wenn auch kurze Zeit in Anspruch nimmt. Wir haben 
also in dem Versuchsergebnis den gesuchten Beweis gefunden 
dafür, dafs eine durch einen kurzen Reiz (und zwar einen den 
natürlichen Reizverhältnissen ganz analogen) ausgelöste Dreh- 
empfindung keine Nachdauer von beträchtlichem Ausmafse 
aufweist. Dagegen können wir allerdings mit Sicherheit an- 



* a. a. O. S. 211. 

* Im Original nicht gesperrt gedruckt 



über Nachempfindungen im GtbieU des Idnäethetischen u. statischen Sinnes. 379 

nehmen, dafs die Empfindung gleich der aUer übrigen Sinnes- 
organe den Reiz nm ein Geringes (Bruchteil einer Sekunde) 
überdauert. Doch wird sich das exakte AusmaTs dieser Nach- 
dauer kaum bestimmen lassen, kommt aber für unsere Frage 
nicht weiter in Betracht. 

Wenn aber der Versuch in dem angegebenen Sinne be- 
weisend erscheint — und er ist es wohl bei der klaren, ein- 
deutigen Versuchsanordnung, dem präzisen, stets gleichmäfsigen 
Erfolge und der Geschicklichkeit und Erfahrung des Experi- 
mentators — so fällt damit die Möghchkeit, den galvanischen 
Nachschwindel nur aus dem ÖfEnungsschlage abzuleiten (eine 
Erklärung, die uns ja auch schon aus anderen Gründen sehr 
unwahrscheinUch geworden war), es entfällt aber auch die 
Möglichkeit,, den Nachschwindel nach Rotationen 
allein aus der die Rotation beschliefsenden nega- 
tiven Winkelbeschleunigung durch eine angebliche 
Nachdauer des Reizerfolges derselben zu erklären. 
Ebenso unmöglich ist aber auch die Fortdauer des 
Reizauslösungsvorganges (nach Breuers letzter 
Hypothese, die Verschiebung der Cupula) und die An- 
nahme einer hierauf beruhenden dauernden Nerven- 
erregung. Denn der mechanische Auslösungsvorgang ist in 
den geschilderten Versuchen sicherhch ein aufserordentlich inten- 
siver, etwa dem eine sehr schnelle Rotationsbewegung einleiten- 
den oder beendenden Ruck vergleichbar. Und dennoch hören 
alle reaktiven Folgeerscheinungen sofort wieder auf. 

Bewegungstäuschungen des kinästhetisehen Sinnes« 

Bevor wir zur Betrachtung der bei Bewegung des ganzen 
Körpers als solchen auftretenden Empfindungen und der hierher 
gehörigen Bewegungstäuschungen übergehen, welch letztere das 
Hauptziel unserer Untersuchung sein sollen, scheint es aus bald 
ersichtlichen Gründen angezeigt, eine Gruppe von Beobachtungs- 
tatsachen zu besprechen, die sich auf die Empfindungen der 
Relativstellung und Relativbewegung der Körperteile unterein- 
ander bezieht, im besonderen auf die in diesem Gebiete auf- 
tretenden Bewegungstäuschungen. Eine Deutung dieser letzteren 
in der hier unternommenen Art und Ausdehnung wurde meines 
Wissens bisher nicht versucht. Wir werden aber bald sehen, 
dafs die beiden Gruppen von Bewegungsempfindimgen sowie die 



380 JETan« Ahds. 

betreffenden Sinnestäuschungen weitgehende Analogien aufweisen« 
was ja leicht verständlich ist bei dem Umstände, dsSa es sich in 
beiden um innere Tastempfindungen handelt. Stellen 
wir uns doch auch das Labyrinth resp. den Vestibularapparat 
gewissermafsen als inneres Tastorgan vor. Die Analogie wird 
für unsere Betrachtung um so fruchtbringender sein, als die hier 
zu besprechenden Fakten sozusagen einfachere Exempla der 
unser Hauptthema bildenden Probleme darstellen, und so zu 
deren Verständnis wesentlich beitragen können. 

Die hier einschlägigen Versuche wurden zuerst von Pükkinjk 
angestellt und späterhin von Mach in mannigfach variierter Form 
wiederholt, und zwar von letzterem zu dem Zwecke, um nach- 
zuweisen, dafs die Muskelempfindungen nicht die Ursache der 
Bewegungsempfindungen (in dem Sinne: Bewegung des ganzen 
Körpers) seien. Was Mach hierbei kurz Muskelempfindungen 
nennt, ist identisch mit dem, was wir jetzt als Leistungen des 
sogenannten kinästhetischen Sinnes betrachten, an welchen jedoch 
aufser den Muskelempfindungen sensu strictiori noch mannig- 
faltige innere Tastempfindungen, wie der Nerven des Periostes, 
namentlich aber aller die Gelenke konstituierenden Gebilde be- 
teiligt sind. Wir werden sogar in folgendem nur jene Versuche 
betrachten, bei denen die eigentlichen Muskelempfindungen keine 
wesentliche Rolle spielen können, um nicht auf die komplizierende 
Frage der Muskelinnervation, von der ja die Muskelgefühle auch 
abhängen dürften, uns einlassen zu müssen. Doch können wir 
bemerken, dafs auch die übrigen Versuche ein ähnliches Resultat 
ergeben und demgemäfs wohl eine übereinstimmende Erklärung 
zulassen. Alle Versuche Machs bestehen darin, dafs auf einen 
Körperteil eine konstante Kraft in geradliniger Richtung oder 
im Sinne eines Drehungsmomentes einwirkt. Derselben wird, 
sofern dies zur Erhaltung der Stellung des Körpers und seiner 
Teile notwendig ist, durch aktive Muskelspannung das Gleich- 
gewicht gehalten. Wird nun die Kjraft ziemlich rasch auf Null 
reduziert, so hat man eine der Richtung dieser Kraft entgegen- 
gesetzte Bewegungs- resp. Drehempfindung. Die Versuche, welche 
wir nach obigem Prinzip auswählen, sind*: 

Versuch 2. Mit jeder Hand fafst man mittels einer be- 
quemen Handhabe ein Blechgefäfs, welches ca. 4 kg Wasser 



* a. a. O. S. 71 und 72. 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinäathetiachen u. statischen Sinnes. 381 

hält und unten ein Abflufsrohr besitzt. Auf ein Kommando 
werden beide Quetschhähne gleichzeitig geöffnet und das Wasser 
fliefst in untergestellte Behälter ab. Man verspürt hierbei nament- 
lich gegen das Ende des Versuches, weil da in der Zeiteinheit 
der gröfste Bruchteil des noch vorhandenen Gewichtes abfliefst, 
«ine deutliche Erhebung der Arme. Weiter 

Versuch 6. Man befestigt quer über den Kücken an beiden 
Schultern eine Holzleiste; an beiden Enden der Leiste rechts 
und links hängt eines der Gefäfse. Beim Abfliefsen meint man 
sich zu strecken und sich aus dem Boden zu erheben. 

Es ist nun von grofsem Interesse, auch die Schilderung, 
die Purkinje a. a. O. S. 101 über analoge Erfahrungen gibt, an- 
zureihen. „Wenn man in jeder Hand ein r^ativ sehr schweres 
Gewicht aufgehängt hält imd genau auf die Empfindung des 
Zuges achtet, der durch die Schwere verrursacht wird, so scheint 
«s, wie wenn von Moment zu Moment eine Zulage am Gewichte 
geschähe, bis es zuletzt unmöglich ist, die ins Ungeheuere an- 
gewachsene Last zu halten." „Wenn man die Gewichte eine 
Zeitlang stehend gehalten hatte, und sie nun wieder niederstellt, 
«0 scheint es, wie wenn man in gerader Linie aufwärts schweben 
möchte ; dabei scheint es, wie wenn die Hände, die herabreichend 
•die Gewichte hielten, beträchtlich verkürzt würden, und wie in 
den Thorax einkriechen müfsten." 

Aus dem Zusammenhalt der Schilderungen beider Autoren 
•ergibt sich, dafe die eigentümlichen, täuschenden Empfindungen 
schon während der Herabminderung der einwirkenden Kraft ein- 
setzen, um nach völligem Erlöschen derselben im selben Sinne 
fortzudauern, ein Faktum, das wir für spätere Betrachtungen 
festhalten wollen. Femer sieht man, dafs bei den obigen Ver- 
suchen das eigentliche Muskelgefühl keine oder nur eine sehr 
nebensächliche Rolle spielen kann. Denn auch in Versuch 2 
{die Arme wurden offenbar, da nicht anders bemerkt, senkrecht 
gehalten, so wie bei Purkinje) dient die ünterarmmuskulatur 
nur dazu, die Hand geschlossen zu erhalten, während das be- 
schriebene Gefühl hauptsächUch nur in den grofsen Gelenken 
des Armes ausgelöst werden kann. Auch ist diese Sonderstellung 
der beiden Versuche dadurch gekennzeichnet, dafs bei ihnen 
offenbar nicht, wie Mach für die übrigen bemerkt, „alle diese 
Drehungen sehr stark empfunden, aber nur unmerklich aus- 
geführt werden". Es gibt eben überhaupt keine Muskeln, die 



382 ^a'» ^^^* 

den Arm oder den ganzen Körper verkürzen oder verlängern 
könnten. 

Eine Erklärung der geschilderten Erscheinungen, zum min- 
desten eine Zurückführung auf die nächsten Ursachen, bietet 
sich, wie mir scheint, von selbst, wenn man sich eine klare Vor- 
stellung der dabei sicher vor sich gehenden Veränderungen macht. 
Die wichtigsten Nachrichten bezieht der kinästhetische Sinn offen- 
bar durch jene Nerven, deren Endigungen teils in den Gelenk- 
enden, teils in den die übrigen Gelenkwandungen bildenden 
Bändern und Bindegewebsmassen liegen. Diese Nerven werden 
bei den verschiedenen Stellungen bzw. Bewegungen der Gelenke 
durch Druck (an den Gelenkenden) und durch Zug (in den 
Bändern) gereizt ujd vermitteln so die Vorstellung von der Lage 
der Gelenke, eventuell auch von Zug- oder Druckkräften, welche 
von aufsen auf dieselben einwirken. Dabei stehen diese Nerven 
naturgemäfs partienweise in einem antagonistischen Verhältnisse, 
indem bei vermehrter Reizung einer Gruppe eine entsprechende 
andere stets vermindertem Beize ausgesetzt ist und umgekehrt. 

Betrachten wir nun die obigen Versuche, die, wie hier gleich 
bemerkt sei, für das betreffende Individuum natürlich recht un- 
gewohnte Verhältnisse schaffen. Eine Reihe von Gelenken — im 
ersten Falle diejenigen des Armes, im zweiten die Grelenke und 
Bandscheiben der Wirbel, die Gelenke der unteren Extremität, 
übrigens auch die Gebilde der Plantae — werden einer beträcht- 
lichen Zug- resp. Druckkraft ausgesetzt. Was hat dies für Ein- 
flufs auf die Nervenerregungen? Von den beiden Hauptgruppen, 
den auf Druck und den auf Zug ansprechenden Nerven, werden 
die einen in erhöhtem MaTse erregt, während die anderen in 
einen fast oder völlig reizlosen Zustand versetzt werden. Wird 
nun in raschem Übergange in den Gelenken wieder der normale 
Spannungszustand herbeigeführt, so werden dabei die vorher un- 
gereizten Nervenpartien plötzlich wieder in Erregung versetzt, 
während die Erregungsstärke der gereizten rasch abnimmt Dabei 
wird nun, wie wir gesehen haben, in dem einen Fall ein Heben, 
ein teleskopartiges Zusammengeschoben werden der Arme, in 
dem anderen ein Strecken und Emporheben des ganzen Körpers 
empfunden, welche Empfindungen auch noch bei Wiedereintritt 
des Ruhezustandes der Gelenke fortdauern. Worum es sich nun 
hier in letzter Instanz handelt, ob etwa um passagere Gewöhnung 
oder vielmehr um Überreizung (im Hinblick auf PüEKnsrjm 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinäathetischen u. statischen Sinnes, 383 

Schilderung) mit folgender Ermüdung und üntererregbarkeit der 
vorher stark gereizten Nerven bzw. vielleicht der ihnen zuge- 
ordneten Zentren, ob auf der anderen Seite eine Übererregbar- 
keit der durch einige Zeit selbst vom normalen Gewebsdruck 
entlasteten und dann wieder erregten Nervenapparate im Spiele 
sein mag, wollen wir hier nicht imtersuchen. Uns genügt die 
Konstatierung der Tatsache, einer Tatsache übrigens, die in der 
Sinnesphysiologie mannigfaltige Analogien hat: Wird der Er- 
regungszustand der zwei verschiedenen Nervenpartien, deren 
Empfindungen sich in der Ruhe das Gleichgewicht halten, sich 
gegenseitig auslöschen, durch eine von aufsen wirkende Kraft 
für einige Zeit verschoben und wird sodann wieder zum Aus* 
gangszustand übergegangen, so überwiegen die Empfindimgen 
der eine Zeitlang ungereizt gebliebenen Nervengruppen; es ent- 
steht gewissermafsen als negatives Nachbild die Empfindung 
einer der Richtung jener Kraft entgegengesetzten Bewegung. 

Sicherlich ist dabei die Gewöhnung mit in Betracht zu ziehen. 
Bei jemandem, der gewöhnt ist, schwere Lasten zu tragen, auf- 
zuheben und wieder abzusetzen, wird man schwerlich nach 
solchen Bewegungstäuschungen fahnden. Dagegen stellen sich, 
wie ich aus eigener Erfahrung weifs, solche Empfindungen nicht 
selten nach ungewohnten Turnübungen ein, späterhin jedoch 
nicht mehr. Ein ebenfalls hierhergehöriger, jederzeit leicht an- 
zustellender Versuch ist folgender; er ist dem von Mach S. 78 
mitgeteilten, zu anderen Zwecken angestellten Experiment ähnlich. 

Wenn man in einer Badewanne einige Zeit in sitzender oder 
besser halbliegender Stellung verbracht hat, und läfst nun das 
Badewasser, ohne dabei die Stellung zu wechseln, möglichst rasch 
abflieJBen, so erscheinen einem sowohl der Körper als Ganzes, 
wie auch die einzelnen Glieder von bleierner Schwere. Dabei 
kann man bei einiger Aufmerksamkeit die Empfindimgen auch 
ziemlich gut analysieren. Man bemerkt, dafs man erstens den 
auf Haut, Periost usf. ausgeübten Druck an den mit der Unter- 
lage in Berührung stehenden Körperteilen, dann auch an über- 
einander liegenden Gliedmafsen überaus gesteigert verspürt; 
femer wird z. B. die Last der Arme in den Schultergelenken in 
ganz ungewohntem Mafse gefühlt, endlich auch der Druck in 
der Wirbelsäule und dieser auf das Becken in ganz fremdartiger 
Weise empfunden. Die Erscheinung ist sehr klar. Alle bei 
diesen Gefühlen beteiligten Nerven bleiben während des Aufent- 



1 



384 ^(in$ Abels, 

faaltes im Wasser in völliger oder fast völliger Ruhe, da die 
Tragkraft des Wassers das Gewicht des Körpers und seiner Teile 
auf ein Minimum reduziert, daher Haut und darunter liegende 
Schichten in den aufliegenden Körperteilen nicht komprimiert, 
die als Aufhängebänder des Armes im Schultergelenk dienenden 
Teile nicht gedehnt, die Wirbelzwischenscheiben nicht gedrückt 
werden usf. Der plötzUche Wiedereintritt all dieser mechanischen 
Einwirkungen wird dann als etwas Ungewohntes in erhöhtem 
Mafse empfunden. Das Experiment unterscheidet sich von den 
früher erwähnten dadurch, dafs wohl normalerweise auf den 
Körper wirkende Kräfte durch eine gewisse Zeit hindurch aus- 
geschaltet, nicht aber neue, ungewöhnliche zur Einwirkung ge- 
bracht werden. Der Effekt aber ist ein so bedeutender, weil die 
Dauer jener Ausschaltung eine bedeutende ist. 

Progresslybewegnngen. 

Wenn wir übergehend zur Betrachtung des Bewegungs- 
schwindels unser Augenmerk vor allem den Progressivbewegungen 
zuwenden, so geschieht dies deswegen, weil wir erstens hier die 
einfachsten Verhältnisse vorfinden, indem nur ein „Empfindungs- 
element" in Betracht kommt, was, wie wir sehen werden, bei den 
Rotationsempfindimgen nicht der Fall ist, und zweitens weil hier 
sofort die auffallendste Analogie zu den zuletzt besprochenen 
Bewegungstäuschungen des kinästhetischen Sinnes uns ent- 
gegentritt. 

Eine Progressivbewegung von gleichmäfsiger Geschwindigkeit 
kann selbstverständlich mittels des Labyrinthes nicht empfunden 
werden. Alle Massenteilchen des Körpers haben dieselbe Be- 
wegungstendenz imd es können im Innern des Körpers keinerlei 
gegenseitige Verschiebungen statthaben, durch die Nerven- 
endigungen gereizt würden. Erst positive und negative Be- 
schleunigungen führen zu solchen Verschiebungen und 
mittelbar zu Empfindungen. Mach und Bbeueb haben dies an 
mehrfachen Versuchen und Beobachtungen geprüft und bestätigt 
gefunden, speziell auch bezüglich der vertikalen Progressiv- 
bewegungen, die Mach an einem Apparate ähnlich einer Wage, 
Bbeueb am Lift untersuchte. Eine mehr als momentane Nach- 
empfindung wurde dabei nicht gefunden weder im positiven noch 
negativen Sinne. 

Von unserem Standpunkte am bemerkenswertesten sind nun 



über Nachempfindungen im Gebiete des Idnöathetiscken u. statischen Sinnes. 385 

die Versuche Machs, die eine möglichst fortgesetzte Reizung 
durch eine Progressivbeschleunigimg in einer gleich bleibenden 
Richtung zum Zwecke hatten. Dagegen müssen wir eine andere 
Gruppe von Experimenten Machs, die in Form recht komplizierter 
Rotations- oder richtiger Umschwungbewegungen — d. h. solcher 
Drehbewegungen, bei denen sich der Beobachter in einiger Ent- 
fernung von der Drehungsachse befindet — ausgeführt sind, 
eben aus diesem Grunde erst der Erörterung der Drehempfin- 
dungen nachfolgen lassen, da in denselben nach meiner Ansicht 
die beiden Klassen von Empfindungen untrennbar verquickt sind» 
Aus dieser Verquickung ist es, wie wir sehen werden, zu erklären, 
dafs Mach zu der jedenfalls überraschenden und der vielfältigen 
Erfahrung des täglichen Lebens widersprechenden Annahme 
kommen konnte, dafs eine momentane (oder kurze) Progressiv- 
beschleunigung eine mehrere Sekunden anhaltende Bewegungs- 
empfindung auslösen sollte. Die auf eine reine fortdauernde 
Progressivbeschleunigung sich beziehenden und daher auch voll- 
kommen eindeutigen Versuche wollen wir nun mit Machs Worten 
(a. a. O. S. 33) hierhersetzen. 

„Zunächst wurde eine Fallmaschine konstruiert, welche als 
eine Kombination der GALiLEischen und ATwoonschen bezeichnet 
werden kann. Zwei Holzschienen von 22 m Länge und 2 m 
Fall auf diese Länge waren als schiefe Ebene aufgestellt. Auf 
den Aufsenseiten der Schienen lief ein einfacher Wagen für den 
Beobachter, auf den Innenseiten ein zweiter niederer Wagen für 
Gegengewichte unter dem ersten Wagen durch. Beide waren 
durch eine Schnur, die über eine Rolle am oberen Ende der 
Schienen ging, miteinander verbunden. Die ersten Versuche 
lehrten, dafs jede Beschleunigung oder Verzögerung von dem 
eingeschlossenen Beobachter empfunden wurde. Aber auch bei 
sehr merklichen Beschleunigungen verschwand die Empfindung 
bei Fortdauer der gleichförmig beschleunigten Bewegung. Eine 
scheinbare Umkehrung der Bewegung für den einge- 
schlossenen Beobachter, wenn der Apparat angehalten oder die 
Bewegung gleichförmig wurde trat nur in sehr geringem 
Mafse ein und war von kaum merklicher Dauer." Die erste 
Folgerung aus obigen Ergebnissen, die auch Mach (a. a. O. S. 64) 
selbst gezogen und in seiner Schrift vielfach verwertet hat, lautete : 
Bei fortdauernder Beschleunigung (also fortdauerndem Reize) 
tritt Erschöpfung der Bewegungsempfindung ein. 

Zeitschrift für Psychologie 43. 25 



386 Sans Abels. 

Was aber bedeutet die nach gleichförmig werdender Be- 
wegung eintretende Empfindung der Bewegungsumkehr, eine 
Empfindung, die, wenn auch wenig intensiv vollkommen aus- 
gesprochen gewesen sein mufs; sonst hätte sie Mach nicht er- 
wähnt, da sie seinen übrigen Ergebnissen und Anschauungen 
strikte widerspricht. Da die Empfindung nun schon beim Auf «> 
hören vorher wirksam gewesener Beschleunigungen ohne Hinzu- 
tritt irgend welcher anderer Beschleunigungen auftritt, so kann 
es sich nur um eine negative Nachempfindung abhängig eben 
von jener länger andauernden Reizung handeln. Eine andere 
Deutung scheint mir wenigstens unauffindbar. Wiederum wird 
eine Gruppe von Nerven dauernd gereizt und ermüdet, welch 
letzterer Umstand ja in diesem Falle direkt aus der beobachteten 
Abstumpfung der Perzeptionsfähigkeit hervorgeht; ob es sich 
dabei um den Nerven selbst oder vielmehr eine seiner End- 
stationen, eventuell noch etwas höhere Zentren handelt, kommt 
für unsere Untersuchung wenig in Betracht. Bei eintretender 
Reizlosigkeit wird nun nicht Ruhe, sondern Bewegung im ^[it- 
gegengesetzten Siune wahrgenommen, ausgelöst von den jener 
Gruppe antagonistischen Nerven, die während der Reizperiode 
einem abnorm geringen Druck ausgesetzt waren, und daher, wie 
man sich vielleicht vorstellen darf, ebenso überempfindlich wie 
jene unterempfindlich sind. 

Ich möchte hier nicht unterlassen eine Beobachtung mitzu- 
teilen, die das Wesen der obigen Erscheinung in sozusagen noch 
vergrölsertem Mafsstabe enthält, eine Beobachtung, die ich vor 
Jahren vereinzelte Male bei verschiedenen Gelegenheiten machte, 
ohne damals über die Ursachen des Phänomens mehr als eine 
dunkle Ahnung zu haben. 

Es kommt vor, dafs mit bedeutender Schnelligkeit fahrende 
Eisenbahnzüge sich einer Station bis auf eine relativ geringe 
Distanz nähern und dann erst durch ziemlich heftiges Bremsen 
die Zuggeschwindigkeit in raschem aber ziemlich gleichmäfsigem 
Tempo bis auf Null herabgemindert wird, so dafs also der Zug 
zuletzt nicht etwa in eine ganz schleppende Bewegung verfällt, 
wie es sonst oft zu sein pflegt. Unmittelbar nach einem solchen 
Anhalten verspürte ich nun gelegentlich eine einige Sekunden 
anhaltende Vorwärtsbewegung, die im Gegensatz zu der 
zum Stillstand gelangten mit der starken Erschütterung y&cl 
Rädern imd Bremsen den Charakter eines sanften Hingleitens hatte. 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. atatischen Sinnes. 387 

Die Verhältnisse liegen beim geschilderten Phänomen ebenso 
klar oder vielleicht noch klarer als beim Versuche Machs, weil 
hier vollkommene Ruhe (und nicht nur gleichmäfsige Geschwindig- 
keit) auf eine Periode in einer gewissen Sichtung einwirkender, 
fortgesetzter und recht bedeutender Progressiv beschleunigung 
folgt, hier nämlich der negativen die Zugsgeschwindigkeit gleich- 
mäfsig aufbrauchenden, also nach rückwärts gerichteten Be- 
schleunigung. Es scheint, dafs das Zustandekommen des Phä- 
nomens von sehr günstigen Bedingungen, vielleicht auch einer 
gewissen Disposition abhängig ist, da ich es in letzter Zeit bei 
darauf gerichteter Aufmerksamkeit, allerdings wahrscheinlich mit 
den oben geschilderten nicht genügend übereinstimmenden Ver- 
hältnissen nicht beobachten konnte. 

Gerade dieses so überaus schwierige Auftreten von Nach- 
bildern nach Progressivbeschleunigungen ermöglicht offenbar die 
Promptheit, mit der rasch aufeinanderfolgende Progressiv- 
bewegungen verschiedener Richtung, verschiedener Schnelligkeit 
und verschiedenen AusmaTses perzipiert werden. Man stelle sich 
nur einmal vor, was eine andere Art des Funktionierens für 
Folge hätte. 

Angenommen z. B., man wäre nach vorwärts gegangen oder 
gelaufen und bleibe nun stehen. Entstände hierbei ein nur 
einigermafsen dauerndes Nachbild (gleichgültig ob positiv oder 
negativ) und man machte nachher einen Schritt in irgend einer 
anderen Richtung, z. B. seitwärts, so würde diese neue Bewegung, , 
während ihres Verlaufes und nach Beendigung, durch die von 
der früheren fortdauernde Nachwirkung eine völlig irrige Emp- 
findung Uefern. Es hegt nahe den Unterschied des Verhaltens 
der Progressiv- und Rotationsempfindungen mit der aufserordent- 
lichen Häufigkeit und Mannigfaltigkeit des Vorkommens sowie 
den oft grofsen Intensitäten (beim Laufen und Springen) der 
ersteren im gewöhnlichen Leben in Zusammenhang zu bringen. 
Rotationsbewegungen von solchem Ausmafs und 
solcher Heftigkeit sind uns für gewöhnlich fremd, 
wo hingegen wieder daran gewöhnte Personen, z. B. geübte 
Tänzer oder geschickte Eisläufer, die mit rasender Geschwindig- 
keit Pirouetten drehen, ihre Evolutionen wohl unterlassen würden, 
wenn sie ihnen statt Vergnügen Marter durch quälende Schwindel- 
erscheinungen bereiteten. Auf das Phänomen der Gewöhnung, 
das ja den Anstofs zu vorliegenden Untersuchungen gegeben 

25* 



388 ^^^ '^^^• 

hat, kommen wir nach Besprechung der Rotationsempfindungen 
zurück. 

Ist die Drehempflndmig eine einfache oder komplexe? 

Wenn wir uns nun der Betrachtung der eigentUchen 
Schwindelerscheinungen in specie des Drehschwindels zuwenden, 
so sind wir gewärtig sogleich eine Einsprache zu vernehmen, die 
etwa so lauten könnte: Angenommen, es sei bewiesen, dafs eine 
momentan erregte Drehempfindung keine längere Nachdauer be- 
sitzt, zugegeben auch, dafs bei den bisher angeführten Gruppen 
von Bewegungstäuschungen, namentlich auch beim galvanischen 
Nachschwindel die Erscheinungen kaum anders zu deuten sind, 
denn als eine Folge der vorangegangenen längeren Reizung, dies 
alles zugegeben, sehen wir doch beim Drehschwindel zunächst 
keine Möglichkeit der Analogisierung mit jenen Tatsachen. Denn 
wo haben wir hier jene längere Reizung? Nehmen wir doch 
an, dafs eine Empfindung lediglich durch die Winkelbeschleu- 
nigung, bei der Rotation also nur im Anfange und am Ende 
ausgelöst wird; auch ist gegenüber dieser kurzen Reizung die 
Zeit der Rotation lang genug, um eine vollkommene „Erholung", 
von der Anfangsreizung eintreten zu lassen. 

Diesen Einwendungen gegenüber ist zu bemerken, dafs schon 
mit der Vornahme jener Konstatierungen, falls dieselbe als ge- 
lungen erachtet wird, etwas geleistet wäre. Wir müfsten eben 
dann auch für den im Gefolge von Rotationen auftretenden 
Nachschwindel nach einer anderen Erklärung suchen, als die- 
jenige ist, welche ihn auf einen momentanen Reiz zurückführen 
will. Ich hoffe jedoch, Anhaltspunkte zu dieser Erklärung auf- 
zeigen zu können. 

Zunächst müssen wir — mag dies auch nicht der wichtigste 
Punkt sein — uns die Frage vorlegen, ob während einer längeren 
Rotation, wenn wir auch nur die durch die reine Winkel- 
beschleunigung auf das Labyrinth ausgeübte Reizung berück- 
sichtigen, im allgemeinen völlige Reizlosigkeit angenommen 
werden kann. Dies trifft nun bei der grofsen Mehrzahl der Ver- 
suche sicherlich nicht zu. In den von Mach ausgeführten 
Experimenten wird ein Holzrahmen, innerhalb dessen sich der 
Sitz für den Beobachter befindet, um eine vertikale Achse durch 
«einen Gehilfen in Schwung versetzt und in Rotation erhalten. 
Um diese letztere zu einer einigermafsen gleichmäfsigen zu 



über Nackempfindtvngen im Gebiete des kinäa^Hscken «. statischen Sinnes, 389 

machen, mufs die stete verzögernde Einwirkung der Beibung 
offenbar durch häufige kleinere, beschleunigende Stöfse aus- 
geglichen werden: Dafs diese nicht mehr als Drehimgen perzi- 
piert werden, ist ein neuer Beweis zu den von Mach angeführten, 
dafs die EmpfängUchkeit des statischen Organs (oder des damit 
in Zusammenhang stehenden Nervenapparates) auch für Be- 
schleunigungen sich rasch abstumpft. Dennoch sind diese ge- 
ringen Irregularitäten in der Geschwindigkeit doch nicht ohne 
Belang für die Entstehung der Schwindelerscheinungen. Auch 
bei den Rotationsversuchen an Tieren, wenigstens insofeme die 
Drehung durch Menschenhand, wenn auch mittels einer Über- 
tragung vorgenommen wird, haben die obigen Bemerkungen in 
gröfserem oder geringerem Ausmafse Geltung. 

Die viel bedeutsamere Frage für uns ist jedoch die, ob 
während der Drehbewegung tatsächlich nur die Winkel- 
beschleunigung reizend auf den Vestibularapparat wirkt. . Die 
Joitegorische Antwort darauf lautet : nein. Bei der Drehung des 
Kopfes oder des ganzen Körpers um jede möghche Achse (mit 
Ausnahme der einzigen, welche quer durch beide Labyrinthe 
gelegt ist) wird mindestens ein Labyrinth, in der grofsen Mehr- 
zahl der Fälle aber beide, gemäfs dem Umstände, dafs sie aufser- 
halb dieser Drehungsachse gelegen sind, in mannigfacher Weise 
einer durch die Zentrifugalkraft gegebenen Progressivbeschleuni- 
gung ausgesetzt, da ja die Labyrinthe wie alle aufserhalb der 
Rotationsachse befindlichen Körperteile um jene gewissermafsen 
herumgeschwungen werden. Hierbei wird die Fliehkraft in den 
verschiedensten Intensitäten und Richtimgen einwirken, je nach 
Schnelhgkeit der Rotation, Lage der Achse und Gröfse des 
Radius, und sehr häufig wird auf jedes der beiden Labyrinthe 
eine Beschleunigung nach Stärke und Richtung in wesentlich 
differenter Weise einwirken. Dafs nun solche durch die Flieh- 
kraft gelieferten Beschleunigungen sicher perzipiert werden, 
können wir aus dem Umstände entnehmen, dafs es ja hierdurch 
ausgelöste Empfindungen sein müssen, welche die Vorstellung 
der Vertikalen mitbestimmen, in jenen Rotationsversuchen, bei 
welchen der Beobachter aufserhalb der Rotationsachse sich be- 
endet. Aber auch für den Drehschwindel im engsten Sinne sind 
diese Empfindungen von gröfster Bedeutung. Ewald betont, 
jdafs der Drehschwindel viel stärker ausfällt, wenn sich ein Tier 
am Rande der Rotationsscheibe befindet als im Zentrum; und 



•390 Jan» Abels. 

von dieser Tatsache haben sich wohl die meisten schon am so- 
genannten Ringelspiele oder Karussell überzeugt, wo ebenfaUs 
die Wirkung nach der Peripherie auffällig stärker ist als näher 
der Mitte. Und doch ist in beiden Beispielen an der Peripherie 
und im Zentrum selbstverständlich die Winkelbeschleuni- 
gung genau dieselbe. Diese bisher für die Theorie wenig 
beachtete Tatsache spricht entschieden dafür, dafs die durch die 
FUehkraft ausgelösten Nervenreize auch bei der eigentlichen 
Drehempfindung eine mchtige Rolle spielen. Eine solche An- 
schauung bringt uns wieder einmal die Erfüllung jenes Prinzipee, 
welches in der Sinnesphysiologie von jeher befolgt, jedoch von 
Mach schärfer formuliert wurde und zum mindesten aulser- 
ordentlichen heuristischen Wert besitzt, des Prinzipes nämlich, 
entsprechend den verschiedenen Empfindungsqu alitäten audi 
nach verschiedenen physiologischen Vorgängen zu forschen. 
Nun sind bei der Apperzeption jeder im gewöhnlichen Leben 
der Tiere und Menschen vorkommenden Drehbewegung sicbe^ 
lieh mehrere Empfindungsqualitäten für das Individuum von 
Wichtigkeit und können auch zuweilen bewufst unterschieden 
werden. Wir fühlen nicht allein die reine Winkeldrehung, 
sondern ebenso das „Herumschwingen" des Kopfes oder ganzen 
Körpers, da ja solche Drehungen fast nie um eine durch den 
Schwerpunkt des Kopfes gehende Achse (in verstärktem Mause 
gilt dies für die Tiere mit ihrem meist längeren und vorgeneigt^ 
Halse) vorgenommen werden, wenn auch, wie leicht ersichtlich 
selbst in diesem Falle die peripheren Teile des Kopfes und so 
auch die Labyrinthe zentrifugale Beschleunigungen erhalten. 
Aufserdem ist noch mit der Annahme der Mitwirkung dieser 
Empfindungsqualitäten ein Schritt in der Aufklärung jenw 
Schwierigkeit gegeben, die darin liegt, dafs für das Verhalten 
des Organismus doch hauptsächlich die Geschwindigkeiten mafs- 
gebend sind, nach den bisherigen Anschauungen aber nur Be- 
schleunigungen perzipiert werden können. Man half sich mit 
der aus den früher angeführten Deduktion hervorgegangenen 
Annahme, dafs die nach kurzem Reize fortdauernde Empfindung 
gewissermafsen das Bild einer Geschwindigkeitsempfindung gebe. 
Die aus unserer Annahme geschöpfte Auffassung scheint zweifel- 
los naturgemärser. Jede Drehbewegung, die übrigens keineswegs 
eine rein rotatorische zu sein braucht, sondern bei der die ein- 
zelnen Körperpunkte ebensogut Stücke von Ellipsen oder 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinäBthetischen u, statischen Sinnes, 391 

anderen Kurven beschreiben können, ruft eine aus verschie- 
denen Reizmomenten sich herleitende und zusammensetzende 
Empfindung hervor. Es beteiligen sich hieran ebensowohl die 
durch die Zentrifugalkraft, wie die durch Winkel- 
beschleunigung bedingten Sonderempfindungeu, wenn wir 
so sagen dürfen. Die erstere deckt sich namentUch mit der 
Vorstellung der Geschwindigkeit, welch letztere ja unter 
sonst gleichen Umst&nden die Stärke der Zentrifugalkraft bedingt. 
Femer vermittelt sie durch die Richtung, in der beide Laby- 
rinthe von der Fliehkraft getroffen werden, die Vorstellung der 
Lage der Rotationsachse und der Gröfse des Radius respektive 
bei allmähhch zu- oder abnehmender Komponente während der 
Bewegung, die Vorstellung von der Form der der Bewegung 
zugrunde liegenden Kurve. Die der Winkelbeschleunigung ent- 
sprechende Sonderempfindung hingegen registriert eindeutig den 
Sinn, die Richtung der Drehung, sowie die im Anfange, am 
Ende imd im Verlaufe eintretenden positiven und negativen 
Geschwindigkeitsänderungen. Natürlich dürfen die beiden Emp- 
findungsgattungen nicht voneinander getrennt, sondern sich er- 
gänzend und mitbestimmend gedacht werden. Eine solche 
Mitbestimmung sehen wir auch sonst allenthalben, besonders in 
der Physiologie des Raumsinnes. ^ Die von dem Gesichts- oder 
Tastsinn geUeferten Raumempfindungen werden z. B. stets durch 
die Stellung oder Bewegung des Kopfes mitbestimmt. Ein 
solches Zusammenwirken der Empfindungen für Progressiv- und 
Winkelbeschleunigung haben übrigens schon Breuer*, Mach* 
und HiTzio^ angenommen, ohne allerdings die hier gezogenen 
Konsequenzen in Erwägimg zu ziehen. Lisonderheit Mach 
bespricht das Verhältnis der Empfindungselemente zu dem 
Empfindungs komplexe, Termini, deren wir ims hinfort eben- 
faUs bedienen wollen; und weist nach, dafs mit fortschreitender 
Erkenntnis, sowie Erfahrung des Einzelnen die Fähigkeit all- 
mählich zunimmt, aus den Komplexen die Elemente immer 
mehr „herauszufühlen^. 

Kehren wir nun zu unserem Ausgangspunkte zurück, so 



» Mach a. a. O. S. 89 u. S. 96. 

« Bbbüke: Über die Funktion der Otolithenapparate. Pflügers 
Archiü 48. 

• Mach a. a. O. 8. 112. 

* Hitzig; Der Schwindel. Wien 1898. S. 24. 



392 ^an$ Äbda. 

können wir es allerdings als bewiesen annehmen, dafs bei Dreh- 
bewegongen auch in Momenten, da keinerlei Winkelbeschleuni- 
gung einwirkt, im allgemeinen nicht Reizlosigkeit angenommen 
werden darf. 

Bei allen durch die Lebensgewohnheiten gegebenen Dreh- 
bewegungen oder richtiger Bewegungen mit Drehung, also allen 
solchen, die nicht reine Progressivbewegungen darstellen, ist es, 
da dieselben meist kurz sind und auch selten mit von An&ng 
bis zu Ende gleichbleibender Geschwindigkeit ausgeführt werden, 
leicht ersichtUch, dafs die beiden Empfindungselemente fast stets 
nebeneinander laufend zusammenwirken werden ; und selbst wenn 
für eine kurze Zeit die Bewegung mit gleichbleibender Winkel- 
geschwindigkeit erfolgen sollte, kann dies nicht störend werden» 
weil die Richtung der Drehung doch durch die unmittelbar 
vorher zur Geltung gekommenen Reize bestimmt ist, der Emp- 
findungskomplex gewissermafsen durch jene ergänzt wird. Ganz 
anders jedoch steht es mit einer dauernden Rotation. Damit 
schaffen wir vöUig abnorme Verhältnisse, indem die beiden 
Empfindungselemente in einer unter gewöhnlichen Lebensver- 
hältnissen des Individuums nie vorkommenden Weise sozusagen 
dissoziiert werden, die auf der FUehkraft beruhenden Reize 
dauernd ohne solche von der Winkelbeschleunigung hervor- 
gerufene^ zur Einwirkung gelangen. Wie reagiert nun der 
Organismus auf diese abnormen Verhältnisse? Betrachten wir 
nach dem Vorbilde Machs die Rotation mit Ausschlufs der Ge- 
sichtswahmehmungen, um mögUchst einfache Bedingungen zu 
schaffen. Die eingeleitete Bewegung wird in vollkommen richtiger 
Weise perzepiert, solange positive Beschleunigungen statthaben. 
Ist aber einmal die Geschwindigkeit eine gleichmäfsige geworden, 
so wird die von der Zentrifugalkraft herrührende — nennen wir 
sie kurz Umschwungempfindung — durch die vorhergehende 
«igentUche Drehempfindung in der oben angedeuteten Weise 
noch durch kurze Zeit ergänzt. Dies hält aber nicht lange an, 
sondern wenn keine neue Winkelbeschleunigung angreift, wird 
die Drehung gewissermafsen — Mach selbst bedient sich dieses 
äufserst bezeichnenden Wortes — vergessen, und die durch 
die Zentrifugalkraft ausgelösten Reize nur mehr als Änderung 



^ Mit Ausnahme etwa jener geringen früher erwähnten und später 
noch in ihrer Bedeutung zu würdigenden Irregularitäten der Geschwindigkeit. 



tJber Nachempfindungen im Gebiete des kinästheti8<^en u. statischen Sinnes. 393 

der Richtung der Vertikalen empfanden. Es ist daraus ohne 
weiteres klar, warum wir nach Aufhören der Winkelbeschleunigimg 
eine rasch abnehmende Drehempfindung haben. ÄhnUches spielt 
sich ab, wenn während der Drehung positive oder negative 
Winkelbeschleunigungen eintreten. Wie aber steht die Sache 
bei vollkommenem Anhalten der Drehung? 

Wir können in diese Betrachtung nicht eingehen, bevor wir 
nicht die Frage erörtert haben, wie sich das statische Organ 
gegenüber der länger einwirkenden Zentrifugalkraft verhält, ob 
hier auch auf Ermüdung^ deutende Symptome oder nachfolgende 
entgegengesetzt gerichtete Empfindungen beobachtet werden 
können. 

Rotatorische Nachempflndangen. 

Von vornherein spricht schon eine grofse Wahrscheinüchkeit 
dafür, dafs wir dergleichen Erscheinungen auffinden werden. 
Zeigt ja die Empfindung für Progressivbeschleunigung — und 
die Zentrifugalkraft wirkt im Sinne einer solchen — nach Machs 
Versuchen eine auffallende Abnahme auch bei gleichbleibendem 
Reize, also eine entschiedene Erschöpf barkeit, die, wie wir ge- 
sehen haben, die konsekutive Entstehung von negativen Nach- 
bildern veranlafst. Glücklicherweise erhellt dieses Faktum aber 
auch schon aus der Beobachtung der Umschwungbewegungen 
und ihrer Folgeerscheinungen. Wird man um eine vertikale 
Achse in einer gewissen Entfernung von derselben geschwungen, 
z. B. mit dem Gesichte der Rotationsachse zugewendet, so hält 
man bekanntlich seinen eigenen Körper, sofern er senkrecht 
steht, für nach aufsen geneigt, und wenn derselbe nicht genügend 
unterstützt ist, kompensiert man diese vermeintliche Neigung und 
hiermit die tatsächliche Gefahr, nach hinten überzufallen, durch 
eine Vorneigung des Körpers, d. h. man stellt eben, wie immer, 
die Längsachse des Körpers mit der Resultierenden der Massen- 
beschleunigungen parallel. Wird nun die Umschwungbewegung 
angehalten, so beobachtet man, falls ein anderer sich dem Ex- 



^ Wenn wir in dieser Arbeit den Terminus Ermüdung gebrauchen, so 
jBOÜ damit durchaus kein Urteil über die der Erscheinung wirklich zugrunde 
liegenden Vorgange gegeben werden. Wir gebrauchen den Ausdruck nur, 
am den umständlicheren aber genaueren zu vermeiden der lauten würde: 
Folgezustand nach einer in einem gewissen Sinne sta tgehabten längeren 
Beizung. 



394 J^ans Abels, 

periment unterworfen, eventuell aber auch an sich selbst, ganz 
deutlich eine Rückwärtsneigung des Körpers, offenbar wieder als 
Kompensation einer vermeintlichen Vorneigung, nur dafe 
hier diese Kompensation nicht auch zugleich ein wirkUcheB 
Mittel zur Erhaltung des Gleichgewichts darstellt, sondern viel- 
mehr gerade die Gefahr, hintenüber zu stürzen herbeiführt. Man 
kann die Erscheinung oft schon recht deutlich an des Tanzens 
Ungewohnten sehen, indem hier eben, wenigstens beim Tanzen 
zu zweien, eine Umschwungbewegung im obigen Sinne vorliegt, 
wobei die Achse zwischen beide Personen fällt. 

Dafs Nachempfindungen nach den von der Zentrifugalkraft 
ausgelösten Beizen so deutlich auftreten, ist nebst anderen schon 
aus dem Grunde leicht erklärlich, weil eben die hierher gehörigen 
Versuchsanordnungen es erlauben, auf viel einfachere Weise und 
auf längere Zeit Progressivbeschleunigungen einwirken zu lassen 
als irgend eine andere Experimentiermethode. 

Haben wir so die Beteiligung des durch die Zentrifugalkraft 
ausgelösten Empfindungselementes an der Drehempfindung und 
das Auftreten einer Nachempfindung auf längere Reizimg d«r 
betreffenden Nervengruppen hin zum mindesten sehr wahrschein- 
lich gemacht, so können wir auch über die nach Unterbrechung 
einer länger fortgesetzten Drehbewegung zur Geltung kommenden 
Verhältnisse eine Vorstellung zu gewinnen suchen.^ 

Zugleich mit dem der negativen Winkelbeschleunigung ent- 
sprechenden Empfindungselement wird eine den Charakter „Um- 
schwung" tragende Nachempfindung entstehen, von welcher wir 
ja in Analogie mit jenen sehr ähnlichen Nachempfindungen im 

^ Wir müssen es uns leider versagen, hier auf eine Grappe von ex- 
perimentellen Tatsachen näher einzugehen, welche eine dauernde Ite- 
aktion selbst bei einer mit gleichbleibender Geschwindigkeit erfolgenden 
längeren Rotation erkennen, und somit auf eine trotz mangelnder Winkel« 
beschleunigung fortdauernde Beizung der gemeinhin nur als Perzeptions- 
organe für Winkelbeschleunigungen angesehenen AmpuUarnervenendigangen 
Bchliefsen lassen. Es würde eine dauernde Reizung auch dieser Nerven- 
endigungen während einer gleichmäfsigen Rotation (also offenbar auch 
durch Zentrifugalbeschleunigungen) natürlich die Analogie des Drehnach- 
Bchwindels mit den anderen besprochenen Erscheinungstatsachen, besonders 
dem galvanischen Nachschwindel, zu einer noch viel vollständigeren machen. 
Da diese Frage aber eine noch völlig ungeklärte ist, müssen wir dieselbe 
einer weiteren experimentellen Untersuchung vorbehalten, die zugleich 
wichtige Aufschlüsse über die Art des Reizauslösungsvorganges in dw 
Ampulle verspricht. 



über Nachempfindungen im Gebiete dea kinäathetischen u. staiiat^en Sinnes, 396 

Grebiete des kinästhetischen Sinnes annehmen müssen, dafs sie 
sehen während der Herabminderung der Zentrifugalkraft auf- 
tritt, wenigstens gegen Ende hin, um dann nach völligem Er- 
löschen der Fliehkraftkomponente in demselben Sinne weiter zu 
dauern. Diese beiden Empfindungselemente, das mit dem Index 
„Winkelbeschleunigung" und das mit dem Index „Umschwung", 
wenn wir uns so ausdrücken dürfen, verschmelzen nun offenbar 
zu einem Empfindungskomplex; und wenn nun auch das eine 
Empfindungselement („Winkelbeschleunigung") bei der völligen 
Sistierung der Drehung wegfällt, so wird doch in gewohnter 
Weise der Empfindungskomplex dadurch nicht gestört, und es 
wird noch durch einige Sekunden die Empfindung einer Gegen- 
drehung anhalten. Wir kommen also zu genau derselben Vor- 
stellung wie über die Empfindung bei Beginn der Drehung. 
Wozu allerdings noch das sicher sehr wirksame Moment der 
Umkehrung des Empfindungselementes „Umschwung" und Ver- 
wandlung in sein negatives Nachbild kurz vor gänzlicher Auf- 
hebung der Drehung hinzutritt. 

Die in den bisherigen Ausführungen enthaltene Annahme 
ergibt sich wohl mit Notwendigkeit, wie schon früher angedeutet 
wurde, aus den Lebensbedingungen des Organismus. Es mufs 
sich ja ziemlich häufig ereignen, dafs auch bei aktiven Dreh- 
bewegungen das Empfindungselement „Winkelbeschleunigung" 
durch Gleichförmigwerden der Bewegung auf Sekunden wegfällt, 
und dennoch fühlen wir diesen Ausfall keineswegs, sondern sind 
über die Richtung der Bewegung, über deren Schnelligkeit wir 
wieder aus der Umschwungempfindung Kenntnis haben, voll- 
kommen orientiert. In diesem Sinne also könnte man tat- 
sächlich von einer Art Fortdauer der erregten Winkelbeschleuni- 
gungsempfindung reden. Es wäre dies aber gewissermafsen nur 
eine Fortdauer der zentralen Verwertungsmöglichkeit, nicht aber 
vielleicht das Andauern einer wirklichen Erregung vom End- 
organe aus oder im Nerven, von der doch nach Ewalds Ver- 
suchen keine Rede sein kann. Übrigens ist die seinerzeit von 
Mach geäufserte Ansicht recht ähnlich, da er ebenfalls an eine 
zentrale Ursache des Fortbestandes der Drehempfindung dachte, 
dabei aber nur übersah, dafs dieser Fortbestand an das Vor- 
handensein eines zweiten Empfindungselementes, das vorher mit 
jenem zu einem Empfindungskomplex verschmolzen war, ge- 
knüpft ist, und ohne dieses nicht statt hätte. 




396 ffans Abels. 

Das Wenige, was über die hierbei mafsgebenden zentralen 
Vorgänge, deren genaueres Verhalten uns natürlich zunächst 
dunkel bleiben, noch gesagt werden kann, wollen wir nach Be- 
sprechung der übrigen Faktoren, und speziell der Gewöhnung,, 
anschliefsen. 

Ein weiteres Empflndimgselement der Drehempflndung. 

Es ist nun erforderlich noch ein anderes ebenfalls bei jeder 
Drehbewegimg in Spiel kommendes Empfindungselement zu be- 
sprechen, das wir bis jetzt, um die Sache nicht zu sehr zu kom- 
>^ phzieren, unerwähnt gelassen haben. Be- 

trachten wir nebenstehendes Schema, in 
3/ ,''* rl dem die kleinen Ej-eise die beiden Laby- 

"^ — "^^ }^ rinthe vorstellen. Es werde eine Drehung 

'\^ im Sinne des Pfeiles um die Achse O^ ein- 

^* geleitet. In diesem Falle wirken zunächst 

die schon besprochenen Ejräftekomponenten i. e. die Winkel- 
beschleunigung auf beide Labyrinthe in derselben Richtung und 
Stärke, und die Zentrifugalkraft, die in der Richtung nach links hin 
und zwar stärker auf das linke als auf das rechte Labyrinth zur 
Geltung kommen wird. Aufserdem greift aber noch, wie sofort er- 
sichtUch, eine Progressiybeschleunigung an, welche ebenfalls stets 
auf das von der Achse entferntere Labyrinth stärker als auf 
das näher gelegene wirkt, und deren Richtung in dem obigen 
Falle eine parallele und gleichsinnige ist (durch die kurzen Pfeile 
angedeutet), während bei Lage der Rotationsachse zwischen den 
Jjabyrinthen (O^) sie eine parallele und entgegengesetzte wäre 
und schliefslich bei einer anderen Stellung der Rotationsachse 
etwa in Og die durch die punktierten PfeUe angedeutete Richtung 
hätte, natürUch stets senkrecht auf dem von der Achse zum 
Labyrinth gezogenen Radius, also zusammenfallend mit der dem 
E[reisbogen, in dem sich das Labyrinth bewegt, angelegten 
Tangente. Diese Progressivbeschleunigung wird natürlich nur 
so lange und in dem Ausmafse vorhanden sein, als eine Winkel- 
beschleunigung in dem ganzen System zur Geltung kommt und 
aufhören sowie etwa eine gleichmäfsige Rotation eintritt. Das 
dieser Progressivbeschleunigung entsprechende Empfindungs- 
element wird offenbar zur Unterstützung der von den speziell 
Winkelbeschleunigung perzipierenden Nerven gelieferten Emp- 
findung dienen. Doch ist uns seine Betrachtung, abgesehen da- 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 397 

Ton, dar» sie einen Fingerzeig dafür abgeben könnte, auf welche 
Weise bei niederen Tieren, die wohl zwei getrennte Statozysten- 
:apparate aber keine Bogengänge besitzen, die Perzeption der 
Drehbewegungen vor sich gehen dürfte, noch durch folgende 
Überlegung von Wichtigkeit. 

Die Angriffspunkte der besprochenen Bewegungskomponente 
als einer Progressivbeschleunigung sind wahrscheinlich dieselben, 
welche auch bei der Perzeption der Zentrifugalkraft mittels des 
Labyrinthes in Frage kommen. Damit scheint wiederum eine 
grofse Wahrscheinlichkeit gegeben dafür, dafs die betreffenden 
Reizungsvorgänge, dadurch, dafs sie offenbar einem und dem- 
selben relativ beschränkten Zentrum zugeführt werden, physio- 
logisch sehr innig verknüpft sein dürften. Darin aber haben 
wir eine wirksame Illustration zu unserer Annahme, dafs ein 
-einem bestimmten Bewegungsvorgang entsprechender Empfin- 
dungskomplex wahrscheinlich durch das zeitweilige Ausfallen 
•eines Empfindungselementes nicht wesentlich alteriert wird. 

Hier ist auch der Ort, jene eigenartigen Experimente Machs 
•einer Betrachtung zu unterziehen, auf Grund deren er zu der 
gegenüber unserer täglichen Erfahrung recht paradoxen Annahme 
kommen konnte, dafs auch kurz erregte Progressivempfindungen 
•eine bedeutende Nachdauer besitzen. In diesen Versuchen^ 
spielt nämlich das Empfindungselement , das uns zuletzt be- 
schäftigt hat, die wichtigste Rolle. Die Versuchsperson befindet 
sich in einem Rotationsapparate und zwar in einiger Ent- 
fernung von der Achse und wird nun in der Richtung des Radius 
vor- oder rückwärts verschoben. Auch dem zweiten Versuche 
liegt das gleiche Prinzip zugrunde, indem dasselbe erzielt wird, 
als wenn der Beobachter plötzlich in das Zentrum des ganzen 
Rotationsapparates versetzt wäre. Es wird nämlich die Drehung 
des ganzen Apparates angehalten, der Beobachter aber behält, 
in einem zweiten kleineren, exzentrisch am grofsen Apparate an- 
gebrachten Rotationsrahmen sitzend, seine Winkelgeschwindigkeit 
bei. Welche Empfindungselemente, und in welcher Kombination, 
kommen nun bei diesen Bewegungen in Betracht? Zunächst ist 
es klar, dafs das Empfindungselement der eigentlichen Winkel- 
beschleunigung, soweit wir uns dies von den Bogengangs- resp. 
Ampullamerven ausgelöst vorstellen, dabei gar nicht erregt wird, 



* Mach a. a. O. S. 34 u. 35. 



398 ^at» Abels. 

da die Winkelgeschwindigkeit stets dieselbe bleibt. Dagegen wird, 
da der Beobachter in ziemlicher Entfernung yon der Rotations* 
achse sich befindet, das durch die Zentrifugalkraft ausgelöste 
Empfindungselement, die „Umschwungempfindung^, in beträcht« 
liebem Mafse erregt, resp. bei Annäherung zum Zentrum oder 
völliger Sistierung des Umschwunges Nachbilder von dieser Form, 
ausgelöst. Aufserdem aber wird durch die gesteigerte oder herab- 
geminderte tangentiale Progressivgeschwindigkeit (deren Gröfee» 
wie früher erwähnt, natürhch von der Entfernung vom Rotations- 
mittelpunkt abhängt) Empfindungen nach der Art des von uns 
früher erörterten dritten Empfindungselementes bei Drehempfin- 
dungen ausgelöst. Der einwirkende Reiz dauert natürhch nur 
so lange als die betreffende Verschiebung resp. das Anhalten 
des grofsen Apparates Zeit erfordert. Dennoch dauert die 
Empfindung der bezüglichen Progressivbewegungen einige Se- 
kunden nach. 

Gerade diese Fortdauer aber bietet uns die beste Gewähr 
für die Richtigkeit unserer bisherigen Annahme. Wissen wir 
doch eben von den Progressivempfindungen durch die Erfahrungen 
des tägüchen Lebens und durch die in einem früheren Abschnitte 
erwähnten Versuche, dafs dieselben falls allein ausgelöst keine 
deuthche Nachdauer, sondern nur bei abnormer Inanspruchnahme 
ein negatives Nachbild liefern. In den obigen Versuchen aber, 
bei denen sie zugleich mit einem anderen Empfindungselement 
ausgelöst werden, welches sie seiner Natur nach überdauern mufs, 
zeigen sie eine deuthche Fortdauer. Es kann also tatsächUch 
nur jene Verquickung mit einem anderen Empfindungselement, 
die wie früher ausgeführt, aus anatomischen und physiologischen 
Gründen eine besonders innige sein mufs, die Ursache für das 
veränderte Verhalten der Progressivempfindung enthalten. Nicht 
aber kann der Grund dafür, wie bisher meist angenommen wurde, 
in der ziemlich bedeutenden bei diesen Versuchen angewendeten 
Geschwindigkeit gesucht werden. Man denke nur daran, was 
für erkleckhche Geschwindigkeit plötzlich gehemmt wird, wenn 
man aus einiger Höhe herabspringend am Boden anlangt, und 
trotzdem ist hier von einer Nachempfindung nichts zu bemerken. 

Noch sei hier eine Bemerkung gestattet, die den bisherigen 
Ausführungen insonderheit dem Problem der Verquickung zweier 
Empfindungselemente auf Grund einer Analogie vielleicht mehr 
Klarheit verschaffen kann. Wenn wir uns zum Gehen oder 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. QQQ 

Laufen (mit gleichförmiger Geschwindigkeit) in Bewegung setzen, 
so können wir nur anfangs, solange die Beschleunigung dauert 
eine Bewegungsempfindung durch den Vestibularapparat erhalten. 
Im weiteren Verlaufe aber stammt unsere Bewegungsempfindung 
offenbar nur aus unseren intentionellen Bewegungen. Dennoch 
bildet die Bewegungsempfindung ein gleichförmiges Kontinuum^ 
imd wir sind uns unbefängenerweise nicht bewuTst, dal's sich 
dieselbe erst aus zwei und später nur aus einem Faktor zu- 
sammensetzt. 

Anteil der Empflndungselemente am Nachschwlndel. 

Die Erklärung, die wir bisher vom Drehschwindel geben 
konnten, wird man, wenn sie auch mit den Tatsachen völlig 
tibereinstimmend und durchaus plausibel erscheint, kaum als eine 
erschöpfende bezeichnen. Erschöpfend aber kann sie schon aus 
dem Grunde nicht sein, weil der Bewegungs- und in specie der 
Drehschwindel auf Grund der bisher dargelegten Argumente 
sowie vieler noch weiterhin beizubringender, unbedingt als eine 
wahrscheinlich sogar sehr kompUzierte nervöse Erscheinung^ 
aufgefafst werden mufs. Zwar glauben wir dartun zu können, 
dafs dem einzelnen Empfindungselemente eine zu ihm im 
Verhältnisse negativ : positiv stehende also genau entgegengesetzt 
gerichtete Nachempfindung entspricht. Diese einfachen Be- 
ziehungen gehen aber, sowie wir einen Schritt weiter tun, sofort 
verloren und zwar abgesehen von anderen schon einzig durch 
den Umstand, dafs diese Einzelnacherapfindungen durch eine 
beliebige länger dauernde Bewegung (die nicht eine reine Pro- 
gressivbewegung ist) in einem untereinander verschiedenen Mafse 
hervorgerufen werden, so dafs dann den höheren Zentren im 
Stadium der Nachempfindungen ein Komplex von Empfindungs- 
elementen in ungewohnter und oft sogar widersprechender* Zu- 

^ Dafür sprechen ja auch die jeden stärkeren Drelischwindel be- 
gleitenden yasomotoriBchen und anderen Nebensymptome. 

' Ich mache hier nur auf das eine Faktum aufmerksam, dafs die von 
der Rotationsachse zu den beiden Labyrinthen gezogenen Strahlen, welche 
die Richtungen der durch die Zentrifugalkraft ausgelösten Empfindungs- 
elemente bedingen, zwar manchmal annähernd paraUel sind, zumeist aber 
einen mehr minder grofsen Winkel einschliefsen. Treten nach Aufhören 
d^r Drehung die entgegengesetzten Empfindungeelemente auf, so finden 
wir natürlich in jener Richtung der Strahlen, in welcher, um uns bildlich 



400 ^^M ^Mb. 

sammensetzung übermittelt wird, welcher Umstand seinerseits für 
uns zunächst völUg unübersehbare Folgen nach sich ziehen mafe. 

Wir werden kaum fehl gehen, wenn wir mit diesen ver- 
wickelten Verhältnissen die Tatsache in Verbindung bringen, 
dafs die Empfindung eines Nachschwindels (abgesehen vielleicht 
von solchen nach reinen Progressivbewegungen) kaum je an Be- 
stimmtheit und Deutlichkeit die Empfindung einer realen Be- 
wegung erreicht, eine Tatsache, die nach der jetzigen Theorie 
völlig unverständlich bliebe, da ja in beiden Fällen genau die 
gleichen mechanischen Veränderungen am statischen Organe 
und dem entsprechend auch dieselben nervösen Vorgänge statt- 
haben sollen. Man hat, um das geläufigste Beispiel zu erwähnen, 
sehr häufig beim Nachschwindel das deutliche Gefühl des Ge- 
drehtwerdens eventuell sehr heftig Gedrehtwerdens, und. zu 
gleicher Zeit eine nur undeutliche, manchmal dem Sinne nach 
sogar zweifelhafte Empfindung der Richtung, in welcher diese 
Drehung stattfindet, ein Verhältnis, das man namentlich in den 
späteren Stadien einer Schwindelempfindung häufig konstatiert 
Nach obigen Erörterungen ist dies wohl darauf zurückzuführen, 
dafs nur jene Nervenelemente, welche die „Umschwung"empfin- 
dung vermitteln, dauernd gereizt werden, und eine Na<^- 
empfindung hinterlassen können, während die Empfindung der 
Drehungsrichtung wahrscheinlich nur aus der vorhergehenden 
negativen Winkelbeschleunigung ergänzt wird, was, wie wir schon 
früher zu vermuten Anlafs hatten, wohl nur in geringem MaGse, 
namentlich aber nur auf kurze Zeit geschieht. 

Die beste Bestätigung für die dargelegten aus subjektiven 
Beobachtungen hervorgehenden Anschauungen bieten die objektiv 
an gedrehten Tieren zu konstatierenden Verhältnisse. Ich setze 
die wichtigsten Punkte der Darstellung Ewalds über Rotationa- 
versuche an Tauben hierher, mit welchen meine Ergebnisse bis 
auf unwesentliche später zu erwähnende Momente übereinstimmen. 
Wird eine sehende oder seit einiger Zeit blinde Taube mit 
mäfsiger Geschwindigkeit gedreht, so tritt der bekannte Kopf- 
nystagmus (Bkeüeb) auf. Derselbe besteht zunächst aus der der 



auszudrücken, jetzt jedes Labyrinth die Rotationsachse sucht oder hin- 
verlegt, keinen Schnittpunkt heider Strahlen und es hat daher diese neue, 
dem Nachschwindel zugrunde liegende Rotationsachse keine reale sondern 
nur eine imaginäre Stellung im Räume. 



über Nachempfindungm im Gebiete des kinästhetUchen w. statischen Sinnes. 401 

RotationsrichtUDg entgegengesetzten, langsamen Drehbewegung 
des Kopfes um eine vertikale Achse, die sogenannte Reaktions- 
bewegung, die bei einer gewissen Stellung und bei gleichbleiben- 
der Schnelligkeit der Rotation auch stets nur bis zu einer ge- 
wissen Gröfse des Ausschlages führt, welche durch den Reaktions- 
endwinkel (Ewald) bestimmt erscheint. Von diesem Punkte aus 
geschieht dann die kurze, zuckende Bewegung gegen die Aus- 
gangsstellung hin. Es ist dies die Nystagmusphase Ewalds. Ihr 
Ausmafs bleibt weit hinter dem jener ersten (Reaktions) Bewegung 
zurück, und es beträgt der Nystagmuswinkel meist bedeutend 
weniger als die Hälfte des Reaktionsendwinkels. Hieran schliefst 
sich wieder eine Reaktionsbewegung, die aber nun ebenfalls nur 
das Ausmafs des letzterwähnten Nystagmuswinkels besitzt usf. 
Der ganze Vorgang spielt sich also in einer weit aus der Aus- 
gangsstellung nach einer Seite hin verrückten Position ab. Bei 
langsamer Rotation bleibt nun der Nystagmus in gleicher Weise 
bestehen, solange auch die Rotation andauert. Wird dieselbe 
plötzlich unterbrochen, so geht auch der Kopf fast unmittelbar 
in die Normalstellung zurück. Bei schnellerer und länger fort- 
gesetzter Rotation verschwindet jedoch der Nystagmus meistens. 
Dauer der Rotation und Greschwindigkeit derselben ergänzen sich 
hierbei in gewissem Grade, müssen aber beide über einem ge- 
wissen Minimum liegen. Unterbricht man nun plötzlich die 
Rotation, so entsteht der Nachschwindel, d. h. der Kopf 
pendelt eine Zeitlang erst schneller, dann langsamer hin und 
her: Nachnystagmus oder wird einfach nach der anderen Seite 
gedreht: Nachreaktion. Der Nachnystagmus (die bei weitem 
häufigere Form, was Tauben anbetrifft) bewegt sich jedoch 
durchaus nicht auf einer Seite des Tieres, sondern 
pendelt um die Medianlinie. Nur die Mitten der einzelnen Be- 
wegungen liegen sämtlich auf derselben Seite, nämlich auf der, 
nach welcher ursprünglich das Tier gedreht wurde. Dabei sind 
die beiden Phasen des Nachnystagmus nicht deut- 
lich in der Schnelligkeit verschieden. Ich selbst konnte 
eine solche Verschiedenheit, wenn sie auch viel geringer als beim 
Rotationsnystagmus selbst war, doch noch deutlich konstatieren, 
was, wie wir noch sehen werden, in der abweichenden Versuchs- 
anordnung seinen Grund und daher auch seine Bedeutung für 
die Erklärung haben dürfte. Die obige Schilderung, welche die 
-charakteristischen Unterschiede des Nachnystagmus gegenüber 

Zeitsohrift fdr Psychologie 43. 26 



402 Sans ÄbeU. 

dem während der Drehung auftretenden ^ dartut, ist sicher der 
treffendste Ausdruck dafür, dafs in dem ersteren, dem Nach- 
nystagmus, viel mehr Qualitäten, die auf eine Empfindung des 
Gedrehtwerdens überhaupt, als solche, die auf eine 
deutliche Empfindung der Dreh r i ch tun g hinweisen, au^e* 
funden werden können. Denn die Unterschiede der beim Nach^ 
Schwindel in der einen und anderen Richtung ausgeführten 
Einzelbewegungen sind nach AusmaCs, Schnelligkeit und Orien- 
tierung zur Mittellinie sehr gering, wohingegen eben in dem 
Bilde des Drehnystagmus der Ausdruck der Richtung eine so 
charakteristische ist. 

Ziehen wir nun zum Vergleiche die Erscheinungen des 
galvanischen Schwindels und Nachschwindels heran, so er- 
scheinen dieselben vollkommen geeignet, um ebensowohl als 'Et- 
g&nzung wie als Bekräftigung der bisherigen Erfahrungen uns 
zu dienen. Dank den exakten Untersuchungen und genauen 
Beschreibungen von Jensen wissen wir, daCs die Form und Art 
der Aufeinanderfolge der Bewegungen einerseits während und 
andererseits nach Einwirken des galvanischen Stromes voll- 
kommen identisch sind, und dafs der einzige Unterschied 

* Es sei hier gestattet, einige Worte über die bei Ewald und auch 
anderen Autoren häufig vorkommende Verwendung des Ausdrucks „Dreh- 
schwindel** einzufügen, die leicht su irrtflmlichen Deutungen AnlaCs geben 
könnte. Ewald bezeichnet häufig den Nystagmus während der Rotation, 
als Drehschwindel. Nun ist es doch zweifellos, dafs gerade während dieser 
schon vom ersten Momente der Drehung auftretenden Nystagmusbewegungen 
keinerlei eigentliches Schwindelgefühl vorhanden ist, wie wir ja auch aus 
der Analogie mit dem Menschen entnehmen können, bei dem das Schwindel- 
gefühl gerade erst dann deutlich wird, wenn die Reaktionsbewegungen (hier 
der Augen) zu erlahmen beginnen, und dafs gerade in dem Zustandekommen 
dieser Periode auch die Ursache für das Entstehen des folgenden Nach- 
schwindels gesucht werden muls^ worauf wir dann auch späterhin zurück- 
zukommen haben werden. Fraglos hat auch Ewald diese Verhältnisse voll- 
kommen richtig überschaut, da er selbst den Satz aufstellt: Der Nach- 
schwindel wird durch den Nystagmus verhindert, ohne diesen tritt er un- 
fehlbar auf. Dennoch kann ich meine Bedenken über den obigen Aus- 
druck nicht unterdrücken. Da man gemeinhin mit dem Worte „Dreh- 
Schwindel** die beim Drehen allein oder die beim und nach dem Drehen 
auftretenden Schwindelerscheinungen bezeichnet, so Wäre es wohl besser, 
den während der Drehung, also vor dem Schwindel auftretenden Nystagmus 
nicht auch unter diese Bezeichnung mit einzubeziehen, sondern hierfür 
etwa Ausdrücke wie: Drehnystagmus, Reaktionsnystagmus , Reaktions- 
phänomen oder dergleichen zu gebrauchen. 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetisdien u. statischen Sinnes, 403 

in dem schwächeren Auftreten der Nachschwindelerscheinungen 
besteht, so dafs die Öffnungsdauerreaktion eines etwas stärkeren 
Stromes fast völlig mit der Schliefsungsdauerreaktion eines 
schwächeren sich deckt, abgesehen von dem entgegengesetzten 
Vorzeichen. Wir könnten auch kaum ein anderes Verhalten er- 
warten. Bei der galvanischen Durchströmung der Felsenbeine 
werden sicherlich die verschiedenen Nerven oder richtiger Nerven- 
gruppen, welche normalerweise bei Auslösung der einzelnen 
Empfindungselemente (Empfindung der Progressivbeschleunigung, 
Winkelbeschleunigung, des „Umschwunges", Lageempfindung, 
von denen allerdings wahrscheinlich manche zusammenfallen) in 
Funktion treten, gleichzeitig wenn auch in verschiedenem 
Ausmafse gereizt. Wenn nun unserer Annahme gemäfs in diesen 
Nerven (oder einer ihrer Endstationen) nach der Reizung ein 
Folgezustand zurückbleibt, ähnlich dem bei anderen Sinnes- 
organen beobachteten, mögen wir denselben nun Ermüdung, 
Reparationsstadium, negatives Nachbild oder sonstwie nennen, 
und dafs dieser Folgezustand die Ursache für den Nachschwindel 
abgibt, so ist es klar, dafs beim Zustandekommen dieses letzteren 
alle jene Nervengruppen in Betracht kommen werden, welche 
durch den galvanischen Strom gereizt wurden, und zwar dafs 
sie in eben demselben Verhältnisse zur Geltung konmien 
müssen, in welchem der galvanische Strom auf sie einwirken 
konnte. Der galvanische Nachschwindel mufs also aus diesem 
Grunde im Gegensatze zu dem rotatorischen Nachschwindel das 
getreue Abbild der während der Reizung auftretenden Erschei- 
nungen sein, wenn auch in bedeutend verringertem Mafsstabe, 
wie ja jedes Nachbild an Intensität weit hinter dem während 
der Dauer des Reizes zu beobachtenden Reizerfolge zurückbleibt. 
Aber noch mehr ! Wir verstehen jetzt ohne weiteres den Unter- 
schied, den Jensen in den oben S. 287 zitierten Sätzen zwischen 
dem galvanischen Schwindel und zwar ebensowohl der SchHefeungs- 
wie Öffnungsdauerreaktion und andererseits den Erscheinungen 
des Rotationsschwindels festgelegt hat. Der während und nach 
galvanischer Reizung auftretende Nystagmus, um das Wichtigste 
zu wiederholen, charakterisiert sich gegenüber dem rotatorischen 
(abgesehen davon, dafs dieser ein Drehungs-, jener im wesent- 
lichen ein Neigungsnystagmus ist) dadurch, dafs das Maximum 
der reaktiven Abweichung von der Mittellinie, der Reaktions- 
endwinkel Ewalds nicht mit einem Male, sondern erst im Ver- 

26* 



404 JTan« Abels, 

laufe einer ganzen Reihe von Nystagmuszuckungen erreicht wird» 
während welcher also jede Reaktionsphase gröfser ausfällt als 
die Nystagmusphase. Es leuchtet nun wohl von selbst ein, daTs 
dieser charakteristische Unterschied eben jener uns notwendig 
erscheinenden Annahme entspricht, der zufolge bei den galvani- 
schen Dauerreaktionen während des ganzen Verlaufes auch 
die das Empfindungselement Winkelbeschlexmigung vermittelnden 
Nervengruppen in Aktion sind, während dies bei Nystagmus 
während und nach Rotationen nur im Anfange der Fall sein 
kann. Wir sehen also in den galvanischen Nystagmusbewegungen 
die Folge- oder Begleiterscheinungen der Empfindung einer 
dauernd beschleunigten, also stets rascher, intensiver werdenden 
Bewegung, und es ist begreiflich, wenn demgemäfs die Reaktions- 
bewegungen an Extensität ebenso konstant zunehmen. 

Eine ganz ähnliche Beobachtung hat übrigens Knt* bei 
seinen am Menschen angestellten Untersuchungen gemacht. Er 
sagt: Bei stärkeren Strömen bleiben Kopf und Körper in dieser 
seitüch geneigten Stellung, ja die Seitenbewegung nimmt während 
der Stromdauer sogar noch an Intensität zu. Wir haben hier 
nur die Reaktionsbewegung, welche rein und nicht unterbrochen 
von Nystagmusphasen zum Ausdruck gelangt, welch letztere am 
Menschen nur bei den Augenbewegungen beobachtet werden 
können. 

Ich glaube, dafs die voranstehenden Ausführungen einiges 
zur Aufklärung der verschiedenen Nystagmusformen beitragen 
können. 

Nachbild des Empflndungselementes ^Winkelbeschlennigang^. 

Es erhebt sich nunmehr die berechtigte Frage, ob es denn 
nicht möglich sein sollte, auch auf dem Gebiete des Bewegungs- 
flchwindels durch geeignete Versuchsanordnung, also durch an- 
haltende Reizung der dem Empfindungselemente „Winkelbe- 
schleunigung" zugrunde liegenden Nervenpartien auf dem natür- 
lichen, also mechanischen Wege zu Ergebnissen zu kommen, die 
ein diesem Empfindungselemente entsprechendes negatives Nach- 
bild darstellen würden. Einen Hinweis zu derartigen Ergebnissen 
können wir schon in den oben erwähnten Abweichungen zwischen 



* Knt: Untersuchungen ttber den galvanischen Schwindel. Archiv ßir 
Faychiatrie 18, S. 691. 1887. 



über Nachetnpfindungen im Gebiete des kinästheiischen u. statischen Sinnes. 405 

Ewalds Versuchsresultaten bezüglich des Nachschwindels und 
meinen eigenen erblicken. Der Unterschied in den Versuchs- 
bedingungen war folgender. Während Ewald seine Tiere zu- 
meist auf der Rotationsscheibe, also mit ziemlich gleichmäfsiger 
Geschwindigkeit rotieren Uefs, gebrauchte ich in meinen Ver- 
suchen — die ich zunächst zum Studium der Gewöhnungs- 
bedingungen angestellt hatte — einen Apparat nach Art des 
hängenden Käfigs Ewalds. Die Rotation geschieht dabei mittels 
der Schnur, an der der Apparat hängt, während die Wand des- 
selben den Augen des Versuchstieres möglichst wenig Anhalt 
zur Fixierung geben dürfen. Bei meinem Apparate bestand die 
Wand nur aus spärlich gespannten Bindfäden. Wollte ich nun 
eine Taube längere Zeit nach einer Seite rotieren lassen, so 
wurde sie in den Apparat gebracht, nachdem die Schnur ziemlich 
stark nach der entgegengesetzten Seite torquiert war. Wurde 
der Apparat losgelassen, so rotierte er mit lange anhaltender 
Beschleunigung durch die im Seile hegende Spannung, so dafs, 
damit die Rotationsgeschwindigkeit nicht zu grofs wurde, sogar 
etwas gebremst werden mufste. Um die Rotation auch nach 
Aufrollung der Schnur noch fortzusetzen, wurde die jetzt ent- 
stehende Spannung der Schnur durch häufige kleine, in tangen- 
tialer Richtung ausgeübte Stöfse am Apparate überwunden und 
so die Drehung noch geraume Zeit unterhalten. Es waren also 
während der ganzen Rotationsdauer sehr viele Momente in 
Aktion, die zu einer intensiven und häufigen Inanspruchnahme 
des Empfindungselementes „Winkelbeschleunigung** und zu einer 
schhefsHchen Abstumpfung desselben beitragen mufsten. Ein 
hiervon herrührendes negatives Nachbild wäre aber mit der 
beim schliefslichen Anhalten des Apparates durch die negative 
Winkelbeschleunigung ausgelösten Empfindung gleichgerichtet 
\md müfste sich zu ihr addieren. Danach wäre verständüch, 
warum in meinen Versuchen der Nachnystagmus eine viel deut- 
lichere Schnelligkeitsdifferenz der beiden Phasen zeigte und 
warum auch das Bewegungsfeld mehr nach einer Seite ver- 
schoben erschien, warum also mit anderen Worten der Ausdruck 
einer bestimmten Richtung in den Erscheinungen des Nach- 
schwindels ein hervortretenderer war. 

Sollte es nun nicht gelingen dieses negative Nachbild allein 
für sich zur Beobachtung zu bringen? Dem stellen sich viele 
Schwierigkeiten in den Weg, einmal weil ja die Auslösung der 



406 ^^^ ^^^^' 

reinen Drehempfindung stets notwendig mit anderen Empfindongs- 
elementen verquickt ist, femer weil wir bei solchen Versuchen 
zu grofsen Rotationsgeschwindigkeiten gelangen, die an und für 
sich störend sind und für die es auch schwer hält, entsprechend 
erschütterungsfreie und auch sonst vollkommene Apparate zu 
konstruieren. Theoretisch stünden uns zwei Wege offen, analog 
den beiden im Kapitel der Progressivbewegungen besprochenen. 
Entweder man geht vom Ruhezustande aus und läfst durch einige 
Zeit eine konstante Winkelbeschleunigung einwirken und schlielb- 
lieh die erreichte Geschwindigkeit in eine gleichförmige übergehen 
und beobachtet während dieser gleichmäfsigen Rotation. Oder 
man geht umgekehrt von einer ziemlich hohen Rotations- 
geschwindigkeit aus und mindert dieselbe allmähUch herab bis 
auf Null. Im ersten Falle würde eine konstante positive, im 
zweiten eine negative Winkelbeschleunigimg zur (Jeltung kommen. 
Die zweite Möglichkeit nun fällt, wie die Versuche sofort lehren, 
vollkommen weg. Das nach so grofsen Rotationsgeschwindig- 
keiten natürlich sehr heftig erregte Umschwungsnachbild, das, 
wie wir früher gesehen haben, offenbar schon vor Abschlufs der 
Bewegung einsetzt und sich daher mit der zugleich bestehenden 
(negativen) Winkelbeschleunigung zu einem Empfindungskomplexe 
ergänzt, gibt nach dem Anhalten dieser sowie jeder anderen 
Rotationsbewegung eine so übertäubende Empfindung des Zurück- 
gedrehtwerdens, dafs das eventuelle Nachbild, welches ein Weiter- 
drehen vortäuschen müfste, völlig verdeckt wird. 

Bedeutend bessere Aussichten bietet uns der erst erwähnte 
Modus, da ja in diesem Falle das durch die Zentrifugalkraft 
ausgelöste Empfindungselement keine Umkehr erfährt, und es 
daher möglich ist, die Empfindung der Winkelbeschleunigung 
reiner, wenn auch nicht völlig losgelöst von anderen Empfindungs- 
elementen zu betrachten. Ich konstruierte mir zu dem Zwecke 
eine Art kleiner, schmaler Schaukel, an ziemlich dünnen, oben 
zusammenlaufenden Leinen hängend, die eine oftmalige Tor- 
quierung bei Drehung der Schaukel gestatteten. Nimmt nun die 
Versuchsperson bei diesem Zustande (der Torquierung) auf der 
Schaukel Platz (am besten in knieender Stellung, um die Ein- 
wirkung der Zentrifugalkraft auf die peripheren Körperteile 
möglichst zu beschränken) und läfst man die Schnüre sich auf- 
drehen, so kommt eine beschleunigte Rotation zustande. Es ißt, 
nm die Beschleunigung nicht zu heftig werden zu lassen und 



Vher Nachempfindungen im Gebiete des kinäBtheHscJicn u. statischen Sinnes. 407 

auf möglichst lange Zeit zu verteilen, sogar notwendig, anfangs 
eine Art Bremsung wirken zu lassen, und erst, wenn die be- 
schleunigende Kraft geringer geworden ist, den Apparat ganz 
sich selbst zu überlassen. Hält nun die Versuchsperson die 
Augen geschlossen, während eme zweite die Beschleunigungs- 
phasen, so genau es möglich ist, beobachtet, so kann man 
folgendes konstatieren. Ein Gefühl des Ruhens kommt bei so 
grofsen Drehgeschwindigkeiten, auch wenn sie gleichmäfsig sind, 
kaum zustande, sondern es bleibt stets eine gewisse Empfindung 
des Herumwirbeins im Kopfe bestehen. Trotzdem heben sich 
hiervon die Empfindungen einer Drehrichtung ziemlich scharf 
ab. Die Perzeption der Winkelbeschleunigung wird, sobald selbe 
einige Zeit angedauert hat, recht undeutlich. DaTs diese Emp- 
findung das Bestehen einer Winkelbeschleunigung überdauert, 
ist sicherlich nicht konstatierbar. Ob eine Umkehr der Be- 
wegungsrichtung schon mit dem Eintreten gleichförmiger Dreh- 
geschwindigkeit empfunden wird, läfst sich wenigstens bei dieser 
Versuchsanordnung kaum mit Sicherheit sagen, wenn es auch 
zuweilen den Anschein hatte, weil diese Drehungsphase — natür- 
lich ungefähr zusammenfallend mit der völligen Aufrollung der 
Schnüre — nicht genau genug präzisierbar und auch zu kurz 
anhaltend ist. Dagegen fällt es sofort auf, mit welcher Intensität 
schon geringe Verzögerungen (negative Beschleunigungen) emp- 
funden werden. Diese Tatsache drängt wohl zu der gleichen 
Folgerung, die sich uns auch bei den Bewegungstäuschungen 
des kinästhetischen Sinnes dargeboten hat. Wenn von zwei durch 
antagonistische Reizmomente zum Funktionieren zu bringen- 
den Nervengruppen, sei dies nun durch Druck, Zug oder eine 
andere Übertragungsform mechanischer Energie, die eine durch 
längere — die unter normalen Lebensbedingungen vorkommenden 
Verhältnisse überschreitende — Zeit gereizt wird, die andere 
Gruppe aber ebenso lange selbst von dem im Ruhezustande auf 
ihr lastendem Zug, Druck usw. entlastet wird, so ist wohl die 
Vorstellung sehr einleuchtend, dafs nicht nur die einen Nerven- 
partien in ihrer Leistungsfähigkeit abgestumpft, sondern auch 
die anderen gewissermafsen hypersensibilisiert seien. Sicherlich 
ist dabei weniger an die Nervenfasern, für die so rasche Elrreg- 
barkeitsänderungen kaum anzunehmen sind, als an die End- 
stationen derselben, in erster Linie die den Reiz aufnehmenden 
und verarbeitenden Zentren zu denken. 



408 ^(^'^ ^^«^* 

Der oben vermerkten Beobachtungstatsache, dafs nach inten- 
siven besonders mit sich steigernder Geschwindigkeit ausgeführten 
Rotationen schon geringe negative Winkelbeschleunigungen auf- 
fallend stark empfunden werden, können wir einen sehr illustra- 
tiven Vergleich aus der Physiologie des Farbensinnes an die 
Seite stellen. Wenn wir mit einem durch Betrachten eines inten- 
siven Rot ermüdeten Auge auf eine komplementär gefärbte also 
grüne Fläche bhcken, so erscheint uns deren Farbe viel gesättigter 
als mit unermüdetem Auge betrachtet. Dafs aber auch schon 
eine nicht different gefärbte (weifse oder graue) Fläche, sobald 
wir ein farbenermüdetes Auge darauf richten, komplementär ge- 
färbt erscheint, ist natürUch mit der Grunderscheinung unseres 
Gebietes in Analogie zu setzen, derzufolge wir nach längerer 
Rotation den wieder eingetretenen Indifferenzzustand, die Ruhe, 
nicht als solche sondern als entgegengesetzte Drehung empfinden. 
Aber noch für weitere Fakten gilt diese Parallele. Wenn wir 
mit stark rotermüdetem Auge eine schwach rot gefärbte Fläche 
betrachten, so erscheint uns dieselbe indifferent (weifs oder grau) 
gefärbt. Diesem Phänomen entspricht wieder das von Mach in 
seinen grundlegenden Versuchen erwähnte Experiment, demzufolge 
man kurze Zeit nach Sistierung einer Rotation das aufgetretene 
Gefühl der Gegendrehung zum Verschwinden bringen kann, wenn 
man die Rotation in der ursprüngUchen Richtung wieder ein- 
leitet, worauf „bei passender Wahl der Geschwindigkeit" wieder 
der Indifferenzzustand i. e. Ruhe empfunden wird. 

Aber auch der zeitliche Verlauf legt Vergleiche nahe. 
Während die positiven Nachbilder nur selten von störender Länge 
sind, dauern die Kontrastempfindungen auch bei anderen Sinnes- 
organen eventuell, bei abnorm starken Reizen, noch längere 
Zeit nach. 

Wir sehen also die weitestgehende Analogie zwischen Nach- 
schwindelerscheinungen und negativen Nachbildempfindungen 
anderer Sinnesgebiete, wenn wir auch vermutlich für die Ent- 
stehung derselben verschiedene Etappen des sensoneurotischen 
Apparates verantwortlich zu machen haben. Zugleich werden 
wir ims erinnern, dafs hiermit der anfangs erwähnte, so eigen- 
tümliche Widerspruch eine Klärung erfährt. Auf der einen Seite 
wies Mach die deutUche und sogar rasche Erschöpfbarkeit des 
Perzeptionsorganes für Beschleunigungen nach, also Abnahme 
der Empfindungsintensität auch bei fortdauerndem gleichen 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 409 

Reize. Auf der anderen Seite aber sollte sich im Gegensatz 
zu den übrigen Sinnesorganen nicht das Korrelat dieser Er- 
scheinung in Form negativer Nachbilderscheinungen finden. 

Ich glaube, dafs nach unserer Darstellung das analoge Walten 
ähnhcher physiologischer Gesetze deutlich hervortritt, wenn auch 
die Erscheinungen im Gebiete des statischen Sinnes stets eine 
gewisse Sonderstellung einnehmen werden, in erster Linie durch 
die komplizierenden motorischen Reaktivvorgänge, die ihre Be- 
deutung nicht nur für das sinnfällige Wesen der hierher ge- 
hörigen Erscheinungen, sondern auch für deren Genese haben 
dürften. 

In allen bisherigen Ausführungen haben wir, soweit dies 
anging, namentlich die möglichst einfachen Fälle, d. h. passive 
Drehung, bei guter Unterstützung des Körpers und Ausschlufs 
der Gesichtswahmehmungen in Betracht gezogen. Bei aktiven 
fortgesetzten Drehungen eines der Bewegung ungewohnten Indi- 
viduums kommt eine ganze Anzahl von Faktoren hinzu. Nur 
ein Beispiel. Nach dem Anhalten einer derartigen Drehung um 
die vertikale Achse hat man, um Pübkinjes Worte zu gebrauchen, 
die Empfindung, als „scheine im Körper eine fremde Kraft zu 
walten, die denselben noch immer nach derselben Richtung mit 
Gewalt umzudrehen strebt^, also eine umgekehrte Scheinbewegung 
des eigenen Körpers als nach passiven Drehungen, während hin- 
gegen die Augenbewegijpgen und die Scheinbewegungen der 
Gesichtsobjekte dieselbe Richtung wie in den früher betrachteten 
Versuchen zeigen. Wir werden vielleicht nicht fehl gehen, die 
hier auftretenden Phänomene mit Muskelempfindungen in Zu- 
sammenhang zu bringen. Diese aber und die ungewohnten Ge- 
sichtswahrnehmungen liefern mit den vom Vestibularapparate 
ausgehenden Empfindungen einen für unsere Methoden kaum 
mehr analysierbaren Komplex, der um so schwerer deutbar wird, 
als sich hier die Folgen der Zuleitung widersprechender Emp- 
findungselemente zu den nervösen Zentren potenzieren müssen. 
Wohl aber weisen uns alle diese scheinbaren Unregelmäfsigkeiten 
der Erscheinungen um so mehr darauf hin, dafs der Schwindel 
nicht eine einfache Folgeerscheinung einer mechanischen Un- 
vollkommenheit des Endapparates der nicht akustischen Oktavus- 
fasem, sondern eine auf Störung vielfacher Funktionen beruhende 
nervöse Komplexerscheinung darstellt, von der einzelne Kon- 
stituentien aufzuzeigen wir uns bemüht haben. 



410 ^<a»w Abda. 

Gewohnung. Yerhältnls yon Drehschwindel und Nachschwindel. 

Die Tatsachen der Gewöhnung an Schwindel sind allgemein 
bekannt. Eines der prägnantesten Beispiele bietet das Tanzen- 
lernen. Viele Personen werden bei den ersten Versuchen tob 
heftigem Schwindel und oft minutenlang andauerndem Nach- 
Schwindel befallen. Doch innerhalb weniger Tage, sehr h&ufig 
auch schon weniger Stunden eines Tages verschwinden diese Er- 
scheinungen ganz oder bis auf geringe Spuren. Auffallend ist 
es nun, dafs Tänzer, die selbst schon lange Zeit das gewöhnliche 
(Rechts) Tanzen betrieben, wenn sie zum ersten Male im Links- 
tanzen sich versuchen, gewöhnUch wieder älmliche, wenn auch 
vielleicht schwächere Erscheinungen durchzumachen haben wie 
bei ihren allerersten Tanzversuchen. Wird das Tanzen lange 
Zeit nicht geübt, so bekommen empfindlichere Personen beim 
Wiederaufnehmen dieselben Erscheinungen wie im Anfange; 
nur geht die Angewöhnung meist viel rascher vor sich. Es war 
wünschenswert, die obigen Verhältnisse auch objektiv am Tiere 
nachzuweisen, wobei sich bemerkenswerte weitere Resultate tf- 
gaben. 

Die Versuchsobjekte waren Tauben. Die Anordnung sowie 
das allgemeine Verhalten der Tiere wurden schon früher (S. 401, 
405) geschildert. Die durchschnittliche Umdrehungsgeschwindigkeit 
war ziemlich bedeutend. Das Hauptgericht wurde darauf gelegt, 
nach je 2 — ^3 Dutzend Umdrehungen den Apparat plötzlich anzu- 
halten, um das Tier speziell an diesen Akt zu gewöhnen. Die 
Drehungen wurden mehrere Male des Tages wiederholt, so da& 
jedes Tier im Laufe eines Tages mehrere Hundert Umdrehungen 
zu absolvieren hatte, und dies wurde durch einige Ti^e fort- 
gesetzt. Dabei wurde jedes Tier entweder nur rechts oder nur 
hnks herum rotiert. Es konnte nun beobachtet werden, daCs die 
anfangs recht stürmischen Erscheinungen beim Anhalten des 
Apparates bald sich milderten und endhch auf einige wenige 
Nystagmuszuckungen sich beschränkten. Wenn nun in diesem 
Stadium ein Tier nach der ihm ungewohnten Richtung rotiert 
wurde, so zeigte es wieder beim Anhalten dieselben stürmischen 
Erscheinungen wie anfangs, Taumeln des ganzen Körpers, äu&ent 
heftigen, lange anhaltenden Nystagmus. Hierin hätten wir nur 
die Analogie mit den Erfahrungen am Menschen. 

Es wurden mm aber auch Versuche mit AusschluTs der Ge- 



über Nachempfindungen im Gebiete dee Mnästltetischen u. statischen Sinnes. 411 

sichtswahmehmungen angestellt, indem der Apparat mit einem 
Tuche ringsum verhängt wurde und nur oben eine ÖflEnung zur 
Kontrollierung des Verhaltens der Taube gelassen wurde. Bei 
derartigen Versuchen wird nun bekanntlich kein Nystagmus 
während der Drehung beobachtet. Auch eine Reaktionsbewe- 
gung tritt, wie Ewald gezeigt, nur spurweise in Erscheinung. 
Beim Anhalten sind aber immer sehr heftige Nystagmuszuckungen 
zu beobachten; und es ist nun auffallend, dafs die Intensität 
dieser Zuckungen im Laufe der Tage viel weniger abnimmt als 
bei den im offenen Apparat rotierten Tieren, dafs also die Ge- 
wöhnung, wenn auch zweifellos vorhanden, wie sich beim nach- 
herigen Rotieren in der ungewohnten Richtung ergibt, doch viel 
weniger ausgesprochen ist als bei der ersten Versuchsserie. 

Von sonst noch anläfslich dieser Versuche gemachten Be- 
obachtungen möchte ich, wenn auch nicht strenge hierher ge- 
hörig, eine nicht unerwähnt lassen. Während der Rotationen 
im geschlossenen Apparate, wobei keinerlei Nystagmusbewegungen 
auftraten, zuweilen auch bei offen rotierten Tieren, sobald der 
Nystagmus sistiert hatte, wurde, wenn das Tier deutlich ex- 
zentrisch und zwar mit einer Seite dem Zentrum zugekehrt 
stand, eine, soviel mir bekannt, noch nicht beschriebene Kopf- 
drehung regelmäfsig beobachtet. Wird das Tier mit dem Schwänze 
voraus rotiert und zwar, nehmen wir an, nach rechts, so wird 
der Kopf nach links gewendet, geht aber der Kopf voran, so 
dreht er sich nach rechts; in beiden Fällen also wird er dem 
Zentrum genähert. Es ist einleuchtend, dafs es sich hier nicht 
um eine Reaktionsbewegung im bisher oft besprochenen Sinne 
handeln kann. Sondern wir haben hierin eine Kompensations- 
stellung analog der stets gleichzeitig zu beobachtenden leichten 
Seitenneigung des ganzen Körpers gegen das Zentrum des 
Apparates hin zu erblicken, die zur leichteren Erhaltung des 
Körpergleichgewichtes dient. Würde nur der Körper einfach 
zur Seite geneigt werden, so wäre bei der nicht unbeträchtlichen 
Länge des Taubenkörpers in der Richtung von vorne nach hinten 
doch die Wirkimg der Zentrifugalkraft nicht genügend paralysiert. 
Es würde der Kopf noch stark nach aufsen geschleudert werden 
und es bedürfte bedeutender Muskelanstrengung, um ihn in 
seiner Lage zu erhalten. Wird der Kopf und Hals entsprechend 
dem Elreisbogen, auf dem das Tier rotiert erscheint, mäfsig ein- 
wärts gebogen, so schmiegt sich sozusagen der ganze Körper in 



412 ff<^n8 Abels. 

die Kegelfläche, in der er rotiert wird, und damit ist aus leicht 
ersichtlichen Gründen die Muskelarbeit für die Erhaltung der 
Körperstellung auf ein Minimum herabgesetzt. Es ist dies ein 
interessantes Beispiel reflektorischer BeguUerung der Körper- 
haltung durch sensible Eindrücke, hier wahrscheinüch Muskel- 
empfindungen. 

Was nun das Phänomen der Schwindelangewöhnung betrifft^ 
so haben wir schon früher gesehen, dafs die bisherige An- 
schauungsweise für diese aus allem TatsächUchen, was wir über 
den Schwindel wissen, so hervorstechende Erscheinungsgruppe 
keine Erklärung geben kann. Für uns ist es aber nach allem 
Vorgebrachten wohl völhg klar, daTs diese Gewöhnung wie eben 
der Schwindel selbst nur in nervösen und zwar wesentlich zentralen 
Vorgängen ihre Ursache haben kann. Einen weiteren Beweis 
hierfür liefert uns eine aus den voranstehenden Tatsachen ab- 
zuleitende sehr bemerkenswerte Regel. Wir überzeugen uns 
nämhch beim Zusammenhalten dieser Tatsachen sofort davon, 
dals die Gewöhnung um so leichter, rascher und vollständiger 
eintritt, je mehr andere, die so ungewohnten Nachrichten des 
Nervus vestibularis kontrollierende und ergänzende Sinnesein- 
drücke resp. reguUerende Reflexmechanismen in Aktion treten. 
Denn einmal sehen wir, dafs im Tierexperiment die Zuhilfenahme 
der Gresichtswahmehmungen ein aufeerordentlich erleichterndes 
Moment für den Eintritt der Grewöhnung bildet. Weiter aber 
fällt es besonders auf, wie au&erordentUch leicht beim Menschen 
— am Tiere werden derartige Versuche schwer ausführbar sein — 
die Gewöhnung sich geltend macht, wenn die Bew^^ung eine 
aktive ist. In diesem Falle haben wir eben eine ganze Reihe 
weiterer Faktoren, nämlich die Bewegungsintention, die Nach- 
richten des kinästhetischen Sinnes, die äufseren Tastempfindungen, 
die den ungewohnten Erregungen vom Vestibularapparate aus 
kontroUierend zur Seite stehen und ein rasches Zustandekommen 
des richtigen Zusanunenarbeitens dieser mit jenen auch unter 
den neuartigen Verhältnissen ermöglichen. Wir verstehen nun 
auch, warum bei Versuchen analog jenen &Iachs, in denen bei 
AusschluCs der Gresichtswahmehmungen und bei gut unterstütztem 
Körper nahezu alle anderweitigen sensorischen Nachrichten fehlen, 
die Gewöhnung nie in auffaUender Weise zustande kommen 
konnte. 

Dieselbe Anschauung, zu der wir durch obige Betrachtungen 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 413 

hingeleitet wurden, hat Hitzig in äufserst prägnanter Form zum 
Ausdruck gebracht. Er sagt in seiner zusammenfassenden Schrift 
über Schwindel a.a.O. S. 24, 25: Die Funktion des Appa- 
Tates ist auf Beschleunigung und zwar im wesent- 
lichen aktiye Bewegungen von mittlerer Geschwindig- 
keit und geringer Dauer eingestellt und mit der 
iFtinktion der übrigen, die Orientierung im Baume 
Termittelnden Apparate anatomisch aufs Innigste 
i^erknüpft. Und: Täuschungen über das Verhalten 
im Räume werden demnach sowohl durch den Aus« 
fall und die krankhafte Veränderung jener anderen 
Orientierungsapparate, als durch entsprechende 
Yeränderung der normalen Erregungsbedingungen 
^es statischen Organs herbeigeführt werden. Und 
'dieser Darstellung Hitzigs, die nach meiner Anschauung eigent- 
lich das Totum unserer Kenntnisse über die Rolle der nicht 
nkustischen Labyrinthfunktionen im Organismus und deren 
Störungen gibt, erübrigt es eigentlich nur noch so viel hinzu- 
zufügen, dafs diesen Sätzen gegenüber für die Erklärung des 
•Schwindels die Annahme einer weitgehenden mechanischen Un* 
-Vollkommenheit des Endapparates nicht nur überflüssig ist, 
«ondern auch zu mannigfaltigen Widersprüchen führt. 

Auch zwei Forscher, die in neuester Zeit einige wertvolle, 
xinbedingt in unserem Sinne sprechende Beobachtungstatsachen 
iDcigestellt haben, konnten sich trotzdem zu keinem konsequenten 
Aufgeben dieser Hypothese entschliefsen. 

Wie vorher schon Bach,* der konstatiert hatte, dafs Nach- 
iiystagmus bei normalen Individuen gebildeter Stände, bei 
schwächlichen, leicht erregbaren, ängstlichen Individuen, und 
solchen, die zu Schwindel neigen, viel leichter zu erzeugen ist, 
als bei stupiden, phlegmatischen Personen, fand jüngst Rüppbkt,* 
dafs dieser Nachnystagmus bei allen Personen, welche auch nur 
lebhaftere Reflexerregbarkeit zeigen, schon nach geringerer An- 
zahl von Umdrehungen auftritt und heftiger ist; ferner dafs er 
oft durch die vom Tanzen her gewohnte Drehrichtung viel 
schwächer erregt wird als durch die ungewohnte. Ruppebt ver- 
legt den Vorgang resp. die Beziehung des Nachschwindels zum 

* ZenfralbL f. Nervenheilk, 15 u. Archiv f. Ohrenheük. 80. 
» J. RUPPBBT, Untersuchungen über den Drehnystagmus. Zentralbl f, 
innere Medizin, 1906. Nr. 19. 



414 Hans Abels. 

Drehachwindel in den Muskelapparat und beruft sich auf die 
abnorme Muskelermüdbarkeit der Neurastheniker. Wenn wir hier 
anstatt auf die Muskehi wohl richtiger auf die motorischen Zentren 
reflektieren, so berührt sich diese Anschauung allerdings innigst 
mit der unserigen, die auch in erster Linie zentrale Störungen 
annimmt, deren Zustandekommen natürlich, wie auch von uns 
vielfach hervorgehoben, von der individuellen Disposition abhängt. 

BAeIny verdanken wir die interessante Beobachtung, dafs 
nicht nur, wie schon früher bekannt. Blicken in der Richtung 
der langsamen (reaktiven) Bewegung des Nachnystagmus diesen 
hemmt und dadurch natürlich auch den Gesichtsschwindel, sondern 
dafs auch bei geschlossenen Augen die so zustande gekommene 
Unterdrückung oder Verminderung des Nystagmus, das 
Gefühl der Scheindrehung des eigenen Körpers ab- 
schwächt. Er selbst sagt darüber:* „Würde die Empfindung 
(der Scheindrehung) direkt in den Bogengängen ausgelöst, so 
könnte ja die Stellung der Augen nicht von Einflufs auf diese 
Empfindung sein. . . . Dieses einfache Experiment spricht also 
auch gegen die herrschende Lehre." Trotzdem folgt B^lrany in 
der letzten Arbeit* wieder den Darstellungen dieser Hypothese. 

Die Funktionsbreite nun, für die der ganze der Raum- 
orientierung dienende Apparat eingestellt ist, differiert selbst- 
verständlich bei den verschiedenen Spezies und selbst den ver- 
schiedenen Individuen einer Spezies, wie Ruppebts Versuche am 
Menschen neuerlich bekräftigen. Wir sind an einem früheren 
Punkte zu der Vermutung gelangt, dafs es bei längeren Rotationen 
besonders die so ungewohnte Dissoziation der beiden wichtigsten 
Empfindungselemente der Drehempfindung ist, die zum Anlasse 
der Störungen wird, also das lange Fortdauern der durch die 
Zentrifugalkraft bewirkten „Umschwungempfindung" ohne eine 
gleichzeitige Empfindung von Winkelbeschleunigung. Nun ist 
es gewifs sehr bemerkenswert, dafs bei solchen Tierklassen, in 
erster Linie den Vögeln, bei welchen schon unter normalen 
Lebensgewohnheiten, wie etwa beim fortgesetzten Kreisen in der 
Luft eine derartige Dissoziation schon für gewöhnlich nicht 

^ BiJtAKT. Beiträge zur Lehre von den Funktionen der Bogengänge. 
Zeitschrift f, Sinnesphysiologie 41, S. 40. 

* BÄRANT. Untersuchungen über den vom Vestibularapparat des Ohres 
reflektorisch ausgelösten rhythmischen Nystagmus und seine Begleit- 
erscheinungen. Motiatsschrift f. Ohrenheilk, 40. 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 415 

selten eintreten muTs, die also mit anderen Worten an lang 
donemde Bewegungen mit gleich bleibender Winkelgeschwindig- 
keit gewöhnt sind, ein Drehschwindel durch Rotationen relativ 
schwer zu erzeugen ist, wie verschiedene Autoren angeben. 

Ein weiterer Fingerzeig dafür, was für Umstände bei dem 
Zusammenwirken der einzelnen Empfindungselemente des sog. 
sechsten Sinnes untereinander und andererseits dieser mit den 
übrigen Regulationsmechanismen unter normalen und abnormen 
Bedingungen mafsgebend sein dürften, wird uns noch geboten 
durch die Betrachtung des Verhältnisses des Nachschwindels zu 
dem während der Rotation auftretenden Drehschwindel. Wir 
wissen aus subjektiver Beobachtung, dafs das Auftreten von 
Nachschwindel so ziemlich parallel geht einem schon während 
der Drehung sich geltend machenden Drehschwindel, und dafs, 
insofern die Drehung nicht lange und intensiv genug ausgeführt 
wird, um letzteren zu erzeugen, auch kein deutlicher Nach- 
schwindel zurückbleibt. Das gleiche hat Ewald, wie schon oben 
(8.401) erwähnt, objektiv an Tauben konstatiert; Nachschwindel 
tritt nicht auf, wenn der normale, gewissermafsen kompensatorische 
Nystagmus bei Rotationen bis zu Ende angehalten hat; das Auf- 
treten des Nachschwindels erscheint also an das Erlahmen dieses 
kompensatorischen Vorganges gebunden. Wenn wir nun die 
Bedeutung dieses mit dem Nachschwindel offenbar so innig ver- 
ketteten Drehschwindels beleuchten wollen, so fällt uns vor allem 
auf, dafs die den Nachschwindel aus einer UnvoUkommenheit 
des Endapparates erklärende Theorie für diesen Drehschwindel 
überhaupt keine Erklärung hat oder nur versucht, ihn 
einfach ignorieren mufs. Für unsere Anschauung hingegen be- 
deutet die hier besprochene Erscheinungsgruppe die notwendige 
Ergänzung aller früher erwähnten Tatsachen. Der Drehschwindel 
ist eben der Ausdruck jener Störungen, die durch die ungewohnt 
lange Einwirkimg und andererseits durch das ungewohnte Zu- 
sammentreffen oder auch Ausbleiben einzelner Empfindungs- 
elemente in den Zentren hervorgerufen werden. Und es ist ohne 
weiteres einleuchtend, dafs diese Störungen eben erst dann ein- 
treten, wenn der ganze auf die normalen Lebensvorgänge ein- 
gestellte Nachrichten- und Regulationsapparat den ungewohnten 
Eindrücken nicht mehr nachkommen, sie nicht mehr richtig ver- 
arbeiten kann und daher auch die kompensierenden Reaktions- 
bewegungen einstellt; und dafs wiederum die eingetretenen zen- 



416 Sons Abels, 

tralen Störungen auch nach Aufhören des Reizes noch einige 
Zeit nachkUngen und jene uns bekannten Empfindungen und 
Bewegungen hervorrufen. 

Wenn also Bbeueb in seiner letzten Arbeit die Ansicht aus- 
spricht, dafs Vögel „indem sie bei frei bewegUchem Kopfe die 
von diesem vollzogene Drehung in eine Reihe kurzer, sehr rascher 
Winkeldrehungen verwandeln, sie sich aUer desorientierenden 
Wirkung der länger anhaltenden Rotation entziehen,^ so können 
wir dem nur auf das Kräftigste beistimmen, müssen aber be- 
merken, dafs dies ganz — aus unserer Anschauung heraus ge- 
sprochen ist. Es ist allerdings im höchsten Grade plausibel, die 
Bedeutung des Nystagmus darin zu suchen, dafs die dem Orga- 
nismus ungewohnt lange mit gleichmäfsiger Winkelgeschwindigkeit 
ablaufende Bewegung in eine Reihe kurzer dem Orientierungs- 
apparat leichter zugänglicher (u. a. Vermeidung der Dissoziation 
der Empfindungselemente) Drehbewegungen aufgelöst wird. Dafs 
diese Deutung die richtige ist, geht schon aus dem Verhalten 
anderer Spezies vor allem des Menschen unter den nämlichen 
Bedingungen hervor. Hier ist es der Augennystagmus allein, 
der die Rolle des Kopfnystagmus der Vögel übernimmt, und bei 
nicht zu langen oder intensiven Drehungen durch die Reflexe 
zur Erhaltung des Gesichtsfeldes und daher gewissermafsen durch 
Zerlegung des Sehpanoramas in eine Reihe von Einzelausblicken 
die Orientierung aufrecht erhält, und dessen Erlahmen ebenfalls das 
Zeichen der Kapitulation des Organismus gegenüber den ungewohnt 
einstürmenden, nicht mehr zu bewältigenden Eindrücken, das Ein- 
treten der Desorientierung, des Schwindels darstellt. Und doch übt 
hier natürlich das Auftreten oder die Sistierung des Nystagmus, 
da er nur die Augen, nicht den Kopf selbst betrifft, nicht die 
geringste Rückwirkung auf die Vorgänge im Vestibularapparate. 

Im Lichte der voranstehenden Betrachtungen empfiehlt es 
sich noch einige Erscheiuungsgruppen kurz zu besprechen, an 
denen der Unterschied der neu gewonnenen Anschauungsweise 
gegenüber den früheren Hypothesen besonders auffällig ist. Es 
liefsen sich allerdings solche Beispiele beliebig vermehren. Doch 
können wir hiervon wohl Abstand nehmen, da uns der Haupt- 
grundsatz bezüglich der die Erregimgsursachen nicht wesentlich 
überdauernden Drehempfindung durch die experimentellen Tat- 
sachen genügend fundiert erscheint, es also hier nur auf Exempli- 
fizierung nicht auf weitere Beweise ankommt. 



I 



über Nachempfindungen im Gebiete des kinästhetischen u. statischen Sinnes. 417 

Die eine Erscheinungsgruppe bezieht sich darauf, dafs bei 
Drehbewegungen in einer abnormen Körperstellung oder -Haltung 
viel heftigerer Schwindel einzutreten pflegt als bei gleich schnellem 
Drehen in normaler Haltung. ICreidl fand, dafs die Nach- 
schwindelerscheinungen bei Fischen stets prägnanter waren, wenn 
die Tiere mit dem Schwanz voraus gedreht worden waren. ^ Und 
ebenso weifs man schon lange, dafs der Dreh- und Nachschwindel 
beim Menschen viel stärker ausfällt, wenn die Drehung unter 
veränderter Kopfstellung z. B. mit stark auf die Schulter ge- 
neigtem Kopfe geschieht. Für die bisherigen Hypothesen sind 
diese Fakten gänzlich unverständlich, da ja die Winkelbeschleu- 
nigungen die gleichen geblieben sind, und also auch die mecha- 
nischen Nachwirkungen auf den Nervenendapparat sich nicht 
verschieden gestalten können. Hingegen erkennen wir ohne 
weiteres, dafs es sich in diesen Fällen um eine Verkettung be- 
sonders ungewohnter Empfindungselemente, einerseits des stati- 
schen Organes untereinander, andererseits solcher mit den Emp- 
findungen anderer Sinnesorgane handeln mufs, und damit um 
eine besondere Inanspruchnahme und wahrscheinlich frühzeitige 
Erlahmung der perzipierenden und regulierenden Zentren, 

Ein anderes hierher gehöriges lehrreiches Beispiel liegt darin, 
dafs die Entstehung von Dreh- und Nachschwindel in aufser- 
ordentlichem Mafse von der Drehgeschwindigkeit abhängt. So 
geht z. B. aus Ewalds Versuchen an Tauben hervor (und ähn- 
liches gilt für den Menschen), dafs bei einer gewissen Dreh- 
geschwindigkeit nach einer bestimmten Rotationsdauer deutlichster 
und ziemlich lange anhaltender Nachschwindel zu beobachten 
war. Bei der halben Drehgeschwindigkeit aber trat nach noch 
solange fortgesetzter Rotation kein Schwindel auf. Eine Ver- 
schiebung der Cupula müfste doch hier, wenn auch in etwas 
schwächerem Mafse, ebenso vorhanden sein wie im ersten Falle. 
Vom Standpunkte unserer Auffassung liegt die Sache klar. 
Erstens dürften die den einzelnen Empfindungselementen ent- 
sprechenden negativen Nachempfindungen bei nicht ungebühr- 
licher Reizung ganz unverhältnismäfsig schwächer sein, zweitens 
und hauptsächlich aber bleibt die Verarbeitungsfähigkeit der 
vom statischen und den anderen Sinnesorganen geheferten 
Empfindimgselemente in den Perzeptions- und Regulationszentren 

1 Kbbidl. Weitere Beiträge zur Physiologie des Obrlabyrinthes. 
ßiUungsberichU der Kaiserl Akad. d. Wissenschaften 101, Abt. IH. 1«92. 
Zeitsdurlft für Psychologie 43. 27 



I 



418 S<^^ '^^<^- 

dauernd aufrecht, solange das Mafs der physiologischen Inan- 
spruchnahme nicht wesentlich überschritten wird, und die be- 
treffenden Zentren verfallen daher auch nicht in einen vorüber- 
gehenden Zustand der Erschöpfung, wie sie ungewohnt starke 
Inanspruchnahme zur Folge hat. Die Grenze ihrer Leistungsfähig- 
keit aber ist, wie wir gesehen haben, durch Trainierung einerseits, 
durch mangelnde Übung andererseits in hohem Grade variabel. 

Was nun den Vorgang bei der Gewöhnung anbetrifft, soweit 
derselbe nicht überhaupt jenseits der Grenzen unseres derzeitigen 
Kenntnisbereiches liegt, könnte noch eine Frage aufgeworfen 
werden. Tritt die Gewöhnung nur dadurch ein, dafs in den 
Zentren die richtige Zusammenfassung und entsprechende Ver- 
wertung der ungewohnten Empfindungselemente „erlernt" wird, 
oder werden auch jene Empfindungselemente selbst, speziell jene, 
die wir als Nachempfindungen einzelner Empfindungselemente 
aus dem Komplex des Nachschwindels herausheben zu können 
glaubten, allmählich einer Modifikation unterworfen? Dafs die 
ersterwähnte Funktionsänderung Platz greift, ist fraglos, und es 
geht die Fähigkeit des nervösen Zentralapparates, ganz dieselben 
Empfindungselemente unter geänderten Umständen in ver» 
schiedener Weise zu verarbeiten, schon aus folgenden, sehr be- 
merkenswerten Fakten hervor, die zum Teil von den Beob- 
achtern des galvanischen Schwindels aufgefunden wurden. 

Hitzig bemerkt, dafs er als häufigste Abweichung von dem 
gewöhnlichen Verhalten der Schwindelempfindungen während 
galvanischer Durchströmung des Schädels (die er offenbar haupt- 
sächlich an aufrechtstehenden Personen geprüft hatte) diejenige 
gefunden habe, dafs sitzende Personen nicht eine um eine 
sagittale Achse sich bewegende, sondern eine horizontale 
Schwindelbahn hatten. Kny hinwiederum hat als durchgehende 
Regel gefunden, dafs der Augennystagmus während der Galvani- 
sierung durch die Felsenbeine bei zwanglos in die Feme ge- 
richtetem Blicke ausschliefslich ein rotatorischer ist, hingegen bei 
Konvergenz der Augenachsen durch Fixation eines nahe ge- 
legenen Gegenstandes einen rein horizontalen Charakter annimmt. 
Die in dem peripheren Organe, dem Vestibularapparate, aus- 
gelösten Beize werden nun in diesen Fallen offenbar nicht ge- 
ändert; wohl aber ändert sich der Zustand der Aufmerksamkeit, 
oder um einen auch auf subkortikale Zentren anwendbaren Aus- 
druck zu gebrauchen, der Aktionsbereitschaft, in dem sich die 



über Nachempfindungen im Gebiete des hiTuisthetischen u, statischen Sinnes. 419 

in Frage kommenden Zentren befinden, und es werden die 
solchen Zentren zugeleiteten Reize viel mehr oder ausschliefslich 
zur Geltung kommen, während Reize, die anderen nicht aktions- 
bereiten Zentren zufliefsen, ohne Wirkung bleiben werden. Dafs 
aber in dem obigen zweiten Beispiele die Aktionsbereitschaft 
jener zentralen Partien eine erhöhte sein mufs, die bei der 
Innervation der horizontalen Augenmuskeln in Frage kommen, 
ist wohl selbstverständlich. Aber auch für das ersterwähnte 
Beispiel haben wir Grund anzunehmen, dafs bei der relativ 
stabilen Stellung des Sitzens die Reflexorgane zur Erhaltung des 
Gleichgewichtes weniger in Aktion sind, und die Aufmerksamkeit 
hauptsächUch nur mehr für horizontale Drehungen in Anspruch 
genommen wird. 

Macht doch auch Breuer bezüglich des Drehschwindels eine 
ganz analoge Beobachtung, die eine weitere Stütze des hier Be- 
sprochenen zu bieten geeignet ist : „Wenn man sich einen frontalen 
Schwindel angedreht hat, so sind die reaktiven Muskelaktionen, 
das Anziehen eines Beines, die Neigung von Kopf und Körper 
nach der Seite, am stärksten im Stehen, schwächer im Sitzen 
und am schwächsten im Liegen. Während der Nystagmus der 
Augen bestehen bleibt, entfallen im Sitzen mit gut unterstütztem 
Rumpfe die Balanceanstrengimgen des Körpers grofsenteils, um 
alsbald wieder aufzutreten, wenn man aufsteht."^ 

Auch hier ist keinerlei Anlafs anzunehmen, dafs die von der 
Peripherie ausgehenden Reize sich geändert hätten. Das ab- 
weichende Verhalten bei den einzelnen Stellungen kann nur in 
einer verschiedenartigen zentralen Verarbeitung der Empfindungs- 
elemente gelegen sein. Ähnliche Erscheinungen im Gebiete 
anderer Sinnesorgane sind uns geläufig. Gleichmäfsige Geräusche» 
wie das Rauschen eines Baches, das Ticken einer Uhr kommen 
uns, obwohl die Eindrücke von Seiten des Endorgans sicher stets 
in gleicher Weise aufgenommen werden, während intensiver 
geistiger Tätigkeit meist nicht zu Bewufstsein, und erst bei einer 
Störung in unserer Arbeit scheinen sie ganz plötzlich wieder 
einzusetzen. 

Ob nun, um auf unsere Frage zurückzukommen, gegenüber 
dieser disponierenden und elektiven Fähigkeit des Zentralnerven- 
systems in bezug auf die ihm zufliefsenden Reize, einer Fähig- 



1 J. Brxüxb: Studien fiber den Veetibnlarapparat S. 53. 

27* 



420 ^^''^^ Abels, 

keit, die sicher auch beim Faktum der Schwindelangewöhnung 
ihre bedeutsame Rolle spielen wird, auch noch eine Ver&nderung 
der Empfindungs demente in Frage kommt, ist schwer zu ent- 
scheiden, eben weil wir jene andere Fähigkeit annehmen müssen. 
In erster Linie würde es sich darum handeln, festzustellen, ob 
jene früher besprochene!! den einzelnen Empfindungselementen 
entsprechenden Nachempfindungen mit der Zeit eine Abschwächung 
und Verkürzung erfahren. Völüg unplausibel wäre eine solche 
Annahme wohl nicht, da wir doch die Entstehung jener Nach- 
empfindungen mit einiger Wahrscheinlichkeit ebenfalls zentral, 
wenn auch in niederen Zentren suchen können. 

Kurze Drehbewegungen. 

Es erübrigt nur noch, die aus allem Vorgebrachten mit Not- 
wendigkeit sich ergebende Betrachtungsweise auf das Verhalten 
des statischen Sinnes unter normalen Bedingungen in Anwendung 
zu bringen. Wie auf den ersten Blick ersichtlich, geschieht dies 
im Sinne einer bedeutsamen Annäherung der Funktionsweise 
dieses Sinnesorganes an die bezüglich der übrigen Sinnesgebiete 
uns geläufige. Vom Standpunkte der bisherigen Theorien gelangt 
man für die unter normalen Lebensbedingungen am häufigsten 
vorkommenden, kin*zen Drehbewegungen des Kopfes oder ganzen 
Körpers zu der wohl recht befremdenden Vorstellung, dafs nach 
solchen Drehbewegungen nur deshalb keine dauernde 
Empfindung zurückbleibt, weil die durch die Anfangs- und durch 
die Endbeschleunigung ausgelösten an und für sich dauernden 
Drehempfindungen sich gegenseitig aufheben sollten. Dagegen 
spricht vor allem schon die naive Selbstbeobachtung, welche bei 
einer derartigen Kopfbewegung (auch unabhängig von den Muskel- 
gefühlen) ganz deutlich die Erkennbarkeit der kleinsten Winkel- 
beschleunigungsschwankungen im Verlaufe einer solchen Be- 
wegung konstatiert, besonders aber auch das genaue Bewufst- 
werden des Endruckes, welchem Momente nach der jetzigen 
Auffassung ja nur die Auslöschung der vorher bestandenen 
Drehempfindung entsprechen sollte. 

Hiergegen stehen in völliger Übereinstimmung mit den Re- 
sultaten einer solchen Selbstbeobachtung die aus den experi- 
mentellcn Tatsachen, wie wir oben gesehen haben, zwingend sich 
ergebenden Folgerungen, dahin gehend, dafs jede (kurze) positive 
oder negative Winkelbeschleunigung ihrem genauen Werte nach 



über Nachempfiwlunge7i im Gebiete des kinästfietiachen u. statischen Sinnes. 421 

perzipiert wird (resp. zu Reaktionsbewegung führt), ohne irgend 
eine erheblich nachdauernde mit dem Beschleunigungsvorgange 
inkongruente Empfindung zu erzeugen. Der Vestibularapparat 
bleibt also, kurz gesagt, unter physiologischen Umständen bezüg* 
lieh der Kongruenz seiner Leistungen mit den Erregungsursachen 
wahrscheinUch nicht wesentHch hinter den anderen Sinnesorganen 
zurück. 

Die gegenteihge Anschauung konnte, wie schon mehrfach 
erwähnt, nur dadurch entstehen, dafs man das Verhalten des 
Apparates unter für die betreffende Spezies gänzlich unphysio- 
logischen Verhältnissen prüfte. Die dabei konstatierten Er- 
scheinungen fehlen bei manchen Spezies resp. Individuen fast 
völlig, sind, wenn vorhanden, durch Gewöhnung sehr herab- 
zumindern. Sie ähneln zu einem Teile den negativen Kontrast- 
erscheinungen anderer Sinnesgebiete, sind aber hauptsächlich auf 
vorübergehende kompliziertere zentrale Störungen zurückzuführen. 

Auf ein Übersehen in der Anwendungsweise der BREUEEschen 
Hypothese auf die kurzen Drehbewegungen müssen wir wegen 
eines dabei zu berührenden prinzipiellen Einwandes noch zurück- 
kommen. Breueb nimmt an, dafs bei den kurzen Drehbewegungen 
die mechanisch verschobenen Teile des Endapparates „durch den 
Gegenstofs, der ja nie stärker sein kann, als der Anfangsstofs, 
in die normale Stellung zurückgeführt werden". Nun können 
wir sofort zeigen, da:fs dies nur zutrifft bei mit gleichmäfsiger 
Geschwindigkeit ausgeführten Drehungen des Kopfes oder ganzen 
Körpers. Diese bilden aber doch sicher nicht die Regel, sondern 
sehr häufig wird, besonders bei gewissen Blickbewegungen, der 
Kopf mit langsam steigender Geschwindigkeit in Drehung ver- 
setzt und plötzlich mit einem Rucke angehalten oder auch um- 
gekehrt. Selbstverständlich sind auch in diesem Falle die Energie- 
summen, welche die gesamte Masse (des Kopfes oder Körpers) in 
Bewegung setzen und dann wieder zu Ruhe bringen, einander gleich. 

Ganz anders aber verhält es sich mit den Rückwirkungen, 
welche die beiden Bewegungsvorgänge auf ein in dem Mafse von 
Reibungs- und Spannungsverhältnissen abhängiges System aus- 
übt, als welches sich Breuer die Bogengangs- und speziell die 
Ampullargebilde vorstellt. Wir veranschaulichen uns dies durch 
ein kleines Experiment. Wir legen auf ein Brettchen oder ein 
Buch eine Münze. Nun bewegen wir das Brettchen horizontal 
und parallel mit sich, indem wir die Bewegung langsam beginnen 



422 -Hans Abds, 

und mit einem Rucke schliefsen oder umgekehrt, was besonders 
leicht gelingt. Stets wird sich bei der langsamen (Jeschwindigkeits- 
änderung die Münze nicht oder nur geringfügig auf der Unter- 
lage verschieben, hingegen sehr stark bei der gröfseren Be- 
schleunigung, dem Rucke. In keinem Falle aber wird sie nach 
der Bewegung an derselben Stelle hegen wie vor derselben. 
Genau so aber müfste sich der Endolymphring und die Cupula 
bei einer ungleichmäfsigen Drehbewegung verhalten, wenn die- 
selben in solchem Grade verschiebhch wären, wie dies Bseüeb 
annimmt, eine Annahme übrigens, die ja auf keinerlei positive 
Beweise sich stützt, sondern nur aus dem Bestreben hervorging, 
die vermeintUche Nachdauer einer kurz erregten Drehempfindung 
zu erklären. 

Da also die Cupula schon nach sehr vielen kurzen Kopf- 
drehungen auf einige Zeit verschoben bhebe, so müfsten wir 
auch nach solchen länger andauernde Drehempfindungen ver- 
spüren, was natürhch der Erfahrung gründhch widerspricht. 
Diese physikalische Erwägung allein könnte genügen, die Hypo- 
these von der peripheren, im mechanischen Endapparate ge- 
legenen Entstehungsursache der Nachschwindelerscheinungen als 
widerspruchsvoll zu beseitigen. Wir sind vielmehr auch auf 
diesem Gebiete zu einer erfreulichen Bestätigung der früher ge- 
machten Annahme gelangt, dafs offenbar auch der Vestibular- 
apparat mit ähnlicher Präzision arbeite, wie die Endapparate 
anderer Sinnesnerven, und dafs auf diesen natürhchen Grund, 
wenigstens unter physiologischen Bedingungen, die Überein- 
stimmung der Empfindungen mit den Erregungsursachen zurück- 
zuführen sei. 

Zum Schlüsse glauben wir der HofEnung Ausdruck geben 
zu dürfen, dafs durch vorstehende Untersuchungen nicht nur 
ein Weniges zum Verständnis der Bewegungsnachempfindungen 
und des Drehschwindels beigetragen wurde, sondern dafs auch 
der statische Sinn einiger ihm bisher anhängender, vom Stand- 
punkt der übrigen Sinnesphysiologie befremdender EigentümUch- 
keiten entkleidet und damit der Vestibularapparat in seinem 
Bürgerrecht unter den übrigen Sinnesorganen neu bekräftigt 

erscheint. 

(Eingegangen am 6. August 1906.) 



423 



Kleine Mitteilung. 



Ein Beitrag zur Psychologie der Aussage. 

Von 

Dr. M. Ubstein (München). 

Dafs Zeugenaussagen, selbst wenn sie durch Eid bekräftigt 
werden, auch nach Ausschlufs jeder Böswilligkeit bzw. bewufster 
falschen Angaben nicht immer zutreffend zu sein brauchen, ist 
bekannt und durch das seinerzeit von Liszt ausgeführte Experi- 
ment hinlänglich erwiesen. Während aber das letztgenannte 
Resultat auf rein theoretischem Wege gewonnen wurde, ist der 
gleich zu schildernde Fall, über den die gesamte Warschauer 
Presse ausführlich berichtete, der realen Praxis entnommen. Mit 
Rücksicht auf das Interesse, welches die Mitteilung dem Juristen 
und Psychiater bieten dürfte, sei es gestattet, das mir vorliegende 
polnische Original in wortgetreuer Übersetzung wiederzugeben. 

Die erste Zivilkammer des Warschauer Bezirksgerichts ver- 
handelte dieser Tage gegen den 17jährigen Lucyan Zimny, 
welcher angeklagt war, aus der Smolnastrafse Nr. 28 gelegenen 
Wohnung des Wladislaus Pozarowski einige Sachen gestohlen 
zu haben. 

Zum Termine wurden 5 Zeugen geladen, die feststellen 
sollten, dafs Zimny aus dem genannten Hause die Gegenstände 
hinausgetragen hatte und nach einem mifsglückten Fluchtver- 
such, freilich ohne corpus delicti, das er unterwegs fortzuwerfen 
vermochte, sistiert wurde. Obiger Tatbestand wurde in kate- 
gorischer Weise von der Portiersfrau Katharina Onuczynska be- 
stätigt, welche, den auf der Anklagebank Sitzenden fixierend, 
erklärte, dafs eben dieser auf der Strafse angehalten worden sei. 
Sie habe, als man ihn zum Tatort brachte, ihn sofort erkannt. 

Nur ist — so fügte sie hinzu — Zimny vorher etwas voller 
gewesen. 

Auch die Zeugen Johann Lesniewski und Stanislaus Stefanski 
behaupteten, in dem Angeklagten ganz sicher jenen Mann wieder- 
zuerkennen, welcher die Sachen aus dem Tor hinausgetragen 
hatte. Von der Portiersfrau zur Rede gestellt, suchte er sich 
durch die Flucht zu retten, konnte indes bald eingeholt werden. 



424 Kleine Mitteilung. ^ 

Schon war die Verhandlung ihrem Ende nahe, da ereignete 
sich ein Vorfall, der den Wert aller dieser Aussagen ins rechte 
Licht stellte. Nachdem eben der Gerichtsvorsitzende Ostroumow 
den Angeklagten Zimny fragte, was er wohl zu seiner Recht- 
fertigung anzuführen habe, erklärte dieser, dafs die ganze An- 
gelegenheit ihn gar nichts angehe, denn er heifse gar nicht 
Zimny, sondern Franz Nowakowski. Man habe ihn zusammen 
mit Zimny aus dem Gefängnis hergebracht, damit ihm hier die 
Motive des gegen ihn vor zwei Wochen gefällten Urteils vor- 

felesen werden. Da aber in einem früheren Prozefs er, Nowa- 
owski, „auf Grund von Aussagen verurteilt worden sei, die nach 
seiner Überzeugung falsch gewesen seien, habe er dem Gericht 
beweisen wollen, wie viel man eben auf Zeugenaussagen geben 
könne; er habe daher mit seinem Komplizen verabredet, ihre 
Rollen gegenseitig zu vertauschen. Während nun Zimny, der 
sich, um unerkannt zu bleiben, mit einem Tuch umhüllte, den 
ihm gar nicht geltenden Spruch anhörte, hatte er, Nowakowski, 
die Rolle Zimnys zu Ende gespielt I 

Es braucht wohl kaum hinzugefügt zu werden, welchen 
Eindruck die Worte des Angeklagten aS die Zeugen ausübten» 
denen plötzlich die Verantwortung, sich eines Meineids schuldig 
gemacht zu haben, zum Bewufstsein kam. Auch die Lage, in 
welche der Gerichtshof versetzt wurde, kann man sich leicht 
vorstellen. 

Um den Sachverhalt zu klären, wurde der echte Zimny aus 
dem Arrestantenzimmer in den Gerichtssaal herbeigeschafft und 
konnte nur die Angaben Nowakowskis bestätigen. 

Dagegen behaupteten der Staatsanwaltsgehilfe, ein Richter 
und der Gerichtsdiener, welche bei der Urteilsverkündigung in 
Sachen Nowakowski, dessen Rolle Zimny übernahm, assistiert 
hatten, dafs bei der Verlesung tatsächlich Nowakowski aber nicht 
Zimny auf der Anklagebank safs, woraus hervorgeht, dafs alle 
3 Wächter und Ausüber des Rechts und der Gerechtigkeit schon 
zum zweitenmal Nowakowski vor sich haben müfsten, ohne es 
zu merken. Die Situation wurde immer verwickelter; man liefs 
sofort den Gefängnisaufseher kommen und dieser stellte nun fest, 
dafs in der Tat Nowakowski, aber nicht Zimny sich auf der 
Anklagebank befindet. 

Es sei noch hervorgehoben, dafs zwischen Nowakowski und 
Zimny nicht die geringste Spur einer Ähnlichkeit zu finden ist. 
Auf Antrag des Staatsanwalts wurde schUefslich die ganze An- 
gelegenheit zwecks Identifizierung der Person Zimnys an den 
Untersuchungsrichter verwiesen. Interessant ist die Frage, ob 
die Zeugen, wenn sie den echten Zimny gesehen, ihn ebenfalls 
erkennen werden. Bei der Fehlbarkeit der optischen Eindrücke 
darf man es mit grofser Wahrscheinlichkeit erwarten. 

(Eingegangen am 11, August 1906.) 



425 



Zweiter Kongrefs für experimentelle Psychologie. 

Von 

N. Ach. 

Vom 18. bis 21. April 1906 fand in Würzburg der zweite Kongrefs für 
experimentelle Psychologie statt. Zu ihm hatten sich etwa 100 ordentliche 
Mitglieder der Gesellschaft für experimentelle Psychologie, 40 Hörer und 
gegen 20 Ehrengäste eingefunden, so dafs die Beteiligung diejenige vom 
ersten Kongrefs in Giefsen 1904 noch übertraf. 

Professor G. E. Müller (Göttingen) eröffnete als Vorsitzender der Ge- 
i(ellschaft für experimentelle Psychologie den Kongrefs, worauf Professor 
KüLPB als Vorstand des Lokalkomitees die Versammlung willkommen hiefs. 
Ferner folgten Begrüfsungen durch Vertreter der kgl. bayr. Eegierung, der 
Stadt und der Universität Würzburg. 

In einem umfassenden Vortrage gab zuerst Professur Sokmeb (Giefsen) 
ein Referat über „ Individualpsychologie und Psychiatrie". 
Während früher z. B. bei Moritz, Psychologisches Magazin 1780, die Geistes- 
krankheiten als „Persönlichkeitskrankheiten*^ aufgefafst wurden, wobei die 
psychologische Konstruktion einer normalen Persönlichkeit zugrunde gelegt 
wurde, wurden infolge der anatomischen und physiologischen Forschung 
ungefähr von der Mitte des 19. Jahrhunderts an die Geisteskrankheiten als 
„Gehirnkrankheiten" angesehen. Um die Beziehung zwischen Geistes- 
krankheit und individueller Anlage zu klären, ist vor allem das Experi- 
ment heranzuziehen. Drei Fragestellungen sind zu berücksichtigen : 1. Wie 
verhalten sich bestimmte Geistesfunktionen, wenn man dieselben messend 
vergleicht bei normalen und bei pathologischen Personen? Mit Hilfe ein- 
facher experimenteller Methoden, wie solche schon früher von S. angegeben 
wurden, sollen so die Grenzen, wo das Pathologische anfängt, bestimmt 
werden. Da innerhalb bestimmter Psychosen einzelne Erscheinungen 
normal sind, andere dagegen nicht, mufs eine singulare Betrachtungsweise 
angewendet werden. S. führt einige seiner Resultate, so die Verlängerung 
der Reaktionszeiten und die Erhöhung der Streuung der Einzelwerte bei 
Schwachsinnigen, Katatonikern usw. an. — 2. Inwieweit lassen sich im 
einzelnen Falle in den Symptomen einer Psychose die Grundzüge des 
früheren normalen Verhaltens (Charakter) wiedererkennen? 3. Inwieweit 
sind die individuellen Eigenschaften pathologische Eigenschaften in ge- 
ringem Grade? Frage 2 und 3, welche in engem Zusammenhange stehen, 
werden an der Hand der schon vorliegenden Beobachtungen für ver- 



426 ^'^ Ach. 

schiedene Krankheitsbilder eingehend besprochen. Es zeigt sich, daTs für 
die verschiedenen Psychosen keine Einheitlichkeit besteht. Während sich 
z. B. bei der Paralyse mit ihren so verschiedenartigen psychologischen 
Krankheitsbildern in der Kegel keine Beziehung zum früheren Charakter 
erkennen läfst, sehen wir bei den Neurosen z. B. bei einem griesgrämigen 
Neurastheniker durch die Krankheit nur eine Steigerung schon vorhandener 
Eigentümlichkeiten eintreten. Durch toxische Einwirkungen, z. B. Alkohol, 
können bestimmte individuelle, an sich latente Veranlagungen wie abnorme 
Ermüdbarkeit, epileptoides , hysterisches Verhalten in die Erscheinung 
treten. Auf Grund von Ermüdung lassen sich bestimmte pathologische 
Eigenschaften des Individuums hervorrufen, die an sich latent sind. Erst 
durch derartige Feststellungen kann die Frage beantwortet werden, inwie- 
weit die individuellen Eigenschaften pathologische Eigenschaften in geringem 
Grade sind. Dem Experiment öffnet sich hier ein weites Feld. 

Professor Weygakdt (Würzburg) referierte über die psychologische 
Untersuchung schwachsinniger Kinder. Die Methodik auf diesem 
noch wenig untersuchten Gebiete drängt nach Vereinfachung. Besonders 
sind Fragestellungen als Beiz zu verwenden (Fragebogen nach Somiisb). 
Bei der Untersuchung der assoziativen Tätigkeit ist die verbale Methode 
zweckmäfsig mit der Exposition von Realgegenständen (Messer, Gabel usw.) 
zu verbinden. Hier lassen sich an der Hand der Resultate bereits einzelne 
Formen des Schwachsinnes erkennen. Nach Besprechung der Versucbs- 
ergebnisse von Wbeschvbb, Juno, Ranschbubg, Stebn, Goldstein u. a. wendet 
sich W. der Besprechung seiner eigenen Untersuchungen zu. Dieselben 
wurden bei Schwachsinnigen unter Anwendung der kontinuierlichen Arbeits- 
methoden (Addieren) gewonnen. Besonders auffällig ist der Mangel des 
Übungsfortschrittes von Tag zu Tag. Dieses Fehlen der Übungsfähigkeit 
läfst sich mit gutem Erfolge in der Praxis für die Prognose verwenden, 
z. B. ob die Besserungsmöglichkeit eines Patienten bis zur Geschäftsfähig- 
keit anzunehmen ist oder ob für Entmündigung entschieden werden soll. 
Epileptoider Schwachsinn ist vor allem durch Schwankungen der Arbeits- 
leistungen an verschiedenen Tagen gekennzeichnet. Überhaupt scheinen 
gerade die fortlaufenden Arbeitsmethoden für die Untersuchung Schwach- 
sinniger besonders geeignet. Damit aber das in Rede stehende Gebiet 
einigermafsen der Forschung zugänglich gemacht werden kann, ist es not- 
wendig, 1. dafs an den psychiatrischen Kliniken Unterabteilungen für 
Idioten und Schwachsinnige eingerichtet werden, 2. dafs psychologische 
Laboratorien im Anschlufs an die Hilfsschulen in Grofsstädten errichtet 
werden (Budapest). 

Auf dem Gebiete der Kinderforschung bewegen sich auch die Aus- 
führungen von Dr. Decroly (Brüssel), dessen Untersuchungen an die Binet- 
schen Arbeiten anknüpfen. Die 18 von D. untersuchten Fälle stimmen sehr 
gut mit den BiNETschen Resultaten überein. Gegen die BiKETSche Methode 
ist einzuwenden: 1. Die Zahl der tauben und schwerhörigen Kinder ist 
sehr grofs. Diese können aber nicht nach der BiNETschen Methode unter- 
sucht werden. 2. Es fehlen Tests für motorische Funktionen. 3. Die 
Intelligenz ist die Anpassungsfähigkeit und nach dieser Richtung fehlen 
Untersuchungen. 



Zweiter Kongrefa für experimentelle Psychologie. 427 

Privatdozent Specht (Tübingen) berichtet über Untersuchungen, welche 
die Divergenz von Unterschiedsschwelle und Reizschwelle 
unter Alkohol betreffen. Die mit grofser Sorgfalt ausgeführten Unter- 
suchungen beziehen sich auf das Gebiet der Schallempfindungen. S. fand 
die interessante Tatsache, dafs unter dem Einflüsse des Alkohols (40 ccm) 
die Reizschwelle sinkt, dafs dagegen die Unterschiedsschwelle steigt und 
zwar gehen die beiden Kurven ann&hernd parallel. Die Annahme, dafs 
infolge einer Steigerung des Gefühles der Sicherheit die zweifelhaften 
Urteile zu positiven werden und hierauf die Steigerung der Unterschieds- 
empfindlichkeit zurückzuführen ist, erwies sich bei Anwendung geeigneter 
Vexierversuche als nicht richtig. Es zeigte sich vielmehr, dafs unter der 
Wirkung des Alkohols eine Tendenz bestand, den zweiten Schall als starker 
aufzufassen. Es spielen hier unter der Wirkung des Alkohols offenbar 
ähnliche Erscheinungen eine Rolle, wie die generelle und die typische 
Urteilstendenz beim Heben von Gewichten, worauf in der Diskussion hin- 
gewiesen wurde. 

Professor Jebusalbu (Wien) behandelte an der Hand zweier Erlebnisse 
theoretisch einige Probleme des Gedächtnisses und suchte die FaEunsche 
Theorie des Vergessens auf Grund affektiven Verdrängens durch seine 
Darlegungen zu stützen. 

Methodisches zur Gedächtnismessung behandelte Professor 
WiTASEK (Graz) in längeren Ausführungen. Die Methoden der Hilfen und 
das Ersparnis- und Trefferverfahreu sollen verfeinert und weiter ausgebildet 
werden. In der Hiifenzahl kommt ein psychologischer Faktor zum Aus- 
druck, der in der Wiederholungszahl nicht zum Ausdruck kommt und um- 
gekehrt. Deshalb ist eine sinngemäfse Kombination beider Methoden not- 
wendig. Dabei ist eine weitere Differenzierung in der Betrachtung der 
einzelnen Fehler erwünscht. So sollen die Hilfen in ihrer verschiedenen 
Wertigkeit bestimmt und für jeden dieser Fälle ein zahlen mäfsiger Aus- 
druck (Hilfengewicht) festgelegt werden, wofür W. an der Hand von 
tabellarischen Aufstellungen im einzelnen Anhaltspunkte zu geben sucht. 
Auch die Nullfäile lassen sich in ihrer verschiedenen Wertigkeit zahlen- 
mäfsig abstufen. 

Lehrer Pfeiffee (Würzburg) besprach eine Methode zur Fest- 
stellung qualitativer Arbeitstypen in der Schule. Die Aus- 
führungen, welche lebhaftes Interesse erregten, gingen davon aus, dafs 
insbesondere Schüleraufsätze als Material für die Psychologie der indivi- 
duellen Differenzen geeignet sind. Dabei wird den Schülern (10— 12jährigen 
Volksschülerinnen) nicht ein Thema, sondern eine Reihe von solchen vor- 
gelegt. Insgesammt 600 Aufsätze liefsen 17 verschiedene Arbeitsweisen 
erkennen : die beschreibende, beobachtende, erinnernde, beziehende, 
schliefsende usw. Wenn sich bei den verschiedenen Bearbeitungen der 
Themata die Arbeitsweisen einer Versuchsperson in der überwiegenden 
Zahl der Fälle einer bestimmten Kategorie zuordnen lassen, so bildet diese 
Kategorie den Arbeitstypus der betreffenden Person. Bei 15 Kindern 
wurden sechs reine Typen und neun Typenkomplexe festgestellt. Als nach 
einem Jahre die Untersuchungen an den gleichen Versuchspersonen wieder- 
holt wurden, waren diese Arbeitstypen nur noch zum Teil vorhanden. 



428 N' Äch. 

Dabei nahm die Zahl der Typen zu, die Verschiedenheit dagegen ab. Die 
Typen selbst zeigten beide Male eine überraschende Übereinstimmung mit 
der Art des Interesses. Das Interesse selbst ergab sich aus der gewohnheits- 
mäfsigen Auswahl der Aufsatzthemata durch die betreffende Versuchsperson 
und diese Auswahl entsprach im einzelnen Falle der Art und Weise der 
Bearbeitung. Als weiteres Versuchsresnltat ergab sich u. a., dafs im all- 
gemeinen der Fortschritt in der Verstandesbildung gröfser ist als in der 
Gemütsbildung. 

Über die Wirkung von Suggestivfragen sprach Lipmanx 
(Berlin). Nach dieser Richtung hat L. sehr ausgedehnte Untersuchungen 
angestellt, indem er mit verbesserter Methodik ähnlich wie Bikbt, Stbrh u. a. 
Bilder vorzeigte und durch verschieden gestellte Fragen eine Beeinflussung 
der Versuchspersonen festzustellen suchte. 

Den zweiten Verhandlungstag eröffnete Geheimrat Stumpf (Berlin) 
durch scharfsinnige Ausführungen über Gefühlsempfind'ungen. Die 
Analyse der sinnlichen Gefühle läfst drei verschiedene Formen erkennen: 
1. die Schmerzgefühle, 2. die Lustgefühle, 3. den Gefühlston der Farben, 
Töne, Gerüche usw. Wie verhalten sich diese sinnlichen Gefühle zu 
den Sinnesempfindungen? Es bestehen drei Theorien: 1. die sinnlichen 
Gefühle sind Eigenschaften der Sinnesempfindungen, 2. das Gefühl kommt 
als etwas Neues zu den Empfindungen, 3. die Gefühle können neben den 
übrigen Empfindungen ebenfalls Sinnesempfindungen sein. Da 1. bereits 
durch KüLPE widerlegt ist, wendet sich S. der eingehenden kritischen Be- 
sprechung von 2. zu. Für die Selbständigkeit der Gefühle lassen sich drei 
Argumente anführen, a) Verwandtschaft der sinnlichen Gefühle mit den 
Gemütsbewegungen, welch letztere keine Empfindungen sind, b) die angeb- 
liche Subjektivität der sinnlichen Gefühle, c) die mangelnde Lokalisation 
und Ausdehnung der sinnlichen Gefühle. In eingehender Besprechung 
werden diese drei Argumente abgelehnt und S. kommt zum SchluCs, da£i9 
deshalb die dritte der angeführten Theorien zu Recht besteht, d. h. also, 
dafs wir es bei den sinnlichen Gefühlen mit Sinnesempfindungen (Gefühls- 
empfindungen) zu tun haben. An der Hand eingehender Betrachtungen 
weist S. darauf hin, dafs sich in der Tat bei der Annahme von Gefühls- 
empfindungen viele* Erscheinungen, so die Analgesie, die Tatsache der 
indifferenten Empfindungen, die Abhängigkeit des Gefühlstones von der 
Qualität der Empfindung unserem Verständnis näher bringen lassen. 

Hierauf folgte ein eingehendes Referat von Professor Külpb (Würzburg) 
über den gegenwärtigen Stand der experimentellen Ästhetik. 
In einem ersten Teil besprach K. die Methoden dieser Wissenschaft und 
zwar zuerst die Eindrucksmethode, wo sich bei der Einwirkung konstanter 
Eindrücke einfache Wahl, mehrfache Wahl, Reihenbildung, paarweise Ver- 
gleichung und bei veränderlichen Eindrücken kontinuierliche Änderung, 
Zeit Variation als Untergruppen unterscheiden lassen. Hierbei kann auch 
noch von einer Methode der freien Beschreibung und einer solchen der 
eingeschränkten Beschreibung z. B. auf Grund von Fragebogen gesprochen 
werden. Bei Anwendung der Ausdrucksmethode können Puls, Atmung, 
mimische und pantomimische Bewegungen, sowie sonstige physiologische 
Aufserungen des Innenlebens der Untersuchung zugänglich gemacht werden. 



Zweiter Kongrefs für experimentelle Psychologie. 429 

Bei der Methode der Herstellung, welche K. den erwähnten beiden Methoden 
noch an die Seite stellt, wird das aktive ästhetische Schaffen in die Unter- 
suchung einbezogen. Sie ist Eindrucks- und zugleich Ausdrucksmethode. 
In einem zweiten Kapitel werden ebenfalls in kritischer Weise die Ergeb- 
nisse und Theorien besprochen. In übersichtlicher Anordnung werden die 
mannigfachen schon bestehenden Untersuchungen in fünf Abschnitte 
gruppiert und eingehend behandelt: Ästhetik der Farben, der räumlichen, 
der zeitlichen Formen, der Komik und der bildenden Kunst und Musik. 
Besonders traten hierbei die amerikanischen Untersuchungen hervor, wobei 
einzelne wie die von Lilli Mabtin in vieler Beziehung als mustergültig 
bezeichnet werden konnten, während andere, wie diejenigen, welche das 
Wohlgefallen an räumlichen Formen auf die Erregung von motorischen 
Impulsen zurückzuführen suchen, die wohlverdiente Zurückweisung er- 
fuhren. Zum Schlüsse seiner Ausführungen betonte der Referent die not- 
wendige Vereinigung der gegenständlichen und der zuständlichen Gesichts- 
punkte in der Ästhetik. Erst die Berücksichtigung des objektiven und des 
subjektiven Momentes wird uns dem Ziele zuführen. 

Professor Ashsb (Bern) sprach über das Gesetz der spezifischen 
Sinnesenergien. Nach A. ist die Qualität der Empfindung nicht von 
anfsen, sondern von innen her bedingt. Auf entwicklungsgeschichtliche 
Gründe sich stützend sucht der Vortragende dieses viel umstrittene Gesetz 
der spezifischen Sinnesenergie als zu Recht bestehend zu verteidigen« 

Atif experimenteller Grundlage bewegten sich die Ausführungen von 
LnrKE (Naumburg) über neue stroboskopische Versuche. Seine theoretischen 
Ausführungen, nach denen z. B. zur Erklärung der Erscheinungen vor 
allem zentrale Prozesse, Assimilationsvorgänge, herangezogen werden sollen, 
blieben in der Diskussion nicht ohne Widerspruch. 

Es folgte durch Prof. Marbb (Frankfurt a. M.) die Demonstration einer 
Versuchseinrichtung für kurz dauernde optische Reize. Die Einrichtung 
scheint für die Erzeugung simultaner und sukzessiver optischer Reize be- 
sonders geeignet und zwar sowohl für exakte Versuchsanordnungen, wie 
für die Demonstration. Professor Ebbinohaub (Halle) demonstrierte einen 
Fallapparat zur Kontrolle des Chronoskopes, der infolge eigenartiger und 
exakter Konstruktion ohne Benützung sonstiger zeitmessender Hilfsmittel 
sehr genaue kleine Zeiten herstellen lälst. 

Privatdozent Vbraguth (Zürich) demonstriert einen Apparat, mittels 
dessen er Drehungen eines Depbrz - d* ABsoNVALschen Galvanometers unter- 
sucht hat, welche verursacht sind durch endosomatische Vorgänge in der 
mit dem Apparat in leitende Verbindung gebrachten Versuchsperson und 
berichtet über die Resultate. V. hat gefunden, dafs taktile, akustische und 
optische Reizung der Versuchsperson dann einen Ausschlag des Galvano- 
meters hervorruft, wenn diese Reize genügend intensiv, gefühlsbetont und 
aktuell sind, und dafs solche Eigenschaften auch vorhanden sein müssen 
bei höheren psychischen Vorgängen (Erwartung, Lesen, Assoziationsversuche), 
damit dieselben durch Spiegelausschläge zum Ausdruck gelangen. Über 
die Theorie dieses galvanisclien psychophysischen Reflexes 
spricht sich der Vortragende mit derjenigen Reserve aus, die ihm gegen- 



430 N, Ach. 

über einem offenbar hoch komplizierten nnd erst in den Anfangsstadien 
der Untersuchung befindlichen Phänomen angezeigt scheint. 

Das erste Referat des dritten Sitzungstages wurde yon Professor 
Kbübgbb (Buenos Aires) über die Beziehungen der Phonetik zur 
Psychologie erstattet. Es lassen sich zwei Methoden auf dem Grebiete 
der experimentellen Phonetik unterscheiden, die artikulatorische Methode, 
welche die Vorgänge der Tonerzeugung nach der ph3rsiologi8chen, genetischen 
Seite untersucht, und die akustische Analyse des gegebenen Phänomens. 
Beide Methoden werden einer eingehenden kritischen Betrachtung unter- 
zogen. Die Untersuchungen mit der ersten Methode lassen sich nur am 
lebendigen, sprechenden Menschen anstellen und zwar sind hier zu berflck- 
sichtigen die Atmungsbewegungen, die Bewegungen des Kehlkopfes, der 
Antlitzmuskulatur und die Bewegungen der inneren Sprachorgane wie der 
Stimmbänder und der Organe im Ansatzrohr. Ferner sind hier auch die 
Untersuchungen über die Stimmlosigkeit eines Lautes anzufahren. Wenn 
diese artikulatorische Methoden zu psychologischen Untersuchungen ange- 
wendet werden, so ist darauf zn achten, a) dafs keine Belästigung des 
Individuums eintritt, b) dafs keine Änderung der Laute z. B. durch Schall- 
trichter zustande kommt, c) dafs die Möglichkeit der Beobachtung bei fort- 
laufender Rede gegeben ist. Bei der Besprechung der zweiten Methode, der 
akustischen Analyse, weist K. darauf hin, dafs nur das phonantographische 
und das graphophonische Verfahren in Betracht kommen, während das 
optische Verfahren (manometrische Flammen) nur fflr Demonstration ge- 
eignet ist. Hensxns Sprachzeichner und Hbrxahnb Phonantograph mit 
Spiegelübertragung werden als die leistungsfähigsten Apparate bezeichnet 
Doch ist bei der phonetischen Untersuchung die artikulatorische und die 
akustische Methode zu kombinieren, jede Methode ist fflr sich allein anzu- 
reichend. Was die psychologischen Gesichtspunkte betrifft, so scheinen 
die zeitlichen Verhältnisse der Sprachlaute und die Tonhöhenbewegungen 
der Sprachlaute die gröfste psychologische Bedeutung zu haben. An der 
Hand von Kurven, welche mittels des Kehltonschreibers (Demon- 
stration dieses Apparates) gewonnen wurden, zeigt K. die Bedeutung der 
Tonhöhenänderung insbesonders als Ausdruck der verschiedenen Gemfits- 
lage des Sprechenden. 

Hierauf folgte das Referat von Professor ScanuAinx (Zflrich) n^i^ 
Psychologie des Lesens". Er geht von den verschiedenen Methoden 
aus, das Lesen zu lehren, von der Buchstabiermethode, welche hauptsäch- 
lich nur noch historisches Interesse bietet, von der Lautiermethode und 
bespricht noch eine dritte Methode, bei der überhaupt keine Elemente» 
sondern nur ganze Worte geboten werden. Die Frage, ob die Reproduktion, 
welche von dem gesamten Eindrucke eines Wortes ausgeht, gleich der 
Summe der von den einzelnen Buchstaben ausgehenden Reproduktionen 
ist, wird verneint und infolgedessen dieser dritten Methode der Vor- 
zug gegeben, wobei auch andere Tatbestände zur Stütze herangezogen 
werden. Vor allem die Ergebnisse der experimentellen Untersuchung des 
psychologischen Vorganges beim Lesen. So die Tatsache, dafs, wenn bei 
tachistoskopischen Versuchen Buchstabenkomplexe, welche ein sinnvolles 
Wort bilden, kurze Zeit exponiert werden, gewöhnlich drei- bis viermal 



Zweiter Eongrefs für experimentelle Psychologie, 431 

mehr Buchstaben gelesen werden, als bei sinnloser Kombination der 
gleichen Elemente. Es scheint also von dem gesamten Eindruck des 
Wortes eine Reproduktionstendenz auszugehen. Dabei ist der Erkennungs- 
vorgang bei der Auffassung einzelner Buchstaben anders als beim Auffassen 
von ganzen Worten. Das Wortbild wird gewöhnlich sofort als charakte- 
ristische Einheit erfafst. Die Gesamtform des Wortes ist ffir das Erkennen 
mafsgebend (Ebdmann und Dodgb). Doch ist die Erkennung sämtlicher 
Buchstaben in der Regel nicht nötig, fehlende werden ergänzt, über falsche 
wird weggelesen. Auch auf die tachistoskopische Methodik, insbesondere 
auf die Versuchsanordnungen, welche die Wirkung des abklingenden 
physiologischen Prozesses in der Netzhaut auszulöschen suchen, z. B. durch 
Blenden mit grellem Licht, wird kritisch eingegangen. 

HüOHSS (Soden) sucht theoretische Ausführungen zur Lehre von 
den einzelnen Affekten zu geben. 

In der Nachmittagssitzung bespricht Rupp (Göttingen) die Ergebnisse 
ausgedehnter experimenteller Untersuchungen über die Lokalisation 
von Tastreizen, welche an 14 Versuchspersonen zur Ausführung kamen. 
Durch geeignete Vorrichtungen liefs R. bei verschiedener Lage der Hände 
auf verschiedene Stellen der Finger Tasteindrttcke wirken und erhielt 
neben der Angabe der Lokalisation, die bei geschlossenen Augen erfolgte, 
durch Benutzung des HiPpschen Chronoskopes auch Auskunft über den 
zeitlichen Verlauf des Lokalisationsvorganges. Als allgemeines Resultat 
ergab sieh, dafs die Lokalisation am raschesten geschieht, wenn die Hände 
ihre normale Stellung einnehmen, dafs dagegen bei anderen komplizierteren 
Stellungen, z. B. der Handkreuzung oder der Fingerkreuzung, erheblich 
längere Werte für die Dauer der Lokalisation erhalten werden. Für die 
Erklärung kommt vor allem die reproduktive Hemmung in Betracht, welche 
sich bei der Auslösung des Urteiles über abnorme Lagebestimmungen 
geltend macht. In psychologischer Beziehung verfolgten die Untersuchungen 
femer den Zweck, den Reproduktionsmechanismus bei der Lokalisation 
kennen zu lernen. Dabei ist bemerkenswert, dafe, bevor die Lage der 
übrigen Glieder bekannt ist, unmittelbar bereits die räumliche Stelle der 
Berührung angegeben werden kann, z. B. ob oben oder unten, ob rechts 
oder links, und R. kommt auf Grund seiner exakten Versuche zu dem Er- 
gebnis, dafs wir die Lage einer Berührung unmittelbar lokalisieren, die 
Lokalisation wird also nicht durch eine vorherige Deutung vermittelt. 

Hierauf gab Schültze (Würzburg) Ausführungen über Wirkungs- 
akzente. Er versteht hierunter die Differenz zwischen einem visuellen 
Eindruck als isoliertem Element und seiner psychischen Wirksamkeit^ so- 
fern er Teilinhalt einer Gesamtvorstellung wird. An der Hand von Demon- 
strationen und theoretischen Ausführungen suchte Vortragender die Selb- 
ständigkeit dieser psychischen Realität zu beweisen, welche ebenso wie 
Intensität und Qualität durch Abstraktion isolierbar, aber selbst nicht 
abstrakt ist. Die Veränderung von Zahl und Lagerung der einzelnen 
Elemente erschöpft die Charakteristik dieses Vorganges nicht, ebensowenig 
ist die Bewulstheit^ d. h. das unanschauliche Gegenwärtigsein eines Wissens 
(Ach) oder die Gestaltsqualität (Meihong) in der Lage, dieses Plus, das zu 
dem Reis bei Änderung des Zusammenhanges hinzukommt, zu erklären. 



432 ^' Ach, 

Vielmehr soll es sich hierbei um ein selbständiges psychisches Phänomen, 
eben um den Wirkungsakzent handeln. 

Detlbfsbit (Wismar) gab an der Hand anschaulicher Demonstrationen 
Ausführungen aber Farbenwerte und Farbenmasse. D. stellte eine 
Helligkeitsskala her, bei der die einzelnen Stufen durch die Logarithmen 
einer Grundzahl bezeichnet werden konnten. Mit Hilfe dieser Skala wurde 
die Helligkeit verschiedenfarbigen Lichtes bestimmt. Die Helligkeit von 
Pigmentfarben bestimmte er, indem er mit Hilfe der Projektionslampe 
durch verschiedenfarbige Gläser rotes, grünes oder blaues Licht herstellte 
und für das einzelne Licht die Übereinstimmung mit einem bestimmtea 
Werte der Helligkeitsskala festlegte. Aus den sich ergebenden drei Zahlen 
konnte D. die Pigmentfarbe wieder erkennen. 

Über die Aufmerksamkeitsverteilung in verschiedenen 
Sinnesgebieten sprach Professor Wibth (Leipzig). Mit Hilfe wohl aus- 
gebildeter Versuchsanordnungen suchte W. die Änderung der Unterschieds- 
schweUe auf visuellem, akustischem und taktilem Sinnesgebiete bei ver- 
schiedenem Verhalten der Aufmerksamkeit zu bestimmen. Die Fragestellung 
lautete z. B. für das Gebiet des Gesichtssinnes. Unter Festhaltung der 
Fixation der Mitte des Gesichtsfeldes wird die Aufmerksamkeit auf be- 
stimmte Punkte des Gesichtsfeldes gerichtet. Wie ist dann der Schwellen- 
wert für die anderen Punkte des Gesichtsfeldes ? In technischer Beziehung 
zeigten sich besonders auf dem Gebiete der Akustik wegen des Intensitftts- 
mafses der Reize Schwierigkeiten. Bei den Tastsinnuntersuchungen wurden 
die VON FBEYschen elektromagnetischen Einrichtungen in Anwendung ge- 
zogen und zwar wurden bis sechs derartige Hebel auf verschiedene Körper- | 
stellen aufgesetzt. Die Aufmerksamkeitsverteilung ist hier besonders | 
schwierig. Doch scheinen nach den Ausführungen des Vortragenden die 
Resultate für die verschiedenen Sinnesgebiete in guter Übereinstimmung 
zu stehen. 

KoBTLECKi (Krakau) behandelt in theoretischen Ausführungen das 
psychologische Experiment ohne Selbstbeobachtung. Er 
unterscheidet für das psychologische Erlebnis 1. den Konstatierungs- oder 
Erfahrungsakt, 2. den Konstatierungsinhalt und 3. den konstatierten Tat- 
bestand. In Wirklichkeit kommen jedoch nur 1. und 2. in Betracht Für 
die Theorie der Selbstbeobachtung wurde nichts Neues gebracht. 

Am letzten Tage folgten zwei Voi^räge über die Willenstätigkeit. 
Privatdozent Dübb (Würzburg) behandelte auf Grund experimenteller Unter- 
suchungen Willenshandlung und Assoziation. Imperative, Fragen, 
Behauptungen stellten bei verschiedenartiger Instruktion die gebotenen | 

Reizworte dar. Die Instruktion lautete z. B.: ,,Erfüllen Sie die Aufgabe, 
welche Ihnen gestellt wirdl'' Aufgabe: „Setzen Sie sich auf den Boden 1" , 

D. unterscheidet auf Grund der von den Versuchspersonen gegebenen | 

Selbstbeobachtungen a) Motive mit Reproduktionserfolg, b) Motive mit 
Produktionserfolg, c) Motive mit Beachtungs- oder Verden tlichungserfolg. 
Als besonderes Kennzeichen der Willenshandlung gegenüber dem asso- 
ziativen Ablauf wird das Wissen um die Richtung der Reproduktionstendens 
bezeichnet 



Zweiter Kongrefs für experimentelle Psychologie, 433 

Privatdozent Ach (Marburg) gibt in öeinem Vortrage „Experi- 
mentelle Untersuchangen über den Willen" eine Methode an zur 
quantitativen Bestimmung der Intensität eines Entschlusses, Vorsatzes u. dgl. 
Die Anordnung besteht darin, dafs Silbenreihen in einer bestimmten Zahl 
von Wiederholungen am Kymographion geboten werden. Hierauf werden 
die ungeraden Silben dieser Reihen im Kartenwechsler vorgeführt. Die 
Versuchsperson hat dann die Aufgabe, nach dem Lesen der Beizsilbe ent- 
weder die erste auftretende Silbe auszusprechen (Reproduktion), oder einen 
Reim zu bilden (Reimen) oder den 1. und 3. Buchstaben der Reizsilbe um- 
zustellen (Umstellen). Die Silben der am Kymographion gebotenen Reihen 
zeigen entweder keinen Zusammenhang, oder sie sind gereimt, wobei jede 
gerade Silbe einen Reim der vorhergehenden ungeraden Silbe bildet, oder 
die geraden Silben bilden Umstellungen der ungeraden Silben. Die einzelnen 
Reihen wurden am gleichen Tage in Verteilungen 20 mal geboten, so dafs 
für die drei Reihen insgesamt 60 Lesungen stattfanden. Bei den einander 
folgenden Tagen einer Versuchsreihe wurden an jedem Tage entweder stets 
wieder die gleichen Silben geboten, welche dann täglich nur 10 mal gelesen 
wurden, oder es erschienen wieder andere, in gleicher Weise gebaute Silben 
in 20 Wiederholungen. — Dieses kombinierte Verfahren ergab als quantitatives 
Resultat, dafs im allgemeinen eine sehr grofse Zahl von Wiederholungen, 
d. h. eine recht erhebliche Stärke der Reproduktionstendenz notwendig ist, 
um sie der Intensität der von einem Willensakte ausgehenden Determi- 
nation gleich zu machen. So betrug das assoziative Äquivalent der von 
dem Entschlufs zu Reimen ausgehenden determinierenden Tendenz ungefähr 
90 Wiederholungen, die sich über 8 Tage verteilten. Hier bestimmte dann 
nicht der von der Determination ausgehende Einflufs den Ablauf des Ge- 
schehens, sondern die durch vielfache Einübung sehr gefestigte Assoziation, 
so dafs eine falsche Reaktion erfolgte. War die Energie des Entschlusses 
an sich gering, dann konnte auch eine relativ geringe Stärke der Repro- 
duktionstendenz {W==20) genügen, um trotz gegenstehender Determination 
die Über Wertigkeit der assoziierten Vorstellung zu bewirken. Die repro- 
duktiv-determinierende Hemmung kam bei vielen Versuchen in den Zeit- 
werten zum Ausdruck. 

Das kombinierte Verfahren gestattet auch die Qualität des Willensaktes 
al3 isoliert gegebenen Erscheinung der Analyse zugänglich zu machen. Es 
zeigt sich, daTs der Akt des Entschlusses für das Individuum unmittelbar 
als besonderes Erlebnis gegenüber anderen psychischen Phänomenen wohl 
<^harakterisiert ist. In der Bewufstheit ,4<^^ kann*' kommt die Unabhängig- 
keit des mI<^^" zum Ausdruck. Diese Bewufstheit ist durch Abstraktion 
aus den gesamten früheren Erfahrungen gewonnen und determiniert hier 
den Ablauf des Geschehens. Die Aktivität tritt sehr stark in dem von der 
BewnÜBtheit „ich will" begleiteten Akte hervor. Dieser Akt kann auch 
spontan ohne vorherige Bewufstheit „ich kann" gegeben sein. Überhaupt 
läfst sich mit Hilfe des kombinierten Verfahrens der Willensvorgang in 
jeder Abstufung von der energischsten Form bis zur Ausprägung geringsten 
Grades isoliert der systematischen Beobachtung zugänglich macheu. In 
quantitativer und qualitativer Beziehung erfüllt somit dieses Verfahren die 
Zeitsehrift für Psychologie 43. 23 



434 ^V. Ach. 

Bedingungen, welche an eine Methode zur Untersuchung des Willens zu 
stellen sind. 

Privatdozent von Astbr (München) sprach über Tiefenwahmehmung. 
Unter anderem suchte der Vortragende nachzuweisen, dafs richtunggebende 
Linien die räumliche Auffassung erleichtern. 

Den Schlufs des reichhaltigen Programmes bildeten zwei Vorträge 
aus dem Würzburger psychologischen Institut über experimentelle 
Analyse von Denkprozessen unter Benutzung der Methode der syste- 
matischen experimentellen Selbstbeobachtung. Professor Messer (GiefiseB) 
behandelte die Frage, welche Phänomene dem Individuum beim Erleben 
eines Urteilsaktes gegenwärtig sind. M. kam zu dem allgemeinen Resultat, 
dafs eine Reaktion dann als Urteil bezeichnet wird, wenn sie als Urteil 
gemeint ist. Es gibt dies in gewisser Beziehung eine Bestätigung der 
bereits von Ach ausgesprochenen Anschauung, dafs gewisse Urteilskategorien 
auf Interferenz zwischen der Wirksamkeit von determinierenden Tendenzen 
und Änderungen im Vorstellungsablauf zurückzuführen sind. Ein spesi- 
fisches Urteilserlebnis, welches für alle Urteile charakteristisch ist, l&fet 
sich nach M. nicht nachweisen. Nur unter besonderen Umständen treten 
Urteilserlebnisse auf. Die Versuchserlebnisse, welche durch Fragestellungen 
wie „Wissen Sie, was Cäsar sagte, als er ermordet wurde?" bei den Ver- 
suchspersonen ausgelöst wurden, zeigen aufserdem in grofser Zahl jene 
eigentümlichen Phänomene, welche Ach als Bewufstheiten bezeichnete, und 
welche durch das unanschauliche Gegenwärtigsein eines Wissens charak- 
terisiert sind. 

Diese Bewufstheiten, welche mit den BiNBXSchen pens^es verwandt zu 
sein scheinen, sind es nach Bühleb (Würzburg), welche überhaupt den 
Denkvorgang charakterisieren. Eine experimentelle Analyse kom- 
plizierter Denkprozesse suchte B. dadurch zu ermöglichen, dafis er 
nach Fragestellungen wie ^Verstehen Sie?" — oder „Halten Sie folgendes 
für richtig?" Aphorismen oder Sentenzen von Nietzsche, Rückebt u. a. 
folgen liefs. Die Versuchsperson hatte hierauf das ausgelöste Erlebnis 
eingehend zu schildern. Auf die Frage: welches sind die Denkelemente? 
gibt B. die Antwort, dafs dies die BiNBTSchen Gedanken und die AcHSchen 
BewufBtheiten sind. Das Wissen um etwas, das GegenstandsbewufstBeln 
ohne Empfindungen ist für das Denken charakteristisch. Dabei prägea 
sich die Bewufstheiten dem Gedächtnis leichter ein als Vorstellungen. 

Nach diesen aussichtsvollen Vorträgen wurde der Kongrefs durch den 
Vorsitzenden Prof. G. E. Mülleb geschlossen. In einer geschäftlichen 
Sitzung der Gesellschaft für experimentelle Psychologie entschied man 
sich dafür, den nächsten Kongref» in Frankfurt a. M. ^om 21. bis 
25. April 1908 abzuhalten. Ferner wurde durch Akklamation der bisherige 
Vorstand wiedergewählt und demselben als weiteres Mitglied Geheimrat 
Stumpf beigegeben. 



435 



Literaturbericht. 



H. SvoBODA. Stadien inr Gmndlegiuf der Psychologie. Leipzig und Wien, 
Deuticke. 190ö. 117 S. 

Der Verf. macht den kühnen, nach der Seite der Form jedenfalls an- 
regend und geistreich durchgeführten Versuch, vom Gesichtspunkt eines 
bestimmten psychologischen Bpezialproblemes aus, das ihm aber zum Zentral- 
problem wird, eine Neugestaltung der Psychologie zu begründen. Dieses 
Problem ist die „psychische Periodizität, deren umfassende Be- 
deutung er schon in einer früheren Schrift (die Perioden des menschlichen 
Organismus in ihrer psychologischen und biologischen Bedeutung 1904 
vgl. die Anzeige von Pelman in dieser Zeitschrift 37, S. 266) zu beweisen 
versuchte. 

Der erste Abschnitt behandelt zunächst unter dem Titel „Psychologie 
und Leben ^ einige Prinzipienfragen. Die wissenschaftliche Psychologie, 
welche zugleich dem Expektorationsbedürfnis der komplizierten modernen 
Psyche entgegenkommen soll, habe allzuwenig sich an die natürliche 
Psychologie angeschlossen. Dem unverdorbenen Geiste ist das Komplexe, 
die vielgestaltige Erfahrung das Erste und hiermit in seiner Existenz Selbst- 
verständliche. Die wissenschaftliche Psychologie hingegen ist „vom Wahne 
der Synthese erfafst" (S. 15). Ihre Unfruchtbarkeit rührt daher, dafs sie 
— nach AvENABius' trefflicher Bezeichnung — Mosaikpsychologie ist. 
Wenn sie dem Wahne huldigt, man könne durch fortgesetzte Gliederung 
und Auffindung oder selbst Annahme immer einfacherer Elemente in 
der Erkenntnis des Ganzen Fortschritte machen, so hat sie Methoden, 
deren Wert für die Naturwissenschaften durch deren Erfolge aufser Frage 
gestellt ist, ganz unmodifiziert in der Seelenforschung zur Anwendung 
gebracht. Setzt sich damit die wissenschaftliche Psychologie Ziele, die 
nicht zu verwirklichen sind, so verschlieDst sie sich andererseits aus den- 
selben Gründen der Behandlung von Fragen, die sie vor allem angehen 
und mit deren Lösung sie sich den Dank der Allgemeinheit erwerben 
könnte. Sie hat sich bis jetzt nur immer mit Durchschnittsziffern, Durch- 
schnittszeiten, Durchschnittsmafsen, mit dem Durchschnittsmenschen, der 
nirgends anzutreffen ist, beschäftigt, doch nicht mit der Beschreibung 
des Individuums. „Die Psychologie aber, welche uns nicht zur Menschen- 
kenntnis verhilft, kann gar nicht weniger leisten" (S. 19). Der Psychologe 
der Zukunft dagegen, der „Charakterolog" oder der „Anthropolog", wie wir 
ihn kurz nennen können, wird „Typen aufstellen und deren einzelne Züge 



436 Liieraiurbericht 

taxativ aufzählen, und die Charakterologie wird ein Kompendium der 
Menschenkenntnis darstellen, woraus auch derjenige Belehrung schöpfen 
kann, welcher nicht selbst zu entsprechender Beobachtung angelegt ist.*' 

Der zweite Abschnitt, „Assoziationen und Perioden", knüpft an die 
Tatsache der „freisteigenden Vorstellungen'' an. Ihnen gegenüber ist die 
Assoziationspsychologie in Verlegenheit. Sie schliefst die Annahme in sich, 
dafs der psychische Zustand in dem des vorhergehenden Augenblickes 
seine volle Begründung habe. Hier tritt nun die Lehre von den Periodizi- 
täten des Seelenlebens ein, von welcher der Verf. meint, dafs sie in 
der Psychologie die nämliche Rolle spielen werden, wie Krplbbs und 
Newtons Gesetze in der Astronomie (S. 26). Auf Grund vieler Beobachtungen 
und Experimente glaubt er behaupten zu können, dafs nicht nur somatische 
Phänomene, sondern auch Vorstellungen, Gefühle, Willensimpulse ganz 
spontan nach n-2B oder n-28 Tagen wiederkehren können. Er meint 
aufserdem die Existenz von kleineren Wellen nachgewiesen zu haben, 
einer n • 23 stündigen und einer n • 18 stündigen, deren Beobachtung viel 
leichter gelinge als die der gröfseren. Die Anerkennung und Erklärung 
„freisteigender Vorstellungen" sei von hier aus selbstverständlich. Für 
diese psychische Periodizität wird dann eine gröfsere Zahl von Beispielen 
angeführt. Musikalische Reminiszenzen tauchen nach 3 X ^3» ^X^i 28 oder 
auch 18 oder n • 18 Tagen oder ebensoviel Stunden auf. Von diesen Perioden 
ist zugleich die Wirksamkeit der Assoziationen abhängig. Die Vorstellungen 
befinden sich in beständiger rhythmischer Bewegung zwischen dem Licht 
des Bewufstseins und der Nacht des Vergessens. Nehmen wir z. B. an, 
eine Melodie würde in einer Stunde im 18 stündigen Intervall spontan 
auftauchen ; höre ich nun jetzt, also in der 17. Stunde eine ähnliche Melodie, 
so wird sich zu ihr die andere, auf dem Weg zur spontanen Reproduktion 
befindliche leicht hinzugesellen, da sie ja nur sozusagen eine Stunde vom 
Bewufstsein entfernt ist (S. 43 f.). Eine Schmerzempfindung, eine schlaflose 
Nacht kehrt nach 23 Tagen wieder. Ein besonders deutliches Bild der 
Periodizität liefert aber das Traumleben, in welchem bei sehr geringem 
Einflufs äufserer Faktoren auf den Gang des inneren Geschehens annähernd 
reine psychische Kausalität herrscht. Erlebnisse determinieren den Traum 
nach den genannten Perioden. Die Konsequenz, dafs zwei Personen, welche 
zur selben Zeit den nämlichen Eindruck empfangen haben, in der nämlichen 
Nacht davon träumen, soll sich in drei Fällen bestätigt haben. „Die 
Schwestern L. und M. von P. bringen die Nacht vom 28. auf 29. Juli am 
Krankenbette ihres Vaters zu, dessen Tod stündlich erwartet wird, der sich 
aber wieder erholt. In der Nacht vom 25. auf 26. August (I =28d) träumen 
beide, dafs der Vater stirbt und sie an seinem Sterbelager weinen. Am 
Morgen des 26. August sucht eine die andere auf, um ihr den nämlichen 
Traum zu erzählen" (S. 59). Daneben werden Beispiele von „Kombi- 
nationsträumen" gegeben, deren einzelne Teile durch die Wirksamkeit 
der Perioden annähernd gleichzeitig zusammengebracht werden und sich so 
zu einem Bilde vereinigen. So bestimmen Assoziationen und Perioden den 
Gang des psychischen Lebens. Das letztere hat gleichsam zwei Dimensionen, 
von denen man die eine Bewufstseinsdimension, die andere Entwicklungs- 
dimension nennen kann. Für jede der beiden gelten ganz eigene Gesetze. 



LiteraturbericJU, 437 

In der Entwicklungsdimension herrscht Kontinuität, in der Bewufstseins- 
dimension dagegen blofs Kontiguität. Die erstere hat bis jetzt in der 
Psychologie viel zu wenig Berücksichtigung gefunden. Die Tatsache psy- 
chischer Entwicklung fordert die Annahme psychischer Einheiten, die sich 
in psychische Gleichungen bringen lassen. Welche Bedeutung der 
psychischen Gleichung zukommt, erhellt mit einem Male, wenn wir die 
organische Entwicklung dazu in Parallele setzen. ,,Zwischen den ver- 
schiedenen Stadien eines sich entwickelnden Organismus sagen wir eben- 
falls, trotz alles Phänomenenwandels, Identität aus und die Identität des 
Ich ist nur ein Spezialfall hiervon. Dem ungegliederten Ovulum entspricht 
der unartikulierte Gedanke, der Gedanke ais Grefühl. Der Augenblick, wo 
der ausgereifte Gedanke sich in Worte kleidet und Schall wird, entspricht 
dem, wo das fertige organische Gebilde ans Tageslicht tritt" (S. 76f.). Dies 
führt zur Forderung einer neuen, der organischen Psychologie, 
welche zugleich allein gewisse auf alter Beobachtung beruhende Aussagen, 
wie die vom „Keifen der Gedanken und Werke'* oder auch vom „Austragen'', 
vom „Brüten über etwas", verständlich machen kann. Aus der Unter- 
scheidung freisteigender und assoziierter Vorstellungen, sich ineinander 
entwickelnder und sich miteinander verbindender Phänomene aber ergibt 
sich zugleich der Unterschied zweier verschiedener Menschentypen, von 
denen der eine mehr in der Entwicklungsdimension, der andere mehr in 
der Bewufstseinsdimension lebt. Der Periodiker kann nur arbeiten, wenn 
es ihn drängt, er ist von den Entwicklungsprozessen abhängig, die sich in 
ihm abspielen. Der Assoziatiker ist oberflächlich. „Er findet leicht Wort- 
spiele und spielt mit Worten", da er sich immer in der Bewufstseins- 
dimension bewegt, für welche sie geschaffen sind (S. 85 f.). 

Der dritte Teil der Arbeit trägt die Überschrift „Leib und Seele" 
und wendet sich zunächst gegen die herkömmlichen Lokalisationstheorien. 
Für die gegenwärtige Lage ist charakteristisch einerseits der Primat des 
Gehirns, genauer der Grofshimrinde im Gegensatz zur alten laienhaften 
Auffassung des Verhältnisses des ganzen Körpers zur Seele, andererseits 
der Einflufs der atomistischen Psychologie, welche neben der ver- 
schiedenen Lokalisation wirklich verschiedener Teilgebiete der Psychologie, 
wie der Sehsphäre und Hörsphäre, auch z. B. ein besonderes Silben- und 
Buchstabenzusammensetzungszentrum zu suchen beginnt. Aber eine Zu- 
sammensetzung von Phänomenen kann nur dort stattfinden, wo die Phäno- 
mene selbst heimisch sind. Das von uns nur U n t e r schiedene ist offenbar 
im Gehirn nicht geschieden. Und ist es nicht vollends ein offener Wider- 
spruch, z. B. den Charakter eines Menschen an einen bestimmten Ort 
gebunden zu denken? Was zum Charakter eines Menschen gehört, das 
steckt nicht nur im gesamten Gehirn, sondern auch im gesamten übrigen 
Organismus (S. 93). Die physiologische Erklärung psychischer Vorgänge 
macht aufserdem in der Begel den Fehler, dafs sie die physiologische 
Erklärung mit der physikalischen verwechselt. Die Notwendigkeit des 
physiologischen Geschehens ist ja noch nicht mit dem Vorhandensein aller 
Teilbedingungen gegeben, wie in der Physik, und zwar deswegen nicht, 
weil alle Vorgänge aufser dem, was sie sind, auch etwas bedeuten. 
Zum Schlufs wird der zeitgenössischen Mosaikpsychologie die AvBNARiussche 



438 Literaturbericht 

„Variations Psychologie" gegenübergestellt, deren Vorzug vor allem sei, dalis 
sie von dem Komplexesten, von Aussagen, Urteilen ausgeht, um den 
Sinn derselben durch die Beziehung auf ihre biologische Funktion zn 
erklären. 

Ein grofser Teil der Ausffihrungen des Verf. fordert die Kritik geradeza 
heraus. Die zahlreichen psychologischen Arbeiten zur „Charakterologie" 
scheint er nicht zu kennen. In der Polemik gegen die Lokalisationstheorie 
ist nicht beachtet, dafs, wenn einmal von „Lokalisation" des „Charakters'' 
eines Menschen die Rede sein soll, dies doch nur in dem Sinne gemeint 
sein kann, dafs die psychische Eigenart desselben ihre Repräsentation im 
Gehirn findet. Was soll demgegenüber die in gewissem Sinne von jeder- 
mann zugegebene Behauptung bedeuten, dafs derselbe auch im gesamten 
übrigen Organismus steckt? Die nicht uninteressanten tatsächlichen Belege 
für die „Periodengesetze", die in der Psychologie die nämliche Rolle 
spielen sollen, wie Kbplbbs und Newtons Gresetze in der Astronomie, 
wären nur dann beweisend, wenn eine anderweitige Erklärung völlig aus- 
geschlossen wäre. Dazu müfste aber das Nichtauftreten der betreffenden 
Erlebnisse zwischen den Perioden und der Grad der Wahrscheinlichkeit 
ihres Auftretens zu einer bestimmten Zeit überhaupt einer genaueren 
Kontrolle zugänglich sein. Im übrigen fügt sich die Annahme eines 
Rhythmus des Seelenlebens in eine gröfsere Gruppe psychologischer Be- 
obachtungen ein (unter denen z. B. die Aufmerksamkeitsschwankongen 
besonders eingehend untersucht sind), die aber weniger auf periodische 
Wiederkehr von Einzelvorstellungen innerhalb so grofser Zeitintervalle, als 
auf Schwankungen der gesamten Bewnüstseinslage innerhalb viel engerer 
Grenzen hinweisen. Von prinzipieller Bedeutung ist die Forderung an 
die Psychologie, ein „Kompendium der Menschenkenntnis" zu liefern. Mit 
Recht betont zwar der Verf. die Notwendigkeit, bei der psychologischen 
Erklärung nicht blofs die unmittelbar vorhergehenden Vorgänge, sondern 
auch das organische Werden des Individuums zu berücksichtigen. Aber 
jeder Versuch einer wissenschaftlichen „Charakterologie" besteht zuletzt 
in nichts anderem, als in einer Beschreibung mit Hilfe von Merkmalen 
(nicht eines Merkmales S. 231), die selbst psychologische Begriffe sind 
und verrät eben damit das wissenschaftliche Ideal der Psychologie, aach 
das Individuum als einen Komplex von Merkmalen und Gesetzen zu er- 
klären, die nur die stets die Grundlage bildende allgemeine Psychologie 
liefern kann. Th. Elssnhans (Heidelberg). 

G. Hagbmank. Pfycliologie. Ein Leitfiideii fir tkademisclie Torleraigem iowla 
lUB Selbstaiterricllt. Siebente Auflage, teilweise neu bearbeitet und 
vermehrt von Dr. A. Dybopf. Mit 27 Abbildungen. Freiburg i. B., 
Herder. 1905. XI, 354 S. 
Es mögen nun 30 Jahre her sein oder mehr, dafs Haoemanns Leit- 
faden der Psychologie erstmals erschienen ist. Das Buch stellte sich auf 
katholischen Boden, ohne daüs jedoch dieser Standpunkt aufdringlich betont 
wurde, und fand dank seiner knappen und klaren Darstellung in den 
Kreisen, für die es bestimmt war, gute Aufnahme und grofse Verbreitung. 
Nach dem Tode Hagbmanns (1903) entschlofs sich der Verlag das inzwischen 



] 



Literaturbericht 439 

^twas veraltete Bach einer gründlichen Umarbeitung zu unterstellen und 
betraute Prof. A. DyBOFF-Bonn mit dieser nicht sehr dankbaren Aufgabe. 
Schon rein äufserlich betrachtet, zeigt die neue Ausgabe eine gewaltige 
Mehrung ; die Seitenzahl ist um mehr als ein Drittel gewachsen. AuTserdem 
ist das Buchy wie das jetzt allgemein Sitte geworden ist, mit einer Anzahl 
von Abbildungen zur Illustration der Mitteilungen aus der Anatomie und 
Physiologie der Sinne und des Gehirnes ausgestattet. Auch dem Inhalte 
nach hat das Buch erhebliche Veränderungen erfahren. Schon die Ein- 
leitung wurde dem induktiven Charakter der gegenwärtigen psychologischen 
Forschung entsprechend verändert. Unter wohl berechtigter Zurückstellung 
der metaphysischen Grundlegung Hagbmanns gibt D. nach Orientierung über 
Aufgabe und Methode der Psychologie eine Darlegung der psychologischen 
Grundbegriffe; so bespricht er das Ich für sich, den Körper des Ich (vor allem 
das Nervensystem), die Sinnes Wahrnehmung, die Vorstellung, die Denkakte, die 
Gefühle, das Wollen (analytischer Teil). Die tiefstgreifende Umarbeitung 
erfuhr die Lehre von den Sinnesempfindungen. D. hat hier kurz und klar 
wohl alles Wichtige zusammengefafst, was in den letzten Jahrzehnten auf 
diesem erträgnisreichen Gebiet zutage gefördert worden ist. Freilich kann 
man sich fragen, ob die Psychologie als solche von den bei jenen Unter- 
suchungen meist mit unterlaufenden physiologischen Erkenntnissen wirklich 
grofsen Gewinn hat. Gering ist im Vergleiche dazu die Umarbeitung, welche 
die Lehre von den Gefühlen gefunden hat. Besonders die Kontroverse über 
den Unterschied der Gefühle von den Empfindungen, die durch Lange 
und Jamss sehr akut geworden ist und noch auf dem letzten Kongrefs 
für experimentelle Psychologie eine Rolle spielte, hätte wohl eine aus- 
führlichere Behandlung verdient. Umgekehrt wäre es kein Nachteil gewesen, 
wenn der Absatz über die religiösen Gefühle gefallen oder gründlich um- 
gestaltet worden wäre. Es wird auf dem Boden der empirischen Psycho- 
logie nicht ganz leicht sein, einen „angestammten religiösen Sinn^, ein 
„religiöses Gefühl als Affektion der Seele durch ihre Beziehung zu Gott^ 
nachzuweisen. Bei der Darstellung des Willens und seiner Erscheinungen 
hat D. gleich seinem Vorgänger auch der Willensfreiheit ein Kapitel 
gewidmet, und zwar vom Standpunkt des Indeterminismus, doch unter Aus- 
scheidung metaphysisch-theologischer Erwägungen. Ohne weiter auf eine 
Diskussion einzugehen, möchte ich doch seiner Ansicht, dafs „das Gesetz 
von der Erhaltung der Energie, das angeblich keine Vermehrung der 
psychischen Energie zuläfst", gar nicht herein gehöre, widersprechen. Wenn 
die Deterministen dieses Gesetz heranziehen, so denken sie nur an die 
physische Energie und sehen in ihm eine Instanz gegen die Freiheit des 
Willens, insofern der lediglich aus sich heraus wirkende Wille, wenn er in 
der physischen Welt mit ihrer abgeschlossenen Summe von Energie 
Wirkungen hervorruft, die vorhandene Energie vermehrt. So meinen das 
wenigstens die meisten von uns Deterministen. — Im zweiten — synthe- 
tischen — Teil werden die Gesetze der Sinneswahrnehmung (Reiz- und 
Empfindungsintensität bzw. -qualität) des Denkens, des Gefühles u. dergl., 
besonders die Lehre vom Kontrast, von der Verschmelzung, der Assoziation 
und Reproduktion, der Aufmerksamkeit und der Sprache behandelt Die 
umfangreichste Umarbeitung erfuhr natürlich der Abschnitt über die Asso- 



440 Literaturbericht 

ziation. — Im dritten Teile kommen die mehr spekulativen Fragen Ober 
die Sondematnr des Psychischen, über das Verhältnis von Leib und Seele, 
über das Bewufstsein und sein Verhältnis zum Psychischen zur Behandlang, 
abschliefsende Erörterungen, welche, wie erwähnt, Hagexaihv an den Anfang 
gestellt hatte. Den Schlufs endlich bildet zunächst die anhangsweise Be- 
sprechung der Modifikationen der allgemein-menschlichen Seelen zustände 
(Temperament, Geschlecht, Lehensalter, Stammes- und Standesunterscbiede, 
anormales Seelenleben) wie des individuellen Charakters, dann ein sehr 
dankenswerter Überblick über die Geschichte der Psychologie, endlich ein 
kurzes Verzeichnis der neuesten Literatur, soweit sie nicht schon bei der 
Behandlung der einzelnen Gebiete und Probleme mitgeteilt worden ist. 
Gerade diese durch D. sehr erweiterten Literaturnachweise bilden einen 
besonderen Vorzug des Buches. — So ist es dank dieser mühevollen Um- 
arbeitung zu einer recht brauchbaren orientierenden Einführung in die 
Psychologie geworden und wird sich zweifellos zu den alten Freunden noch 
viele neue erwerben, auch in denjenigen Kreisen, welche auf anderem 
philosophischen Standpunkte stehen, wie der Neuherausgeber. 

Dr. M. Offkeb (München). 

B. Kern. Da« Wem det meBichllcliei Seelen- u4 OeliteelebeBs. Festschr. 

z. 110. Stiftungs-Feier der Kais. Wilh. Akad. f. d. militärärztl. Bildungsw. 

Berlin, Hirschwald. 1906. VIII. 130 S. 
In sechs Kapiteln („Empfindung und Gefühl in Ethik und Erfahmng", 
„Die Identität von Seele und Körper", „Das Denken**, „Geistige Freiheit", 
„Der Streit um die Willensfreiheit", „Die Ethik") setzt Verf. unter häufiger 
Bezugnahme auf Kant seine psychologischen, metaphysischen und ethischen 
Ansichten auseinander, die vielfach so originell sind, dafs ein näheres Ein- 
gehen auf sie wohl verlohnen dürfte. Da jedoch im Rahmen eines Referates 
nur die Hauptpunkte dieser Philosophie, — und diese auch zum Teil nur 
andeutungsweise — wiedergegeben werden können, so kann Ref. nur die 
Lektüre der Schrift selbst dringend empfehlen, obwohl er selbst mit den 
Ansichten des Verf. nur in wenigen Punkten übereinstimmt. 

Verf. unterscheidet, wie schon die Überschrift andeutet, das Seelen- 
leben des Menschen von seinem Geistesleben. Das erstere, bestehend 
aus Empfindungen, Gefühlen und den von ihnen erzeugten Wollungen ist 
identisch mit den körperlichen Vorgängen, und zwar sind die Empfindungen 
zu identifizieren mit den Vorgängen in den Sinnesorganen, die Gefühle 
mit den Vorgängen im vegetativen Organsystem, die Wollungen mit den 
willkürlich ausgeführten Bewegungen. („Das Nervensystem ist nichts weiter, 
als das Organ für die Einheit des Organismus und zwar, noch im engeren 
Sinne, für die beschleunigte Herstellung dieser Einheit. Ihm entspricht, 

in seelischer Sprache ausgedrückt, annähernd etwa das Bewufstsein " 

8. 48). Wenn wir es mit „lebenden, seelisch auffafsbaren Wesen" (S. 58) 
zu tun haben, so können wir sie „nach Belieben"^ (S. 53) als räumliche 
und zeitliche, d. h. als körperliche, oder nur als zeitliche, d. h. als seelische 
Gebilde auffassen; „nur die raumerzeugende Anschauungsweise macht ans 



* Vom Ref. gesperrt. 



LUeraturbericht 441 

der Seele den Körper, verwandelt die seelischen in körperliche oder materielle 
Vorgänge" (8. 54). 

Diese Identität gilt aber nicht mehr zwischen körperlichem und 
geistigem Leben. Der „Inbegriff des geistigen Geschehens" (8. 61) ist 
das Denken, und für dieses ist kein entsprechender körperlicher Vorgang 
aufzuweisen; denn da das Denken, wie oben ausgeführt, Seele und Körper 
erst schafft, so steht es in gleicher Weise über beiden. Da das Denken 
ferner auch das Kausalgesetz schafft, so kann es nicht selbst diesem Gesetze 
unterworfen sein; vielmehr hat es eine „Eigengesetzlichkeit" (8. 91), das 
Sollen. Sie ist ausgesprochen in dem Satz vom zureichenden Grunde, und 
das Kausalgesetz ist nur die Anwendung dieses Satzes auf das seelische 
und körperliche Geschehen. 

Das Willensleben des Menschen ist durchaus determiniert, aber nicht 
nur durch Empfindungen und Gefühle, sondern auch durch das Denken. 
Das Denken selbst aber ist frei, in dem Sinne, dafs es zwar nur eine 
richtige Lösung einer Aufgabe gibt, dafs aber das Denken diese richtige 
Lösung nicht finden mufs, sondern nur soll. Damit wird also auch der 
Wille des Menschen, der ja eben auch von seinem Denken abhängig ist, 
in gewissem Sinne „frei". Im Zusammenhange mit dieser „Lösung" des 
einen Du Bois-REYMONDschen Welträtsels kommt Verf. auch auf die der 
anderen zu sprechen. Es ist für seine philosophischen Anschauungen so 
bezeichnend, wie er auch die anderen „löst", dafs Ref. es sich nicht ver- 
sagen kann, diese „Lösungen" hier noch im Wortlaute wiederzugeben : „Das 
Wesen von Materie und Kraft sind Denkbegriffe." „Der Ursprung der 
Bewegung liegt da, wo unser rückwärts gerichtetes Denken aufhört." „Das 
Entstehen der Empfindung ist nicht materialistisch, sondern auf dem Wege 
des seelisch-körperlichen Parallelismus zu erklären." „Die Willensfreiheit 
ist aus dem Bereiche unserer Erkenntnis zu streichen und durch die Denk- 
freiheit zu ersetzen." „Der Ursprung des Lebens fällt zunächst noch in 
das Gebiet der empirischen Forschung." „Die Zweckmäfsigkeit der Lebe- 
wesen ist in empirischem Lichte Ursache und Wirkung." „Das vernünftige 
Denken endlich ist der Urgrund aUer unserer Erkenntnis und die Frage 
nach seiner Entstehung logisch hinfällig, weil das Denken der zeitlose Zeit- 
schöpfer ist und aufserhalb jedes Zeitbegriffs steht" (S. 116). 

LiPüAVN (Berlin). 

M. W. Calkins. Der doppelte Standpunkt im der Pfyehologie. Leipzig, Veit & Co. 
1905. 80 S. Mk. 2.—. 
Die Verf. schickt der Bearbeitung ihres Hauptproblems, des „doppelten 
Standpunktes in der Psychologie", eine Übersicht über die „Bewufstßeins- 
elemente*^ voraus. Sie versteht unter „Element" „den durch innerliche 
Beobachtung unterscheidbaren Bewulstseinsbestandteil" (S. 14) und zählt 
dazu a) Empfindungselemente, nämlich: Empfindungsqualitäten und Emp- 
findungsextensitäten; b) attributivische Bewufstseinselemente d. h. solche, 
die Bewufstseinsinhalten einer anderen Art anhängen. Hierher sollen die 
Gefühlselemente: Lust und Unlust, das „RealitätBgefühl'^ und vielleicht auch 
das „Aufmerksamkeitsgefühl" gehören; c) Belationselemente z. B. die Vor- 



442 Literaturhericht 

Stellungen der Einheit und der Vielheit, der Totalität, der Gleichheit und 
der Ungleichheit. 

Sodann werden zwei Standpunkte der Psychologie unter- 
schieden: Die „Vorgangspsychologie", welche dad BewuTstsein ganz und gar 
ohne Rücksicht auf das bewufste Ich als eine Keihe verketteter psychischer 
Vorgänge auffafst, und die „Ichpsychologie'', welche es als ein „vielseitiges 
Bewufstsein des eigenen Ich in seinen Beziehungen'' betrachtet (S. 32 f.). 
Nach der einen Methode vernachlässigt man das Selbst, d. h. das Ich ; nach 
der anderen betrachtet man das Bewuüstsein als „wesentlich soziales Selbst- 
bewufstsein'*. Die Vorgan gspsychologie ist eine „Kausal Wissenschaft", die 
Ichpsychologie nicht. Einander gleich sind aber beide darin, daüs von 
beiden Standpunkten aus das Bewufstsein in Elemente analysierbar ist. 

Ein dritter Abschnitt endlich sucht in den einzelnen Bewufstseins- 
erlebnissen die Möglichkeit und Notwendigkeit dieser doppelten Betrachtungs- 
weise zu zeigen. So werden voneinander geschieden die Wahrnehmung 
und das Wahrnehmen, für welches letztere charakteristisch ist einerseits 
die Passivität, in welcher wir uns als Wahrnehmende, z. B. einem unan- 
genehmen Geruch gegenüber befinden, und andererseits das BewuHstsein, 
dafs irgend welche Menschen das, was ich wahrnehme, mit wahrnehmen, 
oder mit wahrnehmen könnten; ferner die Phantasievorstellung und die 
Phantasie, der Gedanke und das Denken, das Wiedererkannte und das 
Wiedererkennen, die Affekte als Elementenkomplexe, durch Lust und 
Unlust und durch Organempfindungen gekennzeichnet^ und die Affekte als 
Selbstbewufstsein und zwar als leidendes und als „zweifach individuali- 
sierendes persönliches Bewufstsein*', sofern ich nämlich im Affekt unmittelbar 
nicht nur mich selbst, sondern auch die anderen Menschen — oder Gegen- 
stände — , deren ich mir fühlend bewufst bin, individualisiere. Besonders 
bedeutend ist endlich der Unterschied zwischen Vorgangspsychologie und 
Ichpsychologie beim Willens Vorgang und Glaubensvorgang. Der Willens- 
vorgang ist als Elementenkomplex gekennzeichnet durch das BewuDstsein 
des Vorangehens teils der Zukünftigkeit überhaupt, teils der Verwirklichung, 
teils der Verbindung der WiUens Vorgänge mit der zukünftigen Bewegung, 
der Glaubensvorgang durch das Bewufstsein der Wirklichkeit, welches mn 
dem Bewufstsein der Übereinstimmung von irgend etwas mit irgend etwas 
anderem haftet (S. 10). Als SelbstbewuCBtseinsarten unterscheiden sich 
Wille und Glauben von allen übrigen Bewuistseinserscheinungen darin, 
dals sie tätige Erlebnisse sind, und zwar der Wille das Selbstbewnfstsein 
eines egoistischen tätigen Verhaltens, der Glaube das SelbstbewnXstsein eines 
tätigen altruistischen Verhaltens zu anderen Menschen und Gegenständen. 

Die Schrift gibt manche treffende Ausfflhning zu dem Satz, daCs eine 
blofse Zerlegung der Bewufstseinserlebnisse in ihre Elemente m ihrer 
Erklärung nicht ausreicht : die Beweisführung leidet aber stark unter einei- 
gewissen Unbestimmtheit der Begriffe s. B. des Geffthls (das eine Mal Lust 
and Unlust, das andere Mal ,.irgend ein einfaches Bewufstsein'' S. 23X des 
Selbstbewufstseins, der Realität, eine Unsicherheit, die übrigens mit der 
erschwerten Handhabung der Fremdsprache zusammenhängen mag. Wenig 
glücklich ist auch die Bezeichnung der .Intensitäten" und ,.Exten8ität»i* 
der Empfindung als ..Elemente" und die an Sfikosas* Affektenlehre an- 



Literaturbericht 443 

klingende und auf der Zweiteilung „Glück", „Unglück" aufgebaute Über- 
sicht (S. 60) der Affekte. Lehrreich ist jedoch der Versuch, jene einmal 
angenommene doppelte Betrachtungsweise an den psychologischen Einzel- 
problemen durchzuführen. Th. Elsknhaks (Heidelberg). 

G. M. Stbatton. The DIfference between the leftUl and the Physical. Psycholog, 
BuüeHn 3 (1), 1—9. 1906. 

Es sind nicht bestimmte Merkmale, die dem Psychischen und Physi- 
schen anhaften und es als psychisch und physisch kennzeichnen, sondern 
der Unterschied besteht einzig in der verschiedenen Art des Ver^ 
haltens (behavior), die dem einen und dem anderen eignet und eine ver- 
schiedene Gesetzmäfsigkeit auf beiden Seiten erkennen läfst ; letzten Endes 
besteht sonach der Unterschied der beiden Gebiete in den gesamten Ergeb- 
nissen derjenigen Wissenschaften, welche sich mit dem Verhalten des 
Physischen und des Psychischen befassen, d. h. der Physik und Psychologie. 

Prandtl (Weiden). 

F. Thillt. Psychology, latvtl Science, and Philosepliy. Fhüosophical Revieio 
15 (2), 130—144. 1906. 

Soll die Psychologie ihr Bündnis mit der Philosophie (im engeren 
Sinne, i. e. Ethik, Ästhetik, Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik) auf- 
geben, soll sie sich „selbständig machen'' oder sich mit den Naturwissen- 
schaften verbünden? Letzteres scheint nahe zu liegen, erstens weil die 
Psychologie jetzt ja auch von den Methoden der Naturwissenschaften 
Gebrauch macht, und zweitens, weil vielfach behauptet wird, dafs man zu 
exakten psychologischen Ergebnissen nur auf dem Wege der Gehirn- 
physiologie kommen könne. Aber die Ergebnisse der experimentellen 
Psychologie sind keine eigentlich psychologischen, sondern vielmehr psycho- 
physische. Zu psychologischen Resultaten im wahren Sinne des 
Wortes kann man nur durch Selbstbeobachtung („introspection") gelangen. 
Was den zweiten Grund für die Vereinigung der Psychologie mit den 
Naturwissenschaften anbelangt, so liegt es ja auf der Hand, dafs auch eine 
vollständige Kenntnis der Gehirnvorgänge uns kein psychologisches Wissen 
vermitteln könnte; vielmehr mufs umgekehrt der Gehirnphysiologe, der 
sich auf eine Deutung der Ergebnisse seiner Wissenschaft einläfst, bereits 
über psychologisches Wissen verfügen. Dagegen also, die Psychologie als 
eine Naturwissenschaft zu betrachten, spricht erstens die nur scheinbare 
Gleichheit der Methoden, besonders aber zweitens die prinzipielle Ver- 
schiedenheit der Objekte beider Wissenschaften. — Überhaupt erscheint es 
nicht zweckmäfsig, die Psychologie von der Philosophie im oben genannten 
Sinne loszulösen; denn einerseits bedürfen die anderen philosophischen 
Disziplinen der Psychologie, da sie es ja alle mit geistigen Phänomenen zu 
tun haben, andererseits empfängt umgekehrt die Psychologie von ihnen die 
wertvollsten Anregungen, da diese geistigen Phänomene eben nur an Ob- 
jekten der Ästhetik, Logik etc. konstatiert werden können. 

LiPHANN (Berlin). 



444 Literaturhericht 

j. A. Leiohton. The Ptycliological Seif aad tbe Actoal PertoAtlity. Phäos. 
Review 14 (6), 669-683. 1905. 
Die analyBierende Psychologie^ welche nur Bewnrstseinsinhalte, ihre 
künstliche Zerlegung in Elemente und ihre künstliche Verknüpfung durch 
Gesetze kennt, kommt niemals an das Selbst heran; auch bei der Zer- 
gliederung des Selbstbewufstseins erfafst es nur das Objekt „Mich", nicht 
aber das Subjekt „Ich''; dies ist vielmehr die Vorbedingung dafür, dals 
überhaupt einzelne BewuJGstseinsinhalte erlebt, analysiert und verknüpft 
werden können. Die psychologische Analyse mufs daher grundsätzlich dort 
versagen, wo der Mensch nicht als passiver Bewufstseinsinhalt, sondern als 
lebendiges Zentrum einheitlicher Aktivität auftritt, in der menschlichen 
Kultur. Hier mufs eine andere, die „noologische" Methode (Scheleb) Platz^ 
greifen; denn die geistesgeschichtliche und kulturelle Bewegung der Mensch- 
heit ist nur verständlich durch die Annahme, dafs jedes Individuum eine 
einheitliche Reaktionsweise und Stellungnahme zu den Kultursystemen 
besitzt. W. Stern (Breslau). 

H. LuQüET. RMexlen et iBtroipectlOA. Rev. philos, CM) (12), S. 583—691. 1905. 
Die Reflexion isoliert, analysiert, klassifiziert die psychischen Phftno 
mene, sucht Beziehungen, Gesetze zwischen ihnen auf; die Introspektion 
ist ihrer Natur nach synthetisch ; sie sucht das psychische Leben in seiner 
Ganzheit zu erfassen ; sie sucht sozusagen weniger Gesetze als Harmonien ; 
sie nähert sich der Kunst. Groethuysen (Berlin). 

SoLLiER. La conscience et sei degris. Rev. philos. 60 (10), S. 329—854. 1905. 
Das Bewufstsein registriert die Phänomene, die in einem gegebenen 
Momente dem relativ höchsten Grade der Gehirntätigkeit entsprechen. 
Zwischen gleichzeitig gegebenen Phänomenen bildet sich eine Hierarchie 
von Bewufstseinsgraden. Wird die Gehirntätigkeit z. B. im hypnotischen 
Schlaf bis zu einem gewissen Grad vermindert, und werden die Phänomene, 
die die höchsten Bewufstseinsgrade erreichen, ausgelöscht, so erreichen die 
in der Bewufstseinshierarchie nächstfolgenden Stufen das relative Maximum 
von Bewufstsein; es werden Phänomene, z. B. schwächste Organemp- 
findungen, die im Normalzustande niemals bewuTst wahrgenommen werden, 
wahrgenommen; umgekehrt bei Wiederherstellung der Gehirn tätigkeit. 
Durch die hierarchische EInregistrierung bestimmter Phänomene vereinfacht 
das Bewufstsein die Organisation der Eindrücke. Groethuysen (Berlin). 

Akton Palme. J. Ii. Siiliers Psycholegle «nd dieAnfiige der Drei? ermSgeis- 
psychelogie. Jnaug.Diss. Berlin, Fufsinger. 190b. 62 8. 
Bisher galt bald Tetens bald Mendelssohn als derjenige, von dem Kant 
seine Einteilung des Seelenlebens in drei Vermögen, Empfindung (Vor- 
stellung), Gefohl, Wille, herübergenommen habe. An Sulzer dachte man 
nicht. Ihm will Palme zu seinem Rechte verhelfen. Er gibt eine ein- 
gehende Darstellung der SuLZEBSchen Psychologie und zeigt dabei vor allem, 
wie S. zu der Erkenntnis gelangt ist, dafs die emotioneUen Vorgänge als 
sui generis gleichberechtigt neben die intellektuellen Vorgänge zu treten 
haben, also das Gefühl eine eigene, dritte Grundklasse ist, dadurch charakte- 
risiert, dafs in ihm das Subjekt zwar etwas empfindet, aber nicht einen 



Literaturberichf . 445 

Gegenstand, sondern sich selbst (man vergleiche dazu die ähnliche Begriffs- 
bestimmung des Gefühles bei Lipps). Schliefslich bespricht er die Versuche 
von Tbtbns und Mekdelbsohn, zu einer solchen Dreiteilung zu gelangen, und 
macht nicht unwahrscheinlich, dafs Tetbns* EinfluTs auf Ka.nt bisher ebenso 
überschätzt wurde wie der von Mendelssohn und dafs vielmehr Sülzeb es 
war, dem Kant in dieser Dreiteilung gefolgt ist. Mit einem Hinweis auf 
mögliche Einflüsse Slxzbrs auf Hebbarts schliefst diese klar geschriebene 
Arbeit. Wenn wir auch gern mehr erfahren hätten über die Voraussetzungen 
der SuiJSERSchen Psychologie, besonders Ober das Vorhandensein von Be- 
ziehungen zu Ghables Bonnet, so sehen wir doch in dieser Untersuchung 
einen sehr dankenswerten Beitrag zur Geschichte der deutschen Psychologie. 

M. Offner (München). 

8. Kraüss. Tbiodale RibotS Psychologie. Ein Beitrag zur Geschichte der 
modernen Psychologie in Frankreich. I. Teil: RlbotS orsto Schaffens- 
Periode (187^-1890). Jena, Costenoble. 1905. XVI u. 170 S. Mk. 4,—. 
Das dankenswerte Unternehmen, das Verständnis der RiBOTSchen 
Psychologie dem deutschen Leserkreis zu vermitteln, ist durch ein Vorwort 
BiBOTS selbst eingeleitet, in welchem er selbst die zwei Grundprinzipien 
hervorhebt, die ihm als Richtschnur gedient haben: die Untersuchung der 
Phänomene des Seelenlebens vom Gesichtspunkte ihrer Entstehung (Evo- 
lution) und ihrer Auflösung (Dissolution). Der Hauptnachdruck liegt auf 
dem Prinzip der Dissolution, das auf der Beobachtung beruht, dafs z. B. 
beim Gedächtnis, bei den Bewegungen und bei den Gefühlen der Auf- 
lösungsprozefs — im Gegensatz zur Entwicklung — gerade den umgekehrten 
Weg einschlägt, dafs also die höheren Funktionen vor den niederen, die 
komplizierten vor den einfachen verschwinden. So läfst sich von der Reihen- 
folge der Auflösung einer psychischen Funktion auf die Art ihrer Ent- 
stehung schliefsen. 

Ein I. allgemeiner Teil gibt eine Charakteristik des Standpunktes 
RiBOTB, eine biographische Skizze und eine Darstellung seiner Gedanken 
über Wesen und Aufgaben der modernen Psychologie, seiner Methode und 
seines Verhältnisses zur deutschen Psychologie. Die Schule Rlbots, welche 
der Verf. als den Kern der französischen Psychologie betrachtet und als 
deren Vorgänger auch H. Tainr gelten kann, sieht sowohl von den Posi- 
tivisten als von den Metaphysikern vollständig ab und befafst sich blofs 
mit einer exakten Forschung auf dem Gebiete der beschreibenden, 
vergleichenden und experimentellen Methode. „Was für Deutschland das 
Jahr 1860, das bedeutet für Frankreich das Jahr 1870, den bedeutungsvollen 
Übergang von alter zu neuer Psychologie." Es gilt nun, das, was die 
anderen exakten Wissenschaften, was Mathematik, Physik, Chemie und 
alle anderen Naturwissenschaften zustande gebracht haben, nämlich die 
vollständige Lostrennung von Mutter Philosophie, auch mit der Psychologie 
vorzunehmen und zu beweisen, dafs die Psychologie, obzwar Schofskind der 
Metaphysik-Philosophie, doch nur als exakte Naturwissenschaft behandelt 
werden mufs (S. 12). Demgemälis ist die Psychologie in folgende Spezial- 
gebiete einzuteilen: I. Beschreibende Psychologie. II. Vergleichende Psycho- 



446 Literaturbericht 

]ogie, welche die Untersuchung der psychischen Phänomene der verschiedenen 
Tiere von den Mollusken und Protozoen an bis hinauf zum intelligentesten 
Tiere, die Kinderpsychologie, die Psychologie der Wilden und die der 
niederen Menschenrassen umfafst. III. Die Psychologie der krankhaften 
Zustände des Seelenlebens (Psychologie morbide), innerhalb welcher die 
die besonders fruchtbare „pathopsychologische Methode" Anwendung finden 
soll. Endlich IV die Psychologie der verschiedenen Gharaktertypen , die 
wieder in eine Ethologie des Individuums, der Völker und der verschiedenen 
Rassen zerfällt. 

Die Entwicklung dieses Programms vollzieht sich bei Ribot in zwei 
Perioden. In der ersten Periode, mit welcher sich die vorliegende Arbeit 
hauptsächlich beschäftigt, verweilt er mehr bei den niederen Phänomenen 
des Seelenlebens. Seine ganze Untersuchungsmethode basiert noch auf den 
rein physiologischen Tatsachen, die er aus der Anatomie, Physiologie, Bio- 
logie, Anthropologie und besonders der Psychopathologie holt. Sie umfafst 
die Werke: Les maladies de la memoire (1881), Les maladies de la volonte 
(1883), Les maladies de la personalit^ (1885), La psychologie de Tattention 
(1889) und einen Teil der psychologie des sentiments (1896). Dieses letztere 
Buch „bildet gleichsam einen Wendepunkt" in der psychologischen Methode 
RiBOTS. Er begibt sich allmählich in ein neues Gebiet, ohne jedoch seiner 
exakten Forschungsweise untreu zu werden. Diese zweite „rein psycho- 
logische Periode" umfafst die komplizierteren Erscheinungen des Seelen- 
lebens, die Psychologie der höheren Gefühle, die allgemeinen Ideen, die 
Schöpferkraft der künstlerischen Phantasie, auch Philosophie, Religion^ 
Ästhetik, Kunst in ihrem Zusammenhange mit der sozialen Evolution. 

Der IL spezielle Teil gibt eine Darstellung der RiBOTschen Psycho- 
logie an der Hand seiner Monographien der ersten Periode, wobei die chrono- 
logische Reihenfolge zugrunde gelegt wird, der III. Teil: Kritik und 
Resum^. Dabei wird unter anderem die Auffassung der RiBOTSchen Theorie 
der Aufmerksamkeit als blofser „ Muskel theorie" zurückgewiesen mit dem Hin- 
weis auf die konstitutiven Momente der Aufmerksamkeit selbst : „Gefühl ver- 
knüpft mit Bewegungen" (S. 140f.) ; und in der Gefühlslehre wird die Rmorsche 
Fassung der jAHss-LANOEschen Theorie der Affekte besprochen. An die 
Stelle der dualistischen Ansicht von James-Lanob, wonach die physischen 
Manifestationen die Ursache sind und die Emotion die Wirkung sein soll,, 
ist eine andere einheitliche monistische Konzeption zu setzen. „Die Aus- 
drucksbewegungen des Gesichts und des Körpers, die vasomotorischen, 
respiratorischen und sekretorischen Modifikationen, als objektiver Ausdruck 
einerseits, das Korrelat der Bewufstseinszustände und Empfindungen ala 
subjektiver Ausdruck andererseits, sind im Grunde ein einziger Vorgang 
in zwei verschiedenen Sprachen ausgedrückt (S. 131 f., 111 ff., 148 ff.). 

Einzelne unrichtige Bemerkungen laufen mit unter, wie die Behauptung, 
dafs die intellektualistische Theorie Herbabts und seiner Nachfolger heute 
noch immer in Deutschland die dominierende sei (8. 1121). Am wenigsten 
durchgebildet ist die Darstellung der Methode, die einerseits als „rein psycho- 
logische*' für die zweite Periode Ribots charakteristisch sein, andererseits 
im Sinne Ribots überhaupt nur als exakt-naturwissenschaftliche Berechtigung 



1 



Literaturhericht 447 

haben soll. Im ganzen aber gibt die Schrift einen interessanten Einblick 
in ein wertvolles Stück französischer Psychologie. 

Th. Elsenhans (Heidelberg). 



W. McDouGALL. The lUiMlom of the ,^liitteriig Heart'' and the Ylraal 
Finctions of tbe Rods of the Retina. Joum. of Fsychology 1 (4), 428 bis 
434. 1905. 

Unter der Bezeichnung der flatternden Herzen sind bisher verschiedene 
Dinge verstanden worden. Die nur bei Dunkeladaptation und schwacher 
Beleuchtung zu beobachtende Erscheinung wird mit v. Kbies auf die zeit* 
liehe Verschiedenheit in der Reaktion des Zapfen- und des Stäbchen- 
apparates zurückgeführt. Die relative Bewegung der beiden verwendeten 
Flächen ist am deutlichsten, wenn die eine Farbe nur die Zapfen erregt 
(roter Grund), die andere möglichst stark die Stäbchen (grüner Fleck). Das 
Oszillieren ist nicht zu sehen, wenn das Feld klein ist und direkt fixiert 
wird. Ebenso hebt Helladaptiou die Erscheinung auf. 

W. Trendblenbubo (Freiburg i. B.). 

W. Mac Dougall. The Variation of the Intensity of Yianal Sensation with the 
Dnration of the Stimnlns. Joum, of Fsychol 1 (2), S. 151-189. 

Verf. berichtet über die Ergebnisse von Versuchen, die er angestellt 
hat, um die Zeit des Ansteigens der Netzhauterregungen, die bisher von 
ExNEB, KüNKEL, SwAN, Charfentieb, Martiüs uud vou mir einer Messung 
unterzogen worden ist, endgültig zu bestimmen. Meine Arbeit findet keine 
Erwähnung. Dagegen setzt sich Mac Dougall mit den Untersuchungen von 
ExNEB, Kunkel und Mabtius kritisch auseinander, während er hinsichtlich 
der Arbeit Swans, — der ebenso wie ich gefunden hat, dafs Licht ver- 
schiedener Intensität gleich lange Zeit zur Erregung maximaler Emp- 
findungsstärke einwirken mufs, — nur kurz bemerkt, — diese Untersuchung 
werde durch die meisten der Fehlerquellen beeinflufst, an denen auch das 
Verfahren von Exnek und Kunkel kranke. Was die Experimente Chabpentiebs 
anlangt, so findet unser Autor den Bericht über dieselben zu kurz, um eine 
kritische Auseinandersetzung damit zu ermöglichen. 

Gegen die ExNSBsche und KuNKSLsche Methode wendet er zunächst 
ein, was ich auch schon betont habe, dafs der Simultankontrast dabei eine 
Fehlerquelle bedeute. Aufserdem findet er es unzweckmäfsig, simultan zwei 
sehr kurz dauernde Keize zur Vergleichung darzubieten. Er meint, nach- 
dem die alte Theorie des Vergleichens überwunden sei, wonach bei jeder 
Vergleichung die zu vergleichenden Eindrücke gleichzeitig bewufst sein 
müssen, lasse sich kein Grund mehr für Beibehaltung der Simultanexposition 
finden. Aber so gern ich einerseits die Schwierigkeiten zugebe, die eine 
Vergleichung nebeneinander liegender, nur während kleiner Bruchteile einer 
Sekunde dargebotener Felder in sich schliefst, so mufs ich doch gerade für 
die Vergleichung optischer Eindrücke das Verfahren sukzessiver Dar- 
bietung bedenklich finden, da hierbei wohl in der Mehrzahl der Beob- 
achtungen dieselbe Netzhautstelle beide Eindrücke empfängt und eine Be- 
einflussung der an zweiter Stelle hervorgerufenen Erregung durch Nach- 



448 Literaturbericht. 

Wirkungen der ersten nicht ausgeschlossen erscheint. M. Douoall sieht 
sodann einen weiteren Mangel der ExNEBschen Untersuchung in der Nicht- 
berücksichtigung der Verschiedenheit des Stäbchen- und Zapfenapparates 
der Betina, deren Bedeutung zur Zeit der Abfassung der ExuEBschen Arbeit 
noch nicht bekannt war. Endlich sollen bei Exneb zwei Fragen nicht 
genügend auseinander gehalten werden, die wohl zu unterscheiden sind, 
nämlich: Wie lange mufs Licht gegebener Intensität auf die Netzhaut ein- 
wirken, um das Maximum der Empfindung zu erzeugen ? und : In welchem 
Moment nach dem Einfallen des Lichts auf die Netzhaut erreicht die dadurch 
erregte Empfindung ihren Höhepunkt? 

Von der Triftigkeit dieser beiden letzten Einwände kann ich mich 
nicht überzeugen. Auf den vorletzten, der von M. Doüqall mehr gegen die 
KüNKELSChe Arbeit erhoben wird, soll hier nicht weiter eingegangen werden. 
Aber was den letzten betrifft, so geht doch Exneb, soweit ich sehe, von der 
Überlegung aus, dafs die Empfindungskurve der Dauer der Reizeinwirkang 
entsprechend einen bestimmten Verlauf nimmt, ohne dafs über den^zeitlichen 
Abstand dieses Empfindungsverlaufs vom Beginn der Reizeinwirkung irgend 
eine Annahme gemacht wird. Exnkr mifst doch nicht die Zeit, die von 
Beginn der Einwirkung des zweiten Reizes bis zu dem Augenblick ver- 
streicht, wo die dem zweiten Reiz entsprechende Empfindung der Emp- 
findung des ersten Reizes gleich erscheint, sondern er konstatiert die Zeit, 
nach welcher der zweite Reiz abgeschnitten werden mufs, damit die von 
ihm hervorgerufene Empfindung in irgend einem Moment der Emp- 
findung des ersten Reizes gleich erscheint. Der Anstieg der Empfindungs- 
kurve kann eine beliebige Zeit nach dem Anfang der Reizeinwirkung 
beginnen, ohne dafs die ExNERSchen Überlegungen dadurch irgendwie 
beeinträchtigt werden. 

Gegen das Verfahren, das Martius bei seiner gleichartigen Untersuchung 
angewandt hat, erhebt unser Autor die, wie mir scheint, berechtigten Ein- 
wände, dafs die Bewegung des Kopfes und des Auges von einem Okular, 
in welchem ein kurzdauernder Reiz erschien, zum anderen, durch das ein 
kontinuierlicher Lichteindruck zu sehen war, die ohnehin schwierige Ver- 
gleichung sehr wenig zuverlässig gestaltet und dafs aufserdem der kon- 
tinuierliche Lichteindruck keinen konstanten Helligkeitswert besitzt, sondern 
nach Erreichung des Empfindungsmaximums sehr schnell abfällt. 

Was die von M. Doüoall selbst angestellten Versuche anlangt, so sind 
sie in der Weise durchgeführt, dafs eine rotierende Scheibe mit zwei 
variablen Ausschnitten den Strahlenkegel einer Projektionslampe durch- 
schneidet, so dafs nur während des Durchganges der Ausschnitte durch 
den Weg der Lichtstrahlen diese einen Schirm beleuchten können, dessen 
sukzessive Aufhellungen der Beobachter miteinander vergleicht. Wenn nun 
die dem kürzeren Ausschnitt entsprechende Aufhellung geringer ist als die 
dem längeren entsprechende, dann schliefst unser Autor, dafs die Ein- 
wirkungszeit des Lichtreizes noch nicht lang genug war, um das Maximum 
der Empfindung entstehen zu lassen. Wenn aber durch allmähliche Er- 
weiterung des kürzeren Ausschnittes diejenige Expositionsdauer gefunden 
wird, bei welcher der Reiz zum erstenmal ebenso hell erscheint, als während 



Liferaturbericht 449 

dea Vorübergangee der anderen Öffnung, der eine etwas' längere Ein- 
wirknngszeit des Beizes entspricht, dann soll jene Expositionsdauer die 
„ Aktionszeit ^ des betreffenden Lichtreizes darstellen, d. h. die Zeit, während 
welcher er einwirken mufs, um das Maximum an Empfindung, das er über- 
haupt hervorrufen kann, zu erzeugen. Eine besondere Rechtfertigung dieser 
Auffassung glaubt M. Dougall darin erkennen zu dürfen, dafs bei fort- 
gesetzter gleichmäfsiger Erweiterung beider Ausschnitte nun bald das Ver- 
hältnis der Helligkeiten in der Weise sich umkehrt, dafs der kürzeren 
Expositionszeit eine gröfsere Helligkeit entspricht als der längeren. 

So bestimmt unser Autor die Aktionszeit eines Lichtes von gewisser 
mittlerer Intensität als 61 a, eine Dauer, die gröfser ist als die von Martics 
angegebene, aber weit geringer als die von Exnbb und als die von mir 
gefundene. 

Ich glaube jedoch nicht, dafs das beschriebene Verfahren und damit 
die gewonnenen Resultate ganz einwandsfrei sind. Abgesehen von der 
schon berührten Mifslichkeit, dafs die sukzessiven Erregungen auf derselben 
Netzhautstelle stattfinden, wobei eine gegenseitige Beeinflussung nur zu 
wahrscheinlich ist, mufs vor allem folgendes betont werden: Bei der Ver- 
suchsanordnung M. DouGALLS wird, soweit aus den Zeichnungen zu ersehen 
ist, das lichtlose Intervall zwischen dem Ende des kürzeren und dem Anfang 
des längeren, ebenso wie zwischen dem Ende des längeren und dem Anfang 
des kürzeren Reizes ebenfalls verändert, wenn die Expositionszeit der Reize 
variiert wird. Das kann nicht ohne Einflufs bleiben auf das Helligkeits- 
verhältnis der beiden Reize, zumal da die beiden lichtlosen Intervalle nicht 
stets um dieselbe Gröfse zu und abnehmen, weil nicht die Differenz, sondern 
das Verhältnis der Spaltbreiten konstant gehalten wird. 

Dazu kommt, dafs unser Autor die Helligkeitsverhältnisse bei viel 
längeren Expositionszeiten überhaupt nicht untersucht zu haben scheint. 
Die Helligkeitsabnahme, die er von 61 bis 250 a Expositionsdauer des Reizes 
glaubt konstatieren zu können, betrachtet er bereits als eine Wirkung 
der Ermüdung des Sehapparates, ohne die Möglichkeit von Intensitäts- 
schwankungen zu diskutieren, deren ungeachtet das eigentliche Maximum 
der Empfindung bei einer längeren Reizeinwirkung eintreten könnte. 

Ich habe versucht, die Experimente M. Dougalls in der Weise nach- 
zuprüfen, dafs ich das lichtlose Intervall zwischen dem kürzeren und dem 
längeren Reiz konstant hielt und die Reizzeiten in weiterem Umfang 
variierte. Als Lichtquelle habe ich eine Nernstbatterie von drei Glühfäden 
benützt, deren Licht durch die Linsen eines Projektionsapparates auf eine 
«twa 4 m entfernte Wand geworfen wurde. Ich habe also, wie man leicht 
beurteilen kann, mit Reizen von keineswegs geringer Intensität gearbeitet. 
Trotzdem habe ich nicht die kleinen Aktionszeiten konstatieren können, 
die M. Dougall angibt. Es wurde gelegentlich noch ein Reiz von 264 a als 
heller beurteilt als ein solcher von 88 a und dieses Urteil blieb das gleiche, 
ob der längere oder der kürzere Reiz an erster Stelle dargeboten wurde. 



^ Das Verhältnis der Expositionszeiten, welchem, abgesehen von diesem 
«inen Fall, eine ebenmerkliche V^schiedenheit der Empfindungen entspricht, 
wird eigens bestimmt. 

Zeitschrift für Psychologie 48. '^ 



450 Literaturhericht. 

Allerdings habe ich wiederum, wie bei meiner frfiheren Untersuchung, 
konstatieren müssen, dafs die Unsicherheit des Urteils bei einer nicht 
semesterlang in solchen Beobachtungen geübten Versuchsperson zu grofs 
ist, um eine kurze Nachprüfung der so vollständig voneinander abweichenden 
Angaben der bisherigen Beobachter zu einem wirklich entschiedenen Er- 
gebnis gelangen zu lassen. Dürb (Würzburg). 

A. EiBscHHANN. lormtle vAd uomale Farbeuyiteme. Archiv f. d, ges. Pty- 
chologie 6 (4), S. 397—424. 1906. 

K. will zeigen, dafs die Untersuchung des Farbensinnes mit' spektralen 
Lichtern und das Bestreben, eine Komponeutentheorie des Lichtsinnes aus- 
zubauen, für die Erkenntnis der Eigentümlichkeiten des normalen Farben- 
sinnes und seiner Beziehungen zu den Anomalien sehr hinderlich gewesen 
sei und noch sei. Ein Einblick in diese Verhältnisse ist nach ihm nur 
von einer exakten Beschreibung der im Bewufstsein auftretenden Gesichts- 
empfindungen, von ihrer psychologischen Ordnung nach Farbenton, Hellig- 
keit und Sättigung und von der Aufdeckung anderer gesetzmälsiger Be- 
ziehungen der einzelnen Empfindungen zueinander zu erwarten. 

Es ist K. vollkommen zuzugeben, dafs ein Spektrum eine Reihe von 
Empfindungen auslöst, deren Qualitätenreihenfolge und Helligkeitsverhält- 
nisse zunächst psychologisch etwas rein zufälliges sind und keine wesent- 
lichen Eigenschaften des empfindenden Apparates erkennen lassen. Es ist 
ein Nebeneinander einiger, aber durchaus nicht aller möglichen Gresichts- 
empfindungen. 

Ferner ist zuzugeben, dafs Reihen aller möglichen Gesichtsempfindungen, 
sowie sie sich der Selbstbeobachtung bieten, keinen AnlaCs zum Hervor- 
heben bestimmter Grundempfindungen, Komponenten des empfindenden 
Apparates bieten, vielmehr ein Kontinuum gleichberechtigter Übergänge 
bilden (Wundt). 

Beides hat aber, wenigstens die YoüNG-HsLMHOLTZsche Theorie, nicht 
behauptet. Diese Theorie betrachtet die Empfindungen, ohne über diese 
selbst etwas auszusagen, aussch lief sl ich unter dem Gesichtspunkte, da£s sie 
als gesetzmäfsige Wirkungen bestimmter Lichtreize auftreten und dafs die 
gesetzmäfsigen Beziehungen zwischen allen möglichen Reizarten und allen 
möglichen Reiz Wirkungen, den Empfindungen, die Einrichtung des licht- 
reagierenden Apparates der Netzhaut erschliefsen läfst. Nur für diesen 
wird eine Komponentengliederung erschlossen. Natürlich hat die Be- 
stimmung der Reaktionsweise der Netzhaut und ihrer hypothetischen 
Komponenten auf ein bestimmtes Spektrum dann auch ihren guten Sinn, 
denn nach der Wirkungsart der homogenen Strahlen pflegt man physikalisch 
lichtreagierende Dinge zu definieren und nach Möglichkeit Analogien anderer 
lichtreagierender Einrichtungen als „erklärend'' anzuziehen. 

Ob es möglich ist, wie K. will, die psychischen Tatbestände der 
Farbensinnanomalien aus der Analyse der BewufiBtseinsinhalte, der Emp- 
findungen, in Vergleich zu setzen und aus dem normalen Verhalten absu- 
leiten, scheint mir sehr problematisch zu sein. K. stellt im Anschlufs an 
WuHDT u. a. die Mannigfaltigkeit der Gesichtsempfindungen graphisch als 
Doppelkegel dar und leitet alle theoretisch denkbaren Möglichkeiten von 



Literaturbericht 451 

Farbenempfindungsanomalien ab, indem er sich die Dimensionen dieses 
Farbenkörpers in allen möglichen Richtungen verändert denkt. Er unter- 
scheidet achromatische, dichromatische und polychromatische Systeme. 
Unter letzteren unterscheidet er farbenschwache, deren Unterscheidungs- 
vermögen für Sättigungsstufen reduziert ist, und Individuen, bei welchen 
die Beziehungen der Farben zueinander verändert sind, und solche, bei 
welchen der Farben ton in abnormer Weise von der Helligkeit abhängt. 

Dichromaten kann es nach K. so viele Arten geben, als es normale und 
abnorme Komplementärfarben gibt. Die Einteilung in Rot-, Grün- und 
Violettblinde, ebenso die nichts bezüglich der Empfindungen präsumierende 
in Protanopen, Deuteranopen und Tritanopen verwirft K. als willkürlich. 
Als Übergänge zu dichromatischen Systemen werden die sogenannten 
anomalen Trichromaten betrachtet 

Wie K. diese auf Verschiedenheiten der Sättigung, Farbe und Hellig- 
keit der Empfindungen sich gründende Ansicht über die Differenzen der 
Farbensysteme plausibel machen will, mufs vorläufig zweifelhaft bleiben. 
Ein zweiter Aufsatz ist in Aussicht gestellt, welcher die hier theoretisch 
abgeleiteten Möglichkeiten mit den tatsächlichen Erfahrungen über das 
Sehen der Farbenblinden in Beziehung bringen soll. H. Pipbb (Kiel). 



E. Vali. Über Objektive ObrentSne. Arch. f. Ohrenhälk. 66 (l u. 2), 104-115. 
1905. 
Verf. beschreibt einen Fall von einem objektiv hörbaren Ohrenton, 
der in der Nähe des Ohres des Patienten und selbst noch auf 40 cm Ent- 
fernung hörbar, in der Tonhöhe etwa der Oktave des 5 gestrichenen C ent- 
sprach. Dieser Ton sistierte auch während des Schlafes nicht. Eine ihm 
entsprechende Bewegung des Trommelfells war nicht wahrzunehmen. Als 
ursächliche Momente der häufiger zu beobachtenden Ohrgeräusche gelten 
einmal Gefäfstöne in dilatierten Blutgefäfsen der Paukenhöhle oder der 
Carotis, dann tonische und klonische Kontraktionen der Muskeln der 
Paukenhöhle, des Tensor tympani und stapedius und solcher der Muskeln 
der Rachenhöhle, des Tensor veli palatini, des Tubendilatators, des Levator 
veli palatini, der die Tube verengert und schliefslich des Salpingopharyngeus, 
welcher die Tube nach hinten und nach unten zieht. Mit Hilfe eines in den 
gut verstopften äufseren Gehörgang eingeführten MAKKTschen Polygraphs 
liefs sich aus der Zeichnung am Myographion erkennen, dafs bei diesem 
Falle von objektiv hörbarem Ohrenton keine Druckschwankungen im 
äuiseren Gehörgang bestanden, weswegen eine Beteiligung der Pauken- 
höhlenmuskeln an der Entstehung desselben auszuschliefsen war. Verf. 
nimmt daher an, dafs die in den Muskelfasern des Tensor veli palatini 
entstandenen klonischen Krämpfe zum Zustandekommen des Ohrtones 
wesentlich beitrugen. Dabei wird aber nicht der Muskelton selbst gehört, 
sondern es werden durch diese Kontraktionen im Ohr oder dessen Um- 
gebung solche Lageveränderungen, verschiedenartige Gruppierungen der 
Luftsäule, Reibungen etc. entstehen, die den Ton hervorrufen. 

H. Bbtxb (Berlin). 
29* 



1 



452 Literaturbej-icht. 

Ostmann. Klinische Stadien iir Analyse der H6rst5rnngen. IV. Teil. Arck. 
f. Ohrenheim. 67 (2 u. 3) 131-150.. 1906. 

Obtmann bringt in dieser vierten Abhandlung weitere in praktischer 
Arbeit mittels seines Hörmafses gewonnene Resultate. 

Der erste Abschnitt enthält die Darstellung der Empfindlichkeitskurve 
des durch nervöse Störungen schwerhörigen Ohres und dürfte nur kliniBches 
Interesse beanspruchen. 

Dafs seine Hörmessung auf richtiger Basis aufgebaut und fort- 
entwickelt ist, zeigt Verf. nun dadurch, dafs die Hörreliefs, welche er hier- 
bei auf Grund der mit seinem objektiven Hörmafs gefundenen logarithmischen 
Empfindlichkeitskurve aufgestellt hat, mit den nach den bisherigen Prflfangs- 
methoden gewonnenen Ergebnissen die möglichst beste Übereinstimmung 
zeigen. 

Um den Beweis dafür zu liefern, vergleicht er im zweiten Teil der 
Arbeit seine Resultate mit den Hörreliefs, bei denen mit derselben Stimm- 
gabelreihe die Messung der Hörstörung nach dem von CoNTASchen Prinzip 
erfolgte. Er leitet dabei das Verhältnis der Empfindlichkeitskurven zu der 
prozentuarischen Berechnung der Hörsch&rfe nach diesem letzten Prinzip 
ab und verwendet die HARTMANNsche graphische Darstellung zum Vergleich. 
An einem Beispiel wird die Berechnung erläutert. Sein Hörmafs nimmt 
zur Grundlage die logarithmische Empfindlichkeitskurve des normalen Ohres, 
wde sie von M. Wisn gefunden ist^ in welcher die normalen Empfindlichkeita- 
werte, oder was dasselbe ist, die normale Hörschärfe für die verschiedenen 
Töne ausgedrückt werden durch die Zahlen 

C c c^ c* c* c^ 

5,6 7,8 10,0 11,8 12,6 13,0 

Das GoNTASche Prinzip geht dagegen von der Zahl 100 als Maus für die 
normale Hörschärfe für jeden betreffenden geprüften Stimmgabelton aus. 
Die tatsächlich noch bestehende logarithmische Empfindlichkeit des schwer- 
hörigen Ohres für die verschiedenen Töne aus einem nach von OoNTAscher 
Messung gefundenen und nach HABTMANNschem Vorgange dargestellten Hör- 
relief findet er durch folgende einfache Rechnung. Sei z. B. die Hörfähigkeit 
eines schwerhörigen Ohres für C=98*/o der normalen Hörschärfe, so ist 
die logarit hm Ische Empfindlichkeit 

98-5,6 



100 



:5,48 



Werden nun diese so gefundenen Empfindlichkeitswerte in die Korven- 
tafel eingetragen, auf welcher die logarithmische Empfindlichkeitskurve dar- 
gestellt ist, und damit, sowie mit den Kurven, welche durch ganz verschiedene 
Messungsmethoden bei gleichartiger Erkrankung gewonnen sind verglichen, 
so ergibt sich die auTserordentliche Übereinstinunung. Diese Überein- 
stimmung hat ihren Grund darin, daCs die objektive Hörmessung des Verf.8 
und die Darstellung richtig ist, die Messung nach dem von CoNTAschen 
Prinzip wohl auch auf richtiger physiologischer Basis beruht^ dagegen die 
Darstellung der Ergebnisse nach Habtvann zu dem Tmgschlufis verleitet, 
dafs wir „von der irrigen Vorstellung einer gleichen Empfindlichkeit des 



Literaturbericht. 453 

normalen Ohres für Töne verschiedenster Höhe ausgehend, die verbliebene 
tatsächliche Empfindlichkeit des schwerhörigen Ohres falsch einschätzen^. 

H. Beyer (Berlin). 

Alexander und Tandler. UntersuchiiAgeii &B kongenital tauben Händen, Katien 
ind an Jungen kongenital tauber Katxen. Arch. f. Ohrenhdlk. 66 (3 u, 4), 
161—179. 1905. 

Verff. haben ein fast unglaublich erscheinendes Material von kongenital 
tauben Tieren, nämlich drei Hunde, zwölf erwachsene und vier junge 
Katzen, in bezug auf Hörfunktion und anatomische Beschaffenheit des 
Gehörorgans physiologisch und mikroskopisch untersucht. 

Die Resultate dieser Untersuchung an den drei Hunden zeigen, dafs die kon- 
genitale Taubheit derselben pathologisch-anatomisch nicht ein und derselben 
Form entspricht. Bei zwei Hunden betraf die pathologische Veränderung am 
stärksten die knöchernen Schneckenkapseln, welche vollkommene Defekte 
der Skalensepten aufwiesen, so dafs die Skalen nur durch Bindegewebe 
voneinander getrennt wurden. Dementsprechend fanden sich auch degene- 
rative Veränderungen der Papilla basilaris und umschriebene Verödung des 
häutigen Schneckenkanals durch totale Aneinanderlagerung der häutigen 
Wände. Diese defekte Entwicklung dürfte als Hemmungsbildung an- 
gesprochen werden, die besonders die letzte Entwicklungsphase, in welcher 
die Ausbildung der oberen Skalensepten zu erfolgen pflegt, betrogen hat. 
Trotz dieser hochgradigen Veränderung erwies sich in beiden Fällen der 
Schneckennerv und das Ganglion spirale nur wenig verändert. 

Beim dritten Hunde, der einen anderen Typus repräsentiert, fand sich 
dagegen hauptsächlich Degeneration der Pars inferior labyrinthi mit 
degenerativer Atrophie des Nervus cochlearis, saccularis und des Ganglion 
Spirale, sowie totale Degeneration der Papilla basilaris, der Stria vascularis 
und Macula sacculi. In allen tibereinstimmend war das völlige Fehlen von 
Pigment. 

Gegenüber diesen zwei Formen der Veränderung am inneren Ohr der 
Hunde scheint die kongenitale Taubheit unvollkommen albinotischer Katzen 
mehr einem einheitlichen pathologisch-anatomischen Typus zu entsprechen 
und nur durch den Grad der Ausdehnung der Veränderungen voneinander 
abzuweichen. In der Hauptsache ist der Nervenganglienapparat der Schnecke 
betroffen bis zum völligen Schwunde derselben und ein BlutgefäTsmangel 
in der Schnecke zu konstatieren. Die primäre degenerative Veränderung 
scheint die Hypoplasie des Nervus cochlearis und des Ganglion spirale, 
sowie die mangelhafte Ausbildung der Stria vascularis zu sein, wie aus den 
Befunden an den Katzen jungen hervorgeht. Die Veränderung an der 
Macula sacculi und Papilla basilaris, sowie die Verödung der endo- 
lymphatischen Pars inferior sind dann wohl als sekundäre spätere Ver- 
änderungen zu betrachten. 

Interessant ist die Tatsache, dafs die kongenitale Taubheit sich 
nicht notwendigerweise zu vererben braucht, und dafs pigmentierte 
Junge ein normales Gehörorgan aufzuweisen pflegen. 

H. Beyer (Berlin). 



454 Literaturbericht. 

L. V. FbanklHochwabt. Der Heniiresclio Syrnj^toaeBkomptox. 2. Aufl. 
Wien, A. Holder. 1906. 101 S. 

Die als Teil der NoTHNAGKLschen speziellen Pathologie und Therapie 
erschienene Monographie stellt im Verhältnis zur ersten Auflage ein fast 
völlig neues Buch dar, indem die persönlichen Beobachtungen des Verf. 
auf dem Gebiete seines Themas inzwischen erheblich an Umfang zu- 
genommen haben. Die MsKi^Rsschen Symptome ergeben ein Krankheitfiblld, 
das aus Schwerhörigkeit, Ohrensausen, Schwindel und Erbrechen besteht, 
wozu sich oft Kopf druck; zerebellare Ataxie, vasomotorische Störungen, bis- 
weilen Nystagmus, in seltenen Fallen auch Diarrhoe gesellen. Die Er- 
krankung kann momentan bei bisher intaktem Gehörorgan in Form einer 
Apoplexie oder im Anschlufs an Traumen (Kopfkontusionen, Detonationen, 
Stich Verletzungen des Labyrinthes, Caissonerkrankungen) auftreten. In 
anderen Fällen schlieüst sie sich an bereits vorhandene, akute oder chronische 
Affektionen des Ohres an. Schwindelsymptome kommen auch bei patho- 
logischen Zuständen des Nervus acusticus vor. Hierher gehören gewisse 
Fälle von Tabes, komprimierende (jeschwülste und wohl auch die vom 
Verf. zuerst beschriebene Polyneuritis cerebralis menieriformis. Durch 
Ohrausspritzung, Katheterisieren der Tube, Luftdonche, Kopfgalvanlsatian, 
heftiges Drehen oder Schaukeln sowie starken Schall, also durch änlsere 
Eingriffe und Einflösse kann transitorischer Ohrenschwindel erseagt 
werden. Mit Bezug hierauf ist bemerkenswert, dafs auch die Seekrankheit, 
worauf zuerst Palasnb db Champxacx aufmerksam gemacht hat, wenigstens 
in gewissen Formen dem Mstn^RBschen Schwindel ähnelt und data nach 
Jambs von 22 Taubstummen auf einer Seefahrt bei schlechtem Wetter keiner 
seekrank wurde, gleichwie bekanntlich ein gewisser Prozentsatz Taub- 
stummer dem galvanischen und rotatorischen Vestibularschwindel nicht 
unterliegt. Als „pseudomeni^resche AnfitUe" bezeichnet Verf. das Auftreten 
von Schwindel, Ohrensausen und Erbrechen ohne Ohrenleiden bei Neurosen, 
als Aura des epileptischen und hysterischen Anfalles oder (selten) bei 
Neurasthenie und Hemikranie. 

Von den einzelnen Symptomen des MsKU^BBschen Krankheitsbildee, die 
übrigens keineswegs immer alle zusammen auftreten, ist der Schwindel das 
wichtigste und charakteristische. Er ist gewöhnlich sehr heftig, so dafe 
die Kranken gelegentlich wie vom Blitze getroffen hinstürzen. Viele haben 
das Gefühl, um die horizontale oder Längsachse gedreht zu werden. Bei 
manchen ist die Drehrichtung stets die gleiche, bei anderen wechselt sie 
von Anfall zu Anfall oder auch während der Attacke. Einige können über- 
faanpt keine genaue Beschreibung des in jedem Falle höchst peinlichen 
Zustandes geben. Dauer und Häufigkeit der AnfiUle sind sehr verschied^i. 
Was die ErklämnK des Drehschwindels anlangt, so mufis derselbe mit Bftck- 
sicht auf die Ergebnisse der Physiologie, über die Verf. eine gedrängte 
Übersicht gibt> als Bogengangssymptom aufgeüJst werden, während anderer- 
seits die klinisch-pathologischen Befunde an sich noch immer keinen Beweis 
für ein statisches Organ im Labyrinth zu erbringen verm^^n. 

Auf die lehrreichen und interessanten Ausführungen, welche die 
Diagnose und Differentialdiagnoee (Unterscheidung des OhrenschwiiMiels 
vom Schwindel bei Erkrankung anderer Sinnesorgane, bei Intoxikatiomen, 



Literaturbericht. 455 

bei Infektionskrankheiten, bei Magen-Darm- Affektionen, Nephritis, Diabetes, 
Zirkulationsanomalien und gewissen Nervenleiden), die Prophylaxe, Prognose 
und Therapie des MENi&RBSchen Symptomenkomplexes betreffen, kann an 
dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Schaefeb (Berlin). 



Vatbac. Le Processus et le mieanisme de l'atteiitioit Rev. sdentif. 5 (14), 
422—427. 1906. 

Der Wert der vorliegenden Arbeit liegt in der übersichtlichen 
Gruppierung der auf das Thema bezüglichen Ansichten sowie in der 
geschickten Vereinbarung der unter ihnen bestehenden Widersprüche. 

Verf. ordnet die bezüglichen Theorien in vier Gruppen zusammen. 
Die Anhänger der ersten Gruppe fassen den Mechanismus der Aufmerk- 
samkeit als etwas Motorisches, bedingt durch affektive Zustände. Es gibt 
nach ihnen zwei Arten von Aufmerksamkeit, die plötzliche und die will- 
kürliche. Erstere gehorcht einem Hemmungsmechanismus, letztere einem 
motorisch-aktiven. Die Anhänger der zweiten Gruppe legen den Nachdruck 
auf das Sensitive. Die dritte Gruppe enthält Eklektiker aus den ersten 
beiden. Viertens gibt es Psychologen, welche die Aufmerksamkeit mit der 
Anstrengung identifizieren, mit einer allgemeinen geistigen Anspannung. 
Sie sehen in der Aufmerksamkeit ein sensoriell-motorisches Phänomen, ein 
kombiniertes Spiel aller Energien des Individuums. V. nennt diese Theorie 
die reduzierte oder vereinfachte. 

Nach HuMTEB ist die Aufmerksamkeit beständig in unserem Körper 
vorhanden. Sie bestimmt muskuläre und sensorische Phänomene, Atmungs- 
und GefäTsmodifikationen, Erhebungen der zentralen und lokalen Temperatur, 
Variationen im Blutdruck, verschiedene viszerale Erschütterungen, chemische 
Modifikationen und Phänomene der Ermüdung. 

Manche Gelehrte behaupten, dals bei Aufmerksamkeit zunächst peri- 
pherische organische Phänomene auftreten, in zweiter Linie erst zentrale 
als Folgen jener. Andere Gelehrte umgekehrt. Dementsprechend unter- 
scheidet man eine physiologische und eine psychologische Theorie. Verf. 
will zeigen, dafs beide Theorien physiologisch sind, sofern man sie beide 
durch rein physiologische Argumente beweisen kann. Man braucht nur 
anzunehmen, dafs bei Aufmerksamkeit die Hirngefäfse sich erweitern, und 
dafs die peripherische Gefäfszusammenziehung ein hierzu paralleles Phänomen 
bildet, ohne direkte Einwirkung. Die Experimente haben gezeigt, dalüs die 
Gehimzirkulation von der allgemeinen unabhängig ist. Also jede sensorielle 
oder seelische Erregung kann im Gehirn eine Gefäfserweiterung hervor- 
rufen, welches auch der jeweilige Zustand der Schlagader- Zirkulation sein 
mag. Es erfolgt nichts in unserem Seelenleben, ohne dafs das Gehirn zuerst 
davon benachrichtigt wurde. 

Gehorcht nun die Aufmerksamkeit einem motorischen oder einem 
Hemmungsmechanismus? Bei der plötzlichen Aufmerksamkeit verhält sich 
das Subjekt mehr passiv als aktiv, bei der willkürlichen dagegen aktiv. 
Der Prozefs der Aufmerksamkeit beginnt im ersten Falle mit einem Choc, 
im letzteren mit einer Periode der Anpassung. Diese anfänglichen Er- 
schütterungen haben wahrscheinlich zu der Annahme Veranlassung gegeben 



456 Literaturbericht. 

daTs es sich bei Aufmerksamkeit um ein Hemmnngsphänomen handelte. 
Gleichzeitig aber befindet sich das Gehirn doch in Überaktivität. Man mnfs 
also annehmen, dafs ein motorischer Mechanismus in Tätigkeit ist. Ffir 
den eigentlich aktiven Charakter der Aufmerksamkeit spricht die Tatsache» 
dafs während des Schlafes die zentrale Gefäfserweiterung verschwindet, 
das Muskelsystem erschlafft. 

Tritt nun die zentrale Gefäfserweiterung oder die peripherische GefiUTs- 
zusammenziehung zuerst auf? Verf. glaubt, dafs letztere als Phänomen der 
Hemmung nicht imstande wäre, eine solche allgemeine Erregung des Nerven- 
systems in Szene zu setzen, wohl aber die erstere. 

y. kommt zu dem Schlufs, dafs der Mechanismus der Aufmerksamkeit 
sich als zugleich hemmend und aktiv erweist, indem das aktive Element 
zwar nicht das primäre, jedoch das dauerhaftere und wichtigere ist. 

GiESSLEB (Erfurt). 

C. £. Ferreb. Ab EzparinieBtil ExaalittiOB of the Phemomema itiilly attrl- 
blted tO FUctiatiOBI of Aitemtioi. Ämer, Journ, of Fsyelwl 17 (1), 
S. 81—120. 1906. 
Verf. hat sich die Aufgabe gestellt, jene bisher wenig erforschten Er- 
scheinungen experimentell zu beleuchten, die unter dem Namen Aufmerk- 
samkeitsschwankungen bekannt sind, unter Schwankungs- oder Unter- 
brechnngserscheinungen versteht man solche, gewöhnlich durch minimale 
Reize und minimale Reizdifferenzen hervorgerufene Zustände, die in einem 
meist rhythmisch verlaufenden Vorhandensein und AufhOren, also in einer 
Oszillation des Bewufstseinsinhaltes bestehen ; und zwar hat man sich diesen 
abwechselnd positiven und negativen Bewufstseinszustand als zentral bedingt 
vorzustellen. Ohne das Vorhandensein eines Auf- und Abwogens der Auf- 
merksamkeit zu leugnen, beabsichtigt F. auf experimentellem Wege nach- 
zuweisen, dafs einige bisher als rein typisch betrachtete Fälle sogenannter 
Aufmerksamkeitsschwankungen in Wirklichkeit anders zu erklären sind. 
Im vorliegenden Aufsatz, der durch weitere Mitteilungen ergänzt werden 
soll, hat Verf. sich das optische Sinnesgebiet zur Untersuchung vorgenommen. 
Hautreizungen, die gleichfalls ausgeführt wurden, hatten ffir die Unter- 
suchung nur negative Resultate. Die Erklärung F.8 für die optischen 
Schwankungen ist die, dafs hier einfach Adaptationserscheinungen vorliegen, 
die nur durch die speziellen Bedingungen, unter denen sie vorkommen, 
etwas verdeckt werden. 

Adaptation ist an sich ein kontinuierlicher Vorgang, aber die optischen 
Adaptationsvorgänge erleiden Unterbrechungen durch Augenbewegungen, 
und F. will nun beweisen, dafs die Intermissionen, die durch die Theorie 
der Aufmerksamkeitsschwankung erklärt worden sind, nur auf diesen Augen- 
bewegungen beruhen. Die Methode zur Feststellung der Augenbewegnng 
war die, sich die abwechselnd eintretenden negativen Nachbilder während 
der Zeit der Fixation zu merken. Zur Unterstatzong seiner These fOhrt F. 
hauptsächlich folgende Argumente an : Es zeigt sich, dafs jene Schwankungen 
bei aphakischen Individuen keinen anderen Verlauf haben, als bei normal- 
sehenden, woraus sich der Schlufs ergibt, daüs unwUlkOrliche Änderungen 
in der Akkommodation keine wesentliche Rolle bei der Sache spielen. Weiter: 



Literaturhericht 457 

Ist der Reiz nicht an sich selbst intermittierender Art, hat man z. B. eine 
kontinuierliche Lichtempfindung, die man durch elektrische Beizung der 
cerebroretinalen Elemente ununterbrochen erhält, so erleidet man keine 
Unterbrechung, keine Oszillation der Empfindung^ was jedenfalls darauf 
hindeutet, dafs die Schwankungserscheinungen peripher verursacht sind. 

Dafs Adaptations Verhältnisse und Schwankungserscheinungen iden- 
tische BegriJSe sind, erhellt dadurch, dafs sämtliche Bedingungen, die 
sich auf den Reiz oder auf den Reiz in Verbindung mit dem Hintergrund 
beziehen, und die Adaptationszeit beeinflussen, eine ähnliche Wirkung auf 
die Schwankungsperioden ausüben. Diese Wirkung zeigt sich entweder nur 
in der sichtbaren Phase des Bildes oder sowohl in der sichtbaren wie in 
der unsichtbaren Phase. — Die Rolle des Zwinkerns, das gelegentlich eine 
Unterbrechung mit veranlassen kann, kommt hiergegen als erklärende 
Ursache nicht auf. 

Gegen den zentralen Charakter und für die Adaptation als Erklärungs- 
grund sprechen auch folgende Tatsachen: Ungeübte, die nicht gut die 
Fixation durchführen konnten, bei denen darum auch die Adaptations- 
erscheinungen unvollkommen entwickelt waren, erfuhren wenig oder nichts 
von jenen Schwankungen. — Eine Versuchsperson, die einmal nach langen 
ermüdenden Experimentieren gar keine Schwankung erlebte, klagte darüber, 
dafs ihr Auge müde und sie nicht imstande wäre unbewegt zu fixieren. Ferner 
zeigte es sich bei sorgfältigen Experimenten mit den Versuchspersonen, 
die sämtlich psychologische Studien getrieben hatten und in Selbstbeob- 
achtung geübt waren, dafs die Schwankung sich überhaupt nicht bei allen 
ebenmerklichen Reizen einstellte, so z. B. nicht, wenn man ebenmerklichen 
Reizen eine erhebliche räumliche Ausdehnung gab. Aall (Halle). 



Alma Bell and Lorbtta Muckenhouft. A Comparison of Hethods for the 
DeterminatloB of Ideational Tjrpes. Amer. Joitm. of PsycJwl. 17 (l), 
S. 121—126. 1906. 
Es werden in dieser Arbeit die Methoden kritisch geprüft, die zur 
Erforschung der individuellen Typen des Vorstellungslebens verwendet 
werden. Denjenigen Methoden wird der Vorzug gegeben, die die Versuchs- 
person zur Wiedergabe eines bestimmten genau abgegrenzten Stoffes, wie 
z. B. Buchstaben und Zahlen veranlassen. Mit Recht wird betont, dafs 
man zu leicht der Verallgemeinerung verfällt. Es kann jemand eine geringe 
visuelle Einbildungskraft besitzen, wenn wir den Mafsstab der Lebendigkeit 
innerer optischer Bilder anlegen, und dennoch mag sein Phantasieleben für 
gewöhnlich die Form optischer Vorstellungsbilder nehmen. 

Aall (Halle). 

E. Grossmann. Ober 8cbltxa]l|[en ftach Avgenmafs. Astronom. Nachr. Nr. 4066. 
S. 149—162. 1906. 
Es handelt sich bei dieser Arbeit um eine Untersuchung der sogen. 
Dezimalgleichung, auf welche zuerst J. Habtmann in den astronomischen 
Nachrichten Nr. 65 aufmerksam gemacht hat. Dezimalgleichung nennt man 
bekanntlich eine Korrektion der Beobachtungen, die daraus folgt, dafs bei 
Zehntelschätzungen gewisse Zehntel häufiger geschätzt werden als andere. 



458 Literaturbericht. 

Es fragt sich nun, ob diese Tatsache physiologischer oder psychologischer 
Natur ist. Zunächst ist darauf aufmerksam zu machen, dafs die Dezimal- 
gleichung keinesfalls zu den geometrisch-optischen Täuschungen gehört, zu 
welcher Annahme vielleicht der Umstand verleiten könnte, dafs man bei 
der Halbierung einer vertikalen Linie im allgemeinen den oberen Teil zu 
klein macht, nach Wundt um Vie- ^^^ Unterschied liegt darin, daüs bei 
dem letztgenannten Beispiel, wie bei allen geometrisch-optischen Täuschungen, 
der Fehler von fast allen Augen in annähernd gleicher Weise gemacht wird, 
bei der Dezimalgleichung aber verschiedene Beobachter verschiedene Zehntel 
bevorzugen. Andererseits könnte man versucht sein, den Grund dafür in 
Anomalien des Auges zu suchen. Man könnte an Astigmatismus denken, 
an verschiedene Empfindlichkeit verschiedener Netzhautstellen, an patho- 
logische Dislokationen, an Augenmuskellähmungen. Dann aber mOXiste die 
Dezimalgleichung bei völlig normalen Augen verschwinden, was naeh- 
gewiesenermafsen nicht der Fall ist. Die psychologische Natur erhellt aus 
folgendem Umstände. Stellt man eine derartige Schätzung in aller Rahe 
auf eine Weise an, die eine Prüfung durch genaue Messung gestattet, etwa 
an einem mit Nonius versehenen Mafsstab, so fällt die Dezimalgleichung 
fort; sie ist aber immer vorhanden, wenn die Schätzung unter erschwerenden 
Umständen geschieht, wie es z. B. bei den astronomischen Beobachtungen 
der Fall ist. Es zeigt sich so, dafs die Dezimalgleichung in der Hauptsache 
unter zwei Bedingungen zustande kommt: 

1. wenn die Apperzeption nicht vollkommen ist, 

2. wenn bei der Schätzung die zu teilende Strecke nicht gleichmäfsig 
von dem Auge durchlaufen wird. 

Beide Bedingungen zeigen zur Genüge, dafs es sich um eine psycho- 
logische Erscheinung handelt. Wie sie zu erklären ist, läfst der Verf. dahin- 
gestellt. Vielleicht halten die Psychologen den Gegenstand für bedeutend 
genug, um ihn einer näheren Untersuchung zu würdigen. 

M. VöLKZL (Breslau). 

Ch. E. Bbownb. The Psychology of the Simple Ärithmetical Proceues. A Stmiy 
of GertalB Habits of Attention and AssocUtlon. Am er. Joum. ofFsychol 17 

(1), S. 1—37. 1906. 
Der Aufsatz stellt die Ergebnisse einer experimentellen Untersuchung 
der einfachen Prozesse bei den vier Rechnungsarten dar. Die typischen 
Fehler wurden notiert und verschiedene Beobachtungen bezüglich der jeweils 
für den Bechnungsprozefs erforderlichen Zeit und bezüglich der zur An- 
wendung gelangenden Methoden gemacht. Die Versuche wurden mit jungen 
Männern angestellt, die sämtlich Universitätsbildung genossen hatten, im 
übrigen aber durch keine besondere Übudg im Kechnen ausgezeichnet 
waren. Die Versuchsanordnung war folgende. Es wurden der Versachs- 
person Pakete von Karten ausgehändigt, auf die je eine Ziffer geschrieben 
war. Bein automatisch, wie bei Spielkarten, wurden diese Karten einzeln 
mit der Hand dem Auge vorgeführt. Bei der Addition wurde zuerst in 
der Weise experimentiert, dafs jede Ziffer für sich genommen und der 
jeweiligen Summe beigefügt wurde. Die Tendenz zu motorischer laut- 
sprachlicher Fixierung der Zahlenwerte erwies sich als sehr hervortretend. 



Literaturbeiicht 459 

Deutlich war, wenn ein vorangehender Einer im Blickpunkt des Bewufst- 
seine gewesen war, eine gewisse Tendenz zur Perseveration der betreffenden 
Zahl wahrnehmbar. Das Bewufstsein, ein zutreffendes Resultat erreicht zu 
haben, entwickelte sich leicht zu dem bestimmten Gefühl der Richtigkeit. 
Es fand sich, dafs die Neigung bestand, durchweg den kleineren Zahlwert 
dem grOfseren beizuzählen, nicht umgekehrt. Die Erfahrung, dafs gleiche 
Ziffern leichter, d. h. schneller und durchweg fehlerfreier addiert werden 
als ungleiche, bestätigte sich. 

Eine zweite Serie von Versuchen bezog sich auf zusammengesetzte 
Addition. Zwei Einer wurden zuerst zusammengelegt und sodann zu einer 
gegebenen Summe addiert. Interessant war hierbei die individuell hervor- 
tretende Tendenz, aus den beiden zusammen gef als ten Einern zuerst in der 
Vorstellung einen Zehner herauszunehmen, zu der gegebenen Summe 
diesen Zehner hinzuzufügen und erst dann, der solcherweise erreichten 
Zahl, das noch Übrigstehende hinzuzufügen. — Bei der Multiplikation 
ist das Gefühl der Sicherheit während der Rechenoperation viel aus- 
geprägter als bei der Addition. Mit diesem Gefühl schien die lautmotorische 
Innervation wesentlich verbunden. Das Vorstellungsbild ist hier wesentlich 
motorisch und akustisch. — B. weist auf den mit der Multiplikation ver- 
hundenen Additionsakt als auf den besonders wunden Punkt der Operation 
hin, und macht zur Hebung der Schwierigkeit einen darauf bezüglichen 
Vorschlag für die Unterrichtsmethode. Spezielle Beachtung verdient die 
Bemerkung, dafs Multiplikator immer kleiner sein sollte als Multiplikand, 
und dafs die Multiplikationstabelle unter Rücksichtnahme auf diese Regel 
wesentlich (beinahe um die Hälfte) verkürzt werden müfste. 

Bei der Subtraktion (ebenso wie bei der Division) haben wir es, im Gegen- 
satz zu der Addition und der Multiplikation, mit rückläufigen Assoziationen zu 
tun. Das Sicherheitsgefühl ist besonders bei Subtraktion sehr gering. Die 
Erinnerung, von der Nachbarstelle links geborgt zu haben, ist sehr schwach ; 
dafs diese Nachbarstelle um 1 vermindert ist, wird deshalb um so weniger 
eicher im Gedächtnis behalten, weil ja der visuelle Eindruck der nicht 
verminderten Stelle fortan daneben besteht. Auch diesmal laufen die 
experimentellen Ergebnisse in praktische Vorschläge für den Rechen- 
unterricht aus. 

Im Anschlufs an Ebbinohaus' Nachweis der verschiedenen Festigkeit 
assoziativer Verknüpfungen wird dargetan, dafs die Subtraktion schwieriger 
ist als die Addition, weil die Verbindung der Glieder bei rückläufiger 
Assoziation lockerer ist. B. stellt den Grundsatz auf, dafs die Kinder aus 
diesem Grunde lernen müfsten, rückwärts sowohl als vorwärts zu zählen. 
Die ältere Methode, nach der der Subtrahend vergröfsert wurde, hat, wie 
B. meint, den Vorzug vor der jetzigen mehr logischen, derzufolge der 
Minuend verkleinert wird; denn durch die letztere entstehen beim Borgen 
von links mancherlei Verwirrungen. — Von den vier Rechnungsarten stellt 
die Division den kompliziertesten Prozefs dar. Zuerst wird der Quotient 
niedergeschrieben, darauf mufs Subtraktion stattfinden und als Drittes 
kommt die Formulierung des neuen Dividenden noch hinzu. Obwohl die 
Division auf Multiplikation basiert, besteht die Tendenz, diesen Rechen- 
prozefs zu einem völlig selbständigen Akt, zu einem neuen Typus unmittel- 



460 Litera t urberich f. 

barer Assoziationen zu gestalten. Im allgemeinen wächst die Schwierigkeit 
des Prozesses mit der Gröfse des Divisors. Aall (Halle). 

Cl. Harrison Town. Tbe Kinaesthetic Element in Endophula asd Avdttory 
HallveiAation. Amer. Journ. of Psychol 17 (1), S. 127 -ia3. 1906. 
Das „Wortdenken", das innere Sprechen, endophasia, i^t eine Funktion 
des Wortgedächtnisses, das nach Charcot auf visuellen, akustischen, laut- 
motorischen und graphischen Wortbildern beruht. Verf. betont die hervor- 
ragende Bedeutung des lautmotorischen Elementes, m. a. W. der vor- 
gestellten sprachlichen Artikulation. Dafs es für gewöhnlich beim Denken 
nicht zum lautlichen Ausdrucke kommt, trotz der stattfindenden Erregung 
der kinästhetischen Sprachzentren, wird durch Hemmungstatsachen bewirkt. 
Jedoch ist der Ansatz zum Sprechen immer da und bricht manchmal durch. 
Die Tatsache wird erhärtet durch Belege, die durch Beobachtung an Irr- 
sinnigen beigebracht sind. Aall (Halle). 

Alkxandbb f. Chamberlaim. Acquiaitleii of WritteA LaBgnage by PrlmitlTe 
Peoples. Amer. Journ. of Psychol 17 (1), S. 69-80. 1906. 
Verf. hat die Erfahrungen zusammengestellt, die amerikanische 
Missionäre u. a. gemacht haben bei ihren Versuchen, die amerikanischen 
Indianer das Lesen und Schreiben ihrer Muttersprache zu lehren. Die 
Leichtigkeit, mit der das Vorhaben im allgemeinen gelang, ist bemerkenswert. 

Aall (HaUe). 

C. Bos. Les iUments affeetifs di langage. Rev. philos, 60 (l), S. 355—373. 
1905. 
In der Sprache sind neben intellektuellen affektive Elemente. Die 
Worte haben ihren Gefühlston, ihre Physionomie, verschieden nach Nationen 
und Individuen. Groethutsen (Berlin). 

NARZISS Ach. Über die Wlilenstltlgkeit und du Deikei. Eine experimentelle 
Untersuchung mit einem Anhange: Über das Hippsche Chronoskop. 
Göttingen, Vandenhoeck und. Ruprecht. 1905. 294 8. Mk. 10,—. 
Das Buch von N. Ach „Über die Willenstätigkeit und das Denken'' 
stellt eine höchst beachtenswerte experimentelle Studie fiber die Reaktions- 
vorgänge dar. Vor allen Dingen sei rückhaltlos anerkannt, dafs die Ex- 
perimente mit gröfster Sorgfalt ausgeführt sind und dafs die Beobachtungen 
mit wissenschaftlicher Ruhe und unbestechlicher Objektivität angestellt 
wurden. * Was bei naturwissenschaftlichen Beobachtungen leichter zu 
erreichen ist, darf bei psychologischen, experimentellen Forschungen auch 
heute noch als Verdienst hervorgehoben werden: die völlige Unvorein- 
genommenheit und Zuverlässigkeit bei den tatsächlichen Feststellungen. 
Über die Verwertung der Ergebnisse und die Bedeutung des Beobachteten 
werden an einigen Stellen die Meinungen auseinandergehen. 

Die Versuche waren Reaktionsversuche von der bekannten Art. Die 
ausschliefslich benutzten Gesichtseindrücke wurden durch einen Karten- 
wechsler dargeboten. Versuchsperson und Versuchsleiter befanden sich in 
dem gleichen Raum. Dieser letztere Umstand wird nicht als störende 
Fehlerquelle zu betrachten sein. Es stimmt mit meinen Erfahrungen durch- 



Literaturbei'icht 461 

aus aberein, dafs die Ängstlichkeit in dieser Beziehung Obertrieben zu sein 
pflegt. Die Gewöhnung beseitigt eine im Anfang vielleicht vorhandene 
Beeinflussung sehr schnell. Der wichtigste Unterschied von früheren Ver- 
suchen war die noch systematischer als sonst durchgeführte Selbstbeob- 
achtung der Versuchspersonen, sowohl in der „Vorperiode", als in der 
„Haupt- und Nachperiode". Die Versuchsperson hatte alles Beobachtete 
sofort anzugeben und wurde über die Einzelheiten von dem Leiter noch 
besonders ausgefragt. Daher auch die Anordnung in einem Räume. 

A. teilt seine Reaktionen ein in solche mit eindeutiger Zuordnung und 
solche ohne eindeutige Zuordnung, bei welchen die Zuordnung in gewissen 
Grenzen der Versuchsperson Überlassen blieb. Die erste Art wird wieder 
eingeteilt in Reaktionen mit einfacher Zuordnung, mit mehrfacher Zu- 
ordnung (DoNDEBS 6-Methode), bedingte Reaktionen (die c-Methode bei Dondbbs) 
und Assoziationsreaktionen. Was die Ergebnisse im einzelnen betrifft, so 
mufs auf das Buch selbst verwiesen werden. Den Unterschied der musku- 
lären und sensoriellen Reaktion, wobei fünf sensorielle und vier muskuläre 
Einstellungsformen (S. 104) unterschieden werden, fafst A. als einen durch 
die Aufgabestellung bedingten auf (S. 114). Die sensorielle Reaktion geht 
in die muskuläre über, wenn möglichst rasch reagiert werden soll. Auch 
bei der muskulären Reaktion kommt der Reiz im Bewufstsein zur Wirksam- 
keit, es wird aber nur das Vorhandensein einer Änderung bemerkt (S. 116). 
Der noch so verkürzte Reaktionsvorgang kann also nicht als Gehirnreflex 
aufgefafst werden. Bei der sensoriellen Reaktion kommt kein Reflexions- 
akt und auch kein Willensakt zwischen Auffassung des Reizes und Be- 
wegung zustande ; die Determinierung ist vielmehr durch die vorbereitende 
Einstellung vollendet. Diese ganze Auffassung halte ich für durchaus 
richtig; es ist wertvoll, dafs sie sich gerade einem Beobachter aufdrängte, 
welcher überall die erlebten Tatsachen selbst zur Geltung zu bringen sucht. 

Die gleiche Ansicht gilt für die verwickeiteren Reaktionsvorgänge mit 
Zuordnung. Es folgte daraus, dafs über den Willensvorgang selbst die nach 
den bisherigen Methoden angestellten Reaktionsversuche einen Aufschlufs 
nicht geben konnten. Der Verf. versuchte daher seine Methode zu erweitern 
und der Versuchsperson mehr Freiheit zu erwirken. In einer Reihe von 
Versuchen erschienen Karten mit vx oder mit xv bedruckt in zufälligem 
Wechsel. Die Versuchsperson hatte die Aufgabe, „bei x mit dem rechten 
und bei v mit dem Unken Daumen zu reagieren, aber immer nur eine 
Bewegung auszuführen". Auch hier bildete sich rasch ein einförmiger 
Reaktionstypus heraus, so dafs beispielsweise eine Versuchsperson bald nur 
auf den Buchstaben x reagierte. Die Reaktionen näherten sich der Form 
der einfachen Reaktionen (S. 167). Eine zweite Reihe von Versuchen wurde 
so eingerichtet, dafs Karten mit vier Buchstaben {csvz) im Kartenwechsler 
erschienen (S. 168). Die Reihenfolge der Buchstaben wechselte. Jedem 
Buchstaben war ein bestimmter Finger zur Reaktion zugeordnet; es sollte 
aber immer nur eine der vier möglichen Bewegungen ausgeführt werden. 
„Es zeigte sich auch hier sehr deutlich, wie durch die Art der Vorbereitung 
der Ablauf des Erlebnisses in der Hauptperiode bestimmt wird" (8. 169), 
sagt der Verf. Die eine Versuchsperson faTste häufig einen bestimmten 



462 Literaturhericht. 

Buchstaben oder Finger von vornherein ins Auge, die andere bevorzugte die 
mittleren Buchstaben. 

Daher wurde zu „Reaktionen ohne Zuordnung der Tätigkeit" über- 
gegangen. In der ersten Anordnung (S. 173) waren die Karten mit zwei 
einstelligen, durch einen senkrechten Strich getrennten Ziffern bedruckt. 
Der Reagent hatte die Zahlen beliebig verbunden zum addieren, multipli- 
zieren, subtrahieren oder dividieren zu benutzen, oder auch ohne ihre Be- 
nutzung zu reagieren (hier mit dem Schallschlüssel). Die Aussagen über 
die Vorperiode zeigen deutlich, „dafs die Spezialisierung der Aufgabe jetzt 
ganz so wie bei „zugeordneten Tätigkeiten** von der Versuchsperson selb- 
ständig vorgenommen wurde, ehe der Reiz erschien, dafs also der Vorgang 
in der Hauptperiode sich nicht wesentlich von einer festgelegten Reaktion 
unterschied. Wenn die zur Erscheinung kommenden Zahlen für die vor- 
genommene Rechenoperation nicht günstig waren, trat eine Überraschung 
hinzu (S. 174). Auch hier hatte die Übung (S. 178) die schliefsliche Wirkung, 
dafs nach der Auffassung der Reize „unmittelbar d. h. ohne merkbare Pause 
und ohne Zwischenglied die akustischästhe tische Vorstellung des Resultates 
richtig im Bewufstsein auftauchte'* (S. 178). Die Zeitdauer betrug dabei 
immer noch 350 o, für mich ein deutliches Zeichen, dafs diese vermeintliche 
Unmittelbarkeit des Auftauchens doch nicht ohne Vermittlung war. Bei 
stark eingeübten Vorgängen brauchen die vermittelnden Vorgänge nicht 
gesondert zum Bewufstsein zu kommen, sie können der von der Ziel Vor- 
stellung gefesselten Aufmerksamkeit leicht entgehen. Übung besteht ja 
allerdings zu einem Teil in dem Ausfall von Mittelgliedern eines Gesamt- 
vorganges; dafs aber der optische Anblick zweier Zahlen als solcher die 
Vorstellung der Summe auslösen sollte, erscheint unwahrscheinlich and 
kann jedenfalls angesichts des häufigen Vorkommens, dafs Mittelglieder 
übersehen werden, nicht bewiesen werden. 

Bei der zweiten Anordnung dieser Versuche ohne Zuordnung (S. 181) 
erschien in beliebigem Wechsel eine von den ersten neun Ziffern der Zahlen- 
reihe; die Versuchsperson hatte die Aufgabe, entweder die vorhergehende 
oder die nachfolgende Ziffer sich vorzustellen und dann zu reagieren. Auch 
hier faCste die Versuchsperson durchweg eine bestimmte Absicht in der 
Vorperiode und damit war der Vorgang denen mit Zuordnung auch hier 
gleichartig geworden. Ich würde also meinerseits den Schlafs ziehen, dafs 
eine Untersuchung des Willens durch Beobachtung der Reaktionsvorgftnge 
anmöglich ist, weil nur der durch einen vorhergegangenen Entechlaüs oder 
eine vorhergegangene Vorschrift festgelegte mechanische Teil der Aas- 
f ührang im Reaktionsvorgang zur Beobachtung gelangt Schon früher habe 
ich meinerseits als Ergebnis solcher and ähnlicher Versuche einzig and 
allein die Regel feststellen zu können geglaubt, daCs die Zeit solcher fest- 
gelegter Reaktionsvorgänge abhängt von der Anzahl der in sie eingehenden 
Einzelteile j>eychi8cher Momente) and deren Einzeldauer, and dals diese 
Zeit mit zunehmender Übung durch Verktlrzong and Aasfall von Mittel- 
gliedern abnimmt. Ich sehe diesen Satz durch die Untersachangen des 
Verf. nur bestätigt und finde in seinem reichen Material eine Ffllle Ton 
Beispielen in den verschiedensten Variationen für diese Anfbssong vor. 

Damit ist der Unterschied meiner Aaffassangswmse von der des YerL 



Literaturbericht. 463 

schon bestimmt genug klargelegt. Die experimentelle Psychologie leidet 
an einer Gefahr, welcher die experimentierenden Naturwissenschaften nicht 
in gleichem Grade ausgesetzt sind. Der Physiker hat, was er auch immer 
untersucht, einen ganzen, einen fertigen Vorgang vor sich. Seine Schwierig- 
keit besteht leicht darin, dafs er komplizierende Einflüsse nicht ausschliefsen, 
das zu Beobachtende nicht isolieren kann und infolge davon eine reine 
Funktion nicht erhält. Der Psychologe kommt umgekehrt leicht in die 
Lage, dafs er gerade durch die Isolierung des zu Beobachtenden im Ex- 
periment Bedingungen der Erscheinung ausschliefst, welche für diese von 
Wesentlichkeit sind, und dafs er dadurch ein falsches Bild erhalt. In 
gewisser Weise ist das sogar bei allen psychologischen Experimenten der 
Fall, insofern die physiologischen Gehirnerregungen, welche Bedingungen 
des Bewufstseinsvorganges sind, in dem rein psychologischen Experiment 
nicht als Bedingungen festgelegt werden können. In gewisser Weise haben 
wir es also nie mit einer reinen Funktion zu tun. Auf dem Gebiet der 
Sinneswahrnehmungen ist dies wegen der Gleichartigkeit der physiologischen 
Vorbedingungen am wenigsten lästig. Je höher die Bewufstseinsvorgänge 
stehen, welche wir untersuchen, um so drückender wird die Schwierigkeit, 
die hier vorliegt. Die vielen Variationen des Ablaufes des doch sonst noch 
ziemlich einfachen Reaktionsvorganges, wie sie gerade vom Verf. so lebendig 
geschildert werden, beruhen offenbar auf dem Umstände, dafs die Versuchs- 
personen in ihrer geistigen Entwicklung verschieden sind und dafs die 
Einflüsse dieser Entwicklung bei jeder einzelnen Person eine so grofse 
Mannigfaltigkeit darstellen, dafs dadurch die strenge Isolierung der Be- 
dingungen eines Reaktionsvorganges ausgeschlossen wird. Dazu kommt 
dann der weitere Umstand, dafs der zu beobachtende Vorgang auch durch 
den vorhergegangenen Entschlufs oder Annahme der Vorschriften des Ver- 
Buchsleiters wesentlich bedingt ist, ohne dafs diese Bedingungen anders 
als in ihren schliefslichen Wirkungen beim Versuch zur Erscheinung 
kommen. Etwas ähnliches gilt von allen Gedächtnisversuchen. Die Gesetz- 
mäfsigkeit der Gedächtniserscheinungen beruht zum grofsen Teil auf den 
vorhergegangenen Einprägungen. Diese sind ohne Aufmerksamkeit und 
Willen unmöglich. Was nachher beobachtet wird, ist lediglich eine Folge- 
erscheinung, der Assoziationszustand eines Individuums zu gewisser Zeit 
und unter gewissen Umständen; was nicht beobachtbar ist, ist die Art, wie 
dieser Zustand entsteht. Die geistigen Mechanismen sind an die Zeit 
gebundene Folgezustände nicht völlig übersehbarer Bedingungen. 

Man braucht diese Gedanken nicht in der vorgetragenen Allgemeinheit 
zu billigen und kann doch zugeben, dafs sie in diesem speziellen Falle 
zutreffen. Dann wird man mir zugeben, dafs der vom Verf. zum Schlufs 
aufgestellte Begriff der „determinierenden Tendenzen" mifsverständlich ist. 
Der Begriff geht aus dem Bestreben hervor, den Ablauf des Reaktions- 
vorganges aus sich heraus vollständig zu „erklären'^, während doch ein Teil 
der Erklärung in den Vorbedingungen zu suchen ist. „Unter den deter- 
minierenden Tendenzen sind Wirkungen zu verstehen, welche von einem 
eigenartigen Vorstellungsinhalte der Zielvorstellung ausgehen und eine 
Determinierung im Sinne oder gemäfs dieser Zielvorstellung nach sich 
ziehen" (S. 187). Sie sollen die Grundlage der Willensbetätigung bilden 



464 Litei'aturbei'icht 

und auch in den posthypnotischen Sukzessions Wirkungen zur Erscheinung 
kommen. „Die Bezeichnung soU^, so heilst es S. 195, „nur die Tatsache 
des nach dem Inhalte der Absicht bzw. der Ziel Vorstellung geregelten Ab- 
laufes des geistigen Geschehens zum Ausdruck bringen, ohne daüs hin- 
sichtlich der Beschaffenheit dieser Nachwirkungen — der Tendenzen — 
irgend etwas gesagt sein soU.^' Sie sind aber von den assoziativen und den 
Reproduktionstendenzen wohl unterschieden (ib.). Die determinierenden 
Tendenzen, so wird dann weiter gesagt, ,fbe wirken auch eine gewisse Unab- 
hängigkeit von dem assoziativen Zusammenhange des aufgenommenen 
Erfahrungsmateriales dadurch, dafs sie uns die Bildung neuer Assoziationen 
ermöglichen" (S. 196), ihre Wirksamkeit ist mit „der Bestimmung eines 
geordneten, zielbewufst ablaufenden psychischen Geschehens nicht erledigt"*. 
Um dies zu zeigen, wurden noch besondere Versuche gemacht, bei welchen 
zu einer sinnlosen Silbe entweder eine sich auf sie reimende oder eine mit 
ihr alliterierende hervorgerufen wurde, worauf dann die Reaktion folgte. 
Hier wird durch die determinierende Tendenz angeblich eine neue Asso- 
ziation gestiftet. „Notwendig ist hierbei allerdings, dafs die Bezagsvor- 
stellung und die entstehende Vorstellung — die determinierte Vorstellung — 
sich unter einen gemeinsamen fibergeordneten Begriff (Ziel Vorstellung 
subsumieren lassen" (S. 209). Durch die offenbar richtige Hinzufügnng 
dieser Bedingung scheint mir der VerL seinen Begriff der determinierenden 
Tendenzen selbst wieder aufzugeben. Es scheint mir auch ausgeschlossen, 
dals man in der Zielvorstellung und ihrer Tendenz als solcher den Grand 
für den Ablauf des sinnvollen Geschehens dieses Vorganges sehen darl 
Ähnlich wird der Ablauf eingeübter Reproduktionen auf die vorherige „Ein- 
fibung" und nicht auf die der reproduzierten vorhergehenden Vorstellung 
als solche zurfickzufOhren sein. Dabei ist das Wesen dieser „EinObungf, 
bei welcher Aufmerksamkeit und Wille beteiligt sind, für uns vorläufig nur 
phänomenologisch beschreibbar. Und ebenso verhält es sich mit der 
„Absicht" der Vorperiode und deren EinfluCs auf den späteren Ablauf der 
Reaktion. Der Begriff der determinierenden Tendenzen ruft also einen 
Schein einer intimeren Einsicht in die Dinge hervor, als wir sie tatsächlich 
besitzen. 

Für nicht glücklich mufs ich auch den Ausdruck .^Bewofstheit^ halten 
für diejenigen Glieder eines psychischen Gresamtvorganges. die nur undeutlich 
zum BewttXstsein kommen, für uns aber doch etwas bedeuten. Der Ausdruck 
erscheint um so überflüssiger, als die betreffenden Erscheinungen sich unter 
den Begriff der Übung einordnen lassen. Dafs solche Glieder zuweilen so 
gut wie unbewufot ^unbemerkt^ verlaufen, ist richtig; dafs sie deshalb aber 
nur als ,,unbewu£st' in Betracht zu ziehen sind, mnis bestritten werden. 
Deswegen halte ich die iS. 228) noch hinzugefügte Ergänzung des Begriffes 
der determinierenden Tendenzen für eine weitere Verschlechterung. 

So ist denn über den Willen selbst und seine unmittelbare Wirksamkeit 
nach meiner Auffassung in der interessanten Schrift nichts festgestellt. Der 
beobachtbare Teil gehört zu den Folgeerscheinungen dee .Wülens", die 
Bedeutung des Willens selbst liegt in der Vorperiode, über welche die 
Versuche eine Aufklärung nicht geben können. G. MAsnca. 



Literaturbericht. 465 

W. 8WITALSKI. IM« «ifctiilBiitkMretliche BedeituK det ZiUtei. Ein Beitrag 
zur Theorie des Aatoritätsbeweises. Sonderabdruck aus dem Verzeichnis 
der Vorlesung am Kgl. Ljceam Hosianum zu Braunsberg. Sommer 1905. 
20 S. 

Unter Zitat versteht Verf. jede Berufung auf ein fremdes Urteil. Da 
Tcir nun sehr oft uns auf fremde Urteile stfitzen, um etwas zu beweisen, 
erhebt sich die Frage, mit welchem Rechte wir das tun und welche Gesetze 
wir beachten mftssen, um dem Zitate diejenige Beweiskraft zu verleihen, 
die wir wissenschaftlich fordern müssen. 

Zunächst zeigt Verf., daCs das Zitieren nur ein Spezialfall der allgemein 
im Seelenleben herrschenden Tendenz nach Vereinfachung, nach Arbeits- 
teilung ist Wie das Wort uns die Möglichkeit gibt, eine Reihe von Vor- 
stellungen leicht in uns wachzurufen, wie ein von uns einmal gefälltes 
Urteil uns den Prozefs des Urteilens ein zweites Mal unter gleichen oder 
ähnlichen Verhältnissen erleichtert, dadurch, dafs es sofort reproduziert 
wird, so ist es für uns eine grofse Erleichterung, wenn wir das von anderen 
Gefundene oder Bewiesene für unsere eigenen Beweise benutzen können. 

Etwas Ähnliches liegt vor, wenn ich mich auf ein von mir selbst früher 
gefundenes Urteil berufe, da ja doch das einst gebildete Urteil jetzt unter 
veränderten Verhältnissen vielleicht nicht mehr gilt. 

In solchen Fällen müssen wir also erst prüfen, ob dieselben Ver- 
hältnisse, unter denen das Urtefl gebildet wurde, auch jetzt noch bestehen. 

Es ist femer zu berücksichtigen, daÜB jede Urteilsbildung von einer 
Reihe subjektiver Momente abhängig ist. Zunächst von der Stimmung. 
Sie bestimmt oft die ganze Denkrichtung, die Auswahl der objektiven Gründe. 
Die Willens- und Gefühlsrichtung des einzelnen Menschen, die beim Jünglinge 
eine andere als beim Manne und Greise ist, gehört hierher. 

Von wesentlichem Einflüsse auf die Urteilsbildung ist der Umkreis 
des Wissens zur Zeit der Urteilsbildung. Werden neue Tatsachen bekannt, 
so müssen Urteile korrigiert werden. 

Alle diese Gesichtspunkte müssen berücksichtigt werden, wenn wir 
uns auf eigene früher gebildete Urteile berufen, um wieviel mehr, wenn 
wir fremde Urteile heranziehen. 

Hier liegen die Verhältnisse noch schwieriger. Nicht nur müssen wir 
die Bedingungen genau kennen, unter denen ein anderer genrteilt hat^ 
seinen Charakter, den Stand seines derzeitigen Wissens; schon das Ver- 
stehen eines fremden Urteils ist schwierig, insofern es an die Sprache 
geknüpft ist, und danelbe Wort von verschiedenen oft ganz verschieden 
gebraucht wird. Hier ist es unbedingt nötig, um nicht in ganz grobe 
Fehler zu verfallen, genaa festzustellen, in welcher Bedeutung ein Wort 
gebraucht ist. Ein gutes Beispiel hierfür liefert die KuiTSche Terminologie. 

Denselben wissenschaftlichen Wert wie unser eigenes unmittelbares 
Erkennen hat daher die Berufung auf ein fremdes Urteil nie, sie nähert 
sich aber diesem Werte, um so mehr wir die angegebenen VorsichtsmaCB- 
regeln beachten, d. h. vor allem, indem wir festzustellen suchen, ob und 
-wieweit die Faktoren, durch die es entstanden ist, noch heute für uns gelten. 

MosKiEWicz (Berlin j. 

Zeitaehrifl ftr F^ekol«(fo u, 30 



466 lAtei-aturberickt. 

Hbnky Mahshall. Tlie latnre §f Fedisg. Joum. of Fhilos, Psychol etc. 3 

(2), 29-^9. 1906. 
H. N. Gabdiner. The DeflnitiOl cf FeaUBg. Ebda. (3), 57—62. 
J. RowLAKD Anoell. RoceAt DlscilBSiOB Of FeeÜAg. Ebda. (7), 169—174. 

Der erste der drei Autoren geht aus von der sprachlichen Be- 
zeichnung „Gefühl'', und da er dieselbe in den verschiedensten Fallen an- 
gewendet findet, konstatiert er als einen ihnen allen gemeinsamen Zag eine 
eigenartige Subjektivität, eine besonders innige Beziehung des als 
Gefühl bezeichneten Erlebnisses zu dem Ich des Bewufstseins : sonach 
definiert er das Gefühl als „eine bestimmte Form des Vorstellens" , die, 
„unbestimmt und unbeschreibbar in ihrem Inhalt'', bei grOfserer Deutlichkeit 
sich entpuppt als das empirische Ich, das jedermann bekannt ist. 

Ihm stellt Gabdinbb folgende andere, jedenfalls klarere Definition 
gegenüber: das Gefühl ist das unmittelbare Bewufstaein von den Ver- 
änderungen, welche das individuelle Erleben durchläuft. 

Dazu tritt an dritter Stelle die AufEassung Anoells, der zwischen 
Marshall und Gardinbb zu vermitteln sucht: nach ihm ist Gefühl „eigent- 
lich und in erster Linie zuzuschreiben der subjektiven, persönlichen Seit« 
des bewufsten Erlebens", aber gleichwohl hat diese „innere Phase des 
Bewufstseins'' auch „bestimmte, wohl zu unterscheidende Repräsentanten 
im Bewufstseinsleben" (z. B. Freude). Pbandtl (Weiden). 

R. d*Allonnes. Rtle des sensttions internes dans les emotions et dans la 
perceptlon de la darie. Reü. philos. 60 (12), s. 592—623. 1905. 

Eine Patientin klagt, keine Gemütsbewegung mehr zu fühlen und den 
Verlauf der Zeit nicht mehr wahrzunehmen. R. d*A. konstatiert bei der 
Patientin einerseits eine viscerale Hypoästhesie, andererseits bemerkt er, 
dafs die Ausdrucksbewegungen (Weinen u. dergl.) häufig vorkommen. Er 
schliefst daraus, dafs nicht die Empfindungen des Gefühlsausdrucks, sondern 
die inneren organischen Empfindungen das Gefühl ausmachen. 

Der Fall, den R. d'A. anführt, ist nicht beweisend. Es läfst sich nicht 
wegdeuten, dafs die Patientin an ihrer Apathie für alle sonst gefühls- 
erregenden Momente leidet. Die ausschliefsliche Richtung ihrer Gefühle 
auf ihren eigenen apathischen Zustand scheint in ihr die Täuschung einer 
totalen Apathie hervorzurufen, während nur eine sehr weitgehende partielle 
Apathie vorzuliegen scheint. Grobthuysbn (Berlin). 

G. Dumas. La prijngi Intellectnaliste et le prijiigi flnaliste dans lea th6ories 
de rezpreuion. Rev. philos. 60 (12), S. 561—582. 1905. 
D. stellt seine mechanisch-physiologische Erklärung des Ausdrucks 
der Gemütsbewegungen den Theorien Darwins, Spencers, Wundts entgegen, 
die die Ausdrucksbewegungen aus in früheren Generationen einmal zweck- 
mäfsigen vererbten Vorgängen oder aus Überlegungen des Individuums zu 
erklären suchen. Freude erzeugt einen Hypertonus der Muskeln, steigert 
sich der Hypertonus, so haben wir den Ausdruck des Zornes ; Trauer erzengt 
einen Hypotonud der Muskeln, mindert sich der Hypotonus, so haben wir 
den Ausdruck der Angst. D. gibt zu, dafs für viele Details der Ausdrucks- 
bewegungen man auf Erklärungen Darwiks und Wünots zurückgreifen müDste, 



Literaturbericht 467 

aber das Grandphänomen sei mechaniech-physiologisch za erklären. In 
der Tat kennt ja die Theorie D.s nur eine gröfeere oder geringere Stärke 
des Ausdrucks und kann den mannigfaltigen qualitativen Nuancen des 
Ausdrucks nicht gerecht werden. Gboethutsbm (Berlin). 

\y. M. Urban. Appreciation and Deseriptlon and the Psyohology of Yalnes. 

Phüos. Review U (6), 645—668. 1905. 
Inwiefern können die Werte und Wertdisziplinen (wie ReUgion, 
Ethik, Ästhetik usw.) Gegenstände der Psychologie sein? MüKSTERBEBa hatte 
hieranf geantwortet: gar nicht; denn Wertungen (Stellungnahmen) seien 
stets individuell und einzigartig; Psychologie habe aber nur allgemeine 
Beschreibungen der Zusammenhänge psychischer Inhalte zu geben. Diese 
scharfe Scheidung bestreitet der Verf. Sie werde schon durch die Erfahrung 
widerlegt; denn es gebe psychologische Untersuchungen über Werttatsachen, 
die nicht fortzudednzieren seien. (Verf. exemplifiziert vor allem auf die 
Arbeiten von James u. a. über die Psychologie des religiösen Erlebens.) 
Auch sei es falsch, Wertung und Beschreibung als sich ausschliefsjdnde 
Verhaltungsweisen hinzustellen; könne doch keine individuelle Wertung 
mitgeteilt werden ohne Beschreibung durch allgemeine Begriffe. Urban 
unterscheidet daher zwei Arten der Beschreibung, die wertende (appre- 
ciative) und die sachliche (scientific), dort wird durch allgemeine Begriffe 
die Deutung funktioneller Stellungnahmen, hier die Feststellung gesetz- 
mäÜBiger Beziehungen zwischen inhaltlichen Elementen vermittelt. 

W. Stebn (Breslau). 

Theodor A. Meter. Dat Fomprillllp des ScMlieB. Ärch. f, »yst Philos, 10, 
338-394. 1904. 

Nicht im Sinne der HERSARTschen Formästhetik aber doch im Gegen- 
satze zu einer einseitigen Gehaltsästhetik betont M. die Bedeutung des 
Formprinzips und nimmt damit den Standpunkt ein, den zuerst mit Klarheit 
Schiller vertreten hat, und auf den sich auch der Ref. in seiner „allgemeinen 
Ästhetik" stellte. „Wir erleben ohne Kunstwerk immer auch eine Freude 
darüber, dafs der Gehalt so voll in die Erscheinung herausgesetzt ist. Diese 
Freude ist von der Freude am Gehalt des Kunstwerks verschieden" . . . (340), 
Die von Kulpe versuchte Gleichstellung des Formprinzips mit Fbchnbrs 
„direktem Faktor" weist M. mit Recht zurück. Vielmehr beruht die Lust 
an der Form darauf, dafs die aufnehmenden sinnlich -psychischen und 
psychischen Organe in relativ mühelose und dabei doch energische Tätigkeit 
gesetzt werden. Da die Auffassung eines Objektes eine zweckbestimmte 
Tätigkeit ist, so ergibt sich für die Aneignung des Objektes die energische 
und mühelose Tätigkeit der auffassenden Organe zugleich als eine Tätigkeit 
von höchster Zweckmäfsigkeit. 

Der auf diese allgemeine Entwicklung folgende Überblick über die 
obersten Grundsätze des Formschönen ist nach der Verschiedenheit der 
auffassenden Organe angeordnet. Jedes Kunstwerk wendet sich zunächst 
an dasjenige Organ, dem sein Darstellungsmittel zugehört. Bei den bildenden 
Künsten handelte es sich hier um das Sehen. Mit Merz (Das Formgesetz 
der Plastik. Leipzig, 1892) unterscheidet Meyer hier eine niedere Stufe, 

30* 



1 



468 Literaturbericht 

der satte Farben, leuchtkräftige Farbenzusammenstellungen, weich gewundene 
Linien und neben ihnen die Horizontale und Vertikale unseres Gesichts- 
feldes angehören, und eine höhere. Denn „die einzelnen Empfindungen zu 
einem Ganzen der Anschauung zu ordnen ist das Ziel, dem unser Auge 
zustrebt" (352). Dieser höheren Stufe gehört die (kurz nach und unab- 
hängig von M£Hz) durch Hildebsand aufgestellte Forderung an, dafs die Teile 
des Kunstwerkes bequem und doch kraftvoll zur Anschauung eines räum- 
lichen, dreidimensionalen Ganzen zusammengehen. Derselbe Unterschied 
einer höheren und niederen Stufe des Formschönen wird (354) für die 
Musik gemacht. Das Darstellungsmittel der Poesie liegt nicht in Phantasie- 
bildern sondern in der Sprache. „Deshalb ist das auffassende Organ der 
Poesie nicht unser optischer und akustischer Sinn, nicht unser inneres 
Auge und Ohr, sondern unser Vorstellungsvermögen, wie wir es an der 
Sprache oben ; seine Gesetze sind im Wesen verschieden von denen unseres 
optischen und akustischen Sinns, und wenn die Poesie Bilder und schliefslich 
das Bild eines Ganzen schafft, so schafft sie Vorstellungsbilder, die in ihrer 
Gedankenhaftigkeit und Überanschaulichkeit unter ganz anderen Be- 
dingungen stehen als die Anschauungsbilder der bildenden Künste und 
der Musik" (357). Auch hier ist eine niedere und höhere Stufe unterschieden. 
Für die klangliche Schönheit der Sprache gelten nach M.s Vermutung die 
Gesetze, unter denen unsere Sprachorgane die Laute hervorbringen (360). 
Hierher gehört auch der poetische Rhythmus. „Man kann die Eigentümlich- 
keiten des Rhythmus der Poesie nicht, wie die des Rhythmus der Musik, 
aus den Gesetzen unseres Geistes ableiten, vielmehr sind sie durch die 
Bedürfnisse unserer Sprachorgane bestimmt" (362). Wichtiger ist indessen 
der starke Einflufs, den die Klanglaute der Sprache und der Rhythmus 
auf unsere inhaltliche Vorstellungstätigkeit ausüben. 

Bei aller Verschiedenheit der Organe sind die Gesetze des Form- 
schönen doch zugleich Ausdruck der einen, gleichen Natur unseres Geistes. 
So erheben sich über den einzelnen Kategorien der besonderen Kunst- 
gebiete als sie umfassend die Gesetze des allgemeinen Formschönen. Aber 
diese Gesetze haben auch neben jenen Spezifikationen ihre besondere Be- 
deutung im einzelnen Kunstwerk. Denn die Form jedes Kunstwerkes ist 
schön, sofern sie dessen geistigen Gehalt dem Verstand und der Phantasie 
kraftvoll und mühelos vermittelt. So angesehen sind die Gesetze des all- 
gemeinen Formschönen zugleich die des geistig Formschönen (364 — 365). 
Bei der Ableitung dieser Gesetze wird (366) von der alten Formel „Einheit 
in der Mannigfaltigkeit" ausgegangen. Aus ihr werden die Forderungen 
der „Kontinuität im Wechsel" (369) und der „Übersehbarkeit dep Kunst- 
werkes" (371) abgeleitet. Ebenso folgt daraus (377) die Forderung klarer 
und grofszügiger Gliederung, als deren Mittel Kontrast, Spannung sowie 
Dissonanz und deren Auflösung genannt wurden. — Ergänzend zu dieser 
abstrakten Betrachtung der Formen tritt eine andere, für die die Form das 
Mittel ist, den Gehalt des Kunstwerkes zum leichtesten und kraftvollsten 
Ausdruck zu bringen (381). Die hierdurch geforderte Adäquatheit des Aus- 
druckes ist das höchste Formprinzip, dem unter Umständen die niederen 
Stufen zum Opfer gebracht werden müssen. Besonders wirksame Modi- 



LiteraturbefHcht 469 

fikationen dieser Adäquatheit des Ausdruckes sind die Prinzipien der „Viel- 
stimmigkeit" (391) und des „kleinsten Kraftmafses'' (393). 

Die Ausfahrungen Meters leiden zum Teil unter der etwas äufser- 
liehen Trennung der „aufnehmenden Organe", die an die alte Vermögens- 
psychologie erinnert. Die höhere Stufe der „optischen" Formschönheit 
z. B. gehört ganz und gar der intellektuellen Auffassung des Gesichts- 
eindruckes an. Aber auch für die Symmetrie ist M.s Erklärung, dafs sie 
„einen starken Zwang zum Oszillieren des Blicks zwischen den symmetrischen 
Hälften" ausübt und so zur Einheitsauffassung führt (364) falsch. DaTs die 
Beziehung auf eine Mitte bei den simultanen Künsten, nicht aber bei den 
sukzessiven wesentlich ist, beruht eben auf der Verschiedenheit des Neben- 
und Nacheinander. Der Vorzug der bilateralen Symmetrie aber entstammt 
der Wichtigkeit der Schwere-Bichtung und der Analogie unserer eigenen 
Gestalt. Indessen bedeuten solche Ausstellungen nicht viel gegenüber der 
Fülle von Anregungen und Gedanken, die M. in seiner bedeutenden Ab- 
handlung gibt und die zu erschöpfen ein kurzes Referat unmöglich vermag. 

J. CoHN (Freiburg i. B.). 

Dr. Franz Jahn. Das Problem des Komischen In seiner geschichtlichen Ent- 
wicklang. Potsdam (A. Stein) o. J. 130 S. Mk. 2. 
Als Ref. eine Programmabhandlung Jahns anzeigte {diese Zeitschr. 38, 68) 
versprach er bei Gelegenheit dieses Buches etwas näher auf die Ansichten des 
Verf. einzugehen. Er bedauert, dies Versprechen nicht halten zu können — 
weil, abgesehen von der Hochschätzung des Komischen und dem allgemeinen 
Bestreben, es mit dem Lebensinhalte, d. h. dem Willen des Menschen 
in Beziehung zu setzen, diese Ansichten ihm nicht deutlich geworden sind. 
Das wäre nun an sich bei einer historischen Arbeit kein wesentlicher 
Fehler — wenn nur eine wirkliche Entwicklungsgeschichte der verschiedenen 
miteinander kämpfenden Theorien gegeben wäre. Aber J. begnügt sich 
mit äufserlicher Aneinanderreihung der Ansichten verschiedener Autoren 
der er jedesmal eine wenig prinzipielle Kritik einiger herausgerissener 
Sätze hinzufügt. Auch die Zusammenordnung der Autoren in Gruppen ist 
recht äufserlich und zum Teil ganz verfehlt. Mit Staunen findet man 
ScHOPENHAUBR uud mit noch gröfserem Bbneke unter den Vorläufern der 
spekulativen Philosophie. Wenn man den Intellektualismus dadurch charakte- 
risiert, dafs er nach dem Vorbilde Herbarts alle Bewufstseins Vorgänge auf 
Vorstellungsassoziationen zurückführt, so darf man weder Wundt noch Lipps 
unter die Intellektualisten rechnen. — Gerade in einer Geschichte der 
Theorie des Komischen hätte die anregende Wirkung grofser komischer 
Kunstwerke berücksichtigt werden müssen. Jahn scheint das gefühlt zu 
haben — doch fehlt bei der Antike die wunderbare Heiterkeit Platons, 
LsssiNOS Unterscheidung von Lachen und Verlachen hätte an das ernste 
Lustspiel (Diderot!), die Ausbildung des Humorbegriffs an Sterne angeknüpft 
werden müssen. Da auch die verschiedenen Probleme, die eine Theorie 
des Komischen zu lösen hat, nirgends scharf auseinander gehalten und in 
ihrer Verschlingung verfolgt werden, mufs man die Darstellung Jahns als 
verfehlten Versuch bezeichnen. 

Das ist um so mehr zu bedauern, als die Arbeit von grofser Liebe 



1 



470 Literaturberickt 

zur Sache und ausgebreiteter Belesenheit zeugt. Jahn hat vieles zusammen- 
getragen, was dem wahren Historiker dieses 8pezialproblems der Ästhetik 
die Arbeit erleichtem wird. Diese Bedeutung als Vorarbeit wird leider 
durch einige äufserliche Nachlässigkeiten wieder vermindert. Ärgerliche 
Druckfehler besonders in den fremdsprachlichen Zitaten sind noch weniger 
störend als der Mangel einer genauen Angabe des Standortes der Zitate. 
Denn nur aus dem Zusammenhange heraus Iftfst sich doch eine einzelne 
Stelle wirklich beurteilen, es mufs also dem Leser leicht gemacht werden, 
diesen Zusammenhang nachzusehen. — Den Äthestiker Cabriebb schreibt 
Jahn immer Cabbi^re. — Trotz aller Mängel kann mau im einzelnen vieles 
aus dem Briefe Jahns lernen; besonders als Bibliographie ist es nfitzllch. 

J. CoHN (Freiburg i. B.) 

w. H. WiNCH. Pfycbology and Philosophy of PUy. Mind 15 (57), 32—52, (58), 
177-190. 1906. 
Das Interesse des Verf. ist vorwiegend pädagogisch und kann soweit 
uns hier nicht beschäftigen. In seinen „psychologischen" und philosophischen 
Ausführungen aber bleibt er in der Hauptsache negativ — er wendet sich 
in einer ausführlichen und wohlberechtigten Polemik gegen die haupt- 
sächlichsten der bestehenden Theorien — , ohne selber in der Erklärung 
der Tätigkeit des Spielens einen wesentlichen Schritt vorwärta zu tun; 
vielmehr setzt er irgend eine Erklärung derselben schon voraus, indem er 
hauptsächlich betont, dafs das Spiel um des Spieles willen und nicht 
Mittel zu einem aufser ihm gelegenen Zwecke sei. Pbandtl (Weiden). 

J08EF Mack. Kritik der Freiheitstheorien. Eine Abhandlung über das Problem 
der Willensfreiheit. Leipzig, J. A. Barth. 1906. 287 S. Mk. 4,50. 
Mack, der sich nicht sowohl zu einer der streitenden Parteien als viel- 
mehr aufserhalb derselben stellen und die Meinungen lediglich kritische 
Revue passieren lassen möchte, schafft, obwohl er uns eine kurze Dar- 
stellung des Problems verspricht, seiner Untersuchung eine sehr breite 
Basis. Zuerst betrachtet er das Kausalgesetz und die Freiheitslehren ganz 
im allgemeinen, findet, dafs der Kern der Freiheitsfrage eigentlich die Frage 
nach der Existenz eines aufserkausalen Seins ist, und glaubt nach einem 
Vergleich der untermenschlichen Natur mit der menschlichen, dafs nur der 
Mensch es ist, bei dem an ein solches gedacht werden kann. Es folgen 
weitausgreifende, an — überflüssigen — Reminiszenzen aus der Geschichte 
der Philosophie reiche Untersuchungen über die Erklärung der ethischen 
Phänomene durch Determinismus und Indeterminismus, über den Freiheits- 
begriff im allgemeinen und die sittliche Freiheit im besonderen, die Mack 
einander bedenklich nahe rückt, über die Begriffe der logischen und der 
psychologischen Notwendigkeit, Norm und Wirklichkeit, Moralgesetz und 
blinde Instinktnatur des Menschen. Daran schliefst sich ein Versuch des 
Nachweises, dafs ein spezifisch menschliches Ich, ein nur Menschen eigen- 
tümliches Subjekt — man w^ird hier unwillkürlich an Aristotbles erinnert — 
als eventueller Träger der Freiheit tatsächlich existiert. Nach einer Charakte- 
ristik der Beweise der indeterministischen wie der deterministischen Theorie, 
der Freiheitsbegriffe, der in Betracht kommenden ethischen Phänomene 



Literaturbericht. 471 

(Schuld, Reue, Verantwortung, Strafe), gelangt er zu dem Schluls, dafs der 
Indeterminismus zwar die Bichtigkeit seiner Ansicht nicht zwingend 
beweisen könne, aber sie auch nicht zu beweisen brauche, w^eil die Freiheit 
des Willens eben eine lebendige Tatsache sei. Die Widerlegung des 
Determinismus geschieht in einer Reihe von Einzeluntersuchungen, so 
besonders über die logische Interpretation des Anders-Könnens und die 
ethischen Probleme, über das Vermögen der sittlichen Norm zu entsprechen, 
über Freiheit als Willkür, Freiheit als Werk unser selbst, Schranken der 
Freiheit und die Macht der Erziehung, Freiheit als Ursachelosigkeit, die 
Arten der Kausalität, die Strafe der Vergeltung, die Rechtslehre und das 
Problem der Freiheit, Freiheit, Kulturentwicklung und Statistik, Freiheits- 
erlebnis und deterministisches Zuschauertum. Danach wird die Freiheits- 
lehre des kritischen Idealismus, angefangen mit Kant, besprochen und zum 
Schlufs die Frage aufgeworfen: Ist die Freiheit möglich d.i. denkbar? und 
darauf die Antwort erteilt: „Warum nicht I Vernunft hat nichts dagegen 
einzuwenden, dafs auch ein freies Etwas existiert. Aber eine erkannte 

Freiheit ist unmöglich, weil sie als solche nicht Freiheit sein könnte. 

Nur als lebendige ist sie uns eigen, nur in den Erlebnissen erfahren wir 
uns. Und dies lebendige Sichregen und Schaffen und Mühen um die Er- 
haltung vermag erkennend nicht erschaut zu werden." „Freiheit ist — das 
bezeichnet der Verf. als Ergebnis seiner Untersuchung — Möglichkeit der 
Selbsterhaltung d. i. der Befriedigung der ästhetisch-ethischen Bedürfnisse 
des Subjektes. Selbsterhaltung ist Liebe, solche der eigenen und des 

Gattungsselbst. Freiheit ist die Macht der Erfüllung der Forderungen 

der eigenen Natur. Sofern der Mensch sie gebraucht, sorgt er für sittliche 
Erhaltung d. i. er liebt sich und liebt die ethische Gattung." Diese seine 
vielfach verzweigenden Ausführungen hat Verf. mit einer unglaublichen 
Fülle von Zitaten ausstaffiert, die weder nötig waren noch auch nützlich. 
Sie hindern nur die klare und glatte Entwicklung der Gedanken. Ein 
Fortschritt in der Behandlung der Freiheitsfrage ist nur möglich durch 
Ausscheidung alles irgendwie Entbehrlichen, durch möglichste Vereinfachung 
der Fragestellung, durch Verzicht auf noch so lockende Seitengänge. So 
müssen wir befürchten, dafs Mack trotz der vielen ansprechenden Gedanken, 
die sich in seinem Buche finden, das Problem nicht gefördert hat. 

Max Oppneb (München). 



Ol. Habbison Town. The Negative Aspect of Hallacinatione. A}ner. Journ. of 
Psychol. 17 (1), S. 134—136. 1906. 
Der Aufsatz wendet sich gegen die Auffassung, wonach ein Individuum, 
das eine Halluzination erlebt, unfähig sein soll, eine Empfindung oder 
Vorstellung entsprechenden Inhaltes zu haben. Nach dieser theoretischen 
Ansicht hat jeder halluzinatorische Prozefs zwei Seiten, eine positive Seite, 
die in einem halluzinatorischen Bild resultiert, und eine negative Seite, 
die nicht gleichzeitig einen anderen Eindruck durch dasselbe Zentrum 
zustande kommen läfst. Sorgfältige Beobachtungen, die in einer Irren- 
anstalt in Frankford angestellt wurden, haben Ol. T. zu der Ansicht gebracht, 
dafs der negative Faktor nicht immer erkennbar, ja in gewissen Fällen 



472 Literaturbericht. 

gar nicht vorhanden ist. Verf. sucht darum die Erkl&rung nicht in 
der funktionellen Zersplitterung der peripheren Sinnesprozesse, sondern in 
dem verschiedenen Grad und Umfang der Aufmerksamkeit. Bei Halluzi- 
nationen w&re das Charakteristische auTser dem Wegfall von konkurrierenden 
Hemmungsvorstellungen die Verengerung des Aufmerksamkeitshereiches. 

Aall (Halle). 

Sh. I. Fbanz. Tbe TfaB6 of ume Heatil Processes ii the Retardittom iii 
IxdtaBeit of IlUlity. Amer. Joum. of Fsyehol 17 (1), S. 38—68. 1906. 

Es kam dem Verf. bei der vorliegenden Untersuchung vor allem darauf 
an, aufzuklären, auf welchen Teil oder auf welche Teile des Nervensystems 
wir die gesteigerte oder verminderte psychomotorische Aktivität zurfick- 
zuf Uhren haben, die gewöhnlich bei manisch-depressivem Irrsinn vorgefunden 
wird. Es wurden zu dem Zwecke mit verschiedenen Patienten in einem 
Hospital in Waverby (Mass.) Experimente ausgeführt Bei verschiedenen 
Arten derselben wurden Messungen vorgenommen und die betreffenden 
Zeiten bei den reagierenden Subjekten festgestellt, nämlich die Zeit für 
kurze Signale, die Zeit für einfache Reaktionen auf Schall, die Zeit für 
Wahlreaktionen bei Schallreizen, die Schnelligkeit im Lesen, die Zeit für 
die Auffassung und Auswahl verschiedener Buchstaben, die Zeit für Addition, 
die Zeit für Auffassung und Verteilung von farbigen Papieren. In keinem 
Fall fand Fr. eine irgendwie konstante Beschleunigung der Reaktion. 
Charakteristisch für den manischen Zustand ist also nicht die Steigerung der 
motorischen Fähigkeit, sondern lediglich eine gesteigerte motoriache 
Dezentralisation. — Der verlangsamte Verlauf verschiedener psychischer 
Akte bei einzelnen Irrsinnigen tritt nicht so ausgeprägt hervor bei der 
Ausführung von geistigen Prozessen komplizierter Natur, wie Wahlreaktion, 
Addition u. dergl. 

Einige Experimente deuteten darauf hin, dafs bei verlangsamter Reaktion 
besonders der Spannungsreflex mit Verspätung abläuft^ und dafls gleich- 
zeitig die Hautsensibilität herabgesetzt ist. In Verbindung mit der Tmt> 
Sache, dafs während der ganzen Zeit die mentalen Prozesse keine Extra- 
beechleunigung aufweisen, deuten diese Erscheinungen wohl darauf, dafs» 
wenn eine Verminderung der Reizfähigkeit stattfindet, eine solche nicht 
prinzipiell das Gehirn, sondern eher periphere Teile des Nervensystems trifft. 

Aau. (Halle). 



473 



Namenregister. 



Fettgedinokte Seitenzahlen besieben slob auf den Verfasser einer Origlnalabbandlnng, Seiten* 

sablen mit t anf den Verfasser eines referierten Bnobes oder einer referierten Abbandlnng, 

Seitenzahlen mit * auf den Verfasser eines Referates. 



Aall 106* 120.* 130* 156.* 

457 * 460 * 472.* 
Abels, H. 268. 374. 
Abraham, O. 125.* 
Ach, N. 426. 460.t 
Ackerknecht 127.* 234.* 
Alexander 4ö3.t 
Allonnes, R. de 466.t 
Alrute, 8. 114.t 
Alter 129.* 147.* 160.* 

151.* 153.* 165.* 
Angell, J. R. 466.t 
Arnold, F. 234.t 
Aßter, E. v. 161. 106.* 

126.* 132.* 234.* 236.* 

313.* 



B. 

Baird, J. W. 112.t 
Barrovecchio, B. 237.t 
Bechterew, W. v. 96.t 

320.t 
Bell, A. 457.t 
Bennssi 308.* 309.* 
Beyer, H. 235.* 451.* 453.* 
Binet, A. 230.t 
Bleuler llO.f 
BoDnier, P. 159.t 233.t 
Bos, C. 460.t 
Botti, L. 308.t 
Bourdon, B. 302.t 
Brand, J. E. 127.t 
Brann, Th. 163.t 
Browne, Ch. E. 458.t 
Buflh, W. T. 106.t 



c. 

Calkins, M. W. 441.t 
Chamberlain, A.F. lo6.t 

460.t 
Cohn, J. 141.* 146.* 313.* 

469.* 470.* 
CJordsen, H. C. 298.* 
Cornelius, H. 18. 



Danilewsky, B. 112.t 
Dix, D. S. 112.t 
Dodge, R. 128.t 
Downey, J. E. 132.t 
Dromard 146.t 
Dürr 159.* 450.* 
Dumas, G. VSö.f 466.t 
Dunlap, K. 113.t 
Duprat 133.t 
Dyroff, A. 438.t 

E. 

Ebbinghaus 109.* 320.* 
Eisenheimer, J. 299.f 
Elkin 157.* 
Elsenhans, Th. 131.t438.* 

443.* 447.* 
Elwang 145.* 
Erdmann, E. Th. 309.t 
Ettlinger 131.* 

F. 

Ferree, C. E. 456.t 

Forti, V. 237.t 

Fran kl - Hoch wart, L. v. 

454.t 
Franz, Sh. J. 152.t 472.t 
French, F. 0. 239.t 



Freud, S. 143.t 239 t 
Frey, M. v. 114.* 

G. 

Gardiner, H. N. 466.t 
Gibson, W. R. B. 131.t 
Giessler 456.* 
Gignoux, V. 134.t 
Girard, P. 158.t 
Gomperz, H. 317.t 
Gordon, K. 133.t 
Grabowsky, A. 157.t 
JGroethuysen 128.* 131.* 
' 133.* 134.* 135.* 148.* 
! 157.* 158.* 444.* 460.* 
1 466.* 467.* 
; Gross mann, E. 4ö7.f 



Hagemann, G. 438.t 

Haies, F. N. 238.t 
: Henneberg, R. 151. f 
I Herzog, H. llO.f 
! Heymans, G. 1. 321. 233.* 



Hollands, E. H. lOö.f 
Hornbostel 237.* 



I. 

Isserlin, M. 320.t 

J. 

Jacobsohn, S. 40. 204. 
Jahn, F. 469.t 
Janet, P. 148.t 
Jensen 108.* 
JeweU, J. R. 130.t 
Johnston, Ch. H. 132.t 
Jung, C. G. 128.t 



474 



Namenregistei\ 



Kellogg, A L. 148.t 
Kern, B. 440.t 
Kiesel, A. llO.f 
Kiesow, F. 308.t 
King, I. 146.t 
Kinehmami, A. 450.f 
Kleinpeter, H. BtO.f 
Kramer. F. löO.f 
KrauBB, 8. 445.t 



La Grasserle, R. de 131.f 
Laurent, L. 126.t 
Lay, W. A. 290.t 
Leighton, J. A. IBl.f 

444.t 
Lipmann 97 * 120* 129 * 

143* 153.* 158* 441.* 

443* 
Lippe, Th. 97.t 
Lipechitz, R. 240.t 
Luquet, H. 444.t 



McDougall, W. 238.t 447.t 
MacGregor, D. 0. 112.t 
Mack, J. 470.t 
Manchester, G. 8. löö.f 
Marage, M. 236.t 
MarsliaU, H. R. 120.t 

466.t 
Martins, G. 464.* 
Masselon 133.t 
Meunier 129.t 
Meyer, A. löl.f 
Meyer, M. 114.* 128.* 

156.* 
Meyer, Th. A. 467.t 
Monroe, W. S. 129.t 
Montmorand, Brenier des 

134.t 
Moskiewicz 303.* 310.* 

317.* 319.* 465.* 
Muckenhonpt, L. 467.t 



N. 

Nagel, W. 107.t 

0. 

Offner, M. 316.t 148* 

440.* 445.* 471.* 
Oppenheim, H. 320.t 
Ostmann 452.t 



Palme, A. 444.t 
PanconcelU -Calsia, G. 

109.t 
Pfersdorf, K. 153.t 
Pflanm, Chr. D. 313.f 
Pick, A. 240.t 
Pierce, A. H. 286.t 
Piper 110.* 111.* 112.» 

113.* 300.* 802.* 451.* 
Planck, H. 147.t 
Porter, J. P. 158.t 
Prandtl 105.* 107.* 121.* 
128.* 130* 131.* 132.* 
133.* 145* 146.* 238.* 
239.* 443.* 466.* 470.* 

R. 

Rabaud, £. 154.t 
Robinson, T. R. 300.t 
Rodenwaldt, £. 319.t 
Rupp 119.* 

S. 

8chaefer, K. L. 466.* 
Scheibe, M. 239.* 
Schult«, P. 234.t 
Schnitze, E. 150.* 153.* 

154.* 
Schumann, F. 125.t 
Semon, R. lOS.f 
Siebeck, H. Ul.f 
Siegel, K. 126.t 
Sollier, P. 444.t 
Soukhanoff, S. 153.t 
Spearman, C. 114.f 



Spielmeyer 151.* 152* 

153.* 
Stadelmann, H. 150.t 
Stern, J. 157.f 
Stern, W. 444.* 467.* 
Stoops, J. D. 14o.t 
Stratton, G. M. 443.t 
Svoboda, H. 435.t 
Swift, E. J. 120.t 
Switalski, W. 466.t 

T. 

Tandler 453.t 
Thauziös, A. 159.t 
Thilly, F. 443.t 
Town, Ol. H. 4e0.t 471+ 
Trendelenburg, W. 447.* 
Truc, G. 148.t 
Tttrkel, S. 154.t 
Tufts, J. H. 166.t 

U. 

Umpfenbach 238.* 240.* 

319.* 320.* 
ürban, W. M. 467.t 
ürstein. M. 423. 



Väli, E. 451 .f 
Vayrac 455.f 
Völkel, M. 458.* 
Volkelt, J. 135.t 
Vorbrodt, G. 313.t* 

w. 

Wallaschek, R. 121.t 
Wallin, J. E. W. 303.t 
Weber, E. 134.t 
Wiersma, £. S21. 
Winch, W. H. 470.t 

Y. 

Yerkes, R. M. 106.t 

z. 

Ziehen, Th. 241. 
Zimmer 109.* 160.* 



Druok von Lippert & Co. (O. P&ta'sohe Buolidr.), Naumburg a. S. 



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