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ZEITSCHRIFT
FÜR
VOLKSWIRTSCHAFTj^SO£IALPOLITIK
/ UND
VERWALTUNG.)
ORGAN DER GESELLSCHAFT ÖSTERREICHISCHER
VOLKSWIRTE.
HERAUSGEGEBEN
VON
Eugen v. Böhm-Bawerk, Karl Theodor v. Jnama-Sternp:gg,
Ernst v. Plener.
Erster Band.
i^^^KY^S^
PRAG. WIEN. LEIPZIG.
F. TEMPSKY. F. TEMPSKY, G. FREYTAG.
BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN IN WIEN.
1892.
A^:
620830
/$./o.s-ä
ca./
Druck von Rudolf M. Uoliror in lirünn.
Inhalt des I. Bandes.
Seite
E. Böhm-Bawerk: Unsere Aufgaben , . 1
Dr. J. ^L Baernreither: Socialreform in Oesterreich 11
Dr. Emil Sax: Die Progressivsteuer 43
Dr. Fr. v. Wieser: Grossbetrieb und Produetivgenossenschaften ....... 102
Dr. Eug. Schwiedland: Die Entstehung der Hausindustrie mit Rücksicht auf
Oesterreich 146
J. Bonar: Der Gebrauch des Ausdruckes „Gesetz" in der Nationalökonomie . . . 201
V. John: Zur Methode der heutigen Social-Wissenschaft 212
A. Bräf: Ueber Meliorationscredit mit besonderer Rücksicht auf Oesterreich . . . 227
R. Zuckerkandl: Beitrag zur Dogmen-Geschichte der Schutzzollidee 249
V. Mataja: Die Reform der directen Personalsteuern in Oesterreich 377
H. V. Schullern: Die Gesetzgebung über den Gläubiger-Concurs vom Standpunkte
der Volkswirtschaft 420
K. Th. V, Inama-Sternegg: Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens;
socialgeschichtliche Betrachtungen 521
H G. Thierl: Die Abgabe der Wehrdienstfreien mit besonderer Rücksicht auf
Oesterreich-Ungarn 569.
Verhandlungen der Gesellschaft österr. Volkswirte 171, 270, 472
G. Gross: Das Gesetz, betreffend Begünstigungen für Neubauten mit Arbeiter-
wohnungen 279
G. V. Mayri Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891 . . 288
.V. Mataja: Die österreichische Währungs-Enquete 338
A. Peez: Wiener Vereinsleben 480
E. Schwiedland: Eine alte Wiener Hausindustrie 485
B. Hilse: Abänderungs-Vorschläge für die Unfallversicherung 613
K. Th. V. Inama-Sternegg: Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von
Oesterreich und Ungarn 625
Literatur:
Xordböhmische Arbeiterstatistik, H. Herkner 182
B au mb erger: Der Centralverband der Stick ereiindustrie der Ostschweiz und des
Vorarlbergs, H. Herkner . 188
Jakob A. Ries: Tschechische Cigarrenarbeiter in New- York, H. Herkner . . . 191
Trenkler: Oesterreichs Tuch- und Modewaarenfabrikation im Hinblick auf das
Jahr 18£2, H. Herkner ^ 193
Mensi Franz, Frh. v., Dr.: Die Finanzen Oesterreichs von 1701 — 1740, K. Th.
V. Inama-Sternegg 194
Thor seh Otto: Materialien zu einer Geschichte der österreichischen Staatsschulden
vor dem 18. Jahrhundert, K. Th. v. Inama-Sternegg 194
Seite
Annuario statistico Italiano, 1889—90, H. v. Scliulleru . 195
H V. Schullern: Die theor. Nationalökonomie Italiens in neuester Zeit, V. Mataja 198
J. Landesberger: Währungssj^stem und Relation, Dr. J. v. Milewski . . , , 368
W. Smart: An introduction to the theory of value on the lines of Menger, Wieser,
and Bühm-Bawerk, Robert Zukerkandl 371
G. Valenti: La teorie del Valore, Dr. v. Scliullern 372
Le Idee economiche di G. D. Romagnosi, Dr. v. Schullern . . . 374
E. Herrmann: MJniaturbilder aus dem Gebiete der Wirtschaft, Dr. v. Schullern 375
G. Anton: Geschichte der preussischen Fabriksgesetzgebung bis zu ihrer Aufnahme
durch die Reichsgewerbeordnung. Dr. E. Schwiedland 502
J. Lehr: Polit. Oekonomie in gedrängter Fassung, Dr. v. B ö h m - B a w e r k . 505
S. N. Patten: The theory of Dynamic Economy, Dr. v. Böhm-Bawerk . . . 505
H. Herkner: Die sociale Reform als Gebot des wirtschaftlichen Fortschrittes,
Dr. E. Elkan 509
A. Jäger: Die sociale Frage, Dr. v. Schullern 515
C. A. Conigliani: Note storiche sulla questione giuridica dei pagamenti, monetarii,
Dr. V. Schullern 515
E. Cossa: La diminuzione dellc ore di lavoro nei suoi rapporti con la soluzione
del problema sociale, Dr. v. Schullern 515
0. Fr. Ferraris. Principii di Scienza Bancaria, Dr. v. Schullern 516
G. Bianchi: La proprietä fondiaria e le classi rurali nel medio evo e nella et.i
moderna, Dr. v. Schullern 517
L. Cossa: Introduzione allo studio dell' economica politica, v. Böhm-Bawerk . 660
Mollat: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Staatswissenschaft; v. Juraschek 662
ülbrich: Oesterreichisches Staatsrecht, v. Juraschek 663
Walker: Die Frage der Zolleinigung mit Oesterreich- Ungarn, v. Juraschek . . 665
C. Menger: Beiträge zur Währungsfrage in Oesterreich-Ungarn, J. Grub er . . 666
Der üebergang zur Goldwährung, J. G r u b e r 666
Mataja: Grossraagazine une Kleinhandel, Elkan 668
Bücher: Die gewerblichen Betriebsformen, Schwiedland ._ 675
Zeitschriften-Uebcrsicht . 200,376,520,680
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UNSEEE AUFGABEN.
E. BOHM-BAWERK.
Selten oder nie war das Interesse für Wirtschaftsfragen, für Fragen
der Volkswirtschaft und Socialpolitik, so allgemein und lebhaft wie in unseren
Tagen. Es lässt sich dies wohl begreifen, auch ohne dass man nöthig hätte,
wie es so oft geschieht, unserer Zeit einen besonders materialistichen Zug
vorzuwerfen. Ich glaube, mit dem Herzen interessierte man sich für sein
wirtschaftliches Wohlergehen zu allen Zeiten sehr, und wahrscheinlich auch
ungefähr gleich sehr; aber man hat noch selten oder nie so viel zwingende
Veranlassung und dabei so viel Befähigung dazu gehabt, sich auch mit dem
Kopfe dafür zu interessieren, als in unserer Epoche.
Noch niemals ist die Volkswirtschaft so sehr wirkliche Volks- oder
Social Wirtschaft gewesen wie in unseren Tagen; das will bedeuten, noch
niemals ist die Wirtschaft jedes Einzelnen so sehr abhängiges Glied einer
weitverzweigten Organisation, so sehr abhängig niclit bloss von dem gewesen,
was der Einzelne selbst und die Natur für oder wider ihn thut, sondern
auch von dem, was nah und fern die Anderen thun. Vor zwei Jahren wurden
die ungarischen Landwirte um den besten Theil ihres Gewinnes von einer
guten Ernte dadurch gebracht, dass das Silber gegenüber dem Goldgelde
der Länder, in die sie ihr Getreide exportierten, im Preise stieg. Und warum
stieg das Silber im Preise? Weil jenseits des Oceans irgend ein Staat be-
schlossen hatte, allmonatlich eine gewisse Anzahl von Unzen Silbers für
Rechnung des Staates anzukaufen. Wenn vor 100 Jahren der Landwirt die
Ursachen seines Wohl und Wehe überdachte, so kam er auf gutes und
schlechtes Wetter, dann vielleicht noch auf Steuern und Krieg zu sinnen;
heute drängt sich der Schutzzoll und die Währungsfrage und Amerika in
seine Ueberlegung hinein. Vor Alters wurden sodann die künstlichen Maass-
regeln der Volkswirtschaftspolitik, an denen es ja niemals fehlte, in der
Heimlichkeit der Kanzleistuben von Wenigen berathen und beschlossen; in
unserer Zeit der constitutionellen Verfassungen spielt sich die Volks Wirtschafts-
politik vor der breitesten Oeffentlichkeit ab, wobei tausend Gelegenheiten und
Anregungen geboten werden, das Pro und Contra, die verwickelten Zusammen-
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. I. Heft. 1
2 Bühm-Bawerk.
häno-e und Wirkungen in aller Ausführlichkeit zu bedenken und zu erörtern.
Seit hundert Jahren hat sich weiter auch die wirtschafts- wissenschaftliche
Bildung, die vordem ein seltener Besitz war, allmählich breiteren Schichten
mitgetheilt. Freilich nicht immer ganz rein und lauter; und zumal ist es
die socialistische Lehre, die in unseren Tagen für ihre zum Theil höchst
fragwürdigen Ansichten in den breitesten volksthümlichen Schichten theils
Zustimmung, theils Widerspruch gefunden, jedenfalls aber das lebhafteste
Interesse und eine nimmermehr rastende Gedankenbewegung über die volks-
wirtschaftlichen Probleme hervorgerufen hat. Und endlich noch eines: die
gewaltigen Umwälzungen, welche während der letzten Menschenalter die
Productions- und Verkehrsbedingungen durch Maschinen und Eisenbahnen
erfuhren, in Verbindung mit so vielen anderen grossen und kleinen Neue-
rungen auf wirtschaftlichem, auf culturellem, auf politischem Gebiete, die
sich zufällig oder nothwendig mit jenen Umwälzungen zusammenmischten,
haben unsere alten wirtschaftlichen Organisationsformen zu altmodischen
gemacht. Sie sind wie beengende Kleider geworden, denen der mit einem
gewaltigen Euck sich entwickelnde Wirtschaftskörper entwachsen ist, und die
an allen Nähten knacken und platzen. Die neue Zeit braucht neue Formen,
und diese müssen wir mitten im Gedränge der Tagesgeschäfte uns suchen.
So thürmen sich die wirtschaftlichen und socialpolitischen Aufgaben
unserer Zeit gleichsam in dreifachem Aufbau. Da sind erstens die tausend
laufenden Sorgen und Schmerzen des Tages: hier eine Valutaregulierung,
dort ein Handelsvertrag, da wieder ein Wuchergesetz oder eine Vorkehrung
gegen Kinderpest oder Eeblaus, oder eine Flussregulierung: Angelegenheiten,
die alle für ihren Tag und für ihr Land hochbedeutend und würdig sind,
mit der besten Kraft und Sorgfalt besorgt zu werden, die aber „sub specie
aeternitatis " betrachtet doch nur die kleinen Episoden im Schauspiele der
wirtschaftlichen Menschheitsentwicklung darstellen. Da sind zweitens die
Aufgaben der neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisation,
oft als solche gar nicht erkannt, oft an die unbedeutendsten Tagesfragen
anknüpfend, aber jederzeit von weitreichender Dauerwirkung und von um
so grösserer Schwierigkeit, als uns hier kein Athemholen und kein phleg-
matisches Zuwarten bis auf geklärte ruhige Zeiten gegönnt ist, sondern
wir unsere Entschliessungen noch mitten im Drang derselben Bewegung
fassen müssen, welche soeben die alten Formen gesprengt hat und von
der wir noch nicht wissen, sondern nur ahnen können, wie weit und in
welcher Richtung sie uns führen wird. Und darüber endlich stellt sich die
grösste, andauerndste und gleichbleibendste aller socialpolitischen Aufgaben,
welche jedes Jahrhundert auf seiner Tagesordnung gefunden hat und linden
wird, welche aber, wie mir scheint, gerade unsere Zeit um eine starke Linie
vorwärts zu rücken befähigt und berufen ist: die Aufgabe, die Segnungen der
wirtschaftlichen und technischen Fortschritte der Emporhebung des Daseins
der breiten Massen der Bevölkerung dienstbar zu machen. Die sprunghafte
Entwicklung unserer Productionstechnik gibt uns die Befähigung; die schönen
Anläufe, die unsere sociale Gesetzgebung mit Arbeiterschutz, Normalarbeitstag,
Unsere Aufgaben. 3
ArbeiterversicheruDg genommen hat, zeigen, dass wir unseren Beruf dazu
erkannt haben. Aber die gesunde Ausgestaltung, die sich gleich weit von
falschen^ unerreichbaren Idealen, wie von einer in mürrischem Pessimismus
wurzelnden Unthätigkeit hält, wird uns noch lange und viel zu denken geben.
So stellt das wirtschaftliche Bingen und Gestalten in unseren Tagen ein
ungeheures Schauspiel dar, in das wir alle in mehrfacher Eigenschaft verflochten
sind: wir alle sind mitberührt mit unseren praktischen Interessen — res nostra
agitur ! — und wir alle fast nehmen, Dank der Publicität der Erörterung und Dank
der universell verbreiteten Kenntnis der Probleme, unseren geistigen Theil an
der Gedankenbewegung; wir sind zugleich thätige oder leidende Helden des
Schauspiels, beschauendes Publicum und eifrige und gestrenge Kunstrichter.
Und unsere Zeitschrift?
Die Aufgaben unserer Zeit sind auch die Aufgaben unserer Zeitschrift,
die sie -auf ihre Weise befördern soll. Auf ihre Weise: ganz anders als ein
Buch, und ganz anders als ein Staatsmann. Man schreibt ein Buch oder
schreitet ans Handeln, wenn man in einer Sache mit sich klar und fertig
ist. Buch oder Staatsaction werden immer ein scharfes individuelles Ge-
präge haben; in sich abgeschlossen, consequent, ein bisschen einseitig, wie
es jedes Individuum ist, ein bisschen unduldsam, wie es jeder sein muss,
der eine bestimmte Meinung zum Siege führen will. Eine Zeitschrift, die
ihren Beruf versteht, muss dagegen ein lebendiger Protest gegen alle Ein-
seitigkeit und Unduldsamkeit sein. Schon deshalb, weil ja ihr Lebens-
element die Fragen der Zeit, die drängenden, gährenden Fragen sind, für
die es noch keine patentierte Lösung gibt. In dem Augenblicke, als eine
Frage reif wird für das Compendium, verschwindet sie aus der Zeitschrift.
Diese ist nichts weniger als eine Bühne, von der herab die fertigen, ge-
fundenen Wahrheiten in Monologen verkündigt werden, sondern vor allem
eine Stätte, an der eifrig gesucht wird, und wo es sich geziemt, willig
nach rechts und links zu horchen, was etwa die Mitsuchenden gesehen oder
entdeckt haben mögen.
Unsere Zeit steht unter dem Zeichen der Arbeithsteilung. Wir verein-
seitigen uns, um auf beschränktem Feld Meister zu werden. Wir verein-
seitigen uns überall: nicht bloss in den Werkstätten unserer Grossindustrie,
aus welcher die Lehrbücher der Nationalökonomie seit hundert Jahren die
classischen und traditionellen Beispiele der vereinseitigenden Arbeitsth eilung
zu holen lieben, sondern wir specialisieren uns in jedwedem Lebensberufe, und
nicht am wenigsten in der Wissenschaft. Ist es doch schon so weit gekommen,
dass fast kein Lebender mehr imstande ist, ein Lehrbuch der Nationalökonomie
zu verfassen, weil jeder einzelne Nationalökonom nur einzelne Zweige dieser
Wissenschaft beherrscht! Und wir leiden auch ohne Frage unter jenerVereinseiti-
gung. Es geht uns wie Kurzsichtigen, die ein gewisses, beschränktes und dem
Auge nahegerücktes Sehfeld mit ausgezeichneter Deutlichkeit, alles übrige aber
nur verschwommen sehen, und wenn sie einen Blick ins Weite thun wollen,
einer Brille bedürfen. Zum Glück gibt es auch geistige Brillen für uns ein-
seitige Leute. Solche Brillen sind z. B. die grossen, von vielen Autoren
1*
4 Böhni-Bawerk.
zusammen gearbeiteten Hand- und Lehrbücher unserer Wissenschaft, sind
die Conversationslexika und nicht am wenigsten die Zeitschriften.
Es ist erstaunlich, wie viel ein Kind unserer Zeit, wenn es als Staats-
mann oder Volksmann oder Gelehrter oder Interessent an den wirtschaftlichen
und socialpolitischen Problemen arbeitet, wissen und verstehen muss. Das
Geringste ist. dass er über den jeweiligen Gegenstand Sachkenntnis und
Erfahrung besitzen muss. Aber er muss weiter, da seine unmittelbare
Anschauung nicht weit genug reicht, sie verallgemeinern und ergänzen durch
die Aufzeichnungen der zeitgenössischen Statistik. Er muss, um den ein-
zuschlagenden Gang der Entwicklung zu beurtheilen, die vergangenen
Entwicklungsphasen übersehen und verstehen; er muss also nicht bloss
Statistiker, sondern auch Historiker sein. Natürlich, muss er auch gesetzes-
kundig sein, und, da auch hier fast alles , schon einmal dagewesen ^ so ist
eine umfassende vergleichende Gesetzeskenntnis der verschiedenen Staaten
fast unerlässlich. Dass man auch einen gründlichen und tiefen Einblick in
die Verkettung von Ursache und Wirkung, also ein theoretisches Verständnis
haben soll, ist selbstverständlich. Und alles das, Theoretiker, Statistiker,
Historiker, Gesetzeskenner soll man heute für die Frage der Erfindungspatente,
morgen für die des bäuerlichen Erbrechtes, übermorgen für Geld- oder Währungs-
fragen, oder für Versicherungszwang, oder für Einigungsämter, oder für Eisen-
bahntarife und Dutzende oder Hunderte von anderen heterogenen Fragen sein !
Nun, was kein Einzelner allein weiss, das wissen wir Alle zusammen,
und das kann, wenn sie den richtigen lebendigen Contact mit dem geistigen
Leben ihrer Zeit hat, zur richtigen Stunde die ^Zeitschrift" wissen. Sie
soll, was unserer Zeit und unserem Lande frommt, aus dem Vollen und
Unmittelbaren nehmen und geben. Keine engherzige Zunftschranke soll
gezogen werden. Die vielseitigen Interessen, Kenntnisse, Anschauungen, die
über die zeitbewegenden Probleme unter uns verbreitet sind, sollen sich in
der Zeitschrift begegnen und durchkreuzen; nicht um schiesslich wie in
einer trockenen Sammlung, wie in einem Naturalien-Cabinet oder in einem
Conversationslexikon einfach nebeneinanderzustehen, sondern damit das
aufeinandertreffende Vielerlei, frisch und bildsam, wie es soeben hervor-
gekommen ist, sich sofort auch wechselseitig berichtige, befördere und
befruchte^. Insbesondere aber soll die Zeitschrift eine Stätte sein für die
befruchtende Verbindung zweier Elemente, die unsere Arbeitstheilung immer
weiter von einander trennt, während sie doch in jedem Betracht aufeinander
angewiesen sind: die Theorie und die Praxis.
Es hiesse Eulen nach Athen tragen, wollte ich heute noch beweisen
oder begründen, was eine erleuchtende Theorie für die Praxis bedeutet. Ich
könnte durch keinen Beweis die einfache Thatsache überbieten, dass unser
genialer Finanzpraktiker Hock vor 30 Jahren seinem ausgezeichneten Werke
über „die ööentlichen Abgaben und Schulden" als Motto die alten Worte
ßoyer-Collards voranstellte: „Die Theorie als überflüssig erklären, heisst
den Hochmuth haben, man brauche nicht zu wissen, was man sagt, wenn man
spricht, und was man thut, wenn man handelt." Wenn ich mir daher auch
Unsere Aufgaben. 5
meinerseits dasselbe Thema zu berühren gestattete, so geschieht es nur um ein
paar aphoristische Bemerkungen zu demselben vorzubringen, in denen die Auf-
merksamkeit auf einige wenige specielle Momente gelenkt werden soll, von denen
ich es für nützlich halte, wenn sie heute und hier ans Licht gezogen werden.
Als einer der glücklichsten Einfälle des einfallreichen Basti at ist mir
immer das Motto seiner Schrift erschienen: „Ce qu'on voit et ce qu'on ne
voit pas." Es bezeichnet in unübertrefflicher Weise einen der wichtigsten
Dienste, welche die Theorie der Praxis zu leisten berufen ist. Die Praxis
hat gute, scharfe Augen, und von dem, „was man sieht," lässt sie sich
gewiss nichts entgehen. Aber man sieht eben nicht alles. Und oft genug
birgt das, „was man nicht sieht", die abgewendete Kehrseite, gerade das
wahre und entscheidende Wesen der Dinge. Ein Beispiel statt vieler. Was
man sieht, sind überall beschäftigungslose Arbeiter. Der Sinneseindruck zeigt
„zu viel Arbeitskräfte." Was man nicht sieht, aber sehen sollte, ist, dass
in Wahrheit viel zu wenig Arbeitskraft verfügbar ist; viel zu wenig im
Verhältnis zur Ausdehnung unserer Bedürfnisse und Wohlfahrtsaufgaben.
Warum lässt man so viele noth wendige und nützliche Werke ungethan?
Warum baut man nicht mit einem Schlage alle die Eisenbahnen und Schiff-
fahrtscanäle, auf die seit Jahren und Jahrzehnten so viele berechtigte
Begehrlichkeit sich richtet? Warum vervielfältigt man die neu erfundenen
vollkommenen Maschinen und W^erkzeuge nicht in solcher Zahl, dass auch
der letzte Handwerker oder Bauer sich ihrer bedienen könnte, der jetzt mit
altvaterischem, unvollkommenem Rüstzeug sich behelfen muss? Oder um
es ganz kurz und geradeaus zu sagen: warum erzeugt man von aller
Lebensnothdurft, mit welcher die enorme Mehrheit unserer Volksgenossen
doch nur so unzulänglich versorgt ist, nicht die doppelte und dreifache
Menge, mit der alle Blossen zu bedecken, alle Noth zu stillen wäre? Die
Antwort auf alle diese Fragen lautet ebenso pinfach als bestimmt: „Weil in
letzter Linie zu wenig Hände da sind." Würden heute jedem von uns zwei
neue Hände zuwachsen, so könnten wir von morgen an uns mit allem doppelt
so reichlich versorgen als bisher, und müssig zu gehen brauchte aus Mangel
an nützlichen Aufgaben so wenig irgend jemand, als er es heute aus diesem
Grunde zu thun braucht. Die Beschäftigungslosigkeit stammt niclit daher,
dass im ganzen zu wenig Beschäftigungsgelegenheit und zu viel Arbeit da
ist, sondern lediglich daher, dass in jeder verwickelten Organisation — und
unsere arbeitstheilige Volkswirtschaft verdient dieses Prädicat gewiss vollauf
— durch die nie fehlenden Organisationsstörungen es immer Ausgeschlossene
gibt und geben wird; geradeso wie in einem kämpfenden Heer, das numerisch
gegenüber dem überlegenen Gegner im ganzen viel zu wenig stark ist, es
doch immer einzelne Punkte und Augenblicke geben wird, in denen ein
störendes Gedränge, ein „zu viel" von Mannschaft sich fühlbar macht!
Nun, „was man nicht sieht," das soll eben die Theorie der Praxis
zeigen. Nebenbei bemerkt, in der Erfüllung dieser Aufgabe können und
sollen sich alle Methoden der Forschung brüderlich die Hand reichen. Statt
streitend zu rivalisieren, wie es leider in den Socialwissenschaften eine Zeit
(3 Buhm-Bawerk.
lang Mode geworden ist, sollten sie vielmehr fraternisieren. Die exclusiv
gestellte Frage: soll man inductiv, oder deductiv, soll man historisch-
statistisch oder abstract Theorie treiben, kommt mir immer ein wenig so
vor. als wenn in einer Druckerei die Setzer und die Drucker in Streit ge-
rathen und die grosse Principienfrage aufwerfen wollten, ob in einer Druckerei
gesetzt oder gedruckt werden solle? Es ist einfach ein Phänomen der
Arbeitsth eilung, welche die grossen berechtigten Methoden der Forschung
in den Socialwissenschaften ebenso trennt, aber auch wieder verbinden soll,
wie die Hantierungen in den Gewerben. Jede Methode, die überhaupt ver-
nünftig gehandhabt wird, hat ihre eigenthümlichen Vorzüge und Schwächen,
und demnach ein ihr besonders zusagendes Arbeitsfeld. Das zeigt sich auch
an jener Thätigkeit, von der wir eben reden, am Aufweisen dessen „was
man nicht sieht." Wenn es mir gestattet ist in Schlagworten zu reden, die
freilich nie ganz genau zutreffen, so möchte ich sagen: dem Praktiker, der
das sieht, was um ihn her auf der Lebensbühne sich zuträgt, soll der
Statistiker zeigen, was man nicht hier sieht; der Historiker, was man
nicht mehr sieht, und der abstracto Theoretiker — ich nehme das Wort
abstract ungern in den Mund, weil man daran gerne die unliebsame Neben-
vorstellung von etwas Unpraktischem oder in den Wolken Schwebendem
knüpft — also der sogenannte abstracto Theoretiker, wenn er seine Sache
richtig versteht, soll das, was man immer nur von der Theaterseite zu
sehen pflegt, von der Coulissenseite zeigen, befreit von Blendwerk, Schminke
und täuschendem Schein. Er soll beileibe nicht etwas sehen wollen, was nicht
da ist, was nicht auf Erden sondern im .Begriffshimmel'' sich zuträgt; ganz
im Gegentheile, er soll höchlich realistisch und es soll seine Stärke sein,
die Dinge, wie sie sind, und zwar von seinem allgemeineren Standpunkt
aus nur desto besser, vollständiger und wahrer zu sehen. Freilich es gibt
überall falsche Propheten, und so hat auch mancher unter dem tönenden
Titel eines wissenschaftlichen Systems, statt bescheiden Thatsachen ihr Ge-
heimnis abzulauschen, der Welt die unfruchtbaren Geheimnisse seiner ei-
genen Denkerphantasie verkündigt. Aber wer wollte den Wert einer Kunst
nach den Erzeugnissen derjenigen beurtheilen, die ihre Kunst nicht verstehen?
Richtig sehen ist also eine Sache, in der die Praxis von der gesun-
den Theorie eine Unterstützung empfangen kann, und zwar eine Sache, deren
Wert nicht hoch genug anzuschlagen ist. Denn richtig sehen bedeutet in
Fällen, wo uns irgend ein Uebel bedrückt, richtig diagnosticieren, und dies
wieder bedeutet, ein richtiges Heilverfahren einschlagen oder sich wenigstens
eines falschen Verfahrens enthalten. Um es an dem obigen concreten Beispiel
zu illustrieren. Ich habe unlängst ein eathusiastischesPlaidoyer eines wackeren
Praktikers zugunsten der Modethorheiten gelesen. Sei die Mode thöricht.
wie sie wolle, w^enn sie nur rasch wechselt und dadurch die Erzeugnisse der
letzten Modephase recht rasch wieder unbrauchbar macht, so hat sie sich schon
ein Verdienst um die Volkswirtschaft erworben; warum? weil desto mehr
Hände in der unausgesetzten Erneuerung der Modeartikel Beschäftigung finden!
Das wäre vollkommen richtig, wenn das Uebel mit dem wir in unserer
Unsere Aufgaben. 7
Wirtschaft zu kämpfen haben, Messe: „Zu viel Hände, zu viel Arbeitskraft."
Es ist aber grundfalsch, wenn und weil das Uebel in Wahrheit heisst: „zu
wenig Hände!" Um es recht zu verstehen: wir besitzen in jeder Volkswirt-
schaft wirklich eine Anzahl überzähliger Hände; das sind aber nur, wie schon
oben angedeutet, die durch eine Störung aus der arbeitstheiligen Organi-
sation momentan Ausgeschlossenen, die Stellungslosen, „Vazirenden." Wer
diesen Beschäftigung gibt, übt wirklich Segen, selbst wenn es keine sehr
nützliche Beschäftigung wäre: denn sie werden dadurch wenigstens keiner
nützlicheren entzogen, xiber die Modearbeiter sind keine zusammengerafften
Marodeure, sondern ein Theil der wohlorganisierten Kerntruppen unserer Pro-
ductionsarmee; und diesen Theil nutzlos vermehren, nur damit die Modethor-
heiten in einem rascheren Wechsel sich folgen können, bedeutet nichts anderes
als wenn man von einem ohnedies schwachen Heere in der Stunde des Kampfes
ein paar Kegimenter zu müssigen Paradeübungen abcommandieren wollte !
Nebenbei bemerkt: Stoff zu ähnlichen Berichtigungen, täuschender
Eindrücke gibt es in Hülle und Fülle. Es ist eigentlich erstaunlich, wie
wenig lebenswahr wir trotz einer hundertjährigen Entwickelung unserer
Wirtschaftswissenschaft die alltäglichsten wirtschaftlichen Begebenheiten an-
zusehen und aufzufassen gelernt haben. Hundert Jahre nachdem unsere
Wissenschaft den Mercantilismus und die Geldverhimmelung abgeschworen
hat, sind wir unbewnsst noch immer vollgepfropft mit Anschauungen, die
in gerader Linie vom Mercantilismus abstammen. Die Geldform des Verkehres
bildet, wenn wir nur aufrichtig unser Gewissen erforschen wollen, noch
immer für die meisten von uns — nicht bloss Praktiker, sondern auch Theore-
tiker — einen Schleier, der uns verhindert die Dinge genau so zu sehen, wie sie
sind. Mit den Lippen bekennen wir allerhand correcte Lehrsatzformeln, aber
die ihnen zugehörige Vorstellungswelt baut sich nicht so klar und plastisch vor
unserem geistigen Auge auf, als dass sie im Stande wäre, die aus einer fi-üheren
Auffassungsweise stammenden Vorstellungen aus unserer Seele gänzlich und
endgiltig zu verdrängen, und so hängen und geben wir in unbewachten Augen
blicken unzähligemale Eindrücken nach, die aus einer fehlerhaften und veral-
teten Auffassungsweise herstammen. Hier ist noch ausserordentlich viel in
Theorie und Praxis zu thun. und vielleicht wird gerade der innige Wechsel-
verkehr von Theorie und Praxis,- dessen Stätte diese Zeitschrift werden
soll, Bedürfnis und Gelegenheit zu Fortschritten in einer wahrhaft reali-
stischen Auffassung der Wirtschaftsphänomene bieten.
Lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Bild. Wenn wir
die ungeheuere und vielgestaltige Menge redlicher Bemühungen überblicken,
die sich in unserer Zeit die Hebung der Lage der armen und nothleidenden
Classen zum Ziele setzen, so kann sich uns keine wichtigere aber auch
keine bangere Frage auf die Lippen drängen als die Frage : ist es nicht
eine Danaidenarbeit, die wir thun? Freilich, wir versorgen die Armen von
heute und verschaffen, wenn es gut geht, den Arbeitern von heute einen
höheren Lohn. Aber denken wir an Malthus und sein vielberufenes Gesetz!
Kann nicht und wird nicht morgen oder Ober 50 oder über 100 Jahre die
<^ Böhm-Bawerk.
Zunahme der arbeitenden Bevölkerung alle Errungenschaften der Humanität
wieder zu nichte machen ? Wird nicht eine etwas stärkere Welle des Arbeiter-
angebotes alle Lohnerhöhungen wieder hinwegspülen und damit eine künf-
tige Arbeitergeneration wieder so elend werden, als ob wir Leute vom „fin
de siecle** uns um das Arbeiterwohl gar nie bekümmert hätten?
Die Theorie wird uns auf diese Frage nicht bloss eine Antwort, son-
dern auch einen Fingerzeig geben. Sie wird uns, glaube ich, auch wenn sie
nicht blind malthusianistisch ist, zunächst sagen müssen, dass von unseren
nützlichen und humanen Werken viele wirklich in den Sand gebaut sind.
Alles z. B., was nur auf den Lohnvertrag gebaut ist, ist in den Sand
gebaut. Hier gilt das Wort von der erhöhten Angebotswelle, die mit dem
höheren Lohn auch den Wohlstand der Ai'beiterclassen wieder hinwegspülen
kann. Wohl gemerkt: nicht gerade hinwegspülen muss, aber in jedem
Augenblick hinwegspülen kann. Ungeänderte Erhaltung wäre Zufallsgunst,
auf die zu rechnen nicht erlaubt ist. Auch alles das, was nur auf Yerwohl-
feilung der Lebensbedingungen gerichtet ist — so segensreich diese Be-
strebungen für die lebende Generation auch sein mögen — ist in den
Sand gebaut. Die Wellen von Angebot und Nachfrage werden, eines fernen
Tages vielleicht, aber doch irgend eines Tages auch damit ihr Spiel treiben.
Damit will nicht im mindesten gesagt sein, als ob jene Bestrebungen, die
nur einen ephemeren Nutzen stiften, wertlos oder entbehrlich wären. Das
Leben einer Generation emporgehoben, die Entwicklung der Kräfte, die in
einer Generation ruhen, befördert zu haben, ist fürwahr ein Ziel, edel und
lockend genug. Aber unstreitig wäre es ein noch erhebenderer Gedanke,
Segenskeime zu pflanzen, welche die Generationen überdauern. Und auch
das ist uns beschieden. Wir müssen nur eine Art social-politisches Kunst-
stück treffen: wir müssen bei unseren Verbesserungen irgend einen geschickten
Anker auswerfen, durch den wir sie an einem Punkte festzuklammern wissen,
der nicht dem Wellenspiele von Angebot und Nachfrage unterworfen ist.
Ich will dieses Thema, über das noch wenig gesagt und viel zu sagen ist,
nicht weit ausspinnen. Genug, es gibt solche Punkte, und was das erfreu-
lichste ist, gerade die social -reformatorischen Bestrebungen der jüngsten
Zeit haben si^ mit glücklichem Wurfe zu treffen verstanden. Was unsere
Ai'beiterversicherung, die Kranken-, Unfalls- und namentlich die Alters-
Versicherung der Arbeiter bezweckt, ist im Grunde genommen nichts anderes
als eine Lohnerhöhung, als eine Erhöhung der Gesammtsumme, mit welcher
die Dienste eines Arbeiterlebens von der Gesellschaft vergolten werden.
Aber indem man diese Lohnerhöhung aus der Lohnform aus- und in die
Versiciierungsform einkleidete, hat man sie in ebenso geschickter als glück-
licher Weise allen Fährlichkeiten des Lohnkampfes entrückt und gleichsam
auf ein festes Eiland gerettet, auf welchem sie auch in den schwersten
Stürmen, die die Zukunft bringen mag, nach menschlicher Voraussicht dem
arbeitenden Volke geborgen bleiben. Oder: gesunde Wohn- und Arbeits-
stätten, ausreichende Müsse für die eigene Erholung und Bildung, tüchtiger
Unterricht für die Kinder sind Vortheile, die durch Wohlhabenheit erlangt.
Unsere Aufgaben. 9
durch Armut und Noth verloren zu werden pflegen. Ewige Wohlhabenheit
können wir künftigen Arbeitergenerationen leider nicht garantieren, aber wir
können versuchen und haben versucht, jene Vortheile von der Vorbedingung
der Wohlhabenheit loszulösen und auf diese Weise gegen alle Wechselfälle
sicherzustellen durch Fabrikshygiene und Arbeiterhäuser, durch Gesetze über
Normalarbeitstag und Sonntagsruhe, allgemeine Schulpflicht und unentgelt-
lichen Unterricht. Noch stehen wir am Anfange solchen Beginnens; noch
lässt sich gar nicht absehen, wie viel sich auf diesem Felde wirken lässt.
So viel aber ist gewiss : wenn irgend etwas wirklich wichtig ist, so ist es,
dass wir dem Guten, das wir etwa stiften können, gesicherte Dauer yer-
leihen. Und darum dürfen wir auf diesem Felde nichts dem Zufall über-
lassen, sondern wir sollen uns bei Zeiten daran gewöhnen, neben den vielen
anderen Fragen, die wir an die Theorie zu stellen haben, bei unseren social-
politischen Verbesserungen mit bewusstester Ueberlegung jedesmal auch die
Frage der Dauer zu stellen, um dann, ohne im mindesten das gering zu
schätzen oder zu vernachlässigen, was die Noth oder der Vortheil des
Augenblickes erheischt, in unsere Verbesserungen nach Möglichkeit jedesmal
einen Einschlag einzuweben, der ihnen bleibende Dauer verheisst.
Die abgesagteste Feindin der Dauer ist die Mode. Frivol wie sie ist
sucht sie auch die ernsthaftesten und wichtigsten Angelegenheiten unter
ihr flatterhaftes Scepter zu beugen, und so sind auch die inhaltsschweren
Aufgaben der Socialpolitik gegen ihr berückendes Spiel nicht gefeit. Sie sind
es umsoweniger, als Mode und ernsthafte Neuerung gewöhnlich zu Beginn im
gleichen Gewände aufzutreten, und wir meist erst hinterher, wenn sie rascli
vorübereilend uns schon wieder den Kücken gekehrt hat, zu erkennen pflegen,
dass es der Kobold Mode war, der uns wieder einmal geneckt hat. Sowie in der
Medicin bald das Cocain und bald das Kochin, bald das Antipyrin und bald
das Salicyl, bald die Elektricität und bald das kalte Wasser eine Zeit lang
als wunderwirkende Panacce gepriesen werden, um bald in die Reihe und den
Kang gewöhnlicher Heilmittel von bestimmt begrenzter Anwendbarkeit zurück-
zutreten, so geht es auch mit mancher vielgepriesenen wirtschaftlichen Panacee;
und wenn irgend ein Decennium alles Heil nur von wirtschaftlicher Freiheit
auf allen Gebieten, von Handelsfreiheit, Gewerbefreiheit, Verkehrsfreiheit,
Wucherfreiheit, ein folgendes Decennium dasselbe Heil aber ebenso ein-
müthig von Schutzzoll, Reglementierung und Gebundenheit erwartet; wenn
abwechselnd Colonien oder Cartelle in den Himmel erhoben und wieder ver-
flucht werden, so steckt in allen diesen Extremen weit mehr von ansteckender
Modelaune, als wir in dem Augenblicke, in dem wir von der Modekrankheit
gerade besessen sind, uns träumen lassen oder zuzugestehen geneigt sind.
Nun, förderlich sind die Modesprünge für die grossen socialpolitischen
Werke gerade nicht, und wir hätten alle Ursache dem dankbar zu sein, der
uns rechtzeitig erkennnen lässt, was nur im Kreis herumtreibende Mode,
und was auf das Ziel zuführender wirklicher Fortschritt ist.
Hier, glaube ich, ist wieder ein Punkt, an dem die Theorie der Praiis
wichtige Dienste leisten kann und soll. Gestützt auf die hundertjährigen
l Q Bühm-Bawerk.
Erfahrungen, die sich in ihr verkörpern und verwerten, berufsmässig geübt,
nüchtern und leidenschaftslos die Thatsachen zu untersuchen und aus dem
Wandel der Erscheinungen den dauernden Kern herauszulösen, besitzt die
Theorie eine weit grössere Befähigung die Wetterlaunen der Mode als solche
zu diagnosticieren, als der Praktiker, der mitten in der Tagesströmung steht.
Freilich, ganz über die Mode erhaben ist auch die Wissenschaft selbst nicht,
und die wissenschaftliche Bewegung z. B., welche die Methoden -der social-
wissenschaftlichen Forschung w^ährend der letzten Jahrzehnte zum Gegenstand
hatte, hätte nach meiner Ansicht kaum so schroff von einem Extrem ins
andere geführt, wenn nicht auch hier die Mode sich eingemischt und mit
dem ihr eigen thümlichen jähen und gewaltsamen Schwünge die natürliche
Bewegung über das Ziel gerissen hätte.
unser flüchtiger Streifzug hat uns bis jetzt stets solche Beziehungen
zwischen Theorie und Praxis vor Augen gestellt, in welchen die Theorie
überwiegend als Geberin erschien. Die Theorie gibt aber nicht nur der
Praxis, sondern sie nimmt auch von ihr. Sie empfängt von ihr im grossen
und im kleinen. Im kleinen nimmt sie unzählige Erfahrungen, Beobachtungen
und Kenntnisse auf, mit denen sie ihr Erkenntnismateriale bereichert und
berichtigt. Im grossen aber empfängt sie vom Leben ihre Stoffe und ihre
bewegenden Impulse: ihre Probleme und zugleich diejenige Herzenswärme,
ohne die man grosse sociale Probleme nicht behandeln kann und soll. In
anderen Wissenschaften mag es anders sein. In den socialen Wissenschaften
geht das Herz dem Kopf voran. Die grossen theoretischen Probleme unserer
Wissenschaft hat beinahe nie das kalte theoretische Interesse, der Erkenntnis-
drang nur um der wissenschaftlichen Einsicht w^illen, sondern beinahe immer
die praktische Noth zur Discussion gestellt. So war es vor Jahrhunderten
und so ist es heute. Vor Jahrhunderten hat die Theorie des Geldes an den
Calamitäten mittelalterlichen Geldwesens, die grosse canönistische Zins-
literatur am Wucherwesen sich entwickelt. In unseren Tagen ist es das
Schicksal der arbeitenden Classen, des emporgewachsenen ,, äderten Standes",
welches wie ein Magnet die Theoretiker anzieht; „Capital und Arbeit' ist
das Leitmotiv der nationalökonomischen Theorie des 19. Jahrhunderts
geworden, aber nur, weil es zuvor das Leitmotiv unserer praktischen
Interessen, Leiden und Conflicte war. Und so wird es immer sein. Die
Lebenspraxis warft der Theorie einen Stoff nach dem anderen in den Weg.
Die Theorie greift sie alle ohne Wahl auf durchforscht sie, bereichert und
berichtigt sich an jedem einzelnen von ihnen, an dem einen wenig, an dem
anderen viel, und ringt sich so an ihnen langsam und allmählich zu einer
immer vollkommeneren Erkenntnis des Lebens und seiner Erscheinungen
empor. So werden auch die flüchtigen Angelegenheiten des Tages den Fort-
schritten der Wissenschaft dienstbar, die sie anregen und nähren, und so
wird, hoffe ich, auch unserer Zeitschrift es beschieden sein, gerade dadurch,
dass sie redlich den Interessen ihrer Zeit zu dienen sucht, manch einen
Baustein zu dem bleibenden Bau der Wissenschaft zu fügen.
SOCIALREFORM IN ÖSTERREICH.
VON
DK- JOSEPH MARIA BAEENKEITHER.
Der österreichische Handelsminister hat dem Abgeordnetenhause im
Juni 1891 einen Gesetzentwurf vorgelegt, welcher die obligatorische Ein-
führung von Arbeiterausschüssen, Genossenschaften der Unternehmer und
Arbeiter, sowie von Einigungsämtern für die fabriksmässigen Betriebe zum
Gegenstande hat. Eine analoge Gesetzesvorlage für den Bereich des Berg-
und Hüttenwesens, ausgegangen vom Ackerbauminister, verfolgt im allge-
gemeinen dieselben Zwecke, weicht jedoch im einzelnen von der ersteren ab.
Die weittragenden legislativen Ideen, welche diesen Entwürfen zu-
grunde liegen, geschöpft aus den heute so reich fliessenden Quellen social-
politischer Ansichten und Vorschläge wollen Institutionen ins Leben rufen,
die in dieser Form kein Vorbild haben, die von der Eegierung geplant
wurden, ohne die betheiligten Kreise um ihre Meinung zu fragen, und die
deswegen bisher weniger Verständnis als Zweifel an der Durchführbarkeit
begegnet sind.
Und doch ist mit diesen Vorschlägen der Eegierung die sociale Keform
in einem Umfange auf die Tagesordnung gesetzt, wie dies in Oesterreich nie
und vielleicht auch ausserhalb Oesterreichs kaum je der Fall war. Freilich wird
erst die Prüfung dieser Vorschläge erweisen, ob sie blos ein Spiel mit modernen
Gedanken sind und zum Gesetz geworden die Zahl jener legislativen Acte ver-
mehren würden, die bei uns und anderswo zwar wohlmeinenden Absichten ent-
sprungen, jedoch nicht im Stande waren, Menschen und Dinge willkürlich
umzuformen, oder ob sich etwas und was sich aus ihnen herausarbeiten lässt,
das nicht nur auf unsere Verhältnisse anwendbar wäre, sondern auch eine
lebendige Wirkung versprechen würde.
Diese Vorlagen lenken die Aufmerksamkeit auf die Socialreform in
Oesterreich überhaupt. Sie verdient diese Aufmerksamkeit im vollen Maasse.
Wir wollen deswegen versuchen einen Ueberblick zu geben, was auf
diesem Gebiete in Oesterreich geleistet worden ist, welche Form die grosse
Zeitfrage bei uns angenommen hat und in welcher W^eise die legislativen
Entwürfe, von denen wir sprechen, in die Zukunft gestaltend eingreifen
22 Baernreither.
wollen. Es gliedert sich unser Stoff darnach von selbst. Wir werden zuerst
zeigen, wie und wann die socialpolitischen Maassnahmen ihren Anfang ge-
nommen haben, wie ein Schritt der Gesetzgebung dem andern gefolgt und
welche Richtung bei uns eingeschlagen worden ist. Weiter wollen wir an
einer der wichtigsten Institutionen, die wir in den letzten Jahren geschaffen
haben, der Arbeiter Versicherung, nachweisen, dass wir in kurzer Zeit mit
richtiger Vorausberechnung und Geschick ein neues, grosses Verwaltungs-
problem zu lösen im Stande waren, eine Thatsache, die hoffentlich dazu bei-
tragen wird, dass an die Stelle der pessimistischen Zweifel, die sich bei
uns jeder neuen Idee entgegenstellen, eine grössere Zuversicht in unsere
eigene Kraft treten wird. Ferner werden wir auf den Inhalt der Gesetzes-
vorlagen über die Arbeiterausschüsse, Genossenschaften der Unternehmer
und Arbeiter und die Einigungsämter eingehen und die Zielpunkte be-
zeichnen, auf die es unseres Erachtens ankommt. Endlich können wir uns
nicht versagen, wenigstens in Kürze auf den Zusammenhang hinzuweisen,
der zwischen den socialreformatorischen Gedanken und den wirtschaftlichen
und moralischen Kräften des Staates besteht.
I.
Wer den Codex Austriacus mit seinen zahlreichen Patenten und
Ordnungen aus dem vorigen Jahrhundert, hauptsächlich aus der Zeit Maria
Theresia's, durchblättert, wird erstaunt sein über die Fülle gewerblicher,
industrieller und socialer Gesichtspunkte, denen er begegnet. Wenn auch
unter ganz anderen Productions- und Verkehrs Verhältnissen hat doch die
Gesetzgebung und Verwaltung damals vorwärts strebend, die Wege einem
steigenden Volkswohlstande geebnet.
Analogien mit der Gegenwart sind zum Greifen. In den .Eisen-Satz- und
Ordnungen,'' der damaligen Zeit legt die Regierung Hand an dieselben Fragen,
die uns, freilich in ganz anderer Ausdehnung, in den Handelsverträgen von heute
beschäftigen; die Proviantierung der Stadt Wien war ein Problem wie in unseren
Tagen; man trug sich schon damals mit dem Gedanken gewerbepolitischer
Codificationen in Oesterreich, eine allgemeine Gewerbeordnung für alle Erblande
wurde in Aussicht genommen und das Patent vom 29. November 1724 ordnete
statistische Erhebungen an, oder, wie man damals verfügte, „die Handwerker
in Oesterreich zu beschreiben." Die „ Schuhknechte " bereiteten der Regierung
Verlegenheiten, sie schritt mit einem Gesetz vom 7. November 1771 gegen die
strikenden Schuhknechte ein, hebt ihre selbständige Lade auf und zwingt sie,
sich bei den Meisterladen einschreiben zu lassen, wodurch sie ihre selbständige
Organisation verloren. Heute halten wir Enqueten ab über das Sitzgeselleu-
wesen der Schuhmacher und sind damit auch in legislativen Verlegenheiten.
Wir haben diese wenigen Splitter einer längst vergangenen Gesetz-
gebung nur angeführt, um daran zu erinnern, wie umfassend die Fürsorge
des Staates für das gewerbliche Leben damals war. Bis in die späten Tage
Kaiser Josefs geht dieser Zug, auch im gewerblichen Schulwesen bemerkbar.
Man hat das Gefühl, dass, wenn es so fortgegangen wäre, die Gegenwart
Socialreform in Oesterreich
13
in lebendiger Continiiität mit der Vergangenheit verbunden wäre, wie in
Frankreich und Deutschland durch eine planmässige Verwaltung, und wie
in England, freilich auf einem ganz anderen Wege, durch die Ausbildung
der Selbstverwaltung und Selbsthilfe. Wir dürfen nicht vergessen, dass dem
bei uns nicht so ist, dass die grossen Kriege am Anfange des Jahrhunderts
die Fäden der Entwicklung zerrissen haben, welche in den darauffolgenden
Friedensjahren nur unvollkommen wieder angeknüpft wurden, und dass die
Absperrung OesteiTeichs auch auf gewerblichem Gebiete Stillstand bedeutete.
Erst seit Mitte des Jahrhunderts, seit etwa 40 Jahren, nimmt die Industrie
einen namhaften Aufschwung, das moderne Bank- und Creditwesen findet Ein-
gang in Oesterreich und der Schienenstrang erstreckt sich in alle Gegenden
des weiten Kelches. Ein Paar vergleichende Ziffern mögen ein Bild geben.
In den im Eeichsrathe
vertreteten Königreichen und
Ländern
1850
1870
1890
Baumwoll-, | Feinspindeln | ;3
SchafwoU- u. J Mechanische ^ «
Leinenbranche) Webstühle 1 3
Pferdekräfte der Dampfmaschinen
in der Industrie .... Anzahl
Production von Kübenzucker . . q
Production von Stein- und Braun-
kohlen q
Eisenbahnen im Betriebt
km
1,335.000 (1851)
9.800
254.000
8,766.000
1.357
2,483.000
22.000
123.400 (1875)
1,108.800
72,168.200
6.112
4,005.000
: 78.700
I
i 197.600 (1885)
I 6,943.000
: 242,601.200
15.307
Diese Expansion ist bedeutend, aber sie erfolgte sprunghafter und
regelloser als irgendwo anders, mehr dem Zufalle und der Initiative einzelner
industrieller Köpfe und Speculanten folgend, als einer gleichmässigen natür-
lichen Entwickelung. Sie entbehrte jener staatlichen Fürsorge, die weniger in
der directen Unterstützung liegt, als in der consequenten Einhaltung gewisser
Grundsätze der Währungs-, Zoll- und Handelspolitik. Man denke an die
Peripetie unserer Zollpolitik von der vormärzlichen Prohibition zur englischen
Nachtragsconvention und wieder zurück zum autonomen Zolltarif vom
Jahre 1887; man denke an die Speculationskrisen, in deren Wirbel sich die
ersten Bank- und Industriefirmen ziehen Hessen, man denke an die Valuta-
Schwankung zwischen 1850 und 1890; man denke endlich an die Unsicherheit
der politischen Verhältnisse im Innern, die keine Tradition in der gew^erb-
lichen und Industrie-Politik aufkommen Hessen, an die wirtschaftliche und
politische Auseinandersetzung mit Ungarn!
Man urtheilt gerechter über die Schwierigkeiten der Gegenwart, wenn
man die Wechselfälle der Vergangenheit vor Augen hat. Die Gesetzgebung
und Verwaltung konnten bei uns nicht frei in die Zukunft blicken, denn sie
hatten immer zu viel nachzuholen. Durch mehr als die Hälfte der 40 Jahre,
von denen wir sprechen, waren die besten Geister in Oesterreich damit
14 Baernreither.
beschäftigt, verfassungsmässige Zustände herzustellen. Während bei unseren
westlichen Nachbarn in dieser Zeit die arbeitende Classe, ihre Lebensbedin-
gungen, ihre Vereinigungen, ihre ganze rechtliche Einordnung in das Staats-
wesen längst der Gegenstand der Untersuchung und Gesetzgebung waren,
standen diese Gesellschaftskreise bei uns bis vor zwei Decennien ausserhalb allen
organischen Zusammenhangs mit dem Staatsleben. Erst im Jahre 1867 erhielten
wir ein Vereinsgesetz, auf Grund dessen nothdürftig genug die Arbeiter ihre
Interessen gemeinsam verfolgen können; -erst im Jahre 1870 wurde das
Coalitionsverbot aufgehoben; erst seit 1871 ist unser Schulwesen die grosse
breite Grundlage für die Hebung der untern Classen, auf moderne Grundlagen
gestellt und erhielt der gewerbliche Unterricht nach und nach seine Ausbildung.
Dieser Hintergrund der allgemeinen historischen Thatsachen macht es
erklärlich, dass das Interesse und die Initiative sowohl der Unternehmer,
als der Arbeiter für die socialen Fragen zwischen 1850 und 1873 in OesteiTeich
nur ein sporadisches war. Was anderwärts Gegenstand des Studiums, der
Discussion, der Bestrebungen, der Agitation und auch der Gesetzgebung auf
diesem Gebiete war, schlummerte noch bei uns. Wir hatten keine Mundella,
keinen Pouyer-Quertier, keinen Dolfuss, keinen Krupp, keinen Kossi, kein
Parlamentarier lieh dieser Sache seine Kraft, kein Arbeiterführer erhob sich
über das Niveau des Agitators und ein Minister konnte mit einem Schein
von Berechtigung — aber doch voll Naivetät angesichts den Zuständen, die
sich bei unseren Nachbarn entwickelt hatten — noch zu Ende der sechziger
Jahre sagen, dass der Socialismus bei Bodenbach aufhöre.
Man kann das Jahr 1873 als einen Wendepunkt bezeichnen. Nach
dem tollen Treiben der Speculationsperiode trat eine Ernüchterung der
Geister ein, welche eine Wiedererhebung vorbereitete. Durch die Einschrän-
kung und Einstellung vieler Betriebe wurde die Noth unter den Arbeitern
gross und der Boden für die Thätigkeit von Arbeitervereinen und der
Arbeiterpresse vorbereitet, die bald darauf ihre einflussreiche Einwirkung
begann. Dazu kam der mächtige Einfluss der Ereignisse in Deutschland und
der socialistischen Bewegung in diesem Lande. Mit dem allgemeinen Stimm-
rechte war dort die socialistische Partei in den Eeichstag eingezogen; die
Worte, die sie dort sprach, und die Anträge, die sie stellte, pflanzten sich
in die Arbeiterkreise Oesterreichs fort. Auch der Katheder-Socialismus hielt
seinen Einzug in Oesterreich und seine Lehren, sowie das lebhaft erwachte
Interesse für die sociale Gesetzgebung Englands machen sich seit dem
Jahre 1873 mehr und mehr im öffentlichen Leben bemerkbar. Vorerst ohne
praktische Wirkung. Im Jahre 1874 fand zwar aus Anlass einer Petition
des Arbeitervereines „ Volksstimme " um das politische Wahlrecht für die
Arbeiter und um Einführung von Arbeiterkammern eine interessante Debatte
im Abgeordnetenhause statt — das erste Aufleuchten social-politischer
Discussionen — die vom Ausschusse gestellten Kesolutionsanträge auf Ein-
führung von Arbeiterkammern und Erlassung einer Arbeiterschutzgesetz-
gebung sowie auf Bestellung von Gewerbeinspectoren wurden auch, wiewohl
unter Widerspruch und manchen Missverständnissen vom Hause angenommen.
Socialreform in Oester reich. 15
aber die Eegierung, die sich gar nicht au der Debatte betheiligt hatte, gab
den Beschlüssen keine Folge und die Sache verlief damals im Sande.
Decennien sind gegenüber den still und sicher fortwirkenden Ideen
einer Zeit, die Menschen und Einrichtungen nach und nach umgestalten,
nur kurze Zeiträume, aber manchmal drängen sich doch in wenigen Jahren
die Aeusfferungen neuer Ideen zusammen, wenn ein stai'ker Impuls gegeben
ist, wenn diese Ideen anderswo eine concreto Gestalt annehmen.
Die Botschaft des deutschen Kaisers vom 19. November 1881, welche
verkündete „dass die Heilung der Schäden nicht ausschliesslich im Wege der
Repression socialdemokratischer Ausschreitungen, sordern gleich massig
auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein
werde", sprach den Kern einer neuen Regierungspolitik aus und der schon
vorher dem Reichstage vorgelegte Entwurf eines UnfaUversicherungsgesetzes
war die erste concreto Formulierung des fürsorglichen Theils des Programmes,
welcher bestimmt war, dem Socialistengesetze die Wage zu halten.
Diesem Anstosse folgte Oesterreich und zwar sowohl Regierung als
Parlament. Gesetzentwürfe und Initiativanträge geben davon Zeugnis, wie
allseitig der Gedanke einer socialpolitischen Gesetzgebung aufgegriffen wurde.
Man liess sich von der Strömung, die in Deutschland immer stärker in
dieser Richtung gieng, tragen. Am 5. December 1882 brachte die „Ver-
einigte Linke" einen ausführlichen Antrag ein, der die Förderung der
Association der Kleingewerbetreibenden, eine ausgedehnte Arbeiterschutz-
gesetzgebung, die Einführung von Gewerbeinspectoren und die obligatorische
Kranken- and Unfallversicherung, ferner eine Reform der öffentlichen Armen-
pflege und des Heimatsgesetzes, endlich eine parlamentarische Enquete zur
Untersuchung der bäuerlichen Agrarverhältnisse empfahl. Gleichzeitig hatte
die Regierung diese Frage nach verschiedenen Richtungen ins Auge gefasst und
insbesondere wurde vom Justizministerium in einer Denkschrift an den Minister-
rath, die im Jahre 1882 entstand, empfohlen, gegenüber den Betriebsunfällen den
Standpunkt der Haftpflicht zu verlassen und die deutsche Idee einer öffentlich
reclitlichen Unfallversicherung aufzunehmen. Diese Denkschrift sprach aus,
„dass ein Haftpflichtgesetz kein genügendes Mittel der Abhilfe sei, da es
die Interessen entgegenstelle und verschärfe, sondern dass man das Ziel nur
durch Zusammenwirken, also durch die Beisteuer aller Betheiligten, durch
eine allgemeine Unfallversicherung erreichen könne."'
Am 4. December 1883 wurde von der Regierung ein Entwurf, betreffend
die Unfallversicherung der Arbeiter, am 28. Jänner 1886 ein Gesetzentwurf,
betreffend die Krankenversicherung eingebracht; ersterer wurde am 28. De-
cember 1887, letzterer am 30. März 1888 Gesetz. Die Regelung der Ver-
hältnisse bezüglich der Bruderladen — Knappschaftscassen — erfolgte durch
ein besonderes Gesetz vom 28. Juli 1889. Daneben machte die Gewerbe- und
Arbeiterschutzgesetzgebung grosse Fortschritte.
Die Gewerbegesetznovelle vom 15. März 1883 hat die Zwangsgenossen-
schaften und den Befähigungsnachweis eingeführt. Die Zusammenfassung
schwacher isolirter Kräfte zu einer widerstandsfähigen wirtschaftlichen Potenz,
Ig Baernreither.
sowie die Steigerung der individuellen Leistungsfähigkeit sind gewiss richtige
Gedanken, aber die Novelle hat selbst ihren Verfassern so viel Enttäuschung
gebracht, weil sie in dem Iri'thum befangen ist, dass ersteres durch äusseren
Zwang, letzteres durch einen schablonenhaften Nachweis zu erreichen ist.
Die selbständigen- Gewerbetreibenden sind zu dem Glauben verleitet worden,
dass die Gesetzgebung ihnen einen Panisbrief erth eilen kann, die Gesellen
verfallen der Socialdemokratie. Dagegen hat das Gesetz vom 17. Juni 1883,
durch w^elches die Gewerbeinspectoren bestellt wurden, bei allen vorurtheils-
frei Denkenden ungeth eilte Zustimmung gefunden; es hat bei dem Unter-
nehmer das Bewusstsein verstärkt, dass seine Pflicht gegen den Arbeiter
mehr umfasst als die blosse Lohnzahlung, es hat ein staatliches Organ
geschaffen, welches den Verhältnissen und Bedürfnissen der arbeitenden
Classe näher steht als alle andern Behörden — es hat alles das bewirkt
gerade wegen der neuen, die bisherigen bureaukratischen Schranken durch-
brechenden Form des Inspectorats, welches man deswegen nicht nur als eine
glückliche Nachahmung einer englischen und deutschen Einrichtung betrachten
darf, die sich bei uns auffallend rasch eingelebt hat, sondern auch als eine
neue Verwaltungsform, die mit der Entwickelung einer einheitlichen socialen
Verwaltung nothwendigerweise eine Ausdehnung erfahren wird. Endlich
kann man die zweite Novelle zum Gewerbegesetze vom 8. März 1885 (Unfall-
verhütung, Beschränkung der Arbeit jugendlicher Personen und Frauen
Maximal- Arbeitstag, Arbeitspausen, Nachtarbeit, Sonntagsruhe) als einen
legislativen Act bezeichnen, durch welchen Oesterreich gerechten Anforderungen
der Zeit nachgekommen ist.
Zu dieser ganzen Gruppe von Gesetzen kann auch das Hilfscassen-
gesetz gerechnet werden, welches dazu bestimmt ist, dem Gedanken der
Versicherung nicht nur in den Arbeiterkreisen, sondern auch in anderen
Volksschichten Eingang zu verschaffen, sowie das Gesetz, betreffend Steuer-
erleichterungen für Arbeiterwohnungen, beide aus der Initiative des Abge-
ordnetenhauses hervorgegangen, zwar noch nicht als Gesetze publiciert,
jedoch von beiden Häusern des Reichsrathes bereits angenommen.
Zwei Initiativanträge aus dem Schoosse der „Vereinigten Linken"
gehen noch weiter. So vor allem ein Antrag auf Einführung von Arbeiter-
kammern, eingebracht am 6. September 1886. Zur Vertretung der Interessen des
Arbeiterstandes wird eine Organisierung geplant in Form von Körperschaften,
die aus der Wahl der versicherungspflichtigen Mitglieder der Krankencassen
hervorgehen sollen, analoge Functionen, wie die Handelskammern auszuüben
hätten und denen auch ein ähnliches politisches Wahlrecht für das Ab-
geordnetetenhaus zukommen sollte, wie jenen. Dieser Antrag hat zunächst
zu einer Enquete geführt, in welcher 23 Personen (Kleingewerbetreibende,
Secretäre von Arbeiter-Krankencassen und Arbeiter) vernommen wurden und
die, wenn auch nur in einem beschränkten Umfange, einen Einblick in die
Bestrebungen unseres Arbeiterstandes gewährte. Dieser Antrag, sowie der
am 17. April 1890 eingebrachte Antrag auf Einführung von Einigungsämtern
haben also bereits das Gebiet der Organisierung des Arbeiterstandes betreten,
Socialreform in Oesterreich. 17
in welches die eingangs erwähnten Eegiemngsvorlagen auch ihrerseits einen
Zug unternehmen, vielleicht einen Gegenzug.
Die Socialpolitik ist zwar der jüngste Ast der modernen Staatskunst,
aber er ist rasch und mächtig emporgewachsen, und wir begegnen seinei:
Verzweigungen überall. Deswegen muss noch auf einen weiteren Kreis von
Gesetzen und Entwürfen hingewiesen werden, die uns in den letzten Jahren
beschäftigt haben. Auf juristischem Gebiete bezeichnet schon das Wucher-
gesetz vom 28. Mai 1881 die Wende und erprobte sich durch seine präven-
tive ratio legis; dann folgte die Executionsnovelle vom 10. Juni 1887, bei
welcher der Gesetzgeber vor die schwierige Wahl gestellt, die wirtschaft-
liche Persönlichkeit auf Kosten der sogenannten Creditfähigkeit zu stärken,
oder letztere auf Kosten der ersteren einseitig aufrecht zu erhalten, sich für
den ersten Weg entschied und sich deswegen zu einer Einschränkung der
Executionsobjecte entschloss. In das Gebiet der Verwaltung gehören die
Gesetzentwürfe zur Hintanhaltung der Trunksucht und gegen die Verfälschung
von Lebensmitteln, welche in parlamentarischer Verhandlung stehen, endlich
auf das Gebiet der Agrarpolitik das Gesetz vom 1. April 1889, betreffend
die Einführung besonderer Erbtheilungsvorschriften für landwirtschaftliche
Besitzungen mittlerer Grösse.
Dieses letztgenannte Gesetz verdankt seine Entstehung ebenfalls der
üebertragung von Bestrebungen, die in Deutsehland infolge der ungünstigen
Lage der Landwirtschaft auftauchten. Es ist das die in verschiedenem
Gewände auftretende Idee, die Erhaltung des Bauernstandes dadurch zu
fördern, dass die ungetheilte Uebernahme des Hofes einem Erben auf Kosten
seiner Miterben erleichtert wird. Hier waltete bei uns keine glückliche Hand.
Vielfach bestand ja auch im österreichischen Bauernstande die Tradition, den
Hof an einen bevorzugten Erben zu übertragen und die Geschwister nicht voll,
aber billig auszuzahlen. Anstatt nun an diese Tradition anzuknüpfen und die
Stabilität der kleinen Landwirtschaften und der ansässigen Bevölkerung durch
Befestigung einer alten anerkannten Gewohnheit zu stützen, ohne ein singu-
läres Erbrecht zu schaffen, ist das erwähnte Gesetz, indem es die Bevorzugung
des sogenannten Anerben obligatorisch durchführen will, zugleich aber seine
eigene Wirksamkeit von der Detail-Gesetzgebung der einzelnen Landtage
abhängig macht, starr und unwirksam zugleich, denn es ist nicht zu erwarten,
dass irgend ein Landtag dem Gesetze in seiner heutigen Gestalt beitreten wird.
Diese Uebersicht enthält das Wesentliche was die socialpolitischen
Ideen im abgelaufenen Decennium bei uns hervorgebracht oder beeinflusst
haben, eine Fülle gesetzgeberischer Action, auf die wir stolz sein können,
Der moderne socialpolitische Codex Austriacus — im Geiste staatlicher
Fürsorge mit dem alten verwandt — hat schon einen bedeutsamen Umfang,
Freilich taucht sofort eine entscheidende Frage auf. Dasjenige, was
man dem Arbeiter in der neuen Gesetzgebung versprochen hat, muss man
ihm auch voll halten und die Echtheit, der Gehalt unserer Eefomi-
bestrebungen muss an der Durchführung und Handhabung dieser Gesetze
geprüft werden. Es ist natürlich unmöglich, hier im Detail darauf zu antworten,
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. I. Heft. 2
lg Baernreither.
inwieweit die Intentionen dieser Gesetze wirksam geworden sind, • zum Theil
ist auch die Zeit noch zu kurz, aber wir wollen es wagen, ein allgemeines
Urtheil zu fällen, weil das Gute einerseits sowie der Mangel andererseits,
trotz der kurzen Zeit schon klar hervortritt.
Die Arbeiterschutzgesetzgebung, die Institution der Gewerbeinspectoren,
sowie die Arbeiterversicherung sind ohne Schwierigkeiten ins Leben ge-
treten. Die Unternehmer leisten im allgemeinen keinen Widerstand, einige
kommen der Tendenz der Gesetze sogar opferwillig entgegen; die neuen
Einrichtungen haben sich rasch eingelebt, sie werden von der Arbeiterclasse
verstanden und gelten heute schon in weiten Kreisen als eine Wohlthat — aber
manche dieser Gesetze werden nicht im selben Geiste gehandhabt, in dem sie
gegeben sind, es fehlt der planmässige, consequente, ausgleichende Nachdruck
der Verwaltung, die in letzter Instanz im Ministerium des Innern, des Handels
und des Ackerbaues zersplittert ist. Dort mangelt die eigentliche Leitung,
welche dieser ganz neue Zweig der Verwaltung unbedingt erfordert, es findet
eine unnöthige Keibung statt und es entgeht der Vortheil, den diese ver-
schiedenen socialpolitischen Institutionen durch gegenseitige Unterstützung
haben könnten, denn sie sollen sich ergänzen und als Ganzes wirken.
Grosse Verwaltungskörper, wie die UnfaUversicherungsanstalten und
die Krankencassen mit ihren Verbänden sind gebildet, aber zwischen diesen
beiden besteht eine Friction, die verschiedenen Schiedsgerichte der Unfall-
versicherung entscheiden endgiltig ohne dass in irgend einer Weise für die
Einheit der Kechtsprechung gesorgt wäre, die Versicherungstechnik ist ohne
gehörigen Contact mit der Administration; den Gewerbebehörden sind durch
die Arbeiterschutzgesetzgebung und die Vorschriften über die Sonntagsruhe
ganz neue Agenden zugewachsen, aber die Ueberwachung und Durch-
führung ist mangelhaft und bezüglich des Kleingewerbes und der Haus-
industrie sind Arbeiterschutz und Sonntagsruhe todte Buchstaben geblieben;
die Gewerbeinspectoren thun was sie können, aber ihre Zahl ist gering und
sie werden mehr und mehr in den bureaukratischen Apparat eingeklemmt,
sie werden zu viel am Schreibtisch und zu wenig in der Fabrik verwendet.
Nach und nach, ohne dass wir uns dessen noch recht bewusst sind,
ist das Kecht des Staates bei uns erweitert und sein Verwaltungsgebiet
ausgedehnt worden, aber das Gedeihen dieser staatlichen Expansion hängt
davon ab, dass die zugewachsenen Theile eine einheitliche oberste Leitung
erhalten. Dann wird vieles vereinfacht und verwohlfeilt, viele Kräfte werden
besser ausgenützt und viele Anregungen werden gegeben werden können.
SoUte es bei uns zu einer solchen Oberleitung aller socialpolitischen
Institutionen kommen, so müsste dieselbe allerdings sich sofort ein Organ
schaffen, ohne welches eine sichere Verwaltung auf diesem Gebiete un-
möglich ist. Die speciellen, gerade bei uns in Oesterreich so sehr ver-
schiedenen Verhältnisse auf gewerblichem Gebiete bedürfen einer fort-
laufenden Untersuchung; die bestehende Statistik genügt in keiner Hinsicht,
denn der neue Verwaltungszweig muss das Materiale, welches er benöthigt,
nach seinen Gesichtspunkten erheben lassen. Auch genügt ihm nicht die
Socialreform in Oesterreich. 19
blosse Ziffer, sondern er bedarf der Untersuchung und Feststellung aller
derjenigen Umstände, welche die Ziffern erst verständlich machen. Mit
einem Wort: wir werden ein statistisches Arbeitsamt nothwendig
haben. Die Vereinigten Staaten sind mit dieser Einrichtung vorangegangen;
sie wurde seit 1866 nach und nach in 21 Staaten der Union eingeführt. Ein
solches Amt existiert ferner in England seit 1886,. in der Schweiz seit 1887
und in Frankreich seit dem Jahre 1891. Bei uns wäre die Aufgabe, mit richtig
angewandten Kräften und billigen Mitteln möglichst viel zu leisten. Ein solches
Amt müsste bei uns nicht nur selbst arbeiten, sondern vor allem zu social-
statistischen Arbeiten anregen, eine gewisse Einheit in die statistischen Arbeiten
der Handelskammern bringen, sich nicht scheuen, mit den Arbeiterfach vereinen
in Verbindung zu treten und vielleiclit auch die socialstatistischen Seminare
an den Universitäten, die leider bei uns keine grossen Erfolge aufweisen,
beeinflussen. Wenn einmal die Nützlichkeit und Verlässlichkeit des Arbeits-
amtes erprobt wäre, würde reichliches Material fliessen zur Sichtung und
Bearbeitung. Dabei kämen ebenso sehr die Lebensbedingungen der Industrie
und des Gewerbes, wie die Lebenshaltung und die Lage der Arbeiter in IJetracht.
IL
Die obligatorische Arbeiterversicherung erstreckt sich bei uns erst auf
Unfall und Krankheit. Alters- und Invalidenversorgung sind noch nicht in
Angriff genommen. Auch Unfall- und Krankenversicherung sind noch nicht in
jenem Umfange eingeführt wie in Deutschland, insbesondere stehen die land-
und forstwirtschaftlichen Arbeiter nur th eilweise unter der gesetzlichen Ver-
pflichtung versichert zu sein. Trotzdem ist auf diesem Gebiete bei uns schon
Erhebliches geleistet. Wir wollen deswegen über den einen und andern Zweig
der Arbeiterversicherung einige Daten bringen und daran Bemerkungen knüpfen,
um zu zeigen, dass die Einführung dieses neuen Verwaltungszweiges im
grossen Ganzen als gelungen bezeichnet werden kann, dass sich aber auch
in diesem Detail unser Ruf nach einer einheitlichen Leitung und Verwaltung
dieser Angelegenheiten als ein berechtigter erweist.
Was zunächst die Unfallversicherung anbelangt, so liegt uns der soeben
erschienene treffliche Bericht über die Gebarung und die Ergebnisse der
Unfallstatistik für die Zeit vom 1. November 1889 (dem Beginne der Wirk-
samkeit des Gesetzes) bis 31. December 1890 vor und gibt uns in klarer
und übersichtlicher Darstellung Einblick in den Geschäftsbetrieb der Ver-
sicherungsanstalten.
Zu Ende des Jahres 1890 betrug die Zahl der nach dem Gesetze ver-
sicherten gewerblichen Betriebe 53.193 mit 893.324 Arbeitern, wozu 78.133
landwirtschaftliche Maschinenbetii^be mit 338.494 Arbeitern kommen. Im
Laufe des Jahres 1890 wurden 16.041 Unfallsanzeigen erstattet, darunter 6741,
die eine Entschädigungsleistung nach sich zogen, und hievon 548 Todesfälle.
Es ist natürlich, dass ein so grosser Mechanismus nicht sofort glatt
functioniert. Es wird geklagt, dass die Unfallsanzeigen von den Behörden
unregelmässig und spät an die Anstalten gelangen; Vereinfachungen werden
2*
20
Baernreither.
nach mehreren Kichtungen eingeführt werden müssen, so insbesondere bezüglich
der landwirtschaftlichen Betriebe, für welche ein System der Tarifierung fest-
zusetzen sein wird, endlich wird auch das Verhältnis der Unfallversicherung
zu den Krankencassen, welchen die Versorgung des Verunglückten in der
Carenzzeit obliegt, einer Eegelung unterworfen werden müssen u. s. w.
Das sind aber Nebenfragen. Für allgemeine Gesichtspunkte dagegen, ist
eine Vergleichung gewisser Eesultate unserer Unfallversicherung mit den
deutschen wichtig. Bekanntlich haben wir, was die Aufbringung der Mittel
anbelangt, das Capitaldeckungsverfahren, Deutschland das sogenannte Umlage-
verfahren angenommen, das heisst, wir sichern die Verpflichtungen, die gegen-
über den Verunglückten oder ihren Hinterbliebenen erwachsen, durch die Ein-
hebung eines Betrages, welcher in seiner Gesammtheit die Capitalsdeckung für
die Unfälle eines Jahres bedeutet, der nach Maassgabe der verschiedenen
Gefahrenclassen der Betriebe je nach der Arbeiterzahl aufgetheilt wird und
welcher, weil man annehmen muss, dass die Zahl der Unfälle jedes Jahr
durchschnittlich gleichbleibt, sich auch gleichbleibt, während Deutschland das
Jahreserfordernis umlegt, zu den bestehenden Verpflichtungen also jedes Jahr
neue kommen, so dass die Umlage von Jahr zu Jahr steigt. Zur Beurtheilung
der für die Unfallversicherung einzuhebenden Beträge ist es auch noch noth-
wendig, sich zu vergegenwärtigen, dass nach § 18 des deutschen Gesetzes die
Berufsgenossenschaften verpflichtet sind, einen Keservefond anzusammeln, der
eine gewisse Höhe zu erreichen hat, dann aber zur Deckung der Genossen-
schaftslasten zu verwenden ist, und dass wir nach § 15 unseres Gesetzes über
die Capitalsdeckung hinaus auch noch ein Keservecapital anzusammeln haben
aus Beiträgen, die das Ministerium des Innern jährlich festsetzt, die aber
10 Procent des zur Deckung der Verpflichtungen der Versicherungsanstalten
erforderlichen Fondes nicht übersteigen darf.
Nun ist vor allem die Vergleichung von zwei Ziftern interessant, aus
denen man die Belastung der Industrie durch die Unfallversicherung bei
uns und in Deutschland ersehen kann. Gerade Staaten, die sich zollpolitisch
nähern, müssen derartige Belastungen mit einem vergleichenden Auge ver-
folgen. Es betrugen in Deutschland:
die geleisteten sammt Verwaltungskosten und dem
Entsehädigungsbeträge Zuschlage für den Reservefond
1886 0-08
1887 0-23
1888 0-33
1889 0-42
1890 0-51
in ^|^y der
Lohnsumme
0-49
0-73
0-89
0-99
1-00
Bei uns wurde das jährliche Erfordernis (Capitalsdeckung und Eeserve-
capital) mit 1*4 Procent der Lohnsumme festgestellt (in der Höhe von 1'396
Procent factisch eingehoben). Unsere Mehrbelastung gegenüber Deutschland
beträgt somit heute nur 0*4 Procent, ein Unterschied, der in 6 — 7 Jahren aus-
geglichen sein wird, worauf sich dann das Verhältnis umkehren und Deutschland
steigend eine grössere Belastung seiner Industrie durch die Unfallversicherung
erfahren wircf, während wir es mit einer gleichbleibenden Last zu thun haben.
Socialreform in Oesterreich. 21
Diese Stabilität in der Belastung ist ein Hauptvorzug unseres
Deckungssystems und wird in dem Maasse als im Nachbarreiche die Um-
lage steigen wird, als ein wohlthätiger Factor von unserer Industrie
empfunden werden, ganz abgesehen von der Sicherheit das unser System
gewährt. Auf dem internationalen Congress. der sich im vergangenen
Herbst in Bern mit der Unfallversicherung beschäftigte, hat unser Deckungs-
Verfahren auch entschieden Beifall gefunden und in dem officiellen Berichte
des permanenten Comites wurde ihm ausdrücklich der Vorzug vor dem
deutschen Umlagesystem zuerkannt. „Le Systeme autrichieu s'ecarte com-
pletement du Systeme allemand, qui reporte sur Tavenir, avec une coupable
et dangereuse imprevoyance, les charges du present. L'oeuvre austrichienne
a donc un caractere de stabilite que ne possede pas la legislation allemande
ä la quelle on doit reconnaitre tous les caracteres d'un expedient."
Zwei Verschiedenheiten unserer und der deutschen Unfallversicherung
sollen hier erwähnt werden, weil sie bei einer Vergleichung nicht übersehen
werden dürfen. Bei uns tritt die Unfallversicherung schon nach einer Carenz-
zeit von 4 Wochen, während welcher der Verletzte von seiner Krankencasse
versorgt wird, ein, in Deutschland erst nach einer Carenzzeit von 13 Wochen;
dagegen beträgt die Maximalrente, die ausgesprochen werden kann, in Deutsch-
land 66% Procent des Lohnes, bei uns nur 60 Procent. Bis zu einem
gewissen Grade dürften sich diese beiden abweichenden Bestimmungen in
ihren finanziellen Wirkungen compensieren.
Was hingegen die sociale Wirkung unserer und der deutschen Unfall-
versicherung anbelangt, so muss man zugeben, dass, wir soweit man die
Bemessungen der Kenten und die Aussprüche der Schiedsgerichte bei uns
schon übersehen kann, knapper sind als unsere Nachbarn. Dabei kommt
freilich in Betracht, dass die zugesprochenen Kenten immer Procente des
Lohnes bedeuten und die Löhne bei uns niedriger sind als in Deutschland.
In der ersten Gebarungsperiode haben sich bei uns folgende durchschnittlichen,
auf einen Bezugsberechtigten entfallenden Jahresrenten ergeben, und zwar:
auf einen dauernd gänzlich Erwerbsunfähigen . 184 fl. 93 kr.
auf einen dauernd theilweise Erwerbsunfähigen . 73 fl. 87 kr.
auf eine Witwe 68 fl. 86 kr.
auf ein Kind 41 fl. 91 kr.
auf einen Ascendenten 50 fl. 42 kr.
Ein genauer ziftermässiger Vergleich mit den analogen Ergebnissen in
Deutschland ist leider nicht möglich, weil der Bericht des Reichsversicherangs-
amtes keine diesbezüglichen Daten bringt.
Ferner möchten wir noch darauf aufmerksam machen, dass das
deutsche System der Berufsgenossenschaften für die Zwecke der Unfall-
verhütung ein entsprechenderes ist als unser Territorialsystem. Die Thätig-
keit unserer Gewerbe-Inspectoren erhält dadurch eine erhöhte Bedeutung und
muss die Unfallversicherung auf diesem Punkte systematisch unterstützen.
Eine in der letzten Zeit vielfach ventilirte Frage dreht sich darum,
ob bei uns die eingehobenen Prämien nicht zu hoch angesetzt sind und
22 Baernreither.
infolge dessen nicht eine unnöthige Capitalsansammlung stattfindet. Um diese
Frage klarzustellen, müssen wir jene 1*4 Procent, welche wir von der Lohn-
summe als jährlich präliminierte Prämie einheben, in ihre Elemente zerlegen.
Bei den grundlegenden Berathungen zur Tarifaufstellung im Jahre 1888
war ermittelt worden, dass das Erfordernis zur Deckung der den Anstalten
erwachsenden Verpflichtungen (die Nettoprämie) sich voraussichtlich auf
1*093 Procent der Lohnsumme stellen werde. Dazu wurden 10 Procent
dieser Quote, nämlich 0*109 Procent der Lohnsumme für das nach § 15
des Gesetzes zu bildende Eeservecapital geschlagen, ausserdem weitere
0'109 Procent der Lohnsumme für Verwaltungskosten präliminiert, was zu-
sammen 1*311 Procent der Lohnsumme ausmachte. Diese Ziffer wurde
jedoch vom Versicherungsbeirathe auf " die obigen 1*4 Procent abgerundet,
um das Präliminare noch sicherer zu gestalten. Die Kechnungsabschlüsse
der ersten Gebarungsperiode unserer Unfallversicherung (1. November 1889
bis 31. December 1890) ergeben nun über sämmtliche Ausgaben ein.
schliesslich des angesammelten Deckungscapitals (2,621.738 fl.) und des
vollen lOproc. Eeservecapitals (257.050 fl.) noch einen Ueberschuss
von 317.430 fl. Er hat seinen Grund darin, dass einerseits die Voraus-
berechnungen des versicherungstechnischen Bureaus nahezu vollkommen mit
dem Ergebnis übereinstimmten, aber dennoch eine kleine Marge zu Gunsten
des Gebarungsergebnisses übrig Hessen, andererseits in der bereits erwähnten
vorsichtigen Abrundung, die der versicherungstechnische Beirath vorge-
nommen hat. Was den ersten Punkt betrifft ist zu bemerken, dass die Netto-
prämie mit 1*093 Procent der Lohnsumme vorausberechnet war, in der ersten
Gebarungsperiode, von der wir sprechen (1. November 1889 bis 31. De-
cember 1890), das Erfordernis sich auf 1*043 Procent der Lohnsumme
(235,264.177 fl. bei den industriellen Betrieben, 1.682.228 fl. bei den land-
und forstwirtschaftlichen Betrieben) bezifferte, was eine Differenz von 0*05 Pro-
cent zu Gunsten des Gebarungsergebnisses ausmacht. Dieser Ueberschuss von
317.430 fl. kommt etwa 8 Procent der eingehobenen Unfallprämie gleich.
Nehmen wir nun zu diesem Resultate Stellung. Wir glauben aus-
sprechen zu dürfen, dass sowohl die oberste Verwaltungsbehörde, als auch
der Versich erungsbeirath richtig vorgegangen sind, deSli es hätte gerade
gegenüber dem Widerwillen, welchem das Capitaldeckungs verfahren bei uns
theilweise begegnet, einen sehr schlechten Eindruck gemacht, wenn wir die
erste Gebarungsperiode mit einem Deficit abgeschlossen hätten und die
Prämie erhöhen müssten. Es war daher vorsichtig, der Einhebung der
Prämie eine solche Berechnung zugrunde zu legen, die eher einen Ueber-
schuss als einen Ausfall herbeiführen musste, und wir müssen dieser Vor-
ausberechnung daher unsere uneingeschränkte Anerkennung zollen.
Aber ebenso entschieden möchten wir darauf hinweisen, dass für den
Ausgleich der Schwankungen in den Ergebnissen nach § 15 unseres Gesetzes
ja das Eeservecapital. und zwar sogar in der Maximalhöhe angesammelt
wird, so dass es in Verbindung mit den periodischen Eevisionen der Tarife
für alle Eventualitäten ausreicht, dass daher Capitalsansammlungen darüber
Socialreform in Oesterreich.
23
hinaus nicht nur keine gesetzliche Basis haben, sondern auch socialpolitisch
bedenklich sind. So sehr wir das Verdienst hervorheben möchten, dass diese
Insitution bei uns versicherungstechnisch und finanziell so vollkommen klappt,
ebenso sehr möchten wir empfehlen, uns auf das nothwendige Maass zu be-
schränken und nicht einer Aengstlichkeit nachzugeben, die auch noch Cassa-
überschüsse erzielen möchte. Nicht nur würde dadurch unserer Industrie in
einer ganz unwirtschaftlichen Weise Capital entzogen werden, sondern der
weiteren Ausdehnung der Arbeiterversicherung nur Hindernisse bereitet
werden.
Ohne daher das Dickungssystem und die Sicherheit zu gefährden,
wird man also hier zwischen dem versicherungstechnischen Standpunkt und
den Interessen der Industrie klug zu vermitteln haben.
Auch die Krankenversicherung hat bedeutende Resultate aufzuweisen.
Wir fassen dieselben in der nachstehenden Tabelle zusammen :
Für sämmtliche im Reichsrathe
vertretenen Länder
Bezirks-
Krankeu-
cassen
Betriebs-
und Bau-
Kranken-
cassen
Genossen-
schafts-
Kranken-
cassen
Vereins-
Kranken-
cassen
Gesammt-
Summe
Anzahl der im Jahre 1890 func-
tionierenden Gassen . . . .
Anzahl der Gassen, von wel-
chen Nachweisungen vorge-
legt wurden
»1 «ü
Ic 'S:
männlich
weiblich
zusammen
Ausgezahltes Krankengeld in fl.
ö. W
549
549
427.895
71.187
499.082
1,504.049
Ausgezahltes Krankengeld in fl.
ö. W. per Kopf I 3-01
Gesammt - Versicherungsleistun-
gen in fl. ö. W. (Kranken-
geld, Kosten für Aerzte und
Krankencontrole, Medicamente,
Spitäler und Beerdigung) . .
Gesammt- Versicherungsleistun-
gen in fl. ö. W. per Kopf .
Jjaufende Cassenbeiträge im
Ganzen (Arbeitgeber U.Arbeit-
nehmer zusammen)
Laufende Cassenbeiträge in fl. ö.
W, per Kopf
2,684.504
5-38
3.496.108
1.464
1.459
365.085
166.145
531.230
2,201.543
414
3,773.872
7-10
4,042.179
7-01
7-61
677
673
194.468
59
59
201.263
38.916! 69.553
2.749
233.384
805004
270.816
2.740
1,188.711
345.801
1,534.512
1,633.517
3-45
603
i 6,144.113
(ira. burch-
schnitte)
4-00
1.325 394
5-68
1 644.325
2,312.970i
10,096.740
8 54 i 6 58
2,307.-.5O,ll. 489.862
7-05 : S-52^
7-49
24
Baernreither.
Viele dieser Ziffern sprechen für sich. Dass von den 2749 Gassen alle
mit Ausnahme von 5 Betriebs- und 4 Genossenschaftscassen die vorge-
geschriebenen Nachweisungen für das Jahr 1890 geliefert haben, ist eine
günstige Thatsache. Man wird auf die Correctheit dieser Nachweisungen
nicht genug Wert legen können und die Mühe nicht scheuen dürfen, die
Gassen zu belehren, ihnen nöthigenfalls ihre Berichte zur Verbesserung
zurückzugeben u. s. w. Hier fällt hindernd ins Gewicht, dass das ver-
sicherungstechnische Amt im Ministerium des Innern mit den Gassen und
ihren Verbänden nicht direct verkehrt, sondern auf den schwerfälligen Weg
durch die politischen Behörden angewiesen ist. In einem so modernen
Verwaltungszweig sollte man sich doch auch zu modernen Verwaltungs-
formen entschliessen, eine unmittelbare Verbindung herstellen und eine
unmittelbare Gontrole durch fachmännische Inspectoren einrichten.
Eine durchgreifende Verwaltung thut aber hier auch deswegen Noth,
weil die schwache Seite der Krankenversicherung bei uns wie in Deutschland
in der Eivalität der verschiedenen Kategorien von Gassen liegt. Die Tabelle
zeigt, dass die Vereinscassen per Kopf gerechnet gerade das Doppelte leisten
wie die Bezirkscassen; dabei entfallen auf die ersteren 10*6 Krankentage
durchschnittlich auf ein Mitglied, bei den andern 6*15 Tage. Es ist das
der ziffermässige Ausdruck der Thatsache, dass die Vereinscassen, weil sie sich
aus den besser bezahlten Schichten der Arbeiter recrutieren, höheres Kranken-
geld zahlen können als die Bezirkscassen und dass da ihre Mitglieder im Durch-
schnitt gewiss gesünder sind als die der Bezirkscassen, ihre vi'el zahlreicheren
Krankentage nicht nur auf eine leichtere Gewährung in Krankheitsfällen
sondern auch auf eine Erleichterung der Arbeitslosigkeit in dieser Form
schliesseu lassen. Wie dem aber auch immer sei, erblicken wir die Aufgabe
der obersten Verwaltung nicht etwa darin die Vereinscassen einzudämmen
und zu hindern, sondern darin die Bezirkscassen so viel als möglich zu heben.
Die vorstehenden Ausführungen haben uns sehr ins Detail geführt,
aber die besprochenen Fragen begegnen in den betheiligten Kreisen Interesse
und Kritik und sind überdies keineswegs geklärt. Sie zeigen aber auch,
wie tief diese neuen Zweige unserer Verwaltung in alle Verhältnisse, selbst
in die verfassungsmässigen, eingreifen. Mit grosser Genauigkeit erfolgt
jedes Jahr die Feststellung des Budgets. Die gesetzmässige Einhebung der
indirecten Steuern wird strenge überwacht. Jede noch so geringfügige Post
der directen Abgaben wird eingestellt und begründet. Bei den Prämien der
Arbeiterversicherung haben wir es mit einer neuartigen Auflage zu thun,
die jedenfalls der Form nach den Gharakter einer directen Steuer an sich
trägt, und doch hat das Gesetz nur die allgemeinen Grundsätze für die
Vertheilung und Einhebung aufgestellt; ob aber die gesammte Industrie und
Landwirtschaft für die Unfalls Versicherung jährlich 1*4 Procent der Lohn-
summe oder nur 1*8 Procent zu zahlen haben, was nahezu eine Differenz
von einer Viertel-Million ausmacht, bestimmt die oberste Verwaltungs-
behörde mit einem modernen „Beirathe". Für dieses Verhältnis besteht bei
uns noch keine budgetäre Analogie. Hier kann nur durch das Studium,
Socialreform in 0 esterreich. 25
sachliche Prüfung-, Gutachten der betheiligten Kreise und ihrer Vertretungs-
körper jene wirksame und sachliche Controle hergestellt werden, die noth-
wendig ist, um jeden Verwaltungskörper im richtigen Geleise zu erhalten.
III.
Werfen wir nun einen Blick auf die Gesetzesvorlagen, welche wir
eingangs dieser Zeilen erwähnt haben. Sie bedeuten einen wichtigen Schritt,
der unfj weit über das hinausführt, was wir bisher in der neuen Richtung ge-
leistet haben. Durch den Gewerbeinspector und die Vorschriften über den
Arbeiterschutz greift der Staat unmittelbar mit seiner Zwangsgewalt in das
gewerbliche Leben ein, bei der Arbeiterversicherung schreibt er das Ver-
fahren genau vor, wenn er auch die Durchführung Selbstverwaltungskörpern
überlässt. Der Entwurf über Arbeiterausschüsse, Genossenschaften der
Unternehmer und Arbeiter, Einigungsämter plant dagegen Vereinigungen
von Individuen, Köperschaften, durch welche zwei verschiedene, sich bisher
fremd, manchmal sogar feindlich gegenüberstehende Gesellschaftsclassen
miteinander in Berührung gebracht werden sollen. Zusammensetzung,
Wahlmodus, Wirkungskreis u. s. w. kann für diese Institutionen festgesetzt
werden, was sie aber leisten werden, das hängt schliesslich von der
Initiative, der Intelligenz, dem guten Willen, der Einsicht und der Dis-
ciplin der betheiligten Personen ab. In dieser Frage kann die Gesetzgebung
den Boden ebnen, unmittelbar gestalten aber nicht. Dadurch hebt sich
diese legislative Action von jeder früheren ab, darin liegt ihre Bedeutung,
aber zugleich die Schwierigkeit ihrer Durchführung. Hier spielt das tiefere
Element der Socialpolitik, der Appell an das Individuum, die moralische
Einwirkung die Hauptrolle, das macht das Wesen der Gesetzentwürfe aus,
das macht sie ganz besonders wert reiflich durchdacht zu werden und das
verpflichtet uns alles dranzusetzen, für die legislativen Gedanken der Vorlagen
die richtige Form zu finden.
Vorerst gestatten wir uns eine kurze Inhaltsangabe zu machen,
beschränken uns aber auf den einen, die fabriksmässigen Betriebe betreffenden
Entwurf, der „die Einführung von Einrichtungen zur Förderung des Einver-
nehmens zwischen den Gewerbsunternehmern und ihren Arbeitern" zum
Gegenstande hat, und sehen von dem Entwurf „betreffend die Errichtung
von Genossenschaften beim Bergbau" ab, weil vieles was wir bezüglich des
ersteren zu sagen haben, auch für den zweiten gilt, das Detail des letztern
uns aber zu weit führen würde.
Der Entwurf, von dem wir sprechen, zerfällt in drei Abschnitte. Der
erste handelt von Arbeiterausschüssen. Sie sollen obligatorisch in allen
fabriksmässigen Betrieben eingeführt werden, gehen aus der Wahl sämmt-
licher 21 Jahre alter Arbeiter des betreffenden Unternehmens hervor, die
der Unternehmer oder falls dieser seiner Pflicht nicht nachkommt, die
Gewerbebehörde leitet. Der gesetzliche Wirkungskreis des Arbeiterausschusses
besteht darin, „die Wünsche und Beschwerden der Arbeiterschaft
oder eines T heiles derselben in Beziehung auf den Loh nv er trag und
26 Baemreither.
die sonstigen Arbeitsbedingungen vorzutragen, sowie die Beilegung von in
dieser Hinsicht vorhandenen Meinungsverschiedenheiten anzubahnen."
In dem Statut, das der ünternehnier zu verfassen hat, können dem
Arbeiterausschusse aber auch noch andere Aufgaben übertragen werden, „ins-
besondere eine Mitwirkung bei der Verwaltung der bei dem betreffenden
Unternehmen bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen, sowie bei der
üeberwachung der Befolgung der Arbeitsordnung und der für die
Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter erlassenen Vorschriften und An-
ordnungen. Es kann femer bestimmt werden, dass der Arbeiterausschuss vor
Verhängung von Conventionalstrafen um sein Gutachten zu befragen isf
Der zweite Theil der Vorlage handelt von der genossenschaftlichen
Organisation der fabriksmässigen Betriebe. Es soll dem Handelsminister
anheim gestellt sein, sie dort einzuführen wo er mit Eücksicht auf die
Anhäufung gleicher oder gleichartiger Betriebe einen geeigneten Boden für
diese Genossenschaften voraussetzt. Sie werden für die Arbeiter und Unter-
nehmer getrennt errichtet, aber bezüglich der beiden Genossenschaftsver-
sammlungen besteht ein Unterschied, indem die Vollversammlung der Unter-
nehmer aus allen Individuen, die der Arbeiter nur aus Delegierten besteht,
die von den Arbeiterausschüssen gewählt werden. Als Zweck dieser Genossen-
schaften wird im Gesetze bezeichnet: „im Kahmen der bestehenden Gesetze
die wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder, soweit sie mit dem Gegen-
stande ihrer gewerblichen Thätigkeit in Zusammenhang stehen, zu erörtern,
einschlägige Wünsche und Beschwerden in Berathung zu ziehen und hiebei
über ihre Haltung zu den in den betreffenden Fragen von der anderen
Genosschenschaft gefassten Beschlüssen sich zu entscheiden."
Die Genossenschaftsversammlung wählt die Vorstehung, an deren Spitze
der Genossen Schaftsvorsteher tritt, dessen Wahl jedoch der Bestätigung
vt)n Seite der Gewerbebehörde unterliegt. Die Genossenschaften stehen unter
Aufsicht von besonderen Commissären, sie können wenn sie rechts- oder
gesetzwidrig vorgehen, wenn sie ihren W^irkungskreis überschreiten oder
überhaupt „den Bedingungen ihres rechtlichen Bestandes nicht mehr ent-
sprechen," aufgelöst werden. Die Kosten sollen durch freiwillige Beiträge der
Handelskammern und der Gemeinde, endlich durch Umlage gedeckt werden.
Der dritte Abschnitt des Entwurfes handelt von den Einigungsämtern.
Der Handelsminister kann sie dort wo Genossenschaften, auf welche sie
aufgebaut werden sollen, bestehen, durch Verordnung errichten. Sie sind
„zur Herbeiführung eines gütlichen Uebereinkommens zwischen den Gewerbs-
unternehmern und Arbeitern, über die Bedingungen der Fortsetzung oder
Wiederaufnahme des Arbeitsverhältnisses bestimmt und haben insbesondere
die Aufgabe, vermittelnd einzugreifen, wenn über die aus dem Arbeits-
vertrage entspringenden Rechte und Verpflichtungen oder über die Ab-
änderung des Arbeitsvertrages Meinungsverschiedenheiten zwischen Unter-
nehmern und Arbeitern entstanden sind oder zu entstehen drohen."
Das Einigungsamt besteht aus einer gleichen Zahl von aus den Genossen-
schaften gewählten Unternehmern und Arbeitern (3 — 5), welche einen
Socialrelorin in üesterreicli. 27
Obmann und Stellvertreter wählen, die jedoch von der politischen Landes-
behörde ernannt werden, wenn die Wahl nicht zustande kommt. Die Ver-
handlungen vor dem Einigungsamte sind mündlich und finden unter Zuziehung
von Vertrauensmännern beider Parteien statt. Kommt eine Einigung zu-
stande, wird der Inhalt derselben veröffentlicht, kommt sie nicht zustande
so hat das Einigungsamt einen Schiedsspruch zu fällen und den Parteien
mit der ilufforderung bekannt zu geben, sich binnen einer Frist zu äussern,
ob sie sich demselben unterwerfen wollen oder nicht. Das Eesultat, wenn
es auch ein negatives ist. wird veröffentlicht.
Wir stehen vor einer sehr schwierigen Aufgabe, denn wir werden
aufgefordert, den umgekehrten Weg einzuschlagen, welchen die social-
reformatorische Gesetzgebung unserer westlichen Nachbarn, insbesondere
Englands, das dem Continent in der Entwickelung der grossen Industrie und
in der Entwickelung der Gesetzgebung auf diesem Gebiete so weit voraus
ist, gegangen ist. Dort ringen sich neue Gedanken in der öffentlichen
Discussion, frei aus dem Bedürfnisse geboren, zu einer gwissen Geltung
empor, praktische Ansätze für neue Institutionen sind lange- vorhanden und
Erfahrungen sind gesammelt, bevor man daran geht, eine gesetzliche Form
zu suchen. Wenn wir aber heute in Oesterreich von Arbeiterausschüssen,
Unternehmer- und Arbeitergenosschaften und Einigungsämtern reden, so
haben wir es — abgesehen von den schüchternen Versuchen, welche etwa
ein Dutzend Unternehmer mit Arbeiterausschüssen gemacht haben — mit
Abstractionen fremdländischer Einrichtungen zu thun, die in ein Polizei-
gewand gesteckt und bei uns angewendet werden sollen; mit anderen
Worten: Dieser Gesetzentwurf enthält nicht den in eine Form gebrachten
Niederschlag des Lebens, sondern er ist ein Programm, welches man damit
rechtfertigt, dass man sagt: in einem Lande, wo in unserer drängenden
Zeit gewisse sociale Bedürfnisse nicht aus eigenem Antriebe der Be-
theiligten geschaffen werden, muss die Gesetzgebung den Impuls geben.
Wir wollen den Wert eines solchen Impulses nicht herabsetzen, denn
er entspringt einem . edlen Willen gegenüber den um Lohn arbeitenden
Classen; er muss aber durch eine objective Betrachtung der Dinge, wie sie
sich auf gewerblichem Gebiete bei uns herausgebildet haben, sowie
durch eine genaue Prüfung der Voraussetzungen für die neuen gesetz-
geberischen Acte geleitet werden. Erst dann werden wir wissen, wie weit
w^ir gehen dürfen, was wir heute in Angriff nehmen können und was wir
erst an Vorarbeiten zu leisten haben. „Le bien et le mal, la verite
et Terreur dependent du degre de sagesse ou d'exageration qu'on donne
aux idees."
Von der Kunst diesen Satz anzuwenden, wird es abhängen, ob aus
dem Gesetzentwurfe ein wirksames Gesetz werden wird. Der Arbeiter soll
dazu herangezogen w^erden Einsicht in das grosse Getriebe wirtschaftlicher
Interessen zu erlangen und etwas praktisches zu leisten, dem Unternehmer
sollen die Pflichten zum Bewusstsein gebracht werden, die der Ausfluss
seiner ökonomischen Stellung sind, beide sollen Erfahrungen austauschen
2 g Baemreither.
Über die Schwierigkeiten ihrer Lage und beide sollen dadurch ein billiges
Maass finden für Forderung und Gewährung.
Mit Arbeiterausschüssen hat man in Deutschland nicht unbedeutende
Anfänge gemacht und auch einige Firmen in OesteiTeich haben sie ver-
suchsweise eingeführt, in av eichen Formen und mit welchem Erfolge. w4rd
die Enquete erweisen, welche über den Gesetzentwurf vom Gewerbe-
Ausschüsse des Abgeordnetenhauses veranstaltet werden wird. Wir wollen
also vorläufig nur einige Aeusserungen hervorragender Corporationen und
Vereine erwähnen und einige Bemerkungen daran knüpfen.
Im allgemeinen kann man wohl sagen, dass die Idee der Arbeiter-
Ausschüsse in Oesterreich bei vielen Unternehmern Verständnis und Zu-
stimmung findet, wenn wir auch nicht in allen Fällen sicher sind, ob
dieses Verhalten nicht blos ein platonisches ist. Der Schwerpunkt der
Discussion in den Kreisen der Unternehmer liegt bis jetzt in der Frage,
ob diese Ausschüsse obligatorisch für alle fabriksmässigen Betriebe ein-
geführt werden sollen, wie die Gesetzesvorlage will, oder ob die Ein-
richtung nur facultativ bestehen und es von dem ♦ guten Willen des
Unternehmers abhängen soll, es mit derselben zu versuchen oder nicht.
Eine Ausarbeitung des industriellen Clubs, welcher einen Entwurf
für einen Arbeiterausschuss verfasst hat, bezeichnet diesen Ausschuss ganz
richtig als ein Vermittlungsorgan zwischen Arbeitern und Unternehmer.
„Da der Arbeiterausschuss aus Vertrauenspersonen der Arbeiter be-
steht, welche im Wege freier Wahl zu dieser Stelle berufen werden, so
ist er ihre anerkannte Vertretung und deshalb besonders geeignet, den
Wünschen und etwaigen Beschwerden der Arbeiterschaft des einzelnen
Etablissements in passender Form Ausdruck zu leihen. Umgekehrt über-
nimmt jedes Auschussmitglied die Verantwortlichkeit, auf die Arbeiter-
schaft im Sinne der Mässigung und Aufklärung einzuwirken. Es wird damit
jener regellose Zustand beseitigt, welchen Worthelden benützen, um die
Arbeiter irre zu leiten. Es wird nicht vorkommen können, dass Eädels-
führer ohne Mandat und ohne die geringste Verantwortlichkeit und Ver-
bindlichkeit, in der Menge stehend, rufen: „Wir fordern im Namen der
Arbeiter dies und jenes." Kurz, es wird ein Organ bestehen, welches, in
ruhigen Tagen geschaffen, gerade in stürmischen Zeiten sich bewähren soll.
Unbedeutende Anlässe und kleine Zwiste, welche früher zu erbitterten
Kämpfen und Ausständen führten, können dann im Ausschusse freimüthig
besprochen und in vielen Fällen in kürzester Zeit zur Befriedigung beider
Theile gelöst werden. Die eigene positive Thätigkeit der Arbeiter im Aus-
schusse wird ihre erziehliche Wirkung äussern, sie besonnener, erfahrener
und dadurch den auswärtigen Einflüssen unzugänglicher machen. Es wird
ferner ein Sicherheitsventil gegen Geheimthuerei geschaffen; unklare
Meinungen und irrige Ansichten werden durch Kede und Gegenrede im
Ausschusse besser geklärt werden als dies heute möglich ist, es wäre denn,
dass man den Arbeiter in der Schenke aufsucht, um ihn zu widerlegen.
Aber der Ausschuss kann auch zu einem sehr nützlichen Verwaltungsorgan
Socialreform in Oesterreicli. 29
herangebildet werden in allen Angelegenheiten, zu denen die heutige Social-
gesetzgebung den Unternehmer verpflichtet und welche er etwa ans freien
Stücken für seine Arbeiter einrichtet. Eine Eeihe von Thätigkeiten können
sie besser verwalten als es von der Fabriksleitung geschehen kann, weil
eben die Arbeiter unter sich nicht nur innerhalb, sondern auch ausserhalb
der Fabrik in steter Berührung sind, gegenseitig ihre Lebensverhältnisse
sehr genau kennen und dadurch in vielen Fällen ein richtigeres Urtheil
haben, als der fernstehende Betriebsbeamte. Die Einrichtung erspart dem
Unternehmer dadurch viel Aerger und Zuträgerei und überhebt ihn oft der
Mühe langer Untersuchungen."
Mit grosser Entschiedenheit tritt aber der industrielle Club dafür ein,
dass die Arbeiterausschüsse aus der freien Entschliessung der Unternehmer ins
Leben gerufen werden müssen, weil in der obligatorischen Einführung ein
Misstrauen gegen die Unternehmer liege, das sich auf die Arbeiter über-
tragen werde und in die Ausschüsse von vornherein Kampf und Wider-
spruchsgeist hineintragen würde, ohne die radicalen Socialisten zu be-
friedigen; während die freiwillige Einführung von der Arbeiterschaft aner-
kannt und mit Dank aufgenommen würde und durch dieselbe die noth-
wendige Autorität und das Vertrauen zu dem Fabriksherrn keinen Abbruch
oder Stoss erleiden und auch jene künstliche Spannung vermieden würde,
welche häufig die Folge zwangsweise eingeführter Erleichterungen ist.
Wir haben diese Aeusserung eines bedeutenden Vereines für viele
citiert. Im gleichen Sinne hat sich der Verband der Baumwollindustriellen
OesteiTcichs , der Verein der Ascher Textilindustriellen, die Baumwoll-
industriellen Vorarlbergs u. s. w. ausgesprochen. Auch im niederösten*ei-
chischen Gewerbe vereine hat eine eingehende Discussion dieser Frage statt-
gefunden. Die überwiegende Majorität sprach sich für die facultative Form
aus, und es wurde insbesondere betont, und ausgeführt, dass in kleineren
Betrieben und in patriarchalischen Verhältnissen kein Boden für die Ein-
richtung von Arbeiterausschüssen bestehe, dass auch bei der obligatorischen
Einführung der Erfolg nur vom guten Willen des Unternehmers abhänge,
dass der Druck einer imperativen Gesetzgebung nicht nothwendig sei, um
die Institution ins Leben zu rufen, sondern dass die Unternehmer dem
moralischen Drucke folgen und freiwillig vorgehen werden.
Aber wir wollen auch das Votum eines anderen Interessentenkreises
— des Vereines der Schafwollindustriellen in Brunn — anführen, weil es
von einem anderen, wie uns dünkt, unbefangeneren und freieren Geiste ein-
gegeben ist. Es zeigt, wie wenig die Industriellen von der Lösung dieser
Frage zu fürchten, wie viel sie in ihrem richtig verstandenen Interesse von
ihr zu hoffen haben.
„Für den Grossunternehmer ist es von hohem W^erte, einen neutralen
Boden zu gewinnen, auf dem er mit den Arbeitern und ihren berufenen
Vertretern in besonnenen sachlichen und fachlichen Meinungsaustausch
über gemeinsame Angelegenheiten treten kann. Die patriarchalischen Ver-
hältnisse früherer Zeiten haben zum mindesten in den Industriecentren zu
30 Baerareither.
bestehen aufgehört, der Familiencharakter des Arbeitsverhältnisses ist fast
überall verschwunden, das Gefühl des Classen- und Interessengegensatzes
ist durch den eigenartigen Charakter des Grossbetriebes und durch die
Einwirkung der socialdemokratischen Bewegung immer mehr gewachsen, so
dass der Arbeiter und Arbeitgeber in ihrem Verkehre immer mehr einander
entfremdet wurden. Die Folgeerscheinungen dieser Thatsachen machen sich
in bedauerlicher Weise geltend. Bei Streitfällen, welche bei ruhiger Aus-
einandersetzung leicht zu beseitigen wären, entsteht sofort ein schroffer
Gegensatz, dessen Ausgleichung in der Fabrik nicht einmal versucht wird,
sondern der, sofort nach aussen gelangend, zu Verwickelungen führt, deren
kleinlicher Anlass zumeist ganz unbegreiflich ist. Der Zündstoff theilt sich
mit. und die geringfügige Angelegenheit einer einzelnen Gewerbsunterneh-
mung wird oft der Anlass, der Arbeiter und Arbeitgeber ganzer Industrien
in die Kampfesstellung führt. Anregungen und Anstände, Wün-
sche. Beschwerden und Streitfälle, welche auf ein einzelnes
Etablissement sich beziehen, dürften wohl am raschesten und wirksamsten
beseitigt oder vermieden werden, wenn in der Unternehmung ein Vertretungs-
körper besteht, welcher in gemessenen Zeiträumen und im Falle des Bedarfes
Arbeitgeber und Arbeiter zu gemeinsamer Berathung vereinigt. Der Arbeiter
•gewinnt Interesse an dem individuellen Leben der Unternehmung, in welcher er
arbeitet, wenn er an ihren Schicksalen in Fragen Antheil nehmen kann,
welche sein Arbeitsverhältnis betreffen ; Verwickelungen können verhütet.
Gegensätze ausgeglichen werden, wenn jenes gegenseitige Vertrauen, jene
Achtung und Einsicht wachgerufen wird, welche die Interessensolida-
rität des Unternehmens und der Arbeiter fordert. Kennt der
Arbeiter die Lebensbedingungen seiner Fabrik, so dürfte ihm auch nicht so
leicht einfallen. Forderungen zu erheben, welche der Unternehmer nicht er-
füllen kann. Die Theilnahme der Arbeiter an der Controle der Einhaltung der
Arbeitsordnung, die Theilnahme an der Verhängung der Ordnungsstrafen,
die Berathung über die Fragen des individuellen Arbeitsverhältnisses in der
einzelnen Fabrik braucht der Fabrikant, der seine Pflichten kennt und erfüllt,
nicht zu fürchten. Die Disciplin wird nicht gelockert, sondern
auf eine höhere moralische Grundlage gestellt, welche die
beste Bürgschaft dafür ist, dass die Arbeiter an eine besonnene sachliche
Prüfung ihrer Verhältnisse gewöhnt und von den utopischen Forderungen
der Parteiprogramme entfernt werden. Entwickeln sich die Arbeiter-
ausschüsse in entsprechender Weise, so kann ihr Arbeitsgebiet, das anfangs
nicht allzuweit geöffnet werden darf, in der Folgezeit erweitert werden.
Unser Verein billigt somit diese Einrichtung und anerkennt auch
dieNoth wendigkeit des obligatorischen Charakters dies er
Organisation, da die Vorbedingung eines allgemeinen guten Einverneh-
mens der Arbeitgeber und Arbeitnehmer eines Industriecentrums die Kechts-
gleichheit der Arbeiter in den Unternehmungen derselben Branche ist. Nur
verbitternd könnte es wirken, wenn unberechtigtes Misstrauen oder persön-
liche Voreingenommenheit einen Betriebsbesitzer veranlassen würde, dem
Socialreform in Oesterreicli. 31
Beispiele einer Anzahl Collegen , welche Arbeiterausschüsse einrichten
würden, nicht zu folgen. Ein derartiges Unternehmen, wo die Arbeiter nicht
derselben Berechtigungen sich erfreuen, wie die Arbeiter anderer Unterneh-
mungen, wo auch ein etwaiger Widerstreit nicht durch Arbeiter- Ausschüsse
zum Austrage gebracht werden kann, könnte leicht der Ausgangspunkt für
Verwickelungen werden, welche bei dem Solidaritätsgefühl der Arbeiter in
ihrem Wellenschlage immer weitere Kreise beeinflussen würden, trotzdem
für diese selbst der individuelle und unmittelbare Anlass zu einem Wider-
streite fehlt. Wenn wir daher dem obligatorischen Charakter der Einrichtung
im Interesse ihrer gedeihlichen Wirksamkeit das Wort reden, da auch nur
auf diesem Wege eine gewisse Gruppe von Arbeitgebern zur Einführung
vermocht werden kann, so müssen wir doch darauf hinweisen, dass zur
Einfuhrung der Arbeiterausschüsse in den Etablissements ein nicht allzu
ängstlich bemessener zeitlicher Spielraum gegeben werden
möge, da die Besonderheit der einzelnen Unternehmungen unter Umständen
nicht zulassen kann, sofort nach dem etwaigen Inkrafttreten des Gesetzes
mit dessen Durchführung zu beginnen."
In der Enquete werden wir auch die Arbeiter zu hören bekommen,
aber die Argumentation wird sich wohl immer um dieselben Punkte drehen.
Die gesetzgebenden Factoren werden eine schwierige Entscheidung haben.
Es hiesse der Enquete vorgreifen, wollten wir andeuten, wie sich die Sachen
möglicher Weise gestalten werden. Soviel ist aber gewiss, dass es sich in
letzter Linie darum handelt, ob die Unternehmer einsehen wollen, dass sie
sich, bezüglich gewisser die Arbeitsverhältnisse in ihren Betrieben betrefiFenden
Fragen zu einer Theilung der Gewalten entschliessen müssen, gerade so wie
einst die absoluten Monarchen zur Ertheilung von Constitutionen.
Will man das Lohnsystem in seiner autokratischen Schroifheit aufrecht
erhalten, so treibt man die ganze Arbeiterschaft nach und nach in das
Lager der doctrinären utopistischen Socialdemokratie. Bietet man aber die
Hand zu Modificationen, zu einer Milderung, zu einer Fortbildung des Lohn-
systemes, so werden an die Stelle von Umsturzideen Entwickelungsideen
treten.
Für die Gesetzgebung liegt die Entscheidung der Frage, ob obligato-
rische oder facultative Arbeiterausschüsse, demnach nicht in den äusseren
Argumenten. Dass diese Ausschüsse in geeigneter Form ein geeig-
netes Mittel sind, das Lohnsystem zu mildern, wird allgemein anerkannt.
Ohne den guten Willen beider Theile — am Anfang aber besonders der
Unternehmer — ist der Gedanke nicht durchführbar. Die Gesetzgebung wird
also für jene Form sich entscheiden, durch welche sie den Sieg des guten
Willens sicherer herbeiführen kann.
Der zweite Theil des Entwurfes, welcher die Genossenschaften der
Arbeiter und Unternehmer zum Gegenstande hat. findet bis jetzt weit weniger
Verständnis als die Arbeiterausschüsse und doch handelt es sich hier um
eines der wichtigsten und schwierigsten Probleme unserer Zeit, um die
Frage nämlich: wie es der grossen Masse der Lohnarbeiter zu ermöglichen
32 Baemreither.
und zu erleichtern wäre, sich herufsmässig aneinander zu scliliessen, dadurch
ihre Interessen zu verstärken und ihre Selbsterziehung zu befördern. Wir
reden hier nur von den Arbeitergenossenschaften, denn wo diese sich stark
und lebenskräftig entwickeln, folgen die Organisationen der Unternehmer
von selbst nach.
Man sollte nun glauben, dass man das eigentliche Object der Gesetzes-
vorlage, den Lohnarbeiter, kennt, und dass man seine Lage untersucht hat.
Leider müssen wir aber eingestehen, dass wir über das Leben, das Ein-
kommen, die Arbeits- und Wohnungsverhältnisse, die Anschauungen, die
politischen und socialen Gesinnungen des österreichischen Arbeiters nur
lückenhaft unterrichtet sind. Den verschiedenen Gestaltungen, in denen
sich das Leben der Arbeiter bewegt, den Vereinen und Versammlungen,
der Arbeitei-presse. den Congressen wird in Oesterreich noch sehr wenig
Autmerksamkeit geschenkt. Sie schliessen eine Welt von Ansichten, Be-
strebungen und Wünschen ein, die sich täglich erweitert, aber unsere
officielle Statistik reicht nicht bis dahin, unsere Verwaltung ist in keiner
andern Verbindung mit dieser Welt, als durch den Polizeicommissär, unsere
grosse politische Presse wirft nur hie und da einen Seitenblick dahin und
auch unsere politischen Parteien haben keinen Contact mit ihr. Nur im
allgemeinen können wir sagen, dass sich die Beziehungen zwischen Unter-
nehmern und Arbeitern bei uns entschieden verschlechtert haben, dass
die socialdemokratische Agitation ausserordentlich an Boden gewonnen hat,
dass die socialdemokratische Idee immer weiter durchsickert und dass die
patriarchalischen Zustände, die in manchen Gegenden noch herrschen, im
Schwinden begriffen sind. Die alten Formen sind aufgelöst oder in Auflösung
begriffen, eine neue Form ist nicht gefunden, denn die Agitation allein kann
keine gesellschaftliche Organisation schaffen und wir dürfen uns nicht
wundern, von verschiedenen Seiten zu hören, die Arbeiter seien ohne morali-
schen Halt, die Familienbande seien gelockert, die Ansprüche maasslos, das
Pflichtgefühl gering.
Zwei Thatsachen kann man aber nicht genug hervorheben, die Zunahme
des Classenbewusstseins in unseren Arbeiterkreisen und die Wirkung der
modernen Schulbildung auf dieselben. Dort wo die Industrie dichter ange-
siedelt ist, wo der Verkehr, die Presse, bessere Löhne den Arbeiterstand
freier gestellt haben, da haben wir ihn als compacte Masse vor uns. erfüllt
von gleichen Ideen und Bestrebungen, dort sucht er durch die Solidarität
der Genossen die Berufsunterschiede zu vernichten, das Classeninteresse
zum dominierenden zu machen und die heutige Arbeitergeneration unter-
schiedslos für dieses Interesse zu erziehen. Das ist bereits im grossen
Umfang gelungen und nichts trägt zur Verbreitung des Classenbewusstseins
mehr bei, als jener höhere Grad von Kenntnissen und Intelligenz, der in
der modernen Volksschule erworben wird und der den Arbeitern die Mittel
in die Hand gibt, sich in ihrer Weise fortzubilden.
Aus keiner modernen Institution hat unser Arbeiterstand einen
grösseren Nutzen gezogen, als aus der heutigen Volksschule. Die Männer
Soclalreform in Oesterreich. 33
der neuen und alten Schule kennt man sofort auseinander. Keine Schichte
der Bevölkerung benützt die Bildungsmittel der neuen Schule so consequent
und energisch um Kenntnisse zu erwerben und sich Vorstellungen von dem
wirtschaftlichen Leben und vom Staatswesen zu machen. Es ist dies ein
idealer und zugleich praktischer Zug, denn er ist verbunden mit dem Glauben
an die Macht des Wissens und er entspricht dem, wenn auch dunklen Ge-
fühle, dass die Zukunft eine andere sein wird und dass Schulung und Kennt-
nisse diese Zukunft näher bringen. Beide Elemente, das Classenbewusst-
sein und der Trieb nach Erweiterung von Kenntnissen treffen zusammen,
verstärken sich, bilden eine Macht. Sie ist- der Factor mit dem die Social-
politik vor allem rechnen und zu dem der Staat mit seiner Gesetzgebung
und Verwaltung Stellung nehmen muss. Das ist bis heute nicht der Fall.
Wir wollen die Planlosigkeit, die darin herrscht an einem Beispiel, der
Behandlung des Vereinswesens zeigen. Regierungsvorlagen, die den Arbeiter
in Ausschüssen, Genossenschaften, Einigungsämtern thätig sehen wollen, wo
er Kenntnisse braucht, Urtheilsfähigkeit, Haltung und Disciplin beweisen soll,
auf der einen Seite — sinnlose Repression seiner intellectuellen Bestrebungen
auf der andern Seite. Die Vereinsgesetze vom Jahre 1852 und 1867 sind sehr
prekäre Eechtsformen für das moderne Vereinsleben, aber ihre Handhabung
fällt noch schwerer ins Gewicht als der Inhalt. Tief in die Seele der
heutigen Menschen ist die Idee der Gleichheit vor dem Gesetze eingegraben.
Ueber mangelhafte Gesetze tröstet man sich am Ende, aber die willkürliche
Handhabung erbittert. Nichts wirkt aufregender, als wenn in einem Theile
des Staates etwas erlaubt ist, was in einem andern verboten ist, wenn ein
Bezirkshauptmann etwas verhindert, was ein anderer geschehen lässt, wenn
ein und dasselbe Vereinsstatut hier genehmigt, dort als unzulässig erklärt
wird und wenn gegen diese Ungleichheiten — die bis zu einem gewissen
Grade überall vorkommen — eine oberste Instanz nicht rasch uud im Sinne
der Gleichheit vor dem Gesetz einschreitet.
Wenn man hört, wie Vereinsversammlungen grundlos aufgelöst, Fest-
reden verboten, das Vorlesen von Telegrammen und Begrüssungsschreiben
verhindert, Lieder aus den Programmen von geselligen Unterhaltungen aus-
gemerzt, Zeitungsartikel wahllos confisciert werden; wenn man diesen ganz
kleinlichen Krieg der Polizeiorgane gegen die Arbeitervereine, dann aber
auch wieder die unsichere Haltung dieser Organe in einer grösseren Ver-
sammlung mitansieht, wird man an die vormärzlichen Künste der Polizei
erinnert, die so unwirksam waren und unser Vaterland so lächerlich gemacht
haben. Freilich handelt es sich hier um eine verfehlte Politik nicht nur
gegen die Arbeiterkreise, sondern in einem viel weiteren Umfang; denn
dass unsere veraltete Form der Repression gegen die etwaigen Ausschreitungen
des öffentlichen Lebens einer Reform bedürfe, kann der conservativste Mann
in Oesterreich zugeben.
Es wäre interessant zu zeigen, wie aber selbst auf diesem ungünstigen
Boden sich unsere Arbeitervereine entwickelt haben, was für eine Tendenz
sie verfolgen, wieviel Mitglieder sie besitzen und wieviel Vermögen sie an-
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. I. Heft. 3
34
Baernreither.
gesammelt haben. Leider ist es uns nur gelungen über Zahl und Art der
Arbeitervereine in den verschiedenen Kronländern die nachfolgende Zusammen-
stellung zu machen, für welche wir eine annähernde Grenauigkeit in Anspruch
nehmen können.
Arbeitervereine nach dem Stande vom 31. December 1890.
Vereins-Kategorien
Arbeiter-Bildungsvereine ....
Arbeiter-Casinovereine
Erwerbs- u. Wirthschaftsgenossen-
scbatten der Arbeiter und zwar :
a) Arbeiter Consumvereine . .
b) Arbeiter Spar- und Yorschuss-
vereine ........
c) Sonstige Arbeiter-Genossen-
schaften
Arbeiter - Fachvereine (Gewerk-
schaften)
Allgemeine Arbeiter - Gewerbe-
vereine
Arbeiter - Kranken und Leichen-
vereine
Arbeiter-Lesevereine
Arbeiter- Versorgungsvereine . .
Politische Arbeitervereine . . .
Wohlthätigkeitsvereine d. Arbeiter
Ol o
Sil-
26
30
10
11
66
81
1
4
4
9!
26
12
32
7124
13
1
1
613
2
29
— 5
1
1
1
Zusammen
'243J 7421 91
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2417
42
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10
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74
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4
6
2
13
657
18
15
1 —
58 15 42
5 - 1
181
17i 7
6: 1
40 7725 9
307
103
92
16
27
225
42
697
20
19
7J
41
1596
In diesen Vereinen herrscht ein reges Leben. Jeder Sonn- und Feiertag
wird zu Discussionen benutzt, die Fach- und Bildungsvereine üben eine
Anziehung durch Vorträge und Curse, die Arbeiterzeitungen — es existieren
dermal ungefähr ein halbes Hundert, die auf socialdemokratischem Boden
stehen, davon mehr als die Hälfte in deutscher Sprache — tragen das
Classenbewusstsein auch in entfernte Werkstätten und die Arbeitercongresse,
die sich besonders in den letzten Jahren gemehrt haben, geben Gelegenheit
zur Berührung und zum Gredankenaustausch mit G-enossen aus andern
Gegenden und Ländern. Man sollte die Tragweite dieser Bewegung, welche
in dem letzten Decennium an Umfang, Intensität und Planmässigkeit sehr zuge-
nommen hat, nicht übersehen, denn sie ist streng nach dem gemeinsamen
Ziel gerichtet und durch nichts abgelenkt, was sonst in unserm Staate die
politischen Ideen durchkreuzt oder abschwächt. Sie ist bis jetzt auch noch
unberührt vom nationalen Antagonismus. Im December 1890 fand in Wien
der erste Congress der Berg- und Hüttenarbeiter Oesterreichs statt, der
drei Tage dauerte und der etwa zur Hälfte von deutschen und zur Hälfte
von böhmischen Delegirten besucht war. Die Verhandlungen wurden zwei-
sprachig geleitet, die Reden in beiden Sprachen gehalten, alles so gut es
gieng verdolmeltscht, aber nicnt die leiseste Reibung fand statt, keine
sprachliche Rivalität trat zu Tage, man hatte das Gefühl, dass diese
Menschen, erfüllt von ihrem gemeinsamen socialen Interesse, sich eben ver-
Socialreform in Oesterreich. 35
stehen wollen und als einer der eingeladenen Eeichsrathsabgeordneten in
deutscher Sprache einige Worte an die Versammlung richtete, um für die
Einladung zu danken und sich entschuldigte, dass er dies nicht auch in
böhmischer Sprache wiederholen könne, stand ein schlichter Bergmann auf
und erwiderte ihm: „Wir haben uns mit dem Vertrauen an- Sie gewendet,
dass sie als Vertreter der Menschlichkeit und des Edelsinns sich unser an-
nehmen werden. Wir arbeiten im Sinne der Socialdemokratie und bei diesem
unserm Streben schwinden alle Unterschiede der Nation, Eeligion. des
Standes und des Keichthums. Als was einer geboren wird, das mag er bleiben,
und niemand werfe es ihm als Fehler vor. " Auf dem zweiten österreichischen
Parteitag, der in Wien im Juni 1891 abgehalten wurde, machten sich
allerdings einige cechische Delegierte bemerkbar, die das Verlangen stellten,
„dass die Organisation der socialdemokratischen Partei nach den Volks-
stämmen platzgreifen soll," aber sie blieben auch den Delegierten ihrer
eigenen Nation gegenüber in verschwindender Minorität und die nationale
Frage trat gegenüber der Discussion über die allgemeine Organisation der
Arbeiterpartei, über Presse, Vereins- und Versammlungsrecht, über allge-
meines Wahlrecht, Maximalarbeitstag, Coalitionsrecht, Arbeiter schütz, Unter-
stützungswesen, Gewerksorganisation und Schule — weit in den Hintergrund.
Es handelt sich nun darum, was für eine Stellung Staat und Gesellschaft
zu dieser Bewegung einnehmen sollen.
Wir täuschen uns nicht darüber, dass die Lebensgewohnheiten und
Bestrebungen der Arbeiter gefährliche schädliche Seiten aufweisen, die der
Staat bekämpfen, nöthigenfalls unterdrücken muss, aber wir haben gezeigt,
dass parallel berechtigte, ideale Kräfte tliätig sind. Seien wir gerecht. Ist
dieser Widerstreit zwischen dem Schlechtem und Bessern nicht das Erbtheil
jeder gesellschaftlichen Entwicklung? Der Staat und seine Verwaltung muss
untersuchen, scheiden und dann je nachdem bekämpfen und unterdrücken,
aber auch unterstützen und leiten. Bis jetzt sieht aber der Staat bei uns
theilnamslos zu, wie Gutes und Böses in die Halme schiesst, und unter-
sucht nicht und unterscheidet nicht und lässt die schädlichen Einflüsse
gewähren und hilft dem Guten nicht zum Durchbruch; bei irgend einer
wirklichen oder eingebildeten Gefahr für die öifentliche Kühe und Ordnung
kommt dann die Polizei und unterdrückt — natürlich nur vorübergehend
— beide. Wir müssen auf diesem Gebiete endlich zu neuen Maximen
in der Gesetzgebung und Verwaltung kommen.
Die Socialpolitik kann nun freilch nicht darauf ausgehen, Theorien zu be-
kämpfen und Fanatiker zu bekehren, aber sie kann den Menschen mit seinen Ge-
danken und seiner Thätigkeit auf den Boden der Wirklichkeit versetzen und ihm
helfen auf diesem Boden etwas Greifbares für sich und die Seinen zu
leisten, denn trotz aller weitfliegenden Pläne ergreift der Mensch doch
das Naheliegende, wenn es ihm richtig geboten wird. Sie weiss sehr gut,
dass hinter dem heutigen wirtschaftlichen Gegensatz ein Gegensatz der
Anschauungen zwischen Arbeitern und Unternehmern besteht, dass die
ersteren, wo die patriarchalischen Verhästnisse aufgehört haben, eine grosse
3*
36
Baerareither.
solidarisch auftretende Masse sind, die von einer unsichtbaren aber mächtigen
geistigen Strömung, die theilweise gegen Staat und Gresellschaft gerichtet
ist, beherrscht werden, dass sie also vor allem die praktische Mitwirkung
der Arbeiter gewinnen muss, um ans dem Bereich der praktischen Arbeit
in das Keich der Gedanken hinüberzuwirken. Das ist allein der Weg, das
überwuchernde Classenbewusstsein durch Einwirkung eines berufsmässigen
Interesses einzudämmen, oder vielleicht richtiger gesagt, zu erziehen und
umzubilden.
Will nun die Gesetzgebung und Verwaltung des Staates an diese
Frage herantreten, darf sie sich vor allem nicht der Illusion hingeben,
dass durch Ministerialverordnung und polizeiliche Keglementierung etwas
zu erreichen ist. Das Vorgehen der Gesetzgebung kann trotzdem ein sehr
verschiedenes sein. Wo die Arbeiter sich bereits in der Freiheit geeinigt,
ihre Einigungen sich erprobt und geläutert haben, da ist die Gesetzgebung
das Kesultat, nicht der Anfang. Die englischen Acte von 1871 und 1876
haben die Trades ünions nicht geschaffen, sondern ihrem Bestand nur gesetz-
liche Form gegeben. Dieser Entwickelungsgang ist bei uns ausgeschlossen.
Die Gesetzgebung kann aber wohl auch versuchen — und das ist der Weg
den sie bei uns einzuschlagen haben wird — mit Bedachtnahme auf die
locale Vertheilung der Industrie und ihrer Arbeiter, auf Bildungsgrad und
Bildungstrieb der Arbeiter, auf ihre Bedürfnisse, ihre Neigungen, auf die
schon verhandenen Ansätze von Vereinigungen — eine Form für die genossen-
schaftliche Vereinigung aufzustellen, welche frei und nützlich sein müsste,
um die Arbeiter heranzuziehen, welche die gesunden und berechtigten Be-
strebungen der Arbeiter fördern müsste, damit sie nicht auf dem Papier
bleibt und die dann auch erziehend wirken würde.
Ein Beispiel einer derartigen gesetzgeberischen Action, die das berufs-
mässige Interesse in einer freien Form der Organisation zu erwecken ver-
standen hat, bietet das französische Gesetz vom 21. März 1884, „sur les syndicats
professioneis ". Nach diesem Gesetze können sich getrennte Genossenschaften
der Arbeiter und Unternehmer oder solche in denen beide zusammen wirken
(syndicats mixtes) bilden mit dem Zweck , wirtschaftliche, industrielle, com-
mercielle, und landwirtschaftliche Interessen zu studieren und zu ver-
theidigen.'' Im Jahre 1884 gab es in ganz Frankreich 101 ünternehmer-
syndicate, 68 Arbeitersyndicate, 1 gemischtes Syndicat, 5 landwirtschaftliche,
im ganzen 175. Im Jahre 1891 gab es dagegen schon 1127 ünternehmer-
syndicate, 1250 Arbeitersyndicate. 126 gemischte, 750 landwirtschaftliche,
zusammen 3253 mit 596.380 Mitgliedern.
Wir stehen demnach vor der Aufgabe den Gesetzentwurf, der in seinem
zweiten Theile die grosse, alle industriellen Völker beschäftigende Frage
nach der berufsmässigen Organisierung des Arbeiters tan des bei uns auf die
Tagesordnung gesetzt hat, nach allgemeinen Gesichtspunkten zu prüfen und
durch die Enquete so viel als möglich sichern Boden zu gewinnen, um die
Eegierungsvorlage umformen und die legislative Idee, die ihr zugrunde
liegt, lebensfähig machen zu können.
Socialreforin in Oesterreich. 37
üeber die Einigungsämter, den dritten Theil des Entwurfes, möchten
wir nur einige Bemerkungen machen. Sie werden allseitig als etwas sehr
wünschenswertes bezeichnet, die Schwierigkeit der Einführung wird aber
allgemein unterschätzt. Wir sollten gewarnt sein. Unsere gesetzlichen Bestim-
mungen über die Gewerbegerichte sind auf dem Papier geblieben. Nur drei
Gewerbegerichte (für Maschinen- und Metallwaren-Industrie in Wien seit 1873,
für Metallindustrie seit 1883 und für Webeindustrie seit 1870 in Brunn) sind
constituiert und ihre Thätigkeit ist gering, denn das Wiener Gewerbegericht
entschied im Jahre 1890 nur 173 Fälle, von den Brünnern das eine 123,
das andere nur 17. Wir müssen also einen ganz neuen Weg einschlagen,
um die Idee einer wirksamen, ausgleichenden Instanz in Lohn- und Arbeits-
streitigkeiten durchführen zu können. Auch die Vorlage scheint diesen
Weg nicht gefunden zu haben. Offenbar schwebt ihr die englische Einrich-
tung der „Boards of conciliation and arbitration" vor, aber ohne zu bedenken,
dass dieselbe unter dem Einfluss mächtiger wirtschaftlicher Kräfte entstanden
und durch eine Gruppierung der Arbeiter und Unternehmer gehalten ist, die
bei uns noch gar nicht besteht. Den Bemühungen des Fabrikanten Mundella
und des Kichters Kupert Kettle ist es vor etwa 40 Jahren gelungen, um
den erbitterten Classenkampf, der damals in gewaltthätigen Strikes, in
Verlusten der Industrie, in Noth und Elend der arbeitenden Classe ausartete,
zu mildern, Arbeiter und Unternehmer zusammenzubringen, um sich über
die Arbeitsbedingungen auseinanderzusetzen. Vom ersten Moment an hatte
man aber im Auge, dass es nicht der Mühe wert wäre, sich zusammen-
zusetzen, wenn die Entscheidungen des Einigungsamtes nicht wirklich durch-
geführt würden. Darauf concentrierten sich alle Bemühungen.
Ebenso wie bei uns ist dann auch die wohlmeinende Gesetzgebung
sofort bei der Hand gewesen und es hat ein Lord St. Leonard im Jahre 1867
einen Gesetzentwurf eingebracht und dieser Gesetzentwurf ist auch Gesetz
geworden, in welchem er rasch diese Idee der Einigungsämter unter das
gesetzliche Dach und Fach bringen wollte. Die Grundzüge dieser Leonard-
acte vom Jahre 1867, welche sich übrigens auf einen früheren Versuch
beziehen, der schon unter Georg IV. gemacht worden ist, sind folgende.
Durch Verordnung können Einigungsämter errichtet werden. Der Vorsitzende
soll ein Mann sein ausserhalb des Gewerbes. Die Unterwerfung ist frei-
willig. Die Unterwerfung schliesst jeden anderen Rechtszug aus. Die Ent-
scheidungen sind executionsfähig und ausdrücklich sind die Entscheidungen
des Einigungsamtes oder Schiedsgerichtes für die Zukunft — also Lohn-
festsetzungen für die Zukunft — ausgeschlossen. Mundella selbst hat eine
ähnliche Acte im Jahre 1872 eingebracht, die auch Gesetz geworden
ist. aber es trat etwas ein, was sich immer ergibt wenn die Gesetzgebung
vorschnell vorgeht und Verhältnisse zusammenzufassen sucht, welche noch
kein consistentes Gefüge haben.
Diese Gesetze sind gänzlich wirkungslos geblieben. Es sind kaum eine
oder zwei Verordnungen erlassen worden, wodurch solche Einigungsämter
errichtet wurden, und auch die Acte Mundella, welche sich von der Lord
33 • Baernreither
St. Leonardsacte nur dadurch unterscheidet, dass die schiedsgerichtlichen
ürtheile nicht executionsfähig sein sollten, ist gänzlich wirkungslos
geblieben.
Nicht diese Gesetze, wohl aber der Druck der Verhältnisse hat die
Boards of conciliation and arbitration fortgebildet. Sie haben heute, besonders
in der Kohlen- und Eisenindustrie, einen grossen Umfang und sind Gegen-
stand eingehender Studien gewesen, deren Kesultate im allgemeinen wir
wohl als bekannt voraussetzen können. Die englischen Einigungsämter
beruhen auf der gegenseitig anerkannten Gleichberechtigung der Arbeiter-
genossenschaften, Trade Unions und der Unternehmer-Genossenschaften, Trade
Associations, die sich gar nicht mit einander in Verbindung setzen würden,
wenn sie nicht den Willen und die Macht hätten, die Schiedssprüche auch
durchzusetzen. Die Schwächlichkeit unserer Vorlage besteht darin, dass sie
einen Apparat construiert, der auf die Differenzen zwischen Unternehmern
und Arbeitern angewendet werden soll, ohne dass man erkennen kann,
was diese neuen Einigungsämter vor dem Schicksal der alten Gewerbe-
gerichte bewahren wird. Sie sollen durch Verordnung des Ministers, also
obligatorisch eingeführt werden, die Befolgung ihrer Entscheidungen ist
aber facultativ ! Die beiden Zielpunkte, die wir immer wieder betonen müssen,
den Arbeiter zu einer praktischen, erspriesslichen, wirksamen Thätigkeit
li eranzuziehen und durch dieselbe moralisch auf ihn zurückzuwirken —
sind hier ganz aus den Augen verloren.
IV.
Nach diesem Ueberblick über die Gesetzgebung und die legislativen
Bestrebungen des abgelaufenen Decenniums, über die Erfolge die wir schon
eiTungen haben, über das Programm, welches uns in der nächsten Zeit be-
schäftigen soll, wollen wir zum Schluss Halt machen und uns fragen :
Was bedeutet diese Gesetzgebung und wohin führt sie uns? Dass sie ein
neuer Stoff im Leben des Staates ist, der sein Kecht und seine Verwaltung
erweitert hat und der in dieser Kichtung fortwirkt, das liegt auf der Ober-
fläche. Wir stehen mitten in der Bewegung und es ist nicht schwer, die
nächsten Consequenzen dessen, was bereits gescb äffen wurde, in Gedanken
weiter auszubauen: Die Unfallversicherung soll auf weitere Betriebe als
bisher, insbesondere auf die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter aus-
gedehntwerden, wir wollen die Alters- und Invaliditätsversicherung einrichten,
den Gewerbeinspectoren wird man Bergbauinspectoren an die Seite setzen
u. s. w. — Der Kern der Sache liegt aber tiefer.
Das, was wir socialpolitisehe Gesetzgebung nennen, entspringt zu-
nächst der gänzlich veränderten Auffassung unserer Zeit darüber, wie sich
der Staat zu den widersprechenden wirtschaftlichen Interessen der Ein-
zelnen zu verhalten hat, die er nicht mehr regellos aufeinander wirken lassen
kann. Zunächst ist es Fürsorge für die schwächeren Schichten der Gesell-
schaft, wenn er jugendliche Arbeiter und Frauen in Schutz nimmt, sich um
Licht und Luft in den Arbeitsräumen kümmert und das ganze Lohnver
Socialreform in Oesterreich. 39
hältnis einer gewissen überwachenden Controle unterwirft. Aber bei näherer
Betrachtung entdecken wir sofort noch ein anderes Element. Für den Gewerbe -
inspector kommen Augenblicke, in denen er sich nicht darauf beschränken
kann, Arbeitsräume zu besichtigen und sich mit Schutzvorrichtungen zu
beschäftigen, sondern in denen er auf die Einsicht, den Willen und die
moralischen Eigenschaften der Individuen einwirken muss, und der Arbeiter,
der im Ausschuss einer Krankencasse sitzt oder im Schiedsgericht einer
Unfallversicherungsanstalt, ist nicht nur ein helfendes Glied in der Kette
sondern steht selbst unter der moralischen Einwirkung der neuen Institution.
So entdecken wir unter der wirtschaftlichen Strömung eine ethische
und die Socialreform erhält einen tiefern Inhalt. Am stärksten tritt dieser
Inhalt in den Gesetzvorlagen, die wir soeben besprochen haben, zu Tage.
Wir fragen also berechtigterweise nach dem Zusammenhang der social-
politischen Maassnahmen mit den wirtschaftlichen und moralischen Kräften
des Staates. Es ist das zugleich die Frage nach der Durchführbarkeit
desselben.
Halten wir uns zunächst an die nächsten, concreten Aufgaben. Sie
laufen alle darauf hinaus, das Lohnverhältnis von gewissen Härten zu
befreien, es fortzubilden, die Lebenshaltung der arbeitenden Classe zu ver-
bessern, ihr Einkommen zu erhöhen, andererseits aber auch ihre Geschick-
lichkeit, ihr Pflichtgefühl, Ordnungssinn und Verlässlichkeit derselben zu
steigern. Dieser Parallelismus zwischen einer bessern Lebenshaltung und
einer höhern Leistungsfähigkeit der arbeitenden Classe ist in letzter Reihe
die wirtschaftliche Rechtfertigung der Socialreform und macht sie möglich.
Aber da der Anfang doch immer mit der Verbesserung der materiellen Lage
der Arbeiter gemacht werden muss und dieselbe nur aus dem Industrie-
gewinn bestritten werden kann, so muss man den richtigen Zeitpunkt für
die Einführung der neuen Einrichtungen wählen. Dieser Zeitpunkt scheint
uns gekommen. Durch die Handelsverträge ist auf eine Reihe von Jahren
hinaus Stabilität für die Industrie hergestellt. Die Verhandlungen über diese
Verträge haben gezeigt, dass die Unternehmer von ihnen angenehm über-
rascht waren — hat doch einer unserer grössten Industriellen den Gesammt-
eindruck der Handelsverträge als einen „freudigen," das Gesammtbild als
„hell und klar" bezeichnet und versichert, er blicke „in eine Aera gedeih-
licher Prosperität auf gesunder, sich stets stärkender Basis." Die Stabilität,
die durch die Verträge geschaffen ist, kann also als eine für unsere Industrie-
verhältnisse günstige bezeichnet werden und wir dürfen uns die wirtschaft-
liche Kraft zumuthen, neben die Handelsverträge als CoroUar die Socialreform
zu setzen.
Friedrich List, der erste, der die sogenannte Schutzzollpolitik richtig
interpretiert hat. redet nicht so sehr von Schutz als von der Erhöhung der
productiven Kraft. Wenn wir das neugeschaffene Vertragsgebiet in seinem
Sinne beurtheilen wollen, so dürfen wir nicht kleinlich an den einzelnen
Zollpositionen haften, sondern müssen jenem Staate den grössten Vortheil
zuerkennen, der im Stande ist, in der Zukunft seine productiven Kräfte am
40 Baemreither.
energischesten zusammenzufassen und zu verwerten. List steht des-
wegen so hoch über seinen Epigonen, weil sein System nie auf
die Ausbeutung der Consumenten eines geschlossenen Absatzgebietes
gerichtet ist, sondern weil er in letzter Linie immer einen grossen inter-
nationalen Austausch vor Augen hat. Aber man muss, was die Bedeutung
der productiven Kräfte eines Staates betrifft, noch weiter gehen als er.
Gleiche Zoll- und Tarifbedingungen bedeuten für zwei Staaten noch nicht
gleiche Vortheile. „Die Güter die auf dem Welthandel denselben Geldpreis
haben, werden an den verschiedenen Productionsorteu mit einem sehr
ungleichen Aufwände von Vermögensnutzungen und Arbeitsleistungen prc-
duciert. Je nach der Productivität der nationalen Arbeit und dem
Begehr des Auslandes nach den nationalen Producten muss das Tausch-
verhältnis sich bald günstiger, bald ungünstiger für ein Land stellen. Die
Engländer z. B. erwerben mit Producten der Baumwoll- oder Eisenindustrie
in 100 Arbeitstagen gewiss viel mehr Thee, als die Chinesen in 100 Arbeits-
tagen producieren." Je höher qualificiert die menschliche Arbeit eines Volkes
ist, unter desto günstigeren Bedingungen tauscht es unter sonst gleichen
Verhältnissen international seine Güter aus.
Das Ziel der Socialpolitik parallel mit der Verbesserung der Lebens-
verhältnisse und der Sicherung eines regelmässigen Lohneinkommens, die
moralischen, intellectuellen und technischen Kräfte des Arbeiters zu erhöhen
— trifft also mit dem Ziel der Industriepolitik zusammen. Deswegen müssen
wir die Zeit, die uns jetzt zur ruhigen Entwicklung unserer Industrie gegönnt
ist, auch nützen, als eine Zeit consequent fortschreitender socialer Eeformen.
Die Gunst der Lage trifft mit dem Ernst derselben zusammen. Man
hat bisher nicht daran gedacht, der bei uns stündlich mehr um sich
greifenden, zersetzenden Socialdemokratie planmässig ein Gegengewicht zu
geben. Und doch hat der Staat schon heute eine Verantwortung übernommen,
die ihn unaufhaltsam weiterdrängt. In den bisherigen Leistungen erblicken
wir den Beweis für die gestaltende Kraft Oesterreichs auf diesem Gebiete,
wenn auch die eine oder andere Maassregel, wie wir gesehen haben, der
Anlage oder Durchführung nach verfehlt ist. Aber wir müssen aus dem
Stadium der Versuche und einzelnen Ansätze herauskommen und die Ein-
richtungen, die wir geschaffen und die wir für die Zukunft im Plane haben,
als ein Ganzes, als eine grosse, zusammenhängende politische Aufgabe an-
sehen lernen. Es ist das keineswegs leicht, denn jeder zusammenfassenden
Politik stellen sich in Oesterreich traditionelle Hinderungsmomente entgegen.
aber diese modernen socialen Ideen sind noch in ihrer Jugendkraft, sie
werden täglich verstärkt durch den Druck der äusseren Verhältnisse, sie
werden noch Manchen bekehren und Vieles überwinden.
Sie führen uns in zweifacher Eichtung über den engeren Gegenstand
unserer Besprechung hinaus. Die neue Auffassung über die Eechte und
Pflichten der Menschen, die in einem Gemeinwesen zusammen wohnen, be-
einflusst nicht nur das Verhalten des Staates und der Gesellschaft gegen-
über den eigentlichen Lohnarbeitern der Industrie und der Landwirtschaft.
Socialreform in Oesterreich. 41
Diese neue Auffassung durchdringt das ganze Staatswesen, bildet sich nach
und nach zu Maximen von allgemeinerer Geltung hinaus und die sociale
Frage erstreckt sich überall dahin, wo die menschliche Leistung im Miss-
verhältnis zum Erwerb steht. Keine Gesellschaftsform wird das richtige
Maass endgiltig feststellen, aber die fortschreitende Entwicklung wirkt den
bestehenden Missverhältnissen immer bewusster und kräftiger entgegen. Die
Arbeiterfrage ist also nur ein Theil einer grösseren Aufgabe., Aber auch
die Einrichtungen, die der Staat in dieser Eichtung schafft, dürfen wir
nicht isoliert betrachten, noch weniger von isolierten Wirkungen entscheidende
Einflüsse erwarten. Schulwesen, Gewerbe und Agrarpolitik, Steuergesetz-
gebung u. s. w. gruppieren sich heute um jene neuen Maximen, die viel-
fach noch nicht durchgearbeitet, aber doch schon stark genug sind, ver-
altete Anschauungen zu verdrängen. So weist uns die Arbeiterfrage auf
eine umfassendere Politik, die wieder fördernd auf sie zurückwirkt.
Dem Staat wird, wie die Verhältnisse bei uns liegen, immer eine
führende KoUe zukommen, aber er kann, was die Festigung des Zusammen-
hangs zwischen seinen socialpolitischen Institutionen und dem grossen Leben
des Volkes betrifft, nicht mehr thun als die moralischen Kräfte beleben,
unterstützen, zusammenfassen, denn niemand gibt sich wohl der Täuschung
hin, däss der Staat der alleinige Executor der Socialpolitik sein kann — im
Gegentheil, der wirksamere Hebel liegt nicht im Staate, sondern in
der Gesellschaft und die sociale Eeform hängt in letzter Eeihe von
ihrer Erkenntnis und Verantwortlichkeit ab. An eine Entwickluug social-
politischer Institutionen ist nur zu denken, wo wir auf Einsicht und Initiative,
aber vor allem auf das Pflichtgefühl der betheiligten Kreise rechnen können.
Niemand hat das treffender gesagt als der deutsche Philosoph Friedrich
Albert Lange; er sieht für die Heilung des Bruches in unserem Volksleben,
welcher durch die Trennung der Gebildeten vom Volke und seinen Bedürf-
nissen herbeigeführt ist, nur zwei Mittel: Ideen und Opfer.
Es ist ausserordentlich schwer, ja unmöglich, heute abzuschätzen, wie'
weit man bei uns auf diese moralischen Momente rechnen kann, und erst
eine viel spätere Zeit wird darüber ihr ürtheil fällen. Wir können uns vor-
läufig nur an gewisse Aeusserungen aus den Kreisen der Unternehmer und
Arbeiter halten und beobachten, wie beide Theile an den neuen Einrich-
tungen mitarbeiten. In den gemachten Erfahrungen liegt eine Ermuthigung.
Das Verständnis für social-politische Einrichtungen hat bei uns in dem
letzten Decennium zugenommen; auch kommt uns der allgemeine Charakter
der Bevölkerung dabei zugute, die zu einem gewissen Wohlwollen mehr
hinneigt als unsere genaueren, aber strengeren Nachbarn. Aber eine richtige
Gesetzgebung und eine kluge Verwaltung hat noch ein weites Feld, diese Ge-
sinnung zu befestigen, wo sie besteht, sie hervorzurufen, wo sie fehlt, zu
verbinden und zu verstärken und Vertrauen für die neuen Einrichtungen zu
erwecken. Auf eine directe Zustimmung des Arbeiterstandes darf man aller-
dings nicht rechnen; ihm gegenüber muss man ruhig und consequent fort-
arbeiten „Sans eclat et sans recompense." Der Erfolg liegt hier darin, dass
42 Baernreither.
die Ai'beiter bei den neuen Einrichtungen mitwirken, durch die Einsicht
in die Verhältnisse aufgeklärt und erzogen, durch die Erkenntnis der Schwierig-
keiten beeinflusst werden, dass sie Umstände abwägen und über Ansprüche
nach Eecht und Billigkeit entscheiden lernen. Die Brücke aus ihrer Welt
in die unsrige ist freilich noch sehr schmal, aber man kommt doch schon
zusammen und es ist unsere Aufgabe, sie zu erbreitern.
Edmund Burke hat in seiner berühmten Kede „on conciliation with
America" versucht, das englische Parlament zu überzeugen, wie die englische
Oberhoheit mit der amerikanischen Freiheit vereinigt werden könnte. Zum
grössten Schaden Englands blieb er ungehört. Unsere heutige Gesellschafts-
ordnung befindet sich den Arbeitern mit ihren Bestrebungen und ihrem
Classenbewusstsein gegenüber, wie vor einer neuen Welt. Werden wir im-
stande sein für diese neu erwachten gesellschaftlichen Elemente in unserem
modernen Staatsorganismus eine Bethätigung zu finden? Werden wir im-
stande sein, aus der heute noch theils apathischen, theils feindlichen, theils
misstrauischen Masse ein mitfühlendes, mitdenkendes, miterhaltendes Glied
unserer Standes- und Gesellschaftsordnung zu machen? Wir dürfen dies nur
hoffen, wenn wir Furcht und Engherzigkeit ablegen. Wenn eine Eigenschaft
der heute herrschenden Gesellschaft gegenüber ihren neuen Elementen als
die wichtigste bezeichnet werden soll, so können wir dies am besten mit
den Worten Burke's thun, der seinen Landsleuten in der erwähnten Kede
zurief: Magnanimity in politics is not seldom the truest wisdom; and a
great empire and little minds go ill together.
DIE PROGEESSIVSTEUEK.
VON
PROFESSOR DR. EMIL SAX.
Einleitende Bemerkungen.
Jjass die Frage der Progressivsteuer ein sehr zeitgemässes Thema
volkswirtschaftlicher Untersuchung sei, wird Niemand in Abrede stellen, und
alle Welt wird darin übereinstimmen, dass es in hohem Maasse erwünscht
wäre, wenn es gelänge,, eine befriedigendere Lösung des Problems zu finden
als diejenige, welche die landläufigen Theorien bisher zu bieten vermochten.
Die Menschen können zwar praktisch richtig vorgehen, ohne sich einer
Theorie ihres Handelns bewusst zu sein. Aber irrige Theorien haben doch
das reflectierte Handeln, namentlich auf staatswirtschaftlichem Gebiete, nicht
selten wesentlich und in schädlicher Weise beeinflusst. Indes auch abgesehen
von der praktischen Wichtigkeit der Steuertheorie und des gedachten spe-
ciellen Punktes derselben wird es nicht an Interesse für einen Fortschritt
in dieser Hinsicht ermangeln. Die Entwicklung und die Wandlungen der
staatswirtschaftlichen Theorie zeigen das Ringen des Menschen nach Selbst-
erkenntnis rücksichtlich der verwickeltsten Beziehungen zu seinen Mit-
menschen. Wer hieran theilzunehmen nach seiner geistigen Beschaffenheit
den Wunsch hegt, wird den nachfolgenden Erörterungen, obschon sie mit-
unter vielleicht etwas strenge Anforderungen hinsichtlich angespannter
Denkthätigkeit stellen, gewiss mit vollster Aufmerksamkeit folgen.
Gleich von allem Anfang wollen wir eine Unklarheit der Auffassung
beseitigen, welche sich als die Quelle von theoretisch und praktisch folgen-
schweren Irrungen erwiesen hat. Progressive Einkommensteuer und Progressiv-
steuer sind nicht dasselbe. Die progressive Einkommensteuer kann als Glied
eines bestimmten Steuersystems lediglich die Bestimmung haben, zum Aus-
gleiche einer stärkeren Belastung der niedrigeren Einkommen durch indirecte
Steuern zu dienen, um im Endresultate eine gleichmässige Steuerlast herbei-
zuführen. Eine progressive Einkommensteuer dieser Art ist dann eben das
Mittel zur Herbeiführung einer proportionalen Steuer. Bekanntlich wurde
eine Steigerung des Steuerfasses der Einkommensteuer zu diesem Zwecke
— aber auch innerhalb der Grenzen dieses Zweckes — von mancher Seite
44
Sax.
empfohlen, die sich principiell die Steuerlast anders als gieichmässig, d. h.
proportional, nicht zu denken vermochte. Unter Progressivsteuer ist also
eine Progression der Steuer verstanden, nicht eine Progression einzelner
gewisser Steuerarten. Eine solche ist wieder denkbar ohne eine progressive
Einkommensteuer, freilich nur innerhalb engerer Grenzen, wie wenn z. B.
durch eine gut ausgebildete Besteuerung der geistigen Getränke nebst dem
Tabakmonopole in Combination mit Luxussteuern und progressiv gestalteten
Verkehrssteuern, vielleicht auch einer progressiven Wohnungssteuer, welche
Steuern mit einem vollständigen Ertragsteuersystem combiniert wären, im
Gesammteffecte eine gewisse Progression der thatsächlichen Steuerlast für
die Wohlhabenden bewirkt würde. Es soll hiemit nicht gesagt sein, dass ein
solches Steuersystem ausreichend oder das richtige sei, sondern nur an-
gedeutet, wie eine gewisse Progression in der Gesammtsteuer der Indivi-
duen auch ohne progressive Einkommensteuer möglich ist.
Progressive Einkommensteuer und Progressivsteuer sind mithin wohl
auseinanderzuhalten, es sind dies nicht identische Begriffe. Freilich wird
eine Association dieser Begriffe dadurch bewirkt, dass eine Progression der
Steuer in jenem Ausmaasse, wie es neuererzeit gewünscht oder als richtig
angesehen wird, eben nur durch Einführung der progressiven Einkommensteuer
in das Steuersystem erreichbar erscheint, und in diesem Sinne werden jene
beiden Begriffe in der Sprache des öffentlichen Lebens dermalen synony-
misiert. Der hiebei zugrunde liegende Gedanke ist gewiss nicht anzu-
fechten, aber es unterläuft doch die Unklarheit, dass man dabei nur zu leicht
auf die zum Gesammteffecte mitwirkenden übrigen Steuerarten vergisst. Indem
man das Maass der Progression der Besteuerung lediglich in dem Verhältnisse
der Steuerstufen der Einkommensteuer ausgedrückt glaubt, übersieht man die
übrigen, namentlich die Verbrauchssteuern, als mit in Betracht kommende
Pactoren der Gesammtsteuerleistung der verschiedenen Individuen, während
es sich doch eben um die richtige Progression der Gesammtsteuer handelt.
Aber nicht bloss in der Redeweise des öffentlichen Lebens, auch in der
Wissenschaft wird diese „pars pro toto" begangen, obschon für die theoretische
Erfassung und Begründung der Progressivsteuer das klare Bewusstsein und
Festhalten des Unterschiedes geradezu unentbehrlich ist. Es rührt dies in
letzter Linie wohl daher, dass die Idee der Progressivsteuer an die Vor-
stellung einer allgemeinen Personaleinkommensteuer als einziger Steuer sich
genetisch anschloss. Durch längere Zeit war, wie man sich erinnert, diese
Vorstellung einer einzigen allgemeinen Einkommensteuer als Ideal der Be-
steuerung, das man jedoch in der Wirklichkeit nicht erreichen könne, die
herrschende; und zwar nicht bloss in den Kreisen der Theoretiker. Anfänglich,
wie bekannt, als proportionale Steuer gedacht, wandelte sich dieses Steuer-
ideal später unter dem Einflüsse der Opfertheorie zu der progressiven
Einkommensteuer um. Für diese Auffassung konnte der obgedachte Unter-
schied gar nicht existieren: die Progressivsteuer war eben die progressive
allgemeine Einkommensteuer. Diese Auffassung stellte auch an die Theorie
bezüglich der Progressivsteuer eigentlich keine grossen Anforderungen. Wenn
Die Progressivsteuer. 45
man ohnehin nur ein Ideal aufstellt, dessen Unerreichbarkeit im vorhinein
feststeht, ja dem man sich nicht einmal allmählich nähern könne; wenn die
Praxis ungeachtet jenes Ideales sich doch mit einer Mehrheit verschiedener
Steuern behelfen muss, die das Ziel, welchem eine allgemeine Einkommen-
steuer entspricht, stets nur äusserst unvollkommen zu verwirklichen vermögen,
so genügt es ersichtlich, wenn man lediglich die Idee einer Progression
durch einen allgemeinen Gedanken rechtfertigt. Es erschien aber offenbar"
überflüssig, das richtige Maass der Progression ergründen zu wollen und
es bedurfte daher auch theoretischer Prämissen, aus w^elchen eine solche
Maassbestimmung sich mit Nothwendigkeit ergebe, nicht. Man mochte da
immerhin für die Gestaltung des Fusses jener Idealsteuer mathematische
Formeln construieren, z. B. abnehmende ßeihen, welche sich der Einheit,
d. i. dem Einkommen, zwar asymptotisch nähern, niemals aber diese Grösse
erreichen können. Für die Steuerfüsse der Steuern der Wirklichkeit folgte
daraus streng genommen gar nichts und es war nicht einmal eine ökonomische
Motivierung für die aufgestellte Progressionsformel erforderlich; es genügte,
dass der Autor oder Kedner dieselbe als „gerecht" ansah und erklärte, wobei
natürlich der Eine diese, der Andere jene Progression als die gerechte hin-
stellen konnte. Entwarf man damit ja doch nur ein Bild, welches in der
Praxis des rauhen Lebens ohnehin nicht zur That werden könne. Es erscheint
überflüssig, sich diesfalls in literarischen Eeminiscenzen zu ergehen.
Wie weiters bekannt, ist gegenwärtig in der Wissenschaft die Erkenntnis
durch gednm gen, dass die Natur der Steuer ein anderes Steuerideal bedinge,
als jenes, welchem man früher huldigte. Mcht eine einzige Einkommensteuer,
sondern ein wohlcombiniertes Steuersystem kann die Zwecke der Besteuerung
erfüllen und das Vorgehen der Praxis, welche eine lange Zeitperiode hindurch
den bestehenden Steuern stets neue Steuerarten anzuschliessen strebte, ist
nicht ein unrichtiges, sondern entspringt gerade aus der Natur der Sache.
Jener Widerspruch zwischen Theorie und Praxis löste sich dadurch, dass
die Theorie in den Thatsachen der Praxis nicht länger eine Verkehrtheit
oder unvermeidliche Unvollkommenheit erblickt, sondern deren Nothwendigkeit
und schliesslich deren ökonomischen Grund erkannte. Was man anzustreben
hat und was nicht mehr als ein begrifflich unerreichbares Ideal erscheint,
ist: ein aus den verschiedenen möglichen Steuerarten derart zusammen-
gesetztes Steuersystem, dass im concreten Falle durch die Gesammtwirkung
der je einen Steuerträger treffenden Abgaben derjenige Effect — allerdings
mit einer gewissen unvermeidlichen Fehlergrenze — hervorgebracht werde,
welcher nach dem Wesen der Steuer bezweckt wird. Die Personaleinkommen-
steuer wird zu einem Gliede des Steuersystems, obschon noch tiefgehende
Meinungsverschiedenheiten darüber herrschen, welche Steuerarten in die
Combination des Steuersystems einzubeziehen seien.
Dieser Umschwung in der Steuerthecrie hätte auch für unsere Frage
von Bedeutung sein sollen. Man kann jetzt nicht mehr dasjenige, was man
hinsichtlich der Progi'ession der Steuer auf irgend einem Wege allgemein
deduciert, von der Einkommensteuer (als Glied des Steuersystems) ohne weiters
46 Sai.
behaupten. Gerade der Fehler aber wird ziemlich häufig begangen. Man
gelangt — auf diese oder jene Weise — zu einer allgemeinen theoretischen
Aussage über die Progressivsteuer, über ihre Nothwendigkeit und über die
Frage der ziffermässigen Gestaltung der Progression: alles das wird
schlechthin auf die Einkommensteuer übertragen. Da wird man gar nicht
gewahr, dass man vom Theile etwas ausspricht, was nur vom Ganzen, vom
Steuersysteme, gilt. Während erst zu untersuchen und festzustellen wäre,
wie mit Kücksicht auf die übrigen, mitwirkenden Glieder eines gegebenen
Steuersystems die Einkommensteuer in demselben zu gestalten wäre, um
ein bestimmtes Endergebnis, nämlich eine, die gewünschte Progression
zeigende Gesammtsteuer zu realisieren, stellt man irgend welche Sätze über
die Progressivsteuer auf, d. i. über eine Progression der Steuer überhaupt,
und glaubt damit die Gestaltung der Einkommensteuer als Glied des
Systems festgestellt zu haben, ohne zu merken, in welchen Fehler man
verfällt, wenn man so verfährt.^)
Nach dem Gesagten wird es leicht festzuhalten, worauf es ankommt,
um mit der erforderlichen Klarheit eine Untersuchung der Frage der
Progressivsteuer zu führen.
Bei der theoretischen Erörterung dieser Materie werden übrigens mit
Vortheil zwei Punkte auseinandergehalten. Es fragt sich :
Erstens, wie eine Progression der Steuer überhaupt
principiell zu begründenist, d. i. die allgemeine theoretische
Formulierung des Progressionsprincipes, und
Zweitens, was in Betreff des Maasses der Progression
allgemein festgestellt werden kann.
Die Trennung der beiden Fragepunkte empfiehlt sich durch den Umstand,
dass eine bestimmte Theorie möglicherweise nur den Grundsatz der Progression
zu begründen vermag, dagegen ausser Stande erscheint, das Maass der
Progression auf Grund allgemeiner theoretischer Prämissen zu bestimmen.
Eine zureichende Theorie sollte allerdings auch in letzterer Hinsicht befriedi-
gende Aufschlüsse geben und neuere theoretische Untersuchungen sind
gerade durch dieses Bestreben angeregt worden.
Anschliessend hier vorher auch noch ein Wort der Verständigung über
einige Begriffsnamen. Wir stellen die Progressivsteuer der Proportional- und der
Degressivsteuer entgegen. Unter der letzteren ist eine Steuer verstanden,
') Vgl. hiezu im Folgenden den Schluss von Abschnitt I, 2. Insbesondere im
öifentlichen Leben unterläuft dieser Denkfehler. Er wird aber zumeist durch einen zweiten
unschädlich gemacht. Irgend ein Motivenbericht, welcher, um irgend eine beantragte
progressive Einkommensteuer zu begründen, sich bemüht, die Progressivsteuer überhaupt
theoretisch zu rechtfertigen, fügt dem die beschwichtigende Bemerkung bei: Uebrigens
solle ja diese progressive Einkommensteuer nur die Höherbelastung ausgleichen, welche
die geringeren Einkommen durch die Verbrauchssteuern, „die umgekehrt progressiv
wirken", erfahren. Ersichtlich war die ganze Mühe überflüssig, welche auf die Motivierung
der Progressivsteuer gewandt wurde, wenn man nur eine proportionale Besteuerung will,
aber es involviert dies Vorgehen doch die unbewusste Anerkennung, dass das, was für
das Steuersystem in toto gilt, nicht eo ipso von diesem einen Gliede gilt.
Die Progressivsteuer. 47
welche mit zunehmendem Einkommen relativ geringer wird, was keineswegs
eine Unmöglichkeit, sondern, auf die Gesammtwirkung eines Steuersystems
bezogen, leider manchmal Wirklichkeit ist. Wenn man früher wohl von
einer „degressiven Form" der Progressivsteuer sprach oder erklärte, die
Progressivsteuer sollte eigentlich besser Degressivsteuer genannt werden,
so hatte das den Sinn, dass man die Progression von einem bestimmten
Steuerfusse als höchstem Steuersatze an nach abwärts ins Auge fassen solle,
und dies hielt man deshalb für angezeigt, weil man der Meinung war, dass
eine Progression von unten an, als Progression begrifflich in infinitum auf-
steigend, schliesslich das Einkommen erreichen müsse. Gegenwärtig theilt
Niemand mehr jene schiefe Auffassung und man vermeidet daher die
erwähnte Ausdrucksweise. Dies dient der Klarheit umsomehr, als Anlass ist,
von einer degressiven Progression der Steuer zu sprechen, da eine Progression
entweder eine gleichmässige oder eine vorschreitende (zunehmende) oder
auch eine abnehmende sein kann.
Was die Literatur anbetrifft, so bedürfen die Werke der deutschen Fach-
autoren, welche für die Frage in Betracht kommen, dem Leser dieser Blätter
gegenüber keines Citates. Merkwürdigerweise hat das Thema in letzter Zeit
aber gerade in einem, der deutschen Leserwelt wohl zumeist verschlossenen
Literaturgebiete specielle Behandlung gefunden, nämlich in Holland; theils
in systematischen Darstellungen des Finanzwesens, theils in Monographien,
welche voller Beachtung würdig sind,^) In meiner „Grundlegung der theo-
retischen Staats wii tschaft " ist bereits eine Lösung des Problems — theils
explicite, theils implicite — gegeben, auf welche ich zurückkommen werde.
I. Die Frii^e der Steuer-Progression überhaupt.
Ungenügende Lösungsversuche.
I. Die Opfertheopie.
a) Aeltere Fassung; Vorbereitung einer neuen Formel.
Am bequemsten machte sich die principielle Begründung der Steuer-
progression nach der landläufigen Opfertheorie. Die oberste Prämisse bildete
der Satz, dass die Steuer Allen das gleiche Opfer auferlegen, für Alle
„thunlichst gleich empfindlich" sein müsse. Die proportionale Steuer, die
1) Die hieher gehörigen Schriften sind:
M. W. F. T r e u b , Ontwikkeliag en verband van de Rijks-etc. belastingen in
Nederland, 1885.
N. G. Pierson, Grondbeginselen der Staatshuishoudkunde, 2. Aufl. 1886.
Cort van der Linden, De theorie der belastingen, 1887.
W. P. J. Bok, De belastingen in het Nederlandsche Parlement van 1848—1888.
Academisch Proefschrift, 1888.
A. W. Mees, De progressieve inkomstenbelasting. Economist 1889. S. 437 ff.
Minderhoud te Sneek, Bijdrage tot de kennis der inkomstenbelasting.
Vragen van den Dag 1889.
A. J. Cohen Stuart, Bijdrage tot de theorie der progressieve inkomsten-
belasting, 1889.
N. G. Pierson, Leerboek der Staatshuishoudkunde. 1890, 2. Deel.
48 Sax.
Abgabe der gleichen Quote von jedem Einkommen, bedeute aber nicht ein
gleiches Opfer für Jeden, wie man beiläufig seit den letzten 20 Jahren
überzeugt ist, während man bekanntlich früher allerdings ziemlich allgemein
der entgegengesetzten Meinung war — etwa mit Ausnahme von Say und
vereinzelten Schriftstellern minderen Ansehens — und das gleiche indivi-
duelle Opfer in der Beisteuer des gleichen Theiles des Einkommens von
Seite eines Jeden erblickte. Für den Eeichen sei es ein geringeres Opfer
als für den Dürftigen, die gleiche Quote seines Einkommens abzugeben wie
der letztere. Gleichheit der Opfer werde nur erzielt, wenn man von dem grös-
seren Einkommen eine höhere Quote als Steuer nimmt, mit anderen Worten
Progression der Steuer eintreten lässt. Eine nähere Begründung dieses Satzes
wird entweder für überflüssig gehalten, indem man ihn als von selbst ein-
leuchtend ansieht, oder man glaubt eine solche durch den Hinweis erbracht,
dass ja die gleiche Steuerquote dem Einen an dem Nothwendigen oder Wichtigen
Abbruch thue, dem Andern nur Entbehrliches, selbst üeberflüssiges entziehe.
Dass eine derartige Kechtfertigung nicht genügt, bedarf wahrlich
nicht vieler Worte. Die erstgedachte ist „offenbar" unzureichend, weil nicht
nur früher die angesehensten Autoren und die verständigsten Leute eben
anderer Ansicht waren, sondern auch nachher die Selbstverständlichkeit des
Ausspruches Widerspruch gefunden hat. Das letztgedachte Argument aber
begegnet — „offenbar" — dem Einwände, dass ja, wenn eine Person das
zehnfache Einkommen eines Zweiten besitzt, bei der proportionalen Steuer
dem Ersten zwar entbehrlichere Befriedigungen, aber in zehnfach grösserer
Anzahl entzogen werden als die minder entbehrlichen, welche dem Zweiten
durch die Steuer entgehen, und daher erst zu untersuchen wäre, ob der
Entgang von 10 Entbehrlichem nicht gleich schwer fällt wie der Entgang
von ] Wichtigem^). Höchstens, dass man damit die Steuerfreiheit des unent-
behrlichen Lebensbedarfes im strengen Sinne des Wortes motivieren kann,
woraus, wenn man den nämlichen Betrag bei allen Einkommen in Abzug
bringt, eine schwache Progression der Steuer auf das Gesammteinkommen
resultiert: eine mehrfach in der Literatur verlangte Steuer, die aber, wie sich
im Folgenden zeigen wird, weit entfernt davon ist, eine praktisch oder
theoretiseh genügende Lösung des Problems der Progressivsteuer zu ergeben.
Es drängt sich also, wenn man von der Opfertheorie eine zureichende
Fundierung der Progressivsteuer erwartet, doch nachdrücklichst die Noth-
wendigkeit einer unanfechtbaren Motivierung jener These auf, welche den
Untersatz des Syllogismus in dieser Theorie bildet; des Satzes: je grösser
das Einkommen, desto geringer caeteris paribus das Opfer, welches eine
bestimmte, für alle Steuerträger gleiche Steuerquote verursacht. Gelingt es,
diese zweite Prämisse des Schlusses befriedigend festzustellen, dann würde die
Opfertheorie — die Stichhältigkeit ihres Obersatzes vorausgesetzt — concludent,
d. h. für den hier vorerst ins Auge gefassten Zweck.— nämlich die Frage
der Progression überhaupt, nicht auch die des Maasses — beweiskräftig.
^) Vgl. Robert Meyer, Die Principien der gerechten Besteuerung 1884, S. 3.S2.
Die Progressivsteuer. 49
Bei so beschaifener Sachlage schien nun in den Ergebnissen, welche
die exacte nationalökonomische Theorie neuestens hinsichtlich der Grund-
erscheinungen aller Wirtschaft aufzuweisen hat, die Hoffnung einer besseren
Fundierung für diese Steuertheorie zu winken, da die bezüglichen theoretischen
Arbeiten eben gerade von den psychischen Vorgängen ausgehen, die die
Verwendung der Güter für die diversen Lebenszwecke leiten.
Den Vorläufer bildetin dieser Hinsicht Robert Meyer (Wien), indessen
,Principien der gerechten Besteuerung" erstmals eine Nutzbarmachung der
neu gewonnenen theoretischen Erkenntnisse für das Gebiet des Steuerwesens
versucht ist. Die Resultate bezüglich unserer Frage sind, wie sogleich
vorausgeschickt werden muss, allerdings ganz und gar unzureichend. Dennoch
möge man sich die Mühe nicht verdriessen lassen, den ersten, noch unsicheren
Schritten eines schwierigen Gedankenganges zu folgen. Zum mindesten wird
dies für den Leser den Nutzen haben, ihn in den betreffenden Ideenkreis
einzuführen und mit Dingen vertraut zu machen, die weiterhin in den vor-
liegenden Erörterungen eine Rolle spielen werden.
Meyer schickt sich an, indem er unter „Opfer" die Wirkung der
Steuer auf die Consumtion der Steuerträger versteht, eine Erklärung des
fraglichen Punktes dadurch zu gewinnen, dass er den in der Steuerentrichtung
vorliegenden Fall einer Einschränkung der Bedürfnisbefriedigung unter die
allgemeinen Gesetze der Bedürfniserscheinung subsumiert. Er. geht aus von
der Thatsache, dass der Mensch seine Bedürfnisse nach der Stärke ihrer
Intensität befriedigt und dass daher für ein gegebenes Individuum und ein
gegebenes Einkommen die Grenze, bis zu welcher die vorkommenden Be-
dürfnisse Befriedung finden, eine ganz bestimmte ist.^) Soweit das Einkommen
reicht, werden die Bedürfnisse von den dringendsten an in dieser ökono-
mischen Ordnung ihrer Befriedigung zugeführt; alle minder intensiven
Bedürfnisse bleiben unbefriedigt.
Wenn nun durch die Steuer das Einkommen verkleinert wird, so
müssen die in der Reihe an letzter SteUe stehenden Bedürfnisse, die mindest
intensiven, unbefriedigt bleiben, so weit, bis das erübrigende Einkommen
wieder die Befriedbarkeit ergibt. Das Opfer, welches die Steuer auferlegt,
besteht folglich darin, dass infolge der Steuer von den Bedürfnissen, welche
der Steuerträger mit seinem ungeschmälerten Einkommen befriedigen könnte,
die mindest dringenden bis zu einer gewissen Grenze hinauf von der Befrie-
digung ausgeschlossen werden.
Dies ist der Obersatz, welchen der erwähnte Autor voranstellt; un-
streitig ein ebenso richtiger als wichtiger Satz, der für alles Folgende fest-
zuhalten ist.-)
') S. a. a. 0. § 28. Das Weitere in § 54.
2) Allerdings enthält diese Thesis nichts Neues, sondern nur die wissenschaltlich
klare Formulierung des Gedankens, der Sätzen zugrunde liegt, wie z. B. dem in
Wagner's „Finanzwissenschaft" (1880): „Das freie Einkommen ist regelmässig der
Fonds, aus dem die Steuer bestritten wird".
Zeitschrifi für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. I. Heft. 4
50 Sax.
Im Weiteren stellt Meyer eine Behauptung über das Verhältnis der
Stärke der bei verschiedenen Einkommen letztbef riedbaren Bedürfnisse auf,
die er aus einer Anschauung über das Verhältnis der Zahl der Bedürfnisse
jeden Intensitätsgrades zu den Stärkegraden selbst ableitet. Er erklärt es
als eine Erfahrung, dass die Zahl und Mannigfaltigkeit der Bedürfni[;se (dem
Sinne nach ist die Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse je eines bestimmten
Intensitätsgrades gemeint) mit der Abnahme ihrer Intensität steigt, was
sich darin zeige, dass die Menschen eine viel grössere Anzahl Bedürfnisse
geringer Intensität haben als hoher. Daraus ergebe sich, „dass die Ver-
grösserung des Einkommens um gleiche Beträge die durchschnittliche
Intensität der zur Befriedigung gelangenden Bedürfnisse um immer kleinere
Schritte hinausrückt, während die Anzahl der Befriedigungsacte von Bedürf-
nissen gleicher oder nur sehr schwach differenzierter Intensität stets
zunimmt". Wenig Zeilen hierauf heisst es: „Die Int ensitäts grenze der
Bedürfnisse wird daher durch gleichen Zuwachs des Einkommens je nach
der Grösse des bereits vorhandenen Einkommens um sehr verschiedene
Stücke hinausgerückt. " Obschon sich letzterer Satz als eine Folgerung aus
dem früheren darstellt, so ist doch wohl das Gleiche mit ihm gemeint,
nämlich: die Intensität der letztbefriedbaren Bedürfnisse weist bei Zunahme
des Einkommens um gleiche Summen stets geringer werdende Differenzen auf.^)
Diese These scheint zunächst wohl einer Feststellung ihres Sinnes zu
bedürfen, welche am sichersten durch zahlenmässige Concretisierung zu
gewinnen sein wird. Stellen wir uns eine Anzahl von Einkommen vor, die
um je 1000 fl. anwachsen und von denen je 100 fl. für die gleiche Zahl
von Bedürfnissen jeden Grades verbraucht würden. Das intensivste Bedürfnis
hätte den Stärkegrad von 100, jede folgende Bedürfnisgruppe sei um 1 Grad
schwächer. Mit einem Einkommen von 1000 fl. könne man die Bedürfnisse
der Stärkegrade 100 bis 91 befriedigen. Die Intensitätsgrenze der Bedürfnisse
ist hier 91 Grad. Bei Zunahme des Einkommens um 1000 fl. wären befriedbar
Bedürfnisse vom 90. Stärkegrade abwärts. Angenommen, dass die Bedürfnisse
des 82. Grades der Zahl jnach doppelt so umfangreich seien als die der
höheren Stärkegrade, so würden 200 fl. dafür nöthig sein und die zweiten
1000 fl. würden folglich zur Befriedigung dieser Bedürfnisse des 82. Grades
noch hinreichen, jedoch nicht mehr für die Bedürfnisse des 81. Grades. Die
1) Unter „Intensitätsgrenze " kann doch wohl nur die Intensität der letztbefriedbaren
Bedürfnisse verstanden sein, offenbar dasselbe aber ist mit dem Ausdrucke „durchschnitt-
liche Intensität der zur Befriedigung gelangenden Bedürfnisse" gemeint. Würde der
letztere Ausdruck streng nach seinem Wortlaute als Durchschnitt der Intensität der ge-
sammten zur Befriedigung gelangenden Bedürfnisse interpretiert, so lägen zwei ver-
schiedene Aussagen vor, nämlich, dass sowohl dieser Durchschnitt als auch die wirkliche
Intensität der letztbefriedbaren Bedürfnisse bei gleichmässig zunehmenden Einkoramens-
grössen immer kleiner werdende Diiferenzen aufweisen. Da indes, sofern sich das
Erstere bewahrheitet, dies die Folge des Eintretens des Letztgedachten ist, so genügt es,
eben nur diese Aussage ins Auge zu fassen, selbst wenn der Autor wirklich — was uns
jedoch in Anbetracht anderer Stellen seines Buches nicht wahrscheinlich dünkt — nicht
die nämliche Aussage beabsichtigt hätte.
Die Progressivsteuer. 51
Intensitätsgrenze bei den zweiten 1000 fl. wäre also 82. Beim Zuwachse
weiterer 1000 fl. beginnt die Befriedigung der Bedürfnisse vom 81. Grade ab
und es reicht die Summe, wenn diese Bedürfnisse alle gleich denen des
82. Grrades doppelt so zahlreich sind als die höheren, bis inclusive zum
77. Grade. Beim dritten 1000 fl. ist also die Intensitätsgrenze 77. Kehmen
wir noch einen weiteren Zuwachs um 1000 fl. hinzu und supponieren wir, dass
die Bedürfnisse vom 74. Grade an die dreifache Zahl aufweisen, so könnten mit
den vierten 1000 fl. die Bedürfnisse des 76. bis einschliesslich 73. Grades
befriedigt werden, so dass die Intensitätsgrenze nun bei 73 Grad stünde.
Es erscheint wohl unnöthig, die Exemplification weiter fortzuführen. Wir
sehen bei Anwachsen des Einkommens um je 1000 fl. die Intensitätsgrenze
sinken von 91 auf 82, 77, 73. Während die Differenz zwischen den stärksten
und den schwächsten Bedürfnissen bei den ersten 1000 fl. noch 10 Grade
betrug, stellt sich der Unterschied bei jedem Anwachsen des Einkommens
um die gleiche Summe auf 9, 5, 4: die Differenzen zeigen eine fort-
schreitende Verminderung.
Ob aus einem so beschaffenen Abfallen der Intensität der letztbefriedbaren
Bedürfnisse, wie es durch vorstehende Ziffern verdeutlicht ist, Progression
der Steuer folgen würde, wird im Verlaufe der Darstellung erhellen. Allein
hier muss sofort bemerkt werden, dass diese Differenzierung als Folge
zunehmender Zahl der Bedürfnisse bei abnehmender Intensität nur erhalten
wurde auf Grund der Annahme, dass die gleiche Summe für jedes Bedürfnis
aufzuwenden ist. Wie aber, wenn die schwächeren Bedürfnisse zugleich mit
Aufwendung einer geringeren Gütermenge befriedbar sind, man also zwar
eine grössere Zahl der Bedürfnisse bei geringeren Intensität sgraden beobachtet,
aber auch für jedes einzelne Bedürfnis weniger Güter gebraucht werden?
Es ist einleuchtend, dass es dann nur auf das Verhältnis ankommt, in
welchem die beiden Zahlen (der anwachsenden Bedürfnisse und der geringeren
Gütermenge für ein Bedürfnis) zu einander stehen, um ein total anderes
Resultat als im obigen Beispiele herauszubekommen. Ziffermässige Exemplifi-
cationen, die leicht anzustellen sind, ergeben ein Gleichbleiben der gedachten
Intensitätsdifferenz und selbst eine Vergrösserung derselben, d. i. ein Ergebnis
diametral entgegengesetzt zu dem, welches behauptet wurde ! Wenn daher
jenes Verhältnis der Intensitätsabnahme der bei den verschiedenen Einkommen
letztbefriedbaren Bedürfnisse wirklich wahrzunehmen ist, so kann dies
keineswegs aus der zunehmenden Zahl der Bedürfnisse allein folgen, sondern
nur daraus, dass durch dieselbe zugleich bestimmte Summen von Einkommen
absorbiert werden. Darüber enthält aber die vorliegende Aussage ihrem
Wortlaute nach nichts, und wir werden uns über den bezüglichen Sachverhalt,
der in der That in unserer Frage von Bedeutung ist, im Folgenden erst
eine Meinung zu bilden haben. ^)
^ Die ganze Wortfassung des bezüglichen Abschnittes macht es wahrscheinlich,
dass Meyer einen zweiten Gedanken mit verbindet, ohne sich des Umstandes hewusst
zu werden, dass eben noch etwas anderes herangezogen ist. Wie es scheint, stellt sich
Meyer vor, dass die Intensitätsgrade der Bedürfnisse bei zunehmendem Einkommen
52 Sa^-
Auf Basis vorstehender Prämissen versucht Meyer nun eine Begründung
der Progressivsteuer, von welcher er selbst sagt, dass sie nicht über einen
Wahrscheinlichkeitsbeweis hinausgebt, und die er in folgenden Passus zusam-
menfasst: „Solange man die speciell bei der Einkommensteuer gewöhnlich in
Betracht kommenden Quoten von 5 bis 10% ins Auge fasst, wird man sich
kaum ein bestimmtes Urtheil darüber bilden können, ob das bei einer
solchen Steuer bei verschiedenen Einkommensgrössen hervorgerufene Opfer
gleich oder ungleich gross ist. Dagegen kann die Entscheidung nicht
zweifelhaft sein, sobald man an grössere Einkommensabzüge, z. B. Vg bis
V3 des Einkommens, denkt. Der Mann, der von 1200 fl. Einkommen auf
800 oder 600 beschränkt wird, muss seine Bedürfnisse gegen den früheren
Zustand mehr einschränken als Derjenige, der von 2400 fl. auf 1600 oder
1200 reduciert wird. Bei dem Vergleiche eines Einkommens von 1200 fl.
für eine Beamtenfamilie mittleren Kanges und eines solchen von 12.000 fl.
für einen Capitalisten dürfte das Urtheil auch schon bei . . . der Steuer von
107o wohl in demselben Sinne ausfallen. Insoferne nun der Schluss gerecht-
fertigt ist, dass auch die Wirkung einer geringeren Schmälerung des Ein-
kommens verhältnismässig dieselbe bleibe, lässt sich behaupten, dass das
Princip der Opfergleichheit die progressive Besteuerung verlange."
Es ist dies gewiss eine recht unsichere Beweisführung. Einzig und
allein die Worte „seine Bedürfnisse gegen den früheren Zustand mehr
einschränken" deuten den entscheidenden Gedanken an, aber schon der
Umstand, dass der Verfasser denselben so wenig wissenschaftlich scharf
formuliert und in keiner Weise weiter ausführt, zeigt, dass er den Satz nach
seiner Tragweite nicht verfolgt hat. (Wie wir sogleich sehen werden, ist
dies von Anderen geschehen.) Wenn wir die in den hervorgehobenen Worten
eingeschlossene These allgemein und klar fassen, so wäre die Argumentation
diese : Die Entnahme einer gleichen Quote bewirkt bei kleinerem Einkommen
eine grössere relative Verminderung des Maasses der Bedürfnisbefriedigung
als beim grösseren Einkommen. Denkt man an bedeutende Einkommens-
abzüge, z. B. V2 bis Vs des Einkommens, so kann die Entscheidung nicht
zweifelhaft sein. Ebenso, wenn man zwar geringere Quoten als Steuer ansetzt,
z. B. 5 bis 107o, aber kleine Einkommen mit sehr grossen vergleicht. Und
einen sehr starken Abfall zeigen und dieser Abfall zugleich so beschaffen ist, dass ab-
nehmende Differenzen zum Vorschein kommen; z. B. bei einem Einkommen von 1000 fl.
Intensitätsgrenze 90, bei 2000 fl. : 50, bei 3000 fl. : 30, bei 'lOOO fl. : 20, bei 5000 fl. : 15,
bei 6000 fl. : 12 u. s. w. Hier sind die Differenzen 40, 20, 10, 5, 3; es zeigt sich jedoch
zugleich ein hoher Intensitätsgrad bei kleinem Einkommen, sehr rasche Verminderung bei
zunehmendem Einkommen und sehr niedrige Intensität beim Beginne der grösseren Ein-
kommen. In einer solchen Darstellung ist eine Aussage über ein bestimmtes Verhältnis
eingeschlossen, in welchem die Intensitätsverminderung zur Zunahme des Einkommens
steht. Eine derartige Aussage macht jedoch Meyer in bewusst-klarer Weise nicht. Wenn
man seinen Worten jenen Sinn unterlegt, wie ich es in meiner „Grundlegung" S. 512
gcthan habe, dann folgt allerdings etwas in Bezug auf die Steuerprogression daraus.
Meyer selbst aber zieht die bezügliche Folgerung, wie wir sogleich sehen werden,
ebenfalls nicht.
Die Progressivsteuer . 53
insoferne der Schluss gerechtfertigt ist, dass auch bei noch kleineren Quoten
schliesslich dasselbe, wenngleich in geringerem Maasse, eintritt, lasse sich
behaupten, dass das Princip der Opfergleichheit die progressive Besteuerung
verlange. Das ist der ganze Beweis.
Es kann nun wohl dieser Ausführung der Vorwurf nicht erspart bleiben,
dass in ihr das unbedingt erforderliche Maass von Präcision des wissenschaft-
lichen Denkens und Genauigkeit des Ausdruckes nicht aufgewendet erscheint.
Nicht nur, dass man erst nicht ohne eine gewisse Mühe ausfindig machen
muss, dass der Autor eine grössere relative Einschränkung des Maasses der
Bedürfnisbefriedigung bei dem kleineren Einkommen aussagen will, schränkt
er seine eigene Aussage sofort selbst erheblich ein, indem er sogar bei
Steuerquoten von 5 bis 107o die Sache als so ungewiss betrachtet, dass
man „sich kaum ein bestimmtes Urth eil darüber bilden kann", und schliesslich^
was die allgemeine G-eltung des Satzes betrifft, diese davon abhängig macht,
dass der Schluss von den Fällen sehr grosser Steuerquoten und sehr
grosser Einkommensdifferenzen auf alle anderen Fälle gerechtfertigt sei,
wobei man eigentlich nicht weiss, ob der Schluss wirklich gerechtfertigt ist
oder nicht.
Aber wird denn der Satz auch nur bezüglich der als zweifellos exem-
plificierten Fälle wirklich bewiesen? Es wird dies auch nicht mit einem Worte
versucht. Oder ergibt sich die Behauptung auch ohne ausdrücklichen
Erweis eo ipso als Conclusion aus den vorbesprochenen Prämissen? Eben-
sowenig. 1)
Es ist mithin eigentlich nichts bewiesen und die Darstellung unterscheidet
sich in ihrem Gehalte keineswegs von dem Vorgehen anderer Autoren, die
den Satz, die gleiche Steuerquote stelle bei kleinerem Einkommen ein
grösseres Opfer dar, damit genügend begründet erachteten, dass sie
behaupteten, das sei „offenbar" der Fall.^) Meyer ist also über die Prämissen
einer Deduction nicht hinausgekommen. Er hat nicht die Gleichung angesetzt,
mit welcher das vorliegende Problem zu lösen wäre, sondern nur Daten
geliefert, mit welchen die Gleichung vielleicht anzusetzen gewesen wäre.
Seine Ausführungen waren daher allerdings zu erwähnen, aber eben nur als
einleitend für die anderer Theoretiker, welche dort begannen, wo jener
aufhört. Und diese sind die eingangs erwähnten holländischen Autoren,
welchen wir uns nun sofort zuzuwenden haben.
') Aus der zunehmenden Zahl der Bedürfnisse von abnehmender Intensität und der
dadurch erfolgenden Beanspruchung zunehmender Einkommensbeträge folgt geradezu eine
die Progression hemmende Tendenz, wie in Abtheilung 2 des Abschnittes HI dieser
Abhandlung erhellen wird.
'^) Wie sehr auch der Autor selbst den Eindruck hatte, dass sein angeblicher Be-
weis nicht besonders gelungen sei, ist daraus erkennbar, dass er sofort „abgesehen von
dieser theoretischen Begründung" durch einen praktischen Grund die Nothwendigkeit der
Progressivsteuer darthun will; einen Grund', der — nebenbei bemerkt — gleichfalls sich
nicht als stichhältig erweist. Wenn man einem Argumente sofort den Nachsatz beifügt:
„üebrigens ist das Behauptete schon aus diesem oder jenem anderen Grunde ersicht-
lich," so pflegt das Erstangeführte nicht besonders überzeugend zu sein.
54 Sax.
b) Neuere Varianten der Opfertheorie.
Die erwähnten Schriftsteller meinten die Frage der Progressivsteuer
dadurch lösen zu können, dass sie auf die Opfertheorie jenen Satz der all-
gemeinen ökonomischen Theorie zur Anwendung brachten, dessen Inhalt
wohl heute jedermann gegenw^ärtig ist, wenn wir ihn als die Lehre Jevons' von
der „Final utility" oder Menger's Wertlehre bezeichnen. Der Nutzen eines
Gutes, die Bedeutung eines Gutes für die menschliche Wohlfahrt — dieses
Gut als Bestandtheil eines Complexes, einer Mehrheit von Gütern gedacht —
nimmt ihr zufolge mit der Zunahme der Grösse des Güterbestandes ab, als
dessen Theil eben jenes Gut ökonomisch in Betracht kommt, oder — auf
Geld bezogen: jeder Gulden verschafft weniger Genuss, je grösser das Ein-
kommen ist, zu welchem er hinzutritt, und sein Ausgang bereitet einen
umso geringeren Entgang, je grösser das Einkommen ist, aus dem er ent-
nommen wird.
Mit raschem Griffe glaubte man anfangs in diesem Satze an sich
schon die Handhabe zu erfassen, welche die proportionale Steuer aus den
Angeln hebt. Wenn der Nutzen der Güter, ihr „Grenznutzen", in jenem
Maasse abnimmt, so folge daraus eo ipso die Nothwendigkeit einer Progression
der Steuer (Treub). Wegen der Abnahme des Grenznutzens bedeute die
Abgabe der gleichen Quote ein kleineres Opfer beim grösseren Einkommen,
resp. sei das letztere relativ mehr zu leisten imstande.
Indes bedarf es wohl nur einer geringen logischen Achtsamkeit, um
den Denkfehler zu bemerken, in welchen man bei diesem Schlüsse verfällt.
Wenn bei zwei sich gegenüberstehenden Einkommen von 1000 fl. und von
10.000 fl. der Grenznutzen, der Wert eines Guldens von dem letzteren
Einkommen Vio ^^^ Grenznutzens (Wertes) des Guldens vom erstbezifferten
Einkommen beträgt, d. h. wenn der Grenznutzen in gleichem Verhältnisse
abnimmt, in welchem das Einkommen zunimmt, dann bereitet die Abgabe
der gleichen Quote von jedem in Vergleich gezogenen Einkommen den
gleichen Entgang. Bei einer 107o Steuer zahlt der Mann mit 10.000 fl.
Einkommen 1000 fl., gegen 100 fl. des Steuerträgers mit 1000 fl. Einkommen,
da aber der Gulden für ihn Vio »hedeutet" von dem, was der Gulden
für den Zweiten Wert hat, so kommt der gleiche Entgang zum Vorschein.
Aus der Thatsache, dass der Grenznutzen der Gutseinheit mit Zunahme der
Gütermenge, des Einkommens, abnimmt, folgt also noch keineswegs die
Progressivsteuer behufs Herbeiführung des gleichen Opfers aller Steuerträger.
Wir begegnen indes alsbald eben daselbst dem Versuche einer besseren
Lösung des Problems, nämlich von Seite Pierson's und der durch ihn
beeinflussten Schriftsteller: einem Lösungsversuche, welcher auf weit durch-
dachterer Anwendung des vorerwähnten ökonomischen Lehrsatzes beruht.
Hiebei schien es nothwendig, vorerst einmal zu untersuchen, was denn
eigentlich unter einem „gleichen Opfer" zu verstehen sei, da doch nicht
festzustellen ist, in welchem Verhältnis die Ausschliessung minder intensiver
Bedürfnisse gleichstehe dem Entfallen intensiverer Bedürfnisse, aber in ge-
ringerer Anzahl. Die Antwort, welche man auf diese Frage fand, bildet die
Die Progressivsteuer. 55
Grundlage der weiteren Schlussfolgerung. Dieselbe wurde in nachstehende
Formel gekleidet: Opfergleichheit bedeutet, dass die durch die Steuerzahlung
Jedem entgehenden Genüsse im gleichen Verhältnisse zu dem Jedem
durch sein Einkommen ermöglichten Gesammtgenuss stehen sollen. Die
Opfer, welche verschiedene Personen zu bringen haben, sind gleich, wenn
letztere einen gleichen Theil von der Summe von Genüssen, worüber
Jeder verfügt, entbehren müssen. 1)
Damit war eigentlich nur bestimmt und deutlich ausgesprochen, woran
man wohl schon auch von anderer Seite gedacht hatte, wenn man „gleiche
Opfer" forderte, oder wenn man sagte, die Bedürfnisbefriedigung des Einen
werde doch ersichtlich «gegen den früheren Zustand mehr eingeschränkt"
dadurch, dass er von einem gewissen Einkommen einen bestimmten Theil
abgebe, als wenn ein Anderer von seinem sehr abweichenden Einkommen
dasselbe zahle (Meyer). Aber es war jene ausdrückliche Formulierung doch
eben ein wesentlicher Gewinn an Klarheit. Und nicht nur das allein, sondern
es war mit ihr zugleich ein Unterschied von der früher erwähnten Auffassung
statuiert, welche die Opfergleichheit in dem Entgange des gleichen Nutzens
suchte. Nicht die Entbehrung eines gleichen Genusses, sondern eines gleichen
Theil es von den respectiven Genüssen ist das gleiche Opfer. Mit anderen
Worten: nicht absolut gleiche Opfer, sondern relativ gleiche Opfer sind
fortan verstanden. \^ern man die Opfergleichheit im Munde führt; die Ent-
behrung von Genussquanten, die den gleichen Theil des Jedem zufolge seines
Einkommens zur Verfügung stehenden Gesammtquantum vonGenuss ausmachen.
Ein sehr belangreicher, aber auch sehr einleuchtender Unterschied, den Cohen
Stuart noch des Näheren und Breiteren zu beleuchten für nöthig hält. 2)
Nun handelt es sich um die Vergleichung der infolge der Steuer
entfallenden Befriedigungen mitdem Gesammtmaasse der durch das Einkommen
ermöglichten Bedürfnisbefriedigung. Hier gelangt jetzt die, wie erwähnt,
schon von Meyer vorangestellte Prämisse zur Verwendung. Die durch die
Steuer in Wegfall kommenden Güter werden den mindest intensiven Bedürf-
nissen, den in der Bedürfnisreihe zu hinterst stehenden, entzogen. Wer einen
bestimmten Betrag an Steuer zu zahlen hat, wird nicht je einen Theil davon
den Bedürfnisgruppen aller Grade vorenthalten, sondern lässt die mindest-
starken Bedürfnisse soweit unbefriedigt als der betreffende Güterausfall
dies mit sich bringt. Der durch die Steuer verursachte Entgang lässt sich
mithin darstellen in einer Ziffer, welche das Product ist aus der Steuersumme
und dem Grenznutzen der Güter in dem bezüglichen Einkommen.^)
*) Pierson „Grondbeginselen etc," S. 310 ff., Cort v. d. Linden, a. a. 0. S. 78.
2) „Bijdrage" etc. S. 28 ff.
3) D. h. wenn man sich umfangreichere Bedürfnisgruppen von durchschnittlich
gleicher Intensität vorstellt, welchen je eine grössere Geldsumme als durch sie in An-
spruch genommener Einkommensbetrag entspricht, z. B. lüOO fl., und wenn man weiters
nur an relativ geringe Steuersätze denkt, die selbst in einer Progression einen solchen
Einkommenstheil nicht erschöpfen; denn nur dann entfallen infolge der Steuer lediglich
Bedürfnisse der allerletzten Gruppe, die unter sich gleich stark sind und eben den
Grenznutzen bezeichnen.
56 Sax.
Um nun zu finden, ob der so bezifferte Genussentgang einen gleichen oder
verschiedenen Theil von der Gesammtbefriedigung ausmache, welche Jedem
nach seinem Einkommen zugänglich ist, muss auch letztere in gleicher Weise
zum ziffermässigen Ausdruck gebracht werden. Dies geschieht, indem man
sich das Einkommen in bestimmte Theilsummen zerlegt denkt, deren jede
hinzukommende einen geringeren Grenznutzen zeigt als die ihr vorangehende.
Den Nutzen jeder solchen Theilsumme zeigt an das Product derselben mit
dem Grenznutzen der Einheit. Diese Zahlen, addiert, ergeben den Gesammt-
nutzen, das Maass der Bedürfnisbefriedigung, welche ein Einkommen gewährt.
Die für das Maass des durch die Steuer verursachten Entganges gefun-
denen Zahlen sind mit den letztgedachten Ziffern, welche das Gesammtmaass
des Genusses ausdrücken, ins Verhältnis zu setzen. Je nachdem ein gleicher
oder ungleicher Quotient resultiert, ist die Belastung, das Opfer in dem hier
in Rede stehenden Sinne, gleich oder verschieden.
Vorstehender Gedankengang wurde zuerst von Pierson mit voller
Klarheit ausgesprochen ^) und von seinem Schüler B o k auf Grund der
Ueberzeugung, dass hiemit die Frage des Princips der Steuerprogression
endgiltig gelöst sei, in dem Denkbilde folgender Tabellen dargestellt.^)
A besitzt 1000 fl. Einkommen mit Grenznutzen von lOO'O Perc.
« 95-0 „
. 91-0 „
« 87-5 „
„ 84-3 „
n V 81*3 „
. r, V8-4 „
C beispielsweise würde von seinem Einkommen per 3000 fl. Gesammt-
nutzen (Gesammtgenuss) haben:
1000 fl. ä 100 Perc. = 1000
1000 „ ä 95 „ = 950
1000 „ ä 91 „ = 910
2860.
Nach diesem Schlüssel ergibt sich ein Gesammtnutzen des Einkommens
bei Ä von 1000, bei B von 1950, bei C von 2860, bei D von 3735, bei E
von 4578, bei F von 5391, bei G von 6175.^)
B
^
1000 „
mehr als A
C
V
1000 „
^ . B
D
„
1000 „
. . c
E
V
1000 „
. . B
F
„
1000 „
. . JE
G
^
1000 „
„ . F
^) In „de Gids," „Nieuwe litteratuur over belastingen," Februar 1888.
2) „De belastingen in de Nederlandsche Parleraenf, 1888, S. 177 ff. Eine Promo-
tionsschrift von besonderer Eeife.
^) Der Autor sagt, diese Personen A bis G „schätzen" ihr Einkommen auf so viel
Gulden, als die obigen Verhältniszahlen ausdrücken. Ein Einkommen von 4000 fl. werde
also auf 3735 fl. geschätzt! Hier wird der Fehler begangen, das Wort Gulden in ver-
schiedenem Sinne zu brauchen. Bei der Ziffer des Einkommens bedeutet es Münz-
einheiten, bei der Ziffer, auf welche das Einkommen „geschätzt** wird, Einheiten des
Grenznutzens. Es sollte also richtig heissen : die Einkommen des A bis G repräsentieren
so und so viel Nutzeinheiten. Da im Sinne der betreffenden Theoretiker Grenznutzen
identisch ist mit Wert, hätte der Autor auch sagen können: „ Werteinheiten " : A bis G
schätzen ihre respectiven Einkommen auf so und so viel Werteinheiten. Dasselbe gilt
natürlich von der Reduction der Steuerquoten auf Grenznutzeinheiten. Daher sind in
Die Progressivsteuer. 57
Bei einer 37o Steuer zahlt
Ä 30 fl. zum Grenznutzen von 100-0 Pere. = 30*00, d. i. 3*000 Perc. von 1000
B 60 „ „
C 90 „ „
i> 120 „ „
^ 150 „ „
-P^ 180 „ „
G^ 210 „ „
Siehe da! Eine Ungleichmässigkeit des relativen Genussopfers und
zwar eine fallende Scala. Um Gleichheit des Opfers zu erhalten, muss man
daher eine Progression des Steuerfusses zur Anwendung bringen, welche so
beschaffen ist, dass sie für Alle das Verhältnis zwischen Opfer und Genuss
auf 3% bringt. Dies würde bewirkt,^) wenn
A zahlt für 1000 fl. 3-0000 Perc.
95-0
y,
= 57-00,
„ 2-923
„
„ 1950
91-0
„
= 81-90,
„ 2-863
T)
„ 2860
87-5
V
= 105-00,
„ 2-811
„ 3735
84-3
n
= 126-45,
„ 2-762
„
„ 4578
81-3
n
= 146-34,
. 2-714
„
„ 5391
78-4
n
= 164-64,
„ 2-666
n
„ 6175.
B
^
«
2000 „
3-0790
C
n
n
3000 „
3-1428
D
n
n
4000 „
3-2014
E
n
n
5000 „
3-2584
F
n
H
6000 „
3-3155
G
«
n
7000 „
3-3755
So erweisen die angenommenen Zahlen, welche die Abnahme des
Grenznutzens darstellen, die Noth wendigkeit einer Steuerprogression.
Bevor wir weitergehen, möchte ich eine andere Formel für die vorge-
tragene Theorie brauchen. Ich halte Wert und Grenznutzen nicht für Syn-
onyma. Ohne mich hier auf die Natur der Werterscheinung einzulassen,
will ich nur hervorheben, dass Wert etwas Subjectives, Grenznutzen etwas
Objectives ist. Zur Klarstellung des Begiiffes „Opfer" betonen es auch
einzelne der gedachten Schriftsteller nachdrücklich, dass nicht dasjenige
gemeint ist, was der Steuerzahlende in seinem Innern bei der Leistung
empfindet, sondern der objective Entgang. Das ist der Nutzen, welchen die
betreffenden Güter, wenn sie innerhalb seiner Gütersphäre geblieben wären,
dem Besitzer thatsächlich gestiftet hätten. Lassen wir daher das Wort
„Wert" aus dem Spiele und ich habe umsomehr Anlass dies zu thun, weil
im Verfolge dieser Abhandlung eben der Wert als subjective Grösse im
Steuerwesen zur Geltung gelangen wird. Jene Einheiten, auf welche die
verschiedenen Geldsummen der Einkommen sowohl als der Steuerquoten
reduciert wurden, sind Einheiten des Grenznutzens, kurzgesagt Nutzeinheiten.
Daher wäre die richtige Formel für die vorstehend deducierte Steuertheorie:
Steuerquote und Einkommen, beide auf Nutzeinheiten reduciert,
müssen bei jedem Steuerträger das gleiche Verhältnis zeigen, da
hierin eben die Gleichheit der Opfer besteht. Infolge des Sinkens des
obigen Tabellen überall da, wo nicht das Zeichen fl. bei der Zijffer steht, solche Nutz-
einheiten verstanden, um den Fehler zu vermeiden, welchen der citierte Schriftsteller
begangen hat und der das Verständnis der ziffermässigen Beweisführung selbst beein-
trächtigt oder erschwert.
^) Nach Eichtigstellung durch Cohen Stuart, „Bijdrage" etc., S. 110.
58 ' Sax.
Grenznutzens bei steigenden Einkommensgrössen ergeben nur
progressive Steuerquoten dieses Resultat.^)
Eine Lösung, ebenso klar als einfach! Die Lehre vom Grenznutzen
scheint dieselbe in einleuchtender Weise an die Hand zu geben. Wenn man
früher im Zweifel war, ob sich ein Ausdruck für das Maass des Steueropfers
finden liesse, der Grenznutzen behebt diesen Zweifel und ermöglicht den
gewünschten Ausdruck. Die Opfertheorie ist hiemit imstande die Progressiv-
steuer zu begründen.
Leider war es den holländischen Fachgenossen nicht gegönnt, sich
eines solchen Triumphes zu erfreuen. Aus der eigenen Mitte ist ihnen ein
Widersacher erwachsen in Gestalt eines Autors, der mit mathematisch
geschulter Denkkraft und auch mit mathematischer Beweisführung die Fehler
aufdeckte, welche in der geschilderten Argumentation begangen werden, und,
obschon er die Opfertheorie acceptiert, den Nachweis führt, dass mit diesen
Prämissen allein die Progression der Steuer nicht stichhältig gewonnen
werden kann: der bereits genannte Cohen Stuart. Unwiderleglich zeigt er,
dass der obige Schluss aus der zahlenmässigen Ausführung ein vorschneller,
und dass aus dem Satze: der Grenznutzen nimmt mit steigender Gütermenge
ab, die Progression der Steuer noch nicht zu deducieren ist.
Auf die mathematische Beweisführung, deren er sich zu diesem Ende
bedient, soll hier nicht eingegangen werden. Es scheint solches auch nicht
erforderlich, weil schliesslich die Logik der Zahlen bei überlegter Prüfung
des vorstehenden ziffermässigen Beweisganges zu dem nämlichen Ergebnisse
führt. Am eindrucksvollsten ist vielleicht die Thatsache, dass man imstande
ist, dem obigen Ziflfernbeispiele andere entgegenzustellen, welche, auf ganz
gleichen Prämissen aufgebaut, ein diametral entgegengesetztes Resultat
zeigen! So produciert der genannte Autor, ausgehend von den nämlichen
Voraussetzungen, eine Tabelle, die zur proportionalen, und eine zweite,
die geradezu zu einer mit steigendem Einkommen abnehmenden Steuer
führt !
Man beachte die folgenden Tableaux:
A besitzt 1000 fl. Einkommen, mit Grenznutzen von lOO'OO Perc., Gesammtnutzen 1000
B „ 1000 „ mehr als ^, „ „ „ 95-00 „ „ 1950
C „ 1000 „ , „ 5, „ „ „ 93-80 „ „ 2888
D „ 1000 „ „ „ (7, „ „ „ 93-00 „ „ 3818
E r, 1000 „ „ „ D, . « . 92-41 , „ 4742
Bei einer 37o Steuer würde entrichten
A 30 fl. zum Grenznutzen von 10000 Perc. = 30*000, d. i. 3000 Perc. von 1000
£ 60 „ „ „ „ 95-00 „ = 57-000, „ 2-923 „ „ 1950
C 90 „ „ „ „ 93-80 , = 84-420, „ 2-923 „ „ 2888
X> 120 „ „ „ „ 93-00 „ = 111-600, „ 2-923 „ „ 3818
^ 150 „ „ „ „ 92-41 „ = 138-615, „ 2-923 „ „ 4742
^) Die citierte Schrift von Mees ist dem mathematischen Nachweise desselben
Theorems gewidmet.
Die Progressivsteuer. 59
Um das Verhältnis zwischen Opfer und Befriedigung für Alle auf 37o
zu bringen, würde A S^/q und die Uebrigen jeder 3-0797o ^^^ Einkommens
zu zahlen haben, Letztere also wären proportional besteuert.
Die degressive Steuer zeigt ein anderes Beispiel:
A besitzt 1000 fl. Einkommen, mit Grenzmitzen von lOO'O Perc, Gesammtnutzen 1000
B ^ 1000 ^ mehr als A, ^ „ „ 80-0 „ „ 1800
C ., 1000 „ „ „ ^, „ „ „ 77-0 , „ 2570
D „ 1000 „ „ „ C, „ „ „ 76-4 „ „ 3334
E .. 1000 „ „ „ D, « „ „ 75-6 „ „ 4090
F „ 1000 „ „ „ ^, „ „ „ 75-0 „ „ 4840
Wenn abermals 37o Steuer, zahlt
A 80 fl. zum Grenznutzen von lOO'O Perc. = SO'OO, d. i. 8-000 Perc. von 1000
^ 60 „ „ „ „ 80-0 „ = 48-00, „ 2-667 , „ 1800
^ 90 „ „ „ „ 77-0 „ = 69-30, „ 2-696 „ „ 2570
i>120 „ „ „ „ 76-4 „ = 91-68, „ 2-750 „ „ 8334
^ 150 „ „ „ „ 75-6 „ = 113-40, ,, 2-772 „ , 4090
^ 180 „ „ „ „ 75-0 „ = 135-00, „ 2-790 „ „ 4840
Damit das Verhältnis zwischen Opfer und Genuss bei Allen das gleiche
werde, raüssten von ihren Einkommen zahlen:
A (für 1000 fl.) 3-000 Perc.
B
n
2000 „
3-375
C
n
3000 „
3-338
D
r)
4000 „
3-273
E
V
5000 „
3-247
F
^
6000 „
3-226
Nach Aussonderung von Ä hätten diese Steuerträger, je grösser ihr
Einkommen, einen desto geringeren Steuerfuss zu entrichten, um gleiche
Opfer zu erhalten!
Immerhin tritt in vorstehenden Tabellen noch zwischen den ersten und
den zweiten 1000 fl. eine Progression der Steuer zu Tage. Dies rührt jedoch
nur her von der evident falschen Voraussetzung, dass die ersten 1000 fl.
alle den gleichen Grenznutzen von 1007o hätten. Wenn die letzten 30 fl.
davon einen Grenznutzen von 1007o aufweisen, muss der Grenznutzen anderer
Theile ein grösserer und somit der Durchschnitt grösser als 1007o sein, und
wenn wirklich lOO^o der Durchschnitt ist, kann der Grenznutzen der letzten
30 fl.. welche auf die Steuer a,bgehen, nicht 1007o, sondern muss geringer
sein. Das muss bei allen 1000 fl. gelten. Wenn dem Eechnung getragen
wii'd. kann nachstehende Tabelle construiert werden:
A besitzt 1000 fl. Einkommen, mit mittlerem Grenznutzen 100 Perc. = 1000 Gesammtnutzen
B
n
1000 „ mehr als A,
C
r>
1000 „ „ „ jB,
D
n
1000 „ „ „ c,
E
F
n
1000 „ „ „ D,
1000 „ „ „ ^,
45
n
= 1450
37
V
= 1820
33
n
= 2150
31
»
= 2460
29
^
= 2750
60 ^a^-
Nehmen wir an, die Steuer würde 37o betragen, dann zahlt
A 30 fl. zum Grenznutzen von 50-0 Perc. = 15-00 d. i. TöOO Perc. von 1000
jB 60 „ „ „ „ 40-0 „ = 24-00 „ 1-655 „ „ 1450
(7 90 „ „ „ „ 35-0 „ = 31-50 „ 1-733 „ „ 1820
D 120 „ „ „ „ 32-0 „ = 38-40 „ 1-786 „ „ 2150
J5; 150 „ „ „ „ 30-0 „ = 45-00 „ 1-829 „ „ 2460
F 180 „ „ „ „ 28-5 „ = 51-30 „ 1-865 „ „ 2750.
Damit das Verhältnis zwischen Opfer und Genuss bei Allen das gleiche
werde wie für A. nämlich l"57oi niuss an Steuer entrichten:
A . . . 3-000 Perc. für 1000 fl.
B . . . 2-719 „ „ 2000 „
C . . . 2-600 „ „ 3000 „
D . . . 2-520 „ „ 4000 „
JE . . . 2-460 „ „ 5000 „
F . . . 2-412 „ „ 6000 „
Hier hat man eine ununterbrochene Steuer degression vom kleinsten
bis zum grössten Einkommen — als Folge der nämlichen Voraussetzungen,
welche in dem ersten der oben angeführten Beispiele die constante Progres-
sion ergaben, und auf Grund von Ziffernansätzen, die genau das nämliche
für oder gegen sich haben wie jene des ersten Exempels !
Damit ist die Illusion, auf der gedachten theoretischen Basis im Wege
der Opfertheorie die ProgTessivsteuer zu begründen, mit einem Schlage zer-
stört. Es war eben ein logischer Fehler, dem man anheimgefallen. Ein
zahlenmässiges Beispiel hatte man sofort für beweismachend angesehen,
ohne zu untersuchen, ob das gleiche Resultat der Rechnung zum Vor-
schein kommt, wenn man die Zahlensupposition variirt. Und es liegt sogar
sehr nahe, dass dann ein verschiedenes Resultat herauskommen muss. Die
Differenz der Quotienten in der Vergleichung beruht darauf, dass Dividend
und Divisor in einem verschiedenen Maasse bei jeder Einkommensstufe sich
verändern. Wenn nun die Ziffern so gewählt werden, dass der Divisor in
stärkerem Verhältnisse wächst als der Dividend, muss ein fallender Quotient
zum Vorschein kommen und umgekehrt. Die Nutzeinheiten der Steuersumme
sind der Dividend, die des Einkommens der Divisor, um den Percentsatz
zu erhalten, welchen die ersteren von den letzteren ausmachen. Ist dieser
Quotient ein fallender, so muss der Steuerfuss auf eine solche Höhe steigen,
welche einem gleichen Quotienten entspräche, d. h. es ergibt sich
Progression. Ist der Quotient ein steigender, so muss der Steuerfuss ent-
sprechend ermässigt werden, d. h. es ergiebt sich Degression. i) Von dem
^) Man vergleiche nur das erste, von Bok angeführte, und das letzte, von
Cohen Stuart entgegengehaltene Exerapel. Im ersten Beispiele (S. 57) betrugen
die Verhältnisszahlen der Nutzeinheiten des dagegen die respectiven Verhältniszahlen
Einkommens der Nutzeinheiten der Steuersumme
1000 = 100-0 Perc. 30-00 = lOO'O Perc.
1950 = 195-0 „ 57-00 = 190-0 „
2860 = 286-0 „ 81-90 = 272-0 „
3735 = 873-5 „ 105-00 = 350-0 „
4578 = 456-8 „ 126*45 = 421-5 „
5391 = 539-1 „ 146-34 = 487-7 „
6175 = 617-5 „ 164-64 = 548-8 „
Die Progressivsteuer. Qi
Maasse, in welchem die Veränderung in den Reihen der Divisoren und
Dividenden von einem zum anderen und abweichend vor sich geht, hängt
dann auch das Maass, in welchem die Quotienten differieren, ab.
Daher sind die Zifferansätze, welche man für die successive Abminderung
des Grenznutzens macht, und insbesondere der Sprung, welchen man dies-
falls von den ersten 1000 fl. zu den zweiten 1000 fl. eintreten lässt, auf
das Resultat des Calculs von Einfluss. Man stelle die Prüfung für sämmt-
liche angeführte Beispiele an und man wird immer finden, dass, sobald die Zahl
der Nutzeinheiten eines höheren Einkommens gegen 1000 fl. eine grössere
percentuelle Zunahme zeigt als die Zahlen der Nutzeinheiten der entspre-
chenden Steuersummen gegen einander, der resultierende Quotient kleiner ist
als der Steuerfuss für 1000 fl., von dem man ausgieng, daher, um gleiche
Steuer zu erhalten, der Steuerfuss für das betreffende Einkommen höher
gehalten werden müsste als jener.
Der begangene mathematische Denkfehler, welcher in dieser Weise
von Cohen Stuart allerdings nicht hervorgehoben wird, macht also den
erhofften Beweis zunichte. Je nach Wahl der Ziffern, welche das Verhältnis
der Abnahme des Grenznutzens illustrieren sollen, erhält man progressive,
proportionale oder degressive Steuerfüsse und zwar auch derart, dass diese
Bewegungsrichtung des Steuerfusses in einem und demselben Exempel
wechselt. Setzt man die von Stuart gegebenen Beispiele durch Annahme
weiterer Vermehrung des Einkommens mit weiterer Abnahme des Grenz-
nutzens fort, so schlägt das Endergebniss um ! Seine Tabellen, auf weitere
Einkommensgrössen ausgedehnt, würden wieder ein anderes Gesicht zeigen.
Aus der blossen Thatsache des Abnehmens des Grenz-
nutzens folgt eben auch bei dieser Formulierung der Theorie weder
Progression der Steuer noch das Ge gentheil.
Um von den zugrunde gelegten Prämissen zur Conclusion der
Progressivsteuer zu gelangen, müssten zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens
müssten wir die fortschreitende Abnahme des Grenznutzens genau messen
Das percentuelle Anwachsen der Divisoren ist ein grösseres, als jenes der Dividenden,
daher auch die Quotienten, wie die Tabelle zeigte, vom zweiten Falle an sämmtlich
geringer sind, als im ersten Falle (3 Perc), nämlich 2-923 Perc, 2-863 Perc. u. s. w.
bis 2-666 Perc, so dass, um in allen Fällen 3 Perc. zu erhalten, Steuerfüsse angesetzt
werden müssen, die höher sind als 3 Perc. Im letzten Beispiele (S. 60) sind
die Verhältniszahlen der Nutzeinheiten des dagegen die Verhältniszahlen der Nutz-
Einkommens einheiten der Steuersumme
1000 = 100 Perc. 15-00 = 100 Perc.
1456 = 145 „ 24-00 = 160 „
1820 = 182 „ 31-50 = 210 „
2150 = 215 „ 38-40 = 256 „
2460 = 246 „ 45-00 = 300 „
2750 = 275 „ '' 51-30 = 342 „
Die Divisoren wachsen, wie man sieht, percentuell in geringerem Maasse als die
Dividenden, daher die Quotienten zunehmen: laut Tabelle von 1-5 auf 1-655, 1-733 bis
1-865, was zur Folge hat, dass eine Degressivsteuer, das Gegentheil einer Progression,
eintreten müsste.
62 Sax.
und somit in Ziffern auszudrücken imstande sein; Ziffern also, die nicht
blosse Annahmen oder Exemplificationen, sondern Wirklichkeiten, objectiv
feststehende Grössenunterschiede wären. Zweitens müssten diese Ziffern
gerade so beschaffen sein, dass auch wirklich Progression aus ihnen mit
Nothwendigkeit folgte, nicht etwas anderes, was, wie sich zeigte, auchmöglich ist.
Diese Bedingungen sind unerfüllbar. An späterer Stelle wird festgestellt
werden, was wir denn über das Maass der Abnahme des G-renznutzens bei
zunehmender Gütermenge aussagen können. Angenommen aber, die beiden
Bedingungen wären erfüllbar, wenigstens in einer Weise, welche für das
praktische staatswirtschaftliche Handeln ausreiche, so fragen wir dennoch :
würde dann die Progressivsteuer auf Basis der Opfertheorie auch wirklich
definitiv begründet sein?
Es mag müssig erscheinen, eine solche Frage erst aufzuwerfen, nachdem
im vorhinein die Erfüllbarkeit jener Voraussetzung negiert wurde. Indes hat
das Aufwerfen der Frage doch immerhin guten Sinn. Einerseits hat Cohen
Stuart den Versuch gemacht, im Wege eines interessanten, später zu
besprechenden Verfahrens den Mangel genauer Bezifferbarkeit der Höhe des
Grenznutzens zu supplieren, und es erscheint daher angemessen, die Frage
für den Fall zu stellen, dass ein solches Auskunftsmittel zur Verfügung
stehe. Andererseits aber ist ja doch die These, betreffend die Gestaltung des
Grenznutzens, nur die eine Prämisse der Deduction; die andere bilden die
übrigen Thesen der in Rede stehenden Theorie. Es fragt sich, ob nicht von
dieser Seite her die Stichhältigkeit der Conclusion bedroht ist. Dieser letztere
Punkt ist hier zu untersuchen.
Wie uns scheint, ist es nicht schwer, sich hierüber sein ürtheil zu bilden.
Die Opfertheorie geht von dem Gedanken aus, dass die Steuer als
eine allgemeine Bürgerpflicht Allen die gleiche Last auferlegen solle. Als
solche wird nun erklärt die Entbehrung eines gleichen Theiles des verfügbaren
Gesammtmaasses von Bedürfnisbefriedigung von Seite eines Jeden. Mit
Verlaub! Das ist ein ungleiches Opfer. Der gleiche Theil von ungleichen
Grössen ergiebt selbst ungleiche Grössen. Der Umstand, dass diese letzteren
Grössen zu denjenigen, wovon sie Theile sind, in demselben Verhältnisse
stehen, ändert nichts daran, dass sie unter sich ungleich sind. Man dürfte
daher strenggenommen nicht länger von gleichen Opfern, sondern nur von
verhältnismässigen Opfern sprechen. Und in der That, so wie die Abgabe
einer und derselben Quote ein verschiedenes Opfer ist bei kleinem und bei
grossem Einkommen, so ist auch die Entbehrung eines und desselben Theiles
vom Gesammtgenuss, den je ein Einkommen ermöglicht, ein verschiedenes
Opfer, je nachdem dieses Genussquantum ein grösseres oder kleineres ist.
Anch dieses Opfer wird immer grösser, je kleiner das Einkommen ist. und
wird endlich bei dem nur zum nothwendigen Lebensunterhalte ausreichenden
Einkommen exorbitant. Das leuchtet den Vertretern der in Rede stehenden
Theorie auch ein und daher wollen sie dieses Existenzminimum von jeder
Steuer befreit wissen. Wird dem entsprochen, dann verlangt man von den
Betreffenden nicht nur kein verhältnismässiges, sondern überhaupt kein
Die Progressivsteuer. (33
Opfer. Dass damit aber die Opfertheorie eine eigenthümliche Wendung
annimmt, ist ersichtlich. Ausgegangen ist die Opfertheorie von der Forderung
gleicher Opfer von Seiten Aller und nun kommt sie darauf hinaus,
von dem einen Theile der Staatsangehörigen gar kein Opfer zu verlangen,
allen Uebrigen ungleiche Opfer aufzuerlegen! Aerger kann sich eine Theorie
nicht selbst dementieren.
Was nun aber die Verhältnismässigkeit der als Steuer geopferten
Genussquanten betrifft, so erscheint dieselbe als blosses Postulat. Wenn man
einmal Ungleichheit der Opfer an die Stelle gleicher Opfer setzt, in deren
Forderung die Opfertheorie gipfelt, so ist nicht einzusehen, warum die
ungleichen Opfer gerade verhältnismässig sein sollen. Die Gerechtigkeit, auf
die man sich diesfalls beruft, verlangt dies nicht n^thwendiger Weise.
Würde, wenn das öffentliche Wohl .es nothwendig macht, von dem Einen
einen grösseren Theil seines Genusses abzuverlangen als von den Andern, die
Gerechtigkeit dies untersagen? Die Gerechtigkeit verbietet nur, dass Jemand
eine Steuer auferlegt werde, welche seinen wirtschaftlichen Verhältnissen
widerspricht. Ist aber nicht der Keichere imstande, einen grösseren Theil
des ihm möglichen Genusses — was, wohlbemerkt, noch keineswegs ein
grösseres Opfer bedeutet! — auf dem Altar des Vaterlandes zum Opfer zu
bringen als der minder Wohlhabende und gar der Dürftige? Wie viel
freilich, dies ist unmöglich zu bestimmen, weil sich nie der Schlüssel linden
wird, mittels dessen man beziffern könnte, wie viel Genüsse geringerer
Intensität einen solchen von höherer Intensität aufwiegen. Daraus, dass
man das nicht sagen kann, folgt indes noch nicht, dass die aufgeopferten
(ungleichen) Genüsse alle in demselben Verhältnisse zum Gesammtgenuss
eines Jeden stehen müssten. Die Anrufung der Gerechtigkeit genügt also
keineswegs, jene Forderung zu erhärten, wie ja die Gerechtigkeit selbst
gleiche Opfer nicht zu begründen vermöchte, wenn sich aus irgend einem Grunde
eine Steuer als gerechtfertigt erwiese, die eben ungleiche Opfer bedeutet.
Oder sollte man vielleicht meinen, dass der Verzicht auf einen gleichen
Theil des Gesammtgenusses Jedem gleiche Unlust bereitet? Das würde
allerdings dem wahren Sinne der Opfertheorie entsprechen, welche die gleiche
subjective Empfindung durch die Steuer in Jedem hervorrufen will — ganz
logisch, da dies zum Begriffe des Opfers gehört — aber es wäre eben
nicht zutreffend. Uebrigens würden die betreffenden Autoren dadurch in
Widerspruch mit sich selbst gerathen, da sie es ausdrücklich ablehnen^
über die subjective Stimmung des Steuerträgers eine Aussage zu machen^
und unter Opfer den objectiven Entgang verstehen wollen! Als ob die
Aussage über einen Genussentgang dadurch zu einer objectiven würde, dass
man diesen Genuss als den bestimmten Theil eines Genussquantums
(das doch immer eine subjective Grösse bleibt) in's Auge fasst! Schliess-
lich würde jene Verhältnismässigkeit voraussetzen, dass das gleiche Ein-
kommen Jedem den gleichen Genuss bereitet, was doch ebenfalls nicht
behauptet werden kann. So erweist sich diese neuere Variante der Opfer-
theorie als logisch hinfällig.
ß4 Sax.
Nebstdem ist aber noch ein Umstand besonders hervorzuheben. Die
erwähnten holländischen Theoretiker sind nur dadurch imstande die Opfer-
theorie — selbst auf der soeben gekennzeichneten Basis — aufzubauen,
dass sie das Existenzminimum aus der Eechnung entfernen. Es geschieht
dies entweder laut den citierten Beispielen in der Weise, dass für die ersten
1000 fl. eines Einkommens eine Durchschnittsziffer des Grenznutzens ange-
setzt wird, welche von dem hohen Grenznutzen der Güter des Existenz-
minimums völlig absieht, oder derart, dass Steuerfreiheit des Existenz-
minimums mit einer petitio principii in dem Sinne verlangt wird, dass der
bezügliche Betrag von jedem Einkommen vor Anlegung der Steuer in Abzug
zu bringen sei. So auch Cohen Stuart, der die besprochene Variante der
Opfertheorie rückhaltslos acceptiert und auf Grund derselben jene Berech-
nungen anstellt, auf welche wir im späteren zurückkommen werden. Nur
mittels dieser Eliminirung des Existenzminimums ist es überhaupt möglich,
plausible Kesultate mit der dargestellten Demonstration zu erhalten. Setzt
man hingegen für das Existenzminimum, welches Bedürfnissen von ausser-
ordentlich hohem Stärkegrade dient, eine entsprechend hohe Ziffer als Verhält-
niszahl des Grenznutzens ein ; setzt man z. B. den Grenznutzen der Guts-
einheit im Existenzminimum auf das lOOfache des Grenznutzens der Ein-
heit in einem Einkommen von 1000 fl. an und macht darnach den Calcul, so
kommen Ergebnisse zum Vorschein, die die ganze Theorie geradezu ad ab-
surdum führen. Eine solche Verhältniszahl ist keineswegs eine unzutreffende
Exemplification, sie ist eher zu niedrig als zu hoch; haben doch grosse
Autoritäten die Bedürfnisse des nothwendigen Lebensunterhaltes gegenüber
den übrigen Bedürfnissen nicht bloss als höchst intensiv, sondern als geradezu
incommensurabel bezeichnet. Als erheiterndes Intermezzo in dieser trockenen
Materie möge nachstehendes Beispiel hier Platz finden.
Das Existenzminimum betrage 200 fl. und es sei der Grenznutzen in
ihm das lOOfache des Grenznutzens beim Einkommen von 1000 fl. Im
übrigen sollen alle ziffermässigen Annahmen des ersten der obigen Rechnungs-
exeiiipel hier wiederkehren, d. i. desjenigen, bei welchem die Progression
resultierte. Das gibt folgendes Tableau:
Einkommen
mit Grenznutzen von
folglicli Verhältniszahl des
Gesammtnixtzens
X besitzt
200 fl.
10.000-0 Perc,
20.000
A
„
1000 „
100-0
„
20.800
B
v
2000 „
95-0
^
21.750
C
^
3000 „
91-0
^
22.660
B
n
4000 „
87-5
»
23.535
E
r>
5000 „
84-3
V
24.378
F
r
6000 „
81-3
n
25.191
G
»
7000 „
78-4
n
26.375
Eine 4V„ Steuer ergäbe sonach
Pur
Steuer
zum Grenz nutzen von
X
8 fl.
10.000-0 Perc.
=
: 800-00,
d. i,
, 4-000 Perc
. von 20.000
A
40 ,
100-0 „
=
4000.
r
0-192 „
„ 20.800
B
80 „
95-0 „
=
76-00,
V
0-349 „
„ 21.750
Die Progressivsteuer. 55
= 109-20, d. i. 0-482 Proc. von 22.660
= 140-00, „ 0-594 „ „ 23.535
= 168-60, „ 0-691 „ „ 24.378
= 195-12, „ 9-774 „ „ 25.191
= 219-52, „ 0-832 „ „ 26.375
Wenn ein Jeder 17o des Gesammtgenusses als Steueropfer abgeben
sollte, so müsste als Steuer entrichten:
X 1-000 Perc. von 200 fl.
Pur
Steuer
7 um Grenznutzeii von
C
120 fi.
91-0 Proc.
D
160 ,
87-5
^
E
200 ,
84-3
n
F
240 „
81-3
V
G
280 „
78-4
y>
A
20-833
n
V
1000
B
11-463
„
n
2000
C
8-268
»1
„
3000
D
6-734
«
V
4000
E
5-788
n
„
5000
F
5-166
v
„
6000
G
4-807
n
»
7000
So sieht des Bild der erwarteten Progressivsteuer aus, wenn man nicht
das Existenzminimum bei der Berechnung des Gesammtnutzens ausscheidet. ')
Bei Ausscheidung des Existenzminimums aus dem Calcul gerathen
nun aber jene Theoretiker in Widerspruch mit ihrer eigenen richtigen Vor-
aussetzung, der gemäss die Steuer jeweils nur den mindest intensiven Be-
durfnissen, welche sorst hätten befriedigt werden können, Eintrag thut. In
Gemässheit dieser Prämisse wird, sobald das Einkommen nur grösser ist
als das Existenzminimum plus der Steuer, durch letztere offenbar der noth-
wendige Lebensunterhalt gar nicht tangiert. Die betreffenden Steuersubjecte
erfreuen sich folglich des ungeschmälerten Genusses jener Güter von so
ausserordentlich hohem Grenznutzen und im Calcule des Gesammtnutzens
ihres Einkommens müssen diese daher mitgezählt werden. Zählt man sie
aber sammt ihrem hohen Grenznutzen mit, dann erscheint jenes Resultat,
welches die ganze Theorie compromittiert.
Sehen wir endlich, was speciell den Yorabzug eines Existenzminimums
von jedem Einkommen betrifft, doch nur zu, wie sich dieses Theorem uns
nunmehr unter dem Gesichtspunkte der Opfertheorie präsentiert. In der
z. B. von Bentham und Mill vertretenen Fassung besagt es: Nach
Ausscheidung des unentbehrlichen Subsistenzbedarfes verursacht die Abgabe
einer gleichen Quote von dem Reste ein gleiches Opfer und eben des-
halb verlangt man diesen Modus der Besteuerung. Nun, dies ist offenbar
unrichtig. Es könnte die Abgabe der gleichen Quote nur dann ein gleiches
Opfer sein, wenn alle diese Bedürfnisse, welche nach Ausscheidung des
Existenzminimums mit dem übrigen Einkommen zu befriedigen sind, unter
'i Würde man nur 100 fl. als Existenziriinimum ansetzen, so kämen natürlidi
andere Endziifern, aber von nahezu gleicher Verhältnismässigkeit heiaus. Sollte bei einer
Decimalstelle irgend ein Eechnnngsfehler unterlaufen sein, ändert dies selbstverständlich
an dem Resultate und seiner Drastik nicht das Mindeste. Wollte man 1000 als Verhältnis-
ziffer der Intensität der Bedürfnisse des Existenzminimums einsetzen, so würde das
Ergebnis noch weit drastischer. Und wenn man gar jene Bedürfnisse als incommen-
surabel ansieht (Mill), demgemäss QO einsetzt, so wird der Calcul überhaupt unmöglich.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. I. Heft 5
06 ^ax.
sich gleich an Intensität wären. Da sie aber unter sich grosse Unterschiede
der Stärke aufweisen und die Steuer nur die mindest intensiven schmälert,
so bedeutet die Entziehung der gleichen Quote wiederum ein ungleiches
Opfer ! Man müsste mithin zu der neueren Auffassung greifen und erklären :
Die richtige Steuer besteht darin, von Jedem diejenige Quote vom Ein-
koramen nach Abzug des Existenzminimums zu entnehmen, welche Jedem
denselben Theil des ihm mit jenem übrigen Einkommen verfügbaren
Gesammtgenusses entzieht. Dagegen aber erheben sich selbstverständlich
wieder alle jene Einwendungen, die gegen die Forderung verhältnis-
mässiger Opfer geltend gemacht wurden!
Das Vorstehende in Betracht gezogen, können wir wohl behau pten,
dass auch der geschilderte letzte Versuch, der Opfertheorie in veränderter
und vertiefter Grestalt die Motivierung der Progressivsteuer abzugewinnen,
erfolglos geblieben ist. Und damit ist wohl diese Lehrmeinung überhaupt
definitiv beseitigt. Sie entstammt einer Zeit, in der man die staatswirt-
schaftlichen Erscheinungen mit unklaren Begriffen und bildlichen Red ens-
arten behandelte und naiver Weise in blossen Umschreibungen Erklärungen
erblickte. Dieser Denkrichtung den Todesstoss zu versetzen, war die Aufgabe
meiner „Grundlegung der theoretischen Staats Wirtschaft". Für den, der
etwa noch nicht überzeugt war, dürfte jetzt bezüglich der gedachten Theorie
gleichfalls kein Zweifel mehr übrig sein.
2. Die Steuer nach der Leistungsfähigkeit.
Kürzer als bis nun können wir uns bei der Untersuchung fassen, ob
und inwiefern das Princip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit die
Progressivsteuer zu begründen vermag. Wer folgerichtig und genau denkt,
wird an die kritische Prüfung dieses Theorems sonderliche Anstrengung
nicht zu wenden haben.
Bemerkenswert ist vor allem der Umstand, dass die Wortführer dieser
Theorie behufs Motivierung der Progressivsteuer nicht selten an die Opfer-
theorie recurrieren, die Progressivsteuer also aus jener nicht abzuleiten
imstande sind. Allen voran F. J. Neumann, der bekanntlich so viel zur
Propagierung der Idee der Progressivsteuer beigetragen hat. „Erst durch
Berücksichtigung der auferlegten Opfer erhält der Maasstab der Leistungs-
fähigkeit bestifnmte Gestalt und wird für das Steuerwesen brauchbar".
Nur durch den Maasstab der Opfergleichheit findet dieser Vorkämpfer der
Prcgressivsteuer dieselbe eigentlich zu begründen, der Grundsatz der Lei-
stungsfähigkeit erscheint ihm hiezu untauglich, weil der erforderlichen Be-
stimmtheit ermangelnd. Auch Rob. Meyer, so verschiedene praktische
Anforderungen an die Steuervertheilung er aus dem Principe der Vertheilung
nach der Leistungsfähigkeit deduciert, die Progression der Steuer glaubt er
nur aus dem Principe der Opfergleichheit gewinnen zu können. Und ebenso
führt der Gedankengang anderer Schriftsteller yon der Steuer nach der
Leistungsfähigkeit hinsichtlich der progressiven Steuer immer wieder — be-
Die Progressivsteuer. 57
wusst oder unbewusst, klar oder unklar — zum Appell an das Princip
der Opfergleichlieit zurück. Die Leistungsfähigkeit wachse progressiv mit
dem Einkommen, weil die Abgabe der gleichen Quote bei grösserem Ein-
kommen ein geringeres Opfer auferlege und eben erst eine steigende Quote
ein gleiches Opfer ergebe. Es ist einleuchtend, dass hiemit die Opfertheorie
nur in einem anderen Gewände auftritt und wir somit, wenn wir auf die
selbe nicht zurückkommen wollen, uns mit den bezüglichen Ausführungen
nicht weiter zu beschäftigen brauchen, obschon ein solches pele-mele der
theoretischen Motivierung selbst bei den angesehensten Finanzschriftstellern
und in der publicistischen Discussion des Gegenstandes ziemlich häufig zu
vernehmen ist. Jedenfalls ist aber dieser Umstand schon sehr bezeichnend
für die Beweiskraft, welche man von dem nun in Erörterung gezogenen
Steuerprincipe für unsere Frage zu erwarten hat.
Im Folgenden haben wir es daher lediglich mit Auffassungen zu thun,
welche in der Leistungsfähigkeit einen selbständigen, an sich genügenden
Maasstab der Steuervertheilung finden. Als solcher figuriert dieselbe bei
Denjenigen, welche lehren: Die Steuerfähigkeit besteht im Besitze von
Einkommen und hat ihr Maass in der Grösse des Einkommens. Steuer
nach der Leistungsfähigkeit heisst daher : Die Steuern der Einzelnen sollen
in dem Verhältnisse zu einander stehen, in welchem die betreffenden Ein-
kommen stehen.
Nach älteren Anschauungen verstand man hierunter bekanntlich das
Einkommen überhaupt oder das Reineinkommen. Als logische Consequenz
hievon erscheint die proportionale Steuer. Dies bedarf wohl keiner näheren
Erörterung.
Spätere Lehrmeinungen wollten als jenen Maasstab der Steuer nur das
freie Einkommen verwendet wissen.^) „Leistungsfähigkeit" heisst das
Quantum Güter, welches man nicht für nothwendige Individualbedürfnisse
braucht. Steuern „nach" der Leistungsfähigheit schliesst, wie eben erwähnt,
das Postulat ein, dass die Steuern im gleichen Verhältnisse zu dieser
Leistungsfähigkeit stehen sollen. Die Steuern vom Gesammteinkommen
sollen demnach in demselben Verhältnisse zu einander stehen wie die freien
Einkommen der bezüglichen Wirtschaftssubjecte. Mit andern Worten: Propor-
tionalsteuer vom freien Einkommen, d. i. vom Einkommen nach Abzug des
Existenzminimums, welche Steuer, ins Verhältnis zum gesammten Einkommen
gebracht, wie wir wissen, eine schwache Progression zeigt. Einen Unterschied
macht es hier nur, ob man als Abzugspost lediglich das zur blossen
Erhaltung der körperlichen Existenz absolut Nothwendige (das sogenannte
physische Existenzminimum oder Existenzminimum im eigentlichen Sinne)
oder das sogenannte culturelle Existenzminimum, d. i. das zur Führung
einer menschenwürdigen Existenz nach den jeweiligen Lebensverhältnissen
unbedingt Erforderliche begreift. Wenn man von einzelner Seite die „Lebens-
1) Vergl. über die literargeschichtliche Entwicklung des Inhaltes des Begriffes
der Leistungsfähigkeit Roh. Meyer a. a. 0., S. 181 ff.
68 Sax.
haltung" berücksichtigt wissen will, so ist wohl nur das letztere, das
„allgemeine sociale Existenzminimum," gemeint, keineswegs aber die classen-
gemässe Lebenshaltung der wohlhabenderen Bevölkerungsschichten hierunter
verstanden. Dieser Unterschied ergibt lediglich eine Verschiedenheit in der
durch die Umrechnung aufs Gesammteinkommen resultierenden Progression:
der Grundgedanke ist immer der nämliche, nur der Umfang des Begriffes
„freies Einkommen" wird abweichend interpretiert.
Die hiemit gegebene Begründung der Progressivsteuer zählt bis zur
Gegenwart viele Anhänger. Motivenberichte zu Steuerreformentwürfen repro-
ducieren sie, wenngleich nicht immer mit erwünschter Klarheit.^) Hervor-
ragende Autoren vertreten sie — darunter Adolf Wagner. Die Leistungs
fähigkeit steigt stärker als das Einkommen — so liest man — weil von
letzterem eine immer grössere Quote vom Subsistenzbedarfe nicht in An-
spruch genommen ist, also theils zu den freien Genüssen, theils zur
Capitalisierung verwendet werden kann. „Die proportionale Besteuerung des
ganzen Einkommens ist eine Degressivbesteuerung des freien Einkommens.''
Ergo e contrario : Die proportionale Besteuerung des freien Einkommens
ist Ausfluss der Bemessung nach der Leistungsfähigkeit und diese ergibt
eine Progression der Steuer auf's ganze Einkommen.^)
Dies ist die Gedankenfolge, in welcher das Princip der Leistungs-
fähigkeit im obigen Sinne zu einer Steuerprogression leitet. Sehen wir zu,
ob dieselbe als unanfechtbar gelten kann.
Wie man leicht bemerkt, ist der bezeichnete Gedankengang ein unvoll-
ständiger. Es muss noch hinzugefügt werden, warum der Umstand, dass
von zunehmendem Einkommen eine immer grössere Quote als freies Ein-
kommen übrig bleibt, auf die Höhe der Steuer von Einfluss sein müsse
und zwar dadurch, dass dieselbe dem freien Einkommen proportional
gehalten wird. Nun warum? Auf diese Frage erhält man entweder
1) So z. B. die Motive zu den öst. Steuervorlagen d. J. 1874: „ . . . so wird zu-
gegeben werden müssen, dass die Steuerkraft in Fällen der Einkommenserhöhung nicht
im arithmetischen, sondern nach einem progressiven Verhältnisse wächst, indem die
Fähigkeit, die Steuer zu zahlen, in dem Maasse sich erhöht, als die Möglichkeit zu-
nimmt, die nach Bestreitung der Lebensbedürfnisse verbleibenden Ueberschüsse dos Ein-
kommens zur Deckung minder nothwendiger Erfordernisse oder zur Thesaurierung zu
verwenden." Das heisst doch oifenbar: die Leistungsfähigheit nimmt in demselben Maasse
zu, in welchem das freie Einkommen wächst. Daraus würde folgen, dass die Steuer pro-
portional zum freiem Einkommen sein muss und dass sonach diejenige Progi-ession,
welche sich durch die Bezifferung der hiernach bestimmten Steuerbeträge als Procente
des Gesammteinkommens ergiebt, jenes „progressive Verhältnis" darstellt, in welchem die
Steuerkraft, d. h. die Möglichkeit einen Theil des Gesammteinkommens als Steuer abzu-
geben, bei Erhöhung des Einkommens wächst. ' (Motivenbericht S. 142.) Noch minder
klar die sächsische Eegierungs vorläge 1871/72.
2) Wagner „Finanzwissenschaft," IL TheiL Aufl. v. 1880, S. 357, Aufl. v. 1890,
S. 457. Ganz richtig wird hinsichtlich der Progressivsteuer nur die Höhe des Einkommens
ins Auge gefasst, während die Art des Einkommens und ungleiche Absorption desselben
durch bestimmte Verwendungszwecke — Momente, an die im Begriff*e der „Leistungsfähig,
keit" mitgedacht wird — andere Fragen der Besteuerung ergeben.
Die Progressivsteiier. (59
gar keine Antwort oder — ausgesprochen oder unausgesprochen — die:
weil sonst Ungleichheit der Opfer zum Vorschein käme,') oder: weil die
Gerechtigkeit dies gebietet. Warum gebietet es die Gerechtigkeit ? fragen
wir weiter. Antwort: Entweder abermals keine, oder: weil sie Gleichheit
der „Last" verlangt — damit wären wir wieder glücklich bei der Opfertheorie
— oder endlich eine Wendung (um nidit zu sagen Phrase), die nur dem
Denkungewandten die petitio principii verbirgt.
Auf diese Weise werden wir einfach an die Standarte der Gerech-
tigkeit gewiesen. „Le pavillon couvre la marchandise" : da bedarf es keiner
weiteren Prüfung. — Ist dem wirklich so ?
Was kann denn die „vertheilende Gerechtigkeit" im Steuerwesen ge-
bieten? Offenbar nur das Negative, keine andere Steuer von jemand ein-
zuheben als diejenige, welche nach dessen ökonomischen Verhältnissen die
richtige ist; nicht von dem Einen mehr Steuer zu verlangen und vom
Andern weniger als die richtige! Eine positive Directive für das vor-
liegende Gebiet ist im Inhalte des Begriffes nicht gelegen.
Oder könnte man vielleicht folgendermaassen argumentieren: Wenn
von Denjenigen, welche nur ein Einkommen im Umfange des Existenz-
minimums haben, eine Steuer nicht eingehoben wird, so erfordere es die
Gerechtigkeit, das Einkommen aller Uebrigen auch zum gleichen Betrage von
der Steuer zu eximieren? Die Antwort könnte nur dann bejahend lauten,
wenn der Grund, aus welchem die Erstgedachten von der Steuer befreit
werden, auch bei den Letzteren zuträfe. Der Grund ist: w^eil die Entziehung
eines Theiles der betreffenden Güter die Erhaltung oder (beim culturellen
Existenzminimum) die menschenwürdige Existenz jener Individuen aufheben
würde. Bei Denjenigen, welche mehr besitzen als das Existenzminimum plus
einem Betrage gleich der zu zahlenden Steuer, trifft aber jener Grund nicht
mehr zu. da bei diesen, wie wir uns erinnern, die Steuer eben an jene
Güter nicht rührt. Es ist daher gar nicht einzusehen, wieso vom Gesichts-
punlde der Gerechtigkeit aus eine Steuer verworfen werden könnte, die z. B.
bei einem Existenzminimum von 200 fl. so beschaffen wäre: Bis 200 fl.
Emkommen Steuerfreiheit, von 220 fl. an eine proportionale Steuer von 107o;
[Einkommen über 200 fl. bis inclus. 219 fl. geben das Plus über 200 fl. ab.
Wenn sich eine solche Steuer wirtschaftlich empfehlen würde, wäre namens
der vertheilenden Gerechtigkeit gegen dieselbe nicht das mindeste einzuwenden.
Dass die Steuerbefreiung der Menschen, welche lediglich das Existenzminimum
aufweisen, nicht selbst erst durch die Gerechtigkeit motiviert wird, sondern
sich anderweitig vollständig erklärt — u. zw. verschieden für das physische
und das culturelle Existenzminimum — wird kaum eines eingehenden
Nachweises bedürfen. 2) So lässt uns also, wenn man sich nicht mit Worten
begnügt, sondern der Sache auf den Grund geht, die Verweisung auf die
Gerechtigkeit im Stich. Der Satz, es hätten die Steuern sich abzustufen im
^) So z. B. auch Wagner im Verfolge der vorcitierten Stelle.
2) Vergl. hiezu Abschnitt III, 2. Theil der vorliegenden Abhandlung.
70 i^ax.
Verhältnis des freien Einkommens, ist mithin — falls man nicht zur Opfer-
theorie seine Zuflucht nimmt — einfach ein Postulat. \)
Andere Postulate sind ihm entgegenzusetzen, indem man den Begriff
der Leistungsfähigkeit ändert. Dies geschah, als man in ihr den Ausdruck
dessen erblickte, wie viel Jemand Steuer zahlen kann „ohne Störung der
wirtschaftlichen Entwicklung" (Stein) oder „ohne die verhältnismässige
Eigenversorgung zu verkümmern" (Schaeffle); Maasstäbe, die wohl an
Unbestimmtheit das äusserste leisten! Dass man mit der Forderung, die
Steuer solle im Verhältnis zu dieser Leistungsfähigkeit stehen, eine Unzahl
beliebiger Progressionen construieren könnte, steht ausser Zweifel. Alle
diese wären nur postuliert, nicht motiviert: der Nachweis, dass eine davon
die richtige sei, wäre wohl niemals zu erbringen.
Immerhin ist unter „Leistungsfähigkeit" selbst da noch eine Güter-
summe verstanden: diejenige, welche Jemand hingeben könnte, ohne dass
die gedachten Wirkungen (Störung der wirtschaftlichen Entwicklung, Ver-
kümmerung der verhältnismässigen Eigenversorgung) eintreten. So unbe-
stimmt das Ausmaass dieser Summe sein mag, es ist doch wenigstens
logisch möglich, die Steuer des Einzelnen als im Verhältnis zu dieser Summe
stehend zu denken. Wenn man aber vollends mit dem Worte „Leistungs-
fähigkeit" jenen verschwommenen Begriff des derzeitigen Sprachgebrauches
verbindet, den Kob. Meyer so trefflich charakterisiert, indem er sie definiert
als „die Gesammtheit der wirtschaftlichen Momente, welche der Wirtschaft
die Aufbringung der Steuer ermöglichen oder erleichtern", dann ist man
wohl mit der Logik dieses „Verhältnisses" am Ende. Eine Gütersumme
(Steuer) kann doch wohl immer nur mit einer anderen Gütersumme im
Verhältnis stehen: wie aber eine Gütersumme zu einer Summe von „Momenten",
d. i. verschiedenen Umständen, Zuständen, Thatsachen der individuellen
Wirtschaft, im Verhältnis stehen könnte, ist unfassbar. Die hierauf basierte
Progressivsteuer entstammt jenem Nebel des Gedankens, welcher die, den
Agitationen und Schlagworten des öffentlichen Lebens so gedeihliche
Atmosphäre bildet, den jedoch die Wissenschaft zerstreuen muss, wenn sie
ihres Amtes walten will.
1) Cohen Stuart, welcher mit dem BegriflFe der Leistungsfähigkeit als Ver-
theilungsmaasstab mathematisch nichts anzufangen weiss, hat sich für seine Theorie aus
demselben einen sehr bequemen Behelf zurechtgelegt, indem er unter Leistungsfähigkeit
= Steuerkraft = Steuertragungsvermögen das Object der Besteuerung versteht: die-
Cenige Summe, aus welcher die Steuer genommen wird; welche die Steuer zu tragen hat.
Mittels einer petitio principii erklärt er als solche das Einkommen nach Abzug des
Existenzminimums. Maasstab der Vertheilung sei dann die Opfergleichheit (a. ä. 0, S. 39).
Es sei diese „Tragkraft" dermaassen in Anspruch zu nehmen, dass verhältnismässige
Opfer entstehen. N. G. Pierson billigt diese Auffassung der „Steuerkraft" höchlich
(Leerboek TL, S. 461). hat jetzt aber die Opfertheorie aufgegeben und will die Steuer
ausschliesslich nach der Steuerkraft bemessen wissen. Damit stellt er doch offenbar das
Postulat auf: die Steuer soll in geradem Verhältnisse zu ihrem eigenen Objecte, dem
freien Einkommen, stehen. Das ist ersichtlich nichts anderes als die oben erörterte
Leistungsfähigkeitstheorie und hat folglich auch alle oben erhobenen Einwendungen
gegen sich.
Die Progressivsteuer. 71
Wie ersichtlich, kommt man mit dem Grundsatze der Leistungsfähigkeit
zu keinem festen Ergebnisse und verliert schliesslich den Boden ganz unter
den Füssen. Leicht erklärlich. Die „Leistungsfähigkeit" ist ein allgemeiner,
vermöge seiner Unbestimmtheit möglicher Ausdruck zur Zusammenfassung
dessen, was aus wirtschaftlichen Gründen in der Steuervertheilung vor sich
geht und durch irgendeine Theorie zu erklären ist. Denn was Jemand an
wirtschaftlich richtiger Steuer vorgeschieben wird, das ist er ökonomischer
Weise zu leisten fähig. Aus der Leistungsfähigkeit an sich etwas herleiten
zu wollen, ist strenggenommen unmöglich: nur was man als aus irgend
welchem Grunde innerlich motiviert ansieht, kann man der Leistungsfähigkeit
entsprechend finden. Und so auch in Betreff der Progressivsteuer. Man ist
überzeugt, man „fühlt", dass die Steuer progressiv sein soll und zwar, weil
sie es sein kann. Daher ist man gewiss berechtigt zu sagen, das entspreche
der Leistungsfähigkeit, nur hat man damit wissenschaftlich nichts erklärt,
nichts begründet. Wenn man aber sagen wollte, das allgemeine Gefühl
selbst ist die Motivierung, es bedarf einer weiteren nicht, so gibt man damit
zu, dass eben der Grundsatz der Leistungsfähigkeit nicht die Begründung
liefert, und wird damit von selbst einer Theorie zuneigen, welcher es gelingen
sollte zu erklären, warum das Gefühl jenes anzeigt.
Man sehe aber schliesslich doch auch zu, was denn praktisch mit der
aus der proportionalen Besteuerung des freien Einkommens hervorgehenden
Progressivsteuer, die derzeit noch so vielen Anklang findet, erreicht wäre.
Zieht man nur das eigentliche Existenzminimum ab, oder greift man den
Betrag, welcher als allgemeines sociales Existenzminimum angesehen wird,
nicht zu hoch, so kommen bereits bei der breiten Schichte der mittleren
Einkommen so geringfügige Differenzen des Steuerfasses heraus, dass die
bezügliche Progression geradezu als eine Spielerei erscheint.^) Wollte man
') Man kann sich mit leichter Mühe durch die Bechnung hievon überzeugen.
Wenn das Existenzminimum mit 300 fl. angenommen wird und demnach bei einer lOperc.
Steuer vom freien Einkommen die Steuer vom ganzen Einkommen sich berechnet mit
7-00 Perc. bei 1000 fl. Einkommen
8-50 „ , 2000 ,
9-00 „ „ 3000 „
9-25 „ „ 4000 „
9-40 „ „ 5000 „
9-50 „ „ 6000 „
9-57 „ „ 7000 ,
9-62 „ „ 8000 „
9-66 „ „ 9000 „
9-70 „ „ 10000 „ „ u. s. w.:
wie wäre es auch nur denkbar, ein Steuersystem zu entwerfen, dessen Glieder in
ihrer combinierten Wirksamkeit, also directe und indirecte Steuern zusammen, die
verschiedenen Einkommen gerade oder auch nur annähernd mit Steuerbeträgen treften,
die den subtilen Unterschieden vorstehender Scala entsprechen! Wohlbemerkt: So mini-
male Differenzen resultieren schon bei den mittleren Einkommensstufen (wie erst bei den
höheren und höchsten!) für eine Abstufung von 1000 fl. (wie erst für die Zwischen-
stufen!) und bei einem Steuerfusse von 10 Perc, der absichtlich in dieser Höhe an-
gesetzt wurde — wie erst bei einer geringeren Steuerhöhe!
72 Sax.
jedoch eine praktisch brauchbare Progression erhalten, so müsste die Abzugs-
post willkürlich aller Wirklichkeit wridersprechend hoch gegriffen werden,
wodurch die Zahl der Steuerfreien zu einer unmöglichen Ausdehnung an-
schwellen würde!
Aber die Anhänger dieser Progressivsteuer denken eben immer bloss
an die Einkommensteuer, wobei der eingangs erwähnte Fehler begangen
wird. Wenn nun schon bezüglich der Gresammtsteuer aus der Steuerbe-
freiung Derjenigen, welche bloss das gewisse Existenzminimum besitzen,
nicht folgt, dass die ökonomisch richtige Gesammtsteuer der üebrigen durch
proportionale Besteuerung des freien Einkommens gefunden werde, um so
Aveniger können die so gefundenen Steuersätze kurzweg für die Einkommen-
steuer (im Steuersysteme) gelten. Sie könnten doch höchstens für die
Steuern in ihrer Gesammtwirkung auf das einzelne Steuersubject gelten.
Dies ist für die unteren Einkommensstufen schon durch die Beschaffenheit
der indirecten Steuern, für die mittleren durch diese und Hinzutreten einer
proportionalen Einkommensteuer zu erzielen, bei den höheren Einkommen-
stufen aber, bei welchen die Einkommensteuer für die Steuersumme ent-
scheidend wird, ergibt ja jener Steuermodus eine Progression von so
minimalem Maasse, dass dieselbe faktisch einer Proportionalsteuer völlig
gleichkommt! Wohl aber wäre, wenn die Steuerbefreiung des Existenz-
minimums nicht eintritt, eine progressive Gestaltung der Einkommensteuer
der Ausgleichung wegen nothwendig, wenn nicht andere Steuern diese Aus-
gleichung besorgen. Angenommen, die 300 fl. Existenzminimum seien durch
indirecte Steuern mit 15 fl. durchschnittlich getroffen =: 5^^,. Wenn nun
Jemand mit 1000 fl. Einkommen 5°/o Steuer zahlen soll, so sind von 50 fl.
die bereits durch die indirecten Steuern erhobenen 15 fl. in Abzug zu
bringen, macht 35 fl., welche durch die Einkommensteuer zu erheben wären.
Bei 2000 fl. Einkommen erübrigen nur 85 fl. für die Einkommensteuer, um
auf 5% = 100 fl. zu kommen. Dies ergibt einen Einkommensteuersatz
von 3*57o bei 1000 fl., 4*25'Vo bei 2000 fl. u. s. w., i. e. eine progressive
Einkommensteuer. Diese progressive Einkommensteuer wäre also gerade
durch den Umstand motiviert, dass das Existenzminimum nicht steuerfrei
ist, wir finden aber nicht selten gerade von Solchen, welche die Steuerfreiheit
des Existenzminimums durch Freilassung der nothwendigen Lebensmittel
von jeder indirecten Steuer befürworten, bei der Einkommensteuer dann die
Progression mit Kücksicht auf die Freilassung des Existenzminimums
gefordert !
Zum Schlüsse dieses Abschnittes kann ich nicht umhin, einer ganz
eigenartigen Begründung der Progressivsteuer zu gedenken, welche in
Oesterreich das Licht der Oeffentlichkeit erblickt hat und wohl die Bezeich-
nung einer Singularität verdient. In der parlamentarischen Vorberathung des
Entwurfes einer Personal-Einkommensteuer während der VIII. Session des
österreichischen Reichsrathes wurde die Behauptung vertreten i), dass es
') Bericht des Steuerreform-Ausschusses über den § 5 des Personaleinkommen-
steuergesetzes, Nr. 684 der Beilagen zu den stenogr. Prot, des Abgeordnetenhauses.
Die Progressivsteuer. 73
JiiY die Annahme einer progressiven Steuer nur einen Grund gibt, aber
einen Grund ron so durchschlagender Bedeutung, dass er allein genügt, die
Einführung der bezeichneten Steuer zu einem zwingenden Gebote der
Gerechtigkeit zu machen^ Dieser Grund liege in der „Thatsache. dass von
verschieden grossen Einkommen eine sehr verschiedene Quote zur
Bestreitung derjenigen Bedürfnisse verwendet wird, deren volle oder doch
möglichst volle Befriedigung bei jedem Einzelnen im Interesse nicht nur
dieses Einzelnen, sondern auch der Gesamratheit gelegen ist. weil sie die
Erhaltung und Gesunderhaltung und womöglich auch den Culturf ort schritt
des Individuums und der Art bezwecken" . . . Die Quote dieser Ausgaben,
welche passend Ausgaben von allgemeinem Interesse genannt
werden könnten, nehme noth wendigerweise von den kleinsten Einkommen
an bis zu den höchsten hinauf continuierlich ab, obschon der absolute
Betrag dieser Ausgaben steige, da ein Einkommenszuwachs theilweise zur
besseren Befriedigung dieser Bedürfnisse von allgemeinem Interesse solange
verwendet werde, bis schliesslich eine Grenze voller Befriedigung eiTeicht
ist, oberhalb welcher jeder weitere Zuwachs nur das den Bedürfnissen von
rein individuellem Charakter dienliche Einkommen vermehrt.
Nun liege es ,auf der Hand, dass die zur Bestreitung der Ausgaben
von allgemeinem Interesse verwendete Einkommensquote mit einem viel
niedrigeren Steuers atze zu treffen sei als das übrige Einkommen, und
da diese Quote bei steigendem Einkommen fortwährend abnimmt, so muss
die percentuelle Belastung des Einkommens im ganzen mit dessen Höhe
fortwährend zunehmen. Aus den beiden in der Idee festzustellenden fixen
Steuersätzen: dem niedrigeren für die Ausgaben von allgemeinem Interesse
und dem höheren für das übrige Einkommen, und aus dem von Stufe zu
Stufe der verschiedenen Einkommen wechselnden Verhältnisse dieser beiden
Theile des Einkommens, ergebe sich dann der von Stufe zu Stufe wechselnde
Durchschnittssteuersatz für das Gesammteinkommen".
Ich habe für diesen Gedankengang keine andere Bezeichnung als die
einer „hübschen Idee". Das ist aber auch alles, was man zu seinen Gunsten
vorbringen kann. Denn die Prüfung auf die wissenschaftliche Beweiskraft
fällt recht schlimm aus. Die Unterscheidung der beiden Kategorien von
Ausgaben — die nicht zusammenfällt mit der Scheidung des Einkommens
in nothwendiges und freies — ganz ununtersucht gelassen: worin liegt denn
der Grund, dass die eine dieser Einkommensquoten mit einem niedrigeren
Steuerfusse zu belegen sei als die andere ? Dieser entscheidende Punkt, auf
dem der ganze Beweis ruht, wird mit den Worten erledigt: „Es liegt auf
der Hand!" Wie, wenn nun Jemand findet, dass dies nicht auf der Hand
liegt? Doch vielleicht bietet die Charakterisierung der niedriger zu
besteuernden Quote als „Ausgaben von allgemeinem Interesse' den Schlüssel
zu jener Behauptung. Man dachte, diese Ausgaben sollen durch die Steuer
weniger eingeschränkt werden, weil es im allgemeinen Interesse liege, dass
die bezüglichen Bedürfnisse voll oder möglichst voll zur Befriedigung
gelangen. Der eingeschlossene Zweck würde aber doch nur dann das erwähnte
74 ßax.
Mittel erfordern, wenn Jeder die als Steuer zu zahlende Summe allen
Bedürfniskategorien in gleichem Verhältnisse entzöge ! Wir wissen hingegen,
dass er sie nur den mindest intensiven Bedürfnissen entzieht. Und bei ver-
nünftiger Lebensführung, die allein in Betracht kommen kann, sind die
wichtigeren Bedürfnisgruppen auch die stärkeren. Solange die Steuer nicht
den für die gedachten Bedürfnisse von rein individuellem Interesse erforder-
lichen Betrag überschreitet, bleiben ja die „Ausgaben von allgemeinem
Interesse" von der Steuer ganz unberührt! Es wird daher die Forderung
einer geringeren Besteuerung der letzteren hinfällig, und da, wie der Bericht
ganz richtig bemerkt, die geringeren Einkommen keineswegs etwa aus-
schliesslich für solche Bedürfnisse der letzterwähnten Art verwendet werden,
sondern „im Gegentheile selbst von dürftigen Einkommen eine gewisse,
wenn auch kleine Quote für Ausgaben zur Verwendung gelangt, welche den
Anspruch im allgemeinen Interesse zu liegen nicht erheben können", so
wäre erst zu untersuchen, ob nicht eine gegebene proportionale Steuer die
Ausgaben von allgemeinem Interesse bei allen Steuerträgern nicht tangiert
— mit Ausnahme derjenigen, welche nur das Existenzminimum besitzen!
Also auch diese originelle Motivierung mit einer verschiedenen Leistungs-
fähigkeit der unterschiedenen Einkommensquoten vermag die Progressiv-
steuer nicht zu stützen.^)
') Zu der Steuertheorie dieses Capitels ist noch zu zählen die neuestens im
öffentlichen Leben so häufig gehörte Wendung, welche die Progressivsteuer (als pro-
gressive Eintommensteuer) als Maassregel der Socialpolitik begründet und fordert. Ent-
lastung der Schwächeren, Mehrbelastung der Stärkeren! Mit dieser Devise ist ebenfalls
nur gemeint, es solle ein concretes Steuersystem, in welchem die wirtschaftlich
schwächeren Volkselemente überlastet, die Wohlhabenden zu wenig besteuert sind, ver-
bessert und im Wege der Einführung oder Ausgestaltung einer progressiven Einkommen-
steuer dermaassen vervollkommnet werden, dass die Einzelnen thatsächlich nach ihrer
respectiven Leistungsfähigkeit getroffen würden. Motiv und Maasstab der Progressiv-
steuer ist auch für Diejenigen, welche sich jener Ausdrucksweise bedienen, die verschie-
dene Leistungsfähigkeit der diversen Classen der Steuerträger, Selbstverständlich ist die
Progressivsteuer eine socialpolitische Maassregel: jede Steuer ist eine solche, denn
sie ordnet ein socialökonomisches Verhältnis. Aber einen Maasstab für die Steuerpro-
gression vermag dieser Charakter der Maassregel im Sinne jener Redner nicht abzugeben.
Letztere wollen ja die Schwächeren eben so weit entlasten als sie — ihrer Leistungs-
fähigkeit gegenüber — zu viel belastet sind, und die Stärkeren um so viel mehr belasten
als sie, entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer derzeit zu geringen Belastung gegen-
über mehr tragen können. Das ist wohl zu unterscheiden von der bekannten Lehre, welche
— zurückreichend auf den Vorschlag im Convente der franz. Revolution — die Pro-
gressivsteuer noch überdies als Mittel zur Correctur der Einkommensvertheilung ver-
wendet wissen will. Da ist nicht mehr die Leistungsfähigkeit der Maasstab, sondern das
Maass, um wie viel man von einer gewissen Grenze an jede Einkommensstufe redu eieren
wollte. Da erst wäre der socialpolitische Zweck in jenem 'Umfange, in welchem er that-
sächlich gesetzt würde, Motiv und Maasstab der Progression. Wie längst von anderer
Seite bemerkt wurde, hat diese Lehre den Umstand gegen sich, dass, wenn man über-
haupt einmal die Prämisse zugibt, dass die bestehende Gütervertheilung geändert werden
solle, das Programm der Socialdemokratie viel consequenter und praktischer erscheint.
Denn mittels jener Besteuerung würden ja die kleinen Einkommen nur um so viel
aufgebessert, als sie dann weniger an Steuer zu entrichten hätten, upd bei dem numeri-
Die Progressivsteuer. 75
II. Die theoretischen Grundlagen der Frage des Maasses der
Progression.
Einer gesonderten Untersuchung soll nunmehr die Frage unterzogen
werden, was sich in Betreff des Maasses der Abnahme des
Grenz nutz ens bei Zunahme der Gütermenge (des Einkommens) fest-
stellen lässt. Die Aussonderung dieses Fragepunktes erfolgte mit Kücksicht
auf den Vorbehalt einer speciellen Erörterung darüber, was, nachdem viel-
leicht das Princip der Steuerprogression schon anderweitig entschieden wäre,
hinsichtlich der Gestaltung der Progression generell festzustellen sei. Die
holländischen Autoren giengen auch ursprünglich von solcher Voraussetzung
aus. Sie meinten, dass bei Zugrundelegung einer irgendwie exemplificierten
Abnahme des Grenznutzens bei steigendem Einkommen sich eine Progression
der Steuer als nothwendige Conclusion erweisen lasse. Hiervon wäre dann
zur Festsetzung der thatsächlich anzuwendenden Progression vorzuschreiten,
indem man dem Calcule hinsichtlich des Maasses der Abnahme des Grenz-
nutzens plausible Annahmen zu Grunde lege. Freilich kam man da zu recht
abweichenden und selbst sehr starken Progressionen, je nach der subjectiven
Meinung, die sich der Betreffende über das Verhältnis der Abnahme des
Grenznutzens gebildet hatte; Ansichten, die uns jetzt, nachdem wir die
Hinfälligkeit der Voraussetzung kennen, auf welcher jener Gedankenbau
errichtet war, nicljt weiter interessieren. Wir wissen jetzt, dass, schon um
das Princip der Progression zu ergeben, die Opfertheorie der gedachten
Fassung es erfordert hätte, mit bestimmten Gestaltungen hinsichtlich des
Abfalles des Grenznutzens rechnen zu können, da andere Verhältnisse dieser
Abnahme Proportional-, ja selbst Degressivsteuer nach sich zögen, ümso-
mehr dürften die bezüglichen Verhältniszahlen aber nicht auf blossen An-
nahmen beruhen, mögen solche Diesem oder Jenem noch so plausibel
erscheinen, sondern müssten wissenschaftlich erwiesen sein.
Von der erwähnten Seite wurde die Lehrmeinung vertreten, dass die
Abnahme des Grenznutzens eine degressive sein müsse, d. h. dass die
Differenz der Grenznutzen von Stufe zu Stufe kleiner werde. Entscheidend
für diese Anschauung ward der Umstand, dass eine gleichmässige Abnahme,
d. i. eine solche, bei welcher die Differenz zwischen je zwei auf einander
folgenden Stufen stets die gleiche ist, für den Grenznutzen schliesslich zur
Ziffer 0 führen müsste, was natürlich bei einer vorschreitenden Abnahme
noch rascher der Fall wäre. Nur eine degressive Abnahme des Grenznutzens
hätte die Folge, dass auch die Steuerprogression eine abnehmende wird.
sehen Verhältnisse der kleinen zu den grossen Einkommen wäre dies herzHch unbedeu-
tend. Erklärücher Weise acceptiert die Socialdemokratie aber auch eine solche Abschlags-
zahlung. Diejenigen, welche die Progressivsteuer kurzweg als socialpolitische Maassregel
empfehlen, sollten daher doch die Güte haben, sich insoweit eines klareren Ausdruckes
ihrer Gedanken zu befleissen, dass man zu wissen in die Lage komme, ob sie die social-
demokratische Progressivsteuer wollen oder — ^ganz einfach und bescheiden" — die
Progressivsteuer „nach der Leistungsfähigkeit"!
7(5 Sax.
d. h. die Eventualität vermeidet, schliesslich auf 100 Perc. emporzuklimmen,
d. i. das ganze Einkommen zu absorbieren. Eine gleichmässige Abnahme
des Grenznutzens, meinte man, wurde auch eine gleichmässige Progression
der Steuer nach sich ziehen.
Diese Ansichten in Betreff der Consequenzen des Maasses der Abnahme
des Grenznutzens für die Gestaltung der Steuerprogression sind nun freilich
auf Grund der Theorie, im Hinblicke auf welche sie concipiert waren,
nämlich die im Früheren besprochene Opfertheorie, nicht haltbar. Wie
Cohen Stuart mathematisch nachweist, würde eine gleichmässige Ab-
nahme des Grenznutzens auf jener Basis (immer mit Ausscheidung des
Existenzminimums aus der Eechnung) nicht gleichmässige, sondern pro-
gressive Progression der Steuer ergeben, und ist ferner eine gleichmässige
Progression der Steuer nur möglich, wenn die Abnahme des Grenznutzens
eine sich verringernde ist. Im letzteren Falle kann aber auch, wie sich so-
gleich zeigen wird, eine degressive Steuerprogression, resp. wenn das Exi-
stenzminimum nicht ausgeschieden wird, eine Proportionalsteuer heraus-
kommen, und in dem letzten der oben citierten Zahlenbeispiele Cohen
Stuart's (S. 60) stellt sich bei fallender Abnahme des Grenznutzens sogar
eine Degressivsteuer heraus !
Das zeigt nun wohl schon zur Genüge, dass es auf etwas anderes
ankommt als darauf, ob bei Vorschreiten von einer Einkommensstufe zur
anderen der Grenznutzen eine gleichmässige oder ungleichmässige Verän-
derung aufweise. So wie es von Seiten der erwähnten Autoren geschah, ist
die Frage nicht genügend präcis gestellt. Es fragt sich nämlich nicht bloss,
wie b e i zunehmender Einkommensgrösse das Verhältnis des Grenznutzens
einer Einkommensstufe zu dem der vorangehenden Einkommensstufen im
allgemeinen beschaffen sei, sondern es fragt sich, in welchem Verhältnisse
die Aenderung der Grenznutzen zur Zunahme der Einkommen
stehe. Das letztere ist das entscheidende und mit Rücksicht hierauf erhält
die Frage, ob eine degressive, proportionale oder progressive Abnahme des
Grenznutzens zu constatieren sei, einen anderen Sinn. Dies scharf zu
erfassen, ist von grosser Wichtigkeit.
Wir sprechen sonach von einer proportionalen Abnahme des
Grenznutzens, wenn dieser sich in demselben Verhältnisse verändert, in
welchem das Einkommen zunimmt. Ein solches Verhältnis wäre im folgenden
Schema dargestellt:
Bei 1000 fl. Einkommen sei Grenznutzen = 1 = 100 Perc.
« 2000 „ „ „ „
« 3000 „ „ „ „
. 4000 „ „ „ „
n 5000 „ „ „ „
n 6000 „ „ „ „
« 7000 „ „
« 8000 „ „ „ „
r, 9000 „ „ „ „
„ 10000 „ « „ „
= 1 =
100
= 72 =
50
33V3
25
= Vs =
20
= Ve =
I6V3
= Vt =
UV,
= Vs =
12V2
= Vg =
11 Vo
= Vu. =
10
Die Progressivsteuer. 77
Bleibt die Abnahme des Grenznutzens hinter den angeführten Verhält-
niszahlen zurück, dann läge eine degressive Abnahme des Grenznutzens
vor; überschreitet dieselbe aber von einer Stufe zur andern das durch die
umgekehrte Proportion der Einkommen bezeichnete Verhältnis, dann
sprechen wir von einer Progression der Abnahme des Grenznutzens.
Dass hier ein anderer Sinn des Fragepunktes vorliegt, als wenn lediglich
das Verhältnis der Grenznutzen der verschiedenen Einkommensstufen zu
einander in's Auge gefasst wird, zeigt sich in folgendem. Sehen wir uns
in vorstehendem Schema das Verhältnis der aufeinanderfolgenden Grenz-
nutzenzahlen an, so finden wir, dass die Differenzen zwischen denselben
immer geringer werden: 100—50 = 50, 50~33V3 = I6-/3, 33^ 3— 25 = 8V3,
25 — 20 :=: 5 u. s. w., was auch mathematisch selbstverständlich ist. Unge-
achtet der fortschreitenden Abnahme der Differenzen dieser Verhältniszahlen
des Grenznutzens nennen wir dieses Abnahmeverhältnis ein proportionales:
eben ein proportionales zur Grösse des Einkommens. Das Verhältnis der
Grenznutzenzahlen unter einander ist ein degressives. Das ist aber wieder
wohl zu unterscheiden davon, ob dasjenige Maass der Abnahme des Grenz-
nutzens im Verhältnis zur Zunahme des Einkommens, welches ein progressives
genannt wurde, sich im Fortschreiten von einer Einkommensstufe zur
andern derart gestaltet, dass eine abnehmende, gleichmässige oder gar vor-
schreitende Progression zutage tritt. Es kann diesfalls eine degressive
Progression zu verzeichnen sein, die eben wohl zu unterscheiden wäre von
einer Degression des fraglichen Verhältnisses in dem Sinne, welchen wir
im Auge haben, oder gar einer Degression lediglich der Verhältniszahlen
des Grenznutzens unter einander.
Es steht mithin zur Frage: Was lässt sich über die Höhe des Grenz-
nutzens im Verhältnis zur Grösse des Einkommens feststellen ? Offenbar ist
dies ein Punkt, der auch für andere Gebiete der Volkswirtschaft von Wich-
tigkeit sein muss.
Vorerst leuchtet ein, dass die umgekehrte Proportionalität des Grenz-
nutzens und der Einkommensziffer das einfachste Verhältnis wäre, indem
es sowohl die Eichtung als das Maass der bezüglichen Veränderung in
Einem bezeichnet. Diese Einfachheit ist geradezu verführerisch zu nennen
und es würde wahrlich nicht Wunder nehmen, wenn ob derselben ein öko-
nomisches Gesetz dieses Inhaltes kurzweg postuliert würde. Geradezu merk-
würdig aber ist Folgendes. Daniel Bernoulli, welcher in einem an die
Petersburger Akademie im Jahre 1730/31 erstatteten, der Auffindung eines
mathematisch bestimmbaren Maasses der Zinshöhe gewidmeten Memoire die
Grenznutzen- resp. Werttheorie der heutigen exacten Wirtschaftslehre vor-
ahnte, stellt schon eine mathematische Formel für die Wertgrösse auf.
welche eben jenes Verhältnis zum Ausdruck bringt. Es sei im höchsten
Grade wahrscheinlich, dass unter den Umständen des gewöhnlichen Wirt-
schaftslebens der Wert einer zu der vorhandenen Gütermenge hinzukom-
menden Gutseinheit umgekehrt proportional ist der Gütermenge. Freilicli
fasst der Mathematiker diese Einheit als einen unendlich kleinen Theil auf,
78 Sax.
aber ein sofort nachfolgendes erläuterndes Beispiel zeigt, dass der Satz ihm
auch für die endliche Einheit giltig bleibt. Wenn des Einen Einkommen
5000 Ducaten ist, das eines Andern 5000 ^/g-Ducaten, so sei klar, dass in
jeder Hinsicht dem Ersten ein Ducaten dasselbe bedeutet, was für den
Zweiten ein halber Ducaten und, wenn Beide den Grewinn eines Ducaten
machen, der Zweite den doppelten Nutzen erlangt. Der Nutzen und somit
Wert der Einheit (1 Ducaten) ist eben nach der Meinung des Autors um-
gekehrt proportional dem gesammten Grüterbestande. ^)
Man sieht: Dei* Satz enthält dasselbe, was oben in dem Schema dar-
gestellt wurde. Ist derselbe aber auch wahr? —
So sehr der Satz wie von selbst einleuchtend erscheinen mag ; wie
sehr es für denselben sprechen mag, dass dem Ersten, welcher überhaupt
den Begriff des Grenznutzens erfasst, sofort auch dieses quantitative Gesetz
seiner Grösse intuitiv in die Augen springt : zur wissenschaftlichen Fun-
dierung ist dies nicht genügend. Es schliesst den Beweis einer anderen
Gestaltung nicht aus und wenn daher der Beweis erbracht würde, dass die
Abnahme der Intensität der Bedürfnisse in ihrer ökonomischen Eeihe in
einem anderen Verhältnisse erfolgt, als in welchem die zur Befriedigung
nothwendigen Gütersummen anwachsen, so wäre der Satz insoweit jeden-
falls hinfällig. Da er aber zweifellos die Eichtung der Veränderung des
Grenznutzens richtig bezeichnet und bezüglich des Maasses der Abnahme
eine einfache Formel darstellt, die sofort unleugbar den Eindruck der Wahr-
scheinlichkeit macht, so kann man ihn provisorisch aufstellen, um durch
den Vergleich mit ihm zu untersuchen, was sich hinsichtlich der wirklichen
Abnahme des Grenznutzens gegenüber zunehmenden Einkommen etwa Ab-
^) Das Memoire, „Specimen theoriae novae de mensura sortis", ist enthalten in den
Commentarii acad. scient. imp. Petropolitanae. Tomus V ad annos 1730 et 1731, gedruckt
1738. P. 175 ff. Die charakteristischen Stellen mögen hier Platz finden, § 3. „Valor non
est aestimandus ex pretio rei, sed ex emolumento quod unusquisque inde capessit.
Pretinm ex re ipsa aestimatur omnibusque idem est, emolumentum ex conditione per-
sonae. Ita procul dubio pauperis magis refert lucrum facere mille ducatorum quam divitis,
etsi pretium utrique idem sit." § 5. Man könne kein Maass des Zinses auffinden, wenn
man nicht den Nutzen (emolumentum) zugrunde legt, welcher Jemand aus dem Gewinne
zukommt. Der sei aber subjeetiv verschieden, . . . Von Ausnahmsfällen müsse diesfalls
abgesehen werden. Die Regel allein sei in Betracht zu ziehen und zu diesem Behufe
werde angenommen, dass die Güter eines Menschen successive um unendlich kleine
Theilchen sich mehren . . . „Ita valde probabile est, lucrulum quodris semper
emolumentum afferre summae bonorum reciproce proportionale." In §6
eingangs wiederholt: „Nisi quid insoliti interveniat, aestimari posse emolumentum lucri
valde parvi summae bonorum reciproce proportionale, Equidem cum recte considero, qua
natura homines comparati esse soleant, video hanc positionem plerique applicari posse."
Es folgt dann das obcitierte Beispiel, Die Anwendung der vorstehenden Sätze auf das
eigentliche Thema der Abhandlung interessiert uns hier nicht, wohl aber sicherlich der
Umstand, dass diese Ausführung, in den mathematischen Formen der aus Abscisse und
Ordinate construierten Curve mit der entsprechenden Gleichung auftretend, das erste
Beispiel einer Anwendung der Mathematik auf ein ^volkswirtschaftliches Problem zeigt
— zu einer Zeit, in welcher es eine systematische Theorie der Oekonomie noch gar
nicht gab!
Die Progressivsteuer. 79
weichendes eruieren lässt. So bin ich in meiner Grundlegung ^) vor-
gegangen.
Auch Cohen Stuart geht von der nämlichen Annahme des ein-
fachsten Gesetzes der Abnahme des Grenznutzens aus, jedoch nicht, um
dieselbe als Vergleichsmaasstab zur Bestimmung des wirklichen Abnahme-
verhältnisses zu benützen, sondern um — weil er es in vorhinein als
unmöglich erkennt, ein ziffermässig zu bestimmendes solches Verhältnis zu
eruieren — die jener Supposition entsprechende Steuerprogression zu be-
rechnen und sodann die so gewonnene Progression mittels eines eigen-
thümlichen Verfahrens auf ihre Plausibilität und mögliche Annäherung an
die Wirklichkeit zu prüfen. Wäre dieses Vorgehen zielführend, so wäre die
ganze Schwierigkeit umgangen und es erschiene die Frage des Maasses der
Progression auf mathematischem Wege in einer für die Praxis des Steuer-
wesens ausreichenden Weise gelöst. Die betreffenden progressiven Steuersätze
wären Näherungswerte, welche für die Steuergesetzgebung hinreichenden
Anhalt böten. Das bezügliche Verfahren verdient daher die vollste Würdigung.
Der genannte Autor entwickelt auf Grund der gedachten Annahme
mathematisch die Formel für die betreffende Progression und bemerkt (was
übrigens auch in einem späteren Abschnitte dieser Darlegungen in einem
anderen Zusammenhange nochmals wiederkehren wird), dass eine proportio-
nale Steuer die Folge wäre, wenn nicht das Existenzminimum vorweg in
Abschlag gebracht wird.^) Unter Annahme einer solchen Vorabzugspost von
250 fl. und von 500 fl. ergeben sich beispielsweise nachstehende Steuersätze:
ein Einkorn
men von
Bei Verhältnis von 1 Perc.
zwischen Grenz- und Gre-
sammtuutzen und 250 fl.
Vorabzug
Bei Verhältnis von 2 Perc.
zwischen Grenz- und Ge-
sammtnutzen und 500 fl.
Vorabzug
500 fl.
0-69
0-00
1.000
n
1-38
1-38
2.000
V
2-06
2-73
5.000
n
2-95
4-50
10.000
n
3-62
5-82
20.000
n
4-29
7-11
50.000
n
5-16
8-80
100.000
n
5-82
10-05
500.000
V
7-32
12-90
1,000.000
n
7-96
14-10
Nun zieht der Autor zwei weitere Suppositionen über das Verhältnis
der Abnahme des Grenznutzens herbei. Die eine davon nimmt an, dass diese
Abnahme eine weitaus stärkere, die andere, dass sie eine wesentlich
schwächere sei, und zwar dermaassen stärker, respective schwächer als das
zuerst angenommene Verhältnis, dass das wirkliche Verhältnis der Ab-
nahme aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen diese beiden Extreme
fallen muss.
0 Siehe „Grundlegung" S. 259 und 508 if.
2) Dies ist der im früheren erwähnte Fall, dass eine degressive Abnahme der
Grenznutzen-Verhältniszahlen unter sich die Proportionalsteuer und bei Abzug des
Existenzminimums eine abnehmende Steuerprogression ergibt.
80
bax.
Die stärkere Abnahme des ersten Falles erfolge derart, dass (immer
nach Abzug des Existenzminimums) bis zu einem Einkommen von 20.000 fl.
der Grenznutzen umgekehrt proportional sei der Cubikwurzel aus der vierten
Potenz des Einkommensbetrages; die schwächere Abnahme des zweiten
Falles sei gegeben damit, dass wieder bis zum Einkommen von 20.000 fl. der
Grenznutzen umgekehrt proportional sei der Cubikwurzel aus der zweiten
Potenz des Einkommensbetrages. Erst bei Einkommen über 20.000 fl. trete
wieder die umgekehrte Proportionalität zum Einkommen hervor.
Was diese Unterstellung zu bedeuten hat, illustrieren folgende Zahlen:
Einkommen
Es würden das gleiche Opfer bedeuten
im Falle der
stärkeren Ab-
nahme des
Grenznutzens
im Falle umge-
kehrter Propor-
tionalität von
Einkommen
und
Grenznutzen
im Falle der
schwächeren
Abnahme des
Grenznutzens
500 fl.
1.000 „
2.000 „
5.000 „
10.000 „
20.000 „
50.000 „
100.000 „
500.000 „
1,000.000 „
10 fl.
25 „
64 „
220 „
555 „
1.400 „
3.500 „
7.000 „
35.000 „
70.0U0 „
10 fl.
20 „
40 „
100 „
200 „
400 „
1.000 „
2.000 „
1«'.000 „
20.000 „
10 fl.
16 .
25 „
46 „
74 „
117 „
293 „
585 „
2.925 ^
5.850 „
Der Abstand zwischen den beiden extremen Annahmen unter sich und
gegenüber der ursprünglichen Annahme ist, wie Figura zeigt, sehr be-
deutend und wird bei den hohen Einkommen geradezu enorm.
Nun, welche Progressionen gehen aus den beiden variirenden Annahmen
hervor und wie verhalten sich dieselben zu der früher gewonnenen Progression?
Hierüber gibt folgende Zusammenstellung Auskunft.
Einkommen
Progressio» auf Grund
der stärkeren Ahnahme
des Grenznutzens
500 fl. 00-00
1.000 „ 1-04
2.000 „ 2-30,
5-000 „ 4-50
10.000 „ 6-57
20.000 „ 9-11
50.000 „ 10-33
100.000 „ 11-19
500.000 „ 13-08
1,000.000 „ 13-88
Ein überraschendes Resultat!
Progression auf Grund
der schwächeren Ab-
nahme des Grenznutzens
00-00
1-75
3-13
4-50
5-29
5-92
8-27
10-OC
14-09
15-76
Frühere Progression nach
der ersten Annahme
(wie oben)
00-00
1-38
2-73
4-50
5-82
7-11
8-80
10-05
12-90
14-10
So abweichend die Prämissen waren, so
wenig diff'erieren die Ergebnisse.^) Eine sehr starke und eine schwache Ab-
*) Eigentlich ist das Ergebnis wieder kein überraschendes, wenn man die Ver-
änderung der Divisoren und Dividenden, wie im früheren, im Auge behält.
Die Progressivsteuer. 81
nähme des Grenznutzens führen zu Steuerprogressionen, die sich von jener
nur wenig unterscheiden, die aus der zuerst gemachten Annahme hervor-
gieng. Inmitten jener beiden liegend, zeigt letztere nach beiden Seiten hin
nur geringe Abweichungen.
Und nun ist es wohl hinlänglich klar, was Cohen Stuart beab-
sichtigt. Ohne den subtilen Betrachtungen nachzugehen, welche er über die
resultierenden Ergebnisse anstellt, glauben wir seinen Gedankengang genug-
sam beschrieben, wenn wir die Conclusion, in die er ausläuft, bezeichnen.
Da man von so weit differierenden Voraussetzungen aus Progressionen erhält,
die nahezu übereinstimmen, so muss das Ergebnis sich der Wirklichkeit
annähern. Wenn sowohl das zuerst zugrunde gelegte, einfachste Gesetz der
Abnahme des Grenznutzens bei zunehmendem Einkommen als auch eine
nach entgegengesetzten Eichtungen hin wesentlich differierende Annahme
so ziemlich die gleichen Progressionen ergeben, so wird die Praxis nicht
fehlgehen, wenn sie eine Steuerprogression eintreten lässt, die sich an die
berechneten anschliesst. Dies ist eine Progression, welche, solange man
nicht in sehr hohe Percentsätze kommt, durch die Eegel ausgedrückt wird:
Arithmetische Steigerung der Steuersätze bei geometrischer der
Einkommen! Eine hievon nicht belangreich abweichende Progression sei
also die richtige.^)
Man wird nicht umhin können, mir zuzustimmen, wenn ich dieses
eigenthümliche Verfahren ein interessantes nannte und bemerkte, dass, wenn
dasselbe die Prüfung besteht, seine Ergebnisse für Theorie und Praxis von
grosser Wichtigkeit seien. Vorbei wäre da mit einem Male alle Noth der
Gesetzgeber und Theoretiker von wegen der Frage der Steuerprogression.
Die Mathematik hätte die Frage gelöst; zwar nicht mit solcher Präcision,
wie sie sonst mathematischen Lösungen eigen ist, aber doch mit an-
nähernder Genauigkeit, die für die Praxis ausreicht.
Indes: ist die Braut nicht zu schön? Wir sind genöthigt, darüber eine
recht rücksichtslose Untersuchung anzustellen.
Die Deduction des geschilderten Verfahrens beruht, wie man sah, auf
drei einander entgegengestellten Annahmen. Die zuerst aufgeführte wurde
als das einfachste Verhältnis zwischen der Grösse des Grenznutzens und
der des Einkommens bezeichnet, aber unser Autor ist der Meinung, dass
dies eine blosse Supposition sei. Die zwei anderen Aufstellungen über die
Abnahme des Grenznutzens wurden lediglich nach dem Gesichtspunkte ge-
macht, Contraste, starke Abweichungen darzustellen, aber dass auch sie
eben wieder nur Suppositionen sind, wird ausdrücklich hervorgehoben.
Irgend ein Beweis, und sei es auch nur ein Wahrscheinlichkeitsbeweis, für
die Wahrheit einer dieser Aufstellungen wird nicht erbracht, ja verständiger-
weise nicht einmal versucht; liegt es doch gerade im Sinne des ganzen
1) Es ist das eine Progression, die unter den holländischen Autoren T r e u b , in
Deutschland schon vor 60 Jahren J. Schön postuliert hatte; Letzterer allerdings für
den Fall, dass man nicht weitergehend bezwecke, durch die Progressivsteuer die Ver-
mögensungleichheiten der Bürger zu vermindern.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. I. Heft. 6
82 ^ax.
Eaisonnements, den Mangel eines solchen Beweises zu supplieren. Ungeachtet
dieses Mangels wird das Ergebnis der Rechnung, welches aus so be-
schaffenen Prämissen hervorgeht, als wahr angesehen, und zwar einzig und
allein deshalb, weil die ziffermässigen Resultate nicht weit von einander
abweichen. Das ist methodologisch offenbar höchst bedenklich; nein: mehr,
es ist einfach unzulässig. Conclusionen dreier Syllogismen, welche aus
Prämissen folgen, deren Wahrheit nicht erwiesen ist, erlangen dadurch
nicht den Charakter wissenschaftlicher Wahrheit, dass sie von einander nicht
erheblich abweichen. Sie würden nicht einmal erwiesen sein, wenn sie
genau übereinstimmten, also keine Abweichungen aufwiesen! Im vor-
liegenden Palle sind aber sogar Abweichungen vorhanden, nur dass sie
relativ nicht sehr bedeutend erscheinen. Aus unerwiesenen Prämissen folgt
in alle Ewigkeit nie ein als erwiesen anzusehender Schluss; aus blossen
Annahmen nie eine Wirklichkeit. Dem Verfahren des Verfassers muss also
schon aus diesem Grunde jedwede Bedeutung hinsichtlich seiner Ergebnisse
abgesprochen werden. Wenn ein sogeartetes methodologisches Vorgehen in
der Wissenschaft der Volkswirtschaft erst einmal breiteren Boden gewänne,
könnten wir ja Wunderdinge erleben.
Es ist der dem Verfahren zugrunde liegende Gedanke aber auch nicht
etwa dadurch zu rechtfertigen, dass die beiden extremen Annahmen als
solche eine sehr grosse Anzahl von Varianten in sich schliessen, so dass
die Schlussergebnisse sozusagen statistische Geltung erlangten. Ausser den
beiden zuletzt in Rechnung gestellten Annahmen sind noch eine Unzahl
anderer Möglichkeiten offen, darunter noch beliebig extremere, und würde
man nach solchen die Rechnung machen, so müssten ganz andere Resultate
zum Vorschein kommen. Warum soll denn ferner gerade bei 20.000 fl. das
Verhältnis des Grenznutzens umschlagen? Bei wie vielen anderen Einkommens-
grössen könnte man dasselbe annehmen ! Und jene in so schöne mathematische
Formeln gekleideten Veränderungen: wie viele anders gestaltete Formeln
Hessen sich als Annahmen ersinnen! Kurz, auch nach dieser Richtung: als
angebliches Ergebnis massenhafter Prämissen- Varianten, ist das Resultat des
Calculs nicht stichhältig.
Aber selbst wenn es in diesem Betrachte unanfechtbar erschiene , so
wäre es für das Problem des Maasses der Progressivsteuer bedeutungslos,
da, wie wi-r bereits im früheren erkannten, die ganze Basis des Calculs
unhaltbar ist und die Einwände, welche gegen die der Berechnung zugrunde
liegende Opfertheorie erhoben wurden, natürlich hier ebenfalls wieder in
Geltung treten. Wenn der Calcul schon für die Frage der Progression an
sich nichts zu beweisen vermag, wie erst hinsichtlich des Maasses der
Progression! Dabei brauchen wir auf den Umstand erst kein Gewicht zu
legen, wie willkürlich die sub titulo Existenzminimum als Abzugspost ein-
gesetzten Summen sind und dass sich das Ergebnis der Rechnung natürlich
wieder ändert, wenn man andere Summen vorweg vom Einkommen abzieht.
Das Facit der kritischen Prüfung ist: das mitgetheilte Verfahren erweist
sich als wissenschaftlich gänzlich unbrauchbar. Die darauf gewendete Mühe
Die Progressivsteuer. 83
ist verloren. Was auf den ersten Anblick als gleissende Frucht erschien, ist
eine taube Nuss. Auf diese Art ist die Frage der Progressivsteuer nicht
zu lösen.
Wie lässt es sich aber doch nur erklären, dass ein mathematischer
Kopf dermaassen mit der wissenschaftlichen Logik in Widerspruch gerathen
konnte? Von autoritativer Seite war der Ausspruch gethan worden, die
Progressivsteuer involviere ein mathematisches Problem^), auf Grund der im
froheren dargelegten Opfertheorie zu lösen. Die angestellten mathematischen
Untersuchungen hatten indes ergeben, dass eine beliebige Annahme
hinsichtlich des Abfalles des G-renznutzens bei steigendem Einkommen nicht
einmal das Princip der Progression bedinge. Wenn es sich nun gar um das
Maass der Progression handelt, so muss man umsomehr von einem bestimmten
Verhältnisse dieser Abnahme des Grenznutzens auszugehen in der Lage sein.
Da aber ein solches nicht zu erweisen ist, so blieb, wenn das Problem seine
mathematische Lösung finden sollte, eben nichts übrig, als verschiedene
ziffermässige Annahmen zu machen und dann zuzusehen, ob das Kesultat
vielleicht Einem irgendwie befriedigend vorkommt.
Nun, wir haben gesehen, die Frage ist mittels jener Opfertheorie
überhaupt nicht zu beantworten; auch die Mathematik muss auf der Grundlage,
welche letztere bietet, an solcher Aufgabe scheitern. Die Lösung muss die
Wirtschaftstheorie an sich zu finden imstande sein. Jedenfalls aber, mag
dieselbe mit was immer für einer anderen Theorie als der vorbesprochenen
versucht werden, darf sie sich auf blosse Annahmen hinsichtlich des in
Eede stehenden Fragepunktes nicht stützen.
So gelangen wir wieder dahin zurück, zu fragen: was lässt sich denn
über das Maass der Abnahme des Grenznutzens im Verhältnis zum
steigenden Güterbestande eigentlich aussagen? —
„Höhe des Grenznutzens " bedeutet nichts anderes als die Thatsache, dass
das von der ins Auge gefassten Gutseinheit bezüglich der Befriedigung
abhängige Bedürfnis von gewisser Stärke ist. „Abnahme des Grenznutzens "
bezeichnet die Thatsache, dass mit steigender Gütermenge die jeweils letzt-
befriedbaren Bedürfnisse immer schwächer sein müssen. Das Bedürfnis ist
ein Gefühl. Die Stärke (Intensität) eines Gefühles kann man nicht von aussen
messen, nur im Innern ermisst der Mensch die Stärke seiner Gefühle. Aber
er kann nur aussagen, das eine concrete Gefühl sei stärker als ein anderes:
wie stark es an sich ist, kann er nicht ausdrücken. Ebensowenig ist er
imstande, genau mitzutheilen, um wie viel stärker das eine Gefühl sei als
das andere, höchstens, ob es um vieles oder um weniges, in grossem oder
kleinem Maasse stärker sei, vermag er auszusagen. Dasselbe gilt bezüglich
des von dem in Frage stehenden Bedürfnisse abgeleiteten Wertgefühles.
Nur an den Wirkungen, welche diese ökonomischen Gefühle nach sich
ziehen, d. i. an den betreffenden wirtschaftlichen Handlungen der Menschen,
kann man das Verhältnis ihrer Stärke abmessen.
1) Pierson in „de Gids", 1888, S. 304.
84 ^ax.
Eine theoretische Feststellung hierüber kann daher in keinem anderen
Sinne erfolgen, als dass auf Grund der Uebereinstimmung der Menschen
hinsichtlich ihrer Gefühle und von Beobachtungen über die in den Wirt-
schaftshandlungen zutage tretenden Effecte der bezüglichen Gefühle eine
allgemeine Aussage über das Maass der Intensität gewisser umfassender
Gruppen von Bedürfnissen gemacht wird; eine Aussage, deren Controle und
Verificierung eben nur durch Selbstbeobachtung von Seite jedes Einzelnen
und daraufhin geäusserte allgemeine Zustimmung möglich ist. Eine solche
theoretische Aufstellung habe ich in der „Grundlegung" versucht, von der
Meinung geleitet, dass die Uebereinstimmung der Menschen hinsichtlich
ihrer Bedürfnisgefühle mindestens für die wichtigsten, wohl unterscheidbaren
Gruppen derselben die Behauptung gestatte, dass die Differenz ihrer durch-
schnittlichen Intensität eine grössere oder geringere sei als diejenige,
welche nach der umgekehrten Proportionalität zum Güterbestande resultieren
würde. Die diesbezüglichen Ausführungen haben einen wesentlichen Wider-
spruch bisher nicht erfahren und ich kann mich für den vorliegenden Zweck
daher wohl darauf beschränken, hier lediglich in Kürze auf selbe zu
verweisen.
Die stärksten Bedürfnisse sind die des physischen Existenzminimums
im strengsten Sinne des Wortes. Ihre Intensität ist eine so hohe, dass sie
gegenüber anderen Bedürfnissen sozusagen unvergleichbar erscheint. Will
man nicht zugeben, dass sie in einem mathematischen Verhältnisse als
unendlich bezeichnet werden müsste, so käme doch immer eine ausser-
ordentlich hohe Verhältniszahl für sie einzusetzen, so dass, wenn z. B. mit
200 fl. dieses Existenzminimum gedeckt wäre und weitere 200 fl. für die
nächstfolgende Bedürfnisgruppe, nämlich die des „culturellen" Existenz-
minimums, bedurft würden, das Verhältnis der Stärke der ersten und der
zweiten Bedürfnisse nicht durch 2:1, wie dies bei umgekehrter Propor-
tionalität zum Einkommen der Fall wäre, sondern exempli gratia durch
1000:1 auszudrücken wäre.
Aehnlich, wenngleich in geringerem Grade, gestaltet sich der Intensitäts-
abfall zwischen der erwähnten zweiten und der nächsten Bedürfnisgruppe,
welche die Bedürfnisse der classenmässigen Lebenshaltung umfasst. Die
Bedürfnisse des culturellen oder allgemeinen socialen Existenzminimums
sind an sich gewiss noch ausserordentlich stark, die des besonderen socialen
Existenzminimums, die Classen-Bedürfnisse, schon minder intensiv, jedenfalls
in grösserem Verhältnisse minder stark als das umgekehrte Verhältnis der
respectiven Gütermengen anzeigen würde. Insbesondere gilt dies bezüglich
des Hauptstockes der Bevölkerung: des Mittelstandes, dessen classenmässiges
Minimaleinkoramen nicht weiter reicht, als um wichtige Bedürfnisse socialer
Nothwendigkeit (des Anstandes, entsprechender Erziehung der Kinder etc.)
und einzelne Bedürfnisse blossen Genusses zu befriedigen, welch' letztere aber
vermöge der Seltenheit ihrer Befriedbarkeit noch hohen Intensitätsgrad auf-
weisen. Wenn die ersten 400 fl. eines Einkommens bis zur Deckung der
letzten Bedürfnisse der zweiten Gruppe reichen und weitere 400 fl. die
Die Progressivsteuer. 35
Classenbedürfnisse decken, so wäre nach der mehrerwähnten Annahme der um-
gekehrten Proportionalität das Stärkeverhältnis 1 : Vg. In Wirklichkeit, wird
wohl niemand leugnen, ist der Intensitätsgrad der letzteren Bedürfnisse
relativ ein weit geringerer. Absolut ist derselbe noch immer ein sehr hoher
und sicherlich wieder in weitem Abstände von dem Stärkegrade der nächst-
folgenden Gruppe. Als diese wäre wohl der Inbegriff der individuellen
Gewohnheitsbedarfe eines bescheidenen Lebensgenusses aufzuführen, da die
Gewohnheit das Verlangen nach bestimmten Befriedigungen in hohem
Maasse steigert. Im Durchschnitte der aufsteigenden Einkommensstufen sind
hierin schon viele freie Bedürfnisse persönlichen Genusses und blosser
Annehmlichkeit mit inbegriffen. Hieran reiht sich etwa die Gruppe der
Bedürfnisse eines verfeinerten Lebensgenusses oder höheren Zwecklebens,
die einen gewissen Luxus und relativ häufige und als solche geringere Lust
gewährende individuelle Genüsse — insbesondere auch geistiger Art —
einschliessen, und an diese eine Anzahl weiterer Gruppen individueller
freier Bedürfnisse, die bis zu minimalen Intensitätsgraden herabsinken.
Bei solchen Bedürfnissen von absolut sehr geringer Stärke angelangt,
lässt sich die Fortdauer des bezüglich der Bedürfnisgruppen der höheren
und höchsten Grade erkannten starken Maasses der Intensitätsabnahme nicht
länger behaupten. Selbst wenn sie stattfindet, steht dies bei den nun un-
messbar kleinen Differenzen einer Abnahme im umgekehrten Verhältnisse
zum Güterbestande praktisch völlig gleich. Dies wollte ich in der „Grund-
legung" sagen, indem ich die Abnahme der Bedürfnis stärke als hier praktisch
zum Stillstande gelangt bezeichnete. Jenes Verhältnis kann aber nur
zwischen diesen letztgedachten Bedürfnisgruppen unter sich, nicht auch
gegenüber den Bedürfnissen höherer Intensität gelten, da ja eine so starke
progressive Abnahme der Intensität inzwischen liegt!
Es wird auffallen, dass in vorstehender Ausführung davon abgesehen
wurde, die Menge der für jede der unterschiedenen Gruppen anzusetzenden
Güter zu untersuchen. Das ist aber offenbar für die Gewinnung genauerer
Kesultate ein entscheidender Punkt und zwar derjenige, wo die an einer frü-
heren Stelle berührte Beobachtung einer mit Abnahme der Intensität sich
zeigenden Zunahme der Zahl der Bedürfnisse ihre Bedeutung erlangt. Wenn
z. B. gegenüber 400 fl., welche noch zur Deckung des culturellen Existenz-
minimums zureichen, die Classenbedürfnisse eines Individuums überdies
1200 fl. beanspruchen, so würde nach der Annahme umgekehrter Proportio-
nalität zur Gütermenge das Intensitätsverhältnis zwischen diesen Bedürfnis-
gruppen schon 1 : V4 sein. Das thatsächliche Verhältnis (stärkerer Abnahme)
ist hie von vielleicht nicht weit entfernt.
Und dies führt uns zu einer schärferen Formulierung der obigen Thesis.
Gewiss ist der Stärkeunterschied der aufgeführten Bedürfnisgruppen ein
äusserst grosser, am allerbedeutendsten zwischen der ersten und der zweiten
Gruppe, und von da fortschreitend geringer. Wäre die für jede Bedürfnisgruppe
benöthigte Gütermenge gleich, so käme ein Sinken der Intensität zum
Vorschein, welches bei jeder Stufe weitaus stärker wäre, als die umge-
86 Sax.
kehrte Proportionalität der respectiven Gütermengen bezeichnet. Je grösser
aber die einer bestimmten Bedürfnisgruppe im Vergleich mit den vorange-
henden Gruppen entsprechende Gütermenge ist, desto mehr ergibt schon
das letztgedachte Verhältnis ein erhebliches Sinken der Verhältnisziffer der
Intensitätsabnahme. Es wird der thatsächliche Abfall aber wohl bis zu den
schwächeren Bedürfnisgruppen herab noch immer erheblicher sein als nach
jenem Verhältnisse. Die mit der abnehmenden Intensität vorschreitende
Zunahme der Zahl der Bedürfnisse jeder Gruppe hat die Folge, dass das
Verhältnis der umgekehrten Proportionalität zu den Einkommen sich immer
mehr nähert dem thatsächlichen Verhältnisse der Abnahme der Bedürfnis-
intensität, bis letzteres schliesslich in jenes umschlägt.
Insoweit kann man eine Progression der Intensitätsabnahme
der Bedürfnisse in dem festgestellten Sinne des Ausdruckes constatieren.
Dass hier stets eine durchschnittliche Intensität jeder Bedürfnisgruppe
angenommen wurde, widerspricht allerdings der Wirklichkeit, ist aber für
den praktischen Zweck, um welchen es sich handelt, ohneweiters gestattet.
Von der nachgewiesenen Gestaltung der Bedürfnisse leitet sich das gleiche
Verhältnis der Abnahme der individuellen Wertgrössen ab. Dieselbe erfolgt
also in einer degressiven Progression.
Ob es gelingen wird, Bestimmteres über diese Erscheinung theoretisch
festzustellen, bleibe dahingestellt. Zur Zeit müssen wir uns mit Vorstehendem
begnügen. Und nur mit solchem Materiale kann die Steuertheorie ihre
Schlüsse aufbauen. Für die Opfertheorie wäre dasselbe so gut wie nutzlos,
da diese, wie wir sahen, ein mathematisch genau bestimmbares Verhältnis
braucht. Was wir imstande sind mit diesem Materiale anzufangen, wird der
folgende Abschnitt zeigen.
111. Die ökonomische Steuerlehre.
I. Das Wesen den Steuer als Werterscheinung.
Wie der Leser weiss, habe ich in meiner „Grundlegimg der theoreti-
schen Staatswirtschaft" den Versuch gemacht, die Erscheinungen der Staats-
wirtschaft und unter diesen die Steuern von einem Gesichtspunkte aus auf
ihr Wesen und ihre Gesetzmässigkeit zu untersuchen, der zwar von den
übrigen Theorien völlig abweichend, dennoch aber, wie mir scheint, der
natürliche ist. Die diversen Steuerlehren traten bisher an das Phänomen
stets mit einem Kriterium heran, welches von aussen her geholt war. Die
Einen — und dies die Meisten — wollen die Steuern geregelt wissen nach
„Gerechtigkeit", die Andern nach „Billigkeit" — man- bemerke, dass dies
etwas Verschiedenes ist — wieder Andere nach „social-politischen Gesichts-
punkten", während schliesslich ültrarealisten lediglich die politischen Macht-
verhältnisse über das Steuerausmaass entscheiden lassen. So wäre die Steuer
in irgend einer bestimmten Gestaltung als ein Act der justitia distributiva
oder der Humanität oder als Ausfluss irgend welchen social-politischen
Ideales oder endlich des politischen Compromisses zu verstehen! Bei allem
Die Progressivsteuer. 37
dem hat man nach meiner Meinung das Nächstliegende übersehen, nämlich
zu fragen : Ist denn die Steuer nicht vor allem andern eine wirtschaftliche
Maassregel ? Und wenn sie dies ist, ist sie dann nicht rein ökonomisch
zu begreifen ? Anstatt die Antwort auf die Frage der Steuerverth eilung von
aussen zu holen: ist sie mir nicht ökonomisch von selbst gegeben?
Brauche ich denn, um sie zu finden, nicht bloss zu beobachten, was die
Gesetze, welche die übrigen ökonomischen Verhältnisse der Menschen unter
einander beherrschen, auch für den vorliegenden Fall lehren?
Von diesen Erwägungen geleitet, habe ich meine Steuertheorie con-
cipiert, indem ich sie aus den allgemeinen ökonomischen Erscheinungen
und deren Zusammenhange ableitete, und ich glaube daher berechtigt zu
sein, dieselbe den im früheren erörterten Steuertheorien gegenüber als die
ökonomische Steuerdoctrin zu bezeichnen. Die Steuer und ihr
Ausmaass erscheint im Lichte dieser Auffassung als ein Product des Zu-
sammenwirkens zweier Ursachencomplexe, welche auch bei anderen social-
ökonomischen Erscheinungen, wie : den Preisen, den Antheilen in der Güter-
vertheilung etc.. wirksam werden: der Güterwertung einerseits, des (coUectiven)
Egoismus und Altruismus andererseits. Indem die Erfassung der Steuer als
Wertphänomen an die elementaren Erscheinungen aller wirtschaftlichen Thä-
tigkeit anknüpft und auf solche Art die Erklärung der complicierten staats-
wirtschaftlichen Erscheinung durch Zurückführung auf die allgemeinen
ökonomischen Elemente gewinnt, findet sie — immer unter Beachtung der
gleichzeitig wirkenden zweiten Ursache — für die Frage, wie hoch sich die
Steuer des Einen im Verhältnisse zur Steuer des Andern ökonomischer
Weise beläuft, und für die Frage, welche Gütersumme jeder Einzelne an
sich als Steuer zu widmen in der Lage ist, eine einheitliche Lösung, was
bei den früheren Steuerlehren bekanntlich nicht der Fall war. Sie unter-
scheidet sich folglich von anderen und insbesondere den Theorien der
holländischen Autoren dadurch, dass sie nicht, wie letztere, die Wertgesetze
bloss zur Lösung der Frage über die relative Höhe der Steuern heranzieht,
nachdem man für diese von aussen, her eine allgemeine Eichtschnur gezogen,
sondern die Steuerentrichtung an sich schon als Werterscheinung auffasst.
Während jene die Steuer, d. i. den Ausgang bestimmter Gütermengen aus
den Einzelwirtschaften behufs Verwendung für Gemeinzwecke, wie eine durch
eine äussere Macht erfolgende Güterentziehung ansehen, erblicken wir in
der Steuerzahlung die Zuwendung gewisser Gütermengen an eine gewisse
Kategorie von Bedürfnissen, an Collectivbedürfnisse : eine ökonomische
Handlung, die nach den allgemeinen ökonomischen Gesetzen unter dem
Zeichen des Wertes vor sich geht.
Im Sinne dieser Auffassung ist die Steuer auch kein „ Opfer \ Jene
Lehren allerdings schliessen den Gedanken em, dass durch die Steuer
Güter der Bedürfnisbefriedigung der Individuen entzogen werden. Nach der
ökonomischen Steuerlehre ist das Gegentheil einzusehen, denn die Collectiv-
bedürfnisse sind ja auch Bedürfnisse der Individuen : gemeinschaftliche Be-
dürfnisse der vom coUectivistischen Verbände umschlossenen Wirtschafts-
88 Sax.
subjecte. In der Steuer liegt gerade eine Bedürfnisbefriedigung, aber eben
die Befriedigung einer bestimmten Kategorie von Bedürfnissen. Dabei wird
überdies der Fehler vermieden, die Staatsthätigkeit insgesammt zur Basis der
Steuer zu machen, wie dies andere Steuerlehren thun. Nur gewissen Staats-
thätigkeiten, nämlich nur denjenigen, welche reine Collectivbedürf-
nisse ergeben, entsprechen die Steuern, während Staatsthätigkeiten abweichen-
den Charakters auch ein anderes Staats wirtschaftliches Handeln bedingen.
Die durch die Verbandsgewalt erfolgende Bestimmung des Maasses
der Steuer ist folglich nur dann eine richtige, wenn sie dasjenige anordnet
und erzwingt, was die Verbandsmitglieder von selbst vornehmen würden,
wenn sie in richtiger Erkenntnis der CoUectivbedürfnisse, durchdrungen von
dem vollen Maasse coUectivistischer Gesinnung, wie solches die jeweiligen
Lebensverhältnisse bedingen, mit vollständiger Unterdrückung des indivi-
duellen Egoismus handeln würden. Für die Finanzgewalt fragt es sich also :
was ist die ökonomische Kichtschnur, die der Einzelne bei Eintritt
vorstehender Voraussetzungen einhalten würde? Denken wir uns die Frage
bezüglich der CoUectivbedürfnisse erstmals gestellt, so finden wir den
Güterwert bei gegebenem Güterbestande der Einzelwirtschaften durch diesen
und die Individualbedürfnisse der .einzelnen Wirtschaftssubjecte bestimmt
und es erscheinen die CoUectivbedürfnisse als neu hinzutretende Bedürfnisse.
Mithin löst sich die Frage nach der Steuerhöhe in die allgemeine Frage
des wirtschaftlichen Verhaltens auf: welche Güter dürfen neu hinzutretenden
Bedürfnissen ökonomischer Weise gewidmet werden? Eesp. welche Güter
entfallen in der Wirtschaft eines Jeden nach der Anzeige des Wertes auf
CoUectivbedürfnisse ?
Die CoUectivbedürfnisse als zu den Individualbedürfnissen erstmals
hinzukommend gedacht, zieht die Befriedigung der ersteren, soweit sie
erfolgt, natürlich eine Einschränkung der letzteren nach sich, welche sonst
wären befriedigt worden, wenn jene Bedürfnisse der ersteren Art nicht
existent geworden wären. Dieselben aber nach bereits bestehendem Aus-
maasse als fortdauernd wahrgenommen — d. h. wenu Jemand im vorhinein
mit den ihm obliegenden Steuern rechnet - erscheinen insoweit selbstver-
ständlich die im erstgedachten Falle als befriedbar in's Auge gefassten
Individualbedürfnisse a priori als unbefriedbar. Der Endeffect ist derselbe
in beiden Fällen. Für die theoretische Deduction muss erklärlicher Weise
von dem erstgedachten Falle ausgegangen werden.
Die oben präcisierte Formel der Frage setzt die coordinierte Verbin-
dung von Individual- und CoUectiv-Bedürfnissen in dem Gesammtstatus der
Bedürfnisse der Wirtschaftssubjecte voraus. Individual- und CoUectiv-
Bedürfnisse bilden zusammen die Eeihe der Bedürfnisse der Verbandsglieder
und ordnen sich in derselben nach Maassgabe ihrer Stärke. Hinsichtlich
dieser Prämisse muss ich allerdings lediglich auf meine mehrerwähnte
„Grundlegung" verweisen.
Für die Frage, was Jeder im Verhältnisse zu allen üebrigen für
CoUectivbedürfnisse ökonomischerweise aufzuwenden imstande ist, kann von
Die Progressivsteuer. 89
dem Unterschiede der Stärke der verschiedenen Collectivbedürfnisse abge-
sehen werden. Die Collectivbedürfnisse im allgemeinen und als ein
Ganzes treten zur Gesammtheit der Sonderbedürfnisse jedes Einzelnen hinzu
und es fragt sich, was Jeder gegenüber allen Andern, also welches
relative Gütermaass der Einzelne der gedachten Bedürfnisgruppe zuwenden
wird. Die Frage so gestellt,- ist die Antwort einfach im Hinweise darauf
zu finden, was Individuen mit verschiedenem Wertstande caeteris paribus
hinsichtlich des Güteraufwandes für ein neu gegebenes Bedürfnis thun
werden, um dessentwillen sie Güter den letzten bisher befriedbaren Bedürf
nissen vorenthalten. Wir werden sie bereit sehen, verschiedene Güter-
quanten dem gedachten Bedürfnisse nach MaassgaBe der individuellen
Werthöhe der Güter zu widmen, und zwar, wenn nothwendig, bis zur
vollen Summe, welche dem Wertstande entspricht. Wenn z. B. bei einer
Versteigerung von Kunstwerken Personen in verschiedener ökonomischer
Lage ein solches zu erwerben wünschen, so sehen wir jeden der Kauf-
lustigen bei gleichem Werte des zu erwerbenden Objectes für Alle so
weit mitbieten als ihm die individuelle Werthöhe der hinzugebenden
Güter gestattet. Wer den Gulden nur halb so hoch schätzt als ein Anderer,
bietet in dem Falle bis zum Doppelten, wenn dies erforderlich ist, um das
Gut zu erstehen.^) Nicht anders ist der Vorgang rücksichtlich der Collectiv-
bedürfnisse, die Staatsthätigkeiten darstellen, welche allen Verbandsgliedern
gleichmässig, ununterscheidbar zugute kommen. Jeder ist bereit, hiefür so
viel Güter in Gemässheit seines Wertstandes zu widmen als jeder Andere
in Gemässheit seines Wertstandes und eventuell bis zur Erschöpfung
der Gütersumme, welche ihm nach dem Wertstande verfügbar ist. Nur
an die selbstverständliche Voraussetzung ist dies bei jedem Einzelnen ge~
knüpft, dass jeder Andere eben so handelt und dass auch bei Jedem
schliesslich bis zur bezeichneten Grenze gegangen werde. Der mutualistische
Gleichgewichtszustand der coincidirenden Interessen aller verbundenen
Individuen ist die Motivation dieses Verhaltens, das übrigens in gleicher
Weise bei den mutualistischen Socialverhältnissen der Privatwirtschaft
nachzuweisen ist.
Weil dieses ökonomische Vorgehen der Wohlfahrt Aller gleichmässig
dient, hat man dasselbe als ein Postulat der Gerechtigkeit erklärt. Wir
wissen allerdings, dass egoistische Regungen einerseits verleiten, nach einer
Schmälerung des hiernach resultierenden Leistungsmaasses zu trachten, und
dass altruistische Gesinnung andererseits wieder eine Modification in anderer
Richtung mit sich bringen kann. Aber zunächst ist doch das allgemeine
1) Unter Wert verstehen wir aber nicht den Grenznutzen des Gutes, sondern die
von der Intensität der in Frage stehenden Bedürfnisse sich ableitende „Schätzung" der
Güter; ein eigenthümhches ökonomisches Gefühl, über dessen Natur und Entstehung
ich andernorts das Nöthige dargelegt habe. Siehe „Grundlegung" S. 252 und meine
Schrift „Die neuesten Fortschritte der national-ökonomischen Theorie" S. 24 ff. Was man
im gewöhnlichen Leben Wert nennt: das Quantitäts Verhältnis der Güt^- im Austausche,
ist nicht der Wert, sondern die Folge des Wertes.
90 Sax.
Kichtmaass, dem gegenüber Abweichungen eintreten können, festzustellen,
und dieses wird festgestellt durch die zusammenfallenden Interessen der
Verbandsmitglieder, allerseits ökonomisch vorzugehen, ,so zwar, dass Keiner
auf Kosten des Andern sich bevortheile. Der machtbewehrte Arm der
Finanzgewalt hat also nur zu verwirklichen, was in diesem Sinne die Ver-
bundenen ökonomisch wollen, und das ist: Unsere respectiven Steuer-
leistungen sollen Aequivalente sein. Aequivalente ! Dieses eine Wort
bedeutet die relative Steuerausth eilung in nuce.
Sonderbar! Wie naheliegend dies ist und wie lange hat es gewährt,
bis es gelang, diese Erkenntnis bewusst als einfache Anwendung eines
allgemeinen ökonomischen Gesetzes zu formulieren. Dunkel freilich hat
man es wohl immer gefühlt, was wieder nicht Wunder nehmen kann, da
der Wert ja ein Grefühl ist. Hätte die Theorie früher die Natur dieses
Gefühles verstanden, so wäre es ihr unschwer gelungen, auch die vor-
liegende Aeusserung desselben in den Staats wirtschaftlichen Handlungen
der Menschen zu deuten. So aber erkannte man nur das Streben der
Menschen, die Steuern der Einzelnen in irgend etwas gleich zu wissen,
und, anstatt zu untersuchen, in welcher Hinsicht denn die Menschen die
Steuer gleich gestalten wollen, traten die Finanzlehrer mit der Vorschrift
auf: die Steuern sollen gleich sein als Ja, als was? Als Pflicht-
leistung, als Opfer, als Last, als Beanspruchung der Leistungsfähigkeit!
Gleich als alles mögliche, nur nicht als dasjenige, als was die Menschen
sie gleichgehalten wissen wollen: als Wertgrössen! Waren jene bildlichen
Ausdrücke etwas anderes als Einkleidungen des unklar erfassten, des bloss
geahnten Sachverhaltes? Und wäre ihre Conservierung in der Theorie etwas
anderes als ein Ausfluss der vis inertiae auf geistigem Gebiete, nachdem
wir nun uns klar geworden sind darüber, dass die Menschen auch hier
unter dem Einflüsse der Impulse, welche überhaupt ihr wirtschaftliches
Handeln in den socialen Zusammenhängen leiten, nichts anderes als die
Beobachtung der allgemeinen ökonomischen Grundgesetze bezwecken? Der
aus dem Wertgesetze und dem Gleichgewichte der Interessen spriessende
Grundsatz der Aequiv alenz der individuellen Steuerbeträge erklärt uns
dasjenige, was man bisher die gerechte Besteuerung nannte. Es konnte so
genannt werden, weil es das ökonomisch Kichtige ist, es erklärte jene Be-
zeichnung aber eben nichts, sondern sie erhält erst durch die ökonomische
Auffassung der Steuer ihr Erklärung. Die Aequivalenz der Steuer erklärt
uns erst die Opfertheorie und die der Leistungsfähigkeit. Denn gleiche
Wertgrössen bedeuten die gleiche Unlustempfindung beim Ausgange der
betreff'enden Güter aus dem Besitzesstande (die hier überwogen wird von
der Befriedigung des Gemeinbedürfnisses) und bezeichnen dasjenige Güter-
quantum, welches Jeder nach den Verhältnissen seiner Wirtschaft für einen
bestimmten Zweck zu widmen imstande ist.^)
*) Ich kann die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne mich gegen ein
Missverständnis zu verwahren, welchem meine Steuertheorie ausgesetzt war. Vereinzelt
wurde dieselbe so aufgefasst, als hätte die Steuer eines Jeden zu bestehen in dem „Geld-
Die Progressivsteuer. 91
Der mathematische Ausdruck dieses Steuerprincipes wäre, dass die
Summe der Geldeinheiten jeder Individualsteuer, multipliciert mit der Yer-
hältniszahl des Individualwertes, für jeden Steuerträger die gleiche Grösse
ergibt. Für eine solche Darstellung müsste daher eine Werteinheit zu
Grunde gelegt werden, da eben die Geldeinheit keine Werteinheit, sondern
die Einheit des auf einen einheitlichen Nenner gebrachten Gutsbestandes,
die Gutseinheit, darstellt. Eine Vergleichung dieser Grösse mit dem Werte
des Gesammteinkommens brauchte nicht stattzufinden, was auch logisch
ganz richtig ist, weil es sich ja nur um die Wertung der als Steuer aus-
gehenden Güter, nicht aber auch um die des gesammten Güterbestandes
handelt.
Von dem hiermit festgestellten Principe der Steueräquivalenz sind
nun die Folgerungen hinsichtlich der uns beschäftigenden speciellen Frage
zu ziehen, wobei wir im Eahmen der vorliegenden Abhandlung auf die
Frage der ökonomischen Bestimmung der absoluten individuellen Steuerhöhe
nicht eingehen.
Bringen wir in Betreff der individuellen Werthöhe zunächt die im
vorhergehenden Abschnitte erörterte einfachste Annahme der umgekehrten
Proportionalität zum Einkommen in Anwendung und sehen wir dabei vorerst
auch von den Verschiedenheiten des individuellen Bedürfnisstandes ab, deren
Consequenzen für unseren Gegenstand später berührt werden sollen. Stellen
wir uns vor, dass die zahllosen Individualeinkommen eines Volkes sich auf
zehn Einkommensgi'össen von 1000 fl. bis 10.000 fl. mit je 1000 fl. Unter-
schied reducieren — eine Annahme, die selbstverständlich behufs äusserster
Vereinfachung der Exemplification gemacht wird — so stellt sich der Wert
der Gutseinheit, wenn wir denselben bei 1000 fl. Einkommen zu 1 setzen,
bei 2000 fl. auf Vg, bei 3000 fl. auf V3, bei 4000 fl. auf V4 u. s. w. wie
in dem Schema (S. 76), bis schliesslich bei 10.000 fl. auf Vio. Wäre nun
100 fl. die Gütermenge, welche bei einem Einkommen von 1000 fl. auf
die CoUectivbedürfnisse entfiele, so wäre 100 X 1 = 100 die Ziffer der
äquivalente, in welchem sich nach seinem individuellen Wertstande der Wert der Staats-
leistungen ausdrückt." (So auch Wies er „Der natürliche Wert" S. 320.) Aus Obigem
entnimmt man leicht, dass dies eine irrige Auffassung ist. Nicht die Staatsleistung und
die Steuerleistung sollen für jeden Einzelnen Aequivalente sein, sondern die Steuer jedes
Einzelnen soll äquivalent sein der Steuer aller Uebrigen. Wie man übrigens bei nur
halbwegs aufmerksamer Leetüre meiner „Grundlegung," angesichts desjenigen, was ich
dort über die „Staatsleistungen," den Wert und die „Tauschtheorie" der Staatswirtschaft,
welcher jene Auffassung zugehören würde, ausführe, zu eben dieser Auffassung gelangen
konnte, ist mir geradezu unfassbar.
Wenn A. Graziani, welcher im „Giornale degli Economisti", Februarheft 1891
(S. 156 ff.) die Theorie der holländischen Autoren propagiert, mir entgegenhält, dass die
richtige Steuervertheilung aus nichts anderem als dem „principio generale dell' uguaglianza
giuridica" hervorgehe, so übersieht er, dass ein solches Steuerrechtsprincip sich ja
eben nur durch das ökonomische Princip der Aequivalenz erklärt, da jeder Grundsatz
öffentlichrechtlicher Ordnung irgend eines ökonomischen Verhältnisses selbstverständHch
eine ökonomische Wurzel haben muss.
92 Sax. ,
Wertgrösse. welche die Steueiieistungen aller üebrigen darstellen müssen.
Polglich sind zu entrichten
bei 2.000 fl. Einkommen x X V2 = 100» ^l. i 200 fl.
„ 3.000 „ „ X X V3 = 100, r 300 „
4.000 „ „ X X V4 = 100, „ 400 „
„ 10.000 „ „ X X Vio = 100, „ 1000 „
Kurz, die durch das Wertgesetz bedingte Zuwendung von Gütern an
Collectivbedürfnisse von Seite der Besitzer verschiedener Einkommen verhält
sich unter der gedachten Voraussetzung wie die Grösse der respectiven
Einkommen, d. h. bei umgekehrter Proportionalität zwischen Einkommens-
grösse und Werthöhe ergiebt sich proportionale Steuer.^)
2. Folgerungen hinsichtlich der Pnogressivsteuep.
Damit ist die Basis gewonnen, von welcher aus in Beantwortung
unserer Frage auf sicherem Grunde weiter vorgeschritten werden kann.
Fassen wir zusammen, so finden wir Folgendes. Die ökonomische Steuer-
theorie zeigt uns, dass Jeder bereit ist, dasjenige Güterquantum zur Deckung
der Collectivbedürfnisse aus seinem Einkommen verwenden zu lassen, welches
wert gleich ist dem Güterquantum, das von den Anderen zum gleichen
Zwecke entnommen wird — innerhalb der Grenze, welche überhaupt je für
diese Güterentnahme gezogen ist. Wenn der Güter wert sich genau im Ver-
hältnis der aufsteigenden Abstufungen des Einkommens abschwächen würde,
hätte dies die Proportionalität der Steuer — im stricten Sinne des Wortes —
zur Folge. Im Falle einer anderen Gestaltung des Wertverhältnisses muss
ein anderes Verhältnis der Individualsteuerleistungen resultieren. Dies bildet
den Obersatz unserer Deduction.
') Würde im obigen Beispiele ein höherem Steuerfuss als 10% zugrunde gelegt,
z. B. 2OV0» so wäre der Satz scheinbar nicht mehr zutreffend. Denn 20% absorbieren von
10.000 fl. 2000 fl., von welchen jedoch nur die ersten 1000 fl. den Wert von ^/,o aufweisen,
während die zweiten 1000 fl. der Voraussetzung gemäss bereits ^'g Wert besitzen. 2000 fl.
wären also nicht mehr wertgleich 200 X 1 = 200 des Besitzers von 1000 fl. Einkommen,
vielmehr wären (1000 X Vio) t (900 X Vg) = 200; die entsprechende Summe wäre
1900 fl. Die lucongruenz rührt indes ersichtlich nur daher, dass ja auch beim Besitzer
von 1000 fl. Einkommen nicht beliebig viele Gulden den Wert von 1 repräsentieren
können, sondern, wenn die ersten in Entfall kommenden 100 fl. den Wert von 1 zeigen,
die weiteren Gulden einen höheren Wert aufweisen müssen. Beispielsweise wären da
(100 X 1) + (90 X 1-i) = 200, d. h. 190 fl. ergäben die Wertverhältniszahl 200. Das
will besagen, dass die gemachte Voraussetzung umgekehrter Proportionalität der Wert-
höhe zum Einkommen ja nicht bloss für die Einkommenstufen ä 1000 fl. gelten kann,
wie solche in dem arithmetischen Beispiele zugrunde gelegt wurden, sondern eben all-
gemein gilt und die scheinbare Incongruenz in dem gedachten Falle also nur infolge
der Suppositionen des zahlenmässigen Beispiels entsteht, während bei algebraischer
Darstellung natürlich das Kesultat der Proportionalsteuer glatt zum Vorschein kommt.
Von Einfluss kann eine Verschiedenheit des Steuerfusses nur insofeme sein, als die Ver-
änderung der Werthöhe nicht in genauem (umgekehrten) Verhältnisse zu der des Ein-
kommens vor sich geht. Darüber später.
Die Progressivsteuer. 93
Nun wurden an einer früheren Stelle dieser Erörterungen bereits die
Aussagen berührt, welche die Theorie über letzteren Punkt zu machen in
der Lage ist. Damit ist die zweite Prämisse der Schlussfolgerung gegeben.
Wir brauchen das dort Festgestellte hier einfach anzuwenden und gelangen
dadurch zu nachstehenden Conclusionen.
Erstens. Wir wissen, d a s s die Intensitätsabnahme der Bedürfnisse
und somit die Verminderung der Werthöhe bis zu einem gewissen Punkte
rascher vorschreitet als die correspondierende Gütermenge (Einkommen)
zunimmt. Folglich müssen, damit Aequivalente zum Vorschein kommen, die
Steuersummen der Einzelnen insolange in stärkerem Verhältnisse als im
gleichen Verhältnisse der Einkommen anwachsen. Aus jener Thatsache
folgt eo ipso, d a s s Progression der Steuer einzutreten habe, und zwar zu
dem Ende und in dem Maasse, auf dass die Aequivalenz der Steuerleistungen
hergestellt wird. Das Princip der Progression ist damit ge-
geben. Es deduciert sich concludent aus jener Gestaltung des Individual-
wertes, und da wir uns derselben vermöge der Natur des Wertes gefühls-
weise bewusst sind, so begreifen wir mit einem Male, warum die Forderung
der Progressivsteuer schon in unserem „Gefühle" begründet ist. Dass man
letzteres bei unzureichender Erfassung des Sachverhaltes mit dem Gerech-
tigkeitsgefühle identifi eierte, ist erklärlich, weil dieses ja jede Abweichung
von dem ökonomisch richtigen Maasse der Steuer perhorresciert.
Zweitens. Wir wissen, dass die progressive Abnahme der Werthöhe
keineswegs eine regelmässige in dem Sinne ist, dass sie etwa in eine nach
einer Schablone aufgebaute Progression gekleidet werden könnte, die mit
jedem kleinen Einkommenstheile um eine bestimmte Stufe vorschreitet.
Nur für solche Summen, wie sie den oben unterschiedenen Bedürfnisgruppen
entsprechen, konnte die Thatsache der progressiven Abnahme des correspon-
dierenden Wertstandes ausgesagt werden, und sowohl die jenen Bedürfnis-
gruppen entsprechenden Gütermengen (Einkommenstheile) als die Abstände
der durchschnittlichen Bedürfnisintensität und mithin der Werthöhe von
Stufe zu Stufe konnten nicht als gleich bezeichnet werden. Daraus folgt,
dass wir über die Beschaffenheit der Progressivsteuer etwas Allge-
meines festzustellen in der Lage sind. Es ergibt sich, dass nicht eine schön
construierte Progression, die von Glied zu Glied eine regelmässige Differenz
aufweist, der Wirklichkeit entspräche, sondern dass nur für weitere Durch-
schnitte von Einkommensgrössen, wie solche von den gedachten Bedürfnis-
gruppen absorbiert werden, Fixpunkte, Etappen der Progression theoretisch
bezeichnet werden können, von welchen aus üebergänge je zu den beiden
angrenzenden Stufen mit Kücksicht darauf zu erfolgen haben, dass Abnahme
der Bedürfnisintensität auch innerhalb der einzelnen Gruppe stattfindet.
So wie die Grenzwerte der den unterschiedenen Bedürfnisgruppen in
der Keihe correspondierenden Einkommen Sprünge aufweisen, welche be-
trächtlicher sind als das umgekehrte Verhältnis der aufeinanderfolgenden
Einkommensziffern, so kann sich auch die Progression der Steuer nur in
solchen Sprüngen, betreffend jene Einkommensgrössen, bewegen. Am stärksten
94 Sax.
ist der Sprung vom physischen zum socialen Existenzminimum, sodann
von diesem zum classenmässigen Minimaleinkommen des Mittelstandes, das
zugleich das Durchschnittseinkommen der breiten unteren Schichte desselben
darstellt. Ein grosser Sprung ist weiter von da zu den Durchschnitts-
einkommen der mittleren Schichten, welche schon die Befriedigung zahl-
reicherer Bedürfnisse blosser Annehmlichkeit und individuellen Genusses
gestatten, und weiterhin den Einkommen des höheren Mittelstandes, die
bereits Befriedigungen des Luxus und der Laune einschliessen. In weiterer
Folge werden die respectiven Abstände immer geringer, nähern sich immer
mehr der umgekehrten Proportion der Einkommenssummen, bis endlich bei
hohen Einkommen das letztgedachte Verhältnis eintritt, womit die Progres-
sion ihr Ende findet und die Proportionalsteuer beginnt. Die richtige
Steuerprogression ist also eine degressive, aber unregelmässige.
Drittens. Wir wissen, dass wir in der Theorie die für die Steuer-
progression maassgebenden Unterschiede der In dividualwert stände nicht zu
beziffern vermögen, sondern nur sagen können, dass die Individuen
selbst in ihrem Innern die Werthhöhe ermessen und dieselbe somit ihrem
ökonomischen Handeln zugrunde zu legen imstande sind. Daraus folgt,
dass nicht die Theorie die Progression aufstellen kann, sondern die Steuer-
träger selbst, insoweit die Aeusserungen ihrer Wertgefühle in der Steuer-
gesetzgebung zu richtigem Ausdrucke gelangen, die Progression bestimmen.
Die Theorie kann nur lehren: diejenige Steuerprogression ist jeweils die
wirtschaftlich richtige, bei welcher die verschiedenen Gruppen der Steuer-
träger erklären, ihre darnach sich ergebenden Steuerleistungen seien äqui-
valent. Eine solche Erklärung erfolgt in jenem staatswirtschaftlichen
Gesammthandeln , mittels dessen die Steuer des Einzelnen festgesetzt wird.
Man muss sich dies so vorstellen, dass die verschiedenen Schichten der
Bevölkerung, welche die gedachten Abstufungen der Einkommensgrössen
in weiten Durchschnitten repräsentieren, durch ihren Einfluss auf die Steuer-
gesetzgebung eben jenes Steuermaass herbeiführen, welches die Aequivalenz
der Steuer verwirklicht. Vergegenwärtigen wir uns das Bild einer solchen
Gruppierung der Einkommensempfänger. Es stehen sich gegenüber: die
Leute mit bis zu 500 fl. Einkommen, die Gruppe der Personen mit 500
bis 1000 fl. Einkommen, die mittleren Schichten mit einigen Tausend Ein-
kommen, dann die Schichte des höheren Mittelstandes mit 5000 bis
10.000 fl. Einkommen, weiters die Keicheren und endlich die Millionäre.
Mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse jeder dieser Schichten
ist die Höhe der Steuer festzusetzen und diejenige Progression, welche
diesfalls nothwendig ist, damit die Steuerleistungen als wertgleich sich
erweisen, ist die wirtschaftlich angezeigte. Die üebereinstimmung der
verschiedenen Gruppen der Bevölkerung hinsichtlich einer gewissen Pro-
gression, zum Ausdruck gebracht im öffentlichen Leben, lehrt, dass das
Richtige getroffen wurde. An Mitteln zur Geltendmachung des individuellen
Wertstandes hinsichtlich der Steuer fehlt es wohl nirgends; hieher zählen
Klagen. Beschwerden, Bitten, Vorstellungen, selbst Handlungen der Reaction
Die Progressivsteuer. 95
gegen unrichtig vertheilte Steuern. Indes nur wo eine Volksvertretung
die Staatsausgaben festsetzt und die Steuergesetze bescliliesst, die verschie-
denen Schichten der Bevölkerung also durch ihre Vertreter auf das staats-
wirtschaftliche Handeln direct bestimmend einwirken, gelangen in den
betreffenden Verhandlungen und Voten die individuellen Wertschätzungen
der Steuersummen in erwünschtem Maasse zum Ausdruck und eben daher
hat man ja bekanntlich zu diesem Modus des staatswirtschaftlichen Handelns
gegriffen. Es ist mithin die ökonomisch richtige Steuerprogression nicht
a priori zu formulieren, sondern sie wird in dem staatswirtschaftlichen
Gesammthandeln a posteriori auf die nämliche Weise festgesetzt, wie die
angemessene Höhe der Steuer überhaupt, sie fällt mit letzterem eigentlich
zusammen. Nicht a b s t r a c t ist die richtige Steuerprogression zu finden,
sondern nur experimentell; ein Weg, der ja auch durch die Geschichte
und die gegebenen Thatsachen vorgezeichnet ist — handelt es sich doch
nicht um die Schaffung eines Steuersystems aus dem Nichts, sondern um
dessen successiven Ausbau, welcher in schrittweisem, vorsichtigen Gange in
der Eichtung der Progression zu erfolgen hat.
Viertens. Wir wissen, dass sich dies alles nur auf die Höhe der
das Individuum treffenden Gesammtsteuerleistung bezieht, welche aus der
Combination der verschiedenen Steuerarten im Steuersystem hervorgeht.
Daraus folgt, dass die soeben gewonnenen Aussagen über die Steuerpro-
gression eben nur von der Wirkung des Steuersystems auf den einzelnen
Steuerträger, von den Steuersummen, die den Einzelnen durch das Zusammen-
treffen mehrerer Steuern in ihrer Person erwachsen, gelten, nicht von
einer einzelnen Steuerart oder von jeder einzelnen Steuer.
Daraus folgt wieder, dass, was insbesondere eine allgemeine Ein-
kommensteuer als Glied des Steuersystems betriff*, eine Progression
derselben und das Maass der Progression nur mit' Rücksicht auf die
Gestaltung und Wirkung der übrigen Glieder des concreten Steuersystems
bestimmt werden kann. Insofern eine gewisse Progression des Steuerfusses
der Einkommensteuer als das Mittel erschiene, gegenüber einer stärkeren
Belastung bestimmter Schichten durch Verbrauchssteuern oder im Hinblicke
auf den Umstand, dass sich die höheren Einkommen leichter zu einem
Theile der Steuer entziehen, die Ausgleichung zu bewirken, also zunächst
nur Proportionalität der Steuer herzustellen, wäre diese Progression mit der,
aus der Gesammtsteuer sich ergebenden zu combinieren, sofern im concreten
Falle die letztgedachte Progression für die Einkommensteuer überhaupt
resultiert.
Wenn die gedachten Sprünge der aufsteigenden Progression für die
Einkommensstufe des socialen Existenzminimums durch ausschliessliches
Betroffensein von indirecten Steuern, für -das classenmässige Minimal-Ein-
kommen des Mittelstandes ebenfalls durch diese oder allenfalls den Hiazutritt
einer Classensteuer und erst von den unteren Stufen des mittleren Einkommens
an für dieses und die höheren Einkommen durch Eintritt der Einkommen-
steuer verwirklicht werden, so muss weiterhin der progressionsgemässe
96 ^ax.
Steuerbetrag, z. B. derjenige, welcher ein Einkommen von 5000 fl. und ein
solches von 10.000 fl. trifft, sich zusammensetzen aus den indirecten Steuern,
die einen Haushalt des betreffenden Umfanges belasten, und der Einkommen-
steuer. Die Eruierung der durchschnittlichen Wirkungen der indirecten
Steuern (nebst denen in Oesterreich die überwälzte Hauszinssteuer in
Betracht zu ziehen käme), die natürlich nur durch empirische Feststellung
von Haushaltungsbudgets möglich ist, wird diesfalls von grosser Wichtigkeit.
Nur mit Eücksicht hierauf ist die Progression der Einkommensteuer zu
berechnen. Dieselbe kann hiernach in mehreren ihrer Theile bedeutende
Verschiedenheiten zeigen. Eine, aus einem allgemeinen Satze für die Steuer
überhaupt entwickelte und direct auf die Einkommensteuer angewandte
mathematische Formel der Progression, bei welcher sorgsam darauf geachtet
ist, dass keine „Brüche'' oder „Unebenheiten" vorkommen, ist der Wirklichkeit
inadäquat, ist ein nutzloses, ja schädliches Phantasiespiel.
Fünftens. Wir wissen schliesslich, dass die nach dem Wertstande
sich bemessende Steuerhöhe durch collectiven Egoismus oder Altruismus
eine Aenderung erfahren kann. Es können diejenigen Volkselemente, welche
vermöge ihrer Stellung im Staate einen ausschlaggebenden Einfluss auf das
Staats wirtschaftliche Handeln, wie auf die Gesetzgebung überhaupt, zu üben
in der Lage sind, ihren Einfluss benützen, um für sich eine unter dem
Wertniveau zurückbleibende Besteuerung zu erwirken. Andererseits kann
collectiver Altruismus geübt werden und bestimmten Classen die sie nach
dem Wertstande treffende Steuer ganz oder zum Theile erlassen werden.
Von dem thatsächlichen Walten und der thatsächlichen Stärke dieser
Tendenzen ist die Modification der Steuerausmessung gegenüber der Aequi-
valenz der individuellen Steuerbeträge abhängig. Für diese zweite Ursache
des Steuerausmaas»es gibt es wieder gewisse Grenzen und es ist wohl
auch ein allgemeines Entwicklungsgesetz hinsichtlich der Wirksamkeit der
beiden socialökonomischen Agentien zu behaupten, darauf braucht jedoch zu
unserem Zwecke hier nicht näher eingegangen zu werden.
Sechstens. Ausser den allgemeinen Aufschlüssen über den Grund
der Progressivssteuer, ihr Maass und die Vorgänge ihrer Verwirklichung,
welche wir der ökonomischen Steuertheorie danken, sind auch besondere
Fragepunkte dieses Gegenstandes nunmehr unschwer zu erledigen. Dies-
bezüglich hier nur noch folgende kurze Bemerkungen.
a) Steuerfreiheit des Existenzminimums. Versteht man hierunter
das physische Existenzminimum im wahren Sinne des Wortes, so ist ein-
leuchtend, dass eine Steuer diesfalls überhaupt nicht platzgreifen kann.
Das Individuum mag im Kriege sein Leben für das Vaterland zu opfern
verpflichtet sein: im übrigen geht die blosse Erhaltung der individuellen
Existenz allen CoUectivzwecken vor. Die betreffenden Individuen sind gar
keine Steuerträger und können solche nicht sein. Die Gemeinschaft muss
ihnen sofort im Armenwesen wieder erstatten, was sie ihnen als Steuer
abgenommen hätte. Fasst man dagegen den „nothwendigen Lebensbedarf "
Die Progressivsteuer. 97
als das , allgemeine sociale Existenzminimuin" auf, so dass er diejenigen
Bedürfnisbefriedigungen einschliesst, die nicht mehr zur blossen Erhaltung
der körperlichen Integrität, wohl aber nach der jeweiligen Zeitauffassung
zur Führung einer „menschenwürdigen Existenz" unerlässlich erscheinen, so
ist das Nämliche wie bezüglich des physischen Existenzminimums nicht zu
behaupten. Auch die hier inbegriffenen Individualbedürfnisse sind, wie wir
wissen, äusserst hohen Stärkegrades, aber sie sind nicht incommensurabel
und es ist keineswegs richtig, dass es nicht CoUectivbedürfnisse gebe,
welche ihnen an Stärke gleichkommen (was man implicite behauptet, wenn
man sagt, dass jene Einzellebensbedürfnisse nicht durch Besteuerung ein-
geschränkt werden dürften). Es folgt nur, dass die betreffenden Wirtschafts-
subjecte sehr niedrig zu besteuern sind, und dies ist auch praktisch ganz
wohl durchführbar. Dieses Existenzminimum ist eine immerhin in gewissem
Maasse elastische Grösse und es lässt sich keines denken, von dem man
nicht für Gemeinzwecke ein Weniges — sei es auch wirklich noch so
wenig — abgeben könnte. Die bezüglichen Verbrauchssteuern müssen nur
auch niedrig genug gehalten werden.
Aber man kann dieses Existenzminimum freilassen. Ob es geschehen
soll, hängt vom coUectivistischen Altruismus ab, d. h. davon, ob man im
concreten Staate solchen zu üben gesonnen und mit Kücksicht auf andere
CoUectivbedürfnisse zu üben in der Lage ist. Es war daher auch ein ganz
müssiger Streit, ob die Steuerausmessung nach dem Leitsterne der ver-
theilenden Gerechtigkeit die Freilassung des Existenzminimums im vorliegenden
Sinne erheische. Die Gerechtigkeit verlangt es nicht; sie würde vielmehr
das Gegentheil, die Belegung der betreffenden Wirts chaftssubjecte mit der
entsprechenden Steuer, verlangen. Altruistische Eegungen sind die Motivation
des bezüglichen Gesammthandelns. Dass ein solches nicht stattfindet, wenn
man beim Bestände von Verbrauchssteuern die Einkommensteuer erst von
einer gewissen Einkommensgrösse an eintreten lässt, bedarf keiner Er-
läuterung mehr.
Sofern aber jene Steuerbefreiung eines Existenzminimums zugestanden
wird, hat dies ganz und gar nicht diejenige Progression für die Gesammt-
steuer zur Folge, welche zum Vorschein kommt, wenn man von jedem
Einkommen ein Existenzminimum abzieht. Daraus, dass man einer gewissen
Classe von Steuersubjecten eine Steuer ganz oder theilweise erlässt, um
altruistische Gesinnung gegen sie zu bethätigen, folgt noch keineswegs,
dass man bei allen Steuerträgern die betreffende Summe als steuerfrei
erkläre. Wenn jener Steuererlass bloss darin bestünde, dass man die Vei-
brauchssteuer auf nothwendige Lebensmittel abschafft oder niedriger im Fuss
hält als zulässig wäre: deshalb braucht bei der Einkommensteuer noch
keineswegs von jedem steuerbaren Einkommen ein gewisser Betrag vorweg
in Abzug gebracht werden.
b) Ein anderer Punkt betrifft die Vorstellung, die man sich von dem
Maasse der Progression machen könnte, wenn man den starken
Zeitschrift für Volkswirtschalt, Socialpolitik und Venvaltung. I. Heft. 7
98 Sax-
Abfall des Wertes der Gutseinheit bei den grösseren gegenüber den
kleineren Einkommen vor Augen hat.^)
Von belangreichem Einflüsse ist in dem Punkte ein Umstand, dessen
wir bei der Aussage über die Abstände der durchschnittlichen Intensität
der verschiedenen Bedürfnisgruppen uns sogleich erinnern mussten: die
Zunahme der Zahl der Bedürfnisse mit abnehmender Intensität, was für
*) In dieser Hinsicht darf vorerst folgendes nicht ausser Acht gelassen werden,
was auch im Laufe der Erörterungen schon nebenbei erwähnt werden musste. Das "Wert-
gefiihl, welches eine Giitersumme anregt, besitzt nicht immer den relativen Stärkegrad,
welcher sich ergibt, wenn man die Wertgrösse der Gutseinheit mit der Anzahl der Guts-
stiicke multipliciert. "Wenn eine Mehrheit von Gütern aus der Güteisphäre eines Indivi-
duums ausscheidet, so wird ja nicht die Gutseinheit so vielmal, als Stücke ausgehen,
dem letzten Bedürfnis der Keihe entzogen, sondern jedes folgende Stück einem stärkeren
Bedürfnis als das vorgehende. Wenn ein Mann mit 1000 fl. die Bedürfnisreihe bis
zu einem gewissen Punkte deckt, so entfällt der lOOOste Gulden auf ein Bedürfnis von
gewisser Stärke, der 999. Gulden auf das nächsthöhere Bedürfnis u, s. w. Was so im
jeweihgen Augenblicke von der Gutseinheit gilt, gilt für die Dauer der mit dem Ein-
kommen bezeichneten Bedarfsperiode (Jahr) für je eine Anzahl Gutseinheiten. Für das
Maass der Progression kann folglich nicht das Verhältnis des Wertes maassgebend sein,
welchen die letzte Gutseinheit des Einkommens, je nach dessen Grösse, aufweist, sondern
der Wert des ganzen Steuerbetrages, welcher sich eventuell aus Theilbeträgen mit ver-
schiedener Werthöhe zusammensetzt; dann nämlich, wenn die Steuer höher ist als der-
jenige Güterbetrag, welcher den mindesten Wert der Gutseinheit zeigt. Am besten wird
wieder ein ziffermässiges Beispiel den Sachverhalt erhellen. Nehmen wir ein Einkommen
von 500 fl. und eines von 5000 fl. Der Mann mit 500 fl. hätte 50 fl. an Steuer zu zahlen.
Der Wert der Gutseinheit bei 5000 fl. Einkommen sei nicht Vio ^^^ dem Werte bei
500 fl., sondern ^/oq. Würde dieser Wert für alle Gutseinheiten gelten, so würde darnach
auf den bezüglichen Steuerträger 1000 fl. Steuer entfallen. Das Einkommen von 500 fl.
hätte 10*^/o, jenes von 5000 fl. 20^0 Steuer zu zahlen. Nun aber muss das Vorerwähnte
in Rechnung gestellt werden. Es betrage demgemäss der Wert
vom 5000sten fl. bis zum 4901 sten fl. V20
„ 4900 „ „ „ „ 4801 „ „ Vig
„ 4800 „ „ „ „ 4701 „ „ Vis
„ 4700 „ „ „ „ 4601 „ „ V17
4600 „ „ „ „ 4501 „
4500 „„ „ „ 4401 „ „ Vi5
4400 „„ „ „ 4301 „ „ Vu
4300 „ „ „ „ 4201 „ „ ^/,3
4200 „ „ „ „ 4101 „ „ V,2
16
„ 4100 „ „ „ „ 4001 „ „ %,
des Wertes der Gutseinheit von 500 fl,; bei 4000 fl. sei der Wert der Gutseinheit —
unserer Voraussetzung entsprechend — nicht '/s' sondern Vio ^- s. w.
Der relative Wertbetrag der Steuer von 500 fl. ist unserer Voraussetzung gemäss
50 X 1 = 50. Um zur gleichen Wertgrösse von 50 bei der Steuer von 5000 fl. zu ge-
langen, müssen vom 5000sten Gulden an die als Steuer ausgehenden Theilbeträge solange
mit ihrem (steigenden) Wertverhältnisse angesetzt werden, bis die Summe derselben die
Verhältniszahl 50 ergibt. Also
100 _|. 100 _J_ ] 00 _l_ 100 _L 100 _L . 10 0 1. 1 0.0 I 100 I _6 __ Kf)
Die con-espondierende Steuer ist mithin 806 fl.
Vorerst wurde bei dem Manne mit 500 fl. Einkommen die Durchschnittsrechnung
angewendet. Nehmen wir nun aber auch an, dass von 500 fl. ab der Wertstand für je
Die Progressivsteuer. 99
die aufeinanderfolgenden Bedürfnisgnippen ein Anwachsen der von je einer
derselben absorbierten Gütermenge bedeutet. Schon an jenem Orte^) erkannten
wir an einem supponierten Beispiele, dass, je grösser die für eine Bedürfnis-
gruppe erforderliche Gütermenge im Vergleich zu der von der vorauf-
gehenden beanspruchten Summe ist, desto weniger sich das wirkliche
progressive Verhältnis der Intensitätsabnahme der Bedürfnisse jener zwei
verglichenen Gruppen von dem Verhältnisse entfernen wird, welches durch
die umgekehrte Proportionalität der betreffenden Einkommen ausgedrückt
ist. Das heisst: desto geringer muss die Progression der Steuer von der
einen zur andern der bezüglichen Einkommensstufen sein. In je weiterem
Umfange das Einkommen für Bedürfnisse von gewissem Intensitätsgrade (in-
folge grösserer Anzahl der betreffenden Bedürfnisregungen) absorbiert wird,
desto weniger sinkt eben der Intensitätsgrad der jeweils letztbefriedbaren
Bedürfnisse, auf desto höherem Niveau wird folglich der hievon abgeleitete
Wert der Gutseinheit gehalten^). Desto schwächer folgerichtig die Pro-
gression der Steuer.
In welchem Maasse die Ausdehnung der verschiedenen Bedürfnis-
gruppen stattfindet, ist eine Frage, die mit wünschenswerter Genauigkeit
nur auf empirischem Wege nach den concreten Zuständen eines bestimmten
Staates und Volkes beantwortet werden könnte. Vielleicht werden die sta-
tistischen Untersuchungen EngeFs, welche über die diversen Ausgabenkate-
gorien von Haushaltungen aller Einkommensstufen nach Aufschreibungen
einer grossen Anzahl von Wirtschaftern Aufschluss geben sollen, hiefür
wertvolle Anhaltspunkte liefern ; für das staatswirtschaftliche Handeln wären
verlässliche Aufschlüsse solcher Art im hohen Grade nützlich. Für die
Zwecke der allgemeinen Argumentation kann man sich indessen wohl mit
einer generellen Feststellung begnügen, über welche Jederman nach seinen
Lebenserfahrungen sofort ein Urtheil abzugeben imstande ist. In diesem
Sinne dürfen wir, ohne Widerspruch besorgen zu müssen, für die oben
unterschiedenen allgemeinen Bedürfnisgruppen in ihrer Durchschnitts-
25 fl. sich erhöhe und betrage für den 500— 476sten Gulden 1, für den 475— 451sten
Gulden 1*2, für den 450— 426sten Gulden 1-5 u.s. w., so ergäbe beiläufig 45-8 fl. die Wert-
verhältniszahl 50. Die Steuern der beiden verglichenen Wirtschaftssubjecte wären folglich
45-8 fl. und 806 fl., d. i. 9-16 o/^ und 16-12 O'^ anstatt 10% und 20%. Man sieht, es ist
durch die Wertung des ganzen Gutscomplexes der Steuer unter der gemachten Voraus-
setzung ein Druck auf die Progression ausgeübt. Da wir jedoch zu wenig Genaues über
den Gang der Wertabnahme wissen, so ist dies sehr unsicher. Jedenfalls wird die ver-
hältnismässige Höhe der Progressionssätze gegen einander im Vergleich zu der-
jenigen, welche bei der Durchschnittsrechnung resultiert, nicht sehr geändert und da
wir es hier eben nur mit der Progression hinsichtlich der relativen Steueraustheilung
zu thun haben, so erscheint dies als ein minder wesentlicher Punkt.
^) S. im Früheren den Schluss von Abschnitt ü, S. 53.
2) „Bei gleichem Güterbesitze muss der Wert, bei verschiedenen Individuen oder
in der Zeitfolge bei einem und demselben Wirtschaftssubjecte verglichen, offenbar sich
verhalten wie der jeweilige Bedürfnisstand. Je höhere Intensitätsgrade dieser im
Ganzen erreicht und je mehr Eegungen er einschliesst, desto höher muss sich bei einem
bestimmten Güterbestande der Wert einsteUen." Sax „Grundlegung" S. 260.
7*
100 Sax,
gestaltung die Behauptung der erwähnten fortschreitenden Extension aut
Grund einer Beobachtung aufstellen, wie sie auch Kob. Meyer a. a. 0.
verzeichnet.
Das sociale Existenzminimum umfasst schon mehr Bedürfnisse als das
physische: der bezügliche Einkommensbetrag ist grösser als derjenige,
welcher nur das letztere deckt. Die nächstfolgende Gruppe des Standard of
life des Mittelstandes weist eine erhebliche Ausdehnung der einschlägigen
Bedürfnisregungen und somit der zur Befriedigung nothwendigen Summe
auf. Von der folgenden Gruppe der individuellen Gewohnheitsbedarfe einer
bürgerlichen Existenz im Vergleiche mit der vorgehenden gilt dasselbe und
so weiter. Je schwächer die Bedürfnisse werden, desto reichhaltiger wird
die Zahl ihrer Kegungen und es würden schliesslich letztere ins Unabseh-
bare wachsen, wenn nicht durch die Physis dem menschlichen Begehrungs-
vermögen ein Ziel gesetzt wäre.
Dieser Thatbestand bildet für die Steuerprogression das Gegengewicht
gegenüber dem anfangs so ungemein starken Abfalle der Intensität von einer
Bedürfnisgruppe zur andern, indem er einen gleich starken Abfall des
Wertstandes bei den betreffenden Einkommensstufen verhindert. Das Bild
der Progression, welches man sich lediglich nach dem ersteren Umstände
machen wollte, wäre also ein trügerisches. Zufolge jenes in entgegensetzter
Eichtung wirkenden Momentes wird sie eine weit sanftere sein müssen, als
es auf den ersten Blick vielleicht den Anschein hätte. Stellen wir uns die
Steuerprogression unter dem Bilde einer aufsteigenden Treppe vor, deren
Stufen eine zunehmende verticale Höhendifferenz aufweisen. Bei gleicher
Breite der Stufen, die uns die bezüglichen Einkommen repräsentieren, würde
von der Basis zum Gipfel der Treppe eine sehr steile Linie resultieren.
Wenn jedoch die horizontale Breitenausdehnung der Stufen im gleichen
Maasse mit deren verticaler Höhendifferenz zunähme, so käme eine weit
weniger steile, eine sanft aufsteigende Linie zum Vorschein.
Neben der durchschnittlichen Gestaltung der Bedürfnisstände ist —
nebenbei bemerkt — behufs richtiger Besteuerung natürlich auch die that-
sächliche individuelle Gestaltung zu beachten. Soweit solche allgemein fass-
bar wird, wie z. B. hinsichtlich der Anzahl der vom Steuerträger zu ver-
sorgenden Personen, andauernder Krankheit etc., bedingt dies wieder eine
Modification des nach der Progression sich ergebenden Steuerfusses, während
im Uebrigen die indirecten Steuern dem Einzelnen es gestatten müssen,
ihre Steuer den individuellen Wirtschaftsverhältnissen anzupassen.
c) Endigung der Progression. Bezüglich der hohen und höchsten
Einkommen gilt das vorhin Bemerkte ebenfalls. Die Ausdehnung der Be-
dürfnisse schreitet hier vor insbesondere auch durch die Einbeziehung der
Zukunft in das gegenwärtige wirtschaftliche Handeln. Die jeweils angeregte
Sorge um Befriedigung künftiger Bedürfnisse (des Individuums selbst, sowie
der Nachkommen und anderer Personen) stellt voraus empfundene Bedürf-
nisse, also Bedürfnisse dar. die als solche schwächer von Intensität sind
als die präsenten Bedürfnisse gleicher Art. Die Capitalisierung von Ein-
Die Progressivsteuer, IQl
kommen ist die Verwendung von Gütern für solche Bedürfnisse. Durch
diese Einbeziehung künftiger Bedürfnisse erfährt der Bedürfnisstand eine
Erweiterung, welche die grössten Dimensionen annehmen kann, sich dann
aber eben auch auf Bedürfnisse von minimalen Stärkegraden erstreckt.
Dieser Umstand in Verbindung mit der einleuchtenden Folgerung, dass, da
der Bedürfnisgrad nicht auf Null sinken kann, von einem gewissen Punkte
niedriger Bedürfnisintensität an die Differenzen der durchschnittlichen
Intensität aufeinander folgender Bedürfnisgruppen rasch abnehmen müssen
und somit das Verhältnis der umgekehrten Proportionalität der Einkommen
annehmen, bedingt schliesslich die Aufhebung der Progression des Wert-
standes, was folgerichtig die Progression der Steuer zum Stillstande bringt.
Auf diese Art erledigt sich concludent ein Fragepunkt, dessen die ältere
Theorie bekanntlich nicht Herr zu werden vermochte. Bei welcher Ein-
kommensstufe das Umschlagen der Progression in die Proportionalsteuer
eintritt, kann natürlich ebenfalls nicht durch den Ausspruch irgend eines
Theoretikers, sondern nur durch eine sich bildende communis opinio be-
stimmt werden. Das Ausklügeln der Formel einer Progression, die sich
asymtotisch der Proportionale nähert, ohne sie je zu erreichen, ist daher
eine nicht nur überflüssige, sondern geradewegs zweckwidrige Mühe. Das
gilt indes wieder nur für die Steuer an sich. Für eine Einkommen-
steuer kann eine in jener Weise verlaufende endlose Progression aus der
Berücksichtigung der auf je eine Einkommensstufe entfallenden Durchschnitts-
quote indirecter Steuern folgen. Indes erscheint das aus dem rein prakti-
schen Grunde nicht gerade nothwendig, weil bei der unvermeidlichen Un-
genauigkeit der Feststellung der hohen Einkommen eine absolute Eichtig-
keit der bezüglichen Steuerbeträge ohnehin nicht zu erzielen ist, was
wieder dann nichts verschlägt, wenn durch eine entsprechend ausgestaltete
Erbschaftssteuer für die Steuernachholung gesorgt ist. —
Hiemit sind wir am Schlüsse unserer Ausführungen angelangt, welche
die Lösung des Problems der Progressivsteuer im Rahmen der relativen
Steueraustheilung mittels der ökonomischen Steuerlehre nachzuweisen
bestimmt waren. Man wird nicht leugnen können, dass die Lösung eine
ebenso einfache als realistische ist und dass sie die Abwege vollständig
verschüesst, auf welche andere, unhaltbare Theorien zu führen geeignet
sind. Weitere retrospective Vergleiche oder nähere Würdigung der erzielten
Ergebnisse sollen hier unterbleiben. Mögen die letzteren für sich selbst
sprechen! Sie werden damit zugleich Zeugnis ablegen für eine Theorie,
welche soeben eine förmliche Umwälzung in der nationalökonomischen
Doctrin überhaupt hervorbringt: die psychologische Wirtschaftslehre, die
trotz äusserer Hindernisse in geradezu unwiderstehlichem Siegeslaufe sich
die allgemeine Anerkennung erobert.
GßOSSBETßlEB UND PEODUCTIV
GENOSSENSCHAFTEN.
VON
PROFESSOR DR- FRIEDRICH VON WIESER.
I.
„Die Arbeitsmittel für die Arbeiter!" das ist die letzte Forderung des
heutigen Socialismus. Der Beweis, dessen sich die heutigen Socialisten mit
Vorliebe für diese ihre Forderung bedienen, ist indes keineswegs schlüssig.
„Aller Ertrag ist Arbeitsertrag, die Arbeit allein ist es, die alles schafft, die
überhaupt schaffen kann", „dem Arbeiter gebürt der Arbeitsertrag, d. i.
der ganze Ertrag", so lauten die Prämissen, aus denen der Schluss gezogen
wird, dass dem Arbeiter, damit er des ganzen Ertrages sicher sein könne,
auch die Arbeitsmittel, Land und Capital, zugesprochen werden müssten.
Zwischen der ersten Prämisse und dem Schlussatze besteht ein auffälliger
Widerspruch. Wer sagt, dass aller Ertrag von der Arbeit herrühre, dass
also Land und Capital keinerlei Ertrag schaffen, der sagt mit andern Worten,
dass Land und Capital wertlos seien. Wer aber wird wertlose Dinge fordern?
Wenn die Socialisten die Arbeitsmittel für die Arbeiter fordern, so fordern
sie dieselben um ihres Wertes willen und erkennen damit an, dass die-
selben mit am Ertrage schaffen. Sie heben daher durch ihre Forderung
selbst stillschweigend die erste Prämisse auf, aus der sie ihre Forderung
ableiten.
Neuestens hat Leo Tolstoi die socialistische Grundforderung mit aller
Macht der Beredsamkeit von einem anderen Standpunkte aus vertreten.
Dem Arbeiter müsse das Werkzeug gehören, weil nach der Natur der Arbeit
eben Arbeiter und Werkzeug zusammengehören. Es ist unnatürlich, sagt er.
wenn die Arbeitsmittel dem Arbeiter nicht gehören, so unnatürlich und
trotzdem leider so oft Wirklichkeit, als dass Singvögel mit beschnittenen
Flügeln in Käfigen eingesperrt leben. Tolstoi urtheilt hiebei nach der Natur
der Arbeit, d. h. des Menschen, man muss indes auch fragen nach der
Natur des Werkzeuges, d. h. der Dinge. Das Naturgesetz der meisten Dinge
aber ist der Mangel, man kann sie nicht haben wie man will. Der Arbeiter,
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 103
dem die Werkzeuge und sonstigen Behelfe fehlen, erfährt an sich nichts
Anderes, als die allgemeine natürliche Noth, in der sich schon die ersten
Mensch en befanden, die umso vieles schlimmer daran waren, weil ihnen überdies
jeder Unterricht fehlte. Wenn heute die natürliche Noth grossentheils
gemildert ist, wenn Werkzeuge und Behelfe da sind, so sind sie nicht bloss
durch Arbeit da , sondern ausserdem durch eine zweite , ebenso unent-
behrliche Tugend der Wirtschaft, durch die des Zusammenhaltens und
Sparens. Dem Sparsinn muss, damit er wirke, Belohnung versprochen und
daher auch gegeben werden, und daher ist es ein fruchtbarer, unerlässlicher
Rechtsgedanke, dass durch Sparen Eigenthum erworben werden könne und
zwar nach dem Sinne des Sparenden selbst, d. h. für ihn und diejenigen, die er
eben bedenken will, für die er spart, vor allem also seine Kinder und
Kindeskinder. Dieser Gedanke ist erlaubt, ist geboten, ist sittlich, wenn er
es freilich auch nicht aus jedem Munde ist. Der mittellose Bursche, der in
einem grossen Unternehmen Beschäftigung findet, kann nicht am andern
Tage schon seinen Kopftheil der gesammten Einrichtung herausfordern. Die
Antwort auf ein derartiges Ansinnen wird in den meisten Fällen sehr brutal
lauten, aber der Auswüchse von Roheit entkleidet, wird sie immer einen
gesunden Grundgedanken variieren, dass nämlich eine Thätigkeit von gestern
her keinerlei Ansprüche begründen könne, nachdem die Güter der Welt
längst in Besitz genommen seien, nachdem wohlerworbene Rechte geachtet
werden müssten und nachdem der Betreffende endlich in keiner schlimmeren
Lage sei, als viele vor ihm. die es doch zu etwas gebracht haben.
Indes, man wird nicht leugnen können, dass die bäuerlichen Besitzer
und der bürgerliche Mittelstand innerhalb ihrer eigenen Kreise den Gedanken
„die Arbeitsmittel für die Arbeiter" selber in weitem Maasse zur Geltung
gebracht haben. Nach Bauernrecht übergibt der Vater, wenn seine Arbeitskraft
zu Ende geht, dem Sohne Haus und Land, während sich im städtischen
Handwerk fast von selbst die Folge einstellt, dass es dem gehört, der es
ausüben kann. Es ist ein durchaus verwandter Zustand, wenn in den höheren
Arbeitsberufen, die von den gebildeten Classen ergriffen werden, der Regel nach
jedermann um die Jahre, wo er in der Blüte seiner Kraft ist, auch in die volle
Gelegenheit eintritt, Amt oder Beruf auszuüben und Verdienst zu gewinnen.
Das Gleichgewicht zwischen Arbeitskraft und Arbeitsgelegenheit, das
im Gewerbe so lange herschte, ist erst in der jüngsten Zeit durch die Aus-
breitung des Grossbetriebes empfindlich gestört worden. Den Lohnarbeitern
in der Fabrik ist die Aussicht auf vollste Verwertung ihrer Arbeitskraft im
alten hergebrachten Sinne benommen. Sie rücken niemals, wie es der
Handwerksgeselle in den guten Tagen des Handwerks erwarten konnte, wie
es heute noch jeder erwartet, der Medicin oder die Rechte studiert, in die
volle Arbeitsgelegenheit auf, sie bleibe^ stets auf der niedrigsten Stufe und
unselbständig, wie die Knechte des Bauern. Was sich aber in der bäuerlichen
Enge von selbst versteht und übrigens durch die mehr patriarchalischen
Sitten des gutbäuerlichen Lebens minder drückend wird, wird in der auf-
blühenden, modern lebenden Industrie zum schmerzenden Missverhältnis.
104 Wieser.
Niemals ist industrielle Arbeit in solcher Stärke die Quelle der Vermögens-
bildung gewesen, wie heute, nur dass diese Quelle heute ausschliesslich für
den Einen oder die Wenigen an der Spitze fliesst, während sie für die
grosse Masse der Mitwirkenden verstopft ist.
Die Socialisten, um das Gleichgewicht zwischen Arbeitskraft und voller
Arbeitsgelegenheit an dem Punkte, wo es gestört wurde, wiederherzustellen,
wollen fast die ganze wirtschaftliche Welt aus den Fugen heben. Es fragt
ich aber, ob es nicht möglich ist, die Cur besser zu localisieren und Maass-
regeln zu ersinnen, die sich auf den Ort der Erkrankung beschränken.
Damit soll nicht gesagt sein, dass kleine Mittel genügen könnten,
um die „sociale Frage" zu „lösen". Die „sociale Frage" ist überhaupt nicht
zu „lösen", nur die Flachheit der modernen Sprache legt uns solche Worte
in den Mund und mit ihnen solche „Gredanken" in den Sinn. Das Opfer
eines Gottes kann die Menschen von der Erbsünde befreien, aber niemals
wird eines Menschen Witz uns von unserem Erbübel, der Noth, befreien.
Das sociale Uebel ist die uralte Menschennoth, der Kampf um das täg-
liche Brot, von dem die wenigen Reichen enthoben sind und in den die
vielen Armen sich um so tiefer verstrickt fühlen. Um uns von diesem
üebel zu erlösen, muss die Natur erst ergiebiger gemacht werden — dazu
gehört die vereinigte Anstrengung unzähliger Forscher und Arbeiter; und,
was die noch grössere Aufgabe ist, die sich auf noch grössere Zeitperioden
und auf noch mehr Köpfe und Schultern vertheilt, die Völker müssen erst
in Wahrheit zu Culturvölkern erhoben werden. Statt der Masse oder gar
des Pöbels mit den wenigen Selbständigen und Gebildeten muss es wieder
„das Volk" geben, eine Bürgerschaft durch und durch gesund, so wie wir
es von den auserlesenen Volksstämmen glauben, aus denen die welt-
beherrschenden Nationen hervorgegangen sind. Heute ist jede Nation zer-
rissen, wir wollen nur nicht daran denken, dass es so ist. Was man hoch-
tönend Nationalliteratur und nationale Kunst nennt, ist der Luxus eines
kleinen Kreises, der Masse so unbekannt, dass die Namen der gefeiertsten
Meister ihr einfach nichts bedeuten. Ich glaube, dass ein wenig Nachdenken
über den geschichtlichen Verlauf der Dinge uns zu der traurigen üeber-
zeugung bringen muss, dass gerade das Wachsthum der Bildung die
wichtigste Ursache gewesen ist, um die alte Einheit des Volks zu zer-
reissen und die Masse den Wenigen so tief unterzuordnen, wodurch der
sociale Gegensatz von heute bedingt ist. Wie die gelehrte und amtliche
Jurisprudenz das Volk um seinen Antheil an der Eechtssprechung gebracht
hat, so hat die steigende Bildung dem Volke gegenüber allenthalben in
Sitte. Kunst, Technik, Politik gethan. Die verzweifelten Versuche der
zurückgedrängten Menge wurden, z. B. in den Bauernkriegen, mit Gewalt
niedergeschlagen. An unserer Cultur haftet Blut, das nur gesühnt werden
kann, wenn sich die Cultur verallgemeinert und diejenigen zu sich empor-
hebt, die als Sprossen der Leiter dienen mussten. Für die Mittelclasse ist
das zum Theile bereits geschehen, nun soll es auch für den vierten Stand
geschehen. Was aber bedarf es nicht hiezu? Unsere Cultur ist fremd-
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 105
ländischen Ursprunges und ist noch immer wie ein fremder Tropfen in
unserem Blute. Noch heute wird sie mit Absicht fremdartig gehalten, um
als Unterscheidungsmerkmal zu dienen. Sie muss erst volksthümlich
werden, bevor sie dem Volke mitgetheilt werden kann, sie muss erst so
reif werden, dass sie volksthümlich sein kann. Etwa wie die grosse
Literaturbewegung des vorigen Jahrhunderts zur Volkspoesie zurückstrebte,
um sich zu reinigen und zu erheben, muss eine neue noch viel grössere
Bewegung das innerste Herz des Volkes erwärmen und seine stärksten und
tiefsten Gefühle zu Worte bringen. Wann, in wie fernen Jahrhunderten,
wird das sein können? Und wird viel anderes, noch Grösseres, sein können,
was auch noch geschehen muss, damit der Traum des Culturvolkes erfüllt
sei? Nicht früher aber als all dies geschehen sein wird, wird die sociale
Ungleichheit gänzlich verschwunden sein.
Die Erlösung vom socialen Uebel wird daher vor allem das Verdienst
solcher Männer sein, deren Genie die grossen Erhebungen in Geist und
Gemüth erweckt, durch die die Weltgeschichte sich wendet. Sie werden,
ohne es zu wissen, auch die wirthschaftlichen Eetter werden.
Es wäre aber schlimm, wollten alle anderen, die sich zu einem so
hohen Werke nicht berufen fühlen, deshalb die Hände in den Schoss
legen. Auf dem Boden, den die culturelle Ungleichheit des Volkes ge-
schaffen hat, ist das sociale Uebel durch besondere wirtschaftliche Ursachen
weiter ausgebildet, durch den Grossbetrieb namentlich erst gross geworden.
Besondere wirtschaftliche Hilfsmaassregeln, fachmännisch-nationalökonomi-
scher Rath ist da so imentbehrlich als der Arzt es bei dem Kranken ist,
dessen Krankheit durch die Welt oder die Liebe mitverursacht wurde und
nur wiedemm durch sie vollständig geheilt werden kann. Und wie der
Arzt muss auch der Natioaalökonom, mag er die weiten Zusammenhänge
des Leidens noch so wohl begi-eifen, dennoch darauf achten, dass er, mit
seinen künstlichen Mitteln, in den Organismus nicht zu tief eingreife, damit
er nicht zerstöre wo er helfen soll.
n.
Mit dem Grossbetriebe, haben wir gesagt, ist das sociale Uebel erst
so gi'oss geworden. Der Gebrauch der Maschinen und des sonstigen indu-
striellen Grosscapitales hat zur Anhäufung der Arbeiter und damit zur Ver-
kümmerung ihrer natürlichen Lebensbedingungen geführt; ferner hat er eine
neue Versuchung zur Ausbeutung der Arbeitskraft gegeben, die stärkste,
die bisher in den Ländern der gemässigten Zone zu überwinden war, wo
die Bebauung des Bodens niemals zu starke Anforderungen an die mensch-
liche Kraft gestellt hatte; endlich hat der industrielle Grossbetrieb die
kleinen und mittleren Meister verdrängt und den Gegensatz der Fabriks-
arbeiter und der grossen Unternehmer geschaffen, einen socialen Gegensatz,
der schärfer und gefährlicher wurde als der von Grundherrn und Bauern
jemals gewesen ist.
106 Wieser.
Die Geschichtschreibung der modernen Volkswirtschaft hat viel und
schweres Anklagematerial wider den Grossbetrieb gesammelt und wird noch
mehr finden. Zu einem gerechten, abschliessenden Urtheile wird erst eine
vielleicht noch entfernte Zukunft kommen, bis der ganze Process mit all
seinen guten und üblen Folgen durchgemacht sein wird. Jedenfalls ist es
ein schweres Unrecht, wenn man aus dem „objectiven Verfahren" wider den
Grossbetrieb ein subjectives wider die Personen der grossen Unternehmer
macht. Selbstverständlich kann man für die Ausschreitungen einzelner
nicht den ganzen Stand verantwortlich machen; was aber den Stand im
ganzen, anbelangt, so wird man anerkennen müssen, dass die Unternehmer
moralisch nach den Begriffen der Zeit gehandelt haben, im Sinne der allge-
mein geltenden Idee des Privateigenthumes, und dass ' sie technisch und
organisatorisch mit unter den Führern ihrer Zeit gewesen sind. Licht und
Schatten sind in den Wirkungen des Grossbetriebs so vertheilt, dass es
begreiflich ist, wenn diejenigen, die ihr Interesse, ihre Begabung und die
Gunst der Gelegenheit zu Unternehmern macht, vom Lichte geblendet
werden und vom Schatten nichts wahrnehmen. Ihr persönliches Gefühl darf
mit Kecht ein gutes sein, sie dürfen sich in dem Bewusstsein stolz fühlen,
dass sie nicht bloss für sich gewirkt haben, sondern auch noch für so
viele andere, denen durch sie Arbeit und Verdienst beschafft worden ist. ^
Vielleicht wird das Urtheil der Zukunft noch günstiger lauten. "Welche
Sachlage ist es gewesen, die der beginnende moderne Grossbeti'ieb vorge-
funden hat? Das Gewerbe hatte bis dahin der Stadt angehört: was an
„Manufactur" draussen auf dem Lande war, zeigte sich keineswegs im
günstigen Lichte. In der Stadt hatte das Gewerbe, trotz seines theilweisen
Verfalles, eine grosse civilisatorische Leistung vollzogen, es hat die Stadt
geschaffen mit ihrer bürgerlichen Freiheit, mit bürgerlichem Wohlstand,
mit bürgerlicher Sitte. Weiter ist das alte Gewerbe indes nicht gekommen
und es konnte bei seiner technischen Beschränktheit nicht weiter kommen,
es hat seine Wirkungen auf das Land und die Massen ländlichen Proletariates
nicht ausgedehnt. Aus diesen Massen hat der moderne Grossbetrieb seine
ersten Kecruten geworben, die ihm freiwillig in Scharen zuströmten, um-
so zahlreicher, je mehr in seinem Gefolge die Bevölkerungen anwuchsen.
Wenn es ihm nun gelänge, an diesen Massen die befreiende, civilisatorische
Macht des Gewerbes trotz allem schliesslich doch wiederum zu bewähren?
Die Aufgabe ist eine ungeheure, und der Anfang kann nicht anders als
schwer sein. Die Zustände mancher weiter fortgeschrittener Länder lassen
indes eine solche Hoffnung nicht ganz unbegründet erscheinen. Was war
der englische Arbeiter zu Anfang des Jahrhunderts? Und was ist wenigstens
der gelernte englische Arbeiter heute? Hat er ein Kecht, den Grossbetrieb
zu verdammen und zu behaupten, dass dieser ihm zu Schaden ausge-
schlagen sei?
Wie immer das Endurtheil der Geschichte ausfallen möge, so muss
man heute schon sagen, dass der Grossbetrieb nicht mehr ganz ist, was er
war, dass das Grosscapital nicht mehr ganz ist, was es war. Im Anfange,
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 107
in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, zu Beginn der industriellen Aera,
war man arm an Capital, heute ist man vergleichsweise reich. Das Capital
zu sparen und zu mehren, galt damals als der oberste Grundsatz volks-
wirtschaftlicher Weisheit, welchen Theoretiker und Staatsmänner vor allen
andern hoch hielten, selbst die Steuergesetze wurden ihm unterworfen.
Was schien neben der kostbaren Maschine die menschliche Arbeitskraft zu
gelten, die nach Belieben zu haben war! War es nicht erklärlich, dass
man Arbeit nicht schonte, um die Maschinen zu nützen! dass man die
Nacht zum Tage machte und die Kinder und Frauen zum industriellen
Dienst presste! Zum erstenmale hatte man eine Technik, die Grosses leisten
konnte, fast unabhängig von der Gunst des Klimas, vom Gange der Jahres-
zeiten, vom Lichte des Tages, deren Kräfte sich unabsehbar steigern und
auf dem beschränktesten Räume ins Riesenhafte aufthürmen Hessen. Verstand
und Gewissenhaftigkeit mochten da bethört werden, umsomehr kühner
Unternehmungssinn und rohe Gewinnsucht. Erst die schauerlichen Erfahr-
ungen, bis zu welchen Abgründen von Grausamkeit, bis zu welcher Bedrohung
des Volksthumes die Geringschätzung der Arbeitskraft führen konnte, geboten
auf diesem Wege halt. Die Gesellschaft, die Regierung, die ehrenhaften
Unternehmer kamen zur Besinnung, und Maassregeln wurden in immer
grösserem Umfange ergriffen zum Schutze der Arbeitskraft des Volkes, von
der man einsehen lernte, dass sie trotz allem das wertvollste wie auch
das empfindlichste Besitzthum der Wirtschaft sei. Die überaus rasche
Steigerung der Capitalbestände, die nicht selten soweit gieng, dass die
Eigenthümer um lohnende Verwendung derselben verlegen waren und sich
zu den waghalsigsten Unternehmungen entschlossen, half ihrerseits dazu,
die Wertschätzung des Capitales zu mindern. Ein bemerkenswertes Symptom
hiefür ist darin zu finden, dass man mehr und mehr anfieng, seine Zinsen
und Renten zu besteuern. Man hörte auf zu fürchten, dass man hiedurch
den zarten Trieb der Gapitalansammlung schwächen und die gesammelten
Vorräthe verscheuchen könnte, man fieng im Gegentheile an zu glauben,
hiemit erst die ausdauerndste Steuerquelle erschlossen zu haben.
Die Eabriksgesetzgebung und die sonstigen Maassregeln des Arbeiter-
schutzes im Grossbetriebe hatten guten Erfolg. Es ist ein völliger Irrthum,
wenn auch heute noch das Los der im Grossbetriebe dienenden Arbeiter
schlechthin als das beklagenswerteste bezeichnet wird. So viel Elend in
Bergwerken und Fabriken eingeschlossen ist, so gehen gerade aus grossen
Betrieben die bestgestellten und tüchtigsten Arbeiter hervor. Hier kann am
meisten für gesunde Arbeitsräume, für Wohlfahrtseinrichtungen aller Art,
für Aufsicht und bei dem günstigen Geschäftsgange gerade so vieler gross-
industrieller Unternehmungen auch für Besserung der Löhne und Arbeits-
bedingungen gethan werden. Der Handwerksmeister, selber auf das schwerste
bedrückt, kann nicht anders als seine Arbeiter noch schwerer bedrücken.
Ausserdem hat der Grossbetrieb, wenn auch ohne Absicht, die Arbeiter
organisiert. Er hat sie durch die neue Weise der Beschäftigung vielfach
intellectuell gehoben, - eine Behauptung, die allerdings auf Widerspruch
10g Wieser.
stossen wird — vor allem aber hat er sie in Massen zusammengebracht
und ihnen damit das Kraftgefühl der Masse gegeben, aus dem sie, die
bisher nur vom Muthe der Verzweiflung angetrieben waren, den höheren
Muth der Hoffnung und Thatkraft gewannen. Sie bildeten Vereine, schulten
sich in denselben für die Massenbewegung und wurden durch dieselben
rührig und mächtig. Der kühne Gedanke konnte entstehen, dass den Arbeiter-
heeren kein Gegner gewachsen, dass sie die Erben der Zukunft, und dass
jeder neue Sieg der Grossindustrie über die kleinen Meister ein Pyrrhussieg
wäre, der nur die Macht der Arbeiterschaft steigerte. Wer da glaubt, dass
die sociale Bewegung von heute zunimmt, weil die Leiden der Arbeiter
zunehmen, der sieht die Welt schlecht, in der er lebt. Was sie antreibt,
ist vor allem das erhöhte Kraftgefühl, zuerst lange im hartnäckigsten
Widerstände und nun auch schon in allmählichen Angriffen erprobt, und es
ist der Grossbetrieb, dem sie dieses Gefühl verdanken.
Ich glaube, dass der Grossbetrieb die Organisation der Volkswirtschaft
noch in einem andern höheren Sinne vervollkommnet hat. Unsere Volkswirtschaft
ist nicht genau das, was der Name besagt. Sie ist nicht die Wirtschaft des
Volkes, sie ist vielmehr die der einzelnen Volksbürger, die jedoch bei der Produc-
tion durch Arbeitsth eilung, Concurrenz und eine Keihe anderer ebenso wichtiger
Einflüsse mit zwingender Macht zusammengehalten werden, freilich, da die
volle Einheit fehlt, nur mit zahlreichen Eeibungen, Lücken, Ungleichmässig-
keiten, üebergriffen und Eückschlägen. In diese Unordnung Ordnung zu
bringen, gerade das ist ja eine der Hoffnungen des Socialismus. Nun, jeder
Grossbetrieb hat für seinen Bereich, was das Technische anbelangt, bereits
Ordnung geschaffen. Innerhalb jeder ausgedehnten Fabrik wird die Arbeits-
theilung bis aufs äusserste ausgenützt, ohne irgendwie übertrieben zu werden,
denn alle Theilarbeiten werden in ihren Maassen fort und fort gegenein-
ander abgewogen. Ebenso wirkt die Concurrenz — die ein Arbeiter dem
anderen, der bessere Arbeiter zumal dem schlechteren bereitet — ohne doch
technisch ausarten zu können. Man verlangt, dass die Arbeit ein Amt sein
solle, also mit einein bestimmten Arbeitsauftrag für jeden zur Arbeit Be-
stellten und mit gesicherter Stellung für ihn; die Socialisten glauben ihren
Staat daraufhin einrichten zu können. Ist es aber nicht deutlich, dass der
Weg des Grossbetriebes ebendahin führt und schon ein ansehnliches Stück
weit geführt hat? Wo sich die kleinen Unternehmer wechselseitig befehden
und gefährden, sichert der Grossbetrieb heute schon wenigstens den höheren
Augestellten, den Beamten, die Dienstesposten. Auch für die geringeren
Arbeiter sind zahlreiche Vorsorgen getroffen, und ungleich mehr würden
zweifelsohne getroffen sein, wenn die Grossunternehmungen nach aussenhin
selber gesicherter wären. Die Lage des Marktes wechselt, und damit wechselt
noth wendigerweise die Zaiü ihrer Angestellten, denen bindende Zusicherun-
gen daher noch nicht mit genügendem Vertrauen gemacht werden können,
um wie vieles auch der Grossbetrieb hiefür günstiger disponiert ist als der
mittlere und kleine, bei dem die Scliwankungen der Arbeiterzahl vergleichs-
weise viel tiefer eingreifen. Aber selbst die Marktlage wird vom Grossbe-
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 109
triebe doch eher beherrscht; der Grossbetrieb hatin der modernen Volkswirtschaft
zuerst und vielfach mit grossem Erfolge in seinen Cartellen ein Mittel ge-
funden, um zum mindesten dem üebermaasse der Concurrenz zu begegnen.
So viel sich auch wider die Cartelle sagen lässt, sie sind jedenfalls ein
bemerkenswertes Zeichen für die organisatorische Kraft, die die grossen Unter-
nehmungen im Chaos der Volkswirtschaft bewähren, und die hierin, aus
dem Umkreise der Fabriksmauern heraustretend, in die Ferne und ins
Grosse wirkt. Das wirtschaftliche Gleichgewicht der europäischen Staaten
verschiebt sich heute, wie die industrielle Entwickelung vom Westen aus
nach und nach den Osten ergreift und concurrenzfähig macht. In nicht
minderem Maasse verschiebt sich das Gleichgewicht der Weltwirtschaft durch
die neuen Länder, die das „europäische Concert" des Vormärz sprengen.
Das macht die gewaltigsten Erschütterungen des Warenmarktes und schliess-
lich auch des Arbeitsmarktes, hier ist die wahre wenn auch entfernte
Quelle so manchen Uebels, das die öffentliche Stimme ungerechterweise
solchen Einrichtungen zuschreibt, die näher im allgemeinen Gesichtskreise
liegen. Wäre dieser ungeheure Process abgespielt, wäre der Vorsprung der
altbesiedelten und cultivierten Länder von den jüngeren und zurückgeblie-
benen vollends eingeholt und das wirtschaftliche Gleichgewicht der Welt
im Sinne der gegebenen Vertheilung der Bodenschätze und der nationalen
Urkräfte hergestellt, dann erst könnte auch der Grossbetrieb seine organi-
satorischen Keime vollends ausbilden und insbesondere seinen Arbeitern
Arbeit und Verdienst zusichern, ohne durch Eückkehr zu zünftischem Zwang
oder sonstwie die modernen Forderungen freien Verkehrs zu verletzen. Die-
jenigen Grossunternehniungen, die, wie z. B. die Eisenbahnen vielfach,
durch ihre Eigenart eine Art monopolistischer Sicherung vor den Störungen
der Concurrenz empfiengen, haben alle längst, wenn vielleicht auch noch
nicht in ganz genügendem Maasse, ihre Arbeiter gesichert, die sie als „Diener"
bestellen mit Hechten, welche sich den Beamtenrechten annähern.
Wo die Volkswirtschaft nur aus kleinen Betrieben besteht, ist ihr
Körper gleichsam durch eine Unzahl fast atomistisch kleiner Einzelzellen
gebildet, die, mit einem im Grunde gesunden, aber doch viel zu wenig
geschärften Listincte einander anziehend und abstossend, sich zu einem unvoll-
kommenen Ganzen vereinigen. Der Grossbetrieb bedeutet ein umfangreicheres
und höher organisiertes Zellengebilde, in welchem die individuellen Instincte
dennoch nicht verkümmert sind, so dass der Zusammenschluss des Ganzen
ungleich vollkommener geräth. Manche Techniker sind der Ansicht, dass es
möglich oder wahrscheinlich ist, Kleinkraftmaschinen zu construieren, die
den maschinellen Vorrang des Grossbetriebes aufheben. Gelänge das, und
würden die grossen Unternehmungen infolge dessen oder infolge anderer
technischer Wendungen sich wieder in kleinere und kleinste zersetzen,
dann würden wir erst mit einemmale eine Gefahr darin sehen, zu diesen
einfachsten socialen Bildungen zurückzukehren. Könnte man in Deutschland
den Gedanken fassen, aus der Ordnung der Grosstaaten wieder in die alte
Kleinstaaterei zurückzufallen ? Gewiss müsste man, wenn die Technik sich so
IIQ Wieser.
wendete, alles aufbieten, um die organisatorischen Errungenschaften des
grossen Betriebes für den neuen Zustand zu retten und auszunützen.
Mit alledem soll dem Grossbetriebe so wie er ist nicht schlechthin
das Wort geredet werden. Er hat so wie er ist noch andere Wirkungen,
die mit Recht als ungeheuere Uebel empfunden werden. Er zersetzt den
wirtschaftlichen Mittelstand und schafft den Gregensatz von capitalistischen
Unternehmern und Lohnarbeitern. Während das Grosacapital in seinen An-
fängen dem physischen Befinden des Arbeiters gefährlicher war als später
und heute, so ist umgekehrt seine Kraft, die wirtschaftliche Selbständig-
keit der andern Classen zu brechen, immer gestiegen und heute am
grössten. Sein Machtkreis hat sich immer mehr ausgedehnt, immer mehr
Existenzen sind ihm unterthan worden. Das ist aber noch nicht alles.
Früher sind gar viele Unternehmer durch ihr Genie aus kleinen Anfängen
reich geworden, man hat berechnet, dass die industriellen Reich thümer
grossentheils so entstanden sind. Heute ist dem aufstrebenden capitallosen
Anfänger durch die riesigen Summen, die bereits industriell investiert sind,
der Weg ganz anders verlegt, er wird die Concurrenz des mittelmässig
begabten Erben eines alten Grossgeschäftes nur schwer besiegen können.
Wurden vordem häufig genug grosse Anstalten durch nichts anderes wie
die Begabung ihrer Urheber begründet, so beginnt jetzt, in der Zeit der
ausgebildeten Kunst der Börsengründungen, die grosse Actiengesellschaft
ihren Lebenslauf einfach damit, dass man das Capital zusammenbringt.
Die teQhnischen Probleme sind gegeben, ebenso die technischen Lösungen,
Ingenieure und commerzielle Leiter von ausgezeichneter Schulung sind
zu kaufen gerade wie die Dienste des untergeordneten Personales, das
einzige, was in Frage steht, ist oft nur das genügende Capital, Gelingt es
dasselbe aufzubringen, so ist alles gethan. Es zwingt in seinen Dienst wie
die gemeine ausführende, so auch die leitende geistige Arbeit. Wer Geld
besitzt, ist Eisenbahnunternehmer, Kohlengewerke, Maschinenfabrikant,
Baumwollspinner oder welche Art Grossindustrieller er eben sein will, und
all dies, ohne irgend etwas davon zu verstehen noch einen Finger dazu
zu rühren. Wie seit jeher schon den Grundbesitz, erbt man heute auch
das Gewerbe, das bisher in den germanischen Ländern immer dem vor-
behalten war, der sich ihm mit seiner Person und seiner Arbeit widmete.
Wer auf solche Weise Actionär wird, verdient freilich fast niemals den
vollen Gewerbsgewinn, weil er die Actie verhältnismässig theuer bezahlen
muss, indes kommt der Vortheil aus seiner erhöhten Einzahlung doch nicht
einem Gewerbsmann, sondern wiederum einen Geldmann, dem Bankier, zu-
gute, dessen wirtschaftliche Leistung darin besteht, das Capital zusammen-
zubringen und bis zur vollen Placierung der Actien aus seinen Geschäfts-
mitteln, die keineswegs immer seine eigenen Mittel sind, vorzuschiessen.
Die Zersetzung des gewerblichen Mittelstandes durch das Grosscapital
gehört zu den beklagenswertesten Erscheinungen unserer Zeit; für mein
Urtheil mit aus dem Grunde, weil wiederum eines der volksthümlichen
Elemente des Volkes in die Tiefe hinabgedrängt wird, in das Massengrab,
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. Hl
in dem das mittelalterliche Volk modert. Allerdings bedeutet dieser
Process der Zersetzung des gewerblichen Mittelstandes nicht schlechthin
die Zersetzung des Mittelstandes überhaupt. Der Meister verschwindet, aber
an seine Stelle treten Directoren, Ingenieure, Buchhalter und andere höhere
Angestellte des Grossbetriebes, die durch die Kraft der thatsächlichen
Geschäftsführung das ersetzen was ihnen an juristischer Selbständigkeit
abgeht. Auch ist die Gelegenheit, Vermögen in Actien anzulegen, nicht'
bloss für den Grosscapitalisten da, sondern auch für den mittleren und
kleineren Wirtschafter, und diese Stände haben durch Benützung derselben
an Stärke sehr gewonnen. Indes bleibt die Bedrängnis einer Classe, zumal
einer so zahlreichen wie die der Handwerker, immer ein schweres üebel
nicht nur für die Betroffenen selbst sondern auch für die Gesammtheit,
innerhalb deren ein solches Leiden niemals localisiert werden kann. Vom
Meister aus ergreift es auch den Gesellen und die Lehrlinge, von seinem
ersten Sitze, dem materiellen Befinden, ergTeift es, im zwingenden Gefolge
des Elends, den intellectuellen und moralischen Zustand. „Eine vorüber-
gehende Erscheinung", sagt vielleicht der, der den technischen Fortschritt
über alles schätzt und über ihm alles andere übersieht, „eine Erscheinung
die vorübergegangen sein wird, sobald die der Vernichtung geweihten
Handwerke endgiltig verschwunden sein werden." Aber nicht einmal dieser
rauhe Trost ist wahr, denn die Krankheit ist zu schwer als dass ihre
Merkmale jemals völlig vertilg-t, als dass das Gift, das sie dem volks-
wirtschaftlichen Körper einimpft, jemals völlig aufgesogen werden könnte.
Neben dem Schicksale der durch den Grossbetrieb geschädigten
Handwerker ist noch das der Lohnarbeiter in Erwägung zu ziehen, die
dauernd für alle Zukunft dem Grossbetrieb angehören sollen. Es bedarf
keines Beweises, wie wünschenswert es ist, sie aus ihrer hoffnungslos ab-
hängigen Stellung zu erheben und ihnen Antheil an den Betriebsgewin-
nen zu geben. Man braucht nur zu denken, wenn wir uns einer solchen
Rechtsordnung seit jeher erfreut hätten und wenn der industrielle Um-
schwung des Jahrhunderts infolge dessen leicht, ohne Krise vor sich
gegangen wäre und seine besten Früchte statt einigen Bevorzugten un-
mittelbar der Masse der Arbeiter gebracht hätte — welches materielle
Wohlsein, welche Reinheit der Sitte, welche Sicherheit des Rechtes wäre
nicht unter uns! Statt dessen haben wir den Gegensatz der wirtschaft-
lichen Classen und mit ihm den socialen Krieg. Wenn es wenigstens für die
Zukunft gelänge, eine Untern ehmungsform, eine Rechtsform für den Gross-
betrieb zu finden, durch welche seine technischen Gewinne unter alle von
ihm Betroffenen und ihm Angehörigen billig vertheilt würden, so wäre
dies eine der wertvollsten socialwirtschaftlichen Errungenschaften. Der
Erfindungsgeist wird noch viele technische Umwälzungen aussinnen und jede,
die sachlich nennenswerte Vortheile bietet, wird gewiss, allem andern zum
Trotz, auch durchgeführt werden. Wie das Karrenfuhrwerk durch die Eisen-
bahn, würde die Eisenbahn durch das Luftschiff erbarmungslos verdrängt
werden, falls dieses grossartiger und billiger sollte betrieben werden können.
212 Wieser.
Nicht leicht wird man eine Aufgabe finden, an die die grösste Mühe des
Nachdenkens mit mehr Fug gewendet würde als diese, neue Rechtsformen
des Grossbetriebes zu erdenken. Der geringe Erfolg der bisherigen Ver-
suche darf von erneuten Anstrengungen nicht abschrecken. Mindestens die-
jenige Hartnäckigkeit, mit welcher die Techniker die Idee des Luftschiffes
auszubilden suchen, muss von den Oekonomen in dieser um so viel näher
liegenden Sache bewiesen werden. Es ist zwar nach allen äusseren und
inneren Umständen innerhalb absehbarer Zeit ganz unwahrscheinlich, für die
Masse des Volkes völlige Gleichheit in Besitz und Bildung mit den best-
gestellten Classen zu erreichen, aber ein anderer Wunsch darf nicht auf-
gegeben werden, dessen Erfüllung dem Menschenfreunde genügen könnte,
nämlich der, dass die Masse des Volkes, das „Volk", statt wie heute
so oft durch die Arbeit verkrüppelt und entwürdigt zu werden, wiederum
wie sonst in den glücklichen Zeiten durch seine Arbeit an Leib und
Seele gesund und zum unerschöpflichen Eückhalt der nationalen Kraft
gemacht werde. %
IIL
Neue Rechtsformen für den Grossbetrieb sind nicht leicht zu finden.
Man hat den Emancipationskampf der Fabriksarbeiter des öfteren
mit der Bewegung verglichen, die zur Bauernemancipation führte, und
hiebei den Schluss gezogen, dass, wie diese mit der Ablösung der grund-
herrlichen Rechte und dem Uebergange des Landes in vollen bäuerlichen
Besitz endete, so auch jener damit enden werde, dass die Arbeiter das volle
Eigenthum der Fabriken erwerben und die Rechte der heutigen capitalistischen
Eigenthümer abgelöst oder — aufgehoben werden.
'^ Ein ganz leidenschaftsloser Beobachter wird wohl zu einem anderen
Urtheil gelangen müssen.
Nur nebenbei soll vorläufig bemerkt werden, dass man dem müssigen
Grundeigenthümer höchstens den unthätigen capitalistischen Actionär zur
Seite stellen könnte, der im Productionsprocesse, so wie jener, die Rolle
einer stummen Person spielt, die nimmt, ohne zu handeln. Der thätige
Unternehmer dagegen, die Oberbeamten, die Mitglieder des technischen und
kaufmännischen Personales stehen auf der andern Seite, mit den Lohn-
arbeitern zusammen, sie bilden mit diesen den Körper des Betriebes, der
ohne sie nicht vollständig wäre. Sie können von keiner Betriebsverfassung,
selbst von der revolutionärsten nicht, völlig ausgeschlossen werden. Ein
Gedanke, auf den wir noch genauer zurückkommen werden, der uns aber
vom Anfang an den Gang unseres Nachdenkens dahin erhellt, dass alle
Rechte, die die „Handarbeiter" aus ihrer Thätigkeit im Betriebe auf das
Eigenthum des Betriebes ableiten mögen, ihnen jedenfalls nur in Gemein-
samkeit mit den übrigen, den „geistigen" Arbeitern, zu denen vor allem
der tüchtige Unternehmer selber gehört, zukommen können.
An dieser Stelle ist es zunächst eine andere Thatsache, die unsere
Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Sobald der Grundherr abgefunden war,
Grossbetrieb und Productiygenossenschaften. 113
blieb der Bauer als einziger Anwärter auf das Eigenthum des Landes zurück.
Seine Rechte zu ordnen, bot keine Schwierigkeit, er wurde eben voller
Eigenthümer im Sinne des alten klaren Eigenthumsbegriffes. Welche rechtliche
Sachlage bietet sich uns aber, wenn wir die Rechte des Fabrikanten abgelöst
denken? Wer tritt da als sein Nachfolger ein? Es ist keine genügende
Antwort, zu sagen, dass die Gesammtheit der Arbeiter — mit Einschluss
der leitenden Beamten oder auch ohne sie — das Erbe antreten solle, denn
sofort erhebt sich die Frage, wie diese Gesammtheit rechtlich geordnet
werden könnte. Diese weitere Frage kann vielleicht einmal später auf Grund
weiterer Entwickelungen deutlich beantwortet werden, • durch die heutige
Entwickelung ist sie es aber noch nicht. Das Eigenthum des Unternehmers
ist die einzige klare Rechtsform, die wir uns heute für den Fabriksbetrieb
denken können, die genossenschaftlichen Beziehungen der Arbeiterschaft
sind noch nicht so weit ausgereift, dass sie jene Form sprengen und durch
eine neue, fertige, sofort ersetzen könnten. Jeder vorzeitige Versuch, das
Einzeleigenthum der grossen Betriebe durch das genossenschaftliche zu
ersetzen, wird mit derselben Nothwendigkeit zu Verwirrung, Streit, Verlusten
nnd nach alledem zur verschärften Wiedereinsetzung des Einzeleigenthums
führen, wie die Proclamierung der Republik so oft nach mannigfachen
Unordnungen zur Dictatur geführt hat.
Ich habe diesen Vergleich nicht ohne Absicht gemacht. Ich glaube —
und es ist dies ein oft ausgesprochener Gedanke - dass der Kampf um die
Rechtsform des Grossbetriebes ein wirtschaftlicher Verfassungskampf ist,
den politischen Verfassungskämpfen durchaus verwandt. Man kann seine
Natur und die wahrscheinliche Lösung durch kein anderes Mittel besser
verstehen lernen, als durch eine Untersuchung von diesem Gesichtspunkte aus.
Das zunehmende Kraftgefiihl der bürgerlichen Massen hat die Erwägung
aufgebracht, ob das Schicksal der Staaten noch fürderhin durch den Herrscher-
willen' eines Einzigen und der von ihm abhängigen Beamtenschaft entschieden
werden dürfe. Die „Logik der Speculation" schien unausweichlich zu dem
Schlüsse kommen zu müssen, dass tüchtige selbstbewusste Bürger sich selber
zu regieren hätten. Von den vielen Versuchen demokratischer Republiken
sind aber die meisten misslungen. Die ., Logik der Thatsachen'' hat die
Monarchien zumeist erhalten und die Herrscherrechte nur. mehr oder weniger,
im Sinne der modernen Verfassungen durch Parlamente und bürgerliche
Grundrechte beschränkt. X
Der Einzelunternehiüer ist der absolute König des Betriebes, die
capitalistische Gesellsehaftsunternehmung entspricht etwa einer aristokratischen
Verfassung, wie, um den Vergleich zu ergänzen, das mittelalterliche Gewerbe
patriarchalisch war. Wo die Arbeiter die Productivgenossenschaft veriangen,
veriangen sie die demokratisch-republikanische Regelung des Betriebes.
Arbeiterschutzgesetze belassen den Unternehmer als Herrn und genügen
sich darin, wie Staatsgrundgesetze die nothwendigsten Freiheiten und
Ansprüche des arbeitenden Unterthanen zu gewährieisten. Selbst das Amt
des Fabriksinspectors hat seine Analogie im alten Volkstribunate, nur dass
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. I. Heft. S
114 Wieser.
heute dessen Veto fehlt, während sein kühner aufopfernder Geist manchen
seiner modernen Nachfolger befeuert und geehrt hat ; noch näher steht dem
Tribunen, wenigstens was das Veto anlangt, in England thatsächlich, wenn
auch nicht rechtlich, der Gewerkvereins-Secretär. Wie denn auch die
Arbeitseinstellung die „secessio in montem sacrum" ist, die Abstinenz-
erklärung der Plebs. Arbeitercassen sind Formen der Selbstverwaltung —
Schiedsgerichte, Einigungskammern, Arbeiterausschüsse endlich sind Anfänge
ständischer oder parlamentarischer Vertretung, constitutioneller Beschränkung.
Gleich den politischen Verfassungskämpfen sind auch die wirtschaft-
lichen durch das zunehmende Kraftgefühl der Masstn entzündet, das hier
wie dort seine Nahrung aus den zahlreichen Thatsachen empfängt, welche
im modernen Leben den socialen Schwerpunkt von den .oberen" Schichten
der Gesellschaft mehr und mehr nach abwärts rücken. Das Aufstreben der
Massen ist das grösste gesellschaftliche Ereignis der Neuzeit, und damit ist
das Problem aufgetaucht wie die Massen zu regieren haben. Ein revolutionärer
Macchiavell würde statt des „principe" ein Buch über das Volk -il popolo"
schreiben. Darum ist die Frage, wie der Grossbetrieb zugunsten der Massen
zn organisieren wäre, so recht eine Frage unserer Zeit, die den Grossbetrieb
zugleich mit so vielen andern Erscheinungen grossartigen Zusammenlebens
geschaffen und der Arbeiterschaft, gleich der Bürgerschaft im politischen
Leben den Muth eingegeben hat, Antheil am ßegimente zu fordern. Möglich,
dass der revolutionär-republikanische Sturm und Drang auch hier in den
ruhigen Hafen der constitutionellen Monarchie leiten wird. Vermöchte nicht
eine solche Erwartung dem Ausblick in die wirtschaftliche Zukunft und
der Beobachtung der gegenwärtigen Wirren gar viel von den Schrecknissen
zu nehmen, die sie für den ruheliebenden Bürger ohne Zweifel haben ?
Von all den neuen Verfassungsformen, die die Gährung unserer Zeit
für den Grossbetrieb in Vorschlag gebracht hat, möchte ich in diesem
Aufsatze nur eine einzige, die Productivgenossenschaft, besprechen. Ich
thue es keineswegs aus dem Grunde, weil ich diese für die allein selig-
machende oder auch nur für die nächstgebotene halte, ich thue es nur
deshalb, weil ich der Meinung bin, dass in einer so dringenden Angelegen-
heit nichts ungeprüft bleiben dürfe, und weil ich die Form, die die
Productivgenossenschaft gerade in Deutschland und Oesterreich, man kann
sagen auf den ersten Wurf der Idee hin, angenommen hat, für eine nicht
genügend geläuterte halte, um merklichen Erfolg zu erreichen. Ich schreibe,
wie ich glaube mit gutem Gewissen sagen zu können, nicht als blinder
Schwärmer. Wer über die Productivgenossenschaft nachdenkt und sich für
sie erklärt, muss beschämt und entmuthigt sein, wenn er findet, dass alle
seine Gedanken schon gedacht wurden und durch die nüchterne Wirklich-
keit auch wieder entkräftet scheinen. Vielleicht nimmt der eine oder der
andere der skeptischen Leser, denen dieser Aufsatz in die Hand kommt,
an demselben weniger Anstoss, wenn ihm der Verfasser die aufrichtige
Versicherung ertheilt, dass er selbst erst durch alle Grade des Zweifels
hindurchgegangen ist, bis er ihn zu veröffentlichen sich entschloss. Man
Grossbetrieb and Productivgenossenschaften. 115
darf nicht vergessen, dass gerade die Geschichte des Associationswesens
und besonders auch der Genossenschaft wie an den bittersten Täuschungen
so auch an überraschenden, an das Wunderbare grenzenden Erfolgen reich ist.
Wer weiss, ob nicht noch manche gute Ader im tauben Erz verborgen ist !
IV.
Die „Logik der Speculation" hat an der Idee, dass die Arbeiter den
Betrieb selbst in die Hand nehmen sollen, anfänglich gar keine sonderlichen
Schwierigkeiten gefunden: ist die Einzelunternehmung im Grossbetriebe
eine gesellschaftliche Gefahr, nun, so soll eben die genossenschaftliche
Unternehmung, die Productivgenossenschaft an ihre Stelle treten — nichts
schien einfacher als dieser Gedanke. So ist die Productivgenossenschaft
entstanden, nicht aus dem Leben heraus, sondern durch „ Construction %
als Ergebnis eines frommen Wunsches. Vielleicht ist sie eben deshalb ein
frommer Wunsch geblieben. Die „Logik der Thatsachen'' scheint zu er-
weisen, dass sie nur ein wenig lebensfähiges Gebilde sei. Inmitten der
lebhaften Entwickelung des deutschen und auch des österreichischen Ge-
nossenschaftswesens sind es gerade die gewerblichen Productivgenossen-
schaften — die landwirtschaftlichen haben andere Zwecke und andere
Mittel — die zurückgeblieben, man kann sagen verkümmert sind. Der
letzte Ausweis der Anwaltschaft des deutschen Genossenschaftsverbandes
zählt für den 31. Mai 1891 unter 7608 deutschen Genossenschaften — worunter
3910 Creditgenossenschaften, 984 Consumvereine, 980 landwirtschaftliche
Kohstoffgenossenschaften und 974 landwirtschaftliche Productivgenossen-
schaften — nur 151 gewerbliche Productivgenossenschaften auf. Selbst ange-
nommen, dass dieselben alle echte und vollwertige Productivgenossenschaften
seien, so zählen sie im Meere der Volkswirtschaft doch nur wie einige Tropfen.
Vollends im Grossbetriebe haben sie so gut wie gar nichts zu bedeuten.
Die Genossenschaft ist überhaupt die Associationsform für den „kleinen
Mann". Aus vielen kleinen Kräften soll, nach dem Ausspruche von Schulze-
Delitzsch, eine Grosskraft gebildet werden. Durch Vereinigung vieler will
der Consumverein dem kleinen Consumenten den Vortheil unmittelbaren
und grossen Einkaufs der häuslichen Bedarfsartikel gewinnen, ähnlich will
der Creditverein dem kleinen Geschäftsmann einen Credit gewinnen, der
sich dem annähert wie ihn der grosse hat. Rohstoffgenossenschaften und
die verwandten Formen wollen ihm bei einzelnen Operationen im Betriebe
die Vortheile der grossen Unternehmung sichern, beim Einkauf des Roh-
stoffes, beim Absätze u. s. f. Alle diese Genossenschaften sollen dem
Handwerker, überhaupt dem kleinen Producenten dienen, der sich gegen-
über der Concurrenz der Grossunternehmung im Kleinbetrieb behaupten
Avill. die Productivgenossenschaft aber soll es ihm ermöglichen, das
Handwerk aufzugeben, das gegenüber der überwältigenden Concurrenz als
solches nicht mehr bestehen kann, und an seiner Stelle mit Genossen, die
in derselben Lage sind, auf gemeinsame Rechnung einen Grossbetrieb zu
führen. Jene andern (zu denen auch die landwirtschaftliche Productiv-
216 Wieser.
genossenschaft gehört) sind Hilfsgenossen Schäften für den kleineren Erwerb,
diese aber will grosse Erwerbsunternehmungen schaifen.
Wenn Schulze-Delitzsch von der gewerblichen Productivgenossen-
schaft einstens gesagt hatte: „In ihr begrüssen wir den Gipfelpunkt des Systems
und sie hatten wir hauptsächlich im Sinne", so hat ihm der
Ausgang bisher wenigstens nicht Eecht gegeben. Die „Vollgenossenschaft''
— wie man dieselbe wohl mit Kecht nennen kann — ist -durch die blossen
„ Hilfsgenossenschaften " fast ganz in den Hintergrund gedrängt worden. Es
ist daher erklärlich, wenn heute die Freunde des Genossenschaftswesens
in Deutschland und Oesterreich hauptsächlich, ja eigentlich ausschliesslich
die letzteren „im Sinne haben". So unbestreitbar es aber ist, dass die
Hilfsgenossenschaften jede Förderung verdienen, so muss man doch wohl
sagen, dass man in einer Beziehung in ihrer Förderung zu weit gegangen
ist. Man hat die genossenschaftlichen Einrichtungen, man hat die genossen-
schaftliche Gesetzgebung fast durchaus aus ihrem Gesichtskreise geregelt
und dadurch die Entwickelung der Vollgenossenschaft gehemmt, die wegen
ihres ganz eigenen Zweckes ganz eigene Erfordernisse hat. Die genossenschaft-
liche Literatur und Gesetzgebung ist heute fast durchaus von der Voraus-
setzung beherrscht, dass die Genossenschaft dem „kleinen Manne" dadurch
dienen solle, dass sie den kleinen Betrieb zu erhalten sucht, man hat
so gut wie vergessen, dass die Productivgenossenschaft das Gegentheil will.
Vielleicht ist bezüglich ihrer, weil man sie thatsächlich fast immer nur
im engsten Eahmen, mit den geringsten Mitteln hat arbeiten sehen, die
Meinung unwillkürlich allgemein geworden, dass sie gleichfalls nur hiefür
bestimmt sei. Man hat sich wohl ganz und gar daran gewöhnt, den
Grossbetrieb als die Domäne der capitalreichen Einzel- oder Actienunter-
nehmung zu betrachten.
Die Wahrheit ist aber die, dass die Productivgenossenschaft entweder
ihren Platz im Grossbetriebe finden muss, oder aber dass man sie gar
nicht braucht. Es ist gar kein Bedürfnis darnach vorhanden, dass das
Handwerk genossenschaftlich ausgeübt, dass das Lohnverhältnis im Hand-
werk abgeschafft werde, dieses Bedürfnis ist nur in der Grossunternehmung
vorhanden oder wenigstens verständlich. Es ist gar nicht einzusehen, wie
dem Handwerk hiedurch irgendwie aufgeholfen werden könnte. Ein Gesetz,
das auf kleine Productivgenossenschaften zugeschnitten ist. ist so verkehrt
als ein Gesetz wäre, das auf kleine Consumvereine zugeschnitten wäre. Ein
solches Gesetz verstösst direct wider den genossenschaftlichen Grundge-
danken, der da ist, dem gemeinsamen Zweck, welcher er eben sei, durch
Vereinigung selbst der unbedeutendsten Elemente die Macht der bedeu-
tendsten zu geben.
V.
Der geringe Erfolg der demokratisch-republikanischen Productivgenos-
senschaft ist umso befremdlicher, als ihre finanz- aristokratische Schwester-
form, die Actiengesellschaft, gleichzeitig sich im Triumphe entwickelt hat.
Grossbetrieb und Produetivgenossenschaften. 117
„Das Geld ist es, was den Unterschied macht", wird wohl mancher Leser
sofort ausrufen, ,,die eine gedeiht, weil sie von Haus aus reich ist, die
andere verkümmert, weil sie ohne Mittel beginnt''. Ich erlaube mir dies zu
bestreiten, und will damit nicht im mindesten etwas Paradoxes sagen. Das
Geld kann einen so grossen Unterschied nicht ausmachen, es ist trotz allem
der gesunden Arbeit nicht so weit überlegen, die immer noch die erste und
fruchtbarste Kraft in der Wirtschaft ist. Niemand wird bestreiten, dass die
Actiengesellschaft, wenn nicht ihr Princip lebensfähig wäre, trotz der reich-
sten Mittel zerfallen müsste. Der Fond, den sie mitbringt, hilft ihr nur
über den Anfang; dass sie dann weiter gedeiht, verdankt sie sich selbst.
Der Mangel an den nöthigen Fonds kann umgekehrt freilich manches sonst,
lebensfähige Unternehmen im Keime ertödten, keine Erfahrung ist im wirt-
schaftlichen Leben häufiger, aber der Productivgenossenschaft so wie sie
sich bisher versucht hat, müssen noch andere schwerere constitutive Mängel
anhaften, sonst müssten die Erfahrungen mit ihr doch günstigere sein.
Manche Productivgenossenschaft erfreute sich der Pathenschaft wohlwollender
Gönner, die sie unter reichen Geschenken aus der Taufe hoben, und doch
konnte sie sich nicht recht erhalten. Was aber noch deutlicher spricht ist
Folgendes: fort und fort sind zahlreiche Einzelunternehmer, die mit nichts
begonnen hatten, heraufgekommen, zu Ehren und Eeichthum — warum
begegnen wir neben diesen Lebensläufen nicht ebenso häufig, ja häufiger
der aufsteigenden Entwicklung genossenschaftlicher Unternehmungen ? Warum
ist die Wirtschaftsgeschichte an derartigen Beispielen so arm? Sollten doch
mehrere im Bunde das umso eher erreichen können was dem einzelnen oft
gelungen ist! Und nicht blosb dem einzelnen gelungen ist, sondern in der
That auch oft genug einem Bunde von mehreren, von zweien oder dreien,
die etwa eine offene Handelsgesellschaft oder in ähnlicher Form ein Com-
pagniegeschäft bildeten. Wenn gerade die Productivgenossenschaft weitaus
am häufigsten Schiffbruch leidet, so ist der Beweis wohl geliefert, dass die
Schuld an ihr selber, an ihrer Idee und Verfassung liegen muss. Jeder
Zweifel hierüber muss vollends verschwinden, wenn man zum Schlüsse noch
erwägt, dass andere genossenschaftliche Verbindungen der mittellosen
Classen gleichwohl, trotz desselben anfänglichen Geldmangels, in glänzend-
ster Weise gediehen. Wodurch sind die Vorschusscassen von nichts zu
Millionen gekommen? Warum konnten die genossenschaftlichen Betriebs-
unternehmungen nicht den gleich grossen Erfolg haben?
Auf eine der wirksamsten Ursachen haben wir früher bereits hinge-
wiesen. Die Handarbeiter wollen die Productivgenossenschaft allein machen,
ohne Mitwirkung ihrer leitenden „geistigen" Mitarbeiter. Sie sind nur ein
Rumpfparlament und wollen ein Vollparlament sein. Man- kann die Bemer-
kung nicht unterdrücken, dass es verwunderlich ist, dass die beiden Par-
teien sich, man kann sagen niemals, zusammengefunden haben. Was wäre
natürlicher als das Bündnis der gesammten Arbeit gegenüber dem Capital?
Die Interessen aller, die in der Wirtschaft und der Gesellschaft ihre per-
sönliche Kraft einsetzen, sind in Wahrheit solidarisch. Jedenfalls sind die
llg Wieser.
Umsturzpläne der Lohnarbeiter eine Ursache, die ihnen bisher die Beihilfe
der übrigen gesellschaftlichen Mitarbeiter entziehen musste. Aber noch eine
andere, wie ich glaube, viel wirksamere Ursache trennt die beiden Flügel
des Arbeiterlieeres. Zwischen ihnen liegt die fast unübersteigliche Kluft,
die den -gebildeten" Theil der Nation vom ^ Volke- trennt und deren
unausfüUbare Tiefe durch keine andere Erfahrung so deutlich wird. Zwischen
denen, die durch die höheren Schulen gegangen sind und die Lebensge-
wohnheiten der Bildung angenommen haben — ich schliesse hier die all-
täglichsten Verrichtungen ein — und denen, die als ^.Volk" zurückgeblieben
sind, ist das Tischtuch zerschnitten. Man kennt sich nicht mehr in beiden
Lagern und wie das immer geschieht, man hasst sich daher, weil man sich
nicht berührt. Es gibt so wenig Heiraten hin und her, wie einst zwischen
Patriciern und Plebejern, wie zwischen Weissen und Schwarzen. Hier kann
man deutlich sehen, wie der sociale Gegensatz auf dem der Bildung auf-
gebaut ist und dass er erst mit ihm verschwinden kann. Wenn gerade die
bestbezahlten Lohnarbeiter bei uns die entschiedensten Socialisten sind,
während viel schlechter gestellte Beamte die bestehende Ordnung verthei-
digen, so kommt dies daher, weil die efsteren noch etwas zu erringen
haben was die letzteren schon besitzen, nämlich Bildung und geläuterte
Lebensbedürfnisse und mehr noch als das, die Achtung, von der sie fühlen,
dass sie ihrem Stande gebüre, die Anerkennung ihrer vollen Menschenwürde
und voller gesellschaftlicher Kechte.
Zu dem ersten grossen Fehler, dass sie den Kreis ihrer Mitglieder zu
enge ziehen, fügen die demokratischen Productivgenossenschaften den zweiten,
dass sie sich eine ungeeignete, eine zu lose Verfassung geben. Die Volks-
wirtschaft ist seit ihren Anfängen von zwei grossen Trieben beherrscht, dem
nach Vereinigung und dem nach Absonderung, oder dem nach Zusammen-
fassen der ganzen gemeinen Kraft und dem nach höchster freier Bethätigung
des Einzelwillens. Die Berufsth eilung ist ein glänzendes Beispiel, wie ver-
eintes Wirken bei völlig gesonderter Bewegung zu erreichen ist; alle
arbeiten sich in die Hände, aber jeder entscheidet sich für sich und rechnet
seinen persönlichen Theil am Verdienste voll heraus. Die heutige Gross-
unternehmung ist ein anderes Beispiel, hunderte, tausende von Arbeitern
und sonstigen Helfern vereinigen sich zu den höchsten technischen Kraft-
anstrengungen, aber dort, wo die individuelle Entscheidung unentbehrlich ist,
sozusagen auf der Commandobrücke, von der aus die gemeinsamen Bewe-
gungen zu leiten sind, bleibt der Einzelwille in ungebrochener Herrschaft.
Aber so sinnreich die heutige Grundanlage des Grossbetriebes auch ist, wird
man doch sagen müssen, dass in ihr das Gleichgewicht der „anziehenden"
und „isolierenden" Kräfte noch nicht ganz gefunden ist, es ist noch zu sehr
die Organisation des Kleinbetriebes nachgeahmt, ohne dass die nöthigen
Anpassungen an die vergrösserten Verhältnisse vorgenommen worden wären.
Um den einen wichtigsten Sonderwillen zu sichern, den des Führers, ist
der Selbständigkeit aller der vielen Untergebenen zu gi'osser Zwang angethan.
Unsere heutige individualistische Ordnung verletzt hierin den Individualismus,
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 119
Aveil sie zu wenige selbständige Unternehmer belässt, während sie das
Dienstverhältnis verallgemeinert und verewigt. Eine neue Eechtsform des
Grossbetriebes muss gefunden, muss wenigstens gesucht werden, um der
Masse der Arbeiter wieder individuellere Wirksamkeit, wieder individuellen
Antheil am Erfolge zu geben. Diese Aufgabe ist es, die in Wahrheit die
Productivgenossenschaft zu lösen hat. Ihrem Namen zum Trotz soll sie
nicht dem Triebe nach Vereinigung, sondern dem nach Selbständigkeit
dienen, indem sie innerhalb der unabweislichen grossen Betriebsvereinigungen
die gemeine Freiheit sichert: statt der Unterordnung aller unter Einen
genossenschaftliches Zusammenwirken. Dieser schöne Grundgedanke wird
aber von der rein demokratischen Form der Productivgenossenschaft über-
trieben. Das Maass der Freiheitsrechte, das verlangt wird, ist zu gross. Um
die gemeine Freiheit zu sichern, haben manche Statuten die Ansprüche
Einzelner selbst dann verletzt, wenn sie gerade im Interesse des Ganzen
besonders berücksichtigt werden sollten. Das ist dort geschehen, wo man
dem Capital, d. h. den Genossen, die Capital erspart hatten, den Zins ver-
weigern oder kürzen wollte. Das ist auch dort geschehen, wo man sich
nicht entschliessen konnte, den begabteren Genossen, die mehr leisten,
höhere Antheile zuzugestehen. Der demokratischen Productivgenossenschaft,
selbst wo sie sich von solchen Extremen ferne hält, ist aber zum mindesten
stets der eine Mangel eigen, dass sie die Autorität des Befehles angreift,
den sie zwar nicht zu einer gemeinschaftlichen Sache macht aber doch um
seine volle individuelle Schärfe und Entschiedenheit bringt.
Das Vorbild für die Verfassung der demokratischen Genossenschaft
ist der Verein. Das Grundgefühl ist, dass gute Genossen sich eben ver-
tragen sollen. Nun mag das etwas lose Gefüge des Vereines für andere
genossenschaftliche Zwecke genügen, aber für die exacte Vollziehung der
Arbeit in einem wirklich grossen Betriebe genügt es nicht. Hier muss
unumgänglich ein Befehl sein, mit seinen Voraussetzungen: Ueberordnung
und Ansehen, Unterordnung und Gehorsam. Das sind aber Gefühlszustände,
die durch eine noch so herzliche einträchtige Verabredung ebensowenig
geschaffen werden können, als man durch Vereinsbeschluss etwa aus den
Mitgliedern ohneweiters eine militärisch disqiplinirte Truppe, aus dem Vor-
stand einen militärischen Befehlshaber machen könnte. '"^
Die Arbeiter wiederholen hier genau denselben Irrthum, infolge dessen
man auch geglaubt hat, dass Staaten und Staatsverfassungen durch blossen
Vertrag begründet werden könnten. Weil im Einzelverkehre die Menge ge-
wohnt ist, sich der Verabredung zu bedienen, um sich wechselseitig zu
binden, so hält man es für selbstverständlich, dass im Massenverkehre
dasselbe Mittel gelten müsse. Das delphische „Erkenne dich selbst" ist
erst voll verstanden, wenn man es mit dem Zusätze versteht „Und er-
kenne dich, wenji du unter den Anderen bist''. Der Mensch für sich allein
oder mit den Seinigen, überhaupt im engen Kreise, gibt sich nicht als
dasselbe Wesen wie der Mensch in der Menge der Menschen. Grosse
Fürsten, Feldherren, Staatsmänner und Unternehmer wissen in dieser
120 Wieser.
Massenpsychologie genauesten Bescheid, die Wissenschaft noch sehr geringen,
am unberathensten aber ist das öffentliche Urtheil, die gemeine Meinung.
Niemand versteht die Masse so schlecht als die Masse selbst, sie hält sich
für viel einfacher als sie ist.
Einige hauptsächliche Erfordernisse des Massenverkehres lassen sich,
ohne psychologische Kunst und Künstelei, aus der Technik desselben ver-
stehen. Die Verabredung ist eine Sache, die zwischen zweien oder wenigen
natürlich und möglich ist, zwischen hunderten und tausenden gibt es
dagegen kein Gespräch und keine Auseinandersetzung. Sollen von so grossen
Mengen Entschliessungen gefasst werden, so muss ein anderes Auskunfts-
mittel ergriffen werden, selbst dann, wenn die Begabung aller, ihre Fähig-
keit, sich verständig zu entschliessen, ganz gleichwertig wäre, was niemals
der Fall ist. Das Verfahren ist, im einfachsten Verlaufe geschildert, kurz
gesagt das folgende: Einige äussern ihre Meinung und machen die Vor-
schläge, die Menge dagegen wählt aus und stimmt zu. Die alten Staats-
verfassungen und Volksrechte bringen in ihrer ungekünstelten Weise diesen
Vorgang der Massenentscheidung in dem Kechte, das sie der Masse geben,
zum klarsten Ausdruck. Ebenso geht, um ein anderes möglichst entferntes
Beispiel zu geben, die Erzählung jeder tumultuarischen, unvorbereiteten
Massenbewegung — wir haben dieser und der Berichte über sie im Zeit-
alter der Kevolutionen genug — immer auf denselben typischen Vorgang
hinaus, dass nach wüsten Handlungen und verworrenem Geschrei der Menge
einige ehrgeizige oder eifrige, einsichtigere Männer sich zusammenfanden,
um das Nothwendige in Stille zu berathen, dass sie dann mit ihren Vor-
schlägen hervortraten und durchdrangen und die Leitung länger oder kürzer
behielten. Wer die unschlüssige Menge durch einen Einfall überrascht, dem
alle zujubeln, schliesst damit gleichsam den elektrischen Strom, durch den
aus der zerstreuten Vielheit der Einzelnen ein Ganzes wird und die Menge
zum Bewusstsein ihres Daseins und ihrer ungeheuren Kraft gelangt. Er
entbindet das Massengefühl und gewinnt dadurch seiner Idee und seiner
Person ein Ansehen, wie es niemals durch die blosse Verabredung mit
Diesem und Jenem gewonnen werden könnte. In ihm erkennt, achtet oder
fürchtet die Menge sich selbst, jenes machtvolle oder schreckliche Wesen,
dessen sie sonst nicht bewusst wird.
Das geschilderte Verfahren spielt sich nicht im mindesten immer
ganz rein ab. Häufig wird es durch Gewalt oder Betrug gefälscht, häufig
wird es mit Kecht noch weiter abgekürzt und verändert. Statt selber, durch
eigene Zustimmung, die Entscheidung zu fällen, bezeichnet die Masse
diejenige Person, die sie fällen soll. Die technischen Nothwendigkeiten im
Massenverkehre drängen, wenn die Massen gross sind, ohnedies zu solchen
Formen, weil in einem zu grossen Gebiete nicht einmal mehr die Zu-
stimmung aller zu allen Einzelentscheidungen eingeholt werden kann. Die
klarste Weise, die Vertrauensperson zu bezeichnen, ist die Wahl. Auch die
Wahl, wenn sie eine Wahl aus dem Herzen der Menge ist und die über-
wältigende Uebereinstimmung aller in der Person des Gewählten beweist,
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 121
hat von daher die magische Kraft, den, welchen die Einzelnen bezeichnet
haben, über alle Einzelnen emporzuheben, üeber die Wahl hinaus bauen
sich dann noch andere Formen der Bestellung auf, deren nachdrücklichste
dem Fürsten zutheil wird, der seine Würde ohne Auftrag „aus eigenem
Rechte" bekleidet, umso nachdrücklicher, wenn er sein persönliches Recht
aus dem jahrhundertalten, unbestreitbaren seiner Vorfahren ableitet, so dass
das Gefühl der Unterordnung durch keinerlei Erinnerung von früher her
verringert wird. Aus dem Munde des Fürsten, der mit solchem Nachdruck
an die Spitze gestellt ist, wird der Vorschlag zum Gesetz oder Befehl, die
Zustimmung des Volkes wird zum Gehorsam.
In der menschlichen Gesellschaft werden, je nach Anlage und äussern
Umständen, die verschiedenen Formen gemeinsamer Entscheidung ab-
wechselnd gebraucht. Wo immer die Entscheidung einmüthig gefasst und
vollzogen werden muss, dort haben sich diejenigen Formen durchgesetzt,
die den nachdrücklichsten Befehl sichern. So in der Verfassung der
Armeen, so auch in der des Erwerbsbetriebes. Die Autorität des Unter-
nehmers im Betriebe gründet sich theils auf die Macht überkommenen Be-
sitzes, theils auf das Ansehen der Erfahrung und Bildung, theils auf den
Zauber des Talentes und des Glückes. Alle Erwerbsbetriebe sind seit jeher
durch eigentlichen Befehl geleitet worden, die Productivgenossenschaft will
die erste Ausnahme machen.
Man darf sich zugunsten der Verfassung der Productivgenossen-
schaften nicht etwa auf die Actiengesellschaften berufen. Das Statut der-
selben regelt nur die Beziehungen der Eigenthümer, der Actionäre, unter
einander, aber nicht den Arbeitsbetrieb. Bezüglich des letzteren ist nur so
viel festgesetzt, dass die Gesammtheit der Actionäre als solche, weil eben
ein schwerfälliges, zur Folge der Einzelentscheidungen unbrauchbares Wesen,
mit ihm nichts zu schaffen habe: seine Oberleitung fällt Einzelpersonen zu,
die den Arbeitern mit vollster Befehlsmacht gegenübertreten. Auch ist
es besonders lehrreich zu beobachten, wie die durch das Statut rechtlich
ohnedies sehr zugeschnittenen Eiuzelbefugnisse des Actionärs thatsächlich
in noch viel minderem Maasse ausgeübt werden. Die meisten, zumal die
ganz kleinen Actionäre betrachten sich selbst vom Anfang an als zum
Schweigen verurtheilt. Wer sie zur Thätigkeit in ihrem Interesse bewegen
will, muss sie erst mit Mühe anspornen, muss eine Gesellschaft innerhalb
der Gesellschaft bilden. Die Statuten der Actiengesellschaften gehören, wie
unsere modernen geschriebenen Verfassungen, zu den Rechtsformen, von
denen noch mehr auf dem Papiere als verwirklicht ist. Ueberaus be-
zeichnend ist der Vorgang, der bei der Errichtung aller grossen Actien-
unternehmungen thatsächlich eingehalten wird, obwohl das Gesetz ihn nicht
fordert, ja während er eigentlich gegen die im Gesetze festgehaltene reine
gesellschaftliche Idee verstösst. Es ist geradezu der typische Vorgang der
Massenentscheidung: die Gründer schlagen vor, das zeichnende Publicum
stimmt zu. Wäre jemals eine grosse Actiengesellschaft möglich geworden,
wenn man abgewartet hätte, bis alle, die zeichnen wollten, sich im Sinne
122 Wieser.
einer wahrhaften Verabredung geeinigt hätten? So ist der erste gesellschaft-
liche Beschluss gleichbedeutend mit dem Verzichte der grossen Masse der
Vertragschliessenden auf gleichwertigen Antheil an der Meinungsäusserung,
und die folgenden Beschlüsse der Generalversammlungen wiederholen das
Schauspiel. Die ausserordentliche Entwickelung des Actienwesens hängt
gewiss damit zusammen, dass das Publicum, statt auf dem doctrinären
Gesetzesboden zu bleiben, ohne Bedenken, ja wohl mit zu wenig Bedenken
sich in die Umstände fügte und sich mit den Rechten begnügte, deren
Ausübung thatsächlich möglich war. Die Productivgenossenschaft ist bisher
noch zu wenig in den Fluss der Ereignisse gekommen, noch zu wenig vom
Glücke begünstigt gewesen, als dass auch ihre spröden Rechtsformen durcli
die rasche und schmeichelnde Hand des Erfolges umgewandelt worden wären.
Würden in den Productivgenossenschaften nicht bloss die Lohnarbeiter
sondern auch die Betriebsbeamten und die arbeitenden Unternehmer selbst
vereinigt sein, so wären die Bedingungen eines wahrhaften Befehles weit
besser, ja vollkommen gesichert. Die Arbeits disciplin, die durch einen
blossen genossenschaftlichen Beschluss nicht erzeugt werden kann, hätte
einen festen Halt an dem eingewurzelten Gefühle der Ueber- und Unter-
ordnung der socialen Classen. Derselbe Mann, mit demselben Selbst-
vertrauen, würde befehlen, der heute befiehlt, und mit derselben Selbst-
verständlichkeit Avürde ihm gewohntermassen gehorcht; natürlich voraus-
gesetzt, dass sein Ansehen durch eine zweckmässige Verfassung der Ge-
nossenschaft gehalten wäre, die die Masse auf diejenigen Rechte verweist,
welche allein von der Masse wirklich ausgeübt werden können. Der ge-
bildete Mittelstand, der heute seine Interessen durch die Arbeiterschaft
bedroht findet, wäre vielleicht trotz der trennenden socialen Kluft für deren
Sache zu gewinnen, wenn sie ihm seine leitende Stellung an der Spitze
aller Thätigen beliesse.
VI.
Während die Productivgenossenschaft in Deutschland und Oesterreich
fast vergeblich nach Ausbreitung im Grossbetriebe ringt, wird gerade in
diesen Staaten das Gebiet, das sie erobern will, mehr und mehr von einer
andern neuen Bildung besetzt. Ich meine die moderne öffentliche Unter-
nehmung, die Grossbetriebe des Staates und der Gemeinden. Ihre Geschichte
ist ein Stück wirtschaftlich -socialer Geschichte, in dem die Motive der
grossen socialen Bew^egung, wenn auch staatsmännisch gedämpft, gleichfalls
anklingen. Gerade für das Verständnis der Productivgenossenschaft ist die
Verfolgung derselben besonders lehrreich.
Die Theorie hat seit langem den rein privaten Wirtschaftsbetrieben
des Staates den Untergang gewünscht und prophezeit, der sie auch grössten-
theils ereilt hat. Aus ihrer Asche sind jedoch überraschend schnell und
gross die öffentlichen Unternehmungen emporgewachsen, Erwerbsunterneh-
mungen, mit deren Aufgaben hervorragende öffentliche Interessen verbunden
sind und die daher im Staatsbetrieb (bezw. Gemeindebetrieb) geführt werden.
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 123
Allerlei Yoraussagungen entgegen, haben sich die öifentlichen Unterneh-
mungen auch in ihrem rein privaten, wirtschaftlich-technischen Dienste vor-
trefflich bewährt und das Axiom von der Unfähigkeit des Staates zur pri-
vaten Betriebsführung erschüttert. Es ist wahrscheinlich, dass das volle
Anwendungsgebiet der öffentlichen Unternehmung heute noch nicht erschö-
pfend gefunden ist, wenn es auch andererseits so gut wie gewiss ist, dass
es seine bestimmten nicht allzu fernen Grenzen habe, indem es doch nur
bestimmte Aufgaben sind, für die die Wirts chaftsqualitäten des Staates
ausreichen, die mehr nach der Kichtung von Kraft und Ordnung als nach
der der Behendigkeit liegen. Indes ist hier nicht der Platz, um davon
ausführlicher zu sprechen, uns interessiert jetzt nur der socialpolitische
Gehalt der öffentlichen Unternehmung. *l
Durch die öffentliche Unternehmung ist zum erstenmale dem capita-
listischen Grossbetriebe eine gleichgewichtige Kraft gegenübergestellt, der
Glaube an die AlleinheiTschaft der capitalistischen Unternehmung im Gross-
betriebe ist gebrochen worden. Daher ist die Idee der Verstaatlichung volks-
thümlich, sie kommt den Wünschen des Mittelstandes und der Arbeiterclasse
entgegen, die sich in der Abneigung gegen das Grosscapital vereinigen.
Man braucht den Hass gegen das Grosscapital und die ausschweifenden
Hoffnungen, die aus dem Herzen desselben in die Idee der Verstaatlichung
gesetzt werden, nicht zu theilen und kann nichtsdestoweniger den Erfolg
dieser Idee freudig begrüssen. Das Gleichgewicht der Kräfte ist innerhalb
der Volkswirtschaft ebenso wichtig wie im Verhältnisse der Staaten. Es
durfte die stärksten Bedenken hervorrufen, der privaten Grossunternehmung
die sich immer mehr häufenden Betriebe anvertrauen zu müssen, die sich
über das ganze Staatsgebiet einheitlich ausdehnen sollen und die dadurch,
sowie durch die innerliche Wichtigkeit ihrer Aufgaben ihren Träger zu
einer Art öffentlicher Macht emporheben. Gerade wenn man die private
Unternehmung als unentbehrlich betrachtet, weil in ihr die unternehmende
Kraft sich concentriert, wird man mit Befriedigung beobachten, dass eine
Aufgabe von ihr genommen ist, die sie über ihren wahren Wirkungs-
kreis heraushebt, sie auf Abwege führt und der öffentlichen Meinung ge-
hässig macht.
Man kann wohl annehmen, dass der geringe Erfolg der Productiv-
genossenschaften und der grosse der Verstaatlichung mit zu der Wendung
der socialistischen Ideen beigetragen haben, statt der Productivgenossen-
schaft lieber den socialen Staat zu fordern. Die Socialisten wollen den
gesammten Erwerb im Sinne der öffentlichen Unternehmung verstaatlichen,
wegen eines grossen öffentlichen Interesses, das ihrer Meinung nach sich
an die Vollziehung jeder Erwerbsthätigkeit knüpft, nämlich des Interesses,
die Arbeit wider das Capital zu beschützen. Wenn schon eine bloss demo-
kratische Partei, die auf dem Boden des heutigen Wirtschaftsrechtes ver-
bleibt, von der Ausdehnung der Verstaatlichung in einem wahrhaft demo-
kratisch regierten Staate ungemessene Vortheile für die Mittel- und unteren
Classen erhoffen kann, Vortheile, die die von der Productivgenossenschaft
124 Wieser.
erhofften leicht überwiegen können, so ist es umso begreiflicher, wenn die
Gedanken der Socialisten diesen Weg gehen.
Was die Betriebsverfassung der öffentlichen Unternehmung anlangt,
so bringt, völlig im Unterschiede zur Productivgenossenschaft, der Staat in
dieselbe die ganze Kraft des Befehles mit. Seine Werkstätten ferner, in
denen der Capitalist nichts zu reden hat, vereinigen Lohnarbeiter und
Beamte nach der alten Ordnung der Dinge. Eher als alles andere ist in
ihnen zu befürchten, dass das Uebergewicht des Mittelstandes zu gross.
dass die Disciplin überschärft werde. Es ist höchst wahrscheinlich, dass
der socialistische Staat, wenn er je einmal lebendig werden sollte, sich.
zum mindesten im Punkte der Befehlgebung, mehr diesem Vorbilde als
dem der demokratischen Productivgenossenschaft anschliessen werde. Ohne-
dies erschöpfen sich die Kevolutionen immer an den Orundsätzen und den
Führerstellen, bis zum Innern des Dienstes zu treffen ist die Kraft noch
keiner gross genug gewesen.
Werden die Freunde der Productivgenossenschaft aus der Betrachtung
der öffentlichen Unternehmung nicht manche gewichtige Lehre zu ziehen
haben? Sollten die Angehörigen des Mittelstandes und der Arbeiterclasse.
die sich unter der Führung der Kegierung zum (irossbetriebe vereinigt
haben, nicht auch aus eigener Wahl sich zusammenzufinden vermögen ? V^
VIL
Wie haben die Erwecker der Productivgenossenschaft in Deutschland
über deren Einrichtung gedacht? Ihre Aeusserungen bieten mehr als ein
classisches Zeugniss dafür, dass es nicht wider die Grundidee der Productiv-
genossenschaft verstösst, wenn man dieselbe über den Kreis der Lohnarbeiter
hinaus auszudehnen und ihnen einen strengen Befehl zu sichern sucht.
Bei Niemand ist dies Zeugnis deutlicher als bei Y. A. Hub er. Er hat
zu den seltenen Conservativen gehört, welche nicht bloss erhalten, sondern
um zu erhalten auch erneuern und verbessern wollen. Er wollte die Asso-
ciation überhaupt und damit auch die Erwerbsassociation des Grossbetriebes
als eine conservative Einrichtung. Mit Eifer wendete er sich gegen seine
Parteigenossen, welche die Kückkehr zur Zunft oder ähnlichen Corporations-
forraen der gewerblichen Arbeit forderten, die in den modernen Verhältnissen
keinen Boden mehr haben. „Die Association ist die einzige wahrhaft con-
servative Corporation der Gegenwart und Zukunft für die sogenannten
arbeitenden Classen." Was er will, ist „die aristokratische Form der Asso-
ciation, die proletarische Association mit aristokratischem Kern und Leitung".
„Dass auch diese, ja sogar die demokratische Association eine feste Auto-
rität haben kann und muss, versteht sich von selbst, und es ist nicht das
geringste Verdienst der Association, dass ihr Gelingen wesentlich von der
Festigkeit und Competenz der Autorität abhängt und dass ihre Praxis
jedenfalls immer nach der Entwickelung einer möglichst festen und starken
Autorität drängt."
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 125
Lassalle hat sich über die genauere Einrichtung der Arbeiter-Associa-
tionen niemals ausgesprochen. Er hat ihren Namen, den der Arbeiter-
Associationen mit Staatshilfe, unter die Massen geschleudert, und es war
seine Grösse und sein Verhängnis, dass er den Kampf, der auf den blossen
Namen hin schon entbrannte, mit kühner Entschlossenheit aufnahm, im
Sturme Anhänger werbend und die Gegner bestreitend, ohne der Welt und
wohl auch sich weitere Kechenschaft geben zu können. Den Arbeitern
genügte der Zauber des Wortes, und man thut Lassalle gewiss nicht un-
reclit. wenn man vermuthet, dass auch er sich von demselben blenden liess
und ihm ohne Probe glaubte. Der tiefe, realistische Kenner des wahren
Wesens der „geschriebenen" Staatsverfassungen vergass, dass auch die
Arbeiter-Association erst nur auf dem Papiere stand, noch dazu mit dem
Namen allein, ohne selbst die Grundlinien der Verfassung. Nur so viel
wissen wir aus seinem Munde, dass seine Absicht ins Grosse gieng, er
wollte die Association für den fabriksmässigen Grossbetrieb, nicht für hand-
werksmässige Zwerggeschäfte, und er wollte sie umfassend für das ganze
Teiritorium der Volkswirtschaft. Vergegenwärtigt man sich die dictatorische
Höhe, von der aus er seine Anhänger leitete, wie er sie zur genossenschaft-
lichen Unternehmung moralisch zu zwingen suchte, so führt die logische
Folgerichtigkeit zu dem Schlüsse, dass wie bei der Erweckung der Asso-
ciationen, so auch bei ihrer Durchführung ein befehlender gebildeter Geist
der zaghaften unwissenden Menge vorgesetzt werden dürfe und müsse.
Bei Schulze-Delitzsch liegt die Sache ganz anders. Er war mehr als
ein Kufer im Streit, seine Worte verkündigten sein „ernst bereitetes Werk".
Er hat Productivgenossenschaften nicht nur gefordert, sondern auch that-
sächlich begründet, wiewohl Lassalle ihm vorwerfen konnte, dass er es erst
gethan, bis dessen Drängen die Geister wachgerufen hatte. Wir kennen
seine Ansichten über die Statuten derselben bis ins einzelne, er liat ein
Musterstatut entworfen, er hat ja endlich die genossenschaftliche Gesetz-
gebung Deutschlands und mit ihr auch die Oesterreichs eingegeben. Wenn
solchergestalt die deutsche und österreichische Productivgenossenschaft in
gesetzlicher Vorschrift, Theorie und Praxis auf ihn zurückgeht, so kann
man nichtsdestoweniger gerade ihn als Zeugen wider die Verfassung der-
selben aufrufen. Man kann es, weil der von ihm ausgeführte Plan die
grösseren Umrisse des zuerst von ihm entworfenen Planes nicht ausfüllt.
Noch ist ein Theil seiner Idee, noch ist seine höchste und letzte Absicht
nicht verwirklicht.
Man lese in seinen „Arbeitenden Classen" die Ausführung auf Seite 63:
„Ebensowenig ist es unsere Meinung, dass sich die Association auf Arbeiter
oder Handwerker gewisser Gewerbszweige beschränken müsse. Vielmehr ist
es im Interesse aller wünschenswert, dass sich bei ihrer Gründung Leute
aus allen Fächern betheiligen, dass Capitalisten, Kaufleute, Techniker und
eigentliche Arbeiter gleich von Haus aus zusammentreten und so die ver-
schiedene Vorbildung und Begabung, ja selbst einen Theil der materiellen
Mittel mitbringen, welche zu einem schwunghaften Angriff der Sache so
1 26 Wieser.
förderlich sind. Nur darauf kommen wir immer wieder zurück : dass, ehe
nicht die Arbeiter sich aus eigener Kraft und aus eigenem Triebe an der-
gleichen Unternehmungen wagen und thatsächlich die Möglichkeit darthun,
dass sie es allenfalls auch allein, ohne Betheiligung der übrigen Classen
durchzusetzen vermögen, man sich von Seiten dieser wohl hüten wird, ihnen
dabei entgegenzukommen. ..."
Bekanntlich hat der Vereinstag der deutschen Genossenschaften in
diesem Sinne beschlossen, „es sei den Productivgenossenschaften zu
empfehlen, sich bei der Aufnahme von Mitgliedern nicht an die betreffen-
den Gewerbsgenossen zu beschränken, sondern auch Mitglieder aus andern
Kreisen, besonders auch aus dem Kaufmannsstande heranzuziehen". Der
Genossenschaftsanwalt ermangelt nicht, alljährlich in seinem Berichte diesen
Rath zu wiederholen. Indes wurde schon während der Verhandlung, die
dem Beschlüsse vorausgieng, „sofort erinnert", „dass der Beschluss schwer-
lich weittragende Folgen haben werde, da Personen, welche nicht zu den
unmittelbaren Fachgenossen zählen, in der Regel wenig Lust zeigen, in eine
Productivgenossenschaft einzutreten". Man hat es also mit einem Beschlüsse
zu thun, der sich selber von vornherein als einen „akademischen" ansah.
Wäre er mehr gewesen, so hätte etwas gethan werden müssen, um die
Productivgenossenschaft entsprechend einzurichten, d. h. um solche Rechts-
formen zu sichern, welche den Eintritt anderer als unmittelbarer Fach-
genossen erleichtert hätten.
Schulze-Delitzsch hat in seinen Anfängen sich für ausgiebige Erwei-
terung der Rechtsformen gerade hinsichtlich der Productivgenossenschaft
ausgesprochen. In dem eben genannten Werke heisst es (S. 76), nachdem
er von der damals sich so erfreulich anlassenden Entwickelung der franzö-
sischen Associationen erzählt hat, weiter: „Die rechtliche Verfassung der-
selben wechselt zwischen der Societe en nom coUectif — wo sämmtliche
Mitglieder den Gläubigern solidarisch haften und die Angelegenheiten der
Association durch Mehrheitsbeschlüsse ordnen, die Verwaltung aber mittelst
gewisser Ausschüsse oder Beamten führen — und der Societe en comman-
dite des französischen Code de commerce, wo einer oder mehrere gerants
mit grösserer Machtvollkommenheit an der Spitze des Geschäftes stehen
und Dritten gegenüber allein haften, während die Mitglieder nur auf Höhe
ihrer Geschäftsantheile verbindlich sind Die Natur dieser Associa-
tionen, welche eine feste, einheitliche Leitung zum Gedeihen des Geschäfts
fordern, brachte es ganz von selbst mit sich, dass allmählich fast alle zu
der zweiten Form übergegangen sind".
Man lese sodann Seite 86, wo es für Deutschland heisst: „Mit dieser
Verfassung" (die der Societe en nom collectif entspricht) „ist man bei den
bisherigen Associationen im allgemeinen durchgekommen, doch dürfte, so-
bald man zur Production für gemeinschaftliche Rechnung übergeht, eine
mehr einheitliche Leitung erfahrungsmässig Bedürfnis werden, in welchem
Falle man in der auch dem deutschen Handelsrechte bekannten Commandit-
gesellschaft die geeignetere Form finden wird".
Grossbetrieb und Productivgenossenschafteii. 127
Ich will nicht untersuchen, wesshalb die deutsche Gesetzgebung den
ersten Anregungen von Schulze-Delitzsch nicht in ihrem vollen Umfange
gerecht wurde sondern mit den sämmtlichen Erwerbs- und Wirtschafts-
genossenschaften auch die Productivgenossenschaft zunächst auf das Statut
der „Societe en nom collectif eingeschränkt hat, ja warum selbst Schulze-
Delitzsch die weitesten Ziele seines ersten Planes, den er offenbar unter
dem Einflüsse Huber's gefasst hatte, späterhin aus den Augen verlor. Im
Musterstatut für die Productivgenossenschaften sucht er dieselben nicht
im mindesten aus dem flachen Rahmen der gesetzlichen Organisation
zu energischeren Formen emporzuheben. Gemäss den Probestatuten für
„Productivgenossenschaften mit geringer Mitgliederzahl " soll der Vorstand
auf 1 Jahr, später auf 2 Jahre, für „Genossenschaften mit stärkerer Mit-
dliederzahl" soller „auf beiderseits halbjährliche Kündigung" gewählt werden.
In seiner letzten Arbeit „Material zur Revision des Genossenschafts-Gesetzes "
aus dem Jahre 1883 beschränkt er sich auf Fragen der Durchführung,
macht Zugeständnisse im Punkte der unbeschränkten Haftung, aber dringt
mit keinem Worte auf eine erweiterte Grundlegung des Genossenschafts-
rechtes, die es erlauben würde, den Kreis der Mitglieder über die „Arbeiter-'
auszudehnen und eine festere Leitung zu organisieren.
Und doch hätte die stockende Entwickelung der deutschen Productiv-
genossenschaften es nahe legen können, ihnen die Wege des Gesetzes besser
zu ebnen. Die blosse Zulassung der beschränkten Haftung zu der von
Anfang her allein gestatteten unbeschränkten Haftung konnte gerade für
Productivgenossenschaften keinen sonderlichen Erfolg versprechen, in Oester-
reich galt ja das „Wahlsystem", und man kam auch nicht weiter. Wohl
aber durfte man auf den ersten Gedanken von Schulze-Delitzsch zurück-
greifen, auf die Commanditgesellschaft und verwandte Formen, auf allerlei
Genossenschaften „wesentlich ungleichen Rechtes" wenn man so sagen
kann. Deutschland und Oesterreich erlauben nur Genossenschaften „wesent-
lich gleichen Rechtes" — warum? Hält man damit nicht jeden Theilnehmer
von den Genossenschaften zurück, der mit mehr Kraft, Bildung und Mitteln
auch grössere Ansprüche auf Verdienst, vor allem aber auch auf Wirk-
samkeit stellt? Raubt man ihnen nicht ihre berufeneu Führer? Es ist ganz
erklärlich, dass sich diese den capitalistischen Unternehmungen anbieten,
die ihnen alles bewilligen was sie beanspruchen. Die Productivgenossen-
schaft ist für den Grossbetrieb, für den sie doch bestimmt ist, wegen
dessen sie doch heraufbeschworen wurde, durch das Gesetz selbst concurrenz-
unfähig gemacht, ihr gesetzliches Maass ist auf den Kleinbetrieb zuge-
schnitten, auf den Schurz .des Handwerkers, nicht auf das Kleid des
Fabrikanten. Warum? Dem Sinne von Schulze-Delitzsch wird man
am gerechtesten, wenn man — neben etwas lehrhaft übertriebener Vorliebe
für die „reine" Genossenschaftsform, besonders für die unbeschränkte
Haftung, die aber ihm, dem grossen Lehrer des Volkes, wohl ansteht —
noch hinzunimmt, er habe die Genossenschaften sich aus dem Bedürfnisse
entwickeln, ihr Recht sich dem Bedürfnisse anpassen lassen wollen. Er hat
128 Wieser.
ausgebildet was er an Antrieben vorfand, zumal im Mittelstande, dem er
selber angehörte, es war ihm wohl ein missliches Experiment, grössere Formen,
die sich erst später ausfüllen mochten, für die Zukunft vorzubilden. Er war
ein echter Mann, der in der Gegenwart wirkte, aber auch in ihr aufgieng.
VIII.
Das neue deutsche Genossenschaftsgesetz vom 1. Mai 1889 ist im
allgemeinen gewiss eine beträchtliche Verbesserung des alten Gesetzes und
mag vielleicht das Lob verdienen, welches ihm ein juristischer Beurtheiler
gespendet hat, dass es „im ganzen, wie von allen Seiten anerkannt ist,
auf der Höhe der Zeit stehe, in seltener Vollendung". Was gerade die
Productivgenossenschaft anbelangt, so ist es dagegen im wesentlichen ganz
auf der alten Grundlage verblieben. Das Gesetz hatte allerdings zunächst
die Aufgabe, der genossenschaftlichen Bewegung in Deutschland gerecht zu
werden, die in die Grossindustrie noch nicht eingedrungen ist, aber es
wäre wohl nicht wider seine Aufgabe gewesen, für den Fall voraus zu sorgen,
dass einmal auch die Grossindustrie derselben geöffnet werden sollte, sei
es durch die Arbeiter, sei es durch die Unternehmer selbst.') Vielleicht
werden sich manche von diesen letzteren in ihrem wohlverstandenen eigensten
Interesse hiezu entschliessen mögen. Die wichtigste Aenderung des Gesetzes,
dass die beschränkte Haftung zugelassen wurde, ist immerhin auch in Eück-
sicht auf die productivgenossenschaftlichen Ziele zu begrüssen, weil die
Freiheit der Bewegung grösser geworden ist. Weiter zu gehen, konnte
man sich indes nicht entschliessen. Es würde, sagt der Motivenbericht
der ßegierung, „über das Maass des Nothwendigen hinausgehen, wenn
man den Genossenschaften nach dem Muster des französischen oder schweize-
rischen Gesetzes die Bestimmung der Haftungsart völlig frei geben wollte.
Die daraus hervorgehende Vielgestaltigkeit würde leicht zur Verwirrung
und Gefährdung des Geschäftswesens führen." War es in der That noth-
wendig. nur den eben als „nothwendig" erachteten Kaum für die
Bewegung freizugeben? Ist der Geschäftsverkehr in der kaufmännischen
Welt verwirrt und gefährdet, w^eil neben der offenen Gesellschaft und der
Actiengesellschaft noch die beiden Formen der Commanditgesellschaft —
mehr als diesen Spielraum räumt auch das französische Gesetz den Genossen-
schaften nicht ein — gestattet sind? Die beiden Schattirungen der unbe-
schränkten Haftpflicht, die im neuen Gesetze beschlossen wurden, sind viel-
leicht viel eher geeignet, zu verwirren und zu gefährden, als die Erlaubnis
es gewesen wäre, die alten Formen des Handelsrechtes zu benützen. Alles
kommt doch darauf hinaus, dass man, bei allem Wohlwollen für den kleinen
Mann, die Grossunternehmung so sehr als die Domäne des Besitzes betrachtet,
dass man glaubt, gesetzliche Vorsorgen für einen anderen Fall ganz und
gar nicht versuchen zu müssen. Die übrigen Veränderungen des Gesetzes,
1) Ueber einen hiehergehörigen Fall fBorchert in Berlin) s. Böhmert Gewinn-
betheiligung, S. 255.
Grossbetrieb und Prodüctivgeiienossschaften. 129
soweit sie auf unsere Sache Bezug haben, zeigen denselben Geist. Wie
im alten Gesetze schon, ist die Stellung des Vorstandes jederzeit wider-
ruflich erklärt: immerhin ist die Forderung beseitigt, dass der Vorstand
durch Wahl bestimmt werden müsse. Dagegen ist für denselben das neue
Erfordernis gestellt, dass er mindestens aus zwei Mitgliedern zu bestehen
habe, was zwar dem Geiste der demokratischen d. h. kleinen Genossen-
schaft entspricht, wo man einem Einzigen so viel Machtvollkommenheit
nicht anvertrauen will, während es dagegen jene Form der Association aus-
schliesst, die in eine monarchische Spitze ausgeht und daher der Grossindustrie
vielleicht am angemessensten ist.
Man mag ja sagen, dass, sobald ein starkes Bedürfnis nach Productiv-
genossenschaften grösseren Stiles sich melden sollte, die Pforten der
Gesetzgebung sicherlich für sie werden geöffnet werden. Man kann die
Aufgabe der Gesetzgebung aber auch anders fassen. Man kann es für ihre
Pflicht erklären, allen moralisch zulässigen und thatsächlich ausführbaren
Acten von vorneherein rechtliche Wirkung zu wahren. Schliesslich ist ja
nur durch eine unvermeidliche Arbeitsth eilung der Process der Gesetzgebung,
d. i. der feierlichen Verkündigung des rechtsbildenden Willens, von dem
Processe der thatsächlichen Aeusserung dieses Willens getrennt worden. Der
dadurch bedingten Gefahr, dass das Gesetz zu spät komme, ist am besten
zu begegnen, wenn man es schon bei Zeiten für den Fall des Gebrauches
fertigstellt. Niemand wird leugnen, dass der genossenschaftlichen Bewegung
gegenüber die Gesetzgebung sich einer argen Versäumnis schuldig gemacht
hat. Der rechtsbildende Wille war da, die durch die moderne Technik
zusammengeführten Arbeitermassen wollten als Masse, als Einheit sprechen.
Kechte erwerben, Pflichten auf sich nehmen — ein natürlicher Anspruch,
dem nach „natürlichem Eechte** jedermann mit seinen Eechtshandlungen
entgegengekomnien wäre, dem aber die formale W^eihe des gesatzten Kechtes
erst viel zu spät zutheil geworden ist. In Deutschland und Oesterreich ist
sie ihm auch heute noch nicht voll und ganz geworden. Die Arbeiter, die
rechtlich als eine productive Einheit auftreten wollen, können dies nui*,
wenn sie sich zu „wesentlich gleichem Eecht" verbinden. Den anderen
Verbänden, die sie etwa unter sich beschliessen wollten, versagt das Gesetz
die rechtliche Wirkung, obwohl alle ihre Aeusserungen, ihre Erklärungen
Kechte auf sich nehmen zu wollen, ebenso deutlich und nach „natürlichem
Kechte" ebenso bindend sind. Hat man einmal die Lücke des Gesetzes
erkannt, die darin bestand, dass die „Gesellschaften wechselnder Mitgliederzabl"
wie die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften in der Sprache des
Kechtes heissen, nicht zugelassen waren, so war es gesetzgeberische Pflicht,
allen Witz aufzubieten, um sie auch in allen denkbaren Formen zuzulassen,
deren sie sich bedienen mochten. Zum mindesten durften ihnen diejenigen
nicht versagt sein, die das bürgerliche und das Handelsgesetzbuch für die
Gesellschaften der capitalistischen und gebildeten Classen längst ausgebildet
hatte, und die also als Ausdrucksmittel gesellschaftlichen Willens längst
bekannt waren, -f-
Zeitschrift für Volkswirtschaft, S^ocialpolitik und Verwaltung, I. Heft. 9
130 Wieser.
Ist es nicht bezeichnend, dass wir besondere Gesellschaftsformen für
die besitzenden Classen und ebenso besondere für die arbeitenden Classen
ausgebildet haben, dass aber gerade diejenigen Formen fehlen, in denen die
beiden Classen sich vereinigen könnten? Die Scheidung, über deren üble
Folgen wir so klagen, ist eben der uns selbstverständliche Zustand.
IX.
Neben dem Zeugnisse der Urheber der Productivgenossenschaft in
Deutschland lässt sich aus den Vorgängen in Frankreich, dem Mutterlande
der Productiv - Association , ein noch entscheidenderes Thatsachenzeugnis
für die Behauptung erbringen, dass diese Association, wenn sie im Sinne
ausgedehnterer Betheiligung und strengeren Eegimentes organisiert wird,
ihrer Aufgabe im Grossbetriebe erst voll gerecht zu werden vermag.
Ich will zu diesem Zwecke die vielberufenen Organisationen von
Godin, Leclaire und Boucicaut etwas eingehender erörtern. Anfänglich als
Einzelunternehmungen mit Gewinnbetheiligung eingerichtet — wie sie denn
zumeist hiefür als Beispiele herangezogen werden — sind sie schliesslich
zu eigenthümlichen Productiv-Associationen geworden, und als solche will
ich sie hier besprechen. Alle drei gehören sie dem Grossbetriebe an, die
von Boucicaut begründete Anstalt, das bekannte grosse Warenhaus „Au
bon marche" in Paris ist sogar eine der grössten, wenn nicht die grösste
ihrer Art. Wir finden durch sie einen Charakterzug auch auf socialwirtschaft-
lichem Gebiete bethätigt, der für die Franzosen ebenso bezeichnend ist, als
die Schärfe und Kühnheit, mit der sie die letzten Principien des gesellschaft-
lichen Zusammenlebens aufrühren, das ist nämlich die Kraft zur praktischen
Ausgestaltung der neuen Ideen. Die Deutschen, zuerst durch die berauschenden
Worte ergriffen, die über die Grenze schollen, haben nach und nach, sowohl
dadurch, dass sie politisch grösser, als dass sie ernüchterter wurden, gelernt
herauszuhören, wie viel Phrase da mit eingemischt war und ist. Es wäre
aber ein schlimmer Irrthum zu glauben, dass sie damit ihre Nachbarn
ausgelernt hätten, zu deren bestem Wesen auch noch ein unermüdlicher
und zugleich befeuerter, vollendeter praktischer Verstand gehört.
Die in den nächsten Abschnitten folgende Darstellung der genannten drei
Organisationen wird zeigen, dass dieselben keineswegs auf der Basis der
deutsch-österreichischen demokratischen Productivgenossenschaft stehen. Sie
stützen sich nicht bloss auf die Lohnarbeiter, sondern sie sind grundsätzlich
auch auf das übrige zum Betriebe gehörige Personale ausgedehnt. Und sie
suchen dem Betriebsleiter die möglichste Autorität zu wahren. Zu diesen
Principien gesellen sie noch das weitere, die Kechte der betheiligten Arbeiter
selbst strenge abzustufen. Besonders klar tritt dasselbe bei Godin und
Leclaire hervor, in den Vorrechten der „Elite", des „Kernes". Ein Theil des
Personales, der verhältnismässig nicht einmal sehr gross ist, ist ausschliesslich
berufen, diejenigen Eigenthümerrechte auszuüben, die nach Abzug der
Befugnisse der Leitung überhaupt noch verbleiben. Der Best der Arbeiter-
schaft ist auf den Genuss der Eigen thumsfrüchte in Form einer liberalen
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 131
Gewinnbetheiligung, eventuell auch reichlicher Fürsorge für ihre Zukunft
beschränkt.
Die Abstufungen sind so scharf, der Kreis der zur „Elite" zugelassenen
Personen verhältnismässig so gering, dass der Name einer Productiv-
genossenschaft in dem uns vertraut gewordenen Sinne kaum anwendbar
scheint. In der That sind jene Organisationen auch nicht Ausbildungen
unseres genossenschaftlichen Gedankens, sie sind Associationen, die aus der
Einzelunternehmung hervorgegangen sind und auch deutlich deren festeres
Gepräge zeigen. Godin vollends, dem grösstangelegten der neuen Organi-
satoren, ist der Gedanke der blossen Arbeitergenossenschaft immer fremd
gewesen, er hatte vom Anfang her die höhere „Association des Talentes,
der Arbeit und des Capitales" im Sinn. Die Association, die er schuf, galt
ihm keineswegs als eine verkümmerte Genossenschaft, sondern als die
schönste überhaupt denkbare Form der Vereinigung, die „Association
integrale.''
Zugunsten der Idee der Elite ist zunächst ein äusserlicher Umstand
anzuführen, die Nothwendigkeit, je nach dem Geschäftsgang die Arbeiterzahl
zu wechseln. Hieran muss sich die reine demokratische Idee der Genossen-
schaft jedenfalls brechen. Es geht an, Arbeiter nach Bedarf anzustellen und
zu entlassen, aber es ist wider den Begriff des Geschäftsherrn, dass ihm
Woche für Woche die Thüre gewiesen werden kann. Es liegt nahe, deshalb
die Herrenrechte von Anfang an auf einen so geringen Theil der Arbeiterschaft
einzuschränken, der jedenfalls weil er zum Geschäftsstamme gehört, immer er-
halten bleiben muss. Schul ze-Delitzsch hat sich selbst gezwungen gesehen,
nach einer -anderen Seite hin Zugeständnisse zu machen. Wenn die ersten
Gründer der Genossenschaft Capital erspart haben, sollen sie dann gehalten
sein, neue Genossen ohneweiters zuzulassen? Schulze-Delitzsch verlässt
hier selbst den Boden der demokratisch-genossenschaftlichen Idee, indem er
gestattet, neue Arbeiter als blosse Lohnarbeiter zu beschäftigen, wobei er
freilich den Bath gibt und den Wunsch ausspricht, man möge ihnen, bis
sie gleichfalls Capitaleinlagen machen könnten, den Eintritt offen lassen.
Man hat gesagt, dass durch Genossenschaften derartig abgestuften
Rechtes die Lohnarbeit nicht aus der Welt geschafft wird, so dass das
bekämpfte Uebel nicht beseitigt ist. Nun, es wäre immerhin ein Erfolg,
wenn das Uebel erheblich gemildert würde. Aber die Lohnarbeit als solche
ist gar nicht das Uebel, das bekämpft wird, sie muss überhaupt kein Uebel
sein, wenn sie nicht dazu gemacht wird. Das Uebel, um das es sich im
Grossbetrieb handelt, ist die kümmerliche und die aussichtslose Lohnarbeit
der Massen, die die Gesellschaft scheidet. Gelänge es, den Massen die
Hoffnung und den Anspruch bieten zu können, dass sie in eine besitzende
„Elite" eintreten werden, die nicht zu gross zu sein braucht, wenn sie
nur nicht zu klein ist — welcher Gewinn, welcher Umschwung wäre das!
Die Entwickelung ist überhaupt niemals anders als stufenweise gelungen,
von Grad zu Grad und ebenso auch von Classe zu Classe. Nur schichten-
weise kann sich das Volk von seinem Falle erheben. Die Elite wird der
9*
]^32 Wieser.
Mustertypus sein, die Vorschule für die üebrigen. Die Gebildeten sind dem
Volke nicht verständlich, von denen lernt es nichts als Luxus und Unsitte,
die man absehen kann, während eine geistige Verbindung kaum besteht.
Ist aber einmal ein Theil des Volkes emporgehoben, dann wird der Rest
von ihm lernen können, weil er seinesgleichen ist. Dann wird, was heute
so fehlt, wieder ein üebergang sein von den Höchsten zu den Niedersten,
man wird sich wieder verstehen lernen und wieder finden.
Der Gedanke der Elite, so sehr er der demokratischen Auffassung
der Genossenschaft widerspricht, ist der Angelpunkt in der Verfassung
der zu besprechenden französischen Productivgenossensehaften, die bisher
fast die einzigen bedeutungsvollen gesellschaftlichen Organisationen des
Grossbetriebes sind. Er macht, äusserlich und innerlich, die Zuwendung
der Eigenthumsrechte an die Arbeiterschaft erst möglich. Allen kann man
das Eigenthum nicht geben, ohne es aufzuheben, aber einer Anzahl der
Besten und Zuverlässigsten kann man es sichern, und das wird in seinen
letzten Folgen allen zugute kommen.
Bevor ich die Statuten der oben berufenen französischen Productiv-
Associationen bespreche, möchte ich nur noch das ürtheil eines französi-
schen Autors über dieselben mittheilen, das von Charles Robert, der
schriftstellerisch für die Sache der Gewinnbetheiligung der Arbeiter so viel
gethan hat und der als Leclaire's Freund und Berather eine so genaue
praktische Vertrautheit mit diesem Gegenstand besitzt. Er schreibt in dem
Berichte,^) den er anlässlich der letzten Pariser Weltausstellung über die
„Associations cooperatives de production" erstattet hat. Folgendes:
„Manche Beispiele beweisen bis zur Evidenz, dass die Arbeiter in ge-
wissen Fällen gedeihende Genossenschaften selbständig begründen können,
aber ich wüsste nicht genug auf die Nothwendigkeit zu dringen, eine kräf-
tige und wohlbezahlte Geschäftsleitung einzurichten .... Die Genossen-
schaft braucht eine machtvolle Executivgewalt, die gewiss strenge con-
troliert werden, aber die doch wieder ihres nächsten Tages gewiss und
gegen die anarchische Einmischung einfacher Genossen in die Geschäfts-
leitung sichergestellt sein muss. Es ist nothwendig, dass die Arbeit die
Mitwirkung des Talentes aufsuche, dass die kräftigen Arme sich einen
fähigen Kopf beschaffen, dass die Leitung der Genossenschaften eine ein-
trägliche Laufbahn sei. Vielleicht wird man eines Tages sehen, dass die
Arbeitergenossenschaften den Hochschulen ihre besten Ingenieure abfordern
werden, um ihnen hohen Gehalt, schöne Gewinnbetheiligung und einen
Contract von zwölf oder fünfzehn Jahren anzubieten. Ein bemerkenswerter
Zug der reichen und blühenden Productivgenossensehaften, wie z. B. der
des Familisteriums von Guise, ist die Anordnung einer strengen Hierarchie
von Graden, durch die man hindurchgehen muss. Wir sind weit von jenem
blinden und brutalen allgemeinen Gleichheitsniveau entfernt, unter das
gewisse Socialisten die Welt der Arbeit beugen möchten." ....
Bulletin de la participation aux benefices 1891. S. 33 ff.
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 133
„Welchen Ursprungs immer sie seien, die Productivgenossenschaften,
um zu einem entsprechenden und dauernden Erfolge zu kommen, müssen
dem Capitale den Zins und Gewinn zusprechen, die ihm gebüren. die
Arbeit jedes Genossen nach ihrem thatsächlichen Werte bezahlen und
namentlich der Leitung die nothwendige Belohnung, Dauerhaftigkeit und
Autorität geben."
Und nun noch eine Bemerkung. Die französischen Grossassociationen,
von denen ich Beispiele geben will, imponieren nicht durch ihre Zahl, es
sind ihrer äusserst wenige. Statistisch vermögen sie daher nichts zu er-
weisen, das aber sollen sie auch nicht. Bis durch eine genügende Ueber-
zahl ein statistisch vollgiltiger Beweis erbracht werden könnte, dann braucht
man die Statistik nicht mehr, dann ist die Sache in sich selbst stark
genug geworden, um weiterzuwirken. Für den Anfang handelt es sich um
die Idee und ob sie innerliche Macht genug besitzt, um die Geister
zu entzünden. <^
X.
Die Statuten der Godin'schen Association^) sind ein umfangreiches,
für den Juristen und Nationalökonomen gleich interessantes Werk. Godin
beklagt sich, dass die Enge der französischen Genossenschaftsgesetzgebung
ihm bei der Abfassung derselben schwere Hindernisse bereitet habe — wie
hätte er erst über die deutsche und österreichische Gesetzgebung zu klagen
gehabt! — meint aber, dass vielleicht gerade der ihm hiedurch auferlegte
Zwang genauester Präcisierung die Lebensfähigkeit seines Werkes erhöht
habe. Die Statuten sind ein Versuch, den Typus der Grossbetriebsassociation
bis ins einzelnste festzustellen. Ob man sie auch für verbesserungsbedürftig
halten, ob man sie vielleicht in gewissen Grundlagen für verfehlt halten
mag, so wird doch niemand ihrem Urheber Genie und reichste Erfahrung
absprechen dürfen. Godin, der als armer Dorf band werker begonnen hat und
als grosser reicher Unternehmer gestorben ist, ist vor den vielen indu-
striellen Talenten unserer Zeit noch dadurch ausgezeichnet, dass er auch
etwas von den ganz besonderen intellectuellen und moralischen Gaben eines
socialen Keformators besass.
Die Godin'sche Association erstreckt sich nicht bloss auf den Erwerb
der Mitglieder. Abgesehen davon, dass sie auch für Consum und Erziehung
Anstalten trifft, vereinigt sie noch den grösseren Theil ihrer Mitglieder in
einem gemeinschaftlichen Wohnhause : richtiger in einem Wohnpalaste, dem
Producte der „socialen Architektur." dem „Eamilisterium," in welchem
dasjenige verwirklicht ist, was von der Fourier'schen Idee des Phalan-
steriums lebensfähig war. Wer Godin's Werk vollständig würdigen will.
1) S. Godin, Mutualite sociale, Paris 1880 (zu vergl. desselben Verfassers „Solutions
sociales" Paris 1871). Ferner Bernardot, Le Familistere de Guise (eine für die Pariser
Weltausstellung geschriebene umfassende Darstellung der Entwickelung und des Bestandes
des Unternehmens). Hievon ein Auszug in H. Häntschke, Gewinnbetheiligung der Arbeit,
J. B. A. Godin und seine Schöpfung (Abdruck aus den Blättern für Genossenschaftswesen).
134 Wieser.
darf sich keineswegs auf seine Organisation des Erwerbes beschränken. Ich
muss es hier thun, füge aber, um Missverständnisse auszuschliessen, we-
nigstens die eine Bemerkung bei, dass man es auch im übrigen nicht mit
einem socialistischen Experiment zu thun hat. Die Entwickelung des Indivi-
duums ist der Zweck, dem alles dienen soll, und die überkommenen Ideen
von Recht und Sitte Tverden nirgends verwirrt.
Um die äusseren Verhältnisse des Unternehmens in Kürze klarzustellen,
so sei erwähnt, dass die Fabrik Heiz- und Kücheneinrichtungen u. dgl.
herstellt; dass das Geschäftscapital zur Zeit als Godin sein blühendes
Einzelunternehmen in eine Association umwandelte, am 13. August 1880.
4,600.000 Francs ^) betrug und sich seither etwa verdoppelt hat; dass das Capital
fast ganz Godin gehörte, heute aber fast ganz den Angestellten gehört,
was sie freilich mit dem Umstände zu verdanken haben, dass ihnen Godin
sein halbes Vennögen vermachte ; dass in den beiden Werkstätten in Guise
und Laeken am 1. Juli 1888 zusammen 1451 Personen (190 Beamte.
1261 Arbeiter) beschäftigt waren ; dass im Familisterium zu Guise, Kinder
und Frauen miteingerechnet, am 1. Jänner 1889, 1748 Personen wohnten;
und dass nach dem am 15. Jänner 1888 erfolgten Tode Godin's das Unter-
nehmen unverändert erfolgreich weitergeführt wurde.
Godin's „Association du Capital et du Travail" ist juristisch genommen
eine einfache Commanditgesellschaft. Unter dieser Rechtsform will sie ihr
hohes sociales Ziel erreichen, das, wie wir gleich auf dem Titelblatte der
„Mutualite sociale" erfahren, darin besteht die Volksverarmung durch die
Anerkennung zweier Rechte — Grundrechte, UiTechte — auszutilgen,
nämlich durch die Anerkennung des Rechtes der Schwachen auf den noth-
wendigen Lebensbedarf und des Rechtes der Arbeiter auf Gewinnbetheiligung.
Zur Verwirklichung des ersteren hat die Association Hilfscassenein-
richtungen umfassendster und grossartigster Anlage. Sie werden durch Bei-
träge der einzelnen Mitglieder und Beiträge der Association erhalten und
durch die Betheiligten selbst verwaltet. Hievon handeln die besonderen
Statuten der „Assurances mutueUes" in 95 Artikeln.
Ueber das letztere müssen wir uns aus den allgemeinen GeseUschafts-
statuten („Statuts") in 142 Artikeln und aus den 104 Artikeln der Geschäfts-
^) Das franz. Gesetz (Loi sur les societes vom 24. Juli 1867, Art. 49) gestattet
den Genossenschaften (societes ä capital variable) nur ein Grundcapital von 200.000 Frcs.,
schränkt also damit die genossenschaftliche Grossassociation sehr ein. Diese ist der
capitalistischen Gesellschaft vorbehalten, wobei man gleichfalls, ebenso wie anderwärts,
vergessen hat, dass das sociale Problem ja eigentlich dem Grossbetriebe angehört. Weil
die Genossenschaften thatsächlich fast immer mit ganz kleinen Grundcapitalien zu beginnen
und häufig sich bis zum Ende in ganz bescheidenem Kahmen zu halten gezwungen sind,
lässt man sich zu der irrigen Meinung verleiten, dass sie in der Grossunternehmung
nichts zu suchen hätten, und verschliesst ihnen daher dieselbe von gesetzeswegen. Der
berufene Art. 49 des franz. Gesetzes hat übrigens bei der Mehrzahl der Erklärer eine
liberale, einschränkende Auslegung dahin gefunden, dass er nur von der Actiengesellschaft
und Commanditgesellschaft auf Actien gelten soll. Damit sind die offene Gesellschaft und
die einfache Commanditgesellschaft für die genossenschaftlichen Bestrebungen gerettet,
S. Mathieu et Bourgui^nat. Commentaire de la Loi sur les societes, Paris 1868. S. 244 ff.
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 135
Ordnung (Reglement) belehren. Wii- ersehen hieraus, dass das Recht auf
Gewinnbetheiligung mehr ist als sein Name besagt. Godin erhöht es bis zu
einem Rechte auf Geschäftsbetheiligung, dessen die obersten Stufen der
Arbeiterschaft unter gewissen Bedingungen theilhaftig werden. Die Arbeiter
geringsten Rechtes, die „Hilfsarbeiter" „Auxiliaires" seiner Statuten — hier
wie überall ist unter der Arbeiterschaft die Beamtenschaft mitzuverstehen —
empfangen nämlich ihre Gewinnantheile in der Form blosser Einzahlungen
für die Hilfscassen, die Arbeiter der bevorzugten Stufen dagegen empfangen
sie in Spareinlagen, die nach Umständen in eigentliche Geschäftseinlagen
verwandelt werden, falls entweder das Geschäftscapital vermehrt werden soll
oder aber nachdem die älteren Einlagen amortisiert worden sind.
Um die Arbeiterschaft so reich dotieren zu können, müssen sich
freilich Unternehmer und Capital bescheiden, und hier ist der Punkt, wo
das Godin'sche System vielleicht grundsätzliche Anfechtung erfahren wird.
Godin erkennt durchaus die grossen productiven Dienste der tüchtigen
Geschäftsleitung und des Capitales an, desgleichen die Nothwendigkeit,
beide durch entsprechende Belohnung zu ermuntern. Man möge sich nur
erinnern, dass er selbst als Unternehmer reich geworden ist. Seiner Meinung
nach gebürt dem Capitale von rechtswegen der übliche regelmässige Zins
(er berechnet ihn mit h^/o), ausserdem gebürt ihm noch, ebenso wie der
Arbeit und verhältnismässig mit ihr, Antheil am Reingewinn, wenn dieser
den üblichen Capitalzins übersteigt. Der Leitung gebürt, ausser der Be-
zahlung nach üblichem Maasse, ein besonders hoher Antheil am Reingewinn.
Aber der Lohnarbeit gebürt auch ihr Antheil, und es muss ferner, seiner
Ansicht nach, dafür Sorge getragen werden, dass diejenigen Arbeiter, die
Capital erspart haben, dasselbe innerhalb des Geschäftes selbst, mit An-
spruch auf die entsprechende Gewinnchance, anlegen können. Hieraus folgert
er für diejenigen, die bereits durch längere Zeit mit Capital am Geschäfte
betheiligt waren, die Verpflichtung, der Reihe nach den jüngeren Genossen
Platz zu machen. Aus den durch die Gewinnbetheiligung gebildeten Spar-
einlagen der jüngeren Genossen sind die älteren mit dem Nominalbetrage
ihrer Geschäftseinlagen nach einem festen Plane allmählich hinauszuzahlen,
aber ohne dass sie etwa weiteren Antheil an den Dividenden hätten, so wie
ihn die Genusscheine den hinausgezahlten Actionären geben. Godin gibt
somit der Amortisation stärkere Kraft als sie bei den Actiengesellschaften,
bei denen sie vorkommt, gewöhnlich besitzt, wo sie das Stimmrecht, bezw.
Miteigenthum zwar aufhebt, aber in der Regel — das Gesetz schreibt es
keineswegs vor — noch Anspruch auf einen Theil der Früchte belässt.
Wichtiger ist der Unterschied, der hinsichtlich der Veranlassung der Amor-
tisation bei Godin gegenüber den Fällen der Actiengesellschaft besteht.
Diese amortisieren, weil sie die Liquidation des Unternehmens vorbereiten
müssen. Godin aber thut es in Aussicht auf den Fortbestand des Unter-
nehmens. Er will damit erreichen, dass Capital und Arbeit ständig vereinigt
bleiben. Nur durch ihre Vereinigung wirken sie; deshalb sollen die Ar-
beiter auch, der Regel nach und auf die Dauer, zugleich die Capitaleigeu-
136 Wieser.
thümer sein — Grodin selbst hat sich mit seiner gesammten Capitalseinlage,
als der erste, der Amortisation unterworfen. Ich will diesen Grundsatz, den
eigenthümlichsten und folgenschwersten des ganzen Systems, nicht weiter
erörtern, ihn weder anfechten, noch vertheidigen, sondern in der Darstellung
der statutarischen Bestimmungen fortfahren.
Godin räumt den Arbeitern ihre Ansprüche nicht unbesonnen und
bedingungslos ein. Die reinen Socialisten haben ebensoviel Ursache, ihm
einzusprechen, als die Vertreter des reinen Capitalinteresses.
Er behält der Geschäftsleitung alle wesentlichen Elemente des Befehles
vor und theilt der Arbeiterschaft nur sehr beschränkte, noch dazu stark
abgestufte Befugnisse zu.
Von den Ansprüchen der untersten Stufe der Arbeiterschaft,
der „Hilsarbeiter", war bereits die Kede. Von sämmtlichen 1451 im
Geschäfte Thätigen zählten (nach dem Stande vom 1. Juli 1888)
nicht weniger als 636, darunter 65 Beamte und 571 Lohnarbeiter, zu dieser
Classe. Die nächst höhere Stufe ist die der „Theilhaber" „Participants",
38 Beamte, 422 Lohnarbeiter, zusammen 460 Mann. Sie und die folgende Stufe
der „Mitglieder" „Societaires" empfangen, wie bereits gesagt, die Gewinn-
antheile in Spareinlagen mit der Anwartschaft auf Geschäftsbetheiligung.
Sie sind ferner darin bevorzugt, dass sie erst nach den Hilfsarbeitern
entlassen werden dürfen, wenn Geschäftsrückgang die Verringerung der
Arbeiterzahl nothwendig macht, wobei die dritte Stufe wieder vor der
zweiten und innerhalb einer jeden die länger dienenden Arbeiter vor den
später eingetretenen bevorzugt sind. Die „Mitglieder" sind ferner bei der
Gewinnvertheilung bevorzugt, indem ihr Lohn hiebei nach einem besseren
Schlüssel, nämlich mit 1507o in Anschlag kommt. „Mitglieder" gab es
am 1. Juli 1888 258, wovon 50 Beamte, 208 Lohnarbeiter. Theilhaber und
Mitglieder bedürfen der Zulassung durch den Geschäftsrath, die nur unter
besonderen Bedingungen ertheilt werden kann, wobei es unter anderm auf
Alter und Dauer des Dienstes ankommt; „Mitglieder" müssen überdies im
Familisterium wohnen, Besitz eines Geschäftscapitales ist nicht erfordert.
Erst die oberste Stufe der Genossen hat Antheil an den Regierungs-
rechten. Diese heissen „Gesellschafter", „Associes", und sie bilden die
Generalversammlung. Sie können nicht entlassen werden, ihr Lohn oder
Gehalt wird bei der Gewinnvertheilung mit 200^ o angeschlagen. Sie können
nur durch die Generalversammlung aufgenommen werden, und müssen,
nebst andern strengeren Erfordernissen, mindestens 500 Francs Capital
erspart haben. Ihre Zahl betrug am 1. Juli 1888 bloss 97, wovon nur 60
Lohnarbeiter, 37 Beamte waren.
Die Generalversammlung empfängt die Jahresberichte. Sie hat über
die wichtigsten Fragen der Vermögensverwaltung Gutachten mit bestimmter
Rechtswirkung abzugeben. Ihr sind die Statutenfragen und die wichtigsten
Personalfragen vorbehalten. Insbesondere wirkt sie, durch Wahl oder Be-
stätigung, an der Bestellung des Chefs des Unternehmens mit, der aber
aus der Mitte des Geschäftsrathes genommen werden muss. Sie wählt
Gro-ssbetrieb und Productivgenossenschaften. 137
drei Delegierte in den Geschäftsrath. Sie wählt den aus drei Mitgliedern
bestehenden Aufsichtsrath, der das Controlorgan der Gesellschaft ist und
dem es namentlich zusteht, den Antrag auf Absetzung des Chefs zu stellen.
Die Leitung ist dem Chef des Unternehmens vorbehalten. «Admini-
strateur gerant" „geschäftsführender Vorstand". Er ist der Firma-Inhaber und
hat dritten Personen gegenüber alle Rechte und Pflichten eines solchen,
insbesondere volle ausschliessliche Vertretungsbefugnis und unbeschränkte
persönliche Haftung. Auch nach innen, der Gesellschaft gegenüber, hat
er, abgesehen von Personen- und Statutenfragen, freie Entscheidung, wenn
er auch Rechenschaft legen und, unter bestimmten Rechtsfolgen, Gutachten
einholen muss. Selbst in Personen- und Statutenfragen sind ihm Reservatrechte
vorbehalten, die seiner Initiative Spielraum lassen und es verhindern, dass
eine andere Autorität sich über die seinige stelle. Es würde zu weit führen,
alle Einzelheiten der überaus kunstvoll ausgedachten Gewaltenvertheilung
aufzuzählen. Der wichtigste noch zu erwähnende Punkt ist, dass der
Firma-Inhaber auf Antrag des Aufsichtsrath es von der Generalversammlung
in bestimmten Fällen abgesetzt werden kann, wenn er sich nämlich
in unzweideutiger Weise unfähig, nachlässig oder vertrauensunwürdig er-
wiesen hat. Ausserdem endigt sein Amt nur mit seinem Willen. Obwohl
nicht HeiT aus eigenem Rechte hat er doch wie der gewählte Präsident
einer Republik alle wesentlichen Vorrechte der Autorität.
Godin hatte sich als Gründer und erster „geschäftsführender Vor-
stand" besondere Vorrechte vorbehalten, selbstverständlich die Unabsetz-
barkeit, dann aber auch allerlei Rechte, die ihm erlaubten, seine Verfassung .
zu verbessern und das Erziehungswerk an seinen Genossen zu vollenden.
Auch behielt er sich vor, seinen Nachfolger zu ernennen.
Hinsichtlich des Chefs der Unternehmung war ihm nicht bloss wichtig,
ihm gegenüber den Arbeitern die nothwendige Autorität zu bewahren,
sondern er wollte auch gewährleistet haben, dass er die nothwendige Fähig-
keit für seinen wichtigen Posten besitze. Wie er einerseits „une direction
süffisante et stable" sichern wollte, wollte er andrerseits das „regime
arbitraire d'un seul chef de fabrique " ausschliessen. Es sollte ausgeschlossen
sein, dass die Direction, die „von Natur der Begabung und dem Verdienste
gebürt", im Erbwege in unfähige und ungeschulte Hände falle.
Dem „geschäftsführenden Vorstand" ist ein „Geschäftsrath" beigegeben,
der sich in mehrere Unterabtheilungen gruppiert. Er besteht unter dem
Vorsitze des „geschäftsführenden Vorstandes" aus 3 Delegierten der General-
versammlung und 9 (jetzt 10) Directoren oder Abtheilungsvorständen. Seine
Rechte in Personalfragen sind zum Theile bereits besprochen worden. Von
besonderer Bedeutung ist seine Mitwirkung bei der Bestimmung des Chefs.
Der Geschäftsrath hat in allen wichtigeren Betriebsangelegenheiten Gut-
achten abzugeben.
Der „geschäftsführende Vorstand" erhält 4 Proc, der „Geschäftsrath"
16 Proc, der „Aufsichtsrath" 2 Proc. des Reingewinnes als Extratantieme,
ausser ihren regelmässigen Gehalten, Löhnen, Zinsen und Gemnnanth eilen.
138 Wieser.
Sämmtliche Angestellte der Association werden durch Wahl oder
aber nach Prüfung und Concurs bestellt.
Diejenigen Personen, welche Geschäftsantheile besitzen, ohne der
Gesellschaft Dienste zu leisten, heissen „Interessenten" „Interesses". Zu
ihnen gehören z. B. die aussenstehenden Erben von Gesellschaftern, die
deren Capitalsansprüche erworben haben, oder solche Personen, denen Ge-
schäftsantheile mit Zustimmung der Association cediert wurden. Sie haben
Zins- und Dividendenrechte, aber keinerlei Antheil an der Verwaltung und
können stets mit ihren Vermögensansprüchen nach dem Nominalwerte ab-
gefunden werden.
Nachdem wir die Kolle, die den Interessenten zugetheilt ist, kennen
gelernt haben, ist uns erst ein voller Ueberblick über die Beziehungen
gegeben, in welche Godin das Capital zur Unternehmung stellt. Sein erster
Zweck ist, den Arbeitern das ünternehmungscapital zugänglich zu machen,
aber er erreicht zugleich mit diesem noch einen anderen: dem ünter-
nehmungscapitale umgekehrt auch die Arbeit zu verbinden. Was ist das
Grundübel in der heutigen Actien-Capitalunternehmung? Dass dem Actionär
die allein durch die Arbeit zu schaffende persönliche Beziehung zum Ge-
schäfte fehlt, daher er so leicht versucht ist, Speculant zu werden, die
dauernden Geschäftsinteressen um seines augenblicklichen Vortheiles willen
zu verletzen, oder aber sich damit bescheidet, wie ein Fremder, fast wie ein
Gläubiger, dem ganzen Betriebe fernzubleiben, mit dem er nichts zu schaffen
hat. Während Godin beiden Folgerungen begegnet, verfällt er aber doch
nicht in das Extrem, das Capital ganz starr an die Arbeit zu binden. Er
nimmt auf die unvermeidlichen Abweichungen des Einzelinteresses Eück-
sicht und erlaubt dem Capitale eine gewisse Beweglichkeit, die einerseits
dem Genossen bei der Verwertung seines Besitzes zugute kommen muss,
und andrerseits auch dem Geschäfte wenn nöthig fremdes Capital zuführt
oder erhält.
Godin bezeichnet als Angehörige seiner Gesellschaft alle Arbeiter
ausser den „Hilfsarbeitern" und ausserdem die Interessenten. Civilrechtlich
müssen selbstverständlich alle diejenigen den Gläubigern haften, welche
unter irgend einem Titel Vermögenseinlagen im Geschäfte stehen haben.
Alle diese Personen sind es auch, auf die sich die gesellschaftlichen Ver-
luste vertheilen.
Die hier im kürzesten Auszuge mitgetheilten statutarischen Bestim-
mungen der Association von Guise können ein abschliessendes ürtheil über
den Wert der Einrichtungen Godin's nicht erlauben. Sie können nur zu
einem genaueren Studium derselben anregen. Gewiss liegt hier eine un-
gewöhnliche organisatorische Leistung vor, der Versuch einer wahren Ver-
fassung des Grossbetriebs, wo das in Eechtsregeln gefasst ist, was jetzt
durch Willkür, Herkommen und die ungeschriebenen Gebote des Concurrenz-
1 Marktes nicht „geregelt" sondern bloss vollzogen wird. Godin will keines-
wegs, dass Talent und Besitz auf ihre Vorrechte verzichten, er will nur,
dass sie die einfache Arbeit auch zu ihrem Rechte kommen lassen. Worauf
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 139
er für sich verzichtet hat, das sind seiner Meinung nach nur die schein-
baren Vortheile des Augenblicks, die preisgegeben werden müssen, um die
grössten und dauerndsten Erfolge zu behaupten.
XL
Die Einrichtungen Leclaire's^) haben mit denen Godin's viel Ver-
wandtes. Leclaire hat ohne Zweifel den Euhm der Priorität für die meisten
Ideen, aber Godin hat sein System noch weiter durchgebildet, wie es auch
der grössere umfang und die grössere JSchwierigkeit des von ihm geführten
Betriebes verlangten. Das Leclaire'sche Geschäft führt Maler-, Vergolder-
und ähnliche Arbeiten aus, sein Capital wurde allmählich auf 400.000 Francs,
seit 1. Jänner 1891 bis auf 800.000 Francs gesteigert, die Anzahl der
beschäftigten Arbeiter und Beamten betrug 1870 758, 1880 949, 1889
959 Mann. Auch Leclaire hat als Arbeiter begonnen und ist als reicher
Mann, mit Hinterlassung eines Vermögens von 1,200.000 Francs gestorben;
er hat es oft gesagt, dass er ohne sein Gewinntheilungssystem niemals so
reich geworden wäre. Leclaire enthielt sich seit 1865 jeder Einflussnahme
auf die Leitung seines Geschäftes, 1872 starb er, und auch darin ist die
Analogie mit dem Godin'schen Unternehmen fortgesetzt, dass trotz des Todes
des Begründers das Geschäft auf der von ihm geschaffenen Grundlage sich
weiter erhielt und gedieh.
Die Entwickelung des Leclaire'schen Geschäftes und seine Einrichtungen
sind, namentlich in Eücksicht auf die Gewinnbetheiligung der Arbeiter und
deren ausserordentliche Erfolge, oft beschrieben worden. Die betreffenden
Darstellungen in den bekannten Werken von Böhmert und Gilman ver-
dienen in den weitesten Kreisen gelesen zu werden. Ich kann mich hier
umso kürzer fassen, als sich, wie gesagt, vieles mit den Godin'schen Ein-
richtungen berührt.
Auch im Hause Leclaire haben alle Arbeiter ohne Ausnahme Anrecht
auf Gewinnbetheiligung. Der halbe Reingewinn jedes Jahres wird den
Arbeitern baar ausbezahlt.
Unter den Arbeitern besteht wieder eine bevorzugte Elite, „noyau"
(1887 aus 131 Mitgliedern bestehend). Unter deren Vorrechten ist wieder
zu erwähnen die besondere Berücksichtigung in Hinsicht auf dauernde
Beschäftigung. Die Mitglieder des „noyau" bilden die Generalversammlung,
die den Schiedsrath erwählt, bei der Bestimmung der Chefs mitwirkt
und über Statutenänderungen entscheidet.
Die Mitglieder des „noyau" können in die wechselseitige Hilfscasse auf-
genommen werden. Die Hilfscasse ist ihrerseits am Geschäfte als Comman-
ditistin mit dem halben Geschäftsfonde (200.000, jetzt 400.000 Frcs.)
betheilioft.
V) Siehe die Statuten in „Maison Leclaire. A. Defourneaux et Cie. Eeglement
de la niaison. Acte de Societe A. Defourneaux et Cie.« Paris 1»73. Dazu Bulletin de
la participation aux benefices vom Jahre 1891 S. 65 f.
140 Wieser.
Neben ihr enthält die Gesellschaft zwei (jetzt drei) öffentliche,
persönlich haftende Gesellschafter, welche den Betrieb zu leiten haben und
die Geschäftsherren sind, mit, wie erwähnt werden mag, durch die eigen-
thümliche genossenschaftliche Verfassung thatsächlich nicht im mindesten
eingeschränkter Autorität. Sie sind Eigenthüm^r des halben Capitales. Tritt
nach dem Tode eines der Chefs ein neuer in die Firma ein, der den auf
ihn entfallenden Fond nicht einzulegen vermag, so müssen die Erben seines
Vorgängers dessen Capital so lange stehen lassen, bis es aus den Einkünften
des neuen Chefs zurückgezahlt werden kann. Den öffentlichen Gesellschaftern
gebürt, neben massigem Gehalt und b^/^ Capitalszinsen, ein Viertel des
Reingewinnes, dessen eine Hälfte, wie bereits erwähnt, unter die Arbeiter
vertheilt wird. Das letzte Viertel gebürt der Hilfscasse als Commanditistin.
Die Chefs sind, so oft eine Stelle frei wird, aus den Oberbeamten
des Geschäftes über Vorschlag des Schiedsrathes durch die General-
versammlung zu wählen, und dieser Wahl müssen dann noch die älteren
Chefs, beziehungsweise der Vorstand der Hilfscasse ihre Zustimmung
ertheilen. Jeder Chef kann von den übrigen im Verein mit dem Vorstand
der Hilfscasse, nach Anhörung zweier mit den Functionen eines Aufsichts-
rathes betrauten Delegierten der Generalversammlung, zur Abdankung verhalten
werden.
Die Oberbeamten des Geschäftes sind möglichst aus den Arbeitern
zu nehmen, die dem „noyau" angehören. Sie werden nach einem Concurse
durch die Generalversammlung vorgeschlagen, worauf sie noch der Bestätigung
durch die Chefs und den Vorstand der Hilfscasse bedürfen.
Als wesentlicher Gehalt der Organisationen Leclaire's und Godin's ist
also festzustellen:
Ausser dem allen Arbeitern gemeinsamen Rechte auf Reingewinn
und dem Ansprüche auf „Versorgung" (der allerdings bei Leclaire nur der
Elite zusteht) haben die begabteren und strebsameren Arbeiter noch zwei
Aussichten: die eine, sich am Geschäfte mit Capital betheiligen und die
bedeutungsvollen Rechte der Generalversammlung ausüben zu können,
und die andere, in die höheren Beamtenposten und zuletzt selbst
die höchste Stelle des Chefs der Unternehmung vorzurücken, wenn das
Vertrauen ihrer Genossen und ihre Leistungen sie dazu berufen. Die Hier-
archie der Leitung der Grossunternehmung ist nicht aufgehoben, ja nicht*
einmal erschüttert, nein, vielmehr moralisch und intellectuell gefestigt, aber
sie ist dem Arbeiter nicht mehr unzugänglich, sie ist ihm geöffnet. Das
ist ein Punkt, der über den Discussionen, die hinsichtlich der Ansprüche
auf den Capitalbesitz geführt werden, gewöhnlich vernachlässigt wird, der
aber von ganz gleich grosser Wichtigkeit ist.
Ich habe bei dieser Darstellung alles das nicht erwähnt, was Leclaire
und Godin gethan haben, um ihre Arbeiter nicht bloss intellectuell sondern
auch moralisch zu heben. Beide waren sich dessen auf das vollste bewusst.
dass höhere Ansprüche auch verdient sein müssen und vom ungebildeten
rohen Arbeiter nur missbraucht werden würden.
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 141
xn.
Einen wesentlich andern Typus der Productivassociation im Gross-
betriebe zeigt das von A. Boucicaut begründete Warenhaus „Au bon
marche\ Das Geschäfts capital dieses Hauses beträgt nicht weniger als
20 Millionen Francs, ein Keservefond in der doppelten Höhe ist vorgesehen.
Die Geschichte des Geschäftes, dessen Gründer gleichfalls mit nichts be-
gonnen hatte, ist bei Gilman erzählt und in der deutschen Uebersetzung
seines Buches von L. Katscher bis auf die neueste Zeit fortgesetzt. Das
Geschäft hat Gewinnbetheiligung und eine munificente Altersversorgung
durchgeführt, für die namentlich. die Witwe Boucicaut's in der grossmüthig-
sten Weise die Fonds anwies. Frau Boucicaut überliess schon bei ihren
Lebzeiten Antheile am Geschäfte einigen ihrer Angestellten, welche Er-
sparnisse gemacht hatten, hauptsächlich den Oberbeamten, und nach ihrem
Tode, nachdem sie ihre Angestellten und die Versorgungscasse mit gross-
artigen Legaten bedacht hatte, gieng das Geschäft vollends in den Besitz
von Angestellten des Hauses über. Ich gebe im Folgenden den wesentlichen
Inhalt der Gesellschaftsstatuten nach ihrer neuesten Fassung vom 24. Sep-
tember 18901).
Die Gesellschaft ist eine Commanditgesellschaft auf Actien. Das
Capital von 20 Millionen ist in 400 Actien zu 50.000 Francs zerlegt, die
aber wieder in Achtelantheile weiter zerlegt werden können. Für unseren
Zweck interessant sind nur diejenigen Bestimmungen, die sich auf die
Leitung beziehen, sowie diejenigen, die die Verbindung des Capitalbesitzes
mit der Arbeit betreffen. In letzterer Beziehung ist zu erwähnen, dass die
Actien auf Namen lauten und an fremde nicht zur Gesellschaft gehörige
Personen nur mit Zustimmung der Generalversammlung veräussert werden
können. Wird die Zustimmung verweigert, so kann der Besitzer den Gesell-
schaftsmitgliedern die Actien zum Verkaufe anbieten und schliesslich eine
notarielle Versteigerung erwirken, bei der aber ausser den Gesellschafts-
mitgliedem nur solche Personen mitbieten können, die entweder von
den Gewinnen oder von den Geschäftsumsätzen des Hauses Antheile
beziehen.
Die Leitung des Geschäftes steht den drei persönlich haftenden Gesell-
schaftern zu. Sie haben „les pouvoirs les plus etendus pour Tadministration
des affaires de la societe". Sie sind auf 7, bezw. 6 und 5 Jahre bestellt,
ihre Nachfolger werden je auf 5 Jahre bestellt werden, übrigens sind di»-
derzeitigen Geranten wieder wählbar. Die Wahl erfolgt durch die General-
versammlung, die im übrigen die gewöhnlichen Hechte in Betreff Dividenden-
bestimmung. Rechnungsprüfung, Statutenänderungen, Capitalveränderungen
u. s. f. hat und der auch die wichtigsten Acte der Vermögens Verfügung,
wie z. B. über Immobilien, vorbehalten sind. Die Geranten beziehen
36.000 Francs Gehalt, der Eangsälteste von ihnen 48.000 Francs, ausser-
1) Statuts de la Societe en commandite par actions Plassard, Morin, Fillo'
«fc Cie. (Au bon marche) Paris.
142 Wieser.
dem jeder 3 Proc. Tantieme vom Eeingewinn. Jeder von ihnen muss min-
destens 100.000 Francs Gesellschaftsantheil besitzen, die der Association
als Unterpfand dienen.
Die Verfassung der Gresellschaft nähert sich mehr der einer rein capi-
talistischen Gesellschaft. Immerhin ist bemerkenswert, dass das Capital sich
in den Händen von Angestellten befindet, dass es möglichst für Angestellte
reserviert bleiben soll und dass man für die Leitung die Form einer Com-
manditgesellschaft auf Actien gewählt hat.
XIII.
Alle drei soeben beschriebenen Associationen des Grossbetriebes sind,
ausser durch ihre Verfassungen, noch durch eine andere Thatsache bedeu-
tungsvoll, dass sie nämlich ihre Begründung der Initiative der Einzelunter-
nehmer verdanken, denen die betreffenden Betriebe vorher gehörten, Schulze-
Delitzsch will seine Productivgenossenschaften auf Selbsthilfe der Arbeiter
begründen. Gewiss kann man die Arbeiter, wenn man sie zur Genossen-
schaftsbildung auffordert, auf nichts als auf ihre Selbsthilfe verweisen, s i e
dürfen nicht auf die Mitwirkung Anderer pochen, und gewiss ist ferner,
dass die aus der Selbsthilfe hervorgegangenen Productivgenossenschaften
die höchste moralische Kraft der Arbeiterschaft erweisen. Sollen deshalb
Associationen von „oben" her unerwünscht sein? Sie erweisen auf Seite
ihrer Urheber eine nicht mindere moralische Kraft, sie sind aussergewöhn-
liche Leistungen wohlwollenden und erziehenden Geistes. Immer haben an
dem Werke der „aufsteigenden Classenbewegung" die oberen Classen einen
ebenso wichtigen Antheil gehabt als die unteren, aufsteigenden Classen
selbst — sollte es gerade in der Bewegung der industriellen Lohnarbeiter
anders sein müssen? Associationen, die durch die Unternehmer selbst be-
gründet werden, haben, ganz abgesehen davon, dass sie den nothwendigen
materiellen Fond mitbringen, den grossen Vorzug für sich, dass sie von
vorneherein Einrichtungen des Friedens, der Versöhnung sind, weil sie alle
Betheiligten, die Arbeiterschaft, die Beamten und den Unternehmer, weil
sie die Thätigkeit und das Capital vereinigen — sollten gerade sie aus-
geschlossen werden müssen und nur Genossenschaften des Parteigeistes
und Kampfes erlaubt sein?
Fragen wir lieber, welche Aussichten dafür bestehen, dass das von
Godin und seinen Geistesverwandten gegebene Beispiel nachgeahmt werde.
Ugo Eabbeno, der Geschichtschreiber der Productivgenossenschaft, erzählt,
dass er bei dem Besuche, den er Godin im Familisterium zu Guise machte,
obwohl hingerissen von der Grossartigkeit des hier zur That gewordenen
Gedankens, doch nicht umhin konnte, seine Zweifel zu äussern, ob ähnliche
Werke wieder geschaffen werden könnten. Godin, der die Frage nicht ganz
verstand, entgegnete mit grosser Lebhaftigkeit, dass er hundert, tausend
Familisterien mit gleichem Erfolge einrichten wolle. Er hatte nicht ver-
standen, dass Ugo Rabbeno dachte, es würden sich niemals hundert,
tausend Godin 's finden.
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 143
Goclin, Leclaire, Herr und Fraa Boucicaut waren von der Ansicht
durchdrungen, dass den Arbeitern ein Kecht auf die Leistungen zukomme,
die sie ihnen zugestanden. Sie wollten nichts schenken, sie glaubten ihre
Anstalten auf einen festeren Boden als auf den der Gunst gebaut zu haben.
Man kann aber nicht übersehen, dass sie, um ihre Arbeiter so erhöhter
Ansprüche würdig zu machen, erst ein langes, mühsames Werk der Erzie-
hung vollenden mussten, durch welches sie dieselben so weit erhoben,
dass sie erwerbsfähig ge-nug wurden, um üebergewinn und Antheil am
Ei§;enthum zu verdienen; und dass sie voll eifriger Ungeduld nicht einmal
so lange zuwarteten, sondern mit ihrer Anerkennung immer schon lange
und überreichlich zuvorkamen. Ihre Werke sind Werke jener echten
Menschenliebe, die sich für nicht mehr als Menschenpflicht hält.
Das gemeine Maass der Menschenliebe ist nicht gross genug, um
ihnen sonderlich viele Nachahmer zu erwecken, ein anderer Umstand indes
gibt hierauf eine etwas besser begründete Hoffnung. Ihr Wohlwollen ist
ihren Unternehmungen und ihnen selbst zugute gekommen, und sie haben
durch den Erfolg bewiesen, dass ihre ersten Voraussetzungen begründet
waren, dass die Arbeiter wirklich reichlich alles zu vergelten vermochten,
was sie ihnen zugestanden hatten. Sie haben gezeigt, dass man nicht bloss
den Gewinn, sondern sogar die Geschäftsführung mit den Arbeitern th eilen
kann, ohne davon Schaden zu haben. Wenn das von ihnen gegebene Bei-
spiel besser bekannt wird, so ist es nicht unmöglich, dass mehr und mehr
Unternehmer sich demselben anschliessen, namentlich solche, denen ihr
Unternehmen so lieb geworden ist, dass sie seinen Fortbestand wünschen,
auch wenn sie selbst ihm nicht mehr vorzustehen vermöchten. Wem könnten
sie es besser anvertrauen, wer hat eine besser begründete Anwartschaft als
die erprobten Mitarbeiter und Mitführer? Die Menschen sind überhaupt
gerne wohlwollend, wenn sie es ohne Schaden für sich selber sein können.
Gewiss bedarf es nur noch einer etwas allgemeineren Erfahrung über das
System der Association des Unternehmers mit seinen Arbeitern, und gar
viele werden sich bereit finden, an Stelle des gegenwärtigen Haders und
der beständigen Bedrohung einen gesicherten, ehrenvollen und gewinn-
bringenden Friedenszustand zu setzen. Vielleicht — warum soll man das
nicht hoffen dürfen — wird einmal noch auf diesem Wege die Gross-
association allgemein ? Damit wäre dem gewerblichen Arbeiter für die ver-
lorne Aussicht, Handwerksmeister zu werden, dasjenige Aequivalent geboten,
das den Verhältnissen des Massenbetriebes, in denen nicht jeder selbständig
werden und Herrenrechte erlangen kann, entspricht.
Alle Schriftsteller, die für die Gewinnbetheiligung und die aus ihr
sich entfaltende Association eingetreten sind, sind darin einig, dass nichts
für die Entwickelung derselben gefährlicher wäre als Ueberstürzung. Mit den
Verhältnissen und der Erkenntnis soll sich der Uebergang von selbst
machen. Das Gelingen ist viel zu sehr von der Gunst der Umstände und
von einer innerlichen Läuterung bei allen Betheiligten abhängig, als dass
gewaltsame Förderung irgend etwas auszurichten vermöchte.
1 44 Wieser.
Warum hat das alte Handwerk dem Arbeiter das Meisterrecfht ge-
geben? Ein äusserlicher Grund hat dies möglich gemacht, der, dass das
Handwerk nicht „übersetzt'' war; aber noch ein innerlicher Grund musste
hinzukommen, um den „goldenen Boden des Handwerks" zu sichern, das
war die Würde der Handwerksarbeit, die aus der Wichtigkeit hervorgieng,
welche sie gemäss dem technischen Vermögen der Zeit hatte, und aus dem
edlen Eifer, mit welchem der Handwerksstand sich seiner Aufgabe gerecht
zu machen wusste.
Für die Lohnarbeiter im Grossbetriebe standen von Anfang an^in
beiden Beziehungen die Verhältnisse höchst ungünstig. Den Unternehmern
fehlte es von Anfang an nicht an „Händen". Die Leute des zusammen-
brechenden Handwerks fielen ihnen zu, in Massen strömten, durch die
hohen Geldlöhne angelockt, die ländlichen Arbeiter herbei, die an
ein immerwährendes und aussichtsloses Dienstverhältnis gewöhnt waren
und noch nicht wussten, dass die Arbeit in der Fabriksluft ihre Küstigkeit
auf eine schwerere Probe stellen werde als die schlechtest bezahlte Arbeit
unter freiem Himmel gethan hatte. Was konnte unter diesen Umständen
der Arbeiter des Grossbetriebes mehr erwarten als den Lohn, kärglichen
Lohn, Lohn für den Tag ausbezahlt ohne Sicherung für die Zukunft? Wer
mehr verlangt hätte, dem würde einfach geantwortet worden sein mit dem
Hinweise auf die Vielen, die damit zufrieden waren. Es lag in der genauen
Consequenz der Verhältnisse des Arbeitsmarktes, dass der Fabriksherr seinen
Gewinn und seine Macht mit niemand zu theilen brauchte.
Das war das eine, und das zweite war, dass in den Anfängen der
Grossindustrie die Arbeit des gemeinen Mannes ihre beste, die erziehende
Kraft nicht äussern konnte. Die Arbeit richtete zugrunde statt zu erheben.
Ich will nicht im einzelnen darstellen wie es gekommen ist, dass in beiden
Beziehungen seither ein Umschwung zugunsten der industriellen Arbeiter-
schaft eingetreten ist. Aeusserlich .und innerlich sind sie eine Macht ge-
worden oder im Begriffe es zu werden. Die Wirkungen auf den Lohn und
das Dienstverhältnis sind nicht ausgeblieben, es ist ganz ausserordentlich,
was sich hieran verändert hat.
Wie sich die weitere Zukunft gestalten wird, das wird, so sehr
das Gefühl es anders wünschen würde, zunächst gleichfalls vom
Stande der Technik und des Arbeitsmarktes abhängen. Es wird sich
zunächst um die technisch - ökonomische Beurtheilung handeln, die die
Verrichtungen der Hilfsarbeiter auf die Dauer im modernen Fabri-
kationsprocesse erfahren werden. Fällt dieselbe ungünstig aus, dann steht
auch der Eechtsprocess für die Arbeiter schlimm. Solange ihre Verrich-
tungen nur wenig geschätzt werden, solange wird der Unternehmer sich
von seinen Leuten nicht abhängig fühlen, er wird denken: „Ihr seid doch
nur Arbeiter wie es andere auch gibt, warum sollt gerade- ihr mehr
erhalten als den gemeinen Lohn?" Ist dagegen jeder Fabrikationsprocess
bis zur höchsten Complicität und Feinheit ausgebildet, hält man dafür
dass in dem grossen Käderwerke des Betriebes der erprobte Arbeiter die
Grossbetrieb und Productivgenossenschaften. 145
am schwersten ersetzliche Bedingung sei. dann stellt sich von selbst eine
andere ökonomische Betrachtung seiner Dienste ein. Dann zählt er anders
als der ungeschulte, fremde Arbeiter draussen, dann gehört er mit zur
Fabrik so wie der Unternehmer, und man wird es selbstverständlich finden,
dass der letztere den Erfolg der Fabrik im entsprechenden Maasse mit ihm
theile. Das Mengenverhältnis des Capitalbesitzes und der Begabung und
Ausbildung zur rohen einfachen Arbeitskraft wird dabei selbstverständlich
mit in die Wagschale fallen.
Sodann ist die „Frage" auch eine Culturfrage. Es wird sich darum
handeln, ob das Yolk, in Haupt und Grliedern, in Herrn und Arbeitern,
sich zu der Culturhöhe ausreifen wird, um technische Leistungen vorzüg-
lichsten Grades nicht nur hervorbringen, sondern auch würdigen zu können;
und ob es die genügende Eeinheit des Gefühles, Schärfe der Voraussicht
und Festigkeit des Wesens bewähren wird, um die technische Entwickelung
mit dem nothwendigen persönlichen Entgegenkommen, mit zeitgemässen
Organisationen, mit vernünftigen Rechtszugeständnissen zu ermuntern und
mit dem entsprechenden Streben zu begleiten.
Man kann sagen, dass die Association des Grossbetriebes — wie ja
schon die Gewinnbetheiligung — eine Betriebsform höchster technischer
wie cultureller Intensität ist, die nur dann versucht werden soll, wenn
die höchsten Erfolge mit den höchsten intellectuellen und moralischen Kraffc-
einsätzen gewonnen werden sollen. Vorher ist sie so wenig am Platze als
sie nachher vielleicht entbehrlich ist.
Unser Vaterland, Oesterreich, ist ein Land verhältnismässig wenig
intensiver Wirtschaft. Wir kennen die Gewinnbetheiligung erst für Direc-
toren und Oberbeamte. Vielleicht in keinem Culturstaate ist es für den
Augenblick müssiger, von der genossenschaftlichen Einrichtung des Gross-
betriebes zu reden. Verhältnismässiger Mangel an Capital, an höherer
technischer Ausbildung wie an allgemeiner Volksbildung, an Unternehmungs-
lust, an genossenschaftlicher Reife, überhaupt an Schulung für grosse
Verhältnisse, wenn auch wohl nicht, wie öfters befürchtet wird, an moralischer
Kraft für dieselben machen die Idee derzeit so aussichtslos, dass man für
sie kaum auch nur theilnehmende Hörer finden dürfte. Aber die sociale
Entwickelung geht rasch, und es ist kein Zweifel, dass unsere Volkswirt-
schaft von der vollen Kraft der socialen Erschütterungen erfasst werden
wird, die sie jetzt erst noch in den Anfängen kennt, die aber jede
entwickelte Volkswirtschaft wie eine mit der Reife des Alters kommende
Krankheit heimgesucht haben. Mögen wir von den Erfahrungen anderer
Länder Nutzen ziehen. Sie zeigen uns die Wege des Kampfes und die der
Versöhnung. Es ist ein erlaubter Wunsch, dass die Gedanken in unserem
Vaterlande sich möglichst vom Anfang und durchaus auf die letzteren
richten möchten.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. I. Heft. IQ
DIE ENTSTEHUNG DER HAUSINDUSTEIE,
MIT RÜCKSICHT AUF ÖSTERREICH.
VON
DR- EUGEN SCHWIEDLAND.
lieber den Begriff der Hausindustrie bestehen noch vielfach unklare
Ansichten. Besonders in Oesterreich werden in den einschlägigen Publica-
tionen unter diesem Ausdruck ganz verschiedenartige Formen des gewerb-
lichen Betriebes zusammengefasst.
Der erhobene Vorwurf trifft auch die Begriffsabgrenzung, welche der
IX. internat. statistische Congress vom Jahre 1876 zu Budapest in Bezug auf die
Hausindustrie vornalim, und eben diese wird bei uns, insbesondere seitens
nicht streng fachwissenschaftlicher Autoren, vielfach als massgebend betrachtet.
Der Congress stellte ^) in Bezug auf im Hause betriebene,
seiner Auffassung nach «omit „ hausindustrielle " gewerbliche Thätigkeiten
eine Dreith eilung auf. Neben dem Hausfleiss, welcher als „Hausindustrie
innerhalb der Familie", Industrie du foyer, bezeichnet wurde, — dieser
ursprünglichen und einfachsten Form gewerblicher Betriebsamkeit des Hauses
für den eigenen Bedarf, bei welcher keine Unternehmung vorhanden ist und
keine Herstellung von Waren stattfindet, — wurde nationale oder her-
kömmliche und fabrikmässige Hausindustrie unterschieden. Bei dem
letztgenannten Betriebssysteme lässt, nach der Charakteristik Engel's in
der Congress-Sitzung vom 2. September^) „ein Handlungshaus von selbst-
ständigen oder unselbständigen, aber in eigener Behausung arbeitenden
Gewerbetreibenden Waren oder Theile von Waren, nach bestimmten Vor-
schriften oder Mustern gegen Stück-Bezahlung fertigen und liefert in der
Kegel auch die Kohstoffe zu den Waren oder Warenth eilen. " Die tradi-
tionelle Hausindustrie hingegen wurde als eine Beschäftigung der Land-
wirtschaft betreibenden Bevölkerung im Nebenberufe aufgefasst, welche
die nicht ländlichen Arbeiten gewidmete Zeit gewinnbringend ausfüllt.
^) Compte-Rendu de la neuvieme Session. II« Partie: Travaux du Congres.
Budapest 1878, S. 691 fg.
2) Ve Section. S. 413.
Die Entstehung der Hausindustrie, mit Eücksicht auf Oesterreich. I47
Der Congress hatte die Aufgabe, einen allgemeinen Fragebogen zu
berathen und musste daher alle concreten Erscheinungsformen der Haus-
industrie charakterisieren und beschreiben; es kam ihm auf die statistische
Erfassung und Zusammenfassung aller von den Vertretern der verschiedenen
Staaten angeführten Formen der Betriebsamkeit ausser dem Handwerke
und der Fabrikindustrie an. Eine theoretische Erkenntnis der Haus-
industrie lässt sich jedoch nicht gewinnen, ohne die Entstehung derselben
zum Ausgangspunkte der Betrachtung zu machen.
Vom wissenschaftlichen Gesichtspunkte ist denn auch die vorge-
nommene Begriffsabgrenzung nicht richtig. Schon die Dreitheilung ist
falsch, weil sie den Hausfleiss mit umfasst, dessen Entstehung,
wirtschaftliche und sociale Bedeutung eine von jener der Hausindustrie
gänzlich^ verschiedene ist.
Gleichwohl liegt jener Systematik insoweit eine richtige Ansicht zu
Grunde, als in Bezug auf die wahre „Hausindustrie" — nach Ausscheidung
des Hausfleisses, als eines generisch vollständig verschiedenen Productions-
systems — noch eine Verschiedenheit zu beachten ist. Diese liegt in der
Geschichte der Entstehung der Hausindustrie und wurde jüngst von Bücher
in einer vortrefflichen Abhandlung ^) mit Fug ganz allgemein auf den
„grundverschiedenen Gang der socialen und wirtschaftlichen Entwicklung
im Osten und im Westen von Europa" zurückgeführt.
Haben West- und Mitteleuropa das Städtewesen und das Handwerk
als originale Schöpfungen hervorgebracht, so wuchs das letztere im Osten
hauptsächlich aus dem Hausfleisse, aus der gewerblichen Nebenbeschäfti-
gung des Landbewohners hervor. Dort entsteht das Kleingewerbe, indem
ein Theil der Familie, weil etwa die Grundstücke zu ihrer Ernährung
nicht mehr ausreichen, die Producte ihres Hausfleisses aber anderseits ent-
sprechender Nachfrage begegnen, sich in stetig steigendem Maasse und
eventuell unter Zuziehung von Gehilfen der gewerblichen Production zuwendet.
Der auf diese Art für den Absatz entstandene selbständige gewerb-
liche Betrieb ist das Handwerk im Osten. Um das Bild seiner Ent-
stehung klar zu machen, braucht man bloss die Bemerkung des russischen
Ministerial-Directors Weschniakoff anzuführen: dass in seiner Heimat
die Städter, wie die Landbewohner, in gleichem Maasse theils Land-
wirtschaft, theils Gewerbe betrieben haben und dass diese Gleichförmigkeit
zwischen Stadt und Land zu Ende des vorigen Jahrhunderts manche
fremde Eeisende auffällig berührte 2) — oder auf A. Thun hinzuweisen,
') Hausfleiss und Hausindustrie, im Wiener „Handelsmuseum" 1890, Nr. 31 fg.
2) Notice sur Tetat actuel de l'industrie domestique en Eussie. St. Petersbourg,
Ministere des domaines, 1873, S. 6: „H ne pouvait s'y produire de difference entre les
villes et les campagnes; l'industrie ne pouvait pas se concentrer dans les villes et y
former de grands centres, comme dans TEurope occidentale. Les habitants des villes, de
m^me que ceux des campagnes, s'occupaient indistinctement, tantöt d'agriculture, tantöt
d'industrie, gräce aux immenses terrains dont pouvaient disposer les uns et les autres
originairement. Cette communaute de travaux de nos populations rurales et urbaines a
frappe quelques observateurs etrangers qui ont visite la Kussie ä la fin du siecle passe."
10*
148 Schwiedland.
der^) in gleicher Weise den häufig landwirtschaftlichen Charakter, welchen
die Städte Mittelrusslands noch in -unseren Tagen tragen, hervorhebt.
Die osteuropäischen Völker, welche nicht die Cultur der alten
römischen Welt als Unterlage ihrer ferneren Entwicklung vorfanden und
überdies in verhältnismässig geringer Dichtigkeit weit ausgedehnte Länder-
strecken bewohnten, haben, um den treffenden Ausdruck Bücher's zu ge-
brauchen, die „ganze moderne Industrieentwicklung unmittelbar auf die
älteste Form der Stoffveredlung, diejenige der patriarchalisch geschlossenen
Hauswirtschaft aufgesetzt."
Ob wir aber im Westen dem Handwerk infolge der Entwicklung des
Städtewesens als einer besonderen und bedeutsamen historischen Erscheinung
begegnen, im Osten dagegen die gewerbliche Erzeugung ungleich länger
Haussache ist, ob im Westen die Berufsth eilung und eine reiche Berufs-
bildung frühzeitig vor sich geht, im Osten dagegen der Anfang gewerb-
licher Arbeitstheilung erst in spätere Zeiten fällt, stets ist die ursprüng-
lichste gewerbliche Entwicklungsstufe, die historische . Urform heutigen
Industriewesens, der Hausfleiss der natu ral wirtschaftlichen
Epoche. „It was . . . household manufacture, in which every different
part of the work was occasionally performed by all the different members
of almost every private family, but so as to be their work when they had
notbing eise to do, and not to be the principal business from which
any of them derived the greater part of their subsistence." Diese
gelegentliche Definition Smith'-) ist ganz zutreffend. In der That findet
keine Erzeugung einer besonderen Art von Gegenständen durch Gewerbe-
treibende aus Erwerbsabsicht statt; es ist eine Erzeugung in der Familie
für die Familie, die hier erfolgt.
Diese naturalwirtschaftliche Verfassung, in welcher noch Land-
wirtschaft und Gewerbe (sozusagen begrifflich) in derselben Familie vereinigt
sind, hat vermöge der Beste, in welchen sie sich noch erhält, ein bedeu-
tendes gegenwärtiges Interesse. Auch heutigen Tages vollzieht sich in jeder
Hauswirtschaft regelmässig eine gewisse gewerbliche Thätigkeit für eigene
Bedarfszwecke, wenngleich dieselbe sichtbar in stetem Zurückgange befindlich
1) Landwirtschaft und Gewerbe in Mittelrussland, Leipzig 1880, z. B. S. 234.
Peter der Grosse rief in Eussland die ersten Manufacturen ins Leben und der Fabriks-
betrieb machte unter Alexander I. seine ersten Fortschritte. (Vgl. D e d e , der Handel
des russischen Eeiches, Mitau 1844, und die ganze in v. Rede n's statistisch-gewerb-
lichen Darstellung: Das Kaiserreich Russland, Berlin 1843, angegebene Literatur.) Der
österreichische Generalconsul in Odessa Dr. v. Gutmannsthal berichtet im Jahre 1849
aus Anlass der damaligen Ausstellung, dass es in Russland eine eigene Classe von
Fabriksarb eitern nicht gebe (Russlands Industrie-Zustände, Wien 1850, S. 181), eine
Angabe, welche nach Dement Jeff (Die Lage der Fabriksarbeiter in Central-Russland,
im Archiv für soz, Gesetzgebung und Statistik, 1889) zum Theil heute noch zutrifft. Siehe
im Uebrigen auch die einschlägigen gelegentlichen Ausführungen und Bemerkungen in
Besobrasof, Etudes sur Teconomie nationale de la Russie, 2 Bde, St. Petersburg,
1873—86.
^) Wealth of Nations, I., Chapt. XL (vorletzter Absatz des vorletzten Abschnittes).
Die Entstehung der Hausindustrie, mit Eücksicht auf Oesterreich. 149
ist — allein nicht auf diese geringfügigen Ueberbleibsel einer primitiven
Wirtschaftsepoche wollen wir verweisen. In ungleich namhafterem Umfange
sind — auch im westlichen Europa — in Dörfern und auf Einzelhöfen die
Landwirtschaft treibenden Bewohner für die Bedürfnisse des eigenen Hauses
gewerblich thätig.
Je mehr wir nach dem Osten gehen, desto allgemeiner wird diese
Oikenwirtschaft — die leibhaftige Singular Wirtschaft der älteren National-
ökonomie — bei welcher die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse des
Wirtschafters in aller Regel im Umkreise seines Hauses entstehen. Sie
findet sich in reinerer Form schon in Oesterreich. Durch das Vordringen der
modernen Verkehrswirtschaft zersetzt und zurückgedrängt, ist diese wirt-
schaftliche Autarkie noch in den Schilderungen isländischer, hochschottischer,
norwegischer, polnischer, russischer, südslavischer, südösterreichischer, un-
garischer und galizischer Bauernschaften zu erkennen. Am vollendetsten
innerhalb Oesterreichs aber, dessen hauswirtschaftlichen Verhältnissen wir
uns im Besonderen zuwenden wollen, in der Bukowina.
„Beim Bau des Hauses — berichtet ein Gewährsmann aus diesem
Lande ^) — versteht es der Mann in der Regel, die Arbeiten des Zimmer-
mannes, des Dachdeckers u. dgl. zu versehen, während das Weib das Bemör-
teln der geflochtenen und gestockten Wände oder das Dichten der Block-
wandfugen mit Moos, das Stampfen des Fussbodens und viele andere ein-
schlägige Arbeiten übernehmen muss. — Vom Anbau der Gespinnstpflanze
oder der Aufzucht des Schafes an bis zur Fertigstellung der Bett- und
Kleidungsstücke aus Leinen, Wolle oder Pelzwerk, Leder, Filz oder Stroh-
geflecht, erzeugt ferner das Bukowinaer Landvolk alles, — selbst die Farb-
stoffe aus eigens gezogenen Pflanzen, sowie die nöthigen, allerdings höchst
primitiven Handwerkzeuge. Und so ist es im allgemeinen auch mit der
Nahrung. Mit Aufwand ziemlich bedeutender Mühe pflegt der Bauer sein
Maisfeld, stellt auf der Hausmühle das Kukuruzmehl her, das er zum Backen
seiner Hauptkost (Mamaliga, der Polenta ähnlich) verwendet. Auch seine
einfachen Ackerwerkzeuge, die Gefässe und Geräthe für die Wirtschaft und
die Küche weiss er selbst oder versteht wenigstens ein Autodidact im
Orte herzustellen; nur die Bearbeitung des Eisens, welches Material die
eingeborne Bevölkerung in äusserst geringen Mengen verbraucht, überlässt
er im allgemeinen den im Lande zerstreut lebenden Zigeunern.''
Aehülich Geheimrath Graf Dzieduszycki^) in Bezug auf Galizien:
„Unser Bauer hat bis in die jüngste Zeit und in entlegenen Gegenden noch
jetzt, alles was er für sich und seine Familie brauchte, selbst, und zwar
hauptsächlich aus den Producten seiner eigenen Wirtschaft mit Hilfe seiner
ganzen Familie verfertigt. Seine Hauptbeschäftigung war immer die Land-
wirtschaft, und zwar nach örtlicher Möglichkeit in allen ihren Zweigen."
^) Herr Carl Komstorfer, Professor an der k. k. Staats-Gewerbeschule zu Czernowitz.
^) Die Hausindustrie Oesterreichs. Ein Commentar zur hausindustriellen Ab-
tii eilung auf der allg. land- und forstwirtschaftl. Ausstellung Wien, 1890. Redigiert von
W. Exner. Wien 1890. S. 107—109.
150 Schwiedland.
Die von der landwirtschaftlichen Arbeit freie Zeit benützten die Bauern-
familien zur Herstellung der von ihnen benöthigten gewerblichen Erzeug-
nisse. Im Herbst wurden Hanf, Flachs und Wolle zum Spinnen vorbereitet
und Farbstoff enthaltende Kräuter gesammelt, im Winter der Spinnrocken
in Thätigkeit gesetzt und die Kleidungsstücke für alle Familienangeliörigen
seitens der Frauen verfertigt. i) Leinen und auch sonstige in der Gegend
zu Kleidung verwendete Stoffe wurden von den Männern gewebt, desgleichen
Schaf- und andere Thierhäute zu Stiefeln und anderem Hausbedarf, Holz
zu Wirtschaftsgeräthen, sowie Schilf und Weide zu Geflechten verarbeitet.
Ein alter Gebrauch war auch die Töpferei auf dem eigenen Töpferofen;
so bildete das Bauernhaus eigentlich eine Werkstätte der verschieden-
artigsten Gewerbszweige. „In vielen Gegenden ist es auch jetzt noch so,
in anderen hat jedoch eine Arbeitstheilung Platz gegriffen, u. zw. zwischen
Nachbarn, Insassen eines Dorfes, seltener einer ganzen Gegend (denn die
zur Befriedrigung der Bedürfnisse der Dorfbewohner dienenden Gewerbe
wurden in der Kegel alle im eigenen Dorfe betrieben), indem jeder Einzelne
nach Maassgabe seiner Handgeschicklichkeit in diesem oder jenem Ge-
werbe vorzugsweise arbeitete. In jedem Dorfe sind Weber, welche Hanf
und Flachs und — wo gebräuchlich — auch Wolle verweben, ferner
Schuster, Schneider, Schmiede, Wagner, Korb- und Strohflechter. Zimmer-
leute etc. Ein jeder von ihnen deckt seine und seiner Familie Bedürfnisse
und jene seiner Nachbaren. Alles Eohmateriale wird hauptsächlich aus der
eigenen Wirtschaft oder doch aus der nächsten Umgebung bezogen. Von
anderwärts wurden nur Salz und Eisen bezogen und gekauft." ^)
Es liegt im Wesen der Sache, dass die Bearbeitung von Eisen im
Hause nur schwer möglich war und so erhält die aus den ältesten Quellen ge-
schöpfte Vermuthung Spiegel's. dass bei den Iraniern anfänglich nur
Metallarbeiter als besondere Handwerker bestanden hätten, wirtschaftliche
Begründung.^) Der Bauer that denn auch in Galizien alles mögliche, um,
*) In gleicher "Weise ohlag in der deutschen Heldenzeit der Frau, ob Fürstin oder
Dienstmannsgattin, die Beschaffung der Kleidung für den ganzen Hausstand. (Siehe das
Nibelungenlied, 11. 30 und 31:
vil der edlen steine die frouwen leiten in das golt
Die si mit p orten weiden wurken üf ir wät
den jungen stolzen recken
65. dö sazen scoene frouwen naht [unde tac
daz lützel ir deheiniu ruowe gepflac
unze man geworhte die Sivrides wät,
(861.) do hiez ir juncfrouwen drizec meide gän
uz ir keraenäten Kriemhilt die künegin
die zuo zölhem werke beten groezlichen sin.
(365.) der frouwen unmuoze diu newas niht klein
inre siben wochen bereiten si diu kleit.)
2) Ähnlich berichtet über Congresspolen Frau S. D a s z y n s k a in der „Volks-
wirtschaftlichen Wochenschrift" (Wien) vom 12. Juni 1890, S. 556.
3) Nach Kraus' „Brauch und Sitte der Südslaven" (Wien 1885), einem Werk dessen
Darstellungen aus den neu-österreichischen Landen den vorstehenden Schilderungen aus
Die Entstehung der Hausindustrie, mit Rücksicht auf Oesterreich. 151
WO es angieng, Eisen durch Holz zu ersetzen, und so sieht man heute noch
da und dort Kader an Bauern wagen, die nicht mit eisernen Reif bändern,
sondern mit einem Stück harten jungen Holzes beschlagen sind, das auf
einer eigenthümlichen Vorrichtung gebogen wird. Diese Eäder, eine Be-
sonderheit vieler Waldgegenden, werden in andere und oft in entfernte
Theile des Landes ausgeführt.
Man kann das geographische Gegenstück dieser, einer primitiven
Cultur entsprechenden, geschlossenen Hauswirtschaft in Oesterreich antreffen,
ohne seinethalben bis in die südlichen Theile Osteuropas zu wandern. In
Steiermai'k finden sich deutlich ihre Spuren und wir sehen dort, wie die
moderne Verkehrs- oder „Welt" -Wirtschaft seit dem Baue der Eisenbahnen
auch in den entlegenen Thälern die räumliche Arbeitsth eilung stets mehr
und mehr verwirkliclit.
Die alten Nagelschmieden und die meisten Hauswalken sind seit
einer Generation ungefähr unbenutzt, die Webstühle zumeist bei Seite ge-
schafft, die Behelfe zur Erzeugung von Seife und ünschlittkerzen neben
den Essigständer in die Eumpelkammer gestellt. Allein noch andere Gegen-
stände als Essig und Kerze, Leinen und Tuch, Fass, Reif, Rechen und
ähnliches Holzgeräthe liefert jetzt der Kaufmann, welche — die einen vor-
nehmlich in Obersteiermark, die anderen besonders im Unterland — noch
unlängst als Hausproducte erzeugt wurden. Der Handel verdrängt auch in
immer steigendem Maasse die ehedem vielfach übliche häusliche Bereitung
von Oel aus Lein- und Kürbissamen, das ehemalige Mahlen der Brodfrucht
auf der Handmühle (mit zwei Mühlsteinen geringen Durchmessers und
massiger Dicke) und die Zubereitung von Graupe. Die Körbe (aus Ruthen,
Stroh und Waldrebe), Waschtröge und Teigwannen, Fassreifen, Heugabeln
und -rechen, Sensen- wie Besenstiele wurden vordem durchgängig im Hause
erzeugt, gleichwie noch heute die Holzschuhe. Im engen Zusammenhange mit
der Landwirtschaft findet dagegen die Herstellung von Cider und Branntwein,
jene der Milchproducte und die Hausselcherei nach wie vor in der bäuerlichen
Wirtschaft statt. Im Unterlande wird das geschlachtete Schwein abgehäutet,
die Haut dem Lederer zum Gerben und Herrichten übergeben und dann
im Hause daraus die Beschuhung gefertigt. An manchen Orten werden auch
die Mauerziegel heute noch von den Bauern erzeugt, welche sie ohne fremde
Hilfe formen, trocknen und brennen; „meist wird mehrere Jahre daran
der Bukowina und Galizien analog sind, gab es auch bei den Südslaven ursprünglich
keine Handwerker ausser Schmieden. In Swiatniki-göme im Krakauer Gebiet
besteht noch eine zum Theil hausindustrielle Erzeugung von Schlössern, welche seit dem
XI. Jahrhunderte dort hergestellt werden, der Zeit, wo Bischof Stanislaus Szczepanowski
(St. Stanislaus, Bischof der Krakauer Diöcese, 1071—79) in jener Gegend gelernte
Schlosser aus der Fremde ansiedelte. Vgl. übrigens auch L i p p e r t, Culturgeschichte,
Band n, S. 217—8.
Auch in der germanischen Heldensage findet sich zuerst als selbständiges be-
triebenes Gewerbe das Schmieden von Waffen und Goldschmuck erwähnt, während
alle ührigen Bedarfsgegenstände vom Hauswirte selbst, seiner Frau und seinem Gesinde
erzeugt werden. Siehe die eddische Wielandsage.
152 Schwiedland.
gearbeitet bis der Bedarf gedeckt ist."^) Auch hier erblickt man also noch
in der Bauernwirtschaft das theilweis conservirte naturalwirtschaftliche Ge-
bilde, wenn auch in atrophischer Form.
In allen diesen Fällen ist die wirtschaftliche Autarkie, die alte pa-
triarchalische Hauswirtschaft als langsam verschwindende sociale Erschei-
nung weit reiner erhalten als gemeinhin in Mitteleuropa. Die Epoche, der
sie angehört bietet uns ein Bild dar, in welchem wir die Grundlagen der
modernen Volkswirtschaft: Arbeitstheilung und Tausch, in ihren Anfängen
erblicken, erstere bis zur Scheidung in leitende und in mechanisch aus-
führende Arbeit innerhalb der Grossfamilie, des Gehöftes gediehen, letz-
teren auf Ausnahmsfälle beschränkt. Hier besteht denn auch keine Volks-
wirtschaft im Sinne eines organischen Ganzen; die Urzellen, welche sie
bilden werden, stehen noch in keinem Zusammenhange. Anstatt einseitiger
und regelmässig auf einander angewiesener Wirtschaften finden wir autonome
Einzelwirtschaften von Grossfamilien, die, für sich selbständig, die einen
der anderen für gewöhnlich nicht bedürfen.^) In dieser Wirtschaftsepoche
kann man von einer Hausindustrie unmöglich reden.
Die erste Weiterentwicklung aus diesem Zustande vollzieht sich, indem
der üeberschuss der Hauswirtschaft im Tauschwege abgegeben wird. Man
kann in den Gebirgscantonen der Schweiz, z. B. in Graubünden, beobachten,
wie die Bauern neben den selbst gezogenen Kühen und Producten der
Feldwirtschaft auch hölzerne Heugabeln und ähnliches Wirtschaftsgeräth
auf die Wochenmärkte bringen.
Bald ist die eine oder andere Wirtschaft auf den Absatz angewiesen,
d. h. ihre gewerbliche Production wird zu einer Erwerb sthätigkeit, welche
ihr ständige Einnahmen liefert, die sie nicht entbehren könnte. Ein Bei-
spiel dieser Art bildet in Gebirgsdörfern Niederösterreichs (in Rohr und
in Schwarzau i. G., in Klosterthal, Längepiesting, Hellenbach und Hinter-
gscheid^) die Verfertigung von Bottichen durch Bauern aus dem Holze
eigener Waldungen^); so besteht als eine auf weiteren Absatz berechnete
^) S. Heinr. Graf Attems über „Steiermark" in der Ausstellungsschrift: Die
Hausindustrie Oesterreichs, S. 17.
2) Vgl. Bücher, 1. c. S. 535.
3) In der Bezirkshauptmannschaft Wiener-Neustadt, Gerichtsbezirk Guttenstein.
*) Die Bauern erzeugen mit Hilfe ihrer Söhne und der Knechte in der Regel
30 bis 50 Bottiche im Jahr. Durch diese Herstellung, die in den Herbst- und Winter-,
bei anderen auch in den Frühjahrsmonaten stattfindet, beschafft der Wirtschaftsbesitzer
oft das einzige Bargeld; daneben findet auch noch Tauschhandel statt. (So
verführt z. B. Mathias Buchhaas in Klosterthal im Jahr 20 bis 30 Bottiche, für die er
den Winterbedarf seines Hauses an Getreide eintauscht.) Das Beschlagen der Bottiche
mit Holzreifen, die aus den im besten Wachsthume befindlichen Bäumchen verfertigt
wurden, kommt infolge der Billigkeit der Eisenreifen und zur Schonung der Waldungen
neuestens mehr und mehr ab. In einzelnen Gemeinden (Rohr i. G.) ist die Erzeugung
der Maischbottiche bereits sehr zurückgegangen, weil die alten Wirtschaftsbesitzer ab-
starben und die jungen die Production nicht fortsetzen, da sie im Vertrieb ihrer Waren
durch die Vorschriften über das Hausierwesen und den Befähigungsnachweis für die Aus-
übung handwerksmässiger Gewerbe (Binderei), oder durch die engherzige Handhabung
Die Entstehung der Hausindustrie, mit Kücksicht auf Oesterreich. 153
bäuerliche Industrie in Steiermark, um Aussee, die Stickerei, und ähnlich
war. südlicher in Steiermark, die Erzeugung von Loden und Wiffltuch
traditionell, welches in andere Gegenden abgesetzt wurde.
Die gewerbliche Thätigkeit, welche bei umfangreichem Landbesitz
einen Nebenberuf für die Dauer des Winters bildet, coordinirt sich eben
in kleineren Wirtschaften, welche die Arbeitskraft des Eigenthümers
nicht ausschliesslich in Anspruch nehmen, dem Hauptberufe und dient,
indem sie sich auf das ganze Jahr erstreckt, ebenso Zwecken des Erwerbes,
wie in anderen Fällen die Landwirtschaft; die gewerbliche Arbeit wird eine
gewerbsmässige ; sie wird bald Haupt- und Lebensberuf, die Landwirtschaft
Nebenbeschäftigung.
Aus wirtschaftlichen Gründen also, — aus Armut oder um die
Producte der Land- und Forstwirtschaft zu verwerten, — wenden sich ein-
zelne Wirtschaften vorwiegend gewerblichen Verrichtungen einer besonderen
Art zu^) und diese Specialisierung wandelt sie um zu Betrieben, welche oft
alle Merkmale des Handwerks aufweisen.
Es entsteht, auf dem Tausche beruhend und auf ihn berechnet, ein
eigener gewerblicher Lebens beruf, eine besondere Erwerbsthätigkeit. neben
welcher die landwirtschaftliche Beschäftigung noch einhergehen kann. Das
örtliche Vorkommen gewisser Kohstoffe ^), das Vorhandensein von Natur-
kräften ^), ein zufälliges Ansiedeln fremder Gewerbsleute ^) gewährt in
höherem Maasse die Bedingungen für eine besondere Production und bei
einigermaassen fortgeschrittenen Culturverhältnissen vollzieht sich daher
bald eine gewisse räumliche Arbeitstheilung: auf dem Tausche beruhend,
dieser Bestimmungen und im Besuche der Märkte insbesondere noch durch die Furcht
vor Besteuerung behindert werden. (Nach österr. Gewerberecht wäre ihr Betrieb als „Haus-
industrie" aufzufassen und als solche von der Einth eilung unter die Gewerbe überhaupt
ausgenommen). Der Absatz leidet übrigens auch durch ein Zurückgehen der Nachfrage,
welches seinen Grund zum Theil im Aufhören der kleinen landwirtschaftlichen Brennereien
haben mag, so dass die besprochene Erwerbsquelle stets spärlicher wird.
Auf ähnliche Weise werden in Miesenbach Dachschindeln im häuslichen Neben-
betriebe erzeugt und zu Markte geführt.
1) Vgl. bezüglich Eusslands Stellmacher, Ein Beitrag zui Darstellung der Haus-
industrie in Kussland, Eiga 1886, S. 35: Die gewerbliche Thätigkeit am Wohnort des
Producenten ist „vorherrschend hervorgerufen worden durch den äusserst beschränkten
Umfang des auf den Einzelnen fallenden Landantheils, des „Nadjel", sowie durch die
geringe Fruchtbarkeit des Ackerlandes. Ausserdem beanspruchen die Feldarbeiten (in
Mittelrussland) bloss einen Zeitraum von fünf Monaten, der Bauer ist somit die übrige Zeit
des Jahres vollständig frei."
■^) So des Töpfei-thons in Galizien; vgl. weiter unten.
3) So der Wasserkräfte im Oetschergebiet in Niederösterreich, wo im Mittelalter
eine kräftige Kleineisenindustrie sich entwickelte.
*) So in dem oben erwähnten Falle der Ansiedlung von Schlossern bei Swiatniki-
göme, wo das ganze Mittelalter hindurch Panzerhemden, Rüstungen, Speere und Lanzen,
in der Neuzeit eiserne Bettgerüste und Ofenröhren, vorzugsweise aber Schlösser traditionell
d. i. von ziemlich allen Ortsbewohnern und für den Absatz nach aussen bei landwirt-
schaftlicher Nebenbeschäftigung erzeugt werden. Bezüglich Russlands siehe die obige
Schrift Stellmacher's S. 30, 40, 41, 43.
154 Schwiedland.
wie dies der Naturalwirtschaft, aus deren Epoche diese ökonomischen Er-
scheinungen in unsere Zeit hereinragen, entspricht. „Lange Zeit herrschte
bei uns," sagt Graf Dzieduszycki in Bezug auf Galizien, „Tauschhandel, und
in einigen Gegenden besteht er noch bis jetzt. In der Gegend von Brody.
Zloczow, Kamionka strumilova sind viele Ortschaften, wo Töpferthon im
üeberflusse vorkommt. Die Töpfer (jener Gegenden) führen mit eigenen
Wagen und Pferden regelmässig wenigstens zweimal im Jahre ihre Ware
gegen Podolien zu und bleiben, in einem Dorfe ankommend, vor den Thüren
ihrer Kunden stehen. Die Hausfrau w^ählt ihre Ware und schüttet nach
Verabredung in ein Gefäss Producte ihrer Wirtschaft, also: Grütze, Erbsen,
Fisolen u. s. w. als Gegenwert." Und wie ich aus Schilderungen meiner
Mutter weiss, wurden auf dem Flachlande in Ungarn noch in den fünfziger
Jahren, das ist lange vor dem Bau von Eisenbahnen in jener Gegend,
Bauern, welche gleichfalls Töpferware zum Verkaufe ins Haus brachten,
auf die analoge Weise landesüblich befriedigt, indem die Käuferin das er-
worbene irdene Gefäss je nach dessen Grösse zwei bis dreimal mit Mais.
Hafer, Hühnerfutter u. dgl., oder etwa zur Hälfte mit Korn zum Tausche
füllen liess. Diese Gegenstände wurden von den Verkäufern gegen andere
Nutz dienlichkeiten ihres Bedarfes weitergegeben oder, insoweit sie fremde
Waren mit sich führten, ihren Mandanten übermittelt. Mit der Entwicklung
der Märkte ersetzt der Kauf für die zu Markt gebrachten Gegenstände
allgemein den Tausch. ^)
*
Somit haben wir die alte geschlossene Eigenwirtschaft (I.) in ihren
Eesten betrachtet und die primitiven Hauswirtschaften unserer Zeit, gleich
jenen der naturalwirtschaftlichen Epoche, in einem Tau seh verkehr (H.)
verbunden gesehen.
Gewerbe, welche auf dieser Stufe der Entwicklung stehen, werden zu
Hausindustrien durch das Auftreten des Verlegers; auf diesen übergeht
— oft in bedeutend sich erweiterndem Maasse — die Vermittlung des
Absatzes. (Wir erinnern an die grossstädtischen Handlungsniederlagen sog.
nationaler Hausindustrien der Ungarn, Bosnier, u. s. w.).
Es kann sich die Entwicklung aber vorher noch weiter vollziehen.
Wir haben soeben (S. 153) die Anlässe betrachtet, aus welchen sich ganze
^) Das Geldbedürfnis der noch in einer halb naturalwirtschaftlichen Verfassung
befindlichen steiermärkischen Bauern äussert sich in bezeichnender Weise darin, dass sie
vielfach bemüht sind, Ender zur Verpflegung zu erhalten, weil sie baren Geldes
gänzlich ermangeln und ihre Naturalproducte nicht anders zu verwerten in der Lage
sind, als indem sie sich um Pfleglinge bewerben, welche ihnen die Städte — vornehm-
lich aus den Reihen der ausser der Ehe Geborenen — zuwenden. Auf die Frage, wes-
halb er Milch und Butter nicht verkaufe, meinte ein Bäuerlein ganz bezeichnend:
„Haben ja im Dorf alle ihre eigenen Kühe." Auf entlegenen Weilern wird oft ein Span-
ferkel angeschafft und mit den Abfällen der Wirtschaft aufgezogen, um durch seinen
Verkauf im gemästeten Zustande zu barem Gelde zu gelangen. Die Bauern bezeichnen
das Thier mit Beziehung hierauf als ihre „lebende Sparcassa," aus welcher sie Geld
herauszunehmen vermögen.
Die Entstellung der Hausindustrie, mit Rücksicht auf 0 esterreich. I55
Ortschaften besonderen gewerblichen Betrieben zuwenden; diese
Productionsform bezeichnet eine dritte Stufe der gewerblichen Entwicklung.
Auf dieser Stufe eines traditionellen fd. h. in einer bestimmten
Ortschaft von nahezu der Gesammtheit ihrer Einwohner geübten) Hand-
werks, das seine Erzeugnisse auf die Märkte verführt und mithin auf Vorrath
arbeitet (III.), steht heute z. B. die Schuhmacherei in der Umgegend von
Znaim in Mähren, von Eisenstadt in Ungarn und in Uhnöw in Galizien. In
äusserst lehrreicher Weise zeigen die Schilderungen Dr. v. Paygert's^) wie in
Galizien Schuhwaren als Erzeugnisse nahezu aller gewerblichen Betriebs-
systeme figurieren, von den für den eigenen Bedarf erzeugten bäuerlichen Holz-
schuhen an bis zu den Erzeugnissen der modernsten Schuhwarenfabriken.
In den Gebirgsgegenden, wohin die moderne gewerbliche Arbeits-
theilung noch nicht vordrang, stellen die Bauern (ähnlich wie in Steier-
mark. Kärnten und Krain) ihre Holzschuhe selbst, im Hausfleiss, her.
Doch ist in den einzelnen Dörfern die Zahl der selbständigen Schuhmacher,
welche auf Bestellung und direct für die Consumenten arbeiten, zu-
gleich auch Ackerbau treiben und den ländlichen Arbeitern (=z Bauern)
social gleichstehen, in neuerer Zeit in Zunahme. Diese selbständigen
Handwerker erscheinen uns als wirtschaftliche Ableger der oben erwähnten,
gewissen Ortschaften eigenthümlichen traditionellen Gewerbeübung; ander-
wärts, wie in Steiermark, wo das auf die Stöhr ziehen^) auch noch bei
Schuhmachern üblich ist. mögen solcherart wandernde Meister und Gesellen
durch Ansiedlung im Dorfe selbständige Handwerke begründen.
Gleichwie in Kussland bis in die letzten Jahrzehnte einzelne Dörfer
Lederarbeiten ausführten, welche in grossen Massen auf dem berühmten
Markte zu Nischni-Nowgorod abgesetzt wurden,^) besteht ferner in manchen
Gegenden Galiziens, z. B. in Uhnow (etwa 80 Kilometer von Lemberg)
die Schuhmacherei als der Gegend eigenthümliches und localisiertes Ge-
werbe. Es wird, verbunden mit der Gerberei, vom grössten Theile der
Ortsbewohner ausgeübt; von 2681 christlichen Einwohnern Uhnöws leben
zumindest 1300 von dem Schuhmachergewerbe; im Gegensatze zu dem
einzelnen Dorfschuhmacher, welcher auf Bestellung arbeitet, bilden sie eine
social geschlossene Classe, die in der Kegel auf Vorrath produ eiert.
Wie in der Znaimer oder in der Eisenstädter Umgegend wird das Erzeugnis
auf den Märkten, u. zw. noch in 90 Kilometer Entfernung von Uhnöw, von
den Producenten selbst feilgehalten ; es sind achtzehn Ortschaften, in welchen
1) Die sociale und wirtschaftliche Lage der galizischen Schuhmacher, Leipzig, 1891.
(Die vom Verfasser in Bezug auf die Hausindustrie gebrauchte Terminologie lehnt sich an jene
des IX. intern, statistischen Congresses an und weicht daher von der hier benützten ab.)
2) Der umherziehende, die erforderliche Herstellung im Hause des Consumenten
vornehmende Gewerbebetrieb.
^j Gutmann sthal, a. a. 0., S. 173: „Ganze Dorfgemeinden beschäftigen sich
mit Verfertigung von Stiefeln, Handschuhen, u. s. w. meistens ordinärer Gattung: so
werden z. B. in Bogorodskoje, Gouvernement Nischni-Nowgorod, alljährlich gegen 200.000
Paar schafledeme Fausthandschuhe, in Pawlowo alljährlich gegen 80.000 Paar solcher
Fausthandschuhe aus Seehundsfellen verfertigt."
]^56 Schwiedland.
der Absatz — theils auf Jahres-, theils auf Saison-, theils auf Wochen-
mäi'kten — erfolgt; obwohl es jedem fi'eistände alle diese Orte zu besuchen,
thut dies keiner, da jeder bloss seine eigenen Erzeugnisse feilhält. Commis-
sionäre gibt es nicht ^) und der Verkauf erfolgt dort sowohl direct an Con-
sumenten, als an Dorfkrämer, welch 40 bis 50 Kilometer weit zum Markt
kommen und die Stiefeln und Schuhe für die Zwecke der Wiederveräusse-
rung in ihrem Dorf laden aufkaufen. Diese Handwerker bildeten in der Zeit
der älteren Gewerbeverfassung eine Zunft ^) und betreiben ebenfalls noch
im Nebenberufe Landwirtschaft. ^)
In anderen Orten, z. B. in Grrodek, tritt aber neben der geschilderten
Handwerksform die Hausindustrie (IV.) auf.
Wie anderwärts die Classe der Verleger sich auf eine doppelte
Weise entwickelt, indem einerseits die Kohstofflieferanten, anderseits die
mehr Unternehmungsgeist besitzenden Gewerbegenossen, welche den Ver-
kauf anfänglich bloss commissionsweise für die Anderen mitbesorgten, den
Absatz allmählich vollständig monopolisierten und die Erzeuger zu unselbst-
ständigen Heimarbeitern hinabdrückten, so entstanden auch in einzelnen
„Schuhmacherorten" Galiziens Verleger aus der Classe der (jüdischen) Leder-
händler, sowie aus (christlichen) Schuhmachern. Diese besorgen nun den
Fernabsatz und haben die ehemals zünftigen Schuhmacher in die drückendste
Abhängigkeit von sich gebracht, so weit, dass in einzelnen Orten diejenigen,
welche das Schuhwerk angefertigt haben, auch die Pflicht übernehmen, es
in der Zeit stärkerer Nachfrage auf den Märkten (für Kechnung des
Händlers) zu verkaufen.*)
Endlich werden in Galizien neben den Erzeugnissen der im Lande
befindlichen Schuhwarenfabriken noch Fabriksproducte der Mödlinger
Schuhfabrik in besonderen Niederlagen dieses Unternehmens zu Brody. Krakau
und Kolomea, sowie Schuhe aus der Münchengrätzer Fabrik in einer Nieder-
lage in Brody abgesetzt.
*) „Jeder trägt seine Ware selbst dahin, oder mietet sich, wenn die Entfernung gar
zu gross ist, allein oder mit mehreren anderen Schuhmachern gemeinschaftlich einen
Wagen zu ihrem Transport. An den Thoren der betreffenden Marktstadt stehen gewöhn-
lich schon die jüdischen Lederhändler und controlieren ganz genau, welches Quantum
von Waren jeder, dem sie Material auf Credit gegeben haben, auf den Markt bringt
und wieviel er davon im Laufe des Tages verkauft. Hat der betreffende Schuldner eine
entsprechende Einnahme gehabt, so setzen ihm seine Gläubiger solange zu, bis er seine
Schulden bezahlt hat." Paygert, a. a. 0. S. 24.
2) Die ühnöwer waren von jeher freie Bürger, nur etwa 80 Familien waren als
leibeigen dem römisch-katholischen PfaiTer zugetheilt. Paygert, S. 15.
^) Nach der Systematik des IX, international-statistischen Congresses lüge hier
eine „nationale Hausindustrie" vor. Wir haben es jedoch thatsächlich bloss mit Hand-
werksbetrieben zu thun; der Meister ist hier noch Unternehmer und steht social und
wirtschaftlich hoch über den vom Verleger abhängigen Hausindustriellen.
*) Die Mäkler und Krämer, welche mit dem Lederhändler in Verbindung stehen
und auf dem Markte anwesend sind, üben eine wirksame Controle beim Verkaufe aus,
und diese Einrichtung erspart dem Unternehmer viele Betriebskosten. Vgl. Paygert, S. 56.
Die Entstehung der Hausindustrie, mit Rücksicht auf Oesten-eich. I57
Ein gleicher Fall, wo ein local-traditionelles Gewerbe zu einer Haus-
industrie wurde und damit für die Erzeuger die bekannten wirtschaftlichen
und socialen Uebelstände sich einstellten, während in einem anderen
Orte die gleiche Erzeugung sich von Verlegern frei zu halten wusste und
verhältnismässig blüht, wo also die von uns unterschiedene III. und lY.
Entwickelungsstufe neben einander bestehen, findet sich in Ober-
östeiTeich. Zu den armen Messerern in Grünburg-Steinbach und Neuzeug
bilden die (genossenschaftlich organisierten) Trattenbacher Erzeuger der
nämlichen primitiven Taschenmesser den lebhaftesten und erfreulichsten
Gegensatz. Entlang der Steyr und der Enns hatte sich aus dem ländlichen
localisierten Gewerbebetriebe der Messerer und Schalenschroter an jenen
Orten von selbst die Hausindustrie entwickelt, wie dies in vielen galizischen
Schuhmacherorten geschah, in Trattenbach jedoch wird, wie berichtet wird,
jeder sich anbietende „Verleger" mit vereinten Kräften zum Thale hinaus-
gejagt. 0
Beim üebergange des localisierten Gewerbes in eine Hausindustrie ist
Vorläufer des Verlegers der Hausierer, welcher beim Absatz in die Ferne
überall gern eintritt. Bei local-traditionellen Handwerkern nimmt eine eigene
Classe von Zwischenhändlern die Agenden des Hausierens auf sich. Sie bildet
sich aus den bereits genannten Elementen (Meistern oder Kohstofflieferanten),
sowie auch aus berufsmässigen Hausierern. Auf dieser Zwischenstufe stehen
bereits, aber noch ohne zu Hausindustrien geworden zu sein, die bäuer-
lichen Productionszweige, welche in der Bukowina Flachs, Hanf, Baumwolle.
Bast, Stroh, Schafwolle, Ziegenhaar, Leder und Felle oder Metalle' ver-
arbeiten und den Markt ständig durch einzelne hiezu berufene Dorfmit-
glieder oder durch Zwischenhändler, und zwar die im Lande ansässigen
Juden, beziehen lassen.-)
Auch anderwärts kommen manchmal Hausierer und Händler von aussen
ins Dorf, so noch zu Beginn des Jahrhunderts im Grödener Thal in Süd-
tirol, wo Holzschnitzereien gefertigt wurden ^) ; desgleichen vertrugen bis zur
Mitte des Jahrhunderts Teferegger Hausierer die unter dem Namen
Teferegger oder Defregger Decken bekannten Teppiche aus Kindshaaren aus
den Bezirken Welsberg und Sillian in Südtirol nach Deutschland, Italien,
Frankreich, nach den Niederlanden, Polen und Kussland.-*)
Der häufigste Fall aber ist, dass Gewerbegenossen sich zu Verlegern
emporheben. So zog in den 20er Jahren der unternehmende Lichtenfelser
') Bericht der k. k. Gewerbe -Inspectoren. Aehnlich sind die französischen Korb-
flechter zu Villaines in der Touraine genossenschaftlich organisiert und geben kein ein-
ziges Stück ihrer Producte an einen Händler ab. (Korb-Industrie- und Weiden -Zeitung,
Berlin, October 1891.)
2) Vgl. M i s c h 1 e r , Hausindustrie und Hausgewerbe. Ein Aufsatz in der Münchener
„Allg. Zeitung« vom 10. April 1889.
3) Tirol und Vorarlberg, statistisch mit geschichtlichen Bemerkungen; von Joh.
Jac. Staffier, der Eechte Doctor und k. k. Gubernialrathe. Innsbruck, 1848, S. 423.
*) Staffier, a. a. 0. S. 354.
158 Schwiedland.
Korbwarenerzeuger ^) nach Norddeutschland, der Schweiz, Frankreich. Holland,
ja bis nach Brasilien als Korbführer und Korbhändler. So zogen die
Solinger Schwertschmiede im Mittelalter mit Producten der Härter und
Eaider auf den fernen grossen Markt. ^)
Ob der letzte Schritt sich vollzieht, ob aus der Puppe des
Händlers der Verleger hervortritt, d. i. der Erzeuger seine Unternehmer-
eigenschatt verliert, unselbständig und vom Ersteren vollkommen abhängig
wird, hängt in der Regel nur von der günstigen Entwicklung des Absatzes
ab, und geht oft mit der Nachhaltigkeit der Nachfrage Hand in Hand. Wo
der Absatz in der Ferne und unter complicierten Verhältnissen gesucht
werden muss, tritt die Abhängigkeit der Erzeuger ein, so mächtig ist das
Element des kaufmännischen Betriebes im Verhältnis zu jenem der ge-
werblichen Erzeugung. ^)
Die socialökonomische Entwicklung erfolgt also durch die Occupation
und Erweiterung des Absatzgebietes seitens der Händler und
Verleger. Der absolute Gewinn des Kaufmanns ist oft bei relativ gerin-
gen Zuschlägen am einzelnen Stücke grösser, als bei höheren Zu-
schlägen, so dass der privatwirtschaftliche Vortheil den Händler zur Ver-
grösserung des Umsatzes treibt. Diese Erweiterung des Absatzes zieht
aber manchen volkswirtschaftlichen Nachtheil nach sich.
Mit der Nachfrage nimmt zwar die Production zu, aber beim Vertrieb
in fernere Gegenden steigen die Kosten oft ohne dass der Preis, angesichts
der wenig wohlhabenden Abnehmerciasse, auf die man rechnet, entsprechend
erhöht werden könnte. Ab und zu hat der Händler eine Concurrenz zu
besiegen, zu deren üeberwindung er die Vertriebskosten auf seine Erzeuger
abwälzt, oder er thut dies um durch die Ermässigung der Preise den Absatz,
d. i. den Umsatz, zu vergrössern. Der Producent aber, welcher seine wichtigste
kaufmännische Thätigkeit nicht mehr ausübt, mithin das Gewerbe nicht
mehr in seiner ganzen Ausdehnung betreibt, wird ökonomisch immer ein-
^) Sax, die Hausindustrie in Thüringen, II. Theil, Jena 1888, S. 8 fg.
') Thun, die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter. Leipzig 1879, II.
3) Auch der Hausfleiss bringt seine Production über den Bedarf — aber bloss
diese — auf den Markt. Wenn man daher „auf den Wochenmärkten der ungarischen,
siebenbürgischen und rumänischen Städte neben dem Gemüse und den Eiern, welche die
Bauersfrau hereingebracht hat, die gestickte Leinenwäsche, die gewebte Wolldecke oder
Schürze erblickt, welche ihre fleissigen Hände erzeugt haben und für die sie einige
Gulden zu lösen hoift" (Bücher), so ist bei dieser Veräusserung keinerlei Gefahr zu
befürchten, dass der Producent seine wirtschaftliche Selbständigkeit einbüssen könnte, auch
wenn für die landwirtschaftlichen Ueberschüsse der Hauswirtschaft, z. B. für den Obst-
most der steirischen Bauern, Aufkäufer in Thätigkeit treten. Erst wo der Hausfleiss sich
bereits zu einem gewerbsmässigen Erzeugen für den fremden Consumenten umgestaltet
hat und in dieser Thätigkeit die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz des Hauses
liegt — oder wo die Einwohner einer Ortschaft, wenn auch unter Beibehaltung der
ländlichen Nebenbeschäftigung, in ihrer überwiegenden Mehrzahl ein localisiertes Gewerbe
ausüben, z. B. Hüte erzeugen, Eisengeräthe schmieden, Schuhe verfertigen, bedeutet die
Absonderung oder das Auftreten einer eigenen Händlerclasse einen social ökonomisch und
morphologisch höchst bedeutsamen Schritt.
Die Entstehung der Hausindustrie, mit Kiicksiclit auf Oesterreich. I59
seitiger und zu einem Widerstände gegenüber der Neigung des Kaufherrn,
die Gestehungskosten zu drücken, umso rascher unfähig, wenn mehrere
Händler einander beim VeHriebe unterbieten.
Während die berufsmässigen Abs atz vermittler, sowie ökonomisch
besser begabten oder besser situierten Erzeuger, als Organe, welche die
kaufmännischen Aufgaben ausführen, sich zu Verlegern emporheben, werden
die Organe der blossen gewerblichen Herstellung, die daheim gebliebenen
Unternehmer, zu einer gesonderten Classe von social immer mehr abhän-
gigen und technisch zurückgebliebenen Heimarbeitern.
Aus der auf den Tausch gegründeten Nebenbeschäftigung von Bauern
(n. Stufe) und aus der Industrie von Handwerkerdörfern (HL) entstanden
auf diese Weise auch im Westen Hausindustrien; sie bilden aber dort
eine minder wichtige Erscheinung, weil die gewerbliche Entwickelung eine
reichere w^r und dort nicht lediglich auf die Hauswirtschaft zurückgeht.
Es wäre müssig, die Entstehung der handwerkmässigen Erzeugung
in West- und Mitteleuropa des Näheren zu schildern. Die Berufstheilung,
welche vielfach künstlich auf das Land übertragen wird, vollzieht sich hier
originär zuerst auf den Frohnhof. Dessen Organisation umfasst, hierin dem
Kloster vergleichbar, sowohl ausschliesslich Landwirtschaft, als aus-
schliesslich Gewerbe treibende Familien oder Gruppen.
Bildet die Frohn Wirtschaft die Wiege des Handwerks, so ist der Ort
seiner Weiterbildung die Stadt. Allmählich gelangt der gewerbliche Er-
zeuger des Hofes, der hörige Gerber, Walker oder Schwertfeger, in die
palissadenumzogene befestigte Ortschaft, wohin er schon vorher seine
Producte verkaufte und wo der Frohnherr in aller Eegel ebenfalls Grund-
stücke besitzt. Parallel mit der räumlichen Arbeitsth eilung, mit der
fortschreitenden ökonomischen Differenzierung zwischen der — sich alsbald
mit Gewerbeproducten selbst genügenden — Veste und dem flachen Lande,
das die Eohmaterialien liefert, vollzieht sich nun in der Stadt die gewerb-
liche Berufstheilung und Classenbildung. Die Gewerbetreibenden treten als
eigener Beruf selbständig neben die anderen Berufe und erkämpfen in der
Zunft — dieser im occidentalen Sinne in Ost-Europa ebenfalls unbekannten
Bildung — ihre eigene Verfassung.
Da beginnt vom XV. bis zum XVHL Jahrhundert die Entwicklung
des modernen Unternehmens.
Das Handwerk hatte sich auf den Fernabsatz eingerichtet; die Zunft selbst
organisierte diesen, wo sie dazu genügend kräftig war^); wo nicht, lag er in den
Händen der Kaufleute; diese sahen sich aber in dem zünftig gegliederten
Handwerk einem Contrahenten von gleicher ökonomischer Stärke gegenüber.
Bald gewinnt jedoch die Kolle des Handels erhöhte Bedeutung,
denn in dem Maasse als mit der Wende (}er Neuzeit die europäischen
') Vgl. Schmoller, Jahrbuch, 1890, S. 1057.
150 Schwiedland.
Staaten, durch allgemein politische, wie wirtschaftliche Ursachen gedrängt,
die Hauptaufgabe ihrer Wirtschaftspolitik in der Förderung der eigenen
Industrie erblicken, beginnt das Absatzgebiet der bisher ins Ausland
liefernden Gewerbe sich zu verengen. Politische Verhältnisse tragen dazu
bei, die Kückwirkung dieser Wirtschaftspflege auf die gewerbefleissigen
Länder Mitteleuropas empfindlicher zu gestalten. Einerseits gestatten nun die
entwickelteren und verbesserten Mittel des Verkehres für die Ferne zu
produ eieren, anderseits ist aber der Gewerbestand infolge des Niederganges
der Städte, des Aufkommens der Landmeister, u. s. w. geschwächt. Aus
diesen Verhältnissen zieht der Unternehmer modernen Styles die Eechnung;
die stattgehabte Entwicklung des auswärtigen Absatzes und die späteren compli-
cierteren Concurrenzverhältnisse drängen dazu, dem kleinen Producenten die
selbständige Geschäftsleitung zu entwinden, und, der Lage des Wirtschaftslebens
am besten entsprechend, d. i. dem Unternehmer die beste Möglichkeit des
Bestandes gewährend, entsteht allenthalben die primitivste Form des Gross-
betriebes: die Hausindustrie. In dieser Organisation findet der Unter-
nehmer die Vortheile der Erzeugung im Grossen ; dank den billigen Löhnen
und dem Verfalle der Gewerbe kann er sie leicht begründen. Um der
Möglichkeit des grossen Absatzes und der Concurrenzfähigkeit willen wird
sie aber ins Leben gerufen.
Sind es im Osten anscheinend die höhere persönliche Geschäftsgewandt-
heit des Hausierers, der entwickeltere kaufmännische Sinn des Händlers,
welche die Uebermacht des Verkaufsorganes, hier früher, dort später,
begründen und den gewerblichen Producenten ökonomisch einengen, seiner
wirtschaftlichen Selbständigkeit und seines Unternehmercharakters berauben,
so kommen die Hausindustrien in Mitteleuropa infolge der allgemeinen wirt-
schaftlichen Verhältnisse zu gleicher Zeit in grosser Zahl auf. Sie bilden
hier für die künftigen Weltindustrien jenes System des Betriebes, welches
unter einer kaufmännischen Leitung die vortheilhaftesten Erzeugungsbedin-
gungen bietet, das Mittelglied, welches in die Manufactur und Fabrikindustrie
hinüberleitet. Während, wie Schmoller sich ausdrückt^), wenige Personen
vorhanden sind, die zu Verlegern taugen, sind viele vorhanden, die zu
Hausindustriellen brauchbar sind. Begünstigt durch die Uebertragung der
Welthandelsstrasse auf den atlantischen Ocean beginnen England, Holland
und Frankreich, eine centralistische und kräftige nationale Wirtschaftspolitik
und beeilen hiedurch ihre wirtschaftliche Entwicklung wesentlich, während
in Deutschland die Verwüstungen und der Verfall aller Cultur infolge des
dreissigjährigen Krieges einen langsameren Fortschritt bedingen ; und
als dort schon Fabriken entstehen, entwickeln sich hier erst die Betriebe
mit Hausindustriellen. Gegen Stücklöhnung, welche dem Unternehmer
die Schätzung der Productionsbedingungen erleichtert, in der Betriebsstätte
des hauptsächlichen Arbeiters thätig, welche aus der Werkstatt in die Wohn-
räume zurückverlegt ist, stellen sie ihre Producte her, nicht individualisierend,
') Jahrbuch, 1890, III. Heft.
Die Entstehung der Hausindustrie, mit Rücksicht auf Oesterreich. 161
wie der Handwerker, der für den localen Absatz arbeitet, sondern für den
Absatz im Grossen und, wie vielfach die Fabrikindustrie, nach Typen. Diese
Producenten, welche nahezu völlig ihrer Unternehmereigenschaft entfremdete
Handwerker darstellen oder sich aus der landwirtschaftlichen Bevölkerung
recrutieren, sind, gleich dem kaufmännischen Unternehmer, welcher ihnen
vorsteht und den Productionsprocess wirtschaftlich leitet, ein Ergebnis der
allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung.
Es begründet im Wesen der Hausindustrie keinen Unterschied, ob
der Betrieb lediglich unter der (sei es gelegentlichen, sei es geregelten)
Mitwirkung des Hausstandes des Arbeiters oder unter Zuhilfenahme
von Gesellen und Lehrlingen erfolgt — ob die Werkzeuge Eigenthum
des Heimarbeiters oder seines kaufmännischen Verlegers sind — ob ihm
dieser den Rohstoff und das Zubehör liefert oder der Hausindustrielle
diese Productionselemente aus eigenem beistellt und im Entgelt mithin
nicht lediglich Arbeitslohn, sondern zugleich einen Kaufpreis empfängt
— ob endlich der Verleger mit den Sitzgesellen unmittelbar oder bloss durch
Factoren verkehrt; diese Momente berühren, wenn sie auch zum Theil
Unterschiede begründen, welche auf die ökonomische und sociale Lage der
Arbeiter erheblich zurückwirken, doch nicht das Wesen der Erscheinung.
Für den Begriff der Hausindustrie wesentliche Momente sind:
1. die Abhängigkeit der gewerblichen Producenten vom Verleger,
dem gegenüber sie nie als selbständige Unternehmer erscheinen und an den
sie in Bezug auf den Absatz ihrer Erzeugnisse angewiesen sind,
2. die Arbeit im eigenen Wohnräume^), sei es allein, oder unter
Mithilfe Anderer, endlich
3. die Herstellung von Waren nach bestimmten Durchschnittstypen
und in grossen Massen. Dabei sind das Verlags- und das Manufactur- oder
Fabriksystem im Wesen so nahe verwandt, dass die räumliche Vereinigung
der Arbeiter in der Fabrik oft wie ein zufälliges Moment erscheint, dessen
Verwirklichung für den Unternehmer hier rentabel ist. dort nicht.
Der Ursprung der Hausindustrie ist dabei im einzelnen Falle sehr
verschieden. Zünftige Gewerbe, wie solche, hinsichtlich deren Erzeugnisse
die Zunftzugehörigkeit zweifelhaft ist, und nicht- zünftige Kleinbetriebe
verfallen ihr: endlich werden auf Grund des Verlages auf dem flachen
Lande mit bäuerlichen Hilfskräften bedeutende Gewerbebetriebe errichtet,
sei es weil dort keine Zunftschranken bestehen^), sei es, wie auch heut-
*) Dr. A. Braun (Zur Statistik der Hausindustrie; als Manuscript gedruckt,
Wien 1888, S. 5) erw^ähnt, dass Hausindustrielle in der Maschinenstickindustrie von
Appenzell a. Eh. ihre Arbeitsmaschinen sehr häufig ausserhalb ihrer Wohnung aufstellen
und mithin nicht „zu Hause" arbeiten. Dieser Umstand berührt die obigen Begriffs-
bestimmungen nicht; es liegt dort eben eine corporative Gestaltung auf Grund
hausindustrieller Verhältnisse vor, welche sich zur Hausindustrie verhält, wie die hand-
werksmässige productivgenossenschaftliche Erzeugung zum Betriebe in der einzelnen
Werkstatt.
2) Beispiel: Die Entwicklung der Aachener ländlichen Tuchindustrie, T h u n.
Die Industrie am Niederrhein, Band I., S. 18.
Zeitschrift für Volkwirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. I. Heft. 1 1
162 Schwiedland.
zutage, wegen der wohlfeileren Arbeit. Dort wird die Hausindustrie von
Händlern, welche bereits im Besitze des Absatzes sind, zur Yerbilligung
der Erzeugung und Vergrösserung des Umsatzes, oder von solchen, welche
den Markt mit einem Schlage erobern wollen — in jedem Falle also der
Concurrenzfähigkeit halber: um dieselbe zu erhalten oder um sie zu
gewinnen — angesetzt. ^) Wie in dem anderen capitalistischen Betriebs-
systeme, der Fabrik und Manufactur, gelangt auch im Verlage das
Gewerbe , welches sich selbst zu reformieren nicht die Kraft besass.
unter die Vormundschaft des Handels. Dieser weiss die Gewinne
zu finden, die jenem sich entzogen. Damit unterjocht er bestehende
Gewerbe, setzt an Orten, wo keine bestanden, neue an und beginnt einen
vernichtenden Concurrenzkampf gegen die alten Erzeugungsweisen. Wie bei der
Fabrik, liegt im Verlags System der Schwerpunkt der Unternehmung in
der (kaufmännischen) Leitung, welche sich von der technisch-ausfuhrenden
Arbeit absonderte und die Erzeugung nach capitalistischen Gesichts-
punkten beherrscht.
* *
*
So finden wir denn, wenn der Fabriksbetrieb mit seiner Unternehmer-,
Beamten- und Arbeiterschaft ausser Betracht bleibt, nach der Beseitigung
der zünftigen Organisation neben den selbständig gebliebenen Klein-
handwerkern (A.) mit ihrem Gesellen- *und Lehrlingsstande unselb-
ständig gewordene Meister und Arbeiter, welche keine Aussicht
haben jemals selbständig zu werden (B.), d. h. eigentliche Haus-
gesellen, welche daheim für Fabrikanten, Zwischenhändler, Detailmagazine
und grössere Meister arbeiten , sowie Gewerbetreibende, welche
zwar von den nämlichen Factoren abhängig und zu Heimarbeitern geworden
sind, aber gewerberechtlich noch selbständig sind, — d. h. (wie bei-
spielsweise die sogenannten Stückschneider) die formelle Meisterbefugnis
besitzen und als Meister besteuert sind. Diese arbeiten möglicherweise
sogar mit Gesellen oder lassen als Schweisser arbeiten, sie sind aber trotz-
dem im materiellen Sinne keine selbständigen Unternehmer mehr; diese
Eigenschaft ist auf den Eigenthümer der sie beschäftigenden Unternehmung
(Fabrik, Geschäftshaus, grösserer Werkstattbetrieb) übergangen. Insbesondere
die modernen Magazine — ebenfalls ein Ergebnis der fortgeschritteneren
Entwicklung des Westens — geben der Hausindustrie einen Anstoss zu
neuem Entstehen.
*) Die nämliche Tendenz des Handels zur Unterwerfung der Er-
zeugung macht sich später, in Oesterreich namentlich nach den Fünfziger Jahren,
geltend, als — zu einer Zeit, wo die Fabrik sich behufs des Absatzes noch nicht un-
mittelbar an die Consumenten, sondern lediglich an die Zwischenhändler wandte — grosse
Zwischenhändler vielfach Fabriken errichteten oder erwarben, um den Vortheil auszu-
beuten, dass sie als Händler und Fabrikanten auf einen Theil des Gewinnes ohne
Schaden verzichten konnten. Desgleichen trachtet heute das Grossmagazin nicht allein
kaufmännische Zwischenglieder überflüssig zu machen, sondern zugleich sein ökonomisches
Gewicht den einzelnen Fabrikanten fühlbar zu machen.
Die Entstehung der Hausindustrie, mit Rücksicht auf Oesten-eich. 163
Zwischen den beiden kennzeichneten Gruppen: der wirklichen
gewerblichen Meister (A.) und jener, welche ihre Selbständigkeit in
Wahrheit vollständig eingebüsst haben (B.), nehmen heute gewisse
handwerksmässige Unternehmer eine Mittelstellung ein.
Es sind dies Meister, die zwar noch in eigenen Werkstätten
schalten, aber nicht mehr dir e et mit den Consumenten zu thun haben,
auch nicht vorwiegend auf dessen Bestellung, sondern im Grossen und
für Exporteure oder Handlungshäuser^erzeugen lassen. In diese Classe
fällt der Wiener Perlmutter-, Hörn-, Meerschaum-, Bein- oder Stockdrechsler,
sowie ein stets wachsender Theil der Möbeltischler.
Durch das Entstehen grosser Geschäftshäuser, welche glänzende Aus-
lagen und grosse Yorräthe auf Lager halten, wird der Meister in seiner
selbständigen Existenz beschränkt und bald um dieselbe gebracht. Ebenso
wie zahllose Schneidermeister der sichereren Existenz halber zu Stück-
schneidern oder auch zu einfachen Gesellen des Confectionärs werden, sind
zalreiche Tischler veranlasst, an das Handlungshaus, die Möbelhalle, zu
liefern. Und nun entwickelt sich alsbald ein ähnliches Verhältnis wie
zwischen Verleger und Heimarbeiter mit ähnlichen Missbräuchen und
socialen Schattenseiten; der Meister ist nur noch nicht arm genug um
direct Heimarbeiter zu werden, dafür werden aber neben ihm auch „Haus-
industrielle" beschäftigt, deren Hungerlöhne ihn zu ruinieren drohen.
Zuoieich wird zwischen den einzelnen Lieferanten zum Zweck der
billigeren Herstellung eine eigenthümliche Specialisierung in der Art ein-
geführt, dass der eine bloss Stühle, der andere bloss Tische oder Betten
u. s. w. erzeugt. ^)
Vollends in Gewerben, welche für den Export arbeiten, erlangt das
Organ des Exportes alsbald eine aus seiner wirtschaftlichen üeberlegen-
heit sich natürlich ergebende Uebermacht gegenüber dem einzelnen selb-
ständigen Meister: bald findet eine Versorgung des letzteren mit Kohmaterial
seitens des ersteren statt, während anderseits selbständig an den Exporteur
liefernde Zwischenhändler ebenfalls Hausindustrielle, Sitzgesellen, zu ver-
1) Die technischen, ökonomischen und socialen Folgen dieses Systems liegen auf
der Hand. Die technische Einseitigkeit verleiht dem Arbeiter eine grössere manuelle Geschick-
lichkeit für die Eine Art der Arbeit, der er sich widmet. Die Technik dieser speciellen
Erzeugung wird damit gehoben — so dass bald ein gewöhnlicher Tischler mit einem
„Bettentischler" u. s. w. nicht zu concurrieren vemiag. Dazu kommt, dass bei der stets
gleichen Erzeugung AbfäUe leicht zu verwenden sind; der gewöhnUche Tischler, der ge-
legentlich ein modernes Bett zimmert, kann mit den erübrigten Nussholzstücken nichts
anfangen, er muss sie als „todtes Capital" auf den Boden legen oder er verbrennt sie; der
„Specialist" hat dagegen für jedes Abfallstückchen gleich neue Verwendung. Infolge
dieser Umstände arbeitet ein Tischler der letzteren Art wohlfeiler als jeder andere,
entwindet also seinen ArbeitscoUegen das Absatzgebiet. Ihm selbst bringt dies aber auch
keinen Gewinn; die Concurrenz der Möbelhallen untereinander und seine abhängige
Stellung gegenüber dem jeweiHgen Händler, der ihn beschäftigt, verhindern dies und
veranlassen ihn vielmehr, zum Verwenden unverhältnismässig zahlreicher Lehrlinge seine
Zuflucht zu nehmen.
11*
\Q4: Schwiedland.
wenden beginnen. Und nun sucht jeder Theil auf Kosten des Anderen den
augenblicklichen Gewinn zu erhöhen : der Händler durch Herabdrücken des
Arbeitslohnes, der Meister durch Aufwendung billigeren Materials, durch
leichtfertige Arbeit und Verwendung zahkeicher Lehrlinge; doch niuss
der Meister beim Wettbewerbe mit dem Hausgesellen, wenn es sich um
Erzeugnisse gewöhnlicher Gattung handelt, den Kürzeren ziehen, weil er
die Kosten einer eigenen Werkstatt zu tragen, höhere Löhne und Steuern
zu zahlen hat, während ihm der Exporteur bei schlechter Arbeit oft beliebige
Abzüge am Preise macht. Dazu kommt, dass die Meister infolge ihrer
kaufmännischen Unbildung die Preiscalculationen oft zu niedrig machen
und den Factoren der Exporteure geradezu verderbliche Preise zugestehen,
um Aufträge zu erhalten. Bis das Product im Einzelnen an den Consu-
menten gelangt atomisiert sich, wenn es selbst einen nur geringen Wert dar-
stellt, der jeweilige Preisnachlass, so dass an dem socialpolitisch beklagens-
würdigen „Niederconcurrenzieren" schliesslich nur derjenige Händler, welcher
dadurch einen grösseren Umsatz erlangt — sowie der transatlantische Impor-
teur einen Gewinn haben.
Eine in Bezug auf ihre Unternehmer-Eigenschaft gleiche Stellung,
wie diese an Handlungshäuser liefernden und schon halb unselbständigen
Meister haben jene zahlreichen Kleingewerbetreibenden inne, welche von
Fabriken abhängig werden, wie beispielsweise der im Solde des Brau-
hauses hantierende Bindermeister, — der Buchbinder, welcher vom Erzeuger
von Geschäftsbüchern beschäftigt wird und in dessen fabriksmässig betrie-
benen Buchbinderei (handwerksmässig) das Marmorieren der Bücher besorgt, —
ferner der Metallschleifer, dessen Betrieb in das Locale einer Dampfver-
miethungsanstalt verlegt ist und nur in dem Maasse der Aufträge einiger
Metallwarenfabriken vor sich geht, oder wie der Anstreicher, welcher sammt
seinen Gesellen und Lehrlingen in der Maschinenfabrik thätig ist. und der-
gleichen Typen moderner „Handwerksmeister" mehr, welche alle in keinem
directen Verkehre mehr mit dem Käufer ihrer Erzeugnisse stehen und doch
nicht in dem Maasse der Fabrik incorporiert sind, wie etwa der Tischler
einer Maschinenwerkstätte oder Eisengiesserei, wie der Schriftgiesser der
Druckerei, oder wie der Bildhauer oder Tischler, welcher in der W^erkstätte
des Tapezierers thätig ist, dem Unternehmen des letzteren. Alle die erst-
genannten „Handwerksmeister in partibus" haben noch Gehilfen oder selbst
Lehrlinge neben sich, welche sie entlohnen, beschäftigen und beaufsichtigen.
Wie die Fabrik sich solcherart Meister sammt Gesellen angliedert,
ebenso verwendet sie auch, sei es zur Vornahme von Vorbereitungs- oder
von Vollendungsarbeiten, sei es zur Herstellung des Hauptproductes selbst,
eigentliche Hausindustrielle. Der ökonomische Vortheil des Verlag-
systems ist eben für Industrie- wie Handelsunternehmungen der nämliche.
Durch die Heranziehung der abhängigsten Lohnarbeiterclasse wird ein Neben-
unternehmen des Magazins oder der eigentlichen Fabrik geschaffen, das
bloss Betriebs- und nahezu keinerlei Anlagecapital erfordert und daher in
der Bewegung eine grössere Freiheit gewährt als der Fabriksbetrieb, dessen
Die Entstehung der Hausindustrie, mit Rücksicht auf Oesterreich. 1(35
Inhaber in Bezug auf seine Arbeiter, wie auf seine Concurrenten schon
durch die Kücksicht auf das fixe Productivcapital , dort zur Nach-
giebigkeit, hier zur Vereinbarung veranlasst wird. Als Verleger ist
er zu ähnlichen Kücksichten nicht gezwungen; je wolfeiler er verkaufen
kann, desto grösser sind oft Umsatz und absoluter Gewinn, und wenn das
betreffende Handelsgebiet unergiebig geworden ist. verlässt es der wirkliche
Verleger einfach gleich einen erschöpften Bergwerk. Auch Handwerksmeister
haben diese natürlichen Vortheile, welche dem Verlagssystem zu Gunsten
des Unternehmers innewohnen, sich zu Nutzen gemacht. Die an Exporteure
liefernden Gewerbetreibenden, welche zum Theil mit den von Zwischen-
händlern aller Art beschäftigten Hausgesellen einen harten Concurrenzkampf
führen, übernehmen, um die Gestehungskosten des Werkstättenproductes
zu mindern und so die eigene Existenz (d. h. zunächst die Concurrenz) sich
zu erleichtern, selbst die Kolle von Verlegern.
Es ist endlich nur eine logische „Verbesserung" des Systems, wenn
die Hausindustrie in die ländlichen Bezirke übertragen wird, wo die bis
dahin Landwirtschaft treibende Bevölkerung zum Betriebe des Webstuhles,
zur Hantierung mit der Strickmaschine oder zum Knopfdrehen leicht abge-
richtet werden kann und eine wohlfeile Arbeitskraft darbietet, so dass zum
Schluss im Absterben begriffene alte Hausindustrien, welche aus national
eigenthümlichen Gewerbethätigkeiten des Landvolkes entstanden sind, der
primitivere, „östliche" Typus (wie die Herstellung der sog. Waldleinwand
in Nieder-Oesterreich), einträchtig neben der neuen „fabriksmässigen" Haus-
industrie nach westlichem Typus (z. B. der Erzeugung von Strickwaren
u. dgl.) besteht.
Viele Hausindustrien sterben ab ^) oder werden in fabriksmässige Unter-
nehmungen verwandelt — oftmals zur Erlösung der Arbeiter aus ihrer
elenden Lage ^) — allein während die Hausindustrie so einerseits ihre Kolle
als „das historische Mittelglied" zwischen Handwerk und Fabrik erfüllt, ent-
stehen anderseits fortwährend neue Hausindustrien in bisher verschonten
Gewerbezweigen. Der capitalistische Betrieb, welcher die Weberei. Spinnerei,
Maschinenindustrie längst erfasst und, nach oder ohne eine Zwischenperiode
hausindustrieller Production, bereits allenthalben in Fabriksbetriebe eingereiht
hat, ergreift nun die Schuhmacherei, die Drechslerei, das Tischlergewerbe.
Wo in diesen Gewerben nicht sofort ein Maschinenbetrieb entsteht, dort
tritt wieder der Handel als Occupator auf, bildet wieder, infolge der ge-
schilderten privatwirtschaftlichen Vortheile des Systems, die Hausindustrie
die Uebergangsform für die fernere Entwicklung.
^) Manche werden infolge ihrer Einseitigkeit und technischen Zuriickgebliebenheit
sogar von den Verlegern wieder verlassen und hören auf, so die Kleineisenindustrie im
Oetschergebiete, deren Verlag sich in den Händen der Kaufleute von Waidhofen a. d. Ybbs
befand.
2) So dermalen die erwähnte alte traditionelle Schlosserei zu Swiatniki-göme.
welche sich allmählich aus dem Handwerk zur Hausindustrie umgestaltet hatte.
Ißß Schwiedland.
Durch die Lösung der Leibeigenschaftsverliältnisse, welche im Osten
den dem Frohnhofe ähnlichen grossen Eigenwirtschaften ein jähes Ende
bereitete, scheint die moderne Entwicklung des Grossbetriebes auch dort
eine Förderung zu empfangen. Dadurch wird für Ost und West eine gleiche
Gnmdlage für die fernere Entwicklung in höherem Maasse gegeben. Allein
die Unterscheidung der typisch „östlichen" und typisch „westlichen* Ent-
stehung der Hausindustrie hat doch wohl ihr wissenschaftliches Interesse.
Liess die nähere Betrachtung den Hausfleiss als ein Ergebnis der natural-
wirtschaftlichen Verfassung erkennen, während die Hausindustrie eine
Formation der verkehrswirtschaftlichen Epoche ist, so lehrte sie auch,
dass die alte sogenannte „nationale Hausindustrie" des IX. Internat, sta-
tistischen Congresses keine „Hausindustrie" ist, insolange sie nicht
für Verleger produciert, sondern ein eigenthümlich localisiertes Handwerk.
Abgesehen von diesem und dem Hausfleisse vereint Oesterreich, das
Mittelglied zwischen Ost- und Westeuropa, such alle Formen der wirklichen
Hausindustrie.
I. Wir finden hier zunächst jene Art Hausindustrie, die (nach dem
„östlichen Typus") aus dem localisierten Handwerk ganzer Ortschaften
entstand, wie die galizische Schuhwarenindustrie, wie die Holz- und Spielwaren-
erzeugung in der Viechtau bei Gmunden, oder die Sesselerzeugung im
Tischlerdorf Mariano unweit Görz.
IL Wir finden aber auch den Typus jener Hausindustrie vor, welche
aus einem ehemals selbständigen und zünftigen Handwerk sich entwickelte.
So bestehen heute noch in einem Wiener Bezirke Heimweber. Das Auf-
kommen der grossen Confectionshäuser bedingt diese Entwicklung neuerer
Zeit in allen Zweigen der Bekleidungsindustrie. Wie das grosse Kleider-
Detailmagazin die Kundenschneider schädigt und zum Theil zu abhängigen
Stückschneidern macht, so drücken grosse Schuhwaren-Kaufhallen, welche
nicht capitalkräftig genug sind, um einen Manufacturbetrieb in der Provinz
zu errichten, viele Schuhmacher der Stadt zu Sitzgesellen herab ^).
^) Der Bericht der nieder-österr. Handels- und Gewerbekammer über den Handel,
die Industrie- und Verkehrsverhältnisse ihres Bezirkes während der Jahre 1854 — 56
(Wien 1857) sagt schon, dass von den 2671 Schuhmachermeistern des damaligen Wiener
Pohzeirayons nur 8 — 900 auf eigene Eechnung für Platzkunden, etwa 100 für den
Export und der Kest, mithin 16—1700, mit Stückarbeit für die bedeutenderen Meister
und Kaufleute beschäftigt waren. Der Bericht für 1857—60 (Wien 1861) bemerkt, dass
die grossen Schuhwaren-Etablissements bereits die Deckung eines nicht unbeträchtlichen
Theiles von dem Bedarfe der Eesidenzbewohner auf sich genommen und damit den Absatz
des für den Localbedarf arbeitenden Kleingewerbes vermindert haben. Heute wird die
Zahl der Schuhmachergesellen in Wien siebenmal so hoch geschätzt als die Zahl der
Meister vor 40 Jahren; es sollen 4000 bei „Kundenschustern" arbeiten, 2000 auf Fabriken
entfallen und gegen 10.000 als Sitzgesellen von Fabriken und Händlern thätig sein.
Wenn der Schuhlieferant Versendungen ins Ausland vornimmt und infolge besonderer
Conjuncturen plötzlich das Zehn- und Zwanzigfache binnen kurzer Zeit liefern soll,
während nach vorübergegangener Conjunctur wieder Wochen und oft Monate lang keine
bedeutenden Aufträge kommen, dann beginnt er Hausgesellen zu verwenden, weil er bei
diesem System das Eisico der Arbeitslosigkeit am leichtesten von sich abwälzt und auch
Die Entstehung der Hausindustrie, mit Rücksicht auf Oesterreich. I57
Ein weiteres Beispiel dieser Kategorie bieten die Korbmacher in Wien
dar, welche infolge der Einrichtung von eleganten, auf Auswahl und grossen
Vorrath begründeten Korbwaren-Mederlagen allmählich zu Heimarbeitern
einiger weniger grossen und capitalkräftigen Händler geworden sind ^).
III. Der billigeren Arbeitskräfte halber wird drittens die Hausindustrie
in Vorstädten wie auf dem flachen Lande angesetzt, und zwar sowohl von
Kundengeschäften und Fabrikanten als von allerlei Vermittlern und Hand-
werksmeistern. So setzt der Perlmutter-Knopf händler Bauernburschen zum
Knopfdrehen und der Handschuh-Exporteur, von der Einrichtung des Post-
paketes und den» modernen Communicationsverhältnissen begünstigt, Haus-
näherinnen in entfernten Landestheilen an, so lässt der Wiener Strick-
warenerzeuger durch seine Werkmeister Landleute abrichten, welchen er
dann Strickmaschinen im häuslichen Betriebe zur Verfügung stellt, so ver-
mag der Haarnetzefabrikant fast seine sämmtlichen Arbeiter, mit Ausnahme
jener, welche die Ware vei-packen, auf dem flachen Lande zu erhalten oder
die Fächerfabrik ihre zierlichen Holzgestelle von den Bewohnern eines böhmi-
schen Dorfes zu beziehen. So vollzieht sich die Industrialisierung des flachen
Landes in immer steigendem Maasse, indem die bis dahin Landwirtschaft
treibende Bevölkerung sich, vorerst vorübergehend, alsbald ständig, der gewerb-
lichen Thätigkeit zuwendet. In der Stadt aber setzen sich, eine förmliche
Hierarchie des Elends bildend, neben dem Sitzgesellen auch Nebengesellen
an. welche bei jenem in Miete sind.
IV. Andere Hausindustrien werden errichtet, um einem localen Noth-
s tan de gewisser Gegenden zu begegnen. 2) Zu diesem Zweck wurde in
Oesterreich unter der Aegide der Regierung beispielsweise die Korbflechterei
durch Wanderlehrer (in Mähren) in Wsetin und Wall.-Meseritsch, (in Nieder-
österreich) in Zwettl. in Böhmen zu Königssaal bei Prag, endlich (in Galizien)
in Rudnik hausindustriell organisiert, und die Perlmutterknopf drechslerei in
Tachau (Böhmen) eingeführt.
V. Endlich wird aber auch eine Art von Hausindustrie organisiert,
deren' Zweck nicht der Profit des Absatzvermittlers oder die Beschäftigung
einer arbeitslosen Bevölkenmg ist, sondern welche erziehliche und kunst-
das feste Productivcapital, dessen eine Fabrik bedarf, entbehren kann. Zugleich wird
bei Krisen im auswärtigen Absätze versucht, den inneren Markt zu erobern und neu
eröifnete Verkaufshallen drängen dann den „Kundenschuster" noch mehr zurück.
^) Die Kortflechtermeister giengen infolge der Errichtung der Magazine zunächst
des selbständigen Kundenkreises verlustig. Sie begannen daher an Stelle der früher auf
Bestellung angefertigten kunstvollen Stücke leicht absetzbare Dutzendartikel zu erzeugen,
welche sie im Magazin anbringen konnten. Damit gieng die Kunstfertigkeit, welche beim
hausindustrieUen Betrieb immer sehr leidet, zurück. Jetzt wird den (formell selbstän-
digen) Meistern bereits das Rohmaterial seitens der Händler, welche auch in der
Provinz arbeiten lassen, geliefert. Es bleibt abzuwarten, ob und welche Erfolge ihnen ein
auf eine äussere Anregung soeben gebildeter Rohstoff-Verein bringen wird.
2) So entstanden Hausindustrien auch in Deutschland und in Frankreich; vgl.
Stieda, „Die deutsche Hausindustrie," S. 112, und mehrere Fälle in Barberet's
„Monographies Professionnelles", bish(!r 7 Bände, Paris 1886—1891.
1(38 Schwiedland.
gewerbliche Absichten ins Leben riefen. Hieher gehören die auf Förderung und
Pflege mancher Arten des nationalen Hausfleisses abzielenden Bestrebungen,
welche im Aussee'er Hausindustrie- Verein (zum Zweck des Absatzes nationaler
Stickereien) oder in der Verwaltung der Fürstin Czartorjska auf Wiazownica
(zum Absatz von Korbwaren und Teppichen) verkörpert sind.
Dies die uns in 0 esterreich bekannt gewordenen Typen. Auf die geschil-
derten Arten entwickeln sich noch immerfort Hausindustrien. Die letztberührte
Entstehungsart hat natürlich eine im Verhältnis untergeordnete wirtschaft-
liche Bedeutung. Durch die früher genannten aber werden trotz der einge-
führten Gewerberegelung Personen ohne Meisterbefugnisse von
solchen, welche diese Rechte ebenfalls nicht besitzen, zu gesetzlich vorbe-
haltenen Arbeiten angesetzt. Die Gewerbefreiheit hat naturgemäss diese
Entwicklung wesentlich begünstigt, wenn auch die Bedingungen für den
Absatz im Grossen und für die kaufmännisch-capitalistische Organisation des
Vertriebes schon vor ihrem Eintritte gegeben waren. Allein auch die heutige
Gewerbe-Ordnung hindert die geschilderte Entwicklung keineswegs. W^enn an
einem kleineren Orte ein Schuhwarenhändler seine Niederlage errichtet und
allmählich ungehindert auch Bestellungen nach Maass, sowie Reparaturarbeiten
übernimmt, die er ausserhalb, durch Hausgesellen oder in Schuhwarenfabriken
ausführen lässt. gerathen die verschiedenen Meister des Ortes, und mit diesen
ihr Gesellenstand, allmählich in eine empfindliche Bedrängnis. Nun ergeben
sie sich entweder dem neuen Unternehmen, indem sie Stückmeister oder
allenfalls Hausindustrielle desselben werden, oder sie versuchen ein Con-
currenzsystem durch das Halten von möglichst vielen Lehrlingen, welche,
zu Gesellen geworden, alsbald entlassen und durch zahlreichere neue Lehr-
linge ersetzt werden. Diese Gehilfen, welche keine Aussicht auf eine erträg-
liche selbständige Existenz haben, sowäe Lehrlinge, welche dem Meister
entlaufen, bilden dasjenige Material, aus welchem sich die eigenen Sitz-
gesellen des Handlungshauses recrutieren, und nun ist die Entwicklung auf
einem Cmweg dennoch bei der Hausindustrie angelangt. Die Gewerbefreiheit
gewährt dem Confectionär natürlich ohneweiters das Recht, selbst eine Werk-
stätte für die Herstellung von Bekleidungsgegenständen einzurichten, ebenso
wie sie beispielsweise dem Uhren -Händler, welcher seine Ware aus einer
Schweizer Fabrik bezieht, gestattet, Reparaturarbeiten an Uhren zu über-
nehmen, welche er dann durch den billigst arbeitenden Uhrmacher-
Gehilfen vornehmen lässt, der, wenn der Händler genügende Aufträge hat.
allmählich dessen Hausgeselle wird, auch Lehrlinge aufnimmt und ausbildet
und den selbständigen Meistern, welche in Werkstätten arbeiten lassen, die
empfindlichste Concurrenz bereitet. Ist doch das Arbeiten zu unver-
gleichlich niedrigen Löhnen oder Preisen das ständige
Attribut des Hausindustriellen.
Um den Meisterstand ökonomisch zu kräftigen, versuchte man für
eine Reihe von Gewerben ^) zum Befähigungsnachweis Zuflucht zu nehmen.
1) Dieselben werden „handwerksmässige" genannt.
Die Entstehung der Hausindustrie, mit Rücksicht auf Oesterreich. 169
Das Mittel erschien von vornherein als eine Halbheit, solange nicht die Eegelung
des Lehrlingswesens ebenfalls vorgesehen wurde, allein klar erscheint nach den
bisherigen Erfahrungen unter dem Eegime des Befähigungsnachweises, dass
auch ohne eine strenge Kegelung der Hausindustrie die Beschränkungen
zur Hebung des Kleingewerbes untauglich sind.
Durch § 1 des Gesetzes vom 15. März 1883 zur Abänderung der
Gewerbe-Ordnung wird eben die Hausindustrie von der Einreihung unter
die Gewerbe überhaupt ausgenommen.
Was aber ist als Hausindustrie definiert?
Die an Gesetzesstatt geltende Bestimmung der Hausindustrie ^), als
jene gewerbliche Production, w^ eiche nach örtlicher Gepflogenheit von
Personen in ihren Wohnstätten als Haupt- oder als Nebenbeschäftigung in
der Art betrieben wird, dass diese Personen bei ihrer Erwerbsthätigkeit,
falls sie derselben nicht bloss persönlich obliegen, keinerlei gewerb-
liche Hilfsarbeiter (Gehilfen, Lehrlinge u. s. w.) beschäftigen,
sondern sich lediglich der Mitwirkung der Angehörigen des
eigenen Hausstandes bedienen, übersieht die Person des Ver-
legers und erinnert durch die Betonung der „örtlichen Gepflogenheit" an
jene local üblichen, traditionellen Gewerbe, welcher wir als Vorstufe der
Hausindustrie im Osten besonders gedachten. Man könnte darüber streiten,
ob diese Definition ihrem Wortsinne nach nicht auch die Sitzgesellen der
Städte umfasst, wo das Heimarbeiten bereits in Wahrheit zu einer örtlichen
Gepflogenheit geworden ist. Dann wäre auch diese Ftfrm der Hausindustrie
durch § 1 der Gewerbe -Ordnung von der Einreihung unter die Gewerbe
überhaupt ausgenommen. Allein, wenn dem gegenüber darauf hingewiesen
Avürde, dass im Sinne der Gewerbeordnung dem Händler die Erzeugung
versagt ist — wob*ei § 38 al. 3 G.-O. dieses Verbot rücksichtlich der Her-
stellung „handwerksmässiger" Erzeugnisse besonders wiederholt — und dass
somit der Sitzgeselle des Kaufmannes bereits rechtlich abgeschafft ist, so
bleibt zu erwidern, dass diese Vorschrift in praxi vollständig missachtet wird und
dass ferner dem Haltern von Sitzgesellen seitens der Meister ( — welche dadurch
an Steuern, Krankencasse- und Unfallversicherungs-Beiträgen, Beleuchtung,
Werkstattmiete und Löhnen sparen und somit ihre Genossen durch eine billigere
Production niederconcurrieren können — ) ebensowenig gesteuert ist, als dem
Hinabdrücken ärmerer Meister zu Sitzgesellen von Kaufleuten. Und so
werden in Gewerben, in welchen das selbständige Arbeiten als Beruf an
die Erbringung des Befähigungsnachweises, d. i. an die Zurücklegung von
Lehrlings- und von Gesellenjahren geknüpft ist, nach wie vor ungestört Heim-
arbeiter angesetzt. 2) Die Hausindustrie war wohl bei der Abfassung der Gewerbe-
^) Im Eriass des k. k. Handelsministeriums vom 16. September 1883, Z. 26.701.
2) Vgl. das Ergebnis der Enquete der nieder- österr. Handels- und Gewerbe-
kammer über die Verhältnisse in der Wiener Perlmutter-Drechslerei, im Protokolle der
öffentlichen Sitzung am 27. October 1890. — Sitzgesellen der Schneiderbranche nehmen in
Wien zur Saison sogar Dienstmädchen auf, welche sie entlohnen, aber nicht bei sich
beherbergen.
170 Schwiedland.
novelle dem Gesetzgeber noch nicht als jene üppige Wucherung in den
Werkstatt- oder „handwerksmässigen" Gewerben bekannt, als welche sie
heute neben dem Werkstattbetriebe gedeiht!
Trotz einer peinlichen Abgrenzung der Gewerberechte und der Er-
schwerung des Antrittes zahlreicher Gewerbe vermöge der Einführung des
Befähigungsnachweises vollzieht sich denn die Entwicklung der Hausindustrie
noch ungestört, ja sogar, vielleicht wegen des Zeitfortschrittes noch energischer
als in der Periode der absoluten Gewerbefreiheit, und darin liegt der Grund, dass
die Einführung des Befähigungsnachweises, wie man heute sagen kann, nicht die
erhofften Wirkungen gebracht hat. Man wollte den Händler verhindern, sich
als Gewerbetreibender zu etablieren, aber er kann als Händler ungehindert
Hausindustrielle ansetzen und selbständige Meister zu solchen machen. —
Vielleicht hätte eine ungleich strengere Kegelung des Lehrlingswesens im
Gesetze wie in der Praxis, sowie eine minder optimistische Auffassung von der
volkswirtschaftlichen EoUe der „fabriksmässigen" Hausindustrie diese Entwick-
lung einzudämmen vermocht; vielleicht könnte auch die Ausdehnung der Gewerbe-
Ordnung mit ihren bisherigen oder mit noch wesentlich verschärften Arbeiter-
schutzmaassregeln auf die gesammte Hausindustrie die Lage der (durch
ihre ConcuiTenz bedrängten) Werkstattmeister wie der Heimarbeiter zum
Theile verbessern . oder den üebergang in den fabriksmässigen Betrieb
befördern — jedenfalls wird der Gesetzgeber der besprochenen Erscheinung
gegenüber eine Entscheidung zu treffen haben, welche das Princip der
Gewerbefreiheit oder der Gewerberegelung selbst berührt. Wenn er auch
schwer vermögen wird, die Bewegung damit erheblich zu beeinflussen,
wird er doch ihre Wirkungen nicht weiter ignorieren können.
VERHANDLUNGEN DER GESELLSCHAFT
ÖSTERREICHISCHER VOLKSWIRTE.
General- und 25. Plenarversammlung vom 26. Octoben 1891.
JJer Vorsitzende Sectionschef von Inama- Stern egg eröffnete die ausser-
ordentliche Generalversammlung mit einer Ansprache, in welcher er zunächst
auf das glänzende Banquet Bezug nahm, das die Gesellschaft österreichischer
Volkswirte den Theilnehmern an der III. Session des internationelen statistischen
Institutes geboten hat, als dieselbe in der Zeit vom 28. September bis 30. October 1891
in Wien tagte ; hiedurch seien die Beziehungen der Gesellschaft zum Auslande fester
geknüpft worden ; denselben Zweck habe auch die Ernennung des Institutspräsidiums
tu Ehrenmitgliedern der Gesellschaft verfolgt, welche umso angemessener gewesen
sei, als dasselbe sich aus in der wissenschaftlichen Welt hochangesehenen und
verdienstvollen Männern zusammensetzte. Der Präsident Sir ßawson W. Eawson
gehöre sei 50 Jahren zu den Koryphäen der englischen Statistik, sei lange Zeit
Präsident der Statistical Society in London gewesen, habe sich in Indien um
die Pflege der internationalen Handelsbeziehungen grosse Verdienste erworben
und bilde nun eine der Hauptstützen der Imperial federation league; Professor
Emil Levasseur, erster Vicepräsident des Institutes, Akademiker und Pro-
fessor am College de France, sei schon in jungen Jahren auf dem Wege der
historischen Forschung in den Socialwissenschaften vorangegangen, habe durch
sein grosses Werk „Population de la France" das Muster einer Bevölkerungs-
statistik geliefert, sei ein hervorragender Geograph und vereinige mit ungewöhn-
licher Vielseitigkeit eine beinahe deutsche Gründlichkeit; Wilhelm Lexis, Pro-
fessor in Göttingen und zweiter Vicepräsident des Institutes, habe über Währunsr
und Geld, über statistische Theorien, vor allem aber über das Gesetz der Ge^
sammtheiten, u. zw. sowohl der Bevölkerungs- als der Wertgesammtheiten
Untersuchungen von hervorragender Bedeutung geliefert; Luigi Bodio endlich,
der Generalsecretär des Institutes und Generaldirector der italienischen Statistik,
habe sich in seinen Arbeiten über den Volkswohlstand und in den zahllosen
Veröffentlichungen der amtlichen Statistik Italiens als vielseitiger, scharfblickender
und geübter Gelehrter und praktischer Arbeiter erwiesen. Nach diesen Ausfüh-
rungen ertheilte die Versammlung ohne Debatte und einstimmig der Ernennung
der oben bezeichneten Ehrenmitglieder ihre Zustimmung. Damit wurde die General-
versammlung geschlossen und es eröffnete der Herr Vorsitzende die Plenarver-
172 Verhandlungen der Gesellschaft üsterreichisclier Volkswirte.
Sammlung mit einer kurzen Besprechung der Vorkommnisse während der Sommer-
pause; insbesondere hob er die durch Beiträge der Gesellschafts-Mitglieder möglich
gewordene Aufstellung und Enthüllung der Büste Lorenz v. Stein's in den Arcaden
der Wiener Universität hervor, welchen Act sowohl das hohe k. k. Unterrichtsmini-
sterium, als auch der akademische Senat mit Dank zur Kenntnis genommen haben.
In zweiter Eeihe gab der Herr Vorsitzende bekannt, dass die Gesellschaftsleitung
die Vorarbeiten für Herausgabe einer selbständigen „Zeitschrift für Volkswirtschaft,
Socialpolitik und Verwaltung" begonnen habe, welche die Aufgabe verfolge,
im grossen Stile, getragen vom ernstesten Streben wissenschaftlicher Arbeit und
gelehrter Forschung, in allen jenen Kreisen eine reiche Fülle von Mittheilungen
zu verbreiten, die an dem volkswirtschaftlichen Leben Oesterreichs Interesse nehmen ;
die Redaction dieser Zeitschrift habe sich aus dem Herrn Dr. v. Plener, Hofrath
V. Böhm-Bawerk und dem Präsidenten der Gesellschaft gebildet; der bisherige
Verleger der „Mittheilungen" habe auch den Verlag der Zeitschrift gegen einen
verhältnismässig geringen Jahresbeitrag seitens der Gesellschaft übernommen und
sich bereit erklärt, den Mitgliedern die Zeitschrift um einen namhaft erniedrigten
Preis zu überlassen und denselben die in die Zeitschrift in gekürzter Form auf-
zunehmenden Berichte über die Verhandlungen der Gesellschaft als Separat-
abdrücke unentgeltlich zuzumitteln. Die Zeitschrift werde also eine Ausgestaltung
und Erweiterung der bisherigen „Mittheilungen" darstellen.
Schliesslich berichtet der Herr Vorsitzende, dass an Stelle des bisherigen
ersten Vicepräsidenten Prof. Dr. v. Miaskowski, der an die Universität Leipzig
berufen sei, der Vorstand der Gesellschaft Herrn Hofrath Dr. E. v. Böhm-
Bawerk cooptiert habe; die definitive Wiederbesetzung der Stelle werde gleich-
zeitig in der Neuwahl des Gesammtvorstandes in der ordentlichen General-
versammlung erfolgen.
Sectionschef v. Inama-Sternegg ertheilt nun Herrn Dr. Ferdinand
Schmid das Wort zu seinem Vortrage über die neue Preussische Steuer-
reform-Gesetzgebung.
Dr. F. Schmid verweist zunächst auf die Bedeutung der gewählten Themas
für uns Oesterreicher, welche sich schon aus der einen Thatsache ergebe, dass
die österreichische Regierung daran sei, eine grosse Reform auf demselben Ge-
biete durchzuführen. Die preussische Reform zeigt das Maass desjenigen, was den
herrschenden Bevölkerungsclassen des Königreichs in Bezug auf Besteuerung
hat abgerungen werden können; überdies ist sie wegen der ausserordentlichen
Raschheit, mit der sie alle Fährlichkeiten der parlamentarischen Verhandlung über-
standen hat, und deswegen interessant, weil es sich um den grössten deutschen Staat
handelt, der daran geht, Gewerbe- und Einkommensteuer, die wichtigsten Theile seines
Systems der directen Besteuerung neu zu gestalten, um in Kurzem auch die Grund-
und Gebäudestäuer durch Ueberweisung an die Communalverbände zu reformieren.
Die preussische Reformvorlage hatte ein dreifaches Ziel u. zw. eine Reform
der alten Gewerbesteuer, eine Umgestaltung der Einkommensteuer und eine Er-
gänzung des Erbschaftssteuergesetzes vom Jahre 1873 im Auge. Das letzte der
drei genannten Projecte musste infolge des Widerstandes im Parlamente fallen
gelassen werden, die andern beiden Ziele wurden erreicht, die darauf bezüglichen
General- un.l 25. Plenarversammlung vom 26. Oetober 1891. 173
Vorlagen sind seit dem 24. Juni d. J. Gesetz; auf sie bezieht sich der fol-
gende Vortrag.
Zur Zeit des Tilsiter Friedens musste die preussische Regierung für Erhö-
hung ihrer Einnahmen sorgen; eines der Mittel hiezu bot ihr die Einführung
einer allgemeinen Gewerbe-Classensteuer; diese wurde im Jahre 1820 dureh
eine Gewerbesteuer für bestimmte gewerbliche Betriebe ersetzt, welche, obwohl
vielfach abgeändert, bis zuletzt die Grundlage der preussischen Gewerbebesteuerung
bildete. Manche Betriebe allerdings, so das Hausiergewerbe und Wanderlager,
werden durch besondere Steuern getroffen und somit auch vom neuen Gesetze
nicht berührt. Das alte preussische Gewerbesteuergesetz beruhte auf dem Principe
der Classenbildung und belastete nur jene Gewerbe, welche in gewisse Gattungs-
classen, deren Zahl allmählich auf sechs zusammenschmolz, eingereiht werden
konnten. Neben diesen Classen, die zum Theile auch Betriebs-Umfangsclassen
waren, unterschied das Gesetz Gewerbesteuerabtheilungen, nämlich Ortsclassen,
in welche die Orte je nach ihrer industriellen Bedeutung eingereiht wurden.
Hiedurch sollte die Durchführung der Besteuerung nach sogenannten Mittelsätzen
ermöglicht und auch das Princip der Steuerautonomie und Steuerrepartition zur
Geltung gebracht werden. Durch die Multiplication dieser Mittelsätze mit der Zahl der
Steuerpflichtigen des Steuerbezirkes wurde ein Jahressoll festgesetzt, welches dann
von den Steuerpflichtigen selbst, der Steuergesellschaft, resp. von ihrem Ausschusse
repartiert wurde. Das System der Mittelsätze sicherte dieser Gesetzgebung trotz
ihrer bedeutenden Mängel ihre lange Dauer. Unter den Mängeln ist die geringe
juristisch-formale Durchbildung derselben, welche vielfache Härten begründete,
zu nennen, überdies wnrde im Laufe der Zeit die Ortsclasseneintheilung unhaltbar;
dasselbe gilt auch von den Gattungs- und Betriebsumfangsclassen. auch die nur
leise angedeutete Abgrenzung zwischen Grossbetrieb und Handwerk erschien bald
unmöglich; manche Betriebe, welche in die Classeneintheilung nicht passten,
blieben steuerfrei, daneben gab es aber auch doppelte Besteuerung, wenn jemand
neben dem Hauptbetriebe noch einen Nebenbetrieb hatte und beide in verschiedene
Gattungsclassen fielen; endlich waren Grossbetriebe oft nur mit Y^^ Procent
besteuert, während Kleinbetriebe 2 Procent und mehr entrichten mussten.
Die neueste Reform beseitigt den alten Classenschematismus und theilt
alle Gewerbe nach dem Ertrage, subsidiär nach dem Anlage- und Betriebs capital,
in vier Classen, als unterste Grenze erscheint ein Ertrag von 1500 Mark, resp.
Hin Betriebs- oder Anlagecapital von 3000 Mark; hiedurch wurde ein Drittel
sämmtlicher Betriebe steuerfrei gemacht, während in Süddeutschland im allge-
meinen nur ein Anlage- und Betriebscabital von 700 Mark abwärts frei bleibt.
Die preussische Reform hat damit das z. B. in Baiern und Hessen adoptierte
System des französischen Classenschematismus, welches, wie verlautet, auch im
österreichischen Entwürfe Anwendung finden soll, abgelehnt, da die Aufstellung
eines solchen Classentarifs eine Sisyphusarbeit wäre. Auch das in Baden geltende
System, wonach die Steuer nicht auf den Ertrag, sondern auf das Anlage- und
Betriebscapital basiert wird, hat Preussen abgelehnt.
Ein indirectes Mittel zur Durchführung dieser Ertragsbesteuerung bietet in
Preussen das neue Einkommensteuergesetz; dasselbe setzt nämlich auch für
174 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
gewerbliche Betriebe eine ziemlich weitgehende Declarationspflicht fest, ermöglicht
also eine Einschränkung derselben bei der Gewerbesteuer; für diese sind nur die
für den Steuersatz maassgebenden Grenzsummen des Ertrages und die für den
Betriebsumfang charakteristischen Merkmale zu fatieren. Die 2. bis 4. Steuer-
classe wird auch jetzt nach Mittelsätzen besteuert, die erste Classe, der Betriebe
von sehr verschiedenem Umfange angehören, wird mit einer Percentualsteuer
u. zw. im allgemeinen mit einem Percent belastet. Der Zweck der ganzen Eeform
gieng darauf hinaus, eine gerechtere Vertheilung der Gewerbesteuer ohne Inaus-
sichtnahme eines höheren Ertrages zu erzielen. Von den sonstigen wesentlichen Be-
stimmungen des Gesetzes sind vor allem die folgenden hervorzuheben. In Betreff
des subjectiven Umfanges der Steuerpflicht gilt, dass die von öffentlichen Corpo-
rationen erhaltenen Betriebe, welche nicht einen Erwerb bezwecken, steuerfrei
sind und dass private Betriebe dieser Art vom Finanzminister die Steuerfreiheit
erlangen können; die landwirtschaftlichen Betriebe mit Einschluss des Pachtbe-
triebes sind gleichfalls steuerfrei, andere sind es zum Theil deswegen, weil sie
speciellen Steuern unterliegen, wie der Eisenbahn- und Bergwerksbetrieb; ebenso
unterliegen der Volksanschauung entsprechend auch die liberalen Berufsunter-
nehmungen und Dienste nicht der Gewerbesteuer. Die Steuerorgane sind nach
dem Principe der Autonomie eingerichtet. Die zu einer Steuergesellschaft ver-
einigten Steuerpflichtigen eines Bezirkes wählen einen Ausschuss, dem ein staat-
licher Commissär vorsitzt; hiebei sind Geschäftsgeheimnisse immer zu wahren
und können Bücher nur dann zur Vorlage gelangen, wenn sich der Steuer-
pflichtige freiwillig hiezu erbietet. Der Oberverwaltungsgerichtshof bietet die
richterliche Controle für das Einsteuerungsverfahren, w^ährend die Kegierung hiefür
einen besonderen Steuergerichtshof in Aussicht genommen hatte. Aus finanzpoli-
tischen Gründen besteht neben der Gewerbesteuer eine Nebensteuer, nämlich eine
besondere Betriebssteuer für Schank- und Gastwirtschaften, sowie für den Klein-
handel mit Spirituosen. Durch die Entlastung der kleinen Gewerbe war ein
Ausfall von 2,700.000 Mark gegeben und dieser soll hiedurch gedeckt werden;
auch volkswirtschaftliche und ethische Gesichtspunkte waren für die Anwendung
dieser Maassregel bestimmend.
Im allgemeinen erweist sich also die neue Gewerbesteuer als klar und durch-
sichtig und beachtet sie socialpolitische Gesichtspunkte, indem sie die kleinen
Betriebe entlastet es ist aber zweifelhaft, ob die vielfach beschränkten Macht-
befugnisse der Einsteuerungsorgane eine allseitige und gerechte Vertheilung der
Steuerlast im Einzelnen genügend sicherstellen.
Auch die preussische Einkommensteuer führt auf die Zeit des Tilsiter
Friedens zurück. Damals wurde ein ziemlich compliciertes System von Consum-
tionsabgaben eingeführt, mit welchen die spätere Entwicklung der Einkommen-
steuer innig zusammenhängt. In den kleinen Städten und auf dem flachen Lande
war dieses System nämlich schwer durchführbar, man setzte also im Jahre 1820
an seine Stelle eine Art Kopfsteuer; dieselbe belastete die Haushaltungen nach
einigen wenigen Sätzen, war also noch keine eigentliche Einkommensteuer. Im
Jahre 1851 wurde neben dieser Classensteuer für die höheren Einkommen eine
besondere, der modernen Einkommensteuer sehr nahestehende classificierte
26. Plenarversammlung vom 9. November 1891. 175
Einkommensteuer eingeführt. Weiters wurden im Jahre 1873 die Mahlaccise und
die Schlachtsteuer als Staatssteuern auch für die grösseren Städte abgeschafft, die
Classensteuer auf das ganze Land ausgedehnt und so Classensteuer und classificierte
Einkommensteuer allgemein nebeneinander gestellt. Ihre Eeformbedürftigkeit wurde
am Ende der 70er Jahre allgemein klar; die Classensteuer bedrückte die niedern
Classen stark; dagegen entlastete die classificierte Einkommensteuer infolge mangel-
haften Einsteuerungsverfahrens und zu weit getriebener Steuerautonomie die
Wohlhabenden sehr bedeutend. Als dann viele Gemeinden besonders im Westen
des Reiches genöthigt waren ihren Haushalt zum Theile auch auf Personalsteuern
zu gründen, wurde dieser Mangel noch mehr fühlbar; die hohen Communal-
zuschläge, — vielfach bis zu 500 7o — machten die Steuer für viele Theile der
Bevölkerung geradezu erdrückend. Auch die Reichssteuerreform und insbeson-
dere die Zollgesetzgebung unter Bismarck Messen die Neugestaltung der Personal-
steuern als immer dringender erscheinen. Fürst Bismarck wollte die niederen
Classen durch Aufhebung der Classensteuer und der untersten Sätze der classifi-
cierten Einkommensteuer entlasten und die noch übrigen Reste der letzteren
in eine moderne Personalsteuer umwandeln. Diesem Zwecke sollten die Gesetz-
entwürfe von 1882 und 1883 dienen; der letztere nahm übrigens neben der
classificierten Einkommensteuer noch eine besondere Capitalrentensteuer in Aus-
sicht. Diese Projecte führten thatsächlich zu einer Entlastung gewisser Einkommen-
kategorien, das zweite Project wurde aber schon in der parlamentarischen
Commission in der Hauptsache zurückgewiesen, indem sich dieselbe gegen die
Einführung der Capitalrentensteuer und gegen eine weitergehende Aufhebung der
Classensteuer und der unteren Theile der classificierten Einkommensteuer aussprach ;
vor das Plenum gelangte dieses Project gar nicht.
Erst Finanzminister Miquel hat auch diesen Theil der Reform, u. zw.
überraschend schnell durchgeführt. Sein letztes Ziel ist, die Personaleinkommensteuer
ähnlich wie in Sachsen zur Hauptgrundlage der Staatsbesteuerung zu machen und
die Grund- und Gebäudesteuer ganz oder theilweise den Gemeinden zu überweisen ;
da sich Miquel hiebei grosser Mässigung befliss, gelang ihm die Durchführung
wenigstens eines Theiles seiner Pläne. Dieselben bezweckten unmittelbar 1. die
Verschmelzung der Classensteuer und der classificierten Einkommensteuer zu einer
einheitlichen Personaleinkommensteuer, 2. die Hinaufrückung der Grenze für die
Degression der Steuer, 3. weitere Erleichterungen für die unbemittelten Classen
durch erweiterte Durchführung des Princips der Individualisierung bei der Steuer-
bemessung, Einführung des Declarationszwanges, Neuorganisation der Einsteuerungs-
behörden und Schaffung einer richterlichen Controle für das Einsteuerungsverfahren.
Die Wiedervorlage eines Capitalrentensteuer-Projectes unterliess Miquel, die
Ersränzung des Erbschaftssteuergesetzes von 1873 gab er wegen des heftigen
parlamentarischen Widerstandes auf. In Betreff des subjectiven Umfangs der
Einkommensteuerpflicht ist zu erwähnen, dass für Actiengesellschaften das badische
Princip angenommen wurde, wonach der Actionär eine mässigv) Rente unversteuert
beziehen soll, indem von den zu berücksichtigenden Ueberschtissen der Gesellschaft
372% des Grundcapitals — die Regierung hatte 37o vorgeschlagen — vorweg
in Abzug gebracht wird. Weiters gilt, dass die eingetragenen Genossenschaften
176 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
steuerpflichtig sind, wenn sie ihren Wirkungskreis auch auf Nichtmitglieder aus-
dehnen, Consumvereine mit offenem Laden sind es dann, wenn sie die Eechte
juristischer Personen haben. Als Existenzminimum gilt der Betrag von 900 Mark;
dasselbe höher zu rücken, hat Miquel nicht einmal versucht. Dagegen sollen
die unteren Classen auf anderem Wege Erleichterungen erlangen. Zunächst wurde
die Familiengrösse des Steuerpflichtigen berücksichtigt, indem für jedes nicht
selbständig veranlagte Familienmitglied unter 14 Jahren 50 Mark dann abge-
zogen werden, wenn das zu versteuernde Einkommen den Betrag von 3000 Mark
nicht übersteigt, sind drei oder mehr solche Familienglieder vorhanden, so muss
die Steuer um mindestens eine Stufe herabgesetzt werden ; bei gewissen besonderen
Umständen uud Unglücksfällen können die Behörden die Steuern um drei Stufen
niedriger bemessen.
In Eücksicht auf den objectiven Umfang der Steuerpflicht ist zu erwähnen,
dass Conjuncturengewinne im allgemeinen als Einkommen und nicht als Vermeh-
rung des Stamm Vermögens betrachtet, daher der Besteuerung unterzogen werden,
dagegen dürfen — was vom socialpolitischen Gesichtspunkt aus interessant ist —
Beiträge zu Arbeitercassen und Versicherungsprämien bis zu einem bestimmten
Betrage als Abzugssposten eingestellt werden. In Betreff des Tarifs setzte die
Eegierungsvorlage die Grenze der Degression von 3000 M. auf 9500 M. hinauf,
nahm aber das Princip eines stark progressiven Steuerfusses nicht an. Das Abge-
ordnetenhaus setzte die Steuersätze für die mittleren Einkommen von 2500 bis
9000 M. stark herab und rückte die Grenze der Degression, um den damit ge-
gebenen Ausfall zu decken, auf 100.000 M. hinauf. Einkommen von 100.000 M.
und mehr haben 4^0 zn bezahlen, solche von 10.000 M. 37o» solche von
900 M, 0'62Vo, also von 100.000 M. nach abwärts in sinkender Scala.
Hieraus ergibt sich zunächst eine Entlastung im Betrage von 672 Millionen;
die erhöhte Individualisierung wirkt in derselben Richtung und bringt den Ge-
sammtbetrag der Erleichterung auf 9 Millionen.
Das Steuerverfahren ist hauptsächlieh durch Einführung des Declarations-
principes wesentlich verbessert. Die Fatierung ist vorgeschrieben für alle Einkommen
über 3000 M. ; für alle geringeren ist sie facultativ und nur dann obligatorisch,
wenn der Vorsitzende der Einsteuerungsbehörde dazu auffordert. Während die Re-
gierungsvorlage für den Unterlassungsfall der Declaration nur den Verlust der
Rechtsmittel statuiert hatte, gestattet das Gesetz der Behörde überdies einen
25yQigen Zuschlag zur Steuer aufzuerlegen. Die Unterlassung der Declaration gilt
nicht als DefraudationsfaU; für einen solchen sind principiell nur Geldstrafen
u. zw. im 4- bis lOfachen Betrage der Steuerverkürzung zulässig. Andererseits
finden die Privatinteressen weitgehenden Schutz, indem die Verletzung von Privat-
geheimnissen an den betreffenden Functionären mit Gefängnis bis zu drei Monaten
geahndet v.ird. Das Einsteuerungsverfahren ist auch dadurch verbessert, dass das
Princip des Steuerinspectorates anerkannt wird und dass der Vorsitzende der
Steuerbehörde zweckmässig erweiterte Befugnisse hat. Für Einkommen bis zu
3000 M. bestehen örtliche Voreinschätzungscommissionen, für die grössern Ein-
kommen Veranlagscommissionen, für den Bezirk als Berufungsdistanz besondere
Berufungscommissionen. Die Ausschüsse für die Gewerbesteuer dürfen Zeugen und
General- und 25. Plenarversammlung vom 26. October 1891. 177
Sachverständige eidlich vernehmen, bei der Einkommensteuer steht dieses Eecht
nur den Berufungscommissionen zu, die sich auch hiebei der Vermittlung des
Amtsgerichtes zu bedienen haben. Für die Behörden sind die Declarationen nicht
bindend, sie können vielmehr eine Berichtigung veranlassen und wenn diese nicht
zum Ziele führt, die Steuer nach dem Ergebnisse sonstiger Erhebungen feststellen.
Die glückliche Finanzlage Preussens machte es möglich, dass auch bei diesem
Theile der Eeform nur eine gerechtere Vertheilung ins Auge gefasst wurde ; wenn
die Einnahmen der reformierten Einkommensteuer die Summe von 80 Millionen
übersteigen, soll der üeberschuss einem noch zu erlassenden Gesetze gemäss den
Communalverbänden zu deren Entlastung überwiesen werden und wird vorläufig
an einen vom Finanzminister verwalteten Fond abgeführt. Kommt obiges Gesetz
nicht zustande, so sind die üeberschüsse zur Herabsetzung der Einkommensteuer
zu verwenden. — Dieser Theil der MiqueTschen Eeform ist also gewissermaassen
provisorischer Natur, was man bei einer Kritik desselben nicht wird übersehen dürfen.
Dieser mit lebhaftem Beifalle aufgenommene Vortrag war von einer Dis-
cussion gefolgt, in welcher zuerst Herr Dr. König das Wort ergriff um folgende
Momente zu betonen.
Es sei bedauerlich, dass ein politischerBeamte, der Landrath, bei der Einsteuerung
eine dominierende Stellung einnehme; es sei auffallend, dass die preussische
Finanzverwaltung im Auslande lebende Preussen schon nach zweijähriger Abwesen-
heit von der Steuer enthoben wissen will; die Heranziehung juristischer Personen
vermehren die Einnahmen des Fiscus um mindestens 6 Millionen; beachtenswert
seien die Verhandlungen über die Einbeziehung des fundierten und unfundierten
Einkommens mit Bezug auf das projectierte Erbschaftssteuergesetz; in Betreff des
Steuertarifes habe man der ursprünglichen Vorlage gegenüber die Eeihe der
Classen und die Höhe des Steuerfusses vergrössert; was die Declarationen angehe,
so habe das gleiche Verfahren in Sachsen schon jezt zur Folge, dass mehr als die
vom Gesetze verlangten Fassionen eingehen.
Für die Gewerbesteuer sei die von Miquel verlangte fixe Summe von
19*8 Millionen genehmigt worden; eine Gleichmässigkeit für die Steuerzahler sei
hiedurch ausgeschlossen. Wie man in Preussen durch die Eeform eine wirkliche
Einkommensteuer zu schaffen und bei der Gewerbesteuer eine bessere Vertheilung
zu erzielen beabsichtiget hat, so soUte auch bei uns bald ein logisch gedachtes
und klar redigertes Gesetz zu Stande kommen.
Dr. Eitter v. Fürth tritt für das Eepartitionsverfahren, speciell bei Objects-
steuern, ein; Oesterreich könne nicht ohne weiteres auf seine Ertragssteuern ver-
zichten, müsse aber ihre Zurückdrängung im Auge behalten. Bei der Erwerbsteuer
bezwecke die Eepartition einen Ausfall am Erträgnisse zu verhindern; die gleich-
massige Vertheilung werde in Preussen durch das Institut der Steuergesellschaften
gefördert. Eedner bespricht dann die Stellung der preussischen Eegierung zur
Frage des Existenzminimums, zum Problem der Capitalrentensteuer, welche in den
Eahmen des Projectes, das mit den Ertragsteuern brechen wollte, nicht gepasst
hätte und ihr Verhalten mit Eücksicht auf das Erbschaftssteuergesetz und die durch
dasselbe beabsichtigte Heranziehung des fundierten und unfundierten Einkommens ;
auch dieser Plan sollte nicht ohne weiteres verworfen werden; schliesslich ver-
Zeitschrift für Volkswirtsuhatt, Socialpolitik und Verwaltung. I. Heft. 12
178 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
weist Eedner darauf: Dass durch die Veranlagungscommission der Einkommensteuer
die Vorlage der Handelsbücher gefordert und das Ergebnis dieser Prüfung "bei der
Bemessung der Gewerbesteuer berücksichtigt werden dürfe.
Nach diesen Ausführungen erklärt der Herr Vorsitzende die Versammlung
für geschlossen.
26. Plenapvepsammlung vom 9. November 1891.
Die Versammlung wird durch den Herrn Vorsitzenden Sectionschef v. Inama-
Sternegg mit der Mittheilung eröffnet, dass seit Beginn der diesjährigen Wirksam-
keit des Vereines acht neue Mitglieder in denselben aufgenommen worden sind u. zw.
die Herren Dr. Bauer, Dr. E. v. Fürth, Dr. Grünberg, Dr. Hartmann, Dr. Kuh,
Dr. Landesberger, Dr. v. Schullern undDr. Singer. Der Herr Vorsitzende ertheilt
sodann dem Eeichsrathsabgeordneten Dr. Gross das Wort zu seinem Vortrage über
Arbeiterwohnungen. Herr Dr. Gross verweist zunächst auf die grosse wirtschaft-
liche, hygienische, technische, ethische und insbesondere sociale Bedeutung des Pro-
blems, wodurch eine erschöpfende Behandlung desselben nothwendig zu einer sehr
umfangreichen werden müsste ; da der Eahmen eines Eeferates aber ein sehr enger
sei, so müsse er seine Ausführungen sehr einschränken ; insbesondere müsse er es sich
genügen lassen, von den Arbeiterwohnungen zu sprechen, so sehr es ihm klar sei, dass
das Problem auch für eine Eeihe anderer Bevölkerungsclassen grosse Bedeutung be-
sitze; weiters wolle er nur österreichische Verhältnisse in Betracht ziehen. In Oester-
reich ist sowohl die Literatur eine bedeutend geringere, als auch die Thätigkeit auf
dem ganzen Gebiete der Wohnungsfrage eine viel weniger bedeutende, als in Deutsch-
land, wo sich eine Eeihe von Vereinen verschiedener Art mit dieser Frage befassen.
Die in den Arbeiterwohnungen zu Tage tretenden Uebelstände sind in solche
wirtschaftlicher, hygienischer und ethischer Natur zu unterscheiden; alle aber haben
ihre Grundlage in wirtschaftlichen Uebelständen. Der erste wirtschaftliche Uebel-
stand liegt in den hohen Preisen der Arbeiterwohnungen, indem der Quadratmeter
bewohnbaren Eaumes in kleinen Wohnungen immer viel theurer ist, als in grossen,
u. zw. einerseits deswegen, weil einer grossen Nachfrage geringes Angebot ent-
gegensteht und weil andererseits der Vermieter vom Mieter und dieser vom After-
mieter eine Gefahrenprämie fordert, weil also geradezu Wohnungswucher Platz
greift; der zweite Uebelstand ergibt sich daraus, dass die Wohnungsmiete beim
Arbeiter einen weit höheren Percentsatz seines Einkommens ausmacht, als beim
Wohlhabenden; verwendet der letztere 5 — 107o des Einkommens für diesen Zweck
so muss der erstere 25 — 30Vo opfern. Aus diesen Misständen in Bezug auf den
Preis ergeben sich die hygienischen Uebel; der Arbeiter muss möglichst billige
und daher unzureichende Wohnungen mieten, in grössere, zu theure Wohnungen
muss er Aftermieter und Bettgeher aufnehmen; in jedem Falle liegt also eine
XJeberfüllung der Wohnung vor. Zehn, zwölf und mehr Personen beiderlei Ge-
schlechtes sind oft in einem Zimmer zusammengedrängt, ja es wird manchmal
geradezu mit den Betten Schicht gemacht, 'indem die Bewohner sie abwechselnd
gebrauchen. Die hygienischen Uebel treten umsomehr zutage, wenn es sich nicht
um an sich gesunde Wohnugen, sondern um unheizbare Dachkammern, Dachböden,
Kellerlöcher und dergleichen Locale handelt. Solche Verhältnisse bringen auch
26. Plenarversammlung vom 9. November 1891. I79
schwere sittliche Schäden mit sich, sie zerstören jedes Familienleben und treiben
die Bewohner in die Arme des Lasters.
Die Beschaffung büliger und gesunder Arbeiterwohnungen würde diesen
liebeln wirksam entgegen treten und die sociale Frage zwar nicht lösen, aber doch
auf eine andere Basis stellen. Die Lösung der Frage muss von ihrer Tvirtschaft-
lichen Seite aus gefunden werden; die Sanitätspolizei allein kann nicht alles thun,
auch eine besondere Wohnungsgesetzgebung genügt nicht, so wünschenswert und
heilsam sie auch wäre. Delogierungen der Bewohner eines Kellerloches führen die-
selben zunächst ins Asyl für Obdachlose oder den Gemeindearrest und schliesslich
vielleicht in eine noch elendere Wohnung, welche bald durch den Nachschub an
Bettgehern neuerdings überfüllt ist. In England und Belgien werden daher der-
artige Wohngebäude unter Umständen expropriiert und niedergerissen; in Belgien
aber hatte es nur die Folge, dass sich nun die Arbeiter an der Peripherie der
Stadt, weit von ihren Arbeitsstätten gerade in so schlechten Wohnungen, wie die
früheren waren ansiedelten ; in England ist sogar ein Neu- und Umbau schlechter
Häuser von amtswegen und auf Kosten des Besitzers zulässig. Das schwerfällige
Verfahren aber macht den Erfolg dieser G-esetzesbestimmungen vielfach illusorisch.
— Der Schwerpunkt der Frage liegt in der Schaffung guter und billiger Woh-
nungen ; sind solche vorhanden, so müssen auch die Wohnungswucherer im Preise
herabgehen und die Wohungen assanieren. In Oesterreich ist in dieser Eichtung
bisher wenig geschehen; einige Gresellschaften in Prag, Eeichenberg undTriest, welche
diesen Zweck verfolgen, haben manches G-ute gethan, ebenso Vereine in Wien
und Brunn, welche nach dem Cottage-Systeme bauen. Das Cottage-System ist
aber wohl für den vorliegenden Zweck wenig geeignet, weil es für den Arbeiter
zu theuer ist; auch hier muss er durch Aufnahme von Aftermietern und Bettgehern
einen Theil des Preises hereinzubringen suchen ; überdies wird der Arbeiter durch
dieses System in seiner Freizügigkeit gehindert, weil er das Haus nicht verkaufen
kann, solange er Eaten zahlen muss ; er kann es nicht verlassen, ohne die be-
zahlten Baten zu verlieren und wenn es endlich ihm gehört, kann er es auch
nur sehr schwer veräussern. Besser als dieses System wirkt die auch in Deutsch-
land geübte Herstellung grosser Gebäude für eine Anzahl von Familien, wobei
durch Wahl eines geeigneten Grundrisses die mit dem Zusammenleben mehrerer
Familien verbundenen Uebelstände beseitiget werden und die Möglichkeit geboten
wird, gewisse gemeinsame Einrichtungen, wie Waschküche, Badezimmer u. dgl.
herzustellen. Diese letztere Methode ist nun thatsächlich meist von den Industriellen
eingeschlagen worden, u. zw. mehr am flachen Lande als in den grossen Industrie-
städten. Solche Gebäude sind nun aber oft Arbeiterkasernen der schlechtesten
Sorte, und sie sind meist viel zu theuer; der Mietzins solcher Wohnräume am
Lande steigt per Quadratmeter bis zu 3 Gulden, so dass eine massig grosse Wohnnug
bis zu 120 fl. kostet. Staat, Land und Gemeinde haben bisher für die Arbeiter-
wohnungen nichts gethan. Eine wenigstens negative Förderung der Bauthätigkeit
dürfte der kürzlich im Abgeordnetenhause erledigte schon 1883 von den Abg.
Hermann und Portheim eingebrachte, dann von Mauthner und Winterholler wieder auf-
genommene Antrag ergeben, welcher ursprünglich [eine gänzliche Steuerbefreiung für
alle kleinen Wohnungen verlangte, dann aber hauptsächlich wegen der Haltung der
12*
IgO Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
Eegierung stark eingeengt wurde. Es soll die Steuerbefreiung nämlich nur mehr
für Arbeiterwohnungen gelten, welche von Gemeinden, gemeinnützigen Vereinen,
Genossenschaften und Arbeitgebern für ihre eigenen Arbeiter errichtet werden;
leider sind hiebei von Actiengesellschaften zu diesem Zwecke errichtete Gebäude
ausgeschlossen, und doch haben gerade solche insbesondere in Franki'eich vieles
zugunsten der Arbeiter geleistet und besteht die Steuerbefreiung für solche seit
dem Jahre 1889 in Belgien u. zw. sogar ohne Feststellung einer Maximaldividende und
eines Maximalzinses, wodurch leicht Arbeiterwohnungen zum Gegenstande des Specula-
tionsbaues werden können. Der Absicht, vollkommene Befreiung von der Staats-
steuer und allen Zuschlägen zu gewähren, trat das Interesse der Gemeinden in
den Weg; in Betreff der Landes- und Gemeindezuschläge hat denn auch das
Herrenhaus Aenderungen an dem vom Abgeordnetenhause beschlossenen Gesetzent-
wurfe vorgenommen, welche die Zurückleitung desselben an jenes nothwendig
machen. Der vom Abgeordnetenhause angenommene Entwurf enthält ein Minimal-
maass der Wohnungen, um der Herstellung all' zu kleiner vorzubeugen, musste
aber auch aus fiscalischen Gründen ein Maximalmaass aufnehmen; da man vom
Cottagesystem abgekommen war, erschien die Feststellung eines Maximalmaasses für
die Gebäude überflüssig. Damit nicht der ganze Vortheil aus dem Gesetze statt den
Mietern den Vermietern zugute komme, bestimmte man auch ein Maximalmaass der
Mietzinse, nach dem Quadratmeter bewohnbaren Eaumes berechnet. Die Feststellung
dieses Maximums war sehr schwierig; da sie nicht den Localbehörden überlassen
werden konnte; um nicht grossen Unternehmern zu vielen Einfluss zu geben und man
doch mit Rücksicht auf die Baukosten und das Einkommen der Arbeiter localen Ver-
hältnissen Rechnung tragen musste, schuf man drei Ortsclassen mit bestimmten Zins-
sätzen u. zw. gelten als solche: I.Wien mit fl. 1*75, 2. Orte mit mehr als 10.000
Einwohnern mit fl. 1*15, 3. kleinere Orte mit fl. 0*80 pro Quadratmeter. Diese Ma-
ximalzinse sind in jedem Falle erschwinglich, werden aber besonders bei von Ge-
meinden oder gemeinnützigen Vereinen errichteten Gebäuden wohl meist nicht er-
reicht werden.
Zu viel darf man von den Wirkungen des österreichischen Gesetzes nicht er-
warten; wohl kann man hoffen, dass viele Industrielle und gemeinnützige Vereine, die
bisher an Capitalmangel litten und nun infolge der Steuerbefreiung eine massige Ver-
zinsung des Capitals in Aussicht haben, wenn sie auch billige Wohnungen herstellen,
davon Gebrauch machen werden ; dagegen ist wenig von der Thätigkeit der Gemeinden
und Genossenschaften zu gewärtigen; die Bildung von Arbeitergenossenschaften be-
gegnet nämlich grossen Schwierigkeiten. Es wird Aufgabe der Geldinstitute, insbeson-
dere der Sparcassen sein, den gemeinnützigen Vereinen zu entsprechend niedrigem
Zinsfusse Geld vorzustrecken; ja es sind in dieser Richtung schon Schritte gethan
worden.
Unter diesen Voraussetzungen lässt sich in den grösseren Centren eine segens-
reiche Bauthätigkeit erwarten; in jedem Falle aber stellt das Gesetz den ersten Schritt
zur Lösung einer der wichtigsten, socialen Fragen dar.
Nach diesen mit lebhaftem Beifalle aufgenommenen Ausführungen ergreift Herr
Vicedirector Wittelshöfer das Wort; er bestreitet die Bedeutung des besprochenen
Gesetzes und führt die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter nicht auf ihre
26. Plenarversammlung vom 9. November 1891. 181
Ausgaben, sondern auf ihre geringen Einnahmen zurück; das Aftermieterunwesen
könne durch das Gesetz nicht gehemmt werden. Die Wohnungsfrage sei weniger in
der G-rossindustrie, welche ein eigenes Interesse habe, die Arbeiter gut zu behausen
und so an die Scholle zu binden, als vielmehr im Kleingewerbe und in der Haus-
industrie acut; hier nun sei das Gesetz ganz illusorisch, die Bildung von Bauge-
nossenschaften unmöglich; die Bedeutung des Gesetzes sei also eine geringe.
Eeichsrathsabgeordneter Dr. v. Plener vertheidigt das Gesetz, welches eben
nur einen bestimmten Zweck verfolge, bei der gegebenen Sachlage auch mir
diesen verfolgen könne, und bei den gewiss traurigen Arbeiter-Verhältnissen in der
Grossindustrie auch gewiss ein weites Feld segensreicher Wirksamkeit finde; aller-
dings sei es zu bedauern, dass der Entwurf bei der parlamentarischen Berathung
starke Einschränkungen erfahren habe; jedenfalls könne man dem Gesetze selbst es
nicht zum Vorwurfe machen, dass es Ziele nicht erreicht, die es gar nicht anstrebt.
Nach einigen Bemerkungen des Herrn Alex. Fischl, wonach der für Wien fest-
gesetzte Zins zu niedrig und das Cottagesystem weder zu theuer sei, noch die Frei-
zügigkeit behindere, wonach endlich die Haltung des Herrenhauses die auf das Gesetz
gebauten Hoffnungen stark verringere, verwahrt sich Eeferent Herr Dr. Gross dage-
gen, als hätte er das Gesetz eine grosse, socialreformafcorische That genannt; jeden-
falls werden durch das Gesetz die Wohnungsübelstände gemildert und das Aftermieter-
unwesen bekämpft werden; eineEeform der Einkommensverhältnisse könne allerdings
mit dieser Frage nicht verquickt werden.
Der Herr Vorsitzende, Sectionschef v. Inama-Sternegg, schliesst sodann
unter Erneuerung des dem Eeferenten ausgesprochenen Dankes die Versammlung.
LITEMTURBERICHT.
Nordbölimische Arbeiterstatistik. Tabellarische Darstellung der Ergebnisse der
von der Reich enberger Handels- und Gewerbekammer am 1. December 1888 durchge-
führten Erhebung. Eeichenberg. 1891.
Der Mangel einer umfassenden und zuverlässigen Arbeiterstatistik machte sich auch
in Oesterreich insbesondere bei der Berathung der socialpolitischen Versicherungsgesetz-
gebung in empfindlicher "Weise fühlbar. So entschloss sich denn die Eeichenberger
Handels- und Gewerbekammer zu Ende des Jahres 1888 ausserhalb des Rahmens der
regelmässigen Quinquennal-Industriestatistik eine allgemeine Betriebs- und Arbeiter-
statistik im Kammerbezirke vorzunehmen. Und zwar schwebte ein doppelter Zweck bei
dieser Aufnahme vor Augen: „einerseits sollte sie die Kammer in die Lage versetzen,
an der Durchführung der socialen Versicherungsgesetzie mit Hilfe eines anderen und
besseren Materiales als den Verwaltungsbehörden zu Gebote stand, mitzuwirken; anderer-
seits sollte sie im Hinblicke auf die allgemein empfundene und anerkannte Nothwendig-
keit einer Verbesserung der statistischen Quinquennalberichterstattung der österreichischen
Handels- und Gewerbekammer als Prüfstein dafür gelten, was auf dem Gebiete der
Arbeiterstatistik unter den gegebenen Verhältnissen erreichbar sei."
Es ist gewiss sehr erfreulich, dass die Reichenberger Kammer das von der
Wiener Kammer gegebene Beispiel befolgt und ebenfalls nach einer Verbesserung und
namentlich Vertiefung ihrer statistischen Berichterstattung strebt. Nachdem durch das
Wiener Statistische Seminar eine stattliche Reihe trefflich geschulter Statistiker heran-
gebildet worden ist, stehen für derartige Bemühungen glücklicherweise nun auch die
geeigneten Kräfte zur Verfügung. Das erhöhte statistische Interesse der Reichenberger
Kammer dürfte in erster Linie auf die Referenten des statistischen Bureaus, früher
Herrn Dr. Hatschek, zur Zeit Herrn Dr. Bach, zurückzuführen sein.
Die Erhebung, für welche als Zeitpunkt der 1. December 1888 gewählt worden
war, wurde mittelst Betriebsfragebögen und Arbeiterzählkarten durchgeführt. Da der
Betriebsfragebogen vorzugsweise für die Erhebung der nicht zur Veröffentlichung gelangten
betriebsstatistischen Thatsachen bestimmt war, verliert er hier gegenüber dem Arbeiter-
zählblatt an Interesse. Letzteres aber bildet in der That ein charakteristisches Merkmal
der Erhebung, welches sie vor allen früheren auszeichnet. Das Arbeiterzählblatt wurde
zur Erleichterung der späteren Bearbeitung des Materiales für jede der 12 Industrie-
gruppen auf andersfarbiges Papier gedruckt und enthielt folgende Fragen:
1. Bezirk, 2. Standort, 3. Name des Arbeitgebers, 4. Art der Betriebsuntemeh-
mung, 5. Vor- und Zuname des Arbeiters, 6. Geburtsstätte, 7. Geburtsjahr, 8. Art der
Beschäftigung, 9. Arbeitet bei obigem Arbeitgeber seit, 10. Bezieht durchschnittlich per
Woche an Lohn (im Accord — fest).
Auffallend erscheint es, dass bei der Fragestellung nach dem Lohne auf den
etwaigen Bezug von Emolumenten keine Rücksicht genommen worden ist. Die von der
Wiener Kammer durchgeführte treffliche Lohnstatistik beweist, dass solche vielfach eine
beträchtliche Rolle spielen. ') Auch möchten wir einigermaassen bezweifeln, ob man die Frage
») Unter 88066 beobachteten Arbeitern befanden sich 1(5363 Emolumentenempfänger. Statistischer
Bericht über Industrie und Gewerbe des Erzherzogthums Oesterreich unter der Enns im Jahre 1885. Wien
1889. J. XLTX.
Literaturb ericht . 183
nach (lern durchschnittlich per Woche verdienten Lohne allenthalben richtig erfasst und
dem entsprechend beantwortet hat. Es sollte natürlich derjenige Lohn angegeben
werden, welcher auf eine Woche entfiele, wenn sich der Verdienst auf die einzelnen
Arbeitswochen einer Zeitperiode, etwa eines Jahres, gleichmässig vertheilen würde. Eine
Belehrung über diesen Punkt scheint dem Zählblatte nicht beigefügt worden zu sein.
Da aber eine statistisch correcte Angabe des durchschnittlichen Wochenlohnes unter
Umständen nicht ganz leicht fällt, so können wir uns nach dieser Hinsicht einer gewissen
Skepsis nicht ganz erwehren. Es mag übrigens gleich hier betont werden, dass selbst
dann, wenn die Ermittlung des durchschnittlichen Wochenlohnes durchaus richtig erfolgt
sein sollte, aus demselben auf die Höhe des Jahreseinkommens eines Arbeiters noch
keine Schlüsse gezogen werden dürfen. Auf die Frage, wie viele Wochen hindurch der
Arbeiter im Jahre beschäftigt ist. hat die Erhebung keine Antwort ertheilt.
Die nordböhraische Arbeiterstatistik bezieht sich keineswegs auf die gesammte ge-
werblich thätige Arbeiterbevölkerung des Kammerbezirkes. Nach zwei Kichtungen fand eine
Beschränkung statt. Einmal wurden die Arbeiter der Montanindustrie, der Verkehrsanstalten
und des Handels ausgeschlossen, und dann blieben auch die Arbeiter unbeachtet, welche in
nicht fabriksmässigen Betrieben thätig sind. Da indes eine statistisch brauchbare Ab-
grenzung der fabriksmässigen Betriebe nicht vorliegt, musste man sich immer noch an das
freilich höchst mangelhafte Merkmal der Erwerbsteuerhöhe von mindestens 21 fl. halten.
Bezüglich einzelner besonders wichtiger Industrien wurde indes bei der Vertheilung der
Frageformulare tief unter den genannten Steuersatz herabgegangen, um nach eingelangter
Beantwortung selbst zu beurtheilen, ob die Betriebe als fabriksmässige in den Eahmen
der Erhebung fielen. Die Abgrenzung nach unten ist somit eine schwankende.
Diese Beschränkungen der Erhebung müssen bei der Beurtheilung der Ergebnisse
wohl beachtet werden. Indem die Lohnverhältnisse der kleingewerblichen und hausindu-
striellen Arbeiter unermittelt blieben, gelangten diejenigen Lohnverhältnisse in der
Statistik nicht zur Darstellung, für welche die Präsumtion besteht, dass sie noch weit
unerfreulicher seien als die in den Fabriken.
Zur Versendung gelangten über 2000 Fragebogen und nahezu eine Viertelmillion
Zählblätter. Hievon sandten mehr als 1300 Betriebsuntemehraer die Fragebögen nebst
105.000 wohl ausgefüllter Arbeiterzählblätter an das statistische Bureau der Kammer
ein. Die Sichtung des eingetroffenen Materiales ergab, dass von denjenigen Betrieben,
die Fragebogen sammt Zählblättem beantwortet hatten, nur 1131 als Fabriken, bezie-
hungsweise Grossbetriebe in den Rahmen der Statistik aufzunehmen waren. Zu diesen
1131 Fragebögen gehörten 102.221 befriedigend ausgefüllte Zählblätter.
Sind hiemit auch alle Arbeiter und Betriebe, welche in das Gebiet der Erhebung
fallen, erfolgreich der Massenbeobachtung unterworfen worden ? Kann die Erhebung als
eine vollständige gelten?
Der statistische Referent der Kammer glaubt zur Beantwortung dieser wichtigen
Frage einen Anhaltspunkt den Anmeldungen zur Unfallversicherung entnehmen zu können.
Die im Sommer 18ö8 erfolgte erste Anmeldung hatte für den Kammerbezirk 139.854 Arbeiter
ergeben. In dieser Ziffer sind indes auch die zahlreichen Arbeiter der Bergwerksbetriebe,
der Eisenbahnen, gewisser landwirtschaftlicher Betriebe u. s. w. inbegriffen, auf welche
die Erhebung, wie wir wissen, sich nicht erstreckte. Somit wird der Erhebung eine
relative Vollständigkeit zuerkannt werden müssen. Ob und in welchem Sinne der Mangel
einer absoluten Vollständigkeit die Ergebnisse beeinflusst hat, ist schwer zu sagen.
Sollte bei denjenigen Betriebsuntemehmem, welche eine Beantwortung abgelehnt haben,
nur eine, wenn man so sagen darf, platonische Abneigung gegen statistische Lmfragen
als Motiv in Betracht gekommen sein, dann wird man die Fehler, welche die Unvoll-
ständigkeit der Erhebung heraufbeschworen hat, nicht allzu streng beurtheilen dürfen.
Anders hingegen, wenn die unerfreuliche Gestaltung gerade der Verhältnisse, die im
eigenen Betriebe bestehen, den Beweggrund gebildet haben sollte. Man würde dann zur
Annahme o-ezwungen sein, dass die Ergebnisse wegen Ausschlusses einer Zahl bedenk-
licher Betriebe ein freundlicheres Antlitz zeigten, als sie in der That besitzen.
2g4 Literaturbericht.
Für die Authenticität der Angaben glaubt die Kammer einstehen zu dürfen, da die
von ihr vorgenommenen Controlen ein durchaus befriedigendes Resultat geliefert haben.
Nach welchen Gesichtspunkten erscheint das umfangreiche Material verarbeitet?
Es gelangen zunächst die Lohnverhältnisse und die Stabilität der Arbeiter nach Steuer-
bezirken zur Darstellung. Es sind also die Fragen 1, 2, 7, 9 und 10 des Arzeiterzähl-
blattes, deren Beantwortung die Grundlagen für diesen Theil der Statistik abgibt. Für
jeden der 69 Steuerbezirke, welche das Gebiet der Reichenberger Kammer umfasst,
werden 4 Tabellen entworfen. Die ersten drei, je eine für die männlichen Arbeiter, für
die weiblichen und beide zusammen, bringen die Lohnverhältnisse zur Anschauung. Die
Arbeiter werden nach den Geburtsjahren in öjährige Altersclassen gruppiert. Wir erfahren
sodann für jede Altersclasse die Zahl derjenigen, welche im Stücklohne arbeiten. Hierauf
folgt die Summe der Wochenlöhne, welche insgesammt von den Angehörigen dieser
Altersclasse im Stücklohn verdient werden. Die nächste Spalte zeigt, welcher Lohn auf
den einzelnen Arbeiter der Altersclasse fallen würde, wenn die Summe ihrer Löhne auf
alle Angehörigen sich gleichmässig vertheilte, also den durchschnittlichen Wochenlohn
eines Mitgliedes dieser Altersclasse, Dieselben Daten folgen auch für die Zeitlöhner.
In der dritten Hauptspalte werden die Lohnverhältnisse schlechthin, ohne auf den
Unterschied zwischen Zeit- uud Stücklohn mehr Rücksicht zu nehmen, in derselben
Weise aufgeführt. Endlich werden die Summen der überhaupt verdienten Wochenlöhne
gebildet, durch die Zahl der beobachteten Arbeiter getheilt, woraus sich der durch-
schnittliche Wochenlohn des Steuerbezirkes ergibt.
In der 4. Tabelle werden die Arbeiter nach den Jahren gruppiert, seit welchen
sie bereits in dem Betriebe, welchem sie zur Zeit der Zählung angehören, beschäftigt sind.
Von besonderem Interesse sind hier die Procentberechnungen, welche den Bruchtheil
der Arbeiter erkennen lassen, der erst seit dem Erhebungsjahr 1888, seit 1887. 1886
u. s. w. in dem Betriebe thätig ist. Weniger instructiv ist die durchschnittliche Arbeits-
dauer eines Arbeiters in demselben Betriebe.
Der Anordnung nach localen Gesichtspunkten (Steuerbezirken) liegt der Gedanke
zu Grunde, auch den Einfluss der localen Momente auf die Alters-, Lohn- und Stabili-
tätsverhältnisse der Arbeiter darzuthun. Da indes die Statistik selbst über die Beschaffen-
heit der localen Bedingungen (Kosten der Lebenshaltung, Nationalität, wirtschaftlichen
Charakter in den einzelnen Steuerbezirken) keine Aufschlüsse gewährt, so ist eine
weitergehende und unmittelbare Belehrung nicht leicht zu gewinnen.
Dankbarer erscheint dem gegenüber das Studium des zweiten Theiles. Er bringt
die Lohn-, Alters- und Stabilitätsverhältnisse der Arbeiter nach Industrie-Gruppen,
Classen und Branchen zur Darstellung.
Da die Beziehungen zwischen Lohn und Alter der Arbeiter, ebenso wie die Sta-
bilitätsverhältnisse unseres Wissens eine ähnlich umfassende Ermittelung, wie sie das
Werk der Reichenberger Kammer bietet, noch nicht erfahren haben, rechtfertigt sich
wohl der Versuch, nicht nur wie bisher die bei der Erhebung und Bearbeitung befolgte
Methode, sondern auch einige der wichtigeren materiellen Ergebnisse vorzuführen.
In sämmtlichen von der Statistik erfassten Betrieben waren 57.867 männliche
Arbeiter mit einem Durchschnittslohne von 5 92 fl. per Woche und 41.957 weibliche mit
einem solchen von 3-63 fl. beschäftigt. Zieht man die localen Verschiedenheiten in
Betracht, so zeigt sich, dass im allgemeinen die deutschen, nordwestlich gelegenen,
vorwiegend industriellen und dichterbevölkerten Bezirke höhere Löhne aufweisen als
die im Südosten gelegenen Gebiete, in welchen eine der böhmischen Nationalität ange-
hörende, ackerbautreibende und minder dichte Bevölkerung vorherrscht. So stehen die
Steuerbezirke Töplitz mit 7-87 fl., Auscha mit 7-48 fl., Aussig mit 7-87 fl., Bilin mit
6-91 fl., Lobositz mit 6-57 fl,, Königgrätz mit 6-12 fl„ Dux mit 6-06 fl. und Reichenberg
(St.) mit 5-99 fl, an der Spitze, während Opocno (3-84), B. Skalitz (3-62), Libau (3-58),
Neupaka (3-56) und Nechanitz (3*53) am Ende der Reihe erscheinen, welche die
Durchschnittslöhne sämmtlicher Arbeiter über 16 Jahre in absteigender Stufenfolge
zeigt. Gruppiert man die Löhne nach den Industriezweigen, so ergibt sich, dass mann.
Literaturbericht. Ig5
liehe Arbeiter die höchsten Löhne verdienen in Walzwerken (12-02 tl.), Tafelglashütten
1 12-44 fl.). Chamotte- und Thonwarenfabrikation (9-04 fl.), Hohlglashütten («-37 fl.),
Buch- und Steindruckerei (8-35 fl.); die niedrigsten in der Glasperlenerzeugung (4-89 fl.),
Seidenweberei (4-85 fl.), Leinenweberei (4-74 fl.), Flachsspinnerei (4-66 fl.), Erzeugung
von Männer- und Damenkleidern (4-29 fl.), Spiegel- und Rahmenfabrikation und Glas-
Schleiferei (4-27\ Holzstifte- und Holzrouleauxerzeugung (4-25 fl.) und Jutespinnerei- und
Weberei (4-19 fl.). Weibliche Arbeiter stehen sich am besten in der Erzeugung von
Männer- und Damenkleidern (6-42 fl.), in der Schuhwarenfabrication (4-49 fl., Schaf-
wollspinnerei (4-14 fl.) und Baumwollweberei (3-92 fl.). Der niedrigste Verdienst wird
ihnen in der Hornknopferzeugung (2-92 fl.), der Glasraffinerie (2-87 fl.), der Bandweberei
(2-77 fl.), in Eohglashütten (2-10 fl.) und in Mühlen (1-80 fl.) zu Theil.
Von den Männern stehen 23.905 (41%) im Stücklohn mit einem durchschnitt-
lichen Wochenverdienste von 6-07 fl.; 33.962 (59%) mit 5-82 fl. per Woche im Zeitlohne;
die entsprechenden Ziffern für die Frauen sind 27.884 (667o) und 3-81 fl.; 14.073 (34%)
und 327 fl. Für beide Geschlechter stellt der Lohn im Accord sich höher als der feste
Zeitlohn, bei den Männern um 4%, bei den Frauen aber um 17'^/(,.
Im Stücklohne, welcher die thatsächliche Arbeitsleistung genau wiederspiegelt,
erreicht der Arbeiter das Maximum seines Verdienstes im Alter von 31 bis 35 Jahren.
Von da ab geht derselbe sofort wieder rasch zurück. Bei der Arbeiterin gilt als Zeit
höchster Leistungsfähigkeit und grössten Stücklohnverdienstes das Alter von 25 — 35 Jahren.
Die sorgfältige Ermittelung des Alters, welche durch die Zählblätter stattgefunden
hatte, erlaubte auch den Altersaufbau der beobachteten Arbeiterbevölkerung zur Darstellung
zu bringen. Es ergibt sich, dass von den Männern 13.233 (23"/„j im Alter unter 21 Jahren,
von den Frauen 1G.885 (40"/o) unter der genannten Altersgrenze sich befinden. Von der
22. Altersclasse aufwärts erscheint die Besetzung bald wesentlich schwächer. Offenbar ver-
lässt ein beträchtlicher Theil der Arbeiterinnen nach der Verheiratung die Fabriksarbeit.
Die Ermittelung des Alters der Arbeiter hat leider, wie das der Altersstatistik
schon zu ergehen pflegt, zu mancherlei Missverständnissen geführt. So stellt z. B. „Der
Freigeist", ein in Reichenberg erscheinendes Arbeiterblatt, auf Grund der vorliegenden
Statistik die Behauptung auf, dass ungefähr 2/3 der erwachsenen Arbeiter unter 35 Jahren
stürben, da die Tabelle über den Altersaufbau der Arbeiterbevölkerung nur 30.000 Arbeiter
über 35 Jahren aufweise. „Freilich kann eingewendet werden, dass die, welche über
35 Jahre zählen und nicht mehr in der Industrie beschäftigt sind, nicht gestorben sein
müssen, sondern zu einer selbständigen Beschäftigung übergegangen sein können. Dem
gegenüber kann aber erwidert werden, dass Arbeiter im Grossbetriebe beschäftigt nur
in seltenen Fällen dazu kommen, ein eigenes Geschäft zu betreiben oder eine andere
Arbeit zu wählen, weshalb diese Wenigen die von uns gezogenen Schlüsse nicht erheb-
lich beeinträchtigen können." ') Hiebei wird also der Umstand, dass ein grosser Theil
von Arbeiterinnen wegen Verheiratung ausscheiden kann, ganz übersehen.
Dif Statistik macht uns ferner mit dem Durchschnittsalter der Arbeiter in den
einzelnen Industrien bekannt. Dasselbe beträgt für die Männer überhaupt 31-8, für die
Weiber 26'3. In der Textilindstrie wird es auf 30-7 und 20 5, in der Tuchindustrie
speciell auf 35-0 und 28-6 berechnet. Angesichts dieser Ziffern glaubt der Verfasser
von „Oesterreich's Tuch- und Modewarenfabrication im Hinblicke auf das Jahr 1892" 2),
Gustav Trenkler, annehmen zu dürfen, „dass die Arbeit in der Tuchfabrik eine gesunde
genannt werden muss. und durch diese schätzenswerten Ziffern wohl manches einge-
wurzelte, deshalb obei-flächliche Bedenken schwinden muss." Und an anderer Stelle 3) :
„Die grossen Zahlen, gegen die es keinen Appell gibt, haben bewiesen, dass die Textil-
industrie unter allen anderen Industrien zu den gesündesten der Fabriksbeschäftigungen
in geschlossenen Räumen gehört, und dass in deren Unterabtheilung die Tuchfabrication
die erste Stelle einnimmt."
») Der Freigeist, Reichenberg 27. August 1891.
2j Wien 1891. S. 89.
3j a. a. O. S. 192.
1 g(5 Literaturbericht .
So muss denn der jedem Statistiker selbstverständliche Sachverhalt noch eigens
betont werden, dass das Durchschnittsalter der Arbeiter einer Industrie gar keinen
Schluss auf deren gesundheitsschädliches oder gesundheitsförderndes Verhalten gestattet.
Ein niedriges Durchschnittsalter besagt einfach, dass in der betreffenden Industrie die
jugendlichen Arbeitskräfte überwiegen. Diese Erscheinung aber braucht mit den Ein-
wirkungen der betreffenden industriellen Arbeit auf die Gesundheit oder Sterblichkeit
nicht das Mindeste zu thun haben. So wird in Industrien oder Betrieben, welche
schon seit längerer Zeit in sich gleich bleibendem Umfange bestehen, naturgemäss ein
grösserer Bruchtheil älterer Arbeiter anzutreffen sein, während die erst in letzter Zeit zur
Blüte gelangten Industrien oder Betriebe vorzugsweise den Nachwuchs der Bevölkerung
aufnehmen und infolgedessen mehr jugendliche Arbeiter aufweisen. So zeigte sich bei einer
in Mannheim veranstalteten Erhebung, dass in den seit längerer Zeit bestehenden und
mehr stabilen Unternehmungen die Besetzung der höheren Altersclassen eine wesentlich
dichtere war als in jüngeren Etablissements. ^) Auch in der nordböhmischen Tuchindu-
strie wird vermuthlich das höhere Durchschnittsalters vorwiegend durch den Umstand
bedingt sein, dass dieser Industriezweig zu den ältesten und stabilsten der Kammer gehört.
Die Ermittelungen über die Stabilität der Arbeiter haben das bemerkenswerte
Resultat geliefert, dass 30% der Arbeiter erst in dem Erhebungsjahre in das Unternehmen
eingetreten waren, in welchem sie sich im Zeitpunkte der Erhebung befanden. Mau kann
also daraus schliessen, dass nahezu 30% der Arbeiter jährlich ihre Stellung wechseln.
Ein dritter Theil des Werkes combiniert die Durchschnittslöhne mit der Grösse
der Betriebe, sowohl nach Bezirken als nach Industrien. Es gilt die Frage zu erledigen,
ob die Entwicklung der grösseren und grössten Betriebe günstig auf die Lohnverhält-
nisse einwirke oder nicht. Fast überall nimmt in der That die Höhe des Durchschnitts-
lohnes mit der Grösse des Betriebes ab. So beläuft sich der Lohn in Betrieben, mit
weniger als 50 Arbeitern auf 6-69 fl.. in solchen mit 50—100 auf 5-20 fl.; 100—400:
4'83 fl., über 400: 4*82 fl. In der Eegel liegen die grössten Fabriken auf dem Lande,
in Gegenden mit niedrigen Löhnen und niedrigen Lebensmittelpreisen. Auch wird die
Zahl der höher entlohnten Werkmeister, Aufseher und Vorarbeiter vergleichsweise um
so geringer, je mehr Arbeiter in einem Unternehmen beschäftigt sind. Insofern erscheint
die Ueberlegenheit des Grossbetriebes auch durch einen relativ niedrigen Aufwand für
Löhne begründet.
Die wertvollsten Daten zur Beurtheilung der Lohnverhältnisse bietet der vierte
Theil des Werkes: die detaillierte Uebersicht der Lohnstufen. Es sind deren 33 gebildet
worden. Die .erste umfasst die Arbeiter mit einem Wochenverdienst von weniger als
1 fl.. die zweite solche mit 1*01 fl. — 1*50 fl. und so immer um einen halben Gulden
ansteigend bis zum Wochenverdienst von 15 fl. Die nächsten drei Classen steigen mn
5 fl.. die letzte um 10 fl. Diese Uebersichten werden für jede Industriegruppe gewährt,
wobei die derselben Lohnclasse angehörenden Arbeiter noch nach Geschlecht und Art
der Entlohnung (Accord- oder Zeitlohn gesondert sind.)
Bedauerlich bleibt 6s, dass keine Combination der Lohnverhältnisse der einzelnen
Industrien mit localen Gesichtspunkten vorgenommen wurde. Es wäre doch gewiss inter-
essant zu erfahren, wie sich die Lohnverhältnisse derselben Industrie in verschiedenen
Theilen des Kammerbezirkes entwickelt haben. Hierüber kann man sich nur auf Um-
wegen und mit sehr bedingter Zuverlässigkeit eine Vorstellung bilden. Ferner hätten
sich die Resultate der Lohnclassenstatistik leicht in einem Diagramm zusammenfassen
lassen, durch welches ein rascher Ueberblick über die Verhältnisse der einzelnen Indu-
strieen möglich geworden wäre.
Von den männlichen Arbeitern erhält ein Viertel einen Wochenlohn von 4 fl. und
weniger; die Hälfte aber erfüllt die Lohnclasse von 4 fl. — 7 fl.. wobei insbesondere
die Classen 4*51 — 4-50 und 5'51 — 6-00 stark besetzt sind. Ein Fünftel bezieht Löhne von
7*00 . fl. — 10*50 fl. Von den Arbeiterinnen verdient die Hälfte 3 fl. und weniger, zwei
») Die sociale Lage der Fabrik.sarbeiter in Mannheim. Herausgegeben im Auftrage des Or. Mini-
8terium.s des Innern von L. WörishoflFer. Karlsruhe 1891. S. !13.
Literaturbericht. ;[g7
Fünftel erhalten 3 fl. — 4 fl., und nur ein Zehntel vermag 4 fl. — 5 fl. zu erreichen.
Diese Ergebnisse werden vornehmlich durch die Verhältnisse der Textilarbeiter bedingt,
welche ja zwei Drittel der überhaupt beobachteten Arbeiterschaft ausmachen. Die Lage
der Metall- und Glasarbeiter stellt sich günstiger als der obige Durchschnitt für alle
Arbeiter angibt.
Nach der von der Wiener Kammer veröffentlichten Lohnstatistik bezogen einen
Wochen verdienst von 5 fl. und weniger V,o, 5 fl. — 7 fl. ^/g, 7 fl. — 12 fl. mehr als
die Hälfte, 12 fl. und mehr ungefähr V5 der männlichen Arbeiter. Von den weiblichen
Arbeitern erhielten ^'g 3 fl. und weniger, mehr als die Hälfte 3 fl. — 5 fl., '/^ 5 fl. —
7 fl. und der Rest mehr als 7 fl.^)
Diese Ziffern bedürfen keines Commentares.
Dass mit den Löhnen der nordböhmischen Arbeiter selbst dann, wenn die Lebens-
mittelpreise und insbesondere die Wöhuungsmieten in jenen Gegenden nicht so hoch
wären als sie es thatsächlich leider sind, nur ein äusserst kümmerlichas Dasein gefristet
werden kann, wird niemand in Abrede stellen. Es ist schwer begreiflich, wie unter diesen
Umständen die bekannte „Petition der Industriellen und Gewerbetreibenden Nordböhmens
an die hohe k. k. Regierung wegen Regelung der Arbeiterverhältnisse" von „im allge-
meinen günstigen Lohnverhältnissen" und einer „gesicherten Lebenshaltung der indu-
striellen Arbeiter Nordböhmens" sprechen konnte. Je weniger die materiellen Ergebnisse
der Erhebung den Socialpolitiker befriedigen dürften und der nordböhmischen Industrie
zur Ehre gereichen, um so mehr ist der Muth der Kammer anzuerkennen, mit welchem
sie die bisher doch nur in den allgemeinsten Umrissen bekannten Lohnverhältnisse rück-
haltslos bis in die Einzelheiten offen dargelegt hat. Ebenso uneingeschränktes Lob verdient
das Werk in Bezug auf die formale Seite der Durchführung. Was sich mit Tabellen und
Ziffern überhaupt leisten lässt, ist hier zustande gebracht. Gleichwohl werden u. E.
derartige Arbeiten als eine ausreichende Grundlage für socialpolitische Entwürfe nicht
betrachtet werden können. Es gibt eben noch unendlich viele Dinge, welche für die
Lage der Arbeiter von grösster Wichtigkeit sind, und die sich einer zahlenmässigen Er-
mittelung doch schlechterdings entziehen. Zur Ziffer muss sich das Wort, gesellen, die
Statistik muss durch die Description erweitert und vervollständigt werden. Bisher ist
diese Vereinigung meist nur von privaten Forschem versucht worden. Aus naheliegenden
Gründen fiel dabei der socialstatistische Theii in der Regel sehr mangelhaft aus. Voll-
kommeneres wird erst erzielt werden, wenn amtliche Organe, denen ein Recht auf
Beantwortung zuerkannt ist, und die durch ihre amtliche Thätigkeit mit den einschlä-
gigen Verhältnissen innig vertraut sind, die Berichterstattung über die socialen Zustände
übernehmen. Solche Beamte sind die Gewerbeinspectoren. Das Beispiel Badens zeigt,
was von dieser Seite geleistet werden kann.
Wie den österreichischen Gewerbeinspectoren ist auch den deutschen die Anwei-
sung ertheilt, in ihrem Jahresberichte sich über die wirtschaftlichen und sittlichen
Zustände der Arbeiterbevölkerung ihres Aufsichtsbezirkes auszusprechen. Nach der ganzen
Einrichtung des Dienstes können diese Aeusserungen nur erfolgen auf Grund der bei
den Dienstreisen gemachten Wahrnehmungen und der näheren Untersuchung einzelner
Misstände, von denen der Beamte durch seine Thätigkeit Kenntnis erhält. Bei dem
Dunkel, das über die sociale Lage der Arbeiter gebreitet ist, konnten auf dem ange-
deuteten Wege leicht einige Mittheilungen gemacht werden, denen ein gewisses Interesse
zukam. Allein alle diese Mittheilungen konnten nach der Art ihrer Entstehung doch nur
den Charakter des Zufälligen haben. Das der allgemeinen Beobachtung zugängliche Gebiet
musste bald erschöpft sein. Die Berichterstattung lief Gefahr, mit der Zeit über die
wirtschaftliche und sociale Lage der Arbeiterbevölkerung nur noch Wiederholungen und
Gemeinplätze zu bringen. So entschloss sich der badische Aufsichtsbeamte, an die Stelle
der allgemeinen socialen Berichterstattung eine specielle, nur eine bestimmte Arbeiter-
gruppe in's Auge fassende treten zu lassen, von letzterer aber ein umso gründlicheres
>) Stat. Bericht über Industrie und Gewerbe des Erzherzogthunis unter der Enns im Jahre 18S5,
Wien 1881) S. LXXI.
1 g g Literaturb ericht .
Bild zu entwerfen. ') Dieser Versuch ist glänzend gelungen. Bereits liegen zwei statistisch
und descriptiv gleich vollkommene Arbeiten der badischen Fabriksinspection vor: Die
sociale Lage der Cigarrenarbeiter im Grossherzogthum Baden, Karlsruhe 1890. 231 S.
Ferner: Die sociale Lage der Fabrikarbeiter in Mannheim und dessen nächster Umgebung.
Karlsruhe 1891. 383 S. Und dieser Erfolg ist leicht erklärlich. „Solche Darstellungen
sind für den Aufsichtsbeamten leichter zu bewerkstelligen als für Andere, weil er durch
seinen Beruf schon eine ziemliche Menge von Material zur Verfügung hat, welches, wenn
auch an sich nicht vollständig, doch in eine systematische Verarbeitung leicht eingereiht
werden kann. Weil er ferner die Quellen kennt, aus denen er zu schöpfen hat. und weil er
sich nicht zu schwer einen Maassstab für die Beurtheilung dieser Quellen bilden kann." 2)
Diese Pflege der Socialstatistik in Verbindung mit Description durch das Fabriks-
inspectorat, wie sie sich in Baden zu entfalten beginnt, erscheint uns auch für Oester-
reich ausführbar und geboten. Sobald man anerkennt, dass vollständige Darlegungen der
socialen Lage der Arbeiterbevölkerung nur unter Zuhilfenahme der Description gewonnen
werden können, wird man die Pflege einer so erweiterten Berichterstattung auch nicht
mehr Handelskammern überlassen können. Dieselben sind Organe zur Vertretung der
Interessen der Unternehmer. Es erscheint uns ungerecht, sie mit Aufgaben, die ausserhalb
dieser Sphäre liegen, zu belasten, und man darf sich nicht beklagen, wenn sie dieselben
widerwillig und nicht immer objectiv erfüllen. Sie sind dazu selbst beim besten Willen
nicht im Stande. Sie können allenfalls, wie das vorliegende Beispiel der Reichenberger
Kammer beweist, rein zahlenmässige Darstellungen mit voller Objectivität liefern, nicht
aber Beschreibungen. Und wenn wunderbarerweise eine Kammer dies zu Stande bringen
sollte, dann würde doch eine von ihr ausgehende Ermittelung immer dem Misstrauen der
Arbeiter begegnen. Es kommt bei solchen Untersuchungen aber nicht bloss darauf an,
dass sie wirklich objectiv sind, sondern dass alle Betheiligte sie auch dafür ansehen.
Die Aufgabe der erweiterten Berichterstattung kann unter den gegebenan Verhältnissen
u. E. daher nur der völlig parteilosen, aber sachkundigen Instanz des Gewerbeinspec-
torates zugewiesen werden. Dass die österreichischen Gewerbeinspectoren dieser Aufgaben
gewachsen wären, wird niemand bezweifeln, der die hie und da in den Berichten zer-
streuten kleinen, aber oft wunderbar anschaulichen und lehrreichen Skizzen über einzelne
Industrien, insbesondere Hausindustrien kennen gelernt hat. Es würde sich hier mit
vergleichsweise geringem Aufwände Bedeutendes erreichen lassen. Einerseits aber müsste
der Gewerbeinspector durch Beiordnung von Assistenten von den untergeordneten Schrei-
bereien, üeberwachungsarbeiten u. s. w. entlastet, andererseits durch volkswirtschaftlich-
statistisch gebildete Hilfskräfte unterstützt werden.
Freiburg (Baden). Prof. Dr. H. Herkner.
Der Centralyerband der Stickerei-Industrie der Ostschweiz und des Vor-
arlbergs. Geschichte des Centralverbandes der Stickerei-Industrie der Ostschweiz und
des Vorarlbergs und ihre wirtschafts- und socialpolitischen Ergebnisse. Von Georg Baum-
herger, Redactor der „Ostschweiz''. St. Gallen. 1891.
Obwohl die Tagespresse sich oft mit dem Stickereiverbande der Ostschweiz und
des Vorarlbergs befasst hat, dürfte seine Entwicklung auch in Oesterreich doch nur in
den allgemeinsten Zügen bereits bekannt sein. Es muss aber als äusserst wünschens-
wert bezeichnet werden, dass die Geschichte sowie die wirtschafts- und socialpolitischen
Ergebnisse dieses eigenartigen Gebildes gerade von Seiten österreichischer Volkswirte
und Socialpolitiker zum Gegenstande eifrigen Studiums gemacht werden. Halb Gewerk-
verein, halb Kartell hat der Verband die Organisation einer Hausindustrie zu-
stande gebracht; also einer Betriebsform, die sich organisatorischen Bestrebungen gegen-
über bis jetzt immer besonders spröde erwiesen hat, Dass aber für ein Land, das so
zahlreiche Hausindustrien besitzt wie Oesterreich, das Problem der Organisation derselben
im Vordergrunde des Interesses stehen muss, bedarf keines weiteren Nachweises. Indes
') Vgl. Die Lage der Cigarrenarbeiter im Grossherzogthume Baden. Beilage zum .Tahn^sboriclite der
Gr. bad. Fabriksinspectors für das Jahr 1889. Karlsruhe 1890. S. 1 u. 2.
*) a, a. O. S, ß.
Literaturbericht. 189
nicht nur als Organisation einer Hausindustrie überhaupt verdient der Stickereiverband vom
österreichischen Standpunkte aus eingehende Beachtung, dieselbe muss ihm ferner auch
zuerkannt werden als Organisation einer zum Theil österreichischen Hausindustrie.
Die misslichen Verhältnisse, aus denen der Verband die Stickereiindustrie errettet
hat, entsprachen vielfach der Lage, in welcher zur Zeit so manche österreichische Haus-
industrie sich befindet.
Infolge wenig befriedigender Jahre in der Landwirtschaft und wegen der gedrückten
Lage in anderen Industrien hatten sich fortwährend neue Elemente der Stickerei zuge-
wandt. Dadurch erreichten die Productionskräfte eine Stärke, welche kaum in flotten
Zeiten verwertet werden konnte, geschweige denn in flauen. Dieser ungesunde Ueberschuss
an Producenten trieb die Stickerei schon an sich recht eigentlich in das Fahrwasser
der Uebei-production. Da die neuen Elemente als abgestossene der Urproduction und
anderer Industrien nur eine quantitative Verstärkung der Productionskraft im Gefolge
hatten, so zeitigten sie mit der Gefahr beständiger Ueberproduction, die nicht viel kleinere
eines qualitativen Niederganges der Industrie. Die Löhne sanken zu einer nie gekannten
Tiefe. Die Arbeitszeit wurde in 's maasslose verlängert. Die Beschäftigung der Kinder
als Fädler artete zu einer furchtbaren Ausbeutung dieser hilflosen Geschöpfe aus. „Bei
der in Vorarlberg weitverbreiteten Masctiinenstickerei", so schrieb damals (1884) der k. k.
Gewerbeinspector, „werden in jenen Localen, in denen dieselbe als Hausindustrie be-
trieben wird, Kinder, sobald sie das Alter erreicht haben, um als Fädler verwendet
werden zu können, über ihre Kräfte in Anspruch genommen. Man fängt das Tagewerk
mit der Frühstunde an und arbeitet, wenn hinreichende Beschäftigung geboten ist, bis
10 ja bis 11 Uhr nachts. Geht dies sofort, so steht die Gesundheit der jungen Gene-
ration in Gefahr." ')
Der Niedergang der Arbeitsbedingungen ermuthigte die Speculation zu allen
möglichen Ausschweifungen. In Begleitung der wilden Speculation aber stellte sich die
Corruption auf allen Gebieten ein. Zahlreiche Arbeitgeber suchten bei den steten Preis-
rückgängen sich durch gewissenlose Abzüge schadlos zu halten. Der Producent seinerseits
hauderte darauf los im Bewusstsein, dass der Speculation die Qualität Nebensache war.
Die Gebote der Geschäftsmoral schienen bei Arbeitern und Arbeitgebern gänzlich ausser
Curs zu sein und alles einer völligen Anarchie entgegenzueilen. Da führte endlich das
alle Betheiligte beherrschende Gefühl, dass es so nicht weiter gehen könne, zur Gründung
des Verbandes. Nach beträchtlichen Schwierigkeiten trat er vom 14. Juli 1885 in Action.
Er umfasste die Arbeitgeber (die exportierenden Kaufleute), die Arbeitnehmer (die
Einzelsticker und Fabrikanten) und die Fergger, welche den Verkehr zwischen den
ersteren vermitteln. Das Centralcomite publicierte folgende erste Maassnahmen:
1. Vom I.August 1880 an darf Arbeit nur noch an Verbandsmitglieder abgegeben
werden, ebenso sind die Arbeiter gehalten, nur noch für solche Arbeit auszuführen, die
dem Verbände angehören.
2. Mit dem 15. August darf keine Ware mehr unter den nachstehenden Minimai-
Lohnansätzen in Arbeit gegeben oder genommen werden: für 31/2 Mobmaschinen 28 Cts.
per 100 Stück für % und 33 Cts für \U.
Bald darauf wurde auch die elfstündige Arbeitszeit für sämmtliche im Verbände
befindlichen Maschinen verfügt. Damit waren die drei Säulen aufgerichtet, welche die
Träger der Verbandsidee blieben. In Bezug auf weitere Einzelheiten muss auf des Werk
Baumberger's selbst verwiesen werden. Hingegen dürfte es am Platze sein, das vom
Verbände Geschaffene in den Hauptzügen zu einem Gesammtbilde zu vereinigen: „Die
Lohnfrage fand eine Kegelung mit dem Minimallohne und mit den Zuschlägen für
geringe Muster als Ergänzung des ersteren. Für die Lohnsicherung wurde das
Ferggerregulativ, die Verkaufsstelle für Ketourwaren, das Regulativ für Abzugswesen
und Retouren, die Verordnung über Garn verkauf und das Stichzählungsregulativ erlassen.
Die Sicherheit der Production wurde geschützt mit dem Verbandsmusterschutz, dem
I) Vgl. Bericht der k, k. Gewerbeinspectoren über ihre Amtsthätigkeit im Jahre 1882. Wien 1885. S. 287.
190 Literaturbericht.
Boykott und zum Theil auch wieder mit dem Minimallohn. Die quantitativeProduetion
fand eine Ordnung mit der Normalarbeitszeit, mit dem Rechte der Decretierung allge-
meiner Arbeitseinstellung an einzelnen Tagen und mit dem Regulativ über Maschinen-
verkehr — die qualitative Production dagegen theilweise mit der Musterclassification,
dann mit dem Regulativ für Stichweiten und den Verordnungen über Facheurse, Lehr-
lingswesen und Stickerkarten. Die Concurrenzfähigkeit wurde zu schützen gesucht
mit der Schaffung eines Verbandes in Sachsen und mit der Unterhaltung von Bezie-
hungen zu ihm. Für billigen und schnellen Rechtsschutz sorgten Fachgerichte und
Experten." So hat der Verband jeder Interessentengruppe erhebliche Vortheile geboten.
Es erübrigt noch der Rolle zu gedenken, die Vorarlberg im Verbände spielt.
Nach einer am 1. Januar 1889 aufgenommenen Verbandsstatistik — und seither soll
eine wesentliche Aenderung nicht eingetreten sein — gehörten von den 12.921 Verbands-
mitgliedern 2421, von den 21.847 Verbandsmaschinen 2809 dem Vorarlberg an. Nach
einer Schätzung des k. k. Gewerbeinspectors beschäftigt die vorarlbergische Stickerei
ungefähr 9000 Arbeiter, d. i. lO^/o der Gesammtbevölkerung. An der Spitze steht Lustenau
mit 618 Maschinen, dann folgen Götzis mit 331, Hohenems mit 229, Altach mit 149,
Dornbirn mit 147, Wolfurt-Schwarzach-Bildstein mit 132 und Höchst mit 127 Maschinen.
Alle übrigen Orte zählen beträchtlich weniger Maschinen, meist weniger als fünfzig.
Die Vorarlberger gelten für fleissig, nüchtern und im ganzen für anspruchsloser als die
Ostschweizer Sticker. An industrieller Intelligenz und Fertigkeit reichen sie aber nicht
an die letzteren heran. Das wird von Baumberger ebenso wie von dem k. k. Gewerbe -
inspector übereinstimmend betont. In der Ostschweiz ist die Industrie freilich schon
sehr alten Datums. Ausserdem besitzt aber Vorarlberg auch ein schlechteres Maschinen-
material. Ein nicht sehr sauberer Maschinenhandel überschwemmte das Ländchen mit
ausrangierten schweizer Maschinen. Unter diesen Verhältnissen wird von den schweizer
Kaufleuten nach Vorarlberg vorwiegend geringe Ware ausgegeben; bessere nur dann,
wenn die schweizer Sticker die Aufträge nicht mehr bewältigen können. Andererseits
wird bei zurückgehender Conjunctur auch dem Vorarlberger die Arbeit am frühesten
entzogen. Man lässt dann auch die geringere Ware lieber auf den besseren schweizer
Maschinen ausführen. So fühlen sich denn die Vorarlberger stets zurückgesetzt und
waren bereits mehremale geneigt, gegen den Verband aufzutreten. Vorarlberg war seit den
Tagen der Verbandsgründung das Sorgenkind des Verbandes. Namentlich im Sommer
1887 wurde im Vorarlberg heftig gegen den Verband agitiert. Auf einer Delegierten Ver-
sammlung zu Dornbirn am 30. October 1887 traten die Differenzen klar zu Tage. Es
gab drei Parteien. Die eine, die kleinste, welche aus den qualitativ geringsten Arbeitern
bestand, wollte einen eigenen vorarlbergischen Verband gründen. Diese Stellung wird
begreiflich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass eben diese Gruppe wegen ihrer geringen
Leistungsfähigkeit am wenigsten auf die Beschäftigung durch die schweizer Firmen
zählen kann. Eine andere Partei erstrebte ebenfalls eine Emancipation der vorarlbergischen
Stickerei von der schweizerischen, hielt aber den Zeitpunkt hiefür noch nicht gekommen.
Erst müsse die technische Leistungsfähigkeit gehoben und der Entwickelung der Hilfs-
industrien (Appretur, Bleicherei etc.) grösseres Augenmerk geschenkt werden. Das dritte
und grösste Lager war mit Maassnahmen zur Hebung technischer Leistungsfähigkeit ein-
verstanden, wünschte aber einen noch engeren Anschluss an die Schweiz als Mittel an
grösserem Wohlbefinden.
Nach 1887 kam es nicht mehr zu einer ähnlichen Bewegung. Die einsichtigeren
Arbeiter begriffen immer mehr, dass vorerst eine Emancipation des Vorarlberg nicht in
ihrem Interesse liegen würde. Man sah ein, dass beim ersten Versuche die Arbeitabgabe
nach Vorarlberg vom Verbände sofort gesperrt werden, und dass ihre Lage trauriger
als je sich gestalten würde, sobald sie ausschliesslich von den vorarlbergischen
Exporteuren abhiengen und nicht mehr auf die schweizerischen Arbeitgeber rechnen
könnten, welche bisher ihre Position den eigenen Arbeitgebern gegenüber gebessert und
gestärkt haben. Auch das k. k. Gewerbeinspectorat ist zu der Ueberzeugung gekommen, dass
eine Emancipation vorerst nicht zum Vortheile der vorarlbergischen Arbeiterbevölkerung
Literaturbericht. 191
ausschlagen würde und hat Ende 1890, als eine neue gegen den Verband gerichtete
Bewegung auszubrechen drohte, in diesem Sinne mit Erfolg interveniert.^) Es kann sich
für absehbare Zeit nur darum handeln, der Zurücksetzung der vorarlbergischen Arbeiter
durch die schweizerischen Firmen dadurch die Grundlage zu entziehen, dass die vorarl-
bergischen Arbeiter allmählich auf die Höhe der schweizerischen Leistungen gebracht
werden. Ein ersier Schritt zu diesem Ziele wird mit der Errichtung einer Sticki-rfachschule
in Dornbirn gethan. Prof. Dr. H. Herkner, Freiburg i. B,
Tschechische Cigarrenarbeiter in New-York. Unter dem charakteristischen
Titel „How the Other Half lives" sind vor kurzem Studien veröffentlicht worden, durch
welche namentlich die wirtschaftliche Seite des Lebens der Armen in New-York eine genaue
Ermittelung erfahren hat. Hiebei werden von dem Autor, Jacob A. Riis, auch die Yer-
hältnisse der tschechischen Colonie dargelegt. Da das genannte Werk im österreichischen
Publicum kaum eine grössere Verbreitung finden dürfte, ist vielleicht die Wiedergabe einiger
Bemerkungen, welche die tschechischen Einwanderer betreffen, nicht unwillkommen : 2)
Tschechisches Quartier ist vielleicht nicht der richtige Name für die Colonie, da
dieselbe, wenn auch innerhalb bestimmter Grenzen, sich über ein weites Gebiet der
Ostseite erstreckt. Sie schiebt sich in keilartigen Streifen vor, welche durch ihren starken
Gegensatz die Gleichförmigkeit der deutschen Niederlassung unterbrechen. Beide Rassen
verschmelzen auf dieser Seite des Atiantischeu Oceans ebensowenig als an den rauhen
Abhängen der böhmischen Gebirge. Der Nachklang des dreissigj ährigen Ejieges macht
sich nach zwei und einem halben Jahrhundert selbst in New-York noch mit dem-
selben grimmen Hasse bemerkbar, den der gigantische Kampf unter den besiegten
Tschechen erzeugte. Der Hauptgrund hiefür ist zweifelsohne die vollständige Isolierung
des tschechischen Einwanderers. Mehrere Ursachen bringen diese Wirkung zustande:
seine besonders rauhe und nicht anziehende Sprache, welche er weder selbst leicht
vergessen noch anderen mittheilen kann, sein starrer Rassenstolz und ein volksthümliches
Vorurtheil, das ihn ungerechter Weise zu einem Feinde des öffentlichen Friedens und
der organisierten Arbeit stempelt. Dem Verläumder, der ihn des Anarchismus bezichtigt,
kann der Tscheche erwidern, dass der Census von 1880 für die tschechische Bevölkerung
die geringste Criminalitat ergeben hat. Es ist eine grosse Seltenheit, dass ein Tscheche
ein Verbrechen begeht. Der Anschuldigung, dass er als Lohndrücker auftrete, kann er
entgegenhalten, dass die Trades-Unions ihm diese Stellung aufgezwungen haben.
Die 54. und 73. Strasse bilden das Centrum der tschechischen Niederlassungen. Die
Lage der Cigarrenfabriken, in denen der Tscheche seinen Lebensunterhalt gewinnt, gibt bei
der Wahl des Heims den Ausschlag. Freilich ist von einer „Wahl", abgesehen etwa von der
farbigen Bevölkerung, bei keiner Classe des Gemeinwesens weniger die Rede. Mehr als die
Hälfte aller Tschechen sind Cigarrenm acher. Sie drängen sich in grosser Zahl in den soge-
nannten Mietkasernen-Fabriken zusammen, wo die am wenigsten lohnende Arbeit zu den
niedrigsten Löhnen ausgeführt wird. Hierin liegt ihre grösste Bedrückung und der Hauptgroll
der anderen Arbeiter gegen sie begründet. Der Fabrikant, der 4—12 an sein Geschäft
anstossende Miethäuser besitzt, besetzt sie mit diesen Leuten, verlangt übertrieben hohe
Zinse und nicht selten sogar ein Depot von f) Dollars als „Schlüsselgeld" ; ferner liefert er
ihnen wöchentlich den Tabak. Die Müsse, die ihm noch bleibt, verwendet er dazu, die
Löhne bis nahe an den Punkt zu beschneiden; bei welchem der Mieter- Arbeiter verzweifelt
und sich empört. Thut er letzteres, so hat er die Wahl zwischen Unterwerfung und Kündigung,
die mit gänzlichem Verlust der Arbeitsgelegenheit verknüpft ist. Seine Noth bestimmt den
Ausgang, in der Regel vermag er nicht lange auszuhalten. Ungleich dem polnischen Juden,
mit dem er sonst an unermüdlichem Fleisse wetteifert, hat er selten etwas für schlechte
Zeiten zurückgelegt Er liebt sein Bier, und verzehrt, was er einnimmt. Unterwirft er
sich nicht, dann melden die Zeitungen, dass eine kleine Armee auf das Pflaster geworfen
wurde, dass mitleiderregende Fälle von Noth und Familienelend sich ereigneten.
») Bericht der k. k. Gevverbeinspectoren über ihre Amtsthätigkeit im Jahre 1890. Wien 1881. S. 180.
i) Jacob A. Riis, How the Other Half lives. Studies among the tenements of New-York. London,
Sampson Low, Marston, Searle & Rivington Lim. 1891. S. 136-147.
192 Literaturbericht.
Männer. Frauen und Kinder arbeiten in diesen freudenlosen Behausungen sieben
Tage die Woche hindurch, vom Anbruch des Tages bis spät in die Nacht. Oft ist nur
die Frau in der alten Heimat bereits Cigarrenarb eiterin gewesen. Der Mann folgt jetzt
nothgedrungen dem Gewerbe der Frau, weil er keine andere Arbeit finden kann, da er
kein Wort Englisch versteht. Aus diesen Verhältnissen erwuchs die bittere Feindschaft
der Gewerkvereine gegen die tschechische Einwanderung. Die Vereine weigerten sich,
Frauen aufzunehmen. Zu einem grossen Theile aber hieng die Erhaltung der Familie
von diesen ab. Sie mussten mit jeder Bedingung zufrieden sein. Diesen Zwiespalt haben
dann die Arbeitgeber in ihrem Interesse eifrig weiter entwickelt. Der Sieg ist ihnen
zugefallen, nachdem der Appellhof das Gesetz, durch das die Ausübung der Cigarren-
industrie in den Miethäusern verboten war, für verfassungswidrig erklärt hat.
üebrigens waren die Nachrichten, welche der Gewerkverein der Cigarrenarbeiter
über diese Verhältnisse verbreitet hat, vielfach übertrieben. Zweifellos sind die Leute
arm, in vielen Fällen sogar sehr arm. Aber sie sind nicht unreinlich, eher das Gegen-
theil. Sie leben viel besser als die Schmiede im zehnten Bezirke. Ungeachtet ihres blassen
Aussehens, das auf den alles durchdringenden Tabakdunst zurückgehen mag, erscheinen
sie nicht weniger gesund als andere in geschlossenen Räumen thätige Arbeiter. Die
wichtigsten Beschwerden bildeten vielmehr die elenden Löhne und die enormen Miet-
zinse, die für ein Minimum von Bequemlichkeit erhoben werden.
Eine Reihe von Häusern in der East Tonth Street mag als Beispiel dienen. Sie
beherbergen 35 Cigarrenarbeiter-Familien. Obwohl viele von ihnen schon ein halbes
Lebensalter im Lande sind, spricht kaum ein halbes Dutzend von ihnen, abgesehen von
den Kindern, ein Wort Englisch. Ein Zimmer mit zwei Fenstern, das auf die Strasse
geht, und ein Hinterzimmer ohne Fenster, das euphemistisch Schlafzimmer genannt
wird, kosten monatlich 12-25 Dollars. Im Vorderzimmer arbeiten Mann und Frau von 6 Uhr
früh bis 9 Uhr abends. Sie entrippen zusammen die Tabakblätter; dann macht er den
Wickel, sie rollt den Rapper darauf und vollendet die Cigan-e. Für 1000 Stück erhalten
sie 3'7.^ DoUars. In der Woche bringen sie zusammen 3000 Stück fertig. Hiemit ist der
Punkt erreicht, welcher die Arbeiter zur Empörung treibt. Sie befinden sich eben im
Ausstande und verlangen 5-00 und 5'50 Dollars für ihre Arbeit. Der Fabrikant-Haus-
herr hat ihr Verlangen zurückgewiesen. Von Stunde zu Stunde erwarten sie deshalb die
Kündigung. Der Mann, den wir besuchen, ist von offenbarer Intelligenz, dennoch wohnt
er schon 9 Jahre in New- York, ohne ein Wort Englisch und Deutsch zu verstehen. Drei
geweckte kleine Kinder spielen auf dem Flur. Sein Nachbar in demselben Stockwerke
lebt seit fünfzehn Jahren hier. Er schüttelt den Kopf, als er befragt wird, ob er Englisch
verstehe. Doch antwortet er einige abgebrochene Worte, wenn er in deutscher Sprache
angeredet wird.
Im nächsten Hause: Ein Mann mit ehrwürdigem Bart und scharfem Auge beant-
wortet unsere Fragen durch einen Dollmetscher. Man wird selbst unter amerikanischen
Maschinenbauern schwerlich intelligenteren Zügen begegnen. Dennoch hat auch er inner-
halb neun Jahre keine Silbe Englisch gelernt. Deutsch mag er wahrscheinlich nicht
lernen. Seine Geschichte ist dieselbe wie bei den anderen. Zusammen mit seiner Frau
bringt er in der Woche 3000 Stück Cigarren fertig und verdient 11*25 Dollars, wenn er
genügend mit Material versehen wird. Er war in seiner alten Heimat Schmied. Hier kann
er in diesem Gewerbe keine Arbeit finden, weil er kein „Engliska" versteht. „Verstün-
de ich es", so sagte er mit hellem Blick, „ich könnte bessere Arbeit thun als hier gethan
wird." Allein, er kennt keinen tschechischen Schmied, der ihn verstehen würde. Er
würde zu Grunde gehen. Mit der Cigarrenarbeit kann er und sein Weib wenigstens den
Lebensunterhalt erwerben. „0", sagte sie, „das wäre freilich schön, wenn der Vater in
seinem Gewerbe arbeiten könnte!" Welchen Haushalt könnten sie dann führen, wie
glücklich würden sie sein."
So weit der amerikanische, den österreichischen Sprachenkämpfen durchaus fem-
stehende Berichterstatter. Seine Ausführungen bilden u. a. einen beachtenswerten Beitrag
Literaturbericht. jgg
zu der bisher leider noch wenig untersuchten Frage, wie hoch Sprachkenntnisse vom
wirtschaftlichen Standpunkte zu veranschlagen sind,
Prof. Dr. H. Herkner, Freiburg i. B.
Oesterreiclis Tuth- und Modewareiifabrikation im Hinblick auf das Jalir 1892.
Eine Studie von Gustav Trenkler. Wien 1891. Verlag des k. k. üsterr Handelsmuseum.
Wie schon di^r Titel erkennen lässt, gehört die Schrift Trenklers zu den litera-
rischen Erzeugnissen, welche der im Jahre 1892 erfolgende Ablauf der Handelsverträge
gezeitigt hat. Mancher wird somit in dem Büchlein ein einseitiges, hitziges Advocaten-
plaidoyer für oder gegen den schutzzöllnerischen Standpunkt vermuthen. Diese Erwartung
ist erfreulicherweise durchaus nicht zutreffend. Der seither verstorbene Verfasser, der
eine angesehene Tuchfabrik in der Nähe Eeichenbergs leitete, und der, um sich über
die Verhältnisse der europäischen Wollwarenfabrication genau zu unterrichten, eine Studien-
reise in die wichtigsten Productionsgebiete unternommen hatte, scheint weit mehr von
dem Wunsche erfüllt, zuverlässiges Material zur Beurtheilung der schwebenden Fragen
beizubringen, als dem Leser seine individuelle Meinung aufzudrängen. Dieser in der zoll-
politischen Literatur leider ziemlich seltene Vorzug wird im Vereine mit der zweifellosen
Sachkunde des grossindustriellen Kreisen angehörenden Verfassers und der hervorragenden
Bedeutung, welche der Tuch- und Modewarenfabrication im österreichischen Wirtschafts-
leben ') zukommt, dem vorliegenden Werke hoffentlich auch allenthalben die gebürende
Beachtung verschafft haben oder noch verschaffen.
Die Schrift ist in 12 Abschnitte gegliedert, von denen die ersten beiden einem
ansprechenden historischen Eückblicke gewidmet werden. Die Hindernisse, welche die
Valutaschwankungen der industriellen Entwicklung in den Weg legten, werden hiebei
schlagend nachgewiesen. „Was nützt dem österreichischen Industriellen ein hoher Zollsatz
auf sein fertiges Product, wenn Ereignisse, wie das Sinken des Silberpreises in Amerika,
einen Valutasturz bei uns herbeiführen, der jeden Zolltarif, jede Preiscalculation zur
Unmöglichkeit macht." Der Abschnitt IV. legt die Preis-, Qualitäts- und Ursprungsver-
hältnisse in BetrefT der Wolle, die in Oesterreich zur Verarbeitung gelangt, dar. Auch
nach dieser Hinsicht wird die Wollindustrie von den Valutaschwankungen empfindlich
berührt. Sodann wird der heutige Stand der Tuch- und Modewarenfabrication in der
Erzeugung von Herrenbekleidungsstoffen in Oesterreich auseinander gesetzt, und die
Besprechung der inländischen Productions- und Absatzverhältnisse daran angeschlossen.
Der Hauptplatz der österreichischen Wollindustrie, Brunn, befasst sich mit dem ganzen
grossen Gebiete der Wollwarenfabrication. Brunn ist nach Ansicht des Verfassers sogar
imstande in Bezug auf die „Haute -nouveaute^-Fabrication von Kammgarnwaren mit
Elbeuf und Huddersfield siegreich in Wettbewerb zu treten. Jägerndorf und Wiese
decken den heimischen Bedarf nach guter und billiger Ware. Bielitz-Biala dagegen
hat sich im Orient ein beträchtliches Absatzgebiet zu erringen verstanden. Reichenberg
und der Reichenberger Kammerbezirk arbeiten vorwiegend glatte Tuche und tuchartige
Stoffe. Wollfärbige Palmerstons werden hier so vollendet und preiswert ausgeführt, dass
kein anderer Fabriksplatz der Monarchie die Concurrenz aufzunehmen versucht. Das
Gleiche gilt von Croises und Satins. Auch Tricots behaupten nach den Alpenländern
einen guten Absatz. Ausserdem hat sich Reichenberg der Erzeugung von Officiers-Tuchen
bemächtigt. Innsbruck und Graz haben in den letzten Jahren eine technisch vortreff-
lich ausgestattete Lodenstoffindustrie entwickelt.
Zu den interessantesten Theilen des Buches gehört wohl der Abschnitt VII über Export
und Import. Der Verfasser ertheilt hier den österreichischen Industriellen aufgrund sei-
ner reichen Erfahrung eine Reihe von Rathschlägen über die Pflege des Exportes, die
von eindringendstem Sachverständnis Zeugnis ablegen und in den betheiligten Kreisen
gewissenhaft befolgt werden sollten. Einen grossen Eifer hat der Verfasser auch auf die
Ermittelung der Lohnverhältnisse in den europäischen Wollindustriecentren verwendet.
*) Der Verfasser theilt für die gesammte österreichische Tuch- und Modewaren-Fabrication folgende
Ziflfern mit: Zahl der Unternehmungen 423, Pferdekräfte 9205, Fabriksarbeiter aller Kategorien 28.892,
Productionsquantum 687.867 Stück, Productionswert 64,978.560 fl. (S. 55.)
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. I. Heft. 13
194 Literaturbericht.
Diese Erhebungen haben nach seiner Angabe die schwierigste Aufgabe der Arbeit
gebildet. Ausser den Lohnverhältnissen werden auch die Länge der Arbeitszeit, Bedeutung
der Kranken- und Unfallversicherung der Arbeiter, Zollsätze und Kohlenpreise vorgeführt.
Unseres Erachtens dürfte indes die auf die genannten Ermittelungen verwendete Arbeit
zu der Brauchbarkeit derselben in keinem befriedigenden Verhältnisse stehen. Reichen
doch Lohnsätze, Zollpositionen und Kohlenpreise noch lange nicht aus, um die Produc-
tionsbedingungen eines Industrieplatzes vollständig beurtheilen zu können. Nun muss
aber gegen die Lohnerhebungen noch der Vorwurf erhoben werden, dass sie ohne jede
Eücksichtnahme auf die Arbeitsleistungen der Arbeiter aufgenommen worden sind. Was
nützt es nun zu wissen, dass der Jahresverdienst einer Weberin am mechanischen Web-
stuhle in Troppau-Jägerndorf 250 — 35J fl., in Louviers 283 fl., in Leeds 483 fl. beträgt,
w^enn nicht gleichzeitig erwähnt wird, wie viele Webstühle die Weberin bedient, welche
Leistungsfähigkeit dem Webstuhle zukommt u. s. w.? Erst wenn dargethan würde, wie
viel an Arbeitslohn auf den Meter ungefähr gleichen Stoffes in den verschiedenen Indu-
striecentren entfällt, wäre ein Vergleich der Productionsbedingung wenigstens in Bezug
auf den Arbeitslohn möglich. Deshalb wären weniger, aber brauchbarere Angaben am
Platze gewesen. Auch dem letzten, der Arbeiterfrage gewidmeten Abschnitte des Werkes,
kann nicht das Lob gespendet werden, auf welches die übrigen Theile einen Anspruch
besitzen. Die Urtheile des Verfassers werden von einem exclusiven und nicht einmal
fortgeschrittenen Arbeitgeberstandpunkte gefällt.
In zollpolitischer Hinsicht hält Trenkler eine Herabsetzung der Zölle unter den
Tarif vom Jahre 1882 für bedenklich. Im Falle einer engeren zollpolitischen Verbindung
mit dem Deutschen Eeiche müsste die österreichische Tuchindustrie die Eroberung des
süddeutschen Terrains versuchen, um den Absatz, der durch vermehrte Einfuhr deutscher
Waren verloren gienge, wieder zu gewinnen. Doch würde eine derartige Verbindung die
österreichische Industrie einem Krankheitsprocesse aussetzen, über dessen guten oder
schlimmen Ausgang niemand ein begründetes Urtheil abgeben kann.
Prof. Dr. H. Herkner, Freiburg i. B.
Meusi Dr. Franz Freih. t. Die Finanzen Oesterreiclis Ton 1701—1740.
Wien 1890, Manz. XIV und 775 S.
Thor seil Otto, Materialien zu einer Geschichte der österreichischen Staats-
schulden Yor dem 18. Jahrhundert. Leipziger Doctor-Dissertation Greifswalde 1891. 117 S.
Die Finanzgeschichte Oesterreichs ist keineswegs reich an Bearbeitungen. Abge-
sehen von einigen wertvollen Arbeiten über die Finanzen des 16. und 17. Jahrhunderts
(Oberleitner, Gindely, Hirn) und den neueren Untersuchungen über die Behördenorga-
nisation unter Maximilian I. und Ferdinand I. (Adler, Eosenthai) besitzt die finanzge-
schichtliche Literatur Oesterreichs nur die Bruchstücke einer Geschichte des österrei-
chischen Staatscredits- und Schuldenwesens von Schwabe v. Waisenfreund (1860,
1866), die Beiträge zur Geschichte der österreichischen Finanzen von Hauer (1848)
und die materialreichen aber wenig verarbeiteten Darstellungen zur österreichischen
Finanzgeschichte von d'Elvert. Nur in grossen allgemeinen Zügen hat Beer (die
Finanzen Oesterreichs 1877) ein Bild der Finanzen Oesterreichs im 18. und in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts gezeichnet, während ausserdem nur noch einige monogra-
phische Arbeiten von Beckh-Widmanstetter, Bidermann, Birk, Kaltenbäck, Plencker
und Wolf vorliegen.
Bei dieser Sachlage ist die vorliegende Arbeit von Mensi nicht bloss als eine
namhafte Bereicherung unseres Wissens freudig zu begrüssen, sondern auch als eine
hervorragende wissenschaftliche Leistung rückhaltslos anzuerkennen. Sie umfasst in der
Hauptsache die Österreichischische Finanzgeschichte in den ersten 40 Jahren des 18. Jahr-
hunderts, greift aber zum Theile auch in die frühere Kegierungszeit Leopold I zurück
und führt anderseits einige der wichtigsten Momente in der Geschichte der österrei-
chischen Finanzverwaltung bis zum Jahre 1749 fort, in welchem Jahre mit der Centra-
lisation der gesammten politischen und Finanzverwaltung ein bedeutsamer Abschnitt
dieser Geschichte erreicht ist.
Literaturb eri cht . 195
Eine der tristesten Epochen, welche die an ungünstigen Verhältnissen überreiche
Geschichte der österreichischen Finanzen durchzumachen hatte, bildet den Vorwurf der
vorliegenden Darstellung; es gehörte von vorneherein ein tüchtiges Maass von Eesignation
dazu, gerade eine solche Zeit, welche so wenig Lichtpunkte darbietet, zum Gegenstande
so eingehender Untersuchungen zu machen. Aber der Verfasser war sich bewusst, dass
gerade in dieser Zeit der Schlüssel zum Verständnisse aller folgenden Zustände und Vor-
gänge im österreichischen Staatshaushalte liegt. Die namenlose Zerrüttung der Finanzen
zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist in der That die einzige voUgiltige Erklärung für
die Erscheinung, dass die österreichischen Finanzen, trotz der sprichwörtlich uner-
schöpflichen Hilfsquellen des Kaiserstaates und trotz der unleugbar grossen Fortschritte,
welche die Ordnung des Staatshaushaltes in der Theresianischen Zeit gemacht hat, doch
nicht zu einer günstigeren Gesammtlage am Ende des Jahrhunderts geführt werden
konnten. So hat denn Mensi nicht bloss die Finanzgeschichte jener Zeit aufgehellt,
welcher er unmittelbar seine Untersuchungen zugewendet, sondern er hat zugleich das
Verständnis für die folgende Epoche wirksam vorbereitet. Jede weitere Bearbeitung
der späteren österreichischen FinanzgeschicMe kann sich nun auf festem Boden bewegen.
In gewissem Sinne kann die kleine Schrift von 0. Thorsch als Ergänzung zu der
Arbeit von Mensi gelten, wenn sie gleich mit derselben weder in Hinsicht auf Reich-
thum und Originalität der Naclirichten noch auf die Durchdringung des Stoffes auf
eine Stufe gestellt werden kann. Während das Buch von Mensi durchaus auf archiva-
lischen Forschungen beruht und in allen seinen Theilen neue, bedeutsame Thatsachen
vorführt, ist die Schrift von Thorsch nur eine Sammlung von Materialien aus den bereits
vorliegenden Werken über österreichische Finanzgeschichte. Es ist aber dennoch eine
verdienstliche Arbeit damit geleistet, da sie das vielfach zerstreute Material verständig
und übersichtlich ordnet und so gestattet, die bei Mensi mehr nur angedeuteten älteren
Finanzzustände genauer zu beurtheilen und damit auch den Untergrund besser zu
erkennen, auf welchem sich die von Mensi eingehend geschilderten Vorgänge der Finanz-
geschichte des Jahrhunderts bewegen.
Es ist selbstverständlich, dass von einer so tiefeindringenden Untersuchung über
die Finanzen, wie sie insbesondere Mensi angestellt hat, reiches Licht auch auf die all-
gemeinen Eeichszustände und insbesondere auf die Verwaltung der Monarchie fällt. Die
Bedeutung der österreichischen Grossmachtstellung, die ganze Grösse und Schwierigkeit
des Processes der Assimilierung verschiedener Völker und Gemeinwesen zu einem ein-
heitlichen Staate, der während der von Mensi geschilderten Periode noch in vollem Zuge
ist, das ungeheure Problem endlich, die vielfach veralteten und unzulänglichen Formen
der inneren Verwaltung auszubauen und mit dem neuen Inhalt einer zielbewussten und
machtvollen Wirtschafte- und Culturpolitik zu füllen, — alles das äussert seinen Einfluss
auch schon in dieser Zeit auf das Finanzwesen; und wenn auch das Meiste hievon erst
in der glücklichen und glorreichen Eegierungszeit der grossen Kaiserin zu einem ersten ,
erfolgreichen Abschlüsse gekommen ist, so darf doch auch nicht unterschätzt werden,
was die vorangehende Zeit an Kraft und Opfern für die Ziele aufgewendet hat.
Unter diesem Gesichtspunkte gehört die Schrift von Mensi zu den bedeutendsten
Werken über Oesterreichs innere Geschichte überhaupt und wird gewiss in der frucht-
barsten Weise anregend wirken für den Ausbau unserer Verfassungs- und Verwaltungs-
geschichte wie für eine gerechte Würdigung der welthistorischen Mission der Monarchie.
I'nama.
Annuario statistico Italiauo 1889-90, Eoma, Bertero 1891. Unter den zahl-
reichen, wertvollen Publicationen, welche die italienische Statistik liefert, nimmt die
vorliegende einen bedeutenden Platz ein. Luigi Bodio, der Leiter und — man darf
wohl sagen — der Schöpfer der modernen, wissenschaftlichen Statistik in Italien, hat
mit einer geradezu erstaunlichen Energie es verstanden, die verschiedensten Gebiete des
nationalen Lebens der statistischen Erfassung zugänglich zu machen und die öffentlichen
Functionäre des Königreichs in den Dienst derselben zu stellen. Seine reichen Kenntnisse
und seine eigene aussergewöhnliche Arbeitskraft haben das übrige gethan, um die
13*
"1 96 Literaturbcriclit.
italienische Statistik zu dem zu machen, was sie heute ist, ihr einen der ersten Plätze
unter den Statistiken Europas zu verschaffen. Es darf dabei aber auch nicht verkannt
werden, dass der Feuereifer der neugeeinten Nation, sich auf dem Gebiete der Wissen-
schaften den alten Staaten Europas möglichst ebenbürtig an die Seite zu stellen, ihm
eine aussergewöhnliche Stütze bot. Insbesondere die Volkswirtschaftslehre hat unter
Luigi Cossas Führung in den letzten Jahrzehnten rapide Fortschritte gemacht und in
vieler Hinsicht der Statistik die Wege geebnet. Wie Cossa gewissermaassen der Schöpfer
der italienischen Nationalökonomie und jedenfalls ihr eifrigster Förderer und Führer
geworden ist, so müssen wir in Bodio den Meister der italienischen Statistik verehren.
— Das vorliegende „Annuario" bezeichnet Bodio in seinen „Indici misuratori pel
movimento economico in Italia" als Italien in Ziffern; dieses Wort trifft zu, denn alle
statistisch überhaupt darstellbaren Verhältnisse des Reiches und — so weit möglich —
seiner neuen Schutzgebiete sind uns compendiös und übersichtlich vor Augen geführt.
Die Einleitungen zu den einzelnen Capiteln bieten uns vielfach erschöpfende Darstellungen
der Erhebungsmethoden, erläutern uns die Tabellen, charakterisieren ihre Bedeutung und
heben die wichtigsten Thatsachen, welche sich aus den ersteren ergeben, hervor. Die
Tabellen selbst sind fast immer überaus eingehend, weisen die Erscheinungen vielfach
bis ins Detail nach und reassumieren dann in Summen oder Durchschnitten die Einzel-
heiten. Von besonderer Wichtigkeit für die Erkenntnis der Entwickelung erscheinen uns
die oft eine ziemlich lange Reihe vorausgegangener Jahre umfassenden Rückblicke, die
zwar meist nicht in feine Details eingehen, aber doch überaus markant sind und die
Hauptmomente fast in jedem Falle kennzeichnen. Dies scheint uns nicht nur die Benützung
des Annuario wesentlich zu erleichtern, sondern auch methodisch sehr richtig zu sein.
Es kann nicht die Aufgabe einer einfachen Anzeige sein, eine genaue Analyse des
vorliegenden, grossartigen Werkes zu bieten, wir beschränken uns daher darauf, einzelne
Momente, welche uns von besonderem Interesse scheinen, namhaft zu machen, ohne
hiemit irgend den Anspruch erheben zu wollen, auch nur annähernd alles besonders
Hervorstechende bezeichnet zu haben. Wir übergehen das die klimatischen Verhältnisse
behandelnde Capitel, obwohl gerade dieses zu den interessantesten gehört, müssen aoer
auf die eingehende Behandlung der Auswanderungsstatistik in dem Flächenraum und
Bevölkerung behandelnden Abschnitte verweisen und insbesondere den Umstand hervor-
heben, dass zwischen dauernder und zeitweiliger Auswanderung unterschieden und daneben
die Rückkehr Ausgewanderter besonders in Betracht gezogen wird. Diese Unterscheidungen
sind speciell für gewisse Territorien von hoher Wichtigkeit, welche alljährlich einen Theil
ihrer männlichen Bevölkerung an das Ausland abgeben, um sie dann mit Ersparnissen
und Erfahrungen versehen früher oder später wieder aufzunehmen. Die Statistik der
Gesundheits- und hygienischen Verhältnisse kann in Italien mit besonderer Aufmerksam-
keit gehandhabt werden, indem die Gemeindeärzte gesetzlich unter Strafsanction zu
genauen, periodischen Mittheilungen über Todesursachen u. s. w. verhalten sind. Demnach
umfasst auch dieses wichtige Untersuchungsobject einen ziemlich grossen Raum, der aber
mit überaus interessanten Nachrichten, so über Nahrungs' und Wohnverhältnisse der
Bevölkerung, ausgefüllt ist. Es sei uns gestattet, eine erfreuliche Thatsache hervorzuheben,
nämlich die sehr erhebliche und stetige Abnahme der Todesfälle an Pellagra, jener
furchtbaren Seuche der Armut, besonders in den grössern Orten. Während nämlich im
Jahre 1881 auf 10.000 Einwohner 4*8 Todesfälle an dieser Krankheit entfielen, traten im
Jahre 1880 deren nur 1-4 ein. Dieses Moment scheint uns auch von socialpolitischem
Interesse; immerhin überschritt aber die Gesammtsumme der Todesfälle an dieser Seuche
für das ganze Gebiet des Königreichs noch die Zahl von 3000.
Die ünterrichtsstatistik ergibt eine bedeutende Abnahme der Analphabeten und
gestattet insbesondere höchst interessante Einblicke in das Fachschulwesen des Landes
und in die eigenthümlichen Verhältnisse, unter denen die italienischen Universitäten
bestehen. Gerade der letztere Umstand zeigt uns die ausserordentliche Wertschätzung,
welche man in Italien für den wissenschaftlichen Unterricht hegt, indem nicht einmal
die ungünstigsten materiellen Verhältnisse, geringe Frequenz u. s. w. selbst Verhältnis-
Literaturbericht. 197
massig kleine Städte, wie Camerino (Macerata), Urbino u. s. w. abhalten, kostspielige
Universitäten fortbestehen zu lassen.
Wir übergehen nun eine "Reihe von Capiteln, um noch einige Momente in Betreff
der Statistik des Ackerbaues, der Industrie, der Löhne, Preise und des auswärtigen
Handels hervorzuheben. In Betreff der Agrarstatistik sind besonders die einleitenden
Bemerkungen von hohem methodologischen und thatsächlichen Interesse; wir betonen
insbesondere die Darlegungen über die Art der Erhebung und die bezüglichen Anordnungen
der Eegierung, andererseits die grossen Fortschritte in der Verbesserung, hauptsächlich
aber in der Entsumpfung des Bodens, in dei Anlage von Bewässerungseinrichtungen und
der Eestriction und Anpflanzung von Waldungen. Die Fülle der Daten würde zu ein-
gehenderen Betrachtungen verlocken, wir begnügen uns aber, in letzter Reihe nur noch
auf die bedeutende Erhöhung des Viehstandes, insbesondere der Rinderzahl hinzuweisen,
auf ein Moment also, welches für die an Italien grenzenden Staaten von besonderer
Bedeutung sein dürfte; wohl selbstverständlich ist es, dass Hand und Hand damit eine
erhebliche Ausdehnung des künstlichen Wiesenbaues geht. — Die Industriestatistik, der
bekanntlich in vielen Staaten ganz besondere Schwierigkeiten im Wege stehen, wird in
den italienischen ,, Annali" monographisch ausserordentlich gefördert; es kann daher wohl
nicht Wunder nehmen, wenn sie auch im Annuario eingehend und im wesentlicnen
einheitlich behandelt wird. Wir können hier nicht umhin, auf die bedeutende Ausdehnung
der elektrischen Beleuchtungsanlagen zu verweisen, deren es im Jahre 1889 bereits in
69 Gemeinden gab und die mehr als 56.000 Glüh- und Bogenlampen verwendeten.
Hervorragendes Interesse scheint uns auch die Seidenindustrie zu bieten, deren Lage in
manchen Theilen Italiens für die untern Classen der ackerbauenden Bevölkerung von
höchster Wichtigkeit ist, weil sie fast allein ihnen bares Geld in die Hände bringt und
ihnen die Möglichkeit bietet, wenigstens etwas über das unvermeidlich nothwendige
hinaus geniessen zu können. Die Erzeugung der Cocons hat seit dem Auftreten der
„Atrofia" rasch abgenommen, in den letzten Jahren sich aber wieder u. zw. über das
frühere Ausmaass gehoben; im grossen und ganzen hat sich auch die Handelsbilanz für
Seide gebessert, so dass im Jahre 1889 der Wert der Einfuhr von dem der Ausfuhr um
239 Millionen Lire übertroffen wurde.
Die Lohnstatistik gibt uns allgemeine Stundenlöhne als allgemeine Jahresdurch-
schnitte u. zw. so wie dieselben von erwachsenen männlichen Arbeitern in verschiedenen
Kategorien in sieben Fabriken verschiedener Art bezogen werden; diesen Löhnen gegenüber
sind die Durchschnittspreise je eines metrischen Centners Weizen gestellt und auf Grund
dieser Parallele die Zahlen der Stunden berechnet, welche ein Arbeiter dieser sieben
Fabriken im Durchschnitte beschäftiget sein rauss, um eine solche Quantität Weizen
kaufen zu können; diese Stundenzahl sank vom Jahre 1871—1889 u. zw. seit dem Jahre
1877 ziemlich stetig von 183 auf 95.
Bei den Detailuntersuchungen, die sich auf eine Reihe von Fabriken erstrecken,
finden wir durchschnittliche Tageslöhne in Betracht gezogen. Wenn die erstere Art der
Darstellung methodologisch von Interesse ist und den Stand der realen Löhne erkennen
lassen will, finden wir in der zweiten nicht das, was uns als Ideal einer Lohnstatistik
erschiene; die ausserordentlichen Schwierigkeiten, welche sich diesem Ideale in den Weg
stellen, mögen auch hier ausschlaggebend gewesen sein und es mit sich gebracht haben,
dass man sich mit dem relativ besten begnügte.
Die Preisstatistik wird uns in zwei Abschnitten geboten, wovon der eine die Preise
verschiedener Waren nach Maassgabe der Zollstatistik und ihre Gestaltung im Laufe
meist einer elfjährigen Periode bietet, der andere aber die Preisgestaltung der Nahrungs-
mittel auf den wichtigsten Märkten vorwiegend im Anschlüsse an das Bolletino setti-
maniale dei prezzi di alcuni dei principali prodotti agrari e del pane darlegt; die allgemeinen
Bemerkungen zum letztem Abschnitte reassumieren mit grosser üebersichtlichkeit den
Inhalt dor Tabellen, deren letxte einen Rückblick auf neunzehn Jahre gewährt.
In Betreff der Statistik des auswärtigen Handels sei insbesondere auf die Gestaltung
desselben, insoweit er Frankreich und Deutschland betraf, verwiesen; hat der letztere
igQ Literaturbericht.
ungemein zugenommen, so finden wir bei der Ausfuhr nach Frankreich eine ganz erhebliche
Abnahme, welche scharf seit dem Jahre 1888 auftritt und deren Grund wohl auf der
Hand liegt.
Die Statistik der Keichs-, Provinzial- und Communalfinanzen ist höchst eingehend;
um aber nicht allzu weitläufig zu werden, wollen wir es unterlassen, auch hier einzelne
Momente hervorzuheben; es mögen die vorliegenden Streiflichter genügen, um das vor-
liegende „Annuario" einigermaassen zu charakterisieren; obwohl dasselbe nur eine Einzel-
nummer aus einer fortlaufenden Publication darstellt, kann es doch auch als ein einheit-
liches Werk betrachtet werden.
Eine überaus klare Zusammenfassung seines Hauptinhaltes, insoweit derselbe für
die ökonomische Bewegung bezeichnend ist, bietet uns die nun schon in zweiter,
vermehrter Auflage unter der Aegide der k. Akademie der Lincei (Jgg. CCLXXXVI)
erschienenen Schrift B odios: Di alcuni indici misuratori del movimento economico in
Italia", Roma 1891, durch welche Luigi Bodio die gegenwärtigen, wirtschaftlichen
Zustände seines Vaterlandes vielfach unter Heranziehung der Verhältnisse anderer Staaten
in einer Jedermann verständlichen und doch so weit irgend möglich, erschöpfenden und
streng wissenschaftlichen Weise meisterlich darstellt. Die Einleitung zu dieser Arbeit
scheint uns vor allem beherzigenswert; das Schlusscapitel, welches die jährliche Ersparung
und den Grad des Privatreichthums in Italien im Verhältnisse zu jenem Frankreichs und
Englands darlegt (S. 118 ff.\ ist von hohem, allgemeinem Interesse. Obwohl diese Schrift
zunächst sich an das Annuario anlehnt, überschreitet sie doch wieder an manchen Punkten
dessen Eahmen und erlangt dadurch eine selbstständige Bedeutung und den Charakter
einer originellen, wissenschaftlichen Leistung von ungewöhnlich hohem Werte.
Wir müssten zu vieles wiedergeben, wollten wir B odios Werk genauer unter-
suchen und insbesondere die zahlreichen für den theoretischen Statistiker wichtigen
Ausführungen hervorheben; es sei uns daher gestattet, uns auf eine warme Empfehlung
der „Indici misuratori" Jedermann gegenüber, der sich für wirtschaftliche und sociale
Probleme interessiert, zu beschränken. Schliesslich sei nur noch bemerkt, dass ein Ver-
gleich zwischen den im „Annuario"' einerseits und den grossen statistischen Publicationen
anderer Staaten andererseits beobachteten wissenschaftlichen Forschungs- und technischen
Darstellungsmethoden, der zweifellos höchstes Interesse bieten würde, durch die ^^Indici
misuratori ^^ vielfach erleichtert und in hohem Grade fruchtbar gemacht wird.
Schullern.
Die theoretische Nationalökonomie Italiens in nenester Zeit. Von Dr.
Hermann von Schullern- Sehr attenhofen, Privatdocent an der k. k. Universität Innsbruck.
Leipzig. Duncker & Humblot. 1891. IX. und 214 S. In dieser Schrift unternimmt es
der Verfasser Mittheilung zu machen über die neueste Entwicklung der theoretischen
Nationalökonomie in Italien. Seine Absicht zielt jedoch nicht darauf ab, dieselbe kritisch
zu verarbeiten, zu widerlegen, was ihm widerlegenswert erscheint, und zu stützen, was
er für eine Bereicherung der Wissenschaft hält; sein Plan ist vielmehr, gleichsam vom
Standpunkte der Literatur- und Dogmengeschichte aus, zu berichten über das, was sich
aus irgend einem Grunde als bedeutsam darstellt, sei es, weil es originell ist, sei es,
weil es für eine Beurtheilung der Stellung der neueren italienischen Theoretiker zu den
schwebenden Fragen oder aus sonst einem Motive Belang und Interesse besitzt. In
diesem Sinne muss daher auch der Wert seiner Arbeit geprüft werden: ist die Aufgabe
selbst eine berechtigte, hinlänglich belangreiche und mit welchem Erfolg ist sie gelöst
worden? Was den ersten Punkt anbelangt, so ist dafür der Umstand wohl entscheidend,
dass die neuere theoretische Nationalökonomie Italiens sehr reich und in lebendiger
Entwicklung begriifen, aber kaum genügend allgemein bekannt ist. Man hat in Italien —
wenn es gestattet ist, trotz der grossen Verschiedenheiten in der Individualität der einzelnen
Forscher von allgemeinen oder doch vorherrschenden Charakterzügen zu sprechen — die
überkommenen Lehren thunlichst zu verwerten gesacht und sie nicht geringschätzig über
Bord geworfen, man hat sich aber auch den in der neuesten Zeit zu Tage getretenen
Forschungen und grundlegenden Ideen durchaus nicht unzugänglich erwiesen. Auf den
Literaturbericht, 199
gewissenhaftesten Forscherfieiss, auf eine genaue Kenntnis der Literatur der einzelnen
liänder gestützt haben die italienischen Gelehrten mit Erfolg an der Conservierung des
Guten und der Assimilierung des Neuen gearbeitet und ,dazu Manches aus Eigenem
gespendet. Ihre Schriften haben dabei für uns ein doppeltes Interesse, weil in ihnen
vielfach der Einfluss der deutschen und österreichischen Literatur zu Tage tritt. Die
Aufgabe daher, auch bei uns für eine erhöhte und verallgemeinerte Kenntnis der italie-
nischen Lehre zu wirken, ist daher sicherlich als eine glücklich gewählte zu bezeichnen,
die Wissenschaft der politischen Oekonomie ist und soll eine durchaus internationale sein.
Der Verfasser schildert kurz und übersichtlich den Aufschwung der italienischen National-
ökonomie Italiens in der Gegenwart und gedenkt dabei mit Eecht nachdrücklich der
massgebenden Einflussnahme L. Cossas bei dieser erfreulichen Wendung. Im Übrigen
verfolgt Dr. von Schullern sein Ziel nicht durch Einzeldarstellungen von Persönlichkeiten
oder Werken, sondern stellt geordnet nach sachlichen Gesichtspunkten, nach den ver-
schiedenen Materien, wie sie die traditionelle Eintheilung der Lehrbücher und Leitfaden
ergibt, das zusammen, was er in der einschlägigen neuesten Literatur an Bemerkens-
wertem findet. Es war dies wohl der einzige Weg, um eine Übersicht des Gebotenen zu
ermöglichen und den Zusammenhang bei den einzelnen Mittheilungen zu wahren, ohne
in Weitschweifigkeit und Wiederholungen zu gerathen. Die Darstellung ist, wie schon
am Eingange angedeutet, eine vorwiegend referierende mit Auseinandersetzungen über
das wechselseitige Verhältnis der einzelnen Lehren; nur hin und wieder tritt auch eine
sachlich-kritische Bemerkung auf. Durch diese Anordnung kann das Werk Schullerns
neben seinem eigentlichen Hauptzweck auch dem weiteren dienen, einen raschen Ein-
blick in den Stand der Lehre und Forschung in Italien über einen bestimmten Punkt
der Theorie zu gewähren und damit einen nützlichen Behelf bei wissenschaftlichen
Arbeiten abzugeben. Bei seiner Berichterstattung hat sich der Verfasser grosser Kürze
befleissigt, was zweifellos die Last der Arbeit nur erhöht hat, denn, wenn irgendwo, so
gilt es in der Wissenschaft, dass die Mühe nicht mit der Länge, sondern mit der Kürze
der Darstellung wächst. Vielleicht, dass manchmal eine Lehre, wenn man sie so auf
ihren präcisesten, einfachsten Ausdruck reduciert, minder bedeutsam und charakteristisch
erscheint, als sie in ihrem ursprünglichen Gewände ist, ausgestattet mit allen Argumenten
und pointiert durch alle Nuancen — ein Mangel, dem aber kaum anders abzuhelfen
wäre als unter Beeinträchtigung der grossen Vortheile der Kürze und Übersichtlichkeit.
Vielleicht hat auch der Verfasser hin und wieder eingehender über die Behandlung
gewisser terminologischer und Schulfragen referiert, als für die Beurtheilung der Strö-
mungen in der wahrhaft modernen Nationalökonomie erforderlich. Dies sind aber nur
Kleinigkeiten, bei denen Verschiedenheiten der Auffassung wohl möglich sind und die
jedenfalls den Wert der Schrift nach keiner Richtung hin wesentlich berühren können,
der durch ihre Gründlichkeit und Objectivität hinlänglich gewährleistet ist. Der Ver-
fasser hat sich offenbar mit Liebe an seinen Stoff gemacht und ein sehr nützliches Buch
geschaffen, welches eben so wohl willkommen sein muss Demjenigen der sich über die
neueste Nationalökonomie Italiens überhaupt nur informieren will, als Solchen, die auf
das Studium der Originalquellen ausgehen und hierbei den Wert eines verlässlichen
Wegweisers zu schätzen Gelegenheit haben werden. Dr. von Schullern stellt die Weiter-
führung seines Unternehmens — das übrigens auch jetzt schon einen gedrängten Anhang
über Wirtschaftsgeschichte und Statistik enthält — durch eine Behandlung der Pflege
auch der übrigen Theile der politischen Ökonomie in Italien in Aussicht; möge er dies
glücklich zu Stande bringen und damit eine den Lesern seiner gegenwärtigen Schrift
gewiss sehr wertvolle Ergänzung derselben bieten. Prof. Victor Mataja.
ZEITSCHEIFTEN-ÜBERSIGHT.
(Wir theilen an dieser Stelle, vom Januar 1892 angefangen, den Inhalt jener Fachzeitschriften mit,
welche mit uns im Austauschverhältnisse stehen. Die Red.)
Jahrbücher für Nutioiialdkoiiomie und htatistik, hgg. v. Dr. J. Conrad., Dr. L. Elster, Dr. E.
Loeuing und Dr. W. Lexis: III. f. III. B. I. Heft.
Paarche; Entwicklung der britischen Landwirtschaft unter dem Drucke der ausländischen Con-
currenz. — Below; Die Bedeutung der Gilden für die Entstehung der deutschen Städteverfassung. National-
ökonomische Gesetzgebung. — Loeningx Die Verwaltung der Stadt Berlin in den Jahren 1880—1888. Miscellen,
Recensionen.
Vierteljahresschrift für Yolksvrirtschaft Politik und Cultnrgeschichte, hgg v. Karl Braun,
XXIX. Jgg. I. 1. Heft.
Held: Studium über das sogenannte Staatsabstractum. — N. S. : Der russische Wechselcurs im
letzten Jahrzehnt. — Haustnnnn : Das Abzahlungsgeschäft und die neuesten Vorschläge zu seiner Regelung, III.
Volkswirtschaftl. Correspondenz, Bücherschau.
Zeitschrift lür das Privat- und öffentliche Recht der Gogennart, hgg. v. Dr. G. S. Grünhnt.
XIX. Bd. I. H. Wien, Holder, 1891.
Meisseis: Zur Lehre vom Verzicht. — Kahane: Die Folgen eines ungerechten Arrestes. — Frattckel :
Ein Vorschlag für die Neugestaltung des Civilprocesses in Oesterreich.
Journal dos Economistes. R^dacteur en chef: M. G. de Molinari. Librairie Guillaumin et Cie.,
rue Richelieu, 1-1. Paris. 51 annee. — 36 fr. par an pour la France, 38 fr. pour les pays compris dans
rUnion postale, Piix du numero : 3 fr. 50.
Sommaire du numero de janvier 1892; Le march^ financier de 1891. — Les marines marchandes et
la protection. — Le nouveau projet de loi sur l'arbitrage industriel facultatif. — Revue des principales
publications de l'etranger. — M. Goschen et la Banque d'Angleterre. — Les t^legraphes en Angleterre. —
Bulletin. — Societe d'öconomie politique (r^union du 5 janvier 1892). -- Comptes rendus. — Notices
bibliographiques. — Chronique economique.
Revue d'Ecanomie Politique. Herausgeber : P. Cauwes (Paris), Ch. Gide (Montpellier), E. Schwiedland
(Wien), E. Villey (CaSn). — Monatlich ein Heft im Umfange von 7 bis 8 Bogen in gr. 8"; Preis des Jahr-
ganges 21 fr. Paris, L. Larose & Forcel, ^dit.
Jännerheft 1892: E. Mahaimx Emile de Laveleye. — Paul Cauwes: Les nouvelles compagnies de
colonisation privilegiees. — A. v. Miaskowshi: Les origines de l'^conomie politique. — Ch. Favre: La
politique sociale en Belgique. — V. Jeans: Histoire et effets de la l^gislation ouvriere en Angleterre. —
Ch. Gide; Chronique. — E. Villey: L(5gislation. — Bulletin bibliographique, etc.
Annais uf the American Acadeni)' of pol. and soc. science. Vol. II. No. 4, January 189:^. Editor:
E. y. James, Assoc. editors : R. P. Falizner, J. H. Kohinson.
Dabney : The demand for the public regulation of industries. — Prichard: The study of municipal
government. - Lewis: Polit. Organization of a modern municipality. — Lord; International arbitration. —
Huffcut; Jurisprudence in American Universities. — Rowe: Instruction in Fiench Universities. — Discussion,
Proceedings of the american Academy. — Personal notes, Book reviews and notes, Miscellany.
The quarterly Journal of Economics, Harvard University Boston. Vol. VI. No. 2, January 1892.
Macvane: Capital and Interest. — Wright: The evolution of wage statistics. — Biigram: Comments
on the „positive theory of Capital". — Hill; The Prussian income tax. — Shaw: Social and economic
legislation of the states in 1891. — Notes and Memoranda.
Giornale degli Economistl. Direzione: A. de Viti de Marco, U. Mazzola, M Patäaleoni, A. Zorli.
Gennajo 1892. Roma.
X. La situazione del mercato monetario« — Pareto: Di iin errore di Cournot nel trattare l'economi
politica colla matematica. — La Specie e le razze. — De Viti de Marco: Nuova politica doganale. — Nota,
Cronaca, Corrispondenza.
DER GEBEAUCH DES AUSDRUCKES „GESETZ"
IN DER NATIONALÖKONOMIE.
VON
DR. JAMES BONAR.
(Originalbeitract, aus dem englischen übersetzt von d« f. probst.)
Vor kurzem noch war das Wort „Gesetz" (law) bei englischen
ökonomischen Schriftstellern willkürlich für beinahe jede Gleichförmigkeit
im Gebrauche. Man sprach von einem „Gesetze des Angebotes und der
Nachfrage" so gut wie von einem „Gesetze des laissez faire" etc.; die
„Gesetze", welche der Nationalökonom aufdeckte, theilten ihren Namen
mit solchen, die er selbst vorzeichnete.
Jetzt sind wir vorsichtiger, und mit Rücksicht auf die Angriffe der
historischen Nationalökonomen (wie Professor Cunningham) einerseits und
der sogenannten „praktischen" Nationalökonomen (wie des verstorbenen
Professors Bonamy Price) andererseits, thun wir gut daran, unsere eigenen
Gedanken über den Sinn, in welchem wir das Wort „Gesetz" in der National-
ökonomie zu gebrauchen gedenken, zu fixieren. Auf den folgenden Seiten
hat der Verfasser versucht, dieses Ziel seinerseits zu verfolgen, und
sich bemüht, so wenig dogmatisch zu sein, als sich mit thunlichster
Knappheit verträgt.
Der älteste und gebräuchlichste Sinn von „Gesetz" im allgemeinen
ist der des ausgesprochenen Willens eines Gesetzgebers. Vielleicht haben auch
physische „Gesetze" ihren Namen der Idee verdankt, dass sie den Willen
des Weltschöpfers darstellen. Ohne im geringsten über diese Anschauung
zu grübeln, wird der Forscher durch sie doch nicht der Mühe überhoben,
die gegenseitige Beziehung dieser verschiedenen Gesetze in der Welt zu
ergründen. Einige Schriftsteller (z. B. Sir G. C. Lewis) wollen diesen
Ausdruck überhaupt nur im juristischen Sinne gebrauchen lassen, was aber
dem Spiachgebrauch zuwiderläuft: heutzutage erweckt das Wort „Gesetz"
eher die Vorstellung des Laboratoriums als des Gerichtshofes. Wir denken
dabei sofort an ein Naturgesetz in dem Sinne eines Gesetzes der Natur-
wissenschaft, und infolge des grossen Fortschrittes der Naturwissenschaft geht
dies so weit, dass das Publicum beinahe die »Eifersucht der Naturforscher
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. 11. Heft. 14
202 Bonar.
theilt und dem Bestreben der letzteren, alle „Gesetze" für den Bereich ihrer
Wissenschaft in Beschlag zu nehmen, nur einen geringen Widerstand ent-
gegensetzt.
Zwischen diesen Anwendungen des Wortes „Gesetz" besteht ein ver-
bindendes Band. Ein Gesetz ist 1. eine Allgemeinheit und nicht eine
Feststellung (eventuell eine Vorschrift) betreffs einer einzeln en Thatsache; es
ist 2. eine Feststellung (bezw. eine Vorschrift) betreffs Bewegung oder Ver-
fahren, nicht einfach eine Beschreibung von Eigenschaften^). Die Fest-
stellung, dass die drei Winkel eines Dreiecks zusammen gleich zwei rechten
Winkeln sind, und die Feststellung, dass die Gefühle der Menschen von
ihren Wünschen und ihrem Wollen verschieden sind, sind eher Beschrei-
bungen und Analysen als Gesetze. Ein Gesetz fällt unter Schopenhauers zu-
reichenden Grund des Werdens, im Unterschied von dem des Seins. (Vierfache
Wurzel Cap. VI. § 20). Ohne jede metaphj^sische Analyse können wir 3. sagen,
dass in der Wissenschaft ein Gesetz die Feststellung einer Beziehung von
Ursache und Wirkung ist, und zwar nicht von allen solchen Ursachen,
sondern lediglich 4. von den primären und allgemeinen Causalitäts-
beziehungen. Dieser letztere ist vielleicht der strittigste Punkt, da die zuletzt
gemachten Behauptungen dazu führen, dass der Unterschied zwischen Gesetz
und Nicht-Gesetz schliesslich auf eine Frage des Grades hinausläuft. Die
primären und allgemeinen Beziehungen, von welchen eine immer wachsende
Zahl von secundären und accessorischen Beziehungen deduciert werden
kann, werden hier als Gesetze bezeichnet. Die secundären sind Special-
talle der primären: sie sind Untersätze; die Frage ist nun, ob sie trotzdem
Gesetze genannt werden sollen, da sie ja doch immerhin allgemein und an
ihrem Platze giltig sind.
Wir wollen nun zusehen, wie sich diese Sache speciell bei der National-
ökonomie stellt. Wirtschaftliche Gesetze sind keine Vorschriften. Der
Name Gesetz im Sinne von Vorschrift (z. B. das Gesetz des laissez faire)
ist aus der Nationalökonomie am besten auszuschliessen, da man sonst
neben dem wissenschaftlichen Gesetz, wie dies oben geschildert ist, das
juristische oder statutarische Gesetz mit einem Ausdruck bezeichnen würde.
Diese beiden Anwendungen zuzulassen, würde der Unklarheit Vorschub leisten.
Wirtschaftliche Gesetze hängen ab von Tendenzen der menschlichen
Natur, von welchen sich primäre Folgen für Dinge herleiten, die mit
dem materiellen Wohl in menschlichen Gesellschaften zusammenhängen,
und die Feststellungen dieser Folgen sind wirtschaftliche Gesetze.
Es wird behauptet, dass sich deren zum mindesten zwei auffinden
lassen, welche genug weittragend und ergiebig für die Ableitung von Folge-
rungen sind, um den Namen von Gesetzen zu verdienen. Sie sind so evident,
dass sie als kindische Gemeinplätze erscheinen könnten,-) aber so weittragend
') Siehe Rüinelin, Reden und Aufsätze.
2) Vgl. Jevons Fortn. Rev. Nov. 1876. „The Future of Political Economy", und
J. N. Keynes „Log. Method of Pol. Ec." Cap. IX, 294—5.
Der Gebrauch des Ausdruckes „Gesetz" in der Nationalükonouiie. 203
und ergiebig, dass in gewissem Sinne jede wirtschaftliche Untersuchung
einen Versuch bildet, dieselben in der einen oder anderen ihrer Verhüllunsren
zu entdecken. Das eine Gesetz bezieht sich auf die Zwecke der menschlichen
Handlungen, das andere auf die Wahl der Mittel. Das erste Gesetz geht
dahin, dass in demselben Augenblicke, in welchem ein Zweck erreicht ist,
schon wieder ein anderer angestrebt wird, oder, um es in der Sprache der
Hedoniker auszudrücken : in dem Momente, in dem ein Bedürfnis befriedigt
ist, taucht bereits ein anderes auf. Der Wunsch eines menschlichen Wesens
nach einer gewissen Classe materieller Güter hat eine bestimmte Grenze,
sein Wunsch nach solchen Gütern im ganzen jedoch hat keine solche
Grenze. Dies ist das Gesetz der Ausdehnung der Bedürfnisse. i)
Das zweite besagt, dass die Menschen darnach streben, jene Bahn ein-
zuschlagen, welche ihnen die grössten Erfolge in materiellen Gütern mit
den geringsten Opfern zusichert. Von zwei Wegen des Gütererwerbs, die
sie vor sich sehen, werden sie lieber den einschlagen wollen, welcher ihnen
mehr, als den, welcher ihnen w^eniger verschafft. Dies ist das Gesetz der
Wirtschaftlichkeit (economy). Es ist nicht ganz analog der ethischen
Tautologie, dass der Mensch von zwei Gütern das grössere vorzieht, denn
wir haben in dem Urtheil der Gesellschaft, welcher das Individuum an-
gehört, ein Criterium, um zu erkennen, was als objectiv ökonomisch be-
trachtet wird und was nicht, und es kann deshalb nicht vorgeworfen werden,
dass wir den ökonomischen Weg nur aus dem Umstände erkennen, dass
das Individuum ihn vorzieht.
Diese zwei Gesetze sind zw^eifellos in gewissem Sinne selbst secundär,
da sie von zwei Principien der menschlichen Natur abhängen, welche eine
über die Sphäre der Nationalökonomie hinausreichende Anwendung haben.
Aber innerhalb dieser Sphäre scheinen sie primär zu sein; sie sind primär
im Verhältnis zu allen anderen wirtschaftlichen Principien.
Diese Gesetze sind keine aprioristischen, sondern vielmehr Ana-
lysen der menschlichen Erfahrung oder, wenn man will. Generalisierungen aus
der Erfahrung; aber sie sind, ebenso wie die Associationsgesetze in der Psycho-
logie, so charakteristisch für den Menschen, wie er uns aus Geschichte und
Beobachtung bekannt ist, dass, wenn man sie auf irgend eine Gesellschaft
von Menschen in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft nicht anwenden
könnte, wir das Gefühl hätten, dass diese Gesellschaft mit Unrecht eine
menschliche genannt werde; wir würden das Gefühl haben, dass wir es gar
nicht mit einer Gruppe von Menschen, sondern entweder mit Gottheiten
oder mit niediigeren Geschöpfen zu thun hätten. So können wir auf Grund
deductiver Schlüsse behaupten, dass es keine menschliche Gesellschaft
geben kann, die ausschliesslich aus Asceten besteht. Die Existenz einer
Shakergemeinde z. B. ist kein Gegenargument gegen das Princip, denn
Shakergemeinden sind vorsätzlich gebildete Vereinigungen von Ausnahmen:
J) Prof Marshall hat den Ausdruck „Ausdehnung der Thätigkeiten" vorge-
zogen. Letzteren müssen aber doch immer Wünsche resp. Bedürfnisse als Bewegungs-
grund und Sporn zugrunde liegen.
14*
204 Bonar,
— der gemeine Mann, „der Mann von der Strasse'' ist weder jetzt ein Ascet,
noch war er es vor 3000 Jahren, er ist es weder hier noch im Orient,
wenn ihn nicht die Noth zum Darben zwingt, oder wenn nicht die Abspannung
eines erschlaffenden Klimas in Verbindung mit der Unkenntnis der Mittel,
es sich behaglich zu machen, dahin wirkt, seine Begehrlichkeit zu erstickend)
Wenn der Historiker in den Geist einer Epoche eindringen und mehr als
ein blosser Chronikant äusserer Geschehnisse sein will, muss er an sein
Werk zum mindesten mit einer vorgefassten Idee herantreten, dass er
nämlich, wenn er sich mit den Aegyptern unter den Pharaonen, mit den
Juden unter David oder den Griechen zur Zeit des Perikles befasst, es
mit Menschen zu thun hat, welche dieselben Leidenschaften haben wie wir
selbst — welche lachen, wenn sie gekitzelt werden, und bluten, wenn sie
verwundet werden, und sich rächen, wenn ihnen Unbill widerfährt. Andern-
falls würde unsere Geschichte nicht eine Geschichte der menschlichen
Species sein. Sie könnte ein Bericht über die Entwicklung der Species
Mensch aus einer Species, die nicht Mensch war, sein, und vielleicht ein
treuer Bericht^); menschliche Geschichte aber wäre sie nicht. Wenn es eine
continuirliche menschliche Geschichte gibt, so muss es auch eine Grundlage
für die Identität nicht minder geben als für die Verschiedenheit. Und gestützt
auf eben diesen identischen Grundzug können wir behaupten, nicht dass es
einen „wirtschaftlichen Menschen" gibt, sondern dass der Mensch ein wirt-
schaftliches Wesen ist, so gut als er ein sociales oder politisches
Wesen ist. Die zwei ersten Principien oder Gesetze seines wirtschaftlichen
Handelns scheinen mir aber die zwei oben beschriebenen zu sein. Es wird
gestattet sein, darüber etwas eingehender zu handeln.
Der Ausdruck „Princip" (principle) ist in der englischen National-
ökonomie älter als der Ausdruck „Gesetz" (law). Bei den Physiokraten
wird „Gesetz" sehr oft gebraucht. Dupont de Nemours z. B. sagt in der
Vorrede zu Quesnay^s Maximes generales du gouvernement economique, dass
diese Maximen „die natürlichen und unwandelbaren Hauptgesetze enthalten,
die zu der Ordnung passen, welche offenbar für die zur Gesellschaft ver-
einigten Menschen die vortheilhafteste ist". (Daire S. 78, vgl. 364.) Bei
Nemours und Quesnay deutet der Ausdruck „Gesetz" auf eine Vorschrift
für eine richtige Eegierung^); alle guten menschlichen Gesetze sind für sie,
gleich den physischen Gesetzen, nur declaratorische Aussprüche über das,
was bereits die Natur bestimmt hat (Daire S. 390); — bei Turgot jedoch
(der mit den Physiokraten in Verbindung steht, wenn er nicht direct zu
ihnen gehört) finden wir eine Anwendung des Ausdruckes, die keinem
'^) So wenig als der Mensch ein leidenschaftloses Wesen ist, wenn auch einzelne
Individuen es nahezu sein mögen, und wenn auch Umstände eintreten können, welche
seine Leidenschalt des Antriebes oder der Aeusserung berauben.
2) Vgl. aber die Artikel über „Hiatus" etc. im Giornale degli Economisti, Jhrg. 1891
(Juni bis September).
3) So bedient sich Nemours (Daire S. 375) des Ausdruckes „die natürlichen
Wege der Vertheilung", wo spätere Schriftsteller „Gesetze" gesagt hätten.
Der Gebrauch des Ausdruckes „Gesetz" in der Nationalökonomie. 205
Zweifel Kaum lässt. Er schreibt (Eloge de Goiirnay, am Anfange): „Um
die ursprünglichen und einzigen, auf die Natur selbst gegründeten Gesetze
zu erkennen, durch welche sich alle im Verkehr vorkommenden Werte
das Gleichgewicht halten u. s. w dazu bedarf es des Auges eines
Philosophen und eines Staatsmannes."
Wenn wir aber zu unseren eigenen Vorfahren in der Nationalökonomie
kommen, können wir lange in Adam Smith's Schriften blättern, ohne
darauf zu stossen, dass er das Wort „Gesetz" in demselben Sinne
wie seine Nachfolger gebraucht hätte. Er spricht von den „Umständen"
und von den „Principien", welche den Verlauf eines oder des anderen
Vorganges^) bestimmen — und von den „Regeln, welche die Menschen
natürlicherweise beobachten "2); und wir lesen die Ausdrücke „fortwährend
gravitierend", „mit beständiger Tendenz", „natürliche Richtschnur", „passt
sich natürlicherweise an", „vermehrt sich natürlicherweise"^) u. s. w. Malthus,
mehr als sein Meister an Naturforschung gewöhnt, spricht, wenn er auch
gelegentlich „Principien" sagt, („Das gi'osse Princip" des Angebotes und der
Nachfrage, Essay S. 34G) auch von „Gesetzen".
Ich meine nicht, dass Malthus, wenn er von dem Gesetze der Bevölkerung
spricht, nothwendigerweise über Smith hinausgeht, da er es hier mit einem
gewissermaassen physischen Gesetze zu thun hat; sicherlich aber geht er
über ihn hinaus, wenn er in seiner Nationalökonomie von den „Gesetzen"
spricht, „welche den Gewinn vom Capital, die Geldzinsen, die Grundrente,
den Wert der Edelmetalle in verschiedenen Ländern u. s. w. regeln"
(1820, S. 13); ebenso in der Abhandlung über die Rente (1815, S. 22):
„Die Gesetze, welche das Steigen und Fallen der Renten beherrschen"; und
wenn er sie bezeichnet als „Gesetze, welche die Bewegungen der mensch-
lichen Gesellschaft regeln" mit Bezug auf Gegenstände, mit welchen wir
„täglich und stündlich uns befassen", die jedoch „fortwährend durch mensch-
lichen Einfluss modificiert werden". Es bedarf kaum der Erwähnung, dass
Ricardo, James Mill und Mac Culloch kein Bedenken trugen, den fraglichen
Ausdruck zu gebrauchen.-^) Ricardo spricht in seiner ersten Flugschrift
(Bullion 1810, S. 3 der dritten Ausgabe) von „Gold und Silber, welche
denselben Gesetzen gehorchen wie jede andere Ware". Er scheint in der
That der erste englische Oekonom gewesen zu sein, welcher das Wort
„Gesetze" kühn für „Principien" gebraucht hat. Er beginnt sein Buch über
die „Principien der Nationalökonomie und Besteuerung" mit der Bezeichnung
') Z. B. der Arbeitstheilung I. II. 6. 2. (Mac Culloch ed.)
2) Er gebraucht diese Ausdrücke von dem, was heutzutage einige die „Preisgesetze"
nennen würden. I. IV. 13. 1.
3) I. VIII. 36. 2.
4) Professor Edgewoi-th erinnert mich an Burkes Gebrauch des Wortes in „Thoughts
and Details on Scarcity" 1795: „die Arbeit muss allen Gesetzen und Principien des
Handels unterworfen sein"; und hinwiederum: „durchbrechen die Gesetze des Verkehrs,
welche dio Gesetze der Natur und folglich die Gottes sind." Nun war aber Burke kein
Meister, sondern nur ein Jünger in der Wirtschaftslehre, und, wie Jünger oft thun,
srienor er weiter als sein Meister.
206 Bonar.
dieser Principien als „Gesetze, welche die Yertheilung regeln" (Vorrede,
1817). Erst in neuerer Zeit sind wir, und zwar mit Kecht, wieder miss-
trauisch in diesem Punkte geworden. Selbst Jevons gebraucht Ausdrücke wie
„Gesetz des Angebotes und der Nachfrage" (z. B. Pol. Econ.. Vorrede
zur zweiten Auflage, S. XXIX), „Gesetze des menschlichen Bedürfnisses"
(Cap. III.) „Gesetz des Wandels der Nützlichkeit" (ebdas.) und „Gesetz
der Gleichheit (indifference)" (Cap. IV.); und wir lesen: (Cap. IV.):
„Die ökonomischen Gesetze, welche die Führung breiter Massen von Indi-
viduen darstellen, werden niemals genau die Führung jedes Einzelindividuums
repräsentieren"; — „Durchschnittsgesetze" könnten nur dann auf die Indi-
viduen angewendet werden, wenn sie „aus der Führung der Individuen ab-
geleitet wären", die alle in ihren Begehrungen und in ihren Kräften zur
Erfüllung derselben übereinstimmen (ebdas.).
Ich denke, man wird finden, dass die Oekonomen jetzt mit dem Ge-
brauche des Wortes „Gesetz" vorsichtiger sind als Jevons in den obcitierten
Stellen. Wir sind thatsächlich zu der Erkenntnis gelangt, dass nur die der
menschlichen Beeinflussung am wenigsten unterliegenden Principien den
Namen von Gesetzen verdienen. Beansprucht kann dieser Name werden für
das Princip der Ausdehnung der Wünsche nach den Gütern und für das
Princip der Erreichung des grössten Erfolges mit dem geringsten Aufwände;
und ich zweifle sehr, ob wir ihn vielen anderen ertheilen sollten, ohne
mindestens einen gewissen Vorbehalt daran zu knüpfen.
Nehmen wir einmal einen Text zur Hand wie den des nun schon alten,
wenn nicht veralteten John Stuart Mill. Wir finden da zwei Classen von
Gesetzen — die Gesetze der Production, welche beinahe vollkommen
physischer Natur sind, darunter zum Beispiel das Gesetz der abnehmenden
Fruchtbarkeit des Bodens und das Malthus'sche Gesetz selbst, — und die
Gesetze der Vertheilung. welche als auf menschliche Einführung zurück-
gehend, aber doch nicht ganz dem menschlichen Willen unterliegend
beschrieben werden, z. B. die Gesetze des Tausches, der Löhne, des Gewinnes.
Das, was man das beständige Element bei den letzteren (die allein
streng ökonomisch sind) nennen kann, beruht lediglich auf der Wirkung der
beiden oberwähnten obersten Principien. Das Problem des Nationaiökonomen
besteht zum grossen Theil darin, die Art und Weise genauer zu bezeichnen,
in welcher jene Principien in den einzelnen Phasen der menschlichen Gesell-
schaft zum Durchbruch gelangen, wobei natürlich die gegenwärtige Phase
für uns die wichtigste ist.
Zum Beispiel das biologische Gesetz (denn ein solches ist es in
Wirklichkeit, und kein wirtschaftliches), dass alle Lebewesen, mit Einschluss
der Menschen, die Tendenz zeigen, ihre Zahl bis zur Grenze der Existenz-
möglichkeit zu vermehren, gewinnt für die Nationalökonomie ein Interesse
einfach vermöge der engen Beziehung in der es in der gegenwärtigen mensch-
lichen Gesellschaft zu jenen zwei obersten Gesetzen der Wirtschaft steht.
Die Ausdehnung der menschlichen Wünsche bewirkt, dass das Begehren nach
Befriedigung neuer Wünsche eine Grenze oder Schranke für die alten Wünsche
Der Gebrauch des Ausdruckes ^Gesetz" in der Nationalökonomie. 207
wird. Wo viele concurrierende Wünsche vorhanden sind, wird der Sättigungs-
punkt hei jedem einzelnen von ihnen früher erreicht werden. Illustriert
wird dies durch die Wirkung des Steigens des durchschnittlichen Comforts
auf das Alter der Verheiratung und das Wachsthum der Bevölkerung.
Andrerseits zeigt sich auch das Princip der Wirtschaftlichkeit in einigen
Stadien des Anwachsens der Bevölkerung wirksam. Es ist möglich (wie
Malthus selbst dachte), dass das biologische Bevölkerungsgesetz in der
Kichtung positive Dienste geleistet hat, dass es einen Antrieb zu stricterer
Wirtschaftlichkeit in der Anpassung der Mittel an die Zwecke gab. Aehnliches
tritt ferner zu Tage in dem Uebergange vom Nomadenthum zum Ackerbau,
in dem Uebergange zur Wechselwirtschaft und weiter in allen Einrichtangen,
welche eine Vermehrung der ünterhaltsmittel ohne eine entsprechend starke
Vermehrung des Arbeitsaufwandes zum Erfolge haben. Schliesslich zeigt es
sich in dem Bestreben, lieber ein niedrigeres Sterbepercent als ein hohes
Geburtenpercent zu haben und niclit überflüssiger Weise Kinder nur zu
dem Zwecke in die Welt zu setzen, dass sie dann vor erreichter Mann-
barkeit wieder sterben.
Das ist ein Beispiel, wo wirtschaftliche Gesetze mit einem biologischen
zusammen wirken. Wir wollen nun auf gut Glück einige Beispiele heraus-
greifen, wo dieselben in secundären wirtschaftlichen Principien wirken.
1. Wir können das Princip zum Beispiel nehmen, dass alle Menschen
gewohnheitsmässig dahin neigen, die Zukunft im Vergleich mit der Gegen-
wart zu unterschätzen. Dies ist kein oberstes Princip von gleichem Rang
mit den zwei erwähnten; denn (wie Dr. Böhm-Bawerk selbst zugibt) es gilt
nicht für alle Gruppen von Menschen, und das allgemein oder beständig
Wahre an ihm ist. dass es sowohl von dem Gesetze der Wirtschaftlichkeit
als von dem der Ausdehnung der Wünsche gedeckt wird. Denn aus den
besagten Gesetzen geht hervor, dass die EiTeichung irgend eines Zweckes
(sei es nun ein naher oder ein entfernter) für die Verfolgung eines anderen
Raum schafft. Wenn die näheren Zwecke gesichert erscheinen, ist für
entferntere Platz.
Andrerseits ist es ein beinahe überall realisiertes allgemeines Princip;
und es kommt dem Range oder, wenn man will, dem Umfange der zwei
ersten Gesetze so nahe, dass es, wie ich meine, nicht unbillig ist, ihm
ebenfalls den Namen eines Gesetzes zu geben.
2. Das Princip, dass die Menschen dahin neigen, die Güter gemäss
ihrem „ Grenznutzen " zu schätzen, hat ebenfalls einen Anspruch auf diesen
Titel. Doch ist es nicht primär. Es leitet sich von dem Gesetze der
Ausdehnung der Bedürfnisse nicht unter allen Umständen und für alle
Güter, sondern unter der Bedingung ab, dass die fraglichen Zwecke (oder
zu befriedigenden Bedürfnisse) realisiert werden a) stufenweise und
h) dass die Mittel der Realisierung, die Güter, welche das Ziel des Wunsches
ausmachen, in entsprechende Abstufungen theilbar sind. Es gibt Fälle
(untheilbarer Güter), in welchen wir nach dem totalen und nicht nach dem
Grenznutzen urtheilen. Wir haben demnach hier mit Gemeinsamkeit
208 Bonar.
(generality), aber nicht mit Allgemeinheit (universality) zu thun. Ueberdies
haben wir hier einen Maasstab für Wirkungen, während uns das Gesetz
der Ausdehnung der Bedürfnisse eine Ursache angibt, und zwar eine,
die allgemeinhin auf alle menschlichen Gresellschaften Anwendung findet.
Das Princip des Grenznutzens gilt weiter von gewissen Güterarten zu
allen Zeiten und an allen Orten und bei allen Völkern. Unter seinen
eigenen Bedingungen ist es vollkommen gemeingiltig, wo immer es Menschen
von gleichen Trieben wie die unseren und eine Welt von verschiedenen
Güterarten gibt, so wie wir sie in allen Perioden der Geschichte jederzeit
gekannt haben.
Einige historische Oekonomen sprechen so, als ob kein auf das
menschliche Leben bezügliches Princip ein Gesetz sein könnte, weil, wie sie
sagen, die Menschen im Gegensatze zur physischen Natur einem beständigen
Wechsel unterliegen, und, im Gegensatze zur Gravitation und chemischen
Verbindung, die auf den Menschen bezüglichen Principien in der Ver-
gangenheit eine Zeit gehabt haben, in welcher sie nicht existierten (als es
keine Menschen gab), und ein solche auch in der Zukunft haben können.
Dies beweist zu viel. Es würde daraus folgen, dass, weil die Welt nicht
immer Leben enthielt, die auf lebende Wesen bezüglichen Principien keine
Gesetze seien, und dass es daher keine „Gesetze" der Physiologie und
Biologie gebe. Wenn man aber annehmen müsste, dass Gesetze die Dinge,
welche sie beherrschen, früher schaffen, dann giengen wir aller Gesetze
verlustig, etwa mit Ausnahme jener Urprincipien, auf welche die astro-
nomische „Nebularhypothese" zurückleitet. Mit mehr Berechtigung kann
man argumentieren, dass Principien, wie das biologische, deswegen nicht
tiefer an Eang stehen, weil sie sich auf Gegenstände beziehen, die in eine
spätere Zeit fallen als andere, auf welchen die späteren aufgebaut sind.
Das Haus geniesst ein grösseres Ansehen als die Grundmauer, obwohl diese
zuerst gelegt wird. Das, wozu die Entwicklung uns führt, ist siclierlich
nichts zufälligeres als das, womit die Entwickelung beginnt. Sonst müssten
wir auf die Idee der Gleichförmigkeit der Natur verzichten und aller mensch-
lichen Wissenschaft ein Ende machen.
Zugleich möge man beachten, dass Gesetze von der Art des Gravita-
tionsgesetzes vorzugsweise Gesetze sind, weil ihre Realisierung überall
sichtbar ist und offenbar nie gehemmt oder durchkreuzt wird. Ein wirtschaft-
liches Princip, welches wir selten in Wirksamkeit sehen, dürfen wir nicht als
Gesetz definieren; sonst würden wir unsere Leser verleiten (da sie das Wort
„Gesetz" mit allgemeinen und einleuchtenden Naturgesetzen associiren)
unsere Principien für mehr zu halten, als sie in der That sind. Professor
Marshall möchte ein sociales Gesetz definieren als „eine Feststellung, dass
unter gewissen Bedingungen bei einer socialen Gruppe ein gewisser Verlauf
einer Handlung erwartet werden kann." Wir würden dann jenen Namen selbst
der Feststellung geben müssen, dass, wenn der Geschäftsgang lebhaft ist, die
Angehörigen der Trade unions striken, um sich höherer Löhne zu versichern.
In der Praxis aber gibt Professor Marshall dem Worte eine weniger weite
Der Gebrauch des Ausdruckes „Gesetz" in der Nationalökonomie. 209
Anwendung. Sein Gesetz der Substitution (dass die minder kostspielige
Productionsmethode an die Stelle der kostspieligeren gesetzt wird) ist ein
Fall von dem, was oben das Gesetz der Wirtschaftlichkeit genannt worden
ist. Professor Marshall betrachtet es als einen Specialfall des Gesetzes des
Ueberlebens des Tüchtigeren. Jedenfalls jedoch würde sich dieses Princip
von dem Darwin'schen Gesetze insoferc unterscheiden, als die Annahme
oder Ablehnung des mehr oder minder wirtschaftlichen Verfahrens (zuerst
wenigstens) immer ein überlegter und bewusster Act ist.
Es ist auch zu beachten, dass die primären Principien keine speciellen
Gesetze der Production, Yertheilung oder Consumption sind; sie haben
auf alle drei Bezug, aber sie stehen über der besagten Unterscheidung.
So hängen z. B. die Gesetze der Gütervertheilung sowohl in barbarischen
als in civilisierten Ländern von Voraussetzungen ab, die nicht wirtschaft-
licher Natur sind. Wenn die Voraussetzungen gegeben sind,
seien sie nun CoUectiveigenthum, Nicht-Eigenthum oder Privateigenthum, so
wird der Einfluss der Avirtschaftlichen Gesetze oder vielmehr des Gesetzes der
Wirtschaftlichkeit dem gemäss hervortreten^); in unserem eigenen Kegime
wird jener Einfluss hervortreten in den Principien des Tausches, in den
Principien des Angebotes und der Nachfrage, der Preise, der Kosten und
der Kente. Wie Mill sagte — wenn Leute ein Regime adoptieren, nehmen
sie die Consequenzen davon auf sich; bei dem gegebenen Regime des Privat-
eigenthumes müssen gewisse Formen der Wirtschaft sich ergeben, ob die
Leute sie nun wünschen oder nicht. Es gibt kein besseres Beispiel hiefür
als das des Geldes. Gresham's Gesetz, wonach gutes Geld vom schlechten
vertrieben wird, ist so alt als Aristophanes, und es ist einfach das Princip
des grössten Erfolges (oder der entsprechendsten Zweckerfüllung) mit den
geringsten Kosten, welches sich unter speciellen Bedingungen von Eigenthum
und Tausch äussert.
Von diesem Gesichtspunkte aus empfiehlt es sich nicht, wirtschaftliche
Gesetze so enge zu formulieren, dass sie sich nur auf den Geldverkehr
und auf Geldpreise beziehen. 2) Wenn man sagt, dass der Geldpreis in einem
so weiten Sinne verstanden werden könne, dass er auch noch Fälle des
Tauschhandels deckt, so ist zu erwidern, dass der Ausdruck, wann möglich,
sogar noch mehr als die Fälle des Tauschhandels decken sollte. Wenn wir
nicht Bagehot folgen und unsere Nationalökonomie auf die moderne Gross-
industrie beschränken wollen, müssen unsere Definitionen ebenso allgemein
sein als unsere Theorie es sein will.
Das Streben, die Allgemeinheit unserer Definition von Gesetz zu
bewahren, ist nicht unverträglich mit der gebotenen Beachtung der hypo-
thetischen Natur des wirtschaftlichen Gesetzes. Es liegt (wie „Probstein''
in , Wie es Euch gefällt' sagt) eine grosse Kraft in einem „Wenn''; und
wenn wir sagen, dass ein Gesetz eine Tendenz constatiert, so sagen wir, es
1) Von diesem Gesichtspunkte aus bedürfte die berühmte Unterscheidung von
Rodbertus zwischen wirtschaftlichen und historischen Kategorien einer Beschränkung.
2) Professor Marshall, Principles of Political Economy, 2. Aufl. I. VI. 83.
210 Bonar.
constatiere ein „Wenn". Dasselbe ist aber nicht allein von wirtschaftlichen,
sondern von allen Gesetzen in jeder Wissenschaft wahr. Sie alle sind Con-
statierungen, dass unter gewissen Bedingungen ein gewisser Verlauf
der Ereignisse erwartet werden kann. Wir können sogar sagen ^), dass alle
allgemeinen Wahrheiten nothwendige Wahrheiten sind; ihre Bedingungen
bilden einen Theil von ihnen; und, mit den Bedingungen, ist eine nicht mehr
noth wendig als eine andere.' Ich habe zugegeben, dass eine Wahrheit primärer
sein kann als eine andre, was bedeutet, dass einige allgemeine Principieu
die Bedingungen, von welchen andre abhängen, in sich schliessen können;
und ich habe meiner Ansicht dahin Ausdruck gegeben, dass die derivativen,
da sie weniger häufig realisiert und vermuthlich öfter verdunkelt und durch-
kreuzt werden, besser mit einem anderen Namen als dem eines „ Gesetzes **
zu belegen seien. Es versteht sich von selbst a fortiori, dass ein versuchs-
weise angenommenes allgemeines Princip, über welches der Forscher selbst
noch nicht ganz sicher ist, nicht ein Gesetz genannt werden darf.
Zum Schlüsse mag die Vorstellung erwähnt werden, dass in der Volks-
wirtschaft jede Nation und jede Epoche ihre eigenen Gesetze haben kann
Marx behauptet etwas Aehnliches speciell beim Bevölkerungsgesetze; „jeder
historische Productionsmodus hat sein eigenes Bevölkerungsgesetz" (Cap. I.
656), und einige deutsche Nationalökonomen sprechen so, als ob dies bei
allen wirtschaftlichen Gesetzen gälte. Ihr Raisonnement scheint im Grande
folgendes zu sein: Jeder Fall, den man nimmt, ist ein concreter und kann,
wie andere historische Thatsachen, nur einmal vorkommen. Was sich einmal
ereignet, ist verschieden von allem, was sich wieder ereignen kann. Ein
neuer Vorfall ist niemals mit einem früheren identisch, und so scheint man
zu schliessen, dass die concreten Verhältnisse eines Volkes in einer Zeit
immer von seinen concreten Verhältnissen in einer anderen Zeit verschieden
sein werden. Dieses Argument aber beweist zu viel; es würde beweisen,
dass man nicht bloss an Stelle allgemeiner wirtschaftlicher Gesetze für eine
specielle Nation und Zeit giltige Gleichförmigkeiten, sondern an Stelle dieser
letzteren bloss für specielle Districte, ja sogar nur für einzelne Individuen
giltige Gesetze setzen müsste, und zwar aus dem Grunde, weil jeder Mensch
und seine Umgebung von allen anderen irgendwann bestehenden verschieden
ist. Wenn aber demnach jeder Mensch ein „Gesetz für sich selbst" sein
müsste, würden wir aller Lehre aus der Geschichte, sowohl moralischen
als politischen Inhaltes, ein Ende machen und den wahren Sinn des
Gesetzes zerstören.
Denn die obige Vorstellung von Gesetz, welche auf einer Uebertreibung
der relativen Giltigkeit der Wahrheit und der Verschiedenheit der socialen
Erscheinungen unter einander beruht, beraubt das Gesetz seines wesent-
lichsten Merkmales, der Allgemeinheit. Die Feststellung einer Thatsache,
die nur ein einzigesmal sich ereignet, wäre kein Gesetz. Glücklicherweise
ist kein Schriftsteller im Stande, diese Idee consequent durchzuführen. Wo
1) Mit Professor T. H. Green, Pliilos. Works II. 264, etc.
Der Gebrauch des Ausdruckes ,. Gesetz'* in der Nationalökonomie. 211
immer eine „ Unmöglichkeit '• vorliegt — z. B. eine erklärte Unmöglichkeit,
die Löhne herabzudrücken bei ungewöhnlicher Verminderung der Arbeits-
kräfte, oder die Preise zu erniedrigen während einer Theuerung — gibt es
ein Gesetz, aus welchem die Unmöglichkeit stillschweigend oder zugestan-
denermaassen gefolgert wird. Marx selbst sucht seine Leser zu überzeugen,
dass die Entwickelung der Industrie einen Lauf verfolgt, der die Gesell-
schaft unvermeidlich in der von ihm bezeichneten Weise verändern muss.
gerade so wie er sie unvermeidlich in ihren jetzigen Zustand brachte,
eine Behauptung, welche den wirtschaftlichen Ursachen eine unbedingtere
Kraft zuspricht, als für dieselben von den meisten Xationalökonomen bean-
sprucht wird. Bei Thorold Kogers finden sich zahlreiche Stellen, die, ohne
es zu wollen, für seinen heimlichen Glauben an wirtschaftliche Gesetze
oder allgemeine Principien Zeugnis ablegen. Hier nur eine von vielen; sie
bezieht sich auf den Anfang des XIV. Jahrhunderts: „Der bündigste Beweis
für eine Hungersnoth wird geliefert, denn die Löhne erfuhren eine reelle
und bleibende Erhöhung infolge eines Mangels an Arbeitskräften, der sich
durch eine beträchtliche Zeit hinzog und deshalb eine bleibende Erhöhung
der Löhne bewirkte; denn vorübergehende Theuerung drückt die Löhne
eher." (Six Centuries of Work and Wages. I. Band, S. 62.^)
Xun wird man aber sagen, dass nicht einmal die historischen Oekono-
men (oder ökonomischen Historiker) die elementaren allgemeinen Prin-
cipien des Wertes und noch weniger die oben beschriebenen elementarsten
„Gesetze'- bekämpfen. Alsdann würde die zwischen uns obschwebende Frage
sein — nicht: gibt es allgemeine Principien? sondern: sind die wirt-
schaftlichen Gesetze richtig bestimmt worden? Der Standpunkt der theo-
retischen Nationalökonomen ist weit davon entfernt, es bei dem Glauben an
die Unfehlbarkeit ihrer Vorgänger bewenden zu lassen. Im Gegentheil, wie alle
modernen Forscher halten sie sich für sehr schlechte Lerner, wenn sie
nicht mehr wissen als ihre Lehrer. In der That ist der entgegengesetzte
Vorwurf ganz ebenso oft gegen sie erhoben worden. Sie sind jetzt vielleicht
einig darüber, dass die älteren Nationalökonomen den primären Gesetzen
zu wenig und den secundären zu viel Aufmerksamkeit geschenkt haben; in
anderen Punkten aber haben sie nicht zu viel, sondern zu wenig Lust ge-
zeigt, sich mit einander zu vertragen.
Es wäre aufrichtig, hinzuzufügen, dass wir übereinkommen müssen —
uns zu scheiden in den Abtheilungen des wirtschaftlichen Werks, dem wir
uns zu widmen gedenken. Wenn die Arbeitstheilung den getrennten Ge-
werben Aufschwung verleiht, so ist es ein Princip der menschlichen Natur
(und zwar ein für die menschliche Easse vortheilhaftes, wenn auch nur von
„secundärem und abgeleitetem« Bang), dass jedermann sein eigenes Gewerbe
für das beste hält; und das ist bei den Studien eben so wahr als beim Handwerk.
1) Wegen einer noch bemerkenswerteren „Deduction" sehe man das in „Malthus
and His Work" 136 (vgl. 238) angeführte Beispiel. Es dürfte hier die Bemerkung am
Platze sein, dass Koger's Gebrauch der Deduction durch seine Genossen, die Historiker,
zu einem Beschwerdegrund gegen ihn gemacht worden ist.
ZUR METHODE
DER HEUTIGEN SOCIAL-WISSENSCHAFT,
VON
PROF. V. JOHN (INNSBRUCK).
„Die unmittelbare Beobachtung der wirtschaftlichen Erscheinungen
ist die Losung der heutigen Wirtschaftswissenschaft Nothwendig ist
darum die geschichtliche Erforschung der wirtschaftlichen Entwicklung und
die Beschreibung der wirtschaftlichen Zustände das Wichtigste Der
Grund hiefür ist derselbe, aus welchem die Naturwissenschaften ihrer Zeit
die Beschreibung der Thatsachen und Vorgänge an Stelle von aprioristischen
Deductionen gesetzt haben." Brentano: „Die classische Nationalökonomie".
1888. S. 28. ff.
Aehnlich erklärt vor nahe hundert Jahren der unsterbliche Autor der
„Mecanique Celeste": „Appliquons aux sciences politiques et morales la
methode fondee sur l'observation et sur le calcul, methode qui nous a si
bien servi dans les sciences naturelles". Laplace, Essai philosophique sur
les probabilites. Edit. 1814.
Und der Krämer John G-raunt überreichte bereits 1662 der be-
rühmten „Regalis Societas" Englands seine grundlegenden sociabvissen-
schaftlichen Untersuchungen unter dem Titel: „Natural and political
observations" als Analogen der naturwissenschaftlichen Beobachtung
der gelehrten Gesellschaft, mit der ausdrücklichen Berufung auf den heut
oft citirten Sir Francis Bacon, welcher seine Discurse ähnlichen Inhalts
ebenfalls der „Historia Naturalis" zugerechnet habe.
Der geniale Pettj^ bemerkt hiezu in seiner „Political Arithmetic"
von 1683 zielbewusst: „The Method I take to do this, is not very
usual; . I have taken the course to express myself in Terms of
Number, Weight or Measure; to use only Arguments of Sense, and
to consider only such Causes, as have visible Foundations in Nature".
Aber auch der grosse Realist des classischen Alterthums bezeichnet
in seiner Politik (I. 1.) bereits als den trefflichsten Weg zur Einsicht zu
gelangen, die Dinge und Verhältnisse unmittelbar zu beobachten und das
Zur Methode der heutigen Social-Wissenschaft. 213
Zusammengesetzte stets bis zu dem Einfachen hinab zu verfolgen, da nur
in der Scheidung der Elemente der schärfere Blick für das Wesen und die
Verschiedenheit der Theile gewonnen werde. Ist doch die Politik des
Aristoteles, dieser „Granitunterbau der Staatswissenschaft aller Zeiten und
Völker'- (Stahr), nach dem eigenen Zeugnis ihres Autors nur die Synthese
der umfassendsten Erfahrungserkenntnisse aus dem heut wenigstens theil-
weise wieder gewonnenen Politienwerk, dem grossartigen Muster einer
historisch - statistischen Beschreibung der vorgeschrittensten politischen
Gemeinwesen jener Tage. (Cf. Nikom. Ethik X. 9. 27. Pol. V.; theil weise
auch VI. und hiezu meine Gesch. d. Stat. I. 18 ff.)
Ja selbst ein Plato verlas st in seinen letzten Werken die Höhen
der reinen Speculation, und charakterisiert seine „ünteiTedung über die
Gesetze" als die Induction aus den bestehenden Verfassungen, unter steter
Beachtung der natürlichen Entwicklung und der realen Bedingungen der
zu gründenden Colonie. „Klima, Nahrung, Tenitorium und alle sonstigen
„äussern- Umstände seien jederzeit in ihrem Einfluss auf das körperliche
und geistig - sittliche Gedeihen der Völker zu untersuchen". Soweit es
einem Menschen möglich ist, solche Dinge zu erforschen, müsse ein ver-
ständiger Gesetzgeber dies wohl beachten, und erst dann versuchen, seine
Normen aufzustellen. (Gesetze, V. 747.) Gleichzeitig wird im „Gorgias"
von dem grossen Gegner der Sophisten in IJebereinstimmung mit deren
Grundanschauung der Gedanke ausgesprochen, dass die sociale Organi-
sation der Menschen eine natürliche Thatsache sei, welche sich, wenn auch
nicht zufällig, so doch spontan früher entwickelte als die Verträge,
Normativgesetze und Kunstwerke der Menschen, darum denselben auch
übergeordnet erscheine; ein Gedanke, dessen tiefgreifende methodologische
Bedeutung für die Socialwissenschaft in unseren Tagen durch die „Unter-
suchungen" K. Mengers (S. 139 ff. m. Anh. VII. u. V.) wieder nahe gelegt
worden ist^).
Dass alle Sokratiker, von Plato und Xenophon bis auf Cicero die
ungeschriebenen, „unreflectierten" Gesetze gleich den geschriebenen in
ihrem letzten Grunde als Ausfluss des göttlichen Willens betrachten, ist
für die methodologische Seite der Frage ohne Bedeutung. Diese allein aber
ist es, welche uns hier beschäftigt.
In dieser Kichtung ist nun gerade die Thatsache von Wichtigkeit,
dass die von der realistischen Kichtung der heutigen Socialwissenschaft
1) In der Auffindung der Elemente seines begrifflichen Wissens konnte auch ein
Plato kein anderes als das durchaus inductorische Verfahren seines Lehrers Sokrates
verfolgen; einzig zur Prüfung und Erhärtung der zusammenfassenden Begriffe ergänzte
er vielseitig dieses Verfahren durch die hypothetische Erörterung, indem er aus dem
gewonnenen Begriff oder Generellen alle denkbaren Consequenzen zieht und diese auf
ihre Uebereinstimraung mit dem bereits Anerkannten und Thatsächlichen untersucht.
Dagegen ist ihm die Division der Gattungsbegriffe nur das methodische Hilfsmittel zur
Blosslegung ihrer logischen Beziehungen und als solches von ihm durchaus selbst neu
durchgeführt. Vgl. Windelband, „Gesch. der antiken Philos." 1888.
214 Joli"-
geforderte „unmittelbare Beobachtung der Wirklichkeit" sowie die -ge-
schichtliche Betrachtung ihrer Entwicklung- nicht nur thatsächlich geübt,
sondern in klarem theoretischen Bewusstsein ihres logischen Grundes auch
postuliert wird, so lange ein wissenschaftliches Denken überhaupt bekannt
ist, ganz angemessen der Natur des Wissens vom Realen, das alle ihm
dienlichen Obersätze in ihrem letzen Grunde nur aus der Wahrnehmung
gewinnen kann.
Dass aber dieses Wissen vom Realen, die empirische Betrachtung der
Wirklichkeit in der geistigen Entwicklung der Menschheit das Prius, das Nach-
denken über das Uebersinnliche das Posterius ist, das zeigt heute unwiderleglich
diemethodisch immer tiefer eindringendepsychologischeBeobachtungdesKindes.
wie die ethnographische des Naturmenschen unserer Tage. (Cf. Preyer, „Die
Seele des Kindes". Julius Lippert, „ Culturgeschichte der Menschheit", 1886,
und die dort citirte Literatur.) Gleich dem heutigen Naturmenschen fand
sich auch der Urmensch einzig vor der Thatsache seines Daseins, und die
einzige Folgerung aus dieser Thatsache war die Sorge für des Daseins Er-
haltung. Diese Sorge aber liess sich ohne Speculation vermitteln; wohnt sie
doch als Instinct, als Bedingung der Erhaltung der Art selbst dem Thier
inne. In wahrhaft zwingender Induction weist die heutige Culturgeschichte
auf dem Grunde „unmittelbarer Beobachtung" nach, dass bei aller Mannig-
faltigkeit des menschlichen Instincts und einflussreicher Sitte und ihrer
geschichtlichen Entwicklung im tiefsten Grunde immer wieder ein und
dasselbe Princip wirksam ist. welches die Sprache zutreffend mit dem
Namen der -Lebensfürsorge" bezeichnet.^)
') Entstammen doch selbst unsere Religionsspeeulationen dem Vorstellungskreise
dieser gemeinen Sorge des Menschen um die Erhaltung des eigenen Ich, d. i. auch der
Erhaltung der eigenen Seele nach dem Tode; denn die aus der Todeserscheinung
erschlossene primitive Seelenvorstellung führte naturgemäss zu der Vorstellung eines
Fortlebens der Seele ausser dem Leibe. An die Vorstellung dieses Fortlebens schliesst
sich der Wunsch einer Fürsorge für dieses Leben nach dem Tode. Der Cult der Seelen
Verstorbener ist die Bedingung der gesicherten Pflege der eigenen Seele nach dem Tode.
Nur die Formen dieser Fürsorge sind verschieden — je nach dem Grade und der Weise,
in welcher die primäre Lebensfürsorge und die culturelle Entwickelung selbst vorge-
schritten ist. „Die himmelhohen Dome mit ihren Chorcapellen, Tausenden von Altären
und reichen Messstiftungen, die überreichen Klöster mit ihren Schätzen, ihren Liegen-
schaften und ünterthanen, unermessliche Reichthümer der todten Hand neben Hütten
der Armut sind nicht minder wie in Aegypten die Riesenpyramiden neben winzigen
Wohnungen, die Säulentempel neben elenden Lehmhütten ebenso viele Zeugnisse, wie
sich die Fürsorge vom Diesseits nach dem Jenseits ablenkte, wie das Leben kargte für
denReichthum des Todes." Lippert, Culturgesch. I. 30. Der Seelencult". 1880. In gleich
überzeugender Weise legt dieser tief eindringende Forscher auf durchaus inductivem Wege
die Entwickelung des wissenschaftlichen, des „vernunftmässigen" Denkens aus jenen
Vorstellungen klar, welche der Cult der Seelen der Verstorbenen als Erscheinungsform
der Lebensfürsorge dem Menschengeiste nahe bringt. „Zu einem selbständigen, von den
gegebenen Cultvorstellungen losgelösten Denken über die Ursächlichkeit der Er-
scheinungen gelangten nach der uns zugänglichen historischen Ueberliefening voniehnilich
die Griechen; u. zw. dies auf dem Grunde einer grösseren Welterfahrung, gewonnen durch
den Verkehr dieses Volkes in ausgedehnten Erdräunien."
Zur Methode der heutigen Social- Wissenschaft. 215
Diese Einheit der ersten Antriebe aber erzeugte mit Nothwendigkeit
die Einheit der Denkgesetze. ^) So sind denn in der That die Grundformen
des Denkens selbst, die Grundzüge der durch ungezählte Generationen
vererbten und vervollkommneten Logik in allen Menschen schliesslich die-
selben : ja, nach den Beobachtungen der heutigen Naturwissenschaft sind die-
selben schon von den höher entwickelten Thiergattungen mit Erfolg geübt. Es
ist darum auch zwischen dem wissenschaftlichen Verfahren und jenem des
täglichen Lebens kein Wesens- nur ein Gradunterschied, nach einem treffenden
Vergleich Huxleys ähnlich jenem, welcher zwischen der Wage des Bäckers
oder Metzgers und der fein graduirten des Chemikers und dessen Ver-
fahren besteht.^) Noch weniger sind die Gesetze des Denkens andere
bei dem naturforschenden Menschen als bei dem speculativen. Ist doch
das Causalgesetz selbst nichts als die Anwendung des logischen Satzes vom
Grunde auf den Inhalt der Erfahrung, und die causale Deduction einzig
die Verbindung von Causalgesetzen durch Schlussoperationen, in w^elchen
■) „Dem Urmenschen gelten in seinem sehr beschränkten Denken nm- die Be-
ziehungen des eigenen Ich als Gegenstand der Speculation; und diese vermag nur in
kindlich oberflächlichster Weise die Wahrnehmungen des Aeusserlichen zu verbinden", „Was
auf solche Weise die Urzeit erschlossen hat. das ist dann als Thatsächliches in das
geistige Erbe der Menschheit übergegangen; und in der eigenthümHchen Art. wie der-
artig erschlossene und vererbte Vorstellungen als Factoren der Culturgeschichte fort-
wirkten, lange nachdem sie durch jüngere Erkenntnisse in ihrem Kern vernichtet waren,
liegt eines der interessantesten Geheimnisse der Culturentwickelung, welche so oft neben
starrer Consequenz der Logik auf scheinbar unlogischen Sprüngen zu beruhen scheint,
die uns in Erstaunen versetzen." Lippert bezeichnet diese von ihm charakterisierte,
bedeutsame Erscheinung als das Gesetz der „Compatibilität" („Religionen" S. 4. „Cul-
turgesch." L, 79). Der scharfe Beobachter der „Volksseele" findet in diesem Gesetz den
Schlüssel, in der Entwicklung der Volksanschauungen eine Menge oft bis zu einem Grade
von Possierlichkeit überraschende Sprünge der Volkslogik zu erklären, und zu zeigen, dass
es im letzten Grunde doch immer nur eine und dieselbe Logik in allen Köpfen ist, die,
je nachdem ihr Elemente von höchst ungleichartiger Herkunft als gleichwertig geboten
werden, zu Gestaltungen gelangt, welche in den kritisch untersuchten Thatsächlichkeiten
der Natur nicht die geringste Basis mehr finden können. Der genannte Autor erklärt, in
Erweiterung eines von Max Müller in der Mythologie gebrauchten Ausdrucks könne
diese „Incompatibilität" auch als das „Irrationelle" in der Culturgeschichte bezeichnet
werden. Als ein schlagendes Beispiel dieser unlogischen Vereinigung von durchaus logisch
abgeleiteten Consequenzen, Anschauungen, Eechtsgrundsätzen und Gewohnheiten aller
Art, abgeleitet aus einer durch das fortschreitende Erkennen späterer Generationen als
unrichtig befundenen „Thatsächlichkeit" neben der bessern Erkenntnis des richtigen That-
sächlichen werden von Lippert a. a. 0. die geschichtlichen Consequenzen der ursprüng-
lichen, unrichtigen Uranschauung des Wesens der Blutsverwandtschaft aufgeführt, welchen
die Fortübung einzelner Rechtsgewohnheiten des „MutteiTCchts" entstammt, trotzdem die
Erkenntnis der Gemeinsamkeit des Blutes beider Eltern in dem Kinde bereits Genera-
tionen aufgegangen war. (Culturgesch. S. 80 ff.)
-) Der populäre Naturforscher illustriert diese Wesensgleichheit der Methode noch
durch den Hinweis auf eine Lustspielscene M o 1 i e r e ' s, in welcher der Held des Stückes
sich zum höchsten Selbstbewusstsein emporgetragen fühlt, als man ihm sagt, dass er sein
ganzes Leben lang „Prosa" gesprochen habe. Cf. Huxley, „Ueber unsre Kenntnis von
den Ursachen der Erscheinungen in der organischen Natur". Sechs Vorlesungen, Uebers.
V. K. Vogt, 1865.
216 Jol^n.
sich die ersteren in Erkenntnisgründe für die empirischen Erscheinungen
umwandeln.
Diese Grundeinheit der Logik erkannten schon die Alten; in Con-
sequenz hievon nicht minder richtig auch das psychische Wesen der „an-
geborenen", der „aprioristischen" Ideen; denn nach dem hiefür competenten
Lotze (Logik, IL Aufl. S. 529), verstanden sie darunter die natürliche
Anlage des menschlichen Geistes, unter den immer wiederkehrenden
äussern Einwirkungen und Bedingungen bestimmte Gewohnheiten der
Gedankenverknüpfung mit Nothwendigkeit zu entwickeln; und zwar
dies zuerst als eine durchaus unbewusste Verfahrungsweise, bis schliesslich
die erwachende Keflexion die zu Tage tretende Kegelmässigkeit des
Verhaltens selbst zum Gegenstande des Vorstellen s erhebt, die bisher
geübte Praxis der theoretischen Betrachtung überweist.
So sind denn auch Speculation und Empirie nur die Theile oder
Grundformen eines und desselben Verfahrens, getrennt betrachtet einzig
für die Zwecke der theoretischen Logik. Bei näherem Zusehen ergibt sich
die Thatsache, dass schliesslich alle Vorsichtsmaassregeln, durch welche
das inductive Verfahren die einzelnen Schritte seines Weges von den ge-
gebenen Einzelwahrnehmungen zu den allgemeinen Gesetzen zu sichern
sucht, ihre Wurzel in den Einsichten haben, welche die deductive Logik
über die Umkehrbarkeit und Contraposition der Urtheile, über die Triftig-
keit der Schlüsse wie über die Formen des Beweises bietet. Andererseits
ist die Speculation, diese rein geistige „Anschauung" des Gemeinsamen,
Generellen einer Gruppe von Einzelvorgängen aus der unendlichen Mannig-
faltigkeit des Individuellen, Concreten kein „a priori", sondern einzig und
allein das Schlussergebnis der Abstraction, des Absehens vom Verschiedenen
des der „unmittelbaren" Beobachtung allein zugänglichen Singular- nicht
Massenphänomens oder Collectivums; wie Bacon (Nov. Organ. Art. 95)
treffend erklärt: „Die Wahrnehmung schafft den Stoff des Denkens, dieses
selbst aber vollzieht erst die Keinigung und Aussonderung^ des Allgemeinen
aus dem besonderen der Erfahrung, der Biene gleich, welche den Saft aus
den Blumen zieht, denselben aber durch ihre eigene Kraft behandelt und
verdaut"; eine Thatsache, welche in dem Widerstreit der Meinungen heute
vielfach übersehen wird, gerade darum auch das „punctum litis" abgibt,
indem eine jede sich das Verfahren der Biene Bacons allein zuschreibt; und
doch erklärt der klare Denker hiemit auch die inductive Forschung nur so
weit als eine fruchtbare, soweit sie die Geister zu deductiven Erklärungen
der Einzelphänomene, d. i. zur Einsicht in das typische, generelle Wesen
und die gesetzmässigen Zusammenhänge des Kealen befähigt.
Bei aller Anerkennung der Thatsache einer einheitlichen Logik und
der praktisch-psychischen üntrennbarkeit ihrer Grundformen darf aber nicht
übersehen werden, dass in der That sowohl im Individuum als in ganzen
Völkern und Entwicklungsperioden je nach natürlicher Anlage und ge-
schichtlichem Bildungsgange die Induction über die Deduction und um-
gekehrt diese über jene das üebergewicht behaupten könne. Bedarf es doch
Zur Methode der heutigen Social -Wissenschaft. 217
hiefür einzig der Erinnerung an Plato gegenüber dem Schüler Aristoteles;
oder als Beispiel aus der Eeihe nächst verwandter Völker der Neuzeit des Hin-
weises auf die vorwiegend deductive Literatur Schottlands im 17. und
18. Jahrhundert gegenüber der englischen derselben Periode. Zwei Nationen,
welche demselben Keiche angehören, dieselbe Sprache sprechen, als un-
mittelbare Nachbarn unausgesetzt mit einander verkehren, zum gi'össten
Theil dieselben Interessen pflegen, dieselben Bücher lesen, und doch dieser
nahezu unglaubliche, durchgreifende Widerstreit der Geistesrichtung!
Buckle, „Hist. of Civ. 11. Ch. 6." sieht den Grund hievon etwas einseitig
in der Theologie, deren rein deductive Beweisführung den schottischen Geist
jener Periode beherrscht. Allerdings lehrte die schottische Theologie geradezu,
Gott habe seine Wünsche den Menschen durch Syllogismen mitgetheilt
(Buckle, 1. c). So blieb denn auch das inductive, realistische Denken in
Schottland nahezu unterdrückt; und als endlich in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts auch dort eine weltliche Philosophie und Wissenschaft
erwachte, vermochte es selbst der Geist eines Hume und Adam Smith, ja
selbst ein Phj^siker Black und Leslie, ein Geologe Hutton u. A. nicht,
sich dem Uebergewicht der deductiven Denkrichtung zu entziehen, ein Beweis
wie mächtig die Denkübung in einer bestimmten Kichtung allmählich zur
Denkgewohnheit wird, und als solche den Geist gefangen hält^).
Buckle findet hierin gerade eine Aehnlichkeit schottischen und
deutschen Geistes, indem der letztere ebenfalls selbst in der weltlichen
Bewegung des 18. Jahrhunderts nicht inductiv zu werden vermochte, u. zw.
dies aus denselben Gründen wie in Schottland. Daher auch die so merk-
würdige Wechselwirkung zwischen schottischer und deutscher Philosophie,
wie sie in Kant und Hamilton zum höchsten Ausdruck kommt. Im
strengsten Gegensatz hiezu steht England, dessen grösste Denker während der
150 Jahre nach dem Tode Bacons vorwiegend inductiv verfahren. Erst im
gegenwärtigen Jahrhundert zeigte sich auch hier mit der Wiedererweckung
der alten Logik ein Hinneigen zur Deduction. Buckle bemerkt hiezu: „Mit
Kecht, denn in der langen Herrschaft des inductiven Verfahrens sind wir
zu einer Menge allgemeiner Sätze gelangt, welche wir nun ohne Gefahr
deductiv behandeln, als Vordersätze neuer Schlüsse oder Folgerungen an-
nehmen können".
Denselben Entwickelungsgang zeigt die Literatur Frankreichs, angeregt
von der Experimentalwissenschaft Englands aus der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts. Und in Deutschland scheint nach der grossartigen Ent-
wickelung der Naturwissenschaften seit kaum vier Decennien die Besinnung
auf die Gleichberechtigung und die nothwendige Mitherrschaft des deduc-
tiven Verfahrens selbst in den Kreisen der hervorragendsten Vertreter der
Induction mehr und mehr platzzugreifen. Als Beleg hiefür sei einzig
Wundt angeführt, welcher in seiner Logik (II. 242) erklärt: „Der Mythus,
dass Bacon der giosse Gesetzgeber naturwissenschaftlicher Methodik ge-
1) Vgl. hiezu neuestens H a s b a c h „Untersuchungen liber A. S m i t h".
Zeitschrift für Volkswii tschaft, Socialpolitik und Verwaltung. 11. Heft. 15
218 John.
vvesen sei, ist zwar allmählich im Verschwinden begriffen. Aber die durch
diesen Mythus lebendig gewordene Vorstellung, dass die Induction das
logische Instrument dei Naturforschung abgebe, dem sie alle ihre Erfolge
verdanke, ist noch vielfach geblieben. Es ist dies der Irrthum, dass all unser
Wissen einzig und allein der Erfahrung entstamme: darum die Forderung,
nur eine möglichst grosse Zahl fruchtbringender Erfahrungen zu sammeln
und zu ordnen; das Allgemeine, das Gesetz ergebe sich daraus von selbst.
Allein die Naturforschung verfährt thatsächlich nicht in dieser Weise,
sondern vorausgehend aller Sammlung von Thatsachen ist der schon von
Galilei nachdrücklich hervorgehobene Gedanke rein speculativen Ur-
sprungs, dass alles Geschehen in der Natur einfachsten Kegeln folge, dass
daher jede Untersuchung von Naturerscheinungen von möglichst einfachen
Annahmen ausgehen müsse."
Gemeiniglich wird das Ueberwiegen der Deduction gerade als der
durchgreifende Unterschied zwischen der antiken und der modernen Wissen-
schaft überhaupt angesehen, indem die letztere den Gehalt der Wahr-
nehmung so vollständig und genau als möglich wiederzugeben, jeden
Unterschied derselben im Prädicat möglichst bestimmt und specialisiert
zum Ausdruck zu bringen sucht. Diese von der modernen Wissenschaft
geforderte Congruenz der Aussage ist allerdings nur denkbar, wo die
Prädicate begrifflich auf ein mathematisch darstellbares Continuum zurück-
führbar sind, und ihren Ausdruck durch das Maass, durch möglichst genaue
Quantitätsdarstellung gestatten; soweit ferner unsere Fähigkeit reicht,
kleinere Unterschiede wahrzunehmen und der exacten Messung zu unter-
werfen. Erklärt doch Kant: „Nur so viel Mathematik in einem Wissen,
nur so viel ist Wissenschaft". Und von den Neuern bemerkt Herbert
Spencer in seinen „Principien der Psj^chologie", (deutsche Ausg. Vetter,
Cap. VIII, § 146): „Alle höher entwickelte Wissenschaft besteht im
Wesentlichen aus quantitativer Voraussagung; sie befasst sich mit ge-
messenen Kesultaten ..."
Diese quantitative Voraussagung ist nun wohl in der -exacten" Eichtung
der Natur- und Socialwissenschaft gegeben, nicht aber in der historisch-
statistischen oder realistischen, und zwar dies trotz der Ziffernreihen der
statistischen Forschung; denn das Absehen oder „isolirende" Abstrahieren des
Verschiedenen, Variabein gegenüber dem Constanten, Generellen in den be-
obachteten Individual-Erscheinungen ist genau ebenso das methodische
Charakteristikon der exacten oder abstracten Naturwissenschaft wie jenes der
Socialwissenschaft gleicher Richtung. So kann denn auch einzig diese methodisch
gleiche Richtung der Socialwissenschaft der „exacten" Naturwissenschaft adae-
quat genannt werden, nicht aber die „unmittelbare Beobachtung und Be-
schreibung" von Massen, von Collectivis oder Summen von Individualfällen und
Phänomenen; deren Analyse kann allein die „arithmetische" der Statistik er-
geben, welche einzig Partialsummen, und in letzter Reihe schliesslich wiederum
die Individualfälle oder Erscheinungen selbst als die additiven Elemente aller
Massenerscheinungen liefern kann; niemals aber das der Gruppe Gemeinsame,
Zur Methode der heutigen Social-Wissenschaft. 219
„Gattungsmässige", „Begriffliche", wie dies Lexis klar und unwiderleglich
sofort an der Spitze seiner „Theorie der Massenerscheinungen " entwickelt.
Es ist dieser Wesensunterschied der Individual- und Massenerscheinung der
Ausgangspunkt für die fundamentale logische Verschiedenheit der Beobach-
tung und Analyse wie der Ergebnisse beider methodischen Richtungen,
also der Cardinalpunkt ihrer logischen Differenz, in dessen U ebersehen auch
das gänzlich Aussichtslose, Erfolglose des bisherigen Streites gegeben war.
Die historisch-statistische Richtung übersieht gemeiniglich, dass der
.unmittelbaren" Beobachtung jederzeit nur das „Individuum", der Einzelfall,
zugänglich ist,^) dass die „exacte" Naturwissenschaft stricte dort zu Ende
ist, wo die „systematische Summen- oder Massenbeobachtung" der Statistik
und die „CoUectivbeschreibung" der Geschichte beginnt. Beispiel hiefür
ist die Meteorologie und Physiologie. Diese Analyse der Individual-
erscheinung, des Einzelfalles als des Elementes der Summen- oder Massen-
Phänomene vollzieht, wie ja die realistische Richtung dies gerade als
methodologischen Grundfehler hervorhebt, einzig die „exacte" oder „ab-
stracte" Socialforschung unserer Tage. Gleich der exacten Naturwissenschaft
geht auch die exacte Socialwissenschaft in ihrer Methode von der durch
Logik und Psychologie anerkannten, darum gänzlich unbestreitbaren That-
sache aus, dass das generelle Wesen und Gesetz einzig und allein im
Einzelfall, im Individual-Phänomen „concret" wird, somit auch allein in dieser
Erscheinungsform der von der realistischen Richtung so mit Nachdruck ge-
forderten „unmittelbaren Beobachtung" im strengen Wortsinne zugänglich
ist; dass gerade darum beide dieser exacten Wissenschaften das dieser
Beobachtung allein zugängliche Concrete, z. B. die Einzelwirtschaft, das
einzelne Individuum der Thierwelt, der Pflanzen- und Gesteinswelt, die
einzelne physikalische Erscheinung als Object ihrer Beobachtung und
Analyse betrachten. Dass im Gebiete der Menschenwelt Gesetz und
allgemeines generelles Wesen nur in der That des Individuums zum
Ausdruck kommen kann, dass die Beobachtung und Analyse dieses Thuns
des Individuums schliesslich als die Analyse einer Willensäusserung
auf die hier wirksamen psychischen Kräfte und Elemente treffen, somit
schliesslich den Charakter der psychologischen Beobachtung und Analyse
annehmen muss, das liegt jenseits des Willens des Socialforschers, es ist
ihm in der Natur des Objectes gegeben und durch dieselbe bedingt.
So erklärt Wundt, Log. II. 481: „Die Geisteswissenschaften ruhen
auf der Psychologie als ihrem letzten Fundament. Zwar werden Geschichte
und Statistik ihre Thatsachen ohne Psychologie zu sammeln vermögen;
allein jeder Versuch einer Interpretation derselben muss zu psychologischen
Motiven seine Zuflucht nehmen." Dasselbe gilt für die Analyse und die
Anwendung der Wirtschafts- und Rechtsbegriff'e. Die Psychologie bietet
den einzelnen Geisteswissenschaften die Principien und die Methoden, die
Gesichts- und Ausgangspunkte. Nach der Natur ihrer Probleme und
') F. Wundt, Log. IL, 459: „Die System. Begriffe der Biologie."
15=
220 Jo^»-
Methoden ist die Psychologie geradezu die Brücke zwischen den Natur-
und Geisteswissenschaften. Dass die Geisteswissenschaften heut noch aus-
namslos im ersten Stadium ihrer Entwicklung stehen; dass ganz besonders
die Psychologie selbst, deren „Fundament", kaum ergriffen ist von dem
Strome der exact-empirischen Forschung, vermag an der von der logischen
Natur dieser Wissenschaft vorgezeichneten Aufgabe nichts zu ändern. „Was
in jedem Augenblick für uns psychologisch die grösste Gewissheit hat, das
gilt uns als der zuverlässigste Punkt, von dem aus die übrigen schwan-
kenden Gedanken festzustellen sind." Lotze, Log. 481. Dagegen weist
Sigwart in seiner eingehenden Analyse des „Inductionsverfahrens" (Log. IL
532 ff.) der Geschichte das gänzlich unabänderliche Geschick zu, dass sie
ihrem wesentlichen wissenschaftlichen Charakter nach stets bleiben müsse,
was sie immer gewesen, die Erzählung von Thatsachen, welche in ihrer
individuellen Gestaltung unberechenbar, in ihrer causalen Verkettung nur
mit Hilfe jener Erfahrungen entwirrbar wird, die wir über den Zusamm^en-
hang von Zwecken und Motiven, über die Art, wie die menschlichen
Thätigkeiten aus dem Innern des Menschen hervorgehen, da machen, wo
uns der Zusammenhang soweit als m.öglich erschlossen vorliegt."
„Eine Aufstellung eigentlicher Gesetze kann immer nur die Thätigkeit der
wirksamen Einheiten, der Individuen betreffen, und muss zu ihrer Basis die
Psychologie haben."
Es ist in hohem Grade interessant, wie die Berechtigung der psychi-
schen Analyse gegenüber den Erscheinungen des socialen Lebens gerade von
Schmoller scharf betont wird. So in seiner Besprechung der methodo-
logischen Ausführungen bei Knies, welche den Gegensatz der Natur- und
Socialerscheinungen in dem Moment der Entwickelung finden. In der Natur
nach Knies allezeit die Wiederholung des Gleichen; in der Menschenwelt
eine Entwickelung, welche diese Wiederholung des Gleichen geradezu aus-
schliesst. Schmoller sieht den Grundfehler der Argumentation bei Knies
darin, dass er diese Unterscheidung mit der Frage der Gesetzmässigkeit
identificiere. Auch die Natur zeige die Thatsache der Entwickelung, nicht
bloss jene der steten Wiederholung; es bedürfe hiefür nur des Hinweises
auf die von Darwin so überreich gebotenen Belege; aber auch in der
Natur erfolge die Entwickelung auf dem Grunde strenger Gesetzmässigkeit.
Dasselbe betont Schmoller gegen Knies in der socialen Welt: „Wenn
also, weil die Entwickelung immer neue Combinationen psychischer und
socialer Kräfte als wirkende Ursachen auf die Bühne der Geschichte führt,
die Erscheinungen des socialen Lebens jüngerer Völker nie dieselben sein
können, wie die älterer, so möchte ich diese Thatsache nicht so erklären,
es gebe auf diesem Gebiete nur Gesetze der Analogie, keinen sich immer
•gleichbleibenden Causalnexus; ich behaupte, dass wir auch auf psychologi-
schem Gebiete einen immer gleichen Causalnexus annehmen müssen;
freilich sind die psychologischen Gesetze der Motivation andere, als die
Naturgesetze der äussern Welt; aber der Satz der Causalität gilt in seiner
unerbittlichen Nothwendigkeit für beide Gebiete gleichmässig, während es
Zur Methode der heutigen Social -Wissenschaft. 221
bei Knies öfter den Anschein habe, als ob er ihn für das „personale
Element" historischer Verursachung leugnen wollte. Direct thue das allerdings
dieser tiefe Denker auch nicht, doch lasse er sich über die psychologische
Verursachung nicht näher aus ..." Sofort aber rühmt Schmoller an
Knies auch ganz besonders das Feingefühl für die psychischen Massen-
erscheinungen; gerade hierin zeige er sich als der „echte" Jünger eines
N i e b u h r und S a v i g n y, als der theoretische Begründer der historisch-
psychologischen Nationalökonomie, welcher den Gegensatz derselben zu Adam
Smith und Ricardo nach Seh moller noch tiefer fasste, als selbst
Röscher und Hildebrand. Die Herbart-Lazaru s'schen Gedanken
über Massenpsychologie, verkörpert in dem Volkspsychologen Bastian,
und der gänzlich unfassbare „National- Geist" der historischen Rechtsschule
scheinen auch Schmoller zu tief ins Blut gegangen zu sein, als dass
er noch rückhaltslos die kurz vorher betonte Individual-Psychologie zu
schätzen und zuzugestehen vermöchte, dass alle Massen endlich nicht nur aus
Elementen bestehen, sondern durch dieselben auch schliesslich allein be-
stimmt und charakterisiert werden, so dass eine Einsicht in den Zusammen-
hang und das Wesen von Massen aller Art, die Collectiv-Phänomene der
socialen Welt nicht ausgenommen, einzig im Wege der Individualanalyse,
im Gebiete der Geisteswissenschaften mit Hilfe der Individual-Psychologie
gewonnen werden kann.
Dem gegenüber erklärt der jüngst auf den Plan tretende Schüler W.
B ö h m e r t, dass gerade die Phänomene der Individual-Psychologie keinerlei
Messung, mindestens keine Möglichkeit einer isolierten Betrachtung und
hiemit einer experimentellen Behandlung bieten, dass darum auch keine
ernste Theorie derselben denkbar sei. („Stanley Jevons und seine Be-
deutung für die Volkswirtschaftslehre Englands." Schmoller's Jahrb. 1891.)
Ganz in demselben Sinne äussert sich E. Hasbach in seinen von
hohem Standpunkt ausgeführten „Untersuchungen über Adam Smith und
die Entwickelung der politischen Oekonomie" (1891), der Fortsetzung seiner
vielseitig anregenden Studie über „die philosophischen Grundlagen der von
Fran9ois Q u e s n a y und Adam Smith begründeten politischen Oekonomie" .
Hasbach erklärt es zwar, mit Nachdruck als ein arges Missverständnis,
den Vertretern der Induction die Thorheit zuzumuthen, sie seien gegen die
Anwendung der Deduction als solcher. Einzig die sogenannte Methode der
isolierenden Abstraction, ausgehend von angenommenen Ursachen, welche
nothwendigerweise mit der Wirklichkeit nur wenig übereinstimmen, nur
diese fälschlich als hypothetisch-deductives Verfahren bezeichnete Methode
müsse die realistische Schule bekämpfen, weil sie von Ursachen ausgehe,
welche mit der Wirklichkeit nur wenig übereinstimmen. Als wenn die
Collectiv-Phänomene Staat, Volk, Gesellschaft der Geschichte, oder die
Durchschnittswerte der Statistik, oder auch nur die Generalisierungen der
Naturwissenschaften als „Realitäten" bezeichnet werden könnten^); oder aber
'j F. Wundt, Log. II., 459 und passim.
222 Jol^»-
die bis auf die Alten zurückreichende Logik und Ethik, ebenso die Kechts-
und Staatswissenschaft, ja die Psychologie selbst und alle Geisteswissen-
schaften überhaupt zur Entstehung und Ausbildung gekommen wären, wenn
nicht die isolierende Betrachtung und Behandlung des in einer jeden der-
selben maassgebenden Grundtriebes der menschlichen Natur, das „abstracto",
im strengen Denken vollzogene Experiment auf dem Grunde der Beobach-
tung, der „Experientia", thatsächlichlich ausgeführt worden wäre; u. zw.
dies unter günstigeren Bedingungen, als diese Beobachtung gegenüber den
Phänomenen der natürlichen Welt denkbar ist; denn in dieser uns äusser-
lich gegenüberstehenden Welt sind wir beschränkt auf die Wahrnehmung
und Analyse rein äusserer Merkmale; in den Geisteswissenschaften dagegen
will der Mensch sich selbst erkennen lernen; sein eigen Thun und Leben
ist der Gegenstand einer wahrhaft „unmittelbaren" Beobachtung, wie sie
von der realistischen Eichtung so unablässig gefordert wird.^)
K. Menger erklärt nachdrücklichst: „In den exacten Social- Wissen-
schaften sind die menschlichen Individuen und ihre Bestrebungen, diese letzten
Elemente unserer Analyse empirischer Natur, die exacten theoretischen
Social- Wissenschaften somit in grossem Vortheil gegenüber den exacten
Naturwissenschaften", deren letzte Elemente, die „Atome" und „Kräfte"
durchaus „unempirisch", thatsächlich nach der von Hasbach principiell
zurückgewiesenen Methode der „isolierenden" Abstraction, des „hypothetisch-
deductiven" Verfahrens gewonnen sind. Aus diesen „angenommenen"
Ursachen schreitet auch die exacte Naturforschung zu den Wirkungen vor,
die selbst wiederum ganz nothwendi gerweise mit der Wirklichkeit nur wenig
übereinstimmen. " ^)
Betont doch schon Knapp in seinem geistvollen Vortrag: „Darwin
und die Socialwissenschaften" (Conrad's Jahrb. 1872): „Nicht Aehnlichkeit
der Objecto, sondern der Betrachtungsweisen liegen zwischen der Social-
1) „Der Hauptsache nach obliegt es den Geisteswissenschaften, zu beschreiben, was
durch die Menschen geschieht; sie haben ein knappes, geordnetes, Uebersicht und Ueber-
Jegung förderndes Inventar der mannigfaltigen Lebensäusserungen auszuarbeiten. Insoweit
berühren sie nirgends etwas Neues; Alles, worauf sie stossen, ist ein Bekanntes, muss
von irgend Jemand erlebt sein, in irgend Jemandes Bewusstsein schon einmal auf-
geleuchtet haben. Ihre Hauptaufgabe ist es, aus Acten des Bewusstseins, die bisher
vorzugsweise dem praktischen Gefühl vertraut waren, d. h. mit Rücksicht auf immer
wiederkehrende Situationen und oft herbeigeführte Erfolge vertraut, und hiebei so dunkel
und so von der zufälligen Erregung abhängig waren, wie das Gefühl selbst, klar gefasste,
und immer gegenwärtige Erkenntnisse abzuleiten, welche dem Verstände endgiltig
gesichert sind." v. Wies er, „Ueber den Ursprung und die Hauptgesetze des wirtschaft-
lichen Wertes." § 4.
-) Vgl. K. M e n g e r, „Untersuchungen über die Methode der Social- Wissen-
schaften". S. 54 mit S. 157 und Anm. 51; in Letzterer ist auch der von der realistischen
Richtung stets wiederholte Irrthum A. Comte's zurückgewiesen, dass die socialen
Phänomene gegenüber den natürlichen die „complicirteren", die Probleme der Social-
wissenschaft darum die schwierigeren seien ; nur müsse die exacte Methode der Natur-
wissenschaften, unmittelbar hier durchaus unanwendbar, durch die exacte „socialwissen-
schaftliche" ersetzt werden.
Zur Methode der heutigen Social -Wissenschaft. 223
Wissenschaft und der neuern Zoologie; und nicht Producte, sondern Vor-
läufer der Darwin 'sehen Theorie sind die Social wissen Schäften." Sogar die
Schreibweise, das Princip an der Spitze, und dann ohne Scheu "vor Wieder-
holungen, die Menge der Thatsachen als Beleg, habe Darwin mit Malthus
gemein, „der seinerseits wieder sich stark an Smith anlehnt" (1. c. S. 236).
Gegen den trotz aller Widerlegung seitens der Naturwissenschaft und
Logik immer wiederkehrenden Einwurf der realistisch-empirischen Schule,
dass die Ergebnisse des exacten Denkens nicht mit der vollen Wirklichkeit
übereinstimmen, kann abgesehen von Menger's obcit. Untersuchungen auch
Ueberweg (Logik, IIL Aufl. §. 84 Anm.) aufgeführt werden. Derselbe be-
merkt gegen die geringschätzige Art, in welcher Hoppe (Logik) von dem
Denken nach dem Schema spricht: „Mit gleichem Kecht könnte man die
mathematisch-mechanische Betrachtung als einseitig und willkürlich schelten,
wenn sie untersucht, was aus gewissen „einfachen" Voraussetzungen folgt,
und dabei von andern Datis absieht, von welchen jene in der Wirklichkeit
nicht abgesondert vorzukommen pflegen; wenn sie z. B. die Bahn und die
Stelle des Falles eines irgendwie geworfenen Körpers nur auf Grund der
Gravitation und der Beharrung berechnet, ohne den Miteinfluss des Luft-
widerstandes zu erwägen, so dass die concrete Anschauung das Kesultat
genauer zu bestimmen scheint und über die Kechnung zu triumphieren ver-
mag: wollte aber die mathematische Mechanik jenes abstractive . Verfahren
nicht üben, so würde sie die Bewegungsgesetze überhaupt nicht zu erkennen
vermögen und die Wissenschaft würde aufgehoben sein."
Und Wundt weist in seiner Logik (IL 235 ff.) sehr eingehend nach,
dass nicht nur die alte antike Atomistik ein rein speculatives Gebäude war,
sondern dass ebenso der Grundgedanke der mechanischen Physik Galilei's
ebensowenig unmittelbar und ausschliesslich der Erfahrung entnommen ist,
wie die Begriffe der Dynamis und Energie bei Aristoteles. Ganz in der-
selben Weise seien die Atome nur eine physikalische Abstraction. Und
ebenso noihwendig führe schon der erste Schritt der Psychologie, die Ana-
lyse unserer Vorstellungen darauf, dass die einfachen Vorstellungen, diese
Elemente unseres wirklichen Vorstellens, nur ein Product psychologischer
Abstraction sind, in der Erfahrung nirgends gegeben. Welchen Kechtsgrund
habe nun die Psychologie, derartige Abstracta überhaupt in Kechnung zu
ziehen, si^ als Elemente alles wirklichen erfahrungsgemässen Vorstellens
festzuhalten? Hierauf antworte diese Wissenschaft mit dem Hinweis auf die
neuere chemische Theorie , nach welcher die chemisch-einfachen Körper
bereits als Verbindungen gleichartiger Elemente erscheinen, welche chemischen
Elemente darnach ebenfalls niemals in isolirtem Zustande vorkommen,
niemals „real" erscheinen, trotzdem aber von der Theorie consequent als
real, als wirklich existent angesehen werden, da sie Verbindungen eingehen,
welche constante Wirkungen üben."
Dieser strenge „Empirist" resumirt selbst als letztes Ergebnis seiner
Analyse der gesammten Erfahrungswissenschaft nur Abstractionen, nicht
Ergebnisse realer Zerlegung, u. zw. dies selbst in den experimentellen Wissen-
224 Jobn.
Schäften e. S. „Ist doch der Obersatz derselben, die Vorstellung, dass die
Aussenwelt ihrem Inhalt sowohl wie ihrer Form nach erst das Product der
Erfahrung sei, selbst nur eine Annahme. Ebenso hypothetisch ist der Satz
der genetischen Theorie, dass unsere Elementar-Vorstellungen mit den reinen
Empfindungen identisch seien."
Man niuss sich eben auch im Gebiete der Geisteswissenschaften mit
der nach Lotze in unserem psychischen Mechanismus begründeten That-
sache befreunden, dass alle unsere theoretische Einsicht, unser „exactes",
gesetzmässiges Wissen seiner logischen und psychologischen Natur nach
ein hypothetisches ist, dass jede exacte Theorie nur erklärt, was „unter
bestimmten Voraussetzungen" gesetzmässig erfolgt, ohne zu behaupten,
dass diese Voraussetzungen thatsächlich eintreten, oder dass alle Variationen
der Voraussetzungen verwirklicht sind. So erklärt die mechanische Theorie
der Gase, dass, wenn ein Körper ein Gas ist, er unter bestimmten Gesetzen
des Druckes, der Wärmecapacität. der Wärmeausdehnung, steht; wie
vielerlei Gase es gibt, wie viele chemische Differenzen derselben, davon
wird durchaus abgesehen: diese aufzuzählen oder zu verfolgen ist nicht die
Aufgabe der mechanischen Theorie der Gase.
In gleicher Weise muss es der exacten theoretischen Nationalökonomie
z. B. zustehen, von allen nicht-wirtschaftlichen Trieben, Bestrebungen,
Handlungen des Menschen zu abstrahieren, einzig die wirtschaftliche Seite
des menschlichen Handelns als ihr Untersuchungsgebiet festzuhalten, wenn
sie zum Eange einer selbständigen theoretischen Wissenschaft aufsteigen will.
Das aber ist niemals auf dem Wege der unmittelbaren Beobachtung
allein möglich: denn da die Beziehung der sinnlich wahrnehmbaren Eigen-
schaften, Grössenverhältnisse und Veränderungen und Vorgänge auf die von
unserem Erkenntnisbedürfnis postulierte Einheitlichkeit nur durch die
räumliche und zeitliche Synthese, sowie dujch eine Synthese der ver-
schieden Empfindungsinhalte zu einem Ganzen denkbar ist, so kann
die unmittelbare Beobachtung, die Wahrnehmung direct jederzeit nur zur
Beschreibung der Dinge und Phänomene führen. Das allein ist es, was die
Geschichte zu leisten vermag; die Beschreibung der Ereignisse und That-
sachen in ihrer Entwickelung. Dasselbe gilt aber ebenso für die Statistik;
trotz ihrer täglich anwachsenden Ziffercolonnen ist diese ebenfalls nur eine
vorwiegend descriptive Hilfsdisciplin der Induction. So weist Wundt,
Log. II. 582 ausführlich nach, wie auch die Statistik nur zur „quali-
tativen Darstellung" gelangt; ebenso wie das „Gesetz der grossen Zahl"
zwar eine Abstraction, niemals aber ein „Gesetz" e. S. genannt werden dürfe.
Lexis führt in seiner „Theorie der Massenerscheinungen" aus, wie die
statistischen Zahlenreihen zur Darstellung der historischen Entwicklung einer
speciellen wirtschaftlichen Erscheinung; z. B. der Kohlen- und Eisen-
industrie, der Baumwollfabrication in einem Lande und Zeitraum dienen;
oder dazu, vermuthete Beziehungen zwischen verschiedenen Keihen wirt-
schaftlicher Erscheinungen zu bestätigen; „auch die Volkswirtschaftslehre
sieht in solchen Nachweisen nur insofern einen Gewinn, als sie den
Zur Methode der heutigen Social -Wissenschaft. 225
statistisch beobachteten Zusammenhang aus allgemeinen Gründen zu er-
klären vermag." „Auch zur Messung der Abweichung der realen wirtschaft-
lichen Massenerscheinungen von den durch die Theorie gewonnenen ab-
stracten Typen derselben", sei die Statistik befähigt, soweit die* im
Wege der exacten Forschung gewonnenen theoretischen Einsichten in
den gesetzlichen Zusammenhang der socialen Erscheinungen der Statistik
überhaupt als Leitstern dienen. Es wird dieser Mangel einer derartig be-
friedigend fundirten Theorie heut ganz besonders schwer vermisst in der
Preis- und Lohnstatistik, welche von der Massen- zur Individualerhebung,
von dieser zum Durchschnitt und von diesem wieder zur Individualisierung
schreitend, bis heut vergebens zu wissenschaftlich und praktisch befriedi-
genden Einsichten zu gelangen sucht.
So ist es wohl erklärlich, dass selbst in den nach Geschichte und
Bildungsgang durchaus „realistischen" Volkswirten Amerikas gerade in
diesen Problemen der heutigen Wirtschaftswissenschaft sich immer mehr
das Bedürfnis einer befriedigenderen theoretischen Erkenntnis der so viel
verschlungenen Zusammenhänge dieser Zeitfragen geltend macht. So bemerkt
Professor Clark: „Bei unserem Forschen nach einem Gesetz des Arbeits-
lohnes ruht unsere Hoffnung auf Erfolg einzig darauf, dass wir mit einer
erbai-mungslosen („remorselessly") theoretischen Untersuchung beginnen. Es
kommt einmal eine Zeit, um auch jene „praktischen Thatsachen" zu berück-
sichtigen, welche die Wirksamkeit der abstracten Gesetze an tausend
Punkten stören; aber diese Zeit ist nicht dann gekommen, wenn das
Object der Forschung noch das fundamentale Gesetz selbst ist. Bei der
Erforschung eines noch unbekannten Gesetzes müssen die störenden Ein-
flüsse vernachlässigt werden. Ist das Gesetz gefunden, dann muss man
auch diese Einflüsse beachten und messen."
Aehnlich Professor Stuart Wood in seiner „Theory of Wages": „Ich
glaube, dass es von Vortheil ist, die Wirkungen verschiedener Ursachen
gesondert zu betrachten und jene Tendenzen, die im Leben unentwirrbar
zusammengemischt erscheinen, wenigstens in Gedanken zu sondern."
Die in allen Wissensgebieten als unerlässliches Fundament angestrebte
exacte theoretische Erkenntnis der Zusammenhänge auch für die dem Menschen
zu allernächst liegenden socialen Phänomenen zu gewinnen, dazu ist die noch
so eifrig gepflegte Geschichte und Statistik deshalb nicht befähigt, weil
beide ihrer methodologischen Natur nach einzig qualitative Erkenntnisse
des Bestehencten liefern, beide vornehmlich descriptive Wissenschaften sind.
Ebensowenig aber vermag auch die noch so scharf eindringende Kritik des
Bestehenden mit den geistvollsten Ausblicken auf die zukünftige Gestaltung der
unbefriedigenden Gegenwart die wissenchaftlich klare, fest begründete Theorie
zu ersetzen. Kritik wurde zu allen Zeiten, in ganz ausgezeichneter Weise schon
von den Alten an den socialen Verhältnissen und Institutionen geübt, ohne
dass deshalb schon eine tiefere theoretische Einsicht gewonnen worden wäre.
So bemüht sich Xenophon im „Oikonomikos", uns den Grund klar zu
machen, warum bei dem Volke der Griechen seinerzeit die handwerks-
226 Jolm.
massigen Gewerbe, die vorwiegend manuelle Thätigkeit des Menschen so
missachtet und gemieden war. „Sie zerstört Gesundheit und Körper ihrer
Arbeiter, denn die einen müssen ganze Tage am Feuer sitzen, andere
ebenso lange sich an feuchtkühlen Orten aufhalten und wieder andere be-
ständig sitzen. Sind aber die Leiber entkräftet und verunstaltet, so wird
die Seele es nicht minder. Und woher sollen die Handwerker überdies die
Zeit gewinnen zu ihrer Bildung, woher die Zeit finden für ihre Freunde."
Und mit wahrhaft souveräner Verachtung spricht Cicero (De offic. I. 42)
vom Handel. „Wird derselbe im Kleinen betrieben, ist er ein schmutziges
Geschäft; gebietet er über grosse Mittel, so taugt er nicht viel mehr; denn
ohne zu lügen und zu betrügen machen die Kaufleute keinen Gewinn."
Und trotz dieser Kritik besteht Handel und Handwerk bis heute wie
ehedem; trotz des sich selbst bewegenden Weberschiffchens sehen wir eine
verhältnismässig hohe Quote der Menschheit im Dienste der Production und
des intermediären Stoffwechsels gebunden; ein Beweis, dass Ausgangspunkt
und Endziel aller menschlichen Wirtschaft in letzter Keihe durch die ewig
gleichen, unverwischbaren Grundzüge der Menschennatur einerseits und die
Begrenztheit der uns gegenständlichen Natur andererseits streng determinirt
sind; dass darum auch die letzten Zusammenhänge dieser Wirtschaft ihre
typische, exact messbare Entwickelung aufzeigen müssen, welche ebenso das
Problem einer exacten theoretischen Menschheitswissenschaft bilden, wie die
exact messbaren Causalzusammenhänge im Reich der natürlichen Schöpfung
sich in der theoretischen Naturwissenschaft widerspiegeln. Es sind deshalb die
in dieser Richtung vielseitig anregenden neuesten englisch -amerikanischen
Publicationen, so ganz vornemlich die „Principles of Political Economy" von
Prof. Marshall, Patten's Versuch einer Theorie der Consumtion und die
hiemit zusammenhängenden Special-Untersuchungen der englisch-amerikani-
schen Literatur^) als die Fortbildung der von K. Menger und Stanley
Jevons neu begründeten exacten theoretischen Forschung der Socialwissen-
schatt freudig zu begrüssen.
1) Es sei hiefiir nur auf den reichen Inhalt des von Prof. Edgeworth (Oxford)
redigierten „Journal of the British Economic Association," auf die aufstrebenden „Annais
of the American Academy of Political and Social Science" und die hieher gehörige
Monographie- und Uebersetzungs-Literatur hingewiesen.
ÜBEE MELIOßATIONSCREDIT MIT BESONDERER
RÜCKSICHT AUF ÖSTERREICH.^)
VON
\
DK- ALBIN BRAF,
PROF. AN DER BÖHM. UNIVERSITÄT IN PRAG.
Das Reichsgesetz vom 30. Juni 1884, betreffend die Förderung der
Landescuitur auf dem Gebiete des Wasserbaues, hat für die Entwickelung
des landwirtschaftlichen Meliorationswesens in Oesterreich einen Wendepunkt
gebildet, indem es auf fester Grundlage ein System öffentlicher Beihilfen
für eine Gruppe der wichtigsten einschlägigen Arbeiten schuf. Gleichwohl
hat dieses Gesetz — selbst mit Zurechnung desjenigen über die unschäd-
liche Ableitung der Gebirgswässer — nur einen Theil eines weit umfassen-
deren Programmes zur Ausführung gebracht, dessen allgemeine Umrisse in
den Motiven des Regierungsentwurfes entwickelt worden waren. § 1 des
Entwurfes hatte nämlich eine Classificierung der einschlägigen Meliorationen
vorgenommen und dabei unterschieden : Meliorationen erster Ordnung, zu
w^elchen er Regulierungen von Flüssen in erheblichen Strecken und Ent-
oder Bewässerungen grösserer Landstriche durch bauliche Herstellungen
von erheblichem Aufwand rechnete — Meliorationen zweiter Ordnung, unter
welche namentlich Herstellungen im Quellengebiet zur Hintanhaltung von
Abschwemmungen und Geschiebebewegungen, locale Schutzherstellungen an
Flüssen, Regulierungen von kleinen Gewässern eingereiht wurden — endlich
Meliorationen dritter Ordnung, „bei welchen das öffentliche Interesse unmit-
telbar nicht berührt erscheint, wie insbesondere locale Schutzbauten und
Ent- oder Bewässerungsanlagen zum Yortheile einzelner Grundcomplexe oder
Grundstücke, mögen sich diese Herstellungen Meliorationen höherer Ord-
nung anschliessen oder ein selbständiges Unternehmen bilden."
1) Vorliegende Abhandlung enthält die Zusammenfassung der Ergebnisse einer
vom Autor im Jahre 1890 zu Prag in böhm. Sprache verüfFentlichten ausführlichen Mono-
graphie über Meliorationscredit.
22S B^''^f-
In Rücksicht der letztgenannten Gruppe, der „Meliorationen dritter
Ordnung" des Entwurfs, bemerkten die Motive, da sie unmittelbare Förde-
rung derselben aus Staatsmitteln für unthunlich hielten, es bleibe „eine
der dankbarsten Aufgaben der einzelnen Länder im Anschlüsse an bereits
bestehende Landesanstalten für den Bodencredit oder duich selbständige
Landesanstalten oder unter Heranziehung anderer öffentlicher Creditanstalten
Einrichtungen zu treffen, durch welche dem Landwirte ermöglicht wird,
thunlichst billige, unkündbare und in angemessener Weise amortisierbare
Darlehen zur Ausführung solcher Meliorationen zu erlangen, eine Aufgabe,
mit der sich bekanntlich in einigen österreichischen Ländern bereits befasst
wird. Sobald — heisst es weiter — die Verhandlungen in dieser Richtung
eine concretere Gestalt angenommen haben werden, wird allerdings auch an
die Regierung und Reichsgesetzgebung die Aufgabe herantreten, über die
Begünstigungen schlüssig zu werden, mit welcher solche Darlehen in finan-
zieller und vielleicht auch in civilrechtlicher Hinsicht ausgestattet werden
könnten."
In der That war es namentlich dem Beispiele des kurz zuvor erlassenen
preussischen Gesetzes über die Errichtung von Landescultur-Rentenbanken
zu danken, dass alsbald in einigen österreichischen Ländern Vorschläge ge-
macht wurden, Landescultur-Rentenbanken als Landesanstalten zu gründen,
So zunächst in Vorarlberg und Steiermark. Im Vorarlberger Landtage brachte
1881 Ritter v. TschavoU einen Entwurf^) ein, der sich wesentlich an das
preussische Muster anlehnte; dem steiermärkischen vom Landesausschusse
selbst im Jahre 1882 ausgearbeiteten Entwürfe^) diente hauptsächlich das
ältere sächsische Gesetz als Vorbild. In beiden Fällen blieb es beinj blossen
Anlauf und nicht günstiger war das Schicksal einer im Jahre 1887 im
mährischen Landtage beschlossenen Resolution ^). Erst die im Jahre 1889
ins Leben gerufene böhmische Landesbank finden wir mit speciellen Ein-
richtungen für Meliorationscredit ausgestattet. Fast gleichzeitig hat Ungarn
— durch Gesetzartikel XXX vom Jahre 1889 — die Grundlagen zu einer
selbständigen Organisation des Flussregulierungs- und Bodenmeliorations-
credits gelegt. Es ist zu gewärtigen, dass die in einigen Ländern unter-
dessen durchgeführte oder in Angriff genommene bessere Regelung des
culturtechnischen Dienstes, die zunehmende Pflege des culturtechnischen
Unterrichts und die höhere Dotierung des Meliorationsfonds auch auf dem
Gebiete des Meliorationscredits zu neuen Versuchen Anlass geben wird.
Das Studium dieses eminent neuzeitlichen Specialzweiges der Creditorgani-
') Veröffentlicht unter dem Titel „Die Landescultur-Kentenbanken ein Mittel zur
Hebung der Bodeneultur" von Ritter v. TschavoU.
-) Steierm. Landtag, V. Landtagsperiode, IV. Session, Beil. Nr. 19. 1882.
^) Mährische Landtagsberichte von 1887, Z. 409 und 726. — Nach § 7 des neuen
Statuts der mährischen Hypothekenbank i^vom 26. Juni 1890) kann die Hälfte des
Reservefondes zu Bardarlehen an Gemeinden, Strassenausschüsse und Wassergenossen-
schaften verwendet werden. — Auch die galizische Landesbank kann statutengemäss
Meliorationsdarlehen gewähren, hat aber kein besonderes Regulativ hiefür.
üeber Meliorationscreclit mit besonderer Rücksicht auf Oesterreich. 229
sation kann also gegenwärtig für Oesterreich nicht ohne Interesse und
Nutzen sein. Zwar wurde er bisher von der Fachliteratur wenig beachtet.
Allein es liegt in den theilweise schon seit Decennien in Wirksamkeit
stehenden fremdländischen Institutionen ein reichhaltiges und belehrendes
Material vor, das nur gesichtet und dienstbar gemacht werden will. Da das
wirtschaftliche Wesen des Meliorationscredits überall das Gleiche bleibt, so
kann man auch von vorneherein annehmen, dass die diesem Wesen ent-
springenden banktechnischen Einrichtungen überall die gleiche Grundstructur
aufweisen Averden. Die bedeutendsten Abweichungen haben ihre Ursachen
nicht so sehr auf wirtschaftlichem, als vielmehr auf rechtlichem Gebiete.
Der Begriff der Bodenmelioration wird sowohl in der technischen
Fachliteratur, als auch in der Legislation in verschiedenem Umfange ge-
braucht. W^ährend beispielsweise die Techniker vielfach geneigt sind, dabei,
wenn nicht ausschliesslich, so doch hauptsächlich an solche Arbeiten zu
denken, welche mit W^asserbauten zusammenhängen, gehen die beiden eng-
lischen Agricultural Holdings Acts von 1875 und 1883 so weit, auch die
blosse Düngung mit nicht aufgelöstem Knochenmehl, gebrannter Erde, Kalk,
Thon u. s. w. den „improvements of land" beizuzählen. Allerdings beziehen
sich diese letztgenannten Gesetze lediglich auf die Ersatzansprüche des
Pächters wegen vorgenommener Bodenverbesserungen, deren Wiedererstattung
aus den Erträgnissen des gepachteten Objectes ihm durch vorzeitige Kündigung
unmöglich gemacht wurde. Soweit Fragen des Meliorationscredits in Betracht
kommen, erscheint der Begriff von Bodenmeliorationen allgemein auch in
den englischen Gesetzen enger gefasst. Die dort, sowie in den ähnliche
Zwecke verfolgenden Gesetzen anderer Staaten aufgezählten Meliorationsarten
lassen sich charakterisieren als Capitalverwendungen, welche entweder ganz neue
Quellen des Ertrags schaffen — Urbarmachungen bisher ganz unproductiven
Bodens — oder bei bereits Ertrag lieferndem Boden eine relativ dauernde
Grundlage der Ertragssteigerung bewirken. Allerdings gäbe der Ausdruck
„relativ dauernd"' noch keine genaue Umgrenzung. Man wird wohl nicht
fehlgehen, wenn man ihn dahin näher deutet, dass damit Zeiträume gemeint
erscheinen, welche über den Umfang der bei höchstintensiven Feldbau-
betrieben vorkommenden Turnusperioden hinausgehen, ja in der Mehrzahl
der wichtigsten Fälle sich über eine Keihe derselben erstrecken i).
Dabei kann die „relativ dauernde" Ertragssteigerung bewirkt werden;
1. Durch Einrichtungen, welche schädliche, mehr oder minder regel-
mässig eintretende Einflüsse verhindern (Schutzdeiche, Thalsperren u. dgl.) oder
^) Wenn Pereis in seinen sehr belehrenden „Abhandlungen über Culturtechnik"
(Jena 1889, S. 121) von der Drainage behauptet, die Dauer derselben könne als fast
unbegrenzt angesehen werden, so gilt das freilich nur unter den dort angeführten zahl-
reichen Voraussetzungen. In der noch weiter unten zu berührenden englischen Enquöte
vom Jahre 1873 wurde eine Menge Sachverständigerangaben über die Durchschnittsdauer
verschiedener Meliorationsarten, auch der Drainage, niedergelegt. Knauers berühmt
gewordener Artikel über die Drainage in Fühlings „Neue landw. Zeitung" (1868) gibt
die Dauer der Drainageeinrichtungen mit 20—30, ja bis 40 Jahren an.
230 Bräf.
2. durch solche, welche bei unveränderten Bedingungen des Rohertrages
eine Ersparnis der Productionskosten herbeiführen (Transportcanäle, Feld-
oder Waldwege, Holztriften) oder endlich
3. durch Veranstaltungen, welche gleichzeitig den Roh- und Reinertrag,
den letzteren der Regel nach in vergleichsweise höherem Maasse steigern
(Ent- oder Bewässerungen, Bodenbereinigungen u. v. a.).
Auf diese Gesichtspunkte wäre wenigstens eine wirtschaftliche
Classification der Bodenmeliorationen, im Gegensatze zu den in technischen
Schriften von dem betreffenden Fachstandpunkte aufgestellten, zurückzu-
führen. In der Wirklichkeit werden allerdings Combinationen der hier auf-
gestellten Grundtypen die häufigsten Fälle bilden. So tendieren beispiels-
weise unsere heutigen Regulierungen kleinerer Wasserläufe immer mehr
dahin, das Schutzmoment mit der positiven Ausnützung des Wassers zu
systematischen Be- oder Entwässerungen zu verbinden und damit jenem
Ideale rationeller Wasserwirtschaft näherzukommen, welches das Endziel
der modernen Culturtechnik bildet.
Wie bei jeder Credituperation, welche auf die Verwendung des ent-
liehenen Capitals zur Herstellung stehender Anlagen abzielt, die nur eine
ratenmässige Wiedererstattung aus den laufenden Erträgen vieler Betriebs-
perioden ermöglichen, so gibt es auch bei dem sog. Meliorationscredit
nur eine natürliche, d. i. aus seinem Wesen selbst abgeleitete Creditform,
die des unkündbaren Darlehens mit Annuitätstilgung, welche wiederum
nach der bekannten Grundregel aller Creditvermittlung — wenigstens für
die diesen Zweig der Activgeschäfte fachmässig betreibenden Banken —
die Beschaffung des nöthigen Capitals durch Emission unkündbarer Obliga-
tionen als das zweckmässigste Mittel erscheinen lässt.
Insoweit keine anderweitigen Momente in Betracht kämen, könnte
man annehmen, dass für die Bedürfnisse des Meliorationscredits unsere
gewöhnlichen Hypothekenbanken, ja selbst andere Creditinstitute ausreichen
würden, soweit sie nur in der Lage wären, unkündbare Darlehen mit Annui-
tätstilgung zu bieten. Bekanntlich hat auch diese Aufgabe den Gründern
der modernen Bodencreditinstitute vorgeschwebt; viele — darunter auch
der französische Credit foncier — haben dies selbst in ihren Statuten zum
Ausdruck gebracht. Es unterliegt ja keinem Zweifel, dass dort, wo der
Hypothekarcredit in einem vollkommenen System des Hypothekenrechtes
und einem geordneten Grundbuchwesen feste Stützen findet, dieser Weg
der leichteste und billigste sein wird, aber nur für diejenigen Creditbedürf-
tigen, deren Bodenverschuldung die statutenmässige Sicherheitsgrenze der
Hypothekenbank noch nicht erreicht hat. Nun hat aber in unseren Ländern
die Verschuldung vielfach diese Grenze schon erreicht oder ist derselben
wenigstens so nahe gekommen, dass kein genügender Spieh'aum für weitere
neue gleich wohlfeile Creditbenützung verblieb.
Neben diesen Fällen, in welchen die bestehenden Bodencreditinstitute
nicht mehr zugänglich sind, giebt es eine zahlreiche Gruppe von Melio-
rationsunternehmungen, die ganz abgesehen von der Höhe der bestehenden
Ueber Meliorationscredit mit besonderer Rücksicht auf Oesterreich. 231
Grundverschuldung die Benützung des üblichen Hypothekarcredits u n z w e c k-
massig erscheinen lassen. Es sind dies all diejenigen, welche nur durch
genossenschaftliche Vereinigungen zahlreicher kleiner Landwirte bewirkt
werden. Hier muss der gesetzliche Vorzug einer Reihe der letztfälligen
laufenden Jahresschuldigkeiten vor anderen auf nicht privilegierten Titeln
beruhenden Forderungen und solidare Haftung der Betheiligten als hinrei-
chende Garantie erachtet werden.
Ganz anderer Art sind die Schwierigkeiten, welche der Benützung
einfachen Hypothekarcredits zu Meliorationszwecken entgegenstehen , in
Staaten , woselbst entweder die Institution öffentlicher Grundbücher in
unserem Sinne gar nicht besteht — wie in England — oder wo die Ent-
wickelung des Hypothekarcredits gelähmt ist infolge der Mängel des mate-
riellen Hypothekenrechtes, insbesondere durch übermässige Abweichungen
vom Princip der zeitlichen Priorität (Frankreich, Italien) ^). Hier werden
die Hindernisse geordneten und billigen Hypothekarcredits auch zu Hinder-
nissen der Entwickelung des Meliorationscredits.
Aus dem Gesagten erhellt, dass der Credit für Meliorationszwecke
— soweit für die Bedürfnisse desselben die gewöhnlichen Hypotheken-
banken sich nicht eignen oder wo sie demselben nicht mehr genügen
können — besondere auf die Eigenart seines Wesens basierte Einrichtungen
erheischt. Diese Eigenart beruht aber eben darin, dass mit Hilfe des Melio-
rationsdarlehens eine Ertragserhöhung der bezüglichen Grundstücke bewirkt
werden soll und — bei Voraussetzung eines tauglichen Projectes und ent-
sprechender Ausführung — auch bewirkt werden kann. Hierin liegt der
natürliche Ausgangspunkt jedes Meliorationscredits und der wesentlichste
Unterschied des letzteren von dem gewöhnlichen Bodencredit. Für jenen
ist der beabsichtigte Verwendungszweck des Darlehens bestimmend, dieser
fragt nach demselben gar nicht; jener geht von dem künftigen von der
Verwendung des Darlehens abhängenden Werte des Pfandobjectes aus,
dieser berücksichtigt nur schablonenmässig die Sicherheitsgrenzen des gegen-
wärtigen: bei jenem muss der Gläubiger die Verwendung des Darlehens
controlieren, bei diesem geht sie den Gläubiger gar nichts an.
Die üebereinstimmung zwischen den nothwendigen Einrichtungen des
Meliorationscredits und der üblichen Organisation des Hypothekarcredits
beschränkt sich also lediglich auf den Umstand, dass in beiden Fällen
unkündbare annuitätsmässig zu tilgende Darlehen gewährt und dem ent-
sprechend auch die Capitalbeschaffung geregelt wird. At)er es folgt wiederum
aus dem Wesen des Meliorationscredits, für welchen der wirtschaftliche
Zweck des Darlehens maassgebend ist, dass derselbe, entgegen der schablonen-
mässigen Festsetzung des Abstattungszeitraums bei den gewöhnlichen Boden-
creditinstituten. in der Lage ist, auf Grund der fachmännisch berechneten •
1) Die misslichen Verhältnisse des Grundpfandcredits in England haben neuestens
in dem trefflichem Buche Polio cks (Das Recht des Grundbesitzes in England. Uebers.
von Schuster 1889) eine für den Juristen und Volkswirt gleich anziehende Behandlung
gefunden. Für Frankreich vgl. Josse au Traite du Credit Foncier. 3. Ausg. IL, S. 42.
282 Braf.
bevorstehenden Ertragserliöhung den Abzahliingstermin jeweils der Indivi-
dualität des Falles anzupassen. Diese Individualisierung als Befugnis und
Pflicht der über die Gewährung des Darlehens entscheidenden Organe hat,
wie wir sehen werden, in der That in einzelnen der betreffenden Gesetze,
nämlich denjenigen Englands und Preussens, wirklich Eingang gefunden.
Von weit belangreicherer praktischer Wichtigkeit, als die letzterwähnte
Frage, sind die Erwägungen, auf welche Weise der Thatsache, dass die
Melioration „die Hypothek bessere", im Interesse günstiger Darlehens-
bedingungen Geltung verschafft werden solle. Die Idee, dass die Melioration
selbst „ein neues Pfand schaffe", hat es namentlich den zunächst inter-
essierten landwirtschaftlichen Kreisen mehr oder weniger als selbstverständ-
lich erscheinen lassen, dass dem Meliorationsdarlehen die gesetzliche Prio-
rität vor den auf der meliorierten Liegenschaft bereits haftenden Hypotheken
eingeräumt werden müsse. Ein Bericht des preussischen Abgeordnetenhauses
aus der Zeit vor der Erlassung des Gesetzes über die Landescultur-Kenten-
banken hatte erklärt, die ganze Institution sei ohne die obligatorische
Priorität der Kentenbriefe vor allen übrigen Forderungen ohne durchgreifen-
den praktischen Wert. Und auch in Oesterreich konnte man zur Zeit, als
die Gesetzvorlage, betreffend den Eeichsmeliorationsfond, den Anlass zu den
ersten Berathungen über die Organisierung des Meliorationscredits gegeben
hatte, ähnlichen Wünschen begegnen ^). Aber ebenso lebhaft wie sie von
interessierter Seite gestellt, wurden diese Begehren von Denjenigen bekämpft,
welche die grosse Bedeutung des auf den strengen Principien der Specia-
lität. Publicität und Priorität aufgebauten Hypothekenrechtes für das moderne
Schuldrecht obenanstellen und in dem Kange der bisherigen Hypothekar-
gläubiger ein erworbenes Eecht erblicken, das durch die Folgen eines Irr-
thums in der fachmännischen Abschätzung der durch die Melioration zu
bewirkenden Werterhöhung bei Gewährung des erwähnten gesetzlichen Vor-
ranges geschädigt würde. Und es wurde insbesondere mit grossem Nach-
druck hervorgehoben, dass wohl der Gläubiger einer kündbaren Hypothekar-
forderung die Möglichkeit habe, sich durch rechtzeitige Kündigung gegen
die drohende Kangseinbusse und das hieraus resultierende Kisico zu schützen,
dass dieser Ausweg aber der ungeheuren Summe unkündbarer Forderungen
diverser Creditinstitute nicht zu Gebote stehe ^). Einer der scharfsinnigsten
modernen Forscher auf dem Gebiete des Creditwesens — Karl K n i e s ^) —
glaubte diesen Interessenzwiespalt mit Kücksicht auf die damals in Preussen
schwebenden Verhandlungen „billig und gerecht" dadurch zu lösen, dass
er — in Berücksichtigung des möglichen Irrthums in der Calculierung der
*) So beispielsweise in den Verhandlungen des böhmischen Landesciüturrathes in
den Jahren 1881 und 1882.
2) Mit Nachdruck haben die auch sonst sehr lehrreichen Motive zu dem preussischen
Gesetzentwurfe über Landescultur-Rentenbanken diesen Umstand betont, indem sie hervor-
hoben, dass lediglich in Preussen im Jahre 1877 für 1260 Millionen Mark Schuldbriefe
der Bodencreditanstalten in Umlauf waren.
3) Der Credit. IL (Berlin 1879). S. 312.
Ueber Meliorationscredit mit besonderer Eücksicht auf Oesterreich. 233
Werterhöhung, andererseits aber in der Erwägung, „dass der vor der Be-
werkstelligung einer durch allgemeine Anerkennung gebilligten Melioration
schon vorfindliche Gläubiger doch auch keinesfalls als berechtigter Anwärter
auf eine Verstärkung des bisherigen von ihm selbst als genügend behan-
delten Pfandgutes anzusehen ist" — den Vorschlag machte, „die gleiche
und volle Parität des alten und des neuen Gläubigers bezüglich ihrer hypo-
thekarischen Sicherung" zu statuieren. Etwas Bestechendes hat dieser
Compromissversuch für den ersten Blick gewiss. Allein seine Gerechtigkeit
und Billigkeit ist doch anzuzweifeln. K n i e s hat allerdings seinen Vorschlag
nur auf die Fälle von Meliorationen beschränkt, bei welchen, wie bei Cor-
rectionen von Wasserläufen, Anlagen zur Bewässerung und Entwässerung,
Zusammenlegungen von Grundstücken — besondere Voraussetzungen gesetz-
licher Zwangshilfe, staatliche Prüfung der Projecte u. s. w. platzgreifen.
Allein auch solche Fälle schliessen in concreto den Irrthum über die Trag-
weite der Werterhöhung nicht aus, also wenn nicht gerade über das Ent-
stehen des , neuen Pfandobjectes", zum mindesten über dessen Umfang.
Bestehen grundsätzliche Bedenken gegen die Ueberwälzung des ganzen
Risicos einer missglückten Melioration auf den alten Gläubiger, so bestehen
sie auch rücksichtlich der Ueberwälzung des halben. Dass demnach der
preussische Gesetzgeber auf diese Idee der Risicohalbierung nicht einge-
gangen ist aus Gründen, die oben angedeutet worden sind, und die bei der
verwandten Grundlage des Hypothekenrechtes auch für Oesterreich gelten,
kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden.
England, Frankreich und Italien haben sich freilich nicht gescheut,
unter bestimmten Cautelen dem Meliorationsdarlehen den Rangsvorzug zu
bewilligen. Allein gefade rücksichtlich dieser Staaten unterliegt es keinem
Zweifel, dass die Einräumung des Privilegiums, welche lediglich die Zahl
der schon bestehenden mannigfachen gesetzlichen Vorzugsrechte vermehrt,
dem Geiste ihres Rechtes nicht widerstreitet, dass sie aber gleichzeitig
unter solchen Verhältnissen den einfachsten Weg eröffnet hat, um genügend
sichere und daher auch billige Meliorationsdarlehen zu erhalten.
Und in der That ist die Billigkeit des Darlehens dasjenige Ziel, um
welches sich diese ganze Frage dreht. Alles Interesse an der Gewährung
des Vorrangs-Privilegiums entspringt nur daraus. Gelingt es daher auf
anderem Wege, dieses eigentliche Ziel — die Wohlfeilheit des Darlehens —
zu erreichen, dann kann das Problem des Meliorationscredites auch für
solche Länder als gelöst betrachtet werden, welche aus Gründen der Rechts-
ordnung Anstand nehmen müssen, eine Bresche in die bewährten Grund-
festen ihres materiellen Hypothekenrechtes zu eröffnen.
Ebenso, wie bei der Gründung unserer Landeshypothekenbanken (ob-
wohl sie genau umschriebene Sicherheitsgrenz^en für ihre Darlehen aufstellen)
in der Garantierung ihrer Pfandbriefe von Seiten der betreffenden Länder das
wirksamste Mittel wohlfeilen Credits erblickt wurde, so haben auch Preussen
und andere deutsche Staaten bei Organisierung des Meliorationscredits diesem
Mittel vor der Alterierung ihres Hypothekenrechtes den Vorzug gegeben.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, 8ocialpolitik und Verwaltung. II. Heft. - -in
234 B^-af.
In gesunden agrarischen Zuständen bei steigenden Preisen oder wenig-
stens nicht ungünstigen, genügend stabilisierten Absatzverhältnissen liegt
für Gesetzgebung und Verwaltung kein Anlass vor, sich um die entspre-
chende Organisation des Meliorationscredits in höherem Maasse zu inter-
essieren, als um die irgend eines anderen Zweiges des Privatcredits. Auf
diesem Standpunkte des nur gewöhnlichen Interesses
steht gegenwärtig keiner der grossen Culturstaaten Eu-
ropas. In England und Preussen gieng der gegenwärtigen Organisation
des Meliorationscredits die unmittelbare Unterstützung landwirtschaftlicher
Meliorationen durch Darlehen aus Staatsmitteln voraus ^), auch Frankreich
war in den ersten Jahren des zweiten Kaiserreichs auf diesen Modus bedacht.
Als jedoch in allen diesen Staaten diese Aufgabe dem. Privatcapital über-
wiesen wurde, geschah es unter Einräumung so wichtiger Privilegien,
genauer Normierung des Verfahrens und der Darlehensbedingungen, sowie
unter so weitgehender öffentlicher Controle der bezüglichen Anstalten, wie
dies nur das Vorhandensein eines eminent öffentlichen Interesses an der
erleichterten Befriedigung eines Individualbedürfnisses gerechtfertigt erscheinen
lassen kann. Von den kleineren deutschen Staaten stellten sich, abgesehen
von Sachsen, welches Preussen vorangegangen war, auch Baiern und Hessen
auf denselben Standpunkt, von anderen neuestens Italien und Ungarn. Für
Deutschland speciell kann diese Erscheinung gar nicht als neu angesehen
werden. Schon nach der allgemeinen Ablösung der bäuerlichen Lasten, als
es galt, den Uebergang der Bodenproduction in die neuen Bahnen u. A.
auch durch zweckmässig gebotenen billigen Credit zu erleichtern, wurden
dort Bodencreditinstitute mit ähnlich öffentlichem Charakter ins Leben
gerufen. Ja, man hatte schon von diesen, wie bereits angedeutet worden,
diejenigen Dienste für den Productivcredit des Landwirtes erwartet, welche
heute den Meliorantsbanken als Aufgabe gesetzt werden, man hatte jene in
erster Keihe um dieser Dienste willen gegründet. Und ganz denselben
Charakter „öffentlicher Unternehmungen" haben die in Oesterreich als
Landesanstalten gegründeten Hypothekenbanken erhalten. Es ist aber bekannt,
dass schon die älteren und mehr noch die jüngeren nicht erst der Aufnahme
neuer Schulden, insbesondere der Aufnahme neuer Darlehen zu Productiv-
^) England hat in dem für seine Landwirtschaft kritischen Momente, als es daran
gieng die Kornzölle aufzuheben, durch ein Gesetz vom Jahre 1846 (9 & 10 Yict. c. 51)
den Betrag von 2 Millionen Pfund Sterling für Grossbritannien und von 1 Million Pfund
Sterling für Irland zu Darlehen für Drainagezwecke aus Staatsmitteln zur Verfügung
gestellt; Irland wurde übrigens bei etwas weiterer Aufgabe schon durch 5 & 6 Vi ct. c. 89
ähnlich bedacht. Ueber den Einfluss der Aufhebung der Kornzölle auf die englische
Landwirtschaft vgl. L. de Lavergne's Essai sur l'economie rurale en Angleterre,
3. Ausg., S. 185 und auch Brodrick English Land and english Landlords, S. 69. In
Preussen wurde der 1850 gegründete Meliorationsfond theilweise auch zu Darlehenszwecken
verw^endet und sein im Jahre 1853 aus den rückgezahlten Geldern gebildeter Eückein-
nahme-Meliorationsfond wies im Jahre 1875, dem Jahre der vorgenommenen Decentrali-
sation dieser Fonde, den Betrag von über 9 Millionen Mark auf. Details hierüber
enthalten die bereits citierten preussischen Motive.
Ueber Melioration^ credit mit besonderer Kücksiclit auf Oesterreicli. 235
zwecken, sondern der Uebernahme bereits bestandener hypothekarischer Lasten
gedient haben, und soweit sie neuen Schuldaufnahmen dienten, hatten diese
wiederum vielfach nur die Begleichung von Kaufschillingsquoten, von Erb-
theilen und Legaten zum Zwecke. Nachdem sich die von conservativ-agra-
rischer Seite proponierte „Schliessung der Hypothekenbücher" wenigstens
innerhalb der unseren Hypothekenbanken als statutenmässige Sicherheits-
grenzen gesetzten Schranken allmählich von selbst vollzieht, treten eigent-
lich die modernen Meliorationscreditinstitute lediglich in die Aufgabe ein,
welche ursprünglich den Hypothekenbanken zugedacht war. Da nun ferner
die herrschende Krisis der Landwirtschaft das bei der seinerzeitigen Grün-
dung der letztgenannten Banken so maassgebend gewesene Interesse an der
Erleichterung des landwirtschaftlichen Productivcredits — hier zunächst des
immobiliaren — neuerdings belebt und potenziert hat, so ist es begreiflich,
weil in den Umständen selbst begründet, dass auf die neuen Meliorations-
creditbanken auch der „öffentliche" Charakter ihrer Vorgängerinnen mit
allen seinen Consequenzen übergeht.
Wohl könnte man den Einwand erheben — und er wird zuweilen
gemacht — ob nicht die Ertragserhöhung durch Bodenmeliorationen und
somit auch die Ermöglichung derselben durch erleichterten Meliorations-
credit nur eine Steigerung der ohnedies drückenden Concurrenz am land-
wirtschaftlichen Productenmarkte herbeiführen müsse und daher lieber unter-
bliebe. Allein — ist es, wie doch allgemein anerkannt wird, eine der
Consequenzen der Krisis, unserem noch zu sehr auf die Getreide-Erzeugung
gerichteten Ackerbau andere Richtungen zu geben (Futterbau für ausge-
dehnte und bessere Viehzucht, Industrie- und Handelspflanzen u. s. w.), so
wird gerade der Melioration scredit zur nothwendigen Bedingung dieser Um-
gestaltung. Man denke übrigens nur, welch bedeutenden Antheil an den
Meliorationsarbeiten die oben erwähnten Schutzeinrichtungen haben. Gerade
bei uns stehen sie noch im Vordergrunde der Aufgaben. Auch sie führen
erhöhte Erträge herbei. Den Rath, dieselben aus der rein doctrinären Rück-
sichtnahme der herrschenden drückenden Weltconcurrenz vorderhand auch
aufzuschieben, dürfte kaum Jemand wagen.
IL
Wir wenden uns nach dieser Erörterung zur übersichtlichen Darstel-
lung der in einzelnen europäischen Staaten bestehenden Einrichtungen für
Meliorationscredit, um an der Hand der voranstehenden Ausführungen und
der praktischen Muster Schlussfolgerungen für 0 esterreich zu gewinnen.
Das Ueberwiegen des Grossbesitzes in England^), so bedenklich
es auch der Socialpolitiker finden mag, ist von wesentlichem Vortheil für
den Culturtechniker, dem übrigens die auf umfangreichere Improvements
*) Ausser den zum Theile im Texte citierten Gesetzen gibt die eingehendste nach
allen Eichtungen ungemein lohnende Belehrung der „Keport from the Select Committee
of the House of Lords on the improvement of Land." 1873. 395 Seiten in Folio. Beige-
schlossen sind alle einschlägigen Formulare.
16*
236 Bräf.
sich beziehenden Local und Private Acts, sowie nicht minder einige allge-
meine Gesetze — wie beispielsweise die Drainage of Land Act vom Jahre
1861 (24 & 25 Vict. c. 133) — durch die gewährten nöthigen Zwangs-
befugnisse das fachgemässe Vorgehen erleichtern. Hingegen haben die
bekannten verwickelten Eigenthums Verhältnisse, die unsicheren Pfandrechte
und das vorherrschende Pachtsystem nicht unwesentliche Hindernisse bereitet.
Der Gesetzgeber hat dieselben abzuschwächen versucht, indem er die Juris-
diction in dem aus Anlass der Aufnahme eines Meliorationsdarlehens vor-
zunehmenden Edictal verfahren dem Kanzlergerichte — High Court of Chan-
cery — überwies, das nicht nach strengem Eecht, sondern nach Grundsätzen
der Billigkeit entscheidet ^), indem er weiter dem Meliorationsdarlehen das
Vorrangsprivilegium gewährte und schliesslich — allerdings erst in letzter
Zeit durch die Agricultural Holdings Act von 187c5 und ihr Amendement
von 1883 — dem Pächter unter bestimmten Voraussetzungen Ersatzansprüche
für unternommene Meliorationen zugestand.
Die staatlichen Meliorationsdarlehen wurden nach der Public Money
Drainage Act vom Jahre 1846 (9 & 10 Vict. c. 51) bloss für die Zwecke
von Drainagen bewilligt, welche gerade damals nach Wh i t e h e a d s Erfindung
der Eöhrenpresse im Vordergrunde des Interesses standen. Dieses Gesetz
scliuf das Verfahren, welches mit einzelnen Moditicationen noch heute beob-
achtet wird. Die behördliche Prüfung der Projecte, die Beaufsichtigung der
Ausführung, die Collaudierung ausgeführter Theile der Arbeit behufs An-
weisung von entsprechenden Darlehensquoten zur Auszahlung und die schliess-
liche Collaudierung wurden in die Hände der später mit der Tithe Commis-
sion und der Copyhold Commission zur heutigen Land Commission vereinigten
Inclosure Commission, des Fachorgans für Gemeinschaftstheiluugen und
Eiuhegungen, übergeben.
Bereits durch eine Acte aus dem Jahre 1849 (12 & 13 Vict. c. 91)
erhielt die General Land Drainage and Improvement Company das Recht
zur Gewährung von Darlehen unter den gleichen Vortheilen, welche die
staatlichen genossen, aber für einen sehr ausgedehnten Kreis von Meliora-
tionen. Ihr folgten im Jahre 1853 die Lands Improvement Company (16 & 17
Vict. c. 154), im Jahre 1856 die Scottish Drainage and Improvement Com-
pany (19 & 20 Vict. c. 70) und im Jahre 1860 die Land Loan and En-
franchisement Company (23 & 24 Vict. c. 169) -). Einzelne dieser Gesell-
schaften, so z. B. die erstgenannte, übernehmen auch die Verfassung von
Projecten und Ausführung von Meliorationsarbeiten, selbst wenn auf ihre
Credithilfe nicht appelliert wird. Der Kreis von Meliorationen, auf welche
sie Darlehen gewähren, ist fast bei allen der gleiche, sehr ausgedehnte.
Solche, die zufällig in ihren Statuten nicht aufgezählt sind, übernehmen
^) Es hat nur zu entscheiden „whether in his opinion it will be beneficial to all
persons interested in the land to which such application shall relate that such advance
shall be procured." (Sect. XX. in 9 & 10 Vict. c. 51;.
2} Einzelne dieser Acts sind durch nachträgliche Private Acts, von deren Auf-
zählung wir Umgang nehmen, theilweise amendiert worden.
Ueber Meliorationscredit mit besonderer Rücksicht auf Oesterreich. 237
sie seit 1864 auf Grund der Improvement of Land Act (27 & 28 Vict. c. 114),
des wichtigsten allgemeinen Gesetzes Englands über Meliorationscredit ^X
welches die den erwähnten Gesellschaften gewährten Vortheile unter gleichen
Bedingungen dem Private api^.al überhaupt einräumte.
Wir nehmen Umgang von der weitläufigen Aufzählung der unter das
Gesetz von 1864 fallenden Meliorationsarten. Es mag zur Charakteristik
genügen, dass neben sämmtlichen in das Gebiet des culturtechnischen
Wasserbaues fallenden Arbeiten, u. a. auch Gemeinheitstheilungen und
Einhegungen, Errichtung von dauernden Feld- und Schienenwegen, Herstel-
lung von Arbeiterwohnungen und Wirtschaftsgebäuden, Schutzpflanzungen,
Wasserrädern, Sägen, Mühlen, Kalköfen, Uferstapelplätzen für Vieh, Ge-
treide und Dungstoffe ausdrücklich angeführt erscheinen. Ja nicht nur Dar-
lehen zur Errichtung landwirtschaftlicher Schleppbahnen, sondern selbst das
Geldvorschiessen an Landwirte behufs Subscription von Actien einer für die
Ertragshebung ihrer Grundstücke wichtigen, über diese zu führenden öffent-
lichen Eisenbahn fallen unter den Begriff des Meliorationsdarlehens im Sinne
dieses Gesetzes.
Das Verfahren selbst ist gegenwärtig folgendes : Die Landcommission
prüft das mit allem nach ihrem Wunsch vorzulegenden Detail ausgestattete
Project in Bezug auf Ausführbarkeit, Dauerhaftigkeit und ökonomische Er-
spriesslichkeit. In letzterer Richtung ist die günstige Erledigung, wie nach
dem Gesetze vom Jahre 1846, an die Bedingung geknüpft, dass der erwar-
tete Jahresertrag eine höhere Summe verspreche, als die Verzinsung mit der
Tilgungsquote beträgt. Im Falle günstigen Votums wird das schon erwähnte
Edictalverfahren eingeleitet, welches nach dem Gesetze vom Jahre 1864
ausführlicher geregelt ist als nach demjenigen von 1846. Nach befriedigen-
dem Abschluss desselben erlässt die Landcommission die provisorische An-
weisung (provisional ordre), welche die Bestimmung hat, als „Titel für das
absolute Pfandrecht nach Genehmigung der ausgeführten Melioration" zu
gelten und dieser Titel kann durch Indossament auf andere Personen über-
tragen werden, zunächst also auf den unmittelbaren Gläubiger des Meliora-
tionsdarlehens. Es enthält daher die provisional ordre alles zur Feststellung
dieses Anspruchs Erforderliche, insbesondere die Genehmigungsformel für
das beabsichtigte Meliorationswerk, den Höchstbetrag des zu gewährenden
privilegierten Darlehens, den Zinsfuss und die Tilgungsannuität. Der erstere
darf nicht 5 Proc. überschreiten, die Tilgung ist nach dem Gesetze vom
Jahre 1864 höchstens auf 25 Jahre zu vertheilen. In den Statuten der
Gesellschaften ist diese Frist anders bestimmt, so z. B. in denjenigen der General
Land Drainage and Improvement Company auf 31 Jahre bei Hochbauten,
sonst auf 50. Innerhalb dieser Grenzen wird die Ab Zahlungsfrist nach der
Individualität des Falles festgestellt. Die Sachverständigen der Enquete vom
1) Ausser diesem Gesetze kämen noch die für beschränkte Zwecke erlassenen in
Betracht, nämlich : die Limited Owners Residences Act (1870), die Limited Owners Reservoirs
Act (1877), zum Theil schon die University and Colleges Estates Act v. 1858. Auf diese,
weil von geringem Belang, gehen wir hier nicht weiter ein.
238 , Bi-af.
Jahre 1873 haben das Bestreben des Parlaments nach Abkürzung der Frist
gebilligt, weil es zu sparsamem Vorgehen zwinge. Die zunehmenden Arbeits-
preise haben freilich die Kosten gesteigert, die Möglichkeit kurzer Frist-
setzung mit hohen Tilgungsquoten erschwert, und dadurch eine Begünstigung
den Gesellschaften gebracht, welche eine längere Frist als 25 Jahre ge-
währen können.
Die provisional ordre hat aber noch die Avichtige Bedeutung, dass ihr
Inhaber, sobald mit der Ausführung des Werkes begonnen wurde, dasselbe
auch gegen den Willen des Meliorationsführers zu Ende führen kann, ausser
es würden ihm vom letztern alle bisherigen Auslagen vergütet.
Nach Vollendung des Werkes wird die „absolute ordre" erlassen,
eventuell auch nach Ausführung einzelner Partien des Werkes absolute
ordres auf Theile der Schuld. Die absolute ordre setzt den definitiven Betrag
der Last, welche auf die ganze meliorierte Besitzung oder einen gewissen
Theil derselben mit privilegiertem Eange gelegt wird, und die Tilgungs-
modalitäten fest. Der privilegierte Eang gilt nach dem Gesetze vom Jahre
1864 für die ganze Forderung. Derselben gehen nur die Zehent- und Lehens-
Ablösungsrenten, sowie staatliche Forderungen nach der Public Money
Drainage Act vom Jahre 1846 voraus.
Da die Improvement of Land Act vom Jahre 1864 sich auf ein be-
stimmtes Credit gewährendes Subject nicht bezieht, so befasst sie sich gar
nicht mit der Frage, wie der Gläubiger selbst sich das nöthige Geld
beschafft. Wohl aber die Statuten der verschiedenen Gesellschaften. Es ist
den letzteren — im Unterschiede von derlei Anstalten in anderen Ländern —
vollkommen freie Wahl belassen ; aber dafür hat der Gesetzgeber vorgesorgt,
dass sie möglichst viel mit eigenem und möglichst wenig mit fremdem
Capital arbeiten. So darf die General Land Drainage and Improvement Com-
pany Schuldverschreibungen nur bis zum Betrage eines Drittels ihres ein-
gezahlten Actiencapitals emittieren, bis zur Höhe des zweiten Drittels kann
sie es nur mit Genehmigung des Board of Trade. Die Land Improvement
Company darf sogar jeweils nicht mehr emittieren, als die Summe der Rück-
zahlungen des betreffenden Jahres beträgt.
Die Gesellschaften sehen sich daher veranlasst — um weiter arbeiten
zu können — ihre Forderungen durch Cession der absolute ordres an Privat-
Capitalisten zu übertragen. An Nachfragenden gibt es keine Noth, ins-
besondere sind es die Versicherungsgesellschaften, welche solche Forderungen
in Partien zu 10 — 30.000 Pfund Sterling zu erwerben pflegen und auf diese
Weise gewissermaassen ein Glied in der englischen Organisation des Me-
liorationscredits geworden sind^). Allerdings bedürfen sie nach dem Gesetze
vom Jahre 1864 der Vermittlung jener Gesellchaften nicht mehr, da sie
^) So hat beispielsweise die Lands Improvement Company bei nur 30.000 Pfund
Sterling Actiencapital bis zum Jahre 1873 mehr als 3 Millionen Pfund Sterling- an
Meliorationsdarlehen gewähren können. In der Enquete vom Jahre 1873 wurde empfohlen,
dass Mündel- und Curatelsvermögen (Trust money) zu ähnlichen Zwecken verwendet
würden.
üeber Meliorationscredit mit besonderer Rücksicht auf Oesterreich. 239
auf Grund dieses Gesetzes Meliorationsdarlehen direct gewähren können.
Aber sie ziehen es vor. durch solche Vermittlung in ein fertiges Verhältnis
einzurücken.
Nach einer uns zur Verfügung gestellten Zusammenstellung der Land-
commission sind bis zu Ende des Jahres 1887 unter ihrer Mitwirkung im
ganzen 15.421.956 Pfund Sterling an Meliorationsdarlehen gewährt worden,
davon 13,234.166 Pf. St. lediglich für Drainagen. Die Gesellschaften fordern
nur den für langfristige Darlehen am Geldmarkte herrschenden Zinsfuss;
derselbe betrug in den letzten Jahren in der Kegel über 4 Proc. Sie be-
rechnen aber für die Geldvermittlung eine Provision gewöhnlich von 5 Proc.
des Capitals. Privatgelder, vom Meliorationsführer unter der Improvement
of Land Act direct aufgenommen, pflegen billiger zu sein.
So günstig die englischen Kesultate sind, so missglückt ist der
französische Versuch. Zwei Umstände sind es, die der Entwicklung
privater Meliorationsunternehmungen in Frankreich nicht günstig sind: die
bedeutende Zersplitterung des Grundeigenthums und die trotz dieses üm-
standes der Bildung von wasserrechtlichen Zwangsgenossenschaften vom
Gesetze selbst gar zu eng gezogenen Grenzen. Lässt doch das Gesetz über
die (landwirtschaftlichen) associations syndicales vom Jahre 1865 — dessen
Eeform mehrmals fruchtlos versucht wurde — selbst für Irrigationen,
Drainagen, Betriebswege und , andere landwirtschaftliche Meliorationen von
öffentlichem Nutzen" lediglich die Bildung von sog. associations syndicales
libres zu. Hätte dies schon an sich auch bei guter Organisation der Credit-
hilfe den Erfolg fraglich gemacht, so haben ihn eben Mängel dieser Organi-
sation ganz vereitelt.
Durch Gesetz vom Jahre 1856') hat der Staat 100 Millionen Francs
zu Darlehen für Drainagezwecke, welche mit 4 Proc. verzinst und längstens
in 25 Jahren rückerstattet werden sollten, zur Verfügung gestellt. Bald
wurde jedoch in der Erwägung, dass der Staat selbst das erforderliche Geld
auch nur im Creditwege sich beschaffen könnte, die Ausführung dieses
Vorhabens vertragsmässig dem kurz zuvor gegründeten Credit foncier über-
tragen. Dieser sollte sich das nöthige Capital durch besondere Obligationen
(obligations du drainage) beschaffen, deren Zinsfuss zunächst auf 4 Proc.
festgesetzt wurde. Der Staat sollte der Bank nebst 0'45 Proc. bei sog. er-
gänzender H3^pothek bloss 0*35 Proc. Provision, auch die Differenz zwischen
Pari und Emissionscurs, wenn letzterer unter Pari steht, ersetzen, allerdings
unter Gegenaufrechnung der Differenz bei Emissionen über Pari. Die Ge-
nehmigung der Projecte steht einer beim Ministerium des Innern gebildeten
Commission, die Bewilligung des Darlehens diesem Ministerium zu. Das
Verfahren hat sich als höchst schleppend und theuer erwiesen. Von 1859
bis 1888 wurden überhaupt nur 142 Gesuche eingebracht, davon 112 günstig
erledigt, aber nur 70 im Gesammtbetrage von 1,742.986 Frcs. realisiert.
'; Dieses und alle sonst den Gegenstand betreffende Gesetze, Decrete, Statuten,
enthalten in der officiellen Sammlung: Credit foncier de France. Statuts et legislation.
I Paris. Dupont.) Auch bei Josseau II. 587 u. ff., dort nuch die statistischen Ausweise.
240 Bräf.
Die in der Communalcredit-Abtheilung des Credit foncier in seinem eigenen
Wirkungskreise realisierten Darlehen an associations syndicales haben sich
gleichfalls in engsten Grenzen gehalten. Reformanträge, wie namentlich der
sehr interessante Bozerians vom Jahre 1882, gelangten nicht zur Erledigung.
In Deutschland bestehen dermalen sechs Meliorationsbanken. Von
diesen existiert die Landescultur-Eentenbank im Königreiche Sachsen schon
seit 1861 ^), alle übrigen sind neueren Ursprungs und zwar die auf Grund
des preussischen Gesetzes vom 13. Mai 1879 gegründeten Landescultur-
Rentenbanken der Provinzen Schlesien, Schleswig-Holstein und Posen, die
Landescultur-Rentencasse des Grossherzogthums Hessen (gegründet durch
Gesetz vom 20. März 1880) und die baierische Landescultur-Rentenanstalt
(Gesetz vom 21. April 1884).^) Die Entstehung der sächsichen Anstalt,
welche ursprünglich nur Darlehen zu Wasserlaufsberichtigungen, Ent- und
Bewässerungen im Sinne des Gesetzes vom 15. August 1855 gewährte,
hieng mit der Schaffung dieses letztgenannten Gesetzes zusammen; das
Gesetz vom 1. Juni 1872 hat die Wirksamkeit der Bank lediglich auf Orts-
entwässerungen und bauplanmässige Ortsstrassen ausgedehnt. Hingegen hängt
die Entstehung der übrigen angeführten Anstalten, welche Darlehen für die
mannigfaltigsten, in den bezüglichen Gesetzen taxativ aufgezählten Meliorations-
zwecke ^) gewähren, mehr oder weniger mit dem Auftreten der landwirt-
schaftlichen Krisis zusammen. Keine von sämmtlichen diesen Anstalten hat
ihre eigene selbständige Bank Verwaltung, vielmehr lehnen sich alle an
irgend eine andere öffentliche Anstalt oder eine Staatsbehörde an; so die
sächsische an die staatliche Landrenten- und Altersrentenanstalt; die baierische
an die Grundrentenablösungscassa; die schlesische wird mit der Provinzialhilfs-
cassa gemeinschaftlich verwaltet u. s. w. In Baiern und Sachsen trägt die
Verwaltungskosten ausschliesslich der Staat, in Preussen und Hessen werden
sie durch einen geringen Regiebeitrag von den Schuldnern ersetzt. Die
Capitalbeschaffung wird durchwegs durch Emission unkündbarer Schuld-
briefe („Landescultur-Rentenscheine") besorgt, welche nach Maassgabe der
eingehenden Tilgungsbeträge verlost werden, und, wie schon früher erwähnt,
die Staats- beziehungsweise (in Preussen) die Provinzialgarantie gemessen.
Der Zinsfuss dieser Obligationen muss gleich sein dem der gewährten
Meliorationsdarlehen, in Baiern ist letzteres sogar um ^4 ^^oc. billiger,
welche Differenz der Staat aus eigenem begleicht. Allgemein sind die Ge-
schäfte der Anstalten von Gebüren und Stempeln befreit, ihre Forderungen
werden im Wege der politischen Execution eingebracht.
*) Gesetz vom 26. November 1861. Ausdehnung des Wirkungskreises durch GesUz
vom 1. Juli 1872.
2) Die bezüglichen Gesetze mit Ausnahme des baierischen abgedruckt bei Schober:
Die Landescultur-Eentenbanken in Preussen, Sachsen und Hessen. (Berlin 1887. — Im
Anhang das Statut der schlesischen Anstalt.); das baierische bei Haag: Das baierische
Gesetz vom 21, April 1884, die Landescultur-Kentenanstalt betreffend (Nördlingen 1884).
3) In Preussen können aber die Statuten die Gewährung von Darlehen nur auf
einzelne im Gesetze genannte Meliorationsarten beschränken. So sind in Schleswig-
Holstein die Drainagen ausgeschlossen.
Ueber Meliorationscredit mit besonderer Eücksicht auf Oesterreich. 241
Bedeutendere Abweichungen herrschen zunächst rücksichtlich des
Maasstabs für die Höhe des Darlehens. Sachsen begnügt sich mit dem
allgemeinen, lediglich in die Ausführungsverordnung aufgenommenen Grund-
satze, dass die Höhe des Darlehens der zu bewirkenden Ertragssteigerung
entspreche. Präciser hat Baiern, und zwar im Gesetze selbst, bestimmt,
das Darlehen dürfe nicht gTösser sein, als der Betrag der vorausgesetzten
Werterhöhung, beziehungsweise der Kosten, wenn sie geringer sind als
jene. Dafür hat aber Baiern, ebenso wie Hessen, für Einzelschuldner die
Berücksichtigung der Wertserhöhung wesentlich eingeengt durch die Bestim-
mung, das Darlehen müsse innerhalb der ersten Hälfte des g e g e n w ä r t i g e n
Wertes der Liegenschaft fallen. Im Gegensatze davon hat Preussen, unter
Eesthaltung der Kosten als Maximalausmaass des Darlehens, die Sicherheits-
grenze mit Berücksichtigung des Wertzuwachses normiert. Als Kegel gilt
für den Zeitpunkt der Bewilligung des Darlehens, dass dasselbe innerhalb
des 25fachen Betrags des Catastralreinertrages oder „innerhalb der ersten
Hälfte des durch ritterschaftliche, landschaftliche oder besondere Taxe der
Landescultur-Rentenanstalt zu ermittelnden Wertes der Liegenschaft" zu
fallen habe. Das Darlehen kann darüber hinaus bis zur Hälfte des durch
die Melioration zu erzielenden Mehrwertes gewährt werden, u. zw. wieder
in der Kegel nur, wenn das Werk bereits vollendet ist; bloss wenn es sich
um Entwässerungs- (Drainierungs)- und Bewässerungsanlagen, Anlage und
Kegulierung von Wegen, Waldculturen und Urbarmachungen, endlich um
Errichtung neuer ländlicher Wirtschaften handelt und wenn der Wert der
Liegenschaft durch besondere Taxation der Anstalt selbst ermittelt wurde,
kann innerhalb von drei Viertheilen des gegenwärtigen Wertes das Darlehen
im voraus bewilligt, der Kest bis zur Hälfte der Wertserhöhung aber auch
hier nur nachschussweise ausgezahlt werden i).
In Bezug auf den Abstattungstermin ist, wie früher schon angedeutet
wurde, nur im preussischen Gesetz die Fesstellung nach der individuellen
Natur des Falles den Bankorganen mit der Weisung anheimgegeben, dass
die Amortisation mit dem zweiten Jahre nach Zuzählung des Darlehens zu
beginnen und mindestens V2Proc. jährlich zu betragen habe; bei Drainagen
aber, daferne sie des sofort zu erwähnenden Yortheiles theilhaftig sein
sollen, muss sie mit mindestens 4 Proc. vorgeschrieben werden.
Eine besondere Sicherstellung der Forderung wurde für öffentliche
Genossenschaften, da ja den Mitgliedsbeiträgen derselben in Bezug auf
Eintreibung und Vorrang der Charakter öffentlicher Abgaben zuerkannt ist,
in Preussen, Hessen und Baiern für überflüssig erachtet. Xur Sachsen hat,
obwohl seine Landescultur-Kentenanstalt es nur mit Gemeinden und
Genossenschaften zu thun hat, die Eintragung der Theilschuldigkeiten der
Mitglieder an ihren Liegenschaften als Keallast, und zwar ohne nach-
zusuchende Zustimmung der bereits eingetragenen Hypothekargläubiger,
1) Die ausführlichen Regeln über die Ermittlung des Werts der Liegenschaften
sind den Statuten vorbehalten; das schlesische (abgedruckt bei Schober 1. c.) hat von
dieser Befugnis ziemlich strengen Gebrauch gemacht.
242* ^^^^•
vorgeschrieben. Für Einzelschul einer ist jedoch auch in den drei vorgenannten
Staaten Sicherstellung durch Hypothek oder Grundschuld vorgeschrieben.
Ein Vorzug in der Kangordnung schon kraft Gesetzes, wie in England und
Frankreich, wird jedoch den Darlehen nicht gewährt. Wohl aber gestattet
Baiern in den Theilen rechts des Kheins über Ansuchen des Darlehens-
werbers ein Aufforderungs verfahren einzuleiten, mit dem Erfolge, dass die
Rangsausweichung der bisherigen Hypothekargläubiger als bewilligt an-
gesehen wird, wenn diese binnen gesetzter Frist ihren Widerspruch
schriftlich oder protokollarisch nicht anmelden. Es ist dies lediglich eine
Nachbildung jenes Aufforderungsverfahrens, welches das preussische Gesetz,
jedoch lediglich rücksichtlich von Darlehen zu Drainagez wecken, vor-
geschrieben hat, wenn sich der Schuldner zu Tilgungsquoten von mindestens
4 Proc. jährlich, also zu einer ungemein raschen Abzahlung, verpflichtet.
Der Kern der Sache liegt also darin, dass dem Dailehenswerber die oft
sehr schwierige Aufsuchung der Hypothekargläubiger und nicht minder die
beschwerlichen Einzelverhandlungen mit denselben um die Abtretung der
Priorität erspart und bei Mchtwiderspruch ihre Zustimmung vom Gesetze
suppliert wird. Der Erfolg ist immer zweifelhaft; selbst die Direction der
schlesischen „Landschaft" hat, wie Schober^) mittheilt, die Zustimmung
zur Vorrangseinräumung an Drainagedarlehen verweigert. Da aber Baiern
wie Hessen trotzdem auf der ersten Hypothek bestehen, und dabei die
Sicherheitsgrenze sehr enge ziehen, so haben ihre Meliorationsdarlehen vor
gewöhnlichen Bodencreditanleihen keinen weiteren Vorzug als etwa den
grösserer Wohlfeilheit. Ihnen gegenüber verdienen aus diesem Grunde die
preussischen Einrichtungen den Vorzug.
Dass der Mangel privilegierten Forderungsranges der Wohlfeilheit von
Meliorationsdarlehen in Deutschland, wenigstens unter den gegenwärtigen
Verhältnissen, nicht abträglich ist, erhellt aus dem Umstände, dass es
z. B. der schlesischen Anstalt geglückt ist ihre 4-proc. Obligationen über
Pari zu emittieren. In England sind zwar Privatcapitalien zu Meliorations-
darlehen nach der Improvement of Land Act oft zu noch niedrigerem Zinsfusse
erhältlich, wohl aber nicht Bankcap Italien. Die Meliorationsdarlehen sind also
dermal in Deutschland nicht theuerer als in England. Bei den heutigen
Zuständen des öffentlichen Credits in Deutschland bildet die Staats- be-
ziehungsweise Provinzialgarantie ein gleich wirksames, wenn nicht wirk-
sameres Mittel für niedrigen Zinsfuss, wie die erste Hypothek.
Eine eigenthümliche Stellung nimmt in Bezug auf Meliorationscredit
die durch Gesetz vom 14. Februar 1883 errichtete Bodencreditanstalt für
Oldenburg ein.^) Diese ist eine Hypothekenbank, welche gleichzeitig befugt
ist Meliorations- und Communalcredit zu pflegen. Die Sicherheitsgrenze ist
5) A. a. 0. S. 113-115.
2) Gesetz, betreffend die Errichtung einer Bodencreditanstalt für das Herzogthum
Oldenburg, vom 14. Februar 1883, dazu die beiden Bekanntmachungen des Staats-
ministeriums vom 26. September 1883 betreffend Ausführung, Inkrafttreten und Geschäfs-
regulativ.
Ueber Meliorationscredit mit besonderer Rücksicht auf Oesterreich. 243
für gewöhnliche Hypothekardarlehen mit der Hälfte des gegenwärtigen
Wertes festgestellt, bei Meliorationsdarlehen geht sie darüber hinaus bis
zur Hälfte des abgesondert zu berechnenden Wertzuwachses, w^obei der
innerhalb der Hälfte des gegenwärtigen Wertes stehende Darlehensantheil
sofort, der Eest nach Maassgabe des Fortschreitens der Arbeit ausgezahlt
wird. Die Amortisierungsquote — für gewöhnliche Hypothekardarlehen mit
V2 Pi'oc. jährlich vorgeschrieben — muss im Falle des Meliorationsdarlehens
höher bestimmt werden.
Die von den in neuerer Zeit errichteten deutschen Meliorationsbanken
bisher erzielten Resultate entsprechen nicht ganz den ursprünglichen Er-
wartungen. ^) Für ein abschliessendes ürtheil ist ihr Bestand noch zu kurz;
indessen kann bei dem umstände, als sich ihre Verwaltung durchwegs an
die anderer öffentlicher Institutionen anschliesst, auch ein geringer Umfang
ihrer Geschäfte ihren Bestand nicht gefährden. Fasst man sie übrigens,
wie es unsere bereits dargelegte Meinung ist, als eine bei der wachsenden
Belastung des Grund und Bodens nothwendige Ergänzung der Hypotheken-
banken — nothwendig für das Gebiet des landwirtschaftlichen Productiv-
credits — auf, so kann namentlich aus dem heute noch relativ geringen
Umfange ihrer Geschäfte kein Einwand gegen ihre Existenzberechtigung
geschöpft werden.
In vielen Richtungen ganz orignell sind die durch das italienische
Gesetz vom 23. Jänner 1887 geschaffenen Grundlagen des Meliorations-
credits.'-) W^ie der französische Antrag Bozerians will dieses Gesetz
sowohl den landwirtschaftlichen Betriebs- als auch den Meliorationscredit
regulieren; wie die englische Improvement of Land Act wendet es sich an
weite Kreise des Capitals, jedoch mit dem Unterschiede, dass es die sofort
näher zu erörternden Vortheile nur Creditinstituten gewährt. Es appelliert
zunächst an die bereits bestehenden sich für die Aufgaben des credito
agrario einzurichten, so namentlich an die Sparcassen, Creditgenossen-
schaften und Volksbanken, an die monti frumentari und monti nummari,
ja es schliesst sogar Notenbanken nicht aus. Andererseits strebt es aber
auch die Bildung neuer landwirtschaftlicher Creditgenossenschaften für
diesen Zweck an, und das ist eine seiner charakteristischesten Seiten. Diese
Genossenschaften sollen auf der Basis der Selbsthilfe als associazioni mutue
1) Die sächsische Anstalt hat von 1862 bis 1886 im ganzen 11,298.887 Mark an
Darlehen gewährt, davon 7 Millionen für Entwässerungen. Die schlesische hat in den
ersten sechs Jahren ihres Bestandes nur etwas über 1 Million Mark, die baierische in
den ersten drei Jahren bloss 273.000 Mark an Darlehen ausbezahlt, (Für Sachsen nach
dem „Bericht über die L.-C.-R.-B. im Königreich Sachsen während ihres 25-jährigen
Bestandes" (Dresden 1886), für die beidön andern Anstalten nach ihren Ausweisen.)
2) Legge 23 gennaio 1887 (n. 4276 ser. 3 a). Theilweise araendiert durch das
Gesetz vom 26. Juli 1888 (n. 5588 ser. 3 a). Dazu die Ausführungsverordnung vom
8. Jänner 1888 und Specialregulativ für die im Text zu erwähnenden cartelle agrarie
vom 27. Mai 1889. — Abgedruckt auch bei Errera, Le operazioni di credito agrario
(Verona 1889), dort die Vorgeschichte; dieselbe kurz auch in Sachs, L'Italie, ses finances
et son developperaent economique (Paris 1885).
244 Bräf.
ausschliesslich von Grundeigenthümern gebildet werden. Als erste Be-
dingung der Concession wird aufgestellt, dass die Gesammtheit der den
Mitgliedern einer solchen Genossenschaft gehörenden landwirtschaftlichen
Grundstücke nach Abzug der darauf haftenden Hypothekarlasten einen
reinen Wert von wenigstens 3 Millionen Lire repräsentiere.
Der Forderung aus gewährten Meliorationscrediten wird bis zum Be-
trage der Werterhöhung privilegierter Bang eingeräumt. Die Werterhöhung
selbst wird durch zwei gerichtliche Schätzungen — vor Beginn und nach
Vollendung des Werkes — sichergestellt, wobei den bisher eingetragenen
Gläubigern durch Einleitung eines genau geregelten Edictalverfahrens die
Möglichkeit geboten wird, gegen das Schätzungsergebnis Einwendungen zu
erheben. Genossenschaften, die rücksichtlich der Mitgliederbeiträge den
Vortheil der Verwaltungsexecution geniessen, werden selbstverständlich zur
Leistung hypothekarischer Sicherheit nicht verhalten, können jedoch die
Mitgliederbeiträge für die Schuldigkeiten aus dem Meliorationsdarlehen haftbar
machen (vincolare). Sie bedürfen übrigens zur giltigen Schuldcontrahierung
der Zustimmung des Provinzialausschusses, welcher die Einstellung der Ver-
zinsungs- und Tilgungsbeträge in ihr Budget erzwingen kann.
Die Meliorationsarten, für welche Credit gewährt werden darf, sind
nur zum Theile im Gesetze selbst angeführt, andere können nach Anhörung
des staatlichen Landwirtschaftsrathes — consiglio di agricoltura — im
Yerordnungswege bestimmt werden, was bereits geschehen ist.^) Die Darlehen
müssen bar zugezählt werden. Den Zinsfuss setzt die Eegierung fest.
Mittel und Wege der Capitalbeschaffung sind den Banken nicht vor-
geschrieben. Beabsichtigt jedoch ein landwirtschaftlichen Credit betreibendes
Institut die Capitalbeschaffung durch Emission besonderer Obligationen, so
braucht es hiefür eine besondere Concession und muss sich den besonderen
Bedingungen des Gesetzes fügen. Die in Rede stehenden Obligationen —
die cartelle agrarie — können nämlich sowohl für die Zwecke des
Meliorationscredits als auch für die der kurzfristigen Betriebscredite
emittiert werden, doch haben sich beide Arten durch Farbe, Aufschriften
und Appoints merkbar zu unterscheiden. Der emittierte Gesammtbetrag
darf das Fünffache des eingezahlten eigenen Fondes (bei nicht ausschliess-
lichem Agrarcreditbetrieb des für diesen vorbehaltenen Capitals) nicht über-
schreiten. Ganz eigenthümlich ist der Fortgang der Emission reguliert.
Die Concession zur Emission wird nur ertheilt, wenn die Anstalt den
Nachweis führt, dass sie bereits im Besitze von hypothekarischen Forde-
rungen bis zur Höhe eines Drittheils ihres eigenen eingezahlten Fondes
(beziehungsweise des für landwirtschaftlichen Credit vorbehaltenen Capitals)
sei. Ein dieser Summe entsprechender Betrag der Schuldbriefe ist als
„scorta permanente" der vorgenannten hypothekarischen Forderungen ^) stets
in Reserve zu halten (cartelle in cassa), nur für hypothekarische Forde-
1) In der citierten Verordnung vom 6. Jänner 1888.
2) „ . . . compiono Tufficio di scorta permanente" heisst es bezüglich ihrer aus-
drücklich im § 7 des Specialregulativs.
Ueber Meliorationscredit mit besonderer Rücksicht auf Oesterreich. 245
rungen, Avelche über diesen Betrag hinausgehen, dürfen Cartelle emittiert
werden (cartelle in circolazione).
Der sehr vielseitige und einschneidende Einfluss der Kegierung ist
ungemein umständlich normiert, namentlich aber verschärft erscheint die
„vigilanza governativa" gegenüber Creditinsti tuten, welche Cartelle emittieren.
Eine Reihe charakteristischer Eigenthümlichkeiten weist auch das
ungarische Gesetz über die Flussregulierungs- und Bodenmeliorationsdarlehen
vom 26. Juni 1889 auf.*) Aehnlich wie Frankreich dem Credit foncier, hat
Ungarn der „Ungarischen Bodencreditanstalt" das ausschliessliche Recht
übertragen, unter besonderen Bedingungen und mit bestimmten Privilegien
Darlehen zu gewähren: 1. Für Flussregulierungen, 2. für Bachregulierungen,
üferschutz, Trockenlegungen von Sümpfen, Drainagen und Bewässerungen,
daferne das Project unter Leitung staatlicher Landesculturorgane verfasst und
unter ihrer Leitung durchgeführt wird. Die annuitätsmässig zu tilgenden,
mit 4 Procent verzinslichen Darlehen dürfen höchstens auf 50 Jahre gewährt
werden; der Maximalbetrag derselben wird durch die bei Flussregulierungen
mit dem 24-fachen, in den übrigen Fällen mit dem 16-fachen Betrage des
Catastralreinertrages normierte Sicherheitsgrenze bestimmt; doch kann im
Falle der Unzulänglichkeit das Darlehen bei Flussregulierungen bis zu
50 Procent des Wertes des Inundationsgebietes erhöht werden.
Die Capitalbeschaffung erfolgt durch die ebenfalls mit 4 Procent ver-
zinslichen „Regulierungs- und Meliorationspfandbriefe". Die Zuzählung des
Darlehens geschieht in diesen Obligationen ; wenn die Anstalt selbst den
Verkauf besorgt, hat sie es für Rechnung des Schuldners ohne eigenen
Gewinn zu thun. Zur Deckung ihrer Kosten kann sie aber einen Regie-
beitrag von höchstens Vs Pro cent jährlich vom Schuldner erheben.
Geradezu ohne Beispiel sind die Begünstigungen und Privilegien, deren
die Darlehen und die Pfandbriefe theilhaftig sind. Die laufenden Zinsen-
und Tilgungsschuldigkeiten bilden eine Reallast mit privilegiertem Range
gleich nach den landesfürstlichen und Communal-Abgaben, doch gehen
beim Zusammentreffen von Flussregulierungs- mit anderen Meliorations-
darlehen erstere vor. Daran reiht sich Gebürenfreiheit aller den Abschluss
des Darlehens betreffenden Rechtsgeschäfte, unbedingte Abgabenfreiheit der
Schuldbriefe und ihrer Coupons, ja sogar Portofreiheit für die Correspon-
denzen der Bodencreditanstalt in Flussregulierungs- und Meliorations-
angelegenheiten. Uebrigens gesellt sich zum Rangsprivilegium der Forde-
rungen noch eine Art umschriebener Staatsgarantie; die Anstalt kann nämlich
die Eintreibung der Rückstände unter im Gesetze näher ausgeführten Be-
dingungen durch die staatlichen Organe veranlassen, welche dann ver-
pflichtet sind, nach Ablauf von drei Halbjahren nach dem Verfallstermine
„aus beliebig welcher Staatseinnahmenquelle " die Forderung der Anstalt
zu bestreiten, selbstverständlich mit Regress gegen den Schuldner. Eine
^) Die deutsche Uebersetzung des Gresetzestextes in der vom ungarischen Ministerium
des Innern publicierten „Gesetzsammlung" (1889. S. 332 u. flf.).
246 Bräf.
ganz originelle Einrichtung bildet der 10-procentige Abzug, welchen die
Anstalt bei Flüssigmachung jeder Darlehensrate dem Schuldner zu machen
berechtigt ist, und welchen sie in Pfandbriefen als „Keservefond" bewahrt,
der Eigenthum des Schuldners bleibt, jedoch als Garantie für seine Yer-
bindlichkeiten der Anstalt gegenüber dient.
III.
Wenn wir es nunmehr unternehmen, auf Grund des vorstehend Dar-
gestellten Schlussfolgerungen für die Organisation des Meliorationscredits
in Oesterreich zu ziehen, so gehen wir hiebe! von dem bereits näher ent-
wickelten Grundsatze aus, dass für unsere Verhältnisse die Regelung des
Meliorationscredits als eine durch den gegenwärtigen Stand der Boden-
belastung gerechtfertigte, durch die kritische Lage der Landwirtschaft be-
sonders nothwendig gewordene Ergänzung der bestehenden Organisation
des Bodencreditwesens anzusehen sei. Es hat daher folgerichtig die gleiche
Behandlung, welche die bestehenden Hypothekenbanken als öffentliche
Unternehmungen gefunden haben, auch auf die Organisation des Meliorations-
credits Anwendung zu finden.
Wir gelangen auf dieser Basis zu nachstehenden Schlüssen:
1. Die Schaffung von Institutionen für Meliorationscredit in Oester-
reich hat von den einzelnen Ländern auszugehen, wobei der Kreis von
Meliorationen, auf welche sich die Creditgewährungen erstrecken dürfen,
nach den besonderen Verhältnissen und Bedürfnissen jedes einzelnen Landes
zu bestimmen ist.
2. Mit Rücksicht auf den muthmaasslich nicht bedeutenden, überdies
— erfahrungsgemäss — von Jahr zu Jahr äusserst schwankenden Umfang
des Creditbedürfnisses empfiehlt sich die Errichtung eigener, der Vermittlung
des Meliorationscredits ausschliesslich dienender Bankinstitute unter selb-
ständiger Verwaltung durchaus nicht. Vielmehr ist es rathsam, in Ländern,
welche bereits eigene, als öffentliche Unternehmungen organisierte Hypotheken-
banken besitzen, die Gewährung von Meliorationscrediten — ähnlich wie es
das Oldenburger Beispiel zeigt — in den statutenmässigen Wirkungskreis
dieser Banken einzubeziehen. Nebst der grundsätzlichen Eignung spricht die
Verwandtschaft der banktechnischen Operationen dafür. '^) Wo weder eine
Hypothekenbank, noch ein anderes in Bezug auf Geist und Richtung der
Verwaltung verwandtes Creditinstitut vorhanden ist, dürfte nach Analogie
des baierischen und hessischen Vorbildes die unmittelbare Unterordnung
unter eine öffentliche Behörde, hier unter die Organe der autonomen Landes-
verwaltung, die einfachste Lösung sein, wobei für die Entscheidung über
^) In Böhmen wurde allerdings die Gewährung von Meliorationscrediten nicht der
Landeshypothekenbank, sondern der neu creierten Landesbank übergeben, welche berufen
war gewisse Lücken in der Creditorganisation im Lande zu beseitigen, und in ihrer
Communalcreditabtheilung einen Zweig von theilweise verwandter Technik betreibt. Sonst
ist ihre Abtheilung für Meliorationscredit nach den hier im Text angeführten Grundsätzen
eingerichtet. Das Statut ist abgedruckt im Landesgesetzblatt für 1889, XIII. Stück.
üeber Meliorationscredit mit besonderer Eücksicht auf Oesterreich. 247
Creditbewilligungen fachmännische Beiräthe zugezogen, die Geldgebarung
aber gegen Provision einem tauglichen privaten Creditinstitute übertragen
werden könnte.
3. Genossenschaften, welche unter die Bestimmungen des Wassergesetzes
fallen, sowie Gemeinden und Bezirke als Schuldner sind nicht gebunden,
hypothekarische Sicherheit zu bestellen, wohl aber private Creditwerber.
4. Da die Einräumung gesetzlichen Vorranges der Meliorationsschuld
auch de lege ferenda nicht erwünscht ist, so sind die Bedingungen ge-
nügender und dabei wohlfeiler Creditbeschaffung auf anderem Wege zu
bewirken, nämlich:
a) durch eine in bestimmtem Verhältnis zu dem Wertzuwachse, welcher
durch die Melioration erzielt werden kann, zu statuierende Erweiterung
der durch die Statuten unserer Landeshvpothekenbanken normierten
Einschuldungsgrenze; ^)
b) durch Uebernahme der Landesgarantie — ähnlich wie bei den Landes-
hypothekenbanken — für die behufs nöthiger Capitalbeschaffung
emittierten Obligationen. (Vgl. unten Absatz 8.)
5. Die Prüfung der Projecte hat durch öffentliche culturtechnische
Organe zu geschehen: nur bei Projecten, für welche die Subvention nach
dem Reichsmeliorationsgesetze bereits bewilligt ist, kann sie gänzlich ent-
fallen. Die projectmässige Ausführung der Melioration, sowie während der
Tilgungsdauer die gehörige Instandhaltung derselben ist der zeitweiligen
Ueberwachung durch die culturtechnischen Organe zu unterwerfen.-)
6. Die zulässige Maximalhöhe des Darlehens wird innerhalb der ad 4
lit. a) erwähnten Schranken durch die Kosten des Werkes bestimmt, welch
letzteren auch die Kosten der Vorarbeiten (Projectverfassung, Constituierung
der Genossenschaft und dgl.) zugerechnet werden dürfen. Bei nach dem
Eeichsmeliorationsgesetze subventionierten Unternehmungen bildet der durch
die Subvention nicht gedeckte Kostenrest den zulässigen Höchstbetrag des
Darlehens.
7. Die Zeit für die annuitätsmässige Heimzahlung des Darlehens wird
nach der Individualität des jeweils in Frage stehenden Meliorationswerkes
') Bei der böhmischen Landesbank gilt als Normalregel für Meliorationsdarlehen,
dass die Sicherheit als genügend erachtet wird, „wenn das Meliorationsdarlehen mit
Zurechnung der auf der Hypothek schon bereits eingetragenen, der Forderung der B^^nk
in der Kangordnung vorangehenden Passiven jene Summe nicht übersteigt, welche zwei
Drittheilen des 24-fachen, bei ausschliessendera oder vorwiegendem Waldbestande des
20-fachen Betrags des Catastralreinertrags der den Gegenstand der betreffenden bücher-
lichen Einlagen bildenden Grundstücke, mit Zurechnung der Hälfte des in sach-
verständiger Weise ermittelten Betrages der Werterhöhung gleichkommt." Statt des nach
dem Catastralreineitrag geschätzten Wertes kann die auf Ansuchen der Partei von den
Landesbankorganen vorgenommene oder innerhalb der letzten drei Jahre von der Hypo-
thekenbank vorgenommene Schätzung zur Grundlage genommen werden. Es ist das also
die übliche Sicherheitsgrenze der böhmischen Hypothekenbank mit Zurechnung der Hälfte
der Werterhöhung.
2) Nach den Statuten der böhmischen Landesbank wird diese Aufgabe dem cultur-
technischen Bureau des Landesculturrathes übertragen.
248 Bräf.
innerhalb der Grenzen einer statutenmässig festgesetzten Maximaldauer
durch das bewilligende Organ bestimmt*). Die Zuzählung des Darlehens
erfolgt nach Wahl der Verwaltung entweder in Barem oder in Schuld-
verschreibungen (Abs. 8), u. zw. abschnittweise postnumerando nach Maass-
gabe der fortschieitenden Ausführung des Werkes.
8. Die Capitalbeschaffung erfolgt in der Regel durch Emission un-
kündbarer, nach Verhältnis der Eückeinnahmen verlosbarer Obligationen.
Der Zinsfuss dieser Obligationen ist dem der Darlehen gleich^): zur Be-
streitung der Verwaltungsauslagen darf vom Schuldner innerhalb statuten-
mässig festzusetzender Schranken ein Regiebeitrag gefordert werden.
Dass bei solcher Regelung die Quellen für Reservefondsbildung ziemlich
eingeengt sind, kann nicht bestritten werden. Indessen haben die Erfahrungen
unserer Hypothekenbanken gezeigt, dass selbst bei so eingeschränkter Gewinn
möglichkeit die allmähliche Ansammlung eines Reservefondes thunlich ist,
die schliesslich die Beseitigung des Regiebeitrages zur Folge haben kann.
Ein Unterschied wird zwischen den westeuropäischen Anstalten für
Meliorationscredit und unseren, wenn sie nach den vorstehend formulierten
Grundsätzen eingerichtet werden, zu Ungunsten dieser letzteren gewiss
hervortreten. Während jene, da sie ohne Rücksicht auf sonstige Verschuldung
Meliorationsdarlehen mit Rangsvorzug gewähren dürfen, selbst dem über-
schuldetsten Gute Meliorationen ermöglichen können, werden unsere ihre
Wirksamkeit nur auf solche private Einzel wirte als Creditwerber erstrecken
können, nur solchen zu helfen in der Lage sein, deren Wirtschaften noch
nicht über jenes Maass belastet sind, welches der statutenmässigen
Sicherheitsgrenze unserer Hypothekenbanken entspricht. Indes, wir müssen
uns aus Gründen, die oben erörtert worden sind, damit bescheiden. In der
Praxis wird das Uebel nur die überschuldeten Grosswirte treffen, die kleinen
meliorieren erfahrungsmässig nur im Genossenschaftskreise. Hier übt diese
Frage keinen Einfiuss. Wohl aber liegt die Idee nahe, gerade mit Rücksicht
auf die kleinen Grundbesitzer die Ausdehnung der Vortheile, welche das
Gesetz den öffentlichen Wassergenossenschaften in Bezug auf die ZAvangs-
eintreibung der Beiträge und ihre privilegierte Stellung im Concurse einräumt,
auf andere Meliorationszwecke verfolgende Genossenschaften in nähere Er-
wägung zu ziehen, wie es seinerzeit der böhmische Landtag angeregt hat.
^) Nach dem Statut der böhmischen Landesbank hat die erste Tilgungsquote
mindestens '/jVo zu betragen. „Es ist jedoch nicht erforderlich, dass für alle Darlehen
zu Meliorationszwecken das nämliche Tilgungsverhältnis vorgeschrieben werde; vielmehr
ist in jedem Falle darauf zu achten, dass die Tilgung des Darlehens dem Zwecke, zu
welchem das Darlehen gewährt wurde, entspreche."
2) Die böhmische Landesbank emittiert für Meliorationsdarlehen mit länger als
fünfjährigem Eückzahlungstermin die sog. Meliorationsscheine, welche Landesgarantie
gemessen. Die Höhe des Zinsfusses und Regiebeitrages setzt der Landesausschuss fest.
BEITEAG ZUE DOGMEN-GESCHICHTE DER
SCHUTZZOLLIDEE.
VON
DR- KOBERT ZUCKERKANDL,
PRIVAT-DOCENTEN AN DER UNIVERSITÄT WIEN.
Vor mehr als drei Jahren machte mich Professor Karl Meng er
auf eine kleine unbekannte Schrift „Ueber Zölle, Handelsfreiheit und
Handels vereine" von Dr. Moriz Julius Franzi aufmerksam, die zu
Anfang des Jahres 1834 in Wien bei Gerold erschienen ist. Ich fand in
ihr einen bemerkenswerten Versuch, die Politik des Schutzes der nationalen
Arbeit theoretisch zu begründen. Die naheliegende Vergleichung mit List's
nationalem System ergab manche üebereinstimmung und manche Ver-
schiedenheit, und schien es mir nicht gerechtfertigt zu sein, dass die
Literaturgeschichte Franzi vergessen hatte. Keine Zeit ist der Aufgabe
überhoben, immer wieder das, was in der Literatur fortleben soll, von dem
zu sondern, was zur ewigen Ruhe bestattet werden kann; jede Zeit vollzieht
diese Scheidung nach ihrer Einsicht und nicht selten irrig. So war es, wie
ich glaube nicht verdient, dass Franz Ts Schrift längst als literarischer
Ballast entfallen ist. Allerdings hatte sie zum Umschwung in der Be-
urtheilung der Freihandelslehre nichts beigetragen, allein dieser Einwand
ist für die Dogmengeschichte ohne Bedeutung. Denn diese hat den Beruf,
das erste Auftauchen und jede ernste Wiederholung eines wissenschaftlichen
Gedankens zu verzeichnen; namentlich sollte ihr daran gelegen sein, in der
kleinen Opposition, die sich vor List gegen die A. Smi tischen Lehren
gebildet hatte, keinen Mann zu übersehen.
Ich hatte anfänglich bloss die Absicht, einen Auszug aus der er-
wähnten Schrift FränzTs zu geben, von der ich annehmen durfte, dass sie
besonders in Oesterreich interessieren werde. Da sich jedoch eine Ver-
gleichung mit List nicht vermeiden liess, so war es nothwendig beide mit
ihren Vorgängern zusammenzustellen. Derart ist diese Arbeit unter der
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. II. Heft. 17
250 # Zuckerkandl.
Feder über den ursprünglichen Kahmen hinausgewachsen und ein kleiner
Beitrag zur Geschichte der Schutzzollidee geworden.^)
Die Schrift über die Zölle theilt uns im Vorworte mit, dass dem Ver-
fasser, als er seine Arbeit vollendet hatte, die Monographie MaccuUoch's
über Handel und Handelsfreiheit zukam. Die Durchlesung derselben habe
ihn in der üeberzeugung bestärkt, dass bei der unbedingten Forderung
nach Handelsfreiheit die Staaten unter gewissen umständen vorausgesetzt
seien, für welche jene allerdings richtig sei, dass andere Verhältnisse andere
Maassregeln fordern und dass „die Strenge des Prohibitivsystems für den
einen Staat ein Druck, für den anderen aber eine schirmende Mauer werden
kann.'- Der Zweck der Abhandlung sei der Handelsfreiheit und dem
Prohibitivsysteme „ihr bestimmtes Gebiet anzuweisen".
In einer Einleitung stellt Franzi fest, dass die Theorie und die Wirk-
lichkeit sich in Bezug auf die Handelspolitik in einem auffallenden Wider-
spruche befinden. Die Erklärung sucht er darin, „dass die Sniith'sche
Lehre nur aus dem Gesichtspunkte der Wirtschaftslehre überhaupt auf-
gefasst sei, ohne Rücksicht auf die Lage, in der sich Eegierungen ihren
Völkern gegenüber befinden. Aus dem Standpunkte der Weltwirtschaft, wo
man alle Völker bloss als friedlich verkehrende Personen mit gleicher In-
dustriefähigkeit betrachtet, ist sie unbestreitbar wahr; allein aus dem
Gesichtspunkte der Industriepolitik wird sie nie allgemein anwendbar sein.
Die Industriepolitik gibt nämlich die Grundsätze, nach denen Regierungen
*) Da eine Biographie FränzTs auch bei Wurzbach nicht vorkommt, so ver-
öffentliche ich nachstehend die wichtigsten Daten aus dem Leben FränzTs, die mir
dessen Sohn Herr Dr. Julius Franzi v. Vesteneck freundlichst mitgetheilt hat.
Moriz Julius Franzi wurde am 26. Juli 1806 zu Klagenfurt geboren und vollendete
die Studien an den unteren Schulen und der Universität in Wien mit vorzüglichem
Erfolge. In Graz trat er die Praxis bei den Gerichten an, wurde jedoch alsbald, am
7. Juli 1829, als Supplent der politischen Lehrkanzel Kudler's an die Wiener Hoch-
schule berufen. Am 16. Mai 1831 zum Doctor der Rechte promoviert, wurde er am
24. September 1832 zum provisorischen Professor der Statistik an der Theresianischen
Ritterakademie ernannt, in welcher Stellung er in den Jahren 1834 und 1835 auch Vor-
lesungen über die politischen Wissenschaften abhielt. Im Jahre 1835 wurde er zum
definitiven Professor der Statistik ernannt. Da er auch über europäisches Völkerrecht
und die österreichischen Gefällsgesetze Vorträge hielt, wurde ihm am 19. Februar 1839
am Theresianum die Lehrkanzel für politische Wissenschaften, schwere Polizeiübertretungen
und Cameralistik übertragen. Die Vorträge über Statistik hatte er abzugeben. Im Jahre
1841 trat Franzi in den Finanzdienst. Sein Lehramt gab er erst auf, als er am 2. Mai
1843 zum Hofsecretär bei der allgemeinen Hofkammer ernannt worden war. Auf Empfeh-
lung des Grafen Taaffe w^urde Franzi im Jahre 1843 berufen. Seiner Majestät dem
jetzt regierenden Kaiser Franz Joseph über Statistik, Natur-, Staats- und Völkerrecht,
österreichische politische Gesetzkunde, Gefälls- und Finanzgesetzkunde Vorträge zu halten.
Dieselben wurden bis zum Jahre 1847 fortgesetzt; in den Jahren 1847 und 1848 unter-
richtete Franzi auch Ihre kaiserlichen Hoheiten* die Erzherzoge Ferdinand Max und
Karl Ludwig in Statistik, den letzteren überdies in Geographie und französischer
Sprache. Die letzte Unterrichtsstunde fand am 5. October 1848 in Schönbrunn statt. Im
Jahre 1847 wurde Franzi zum Regierungsrathe befördert, im Jahre 1849 als Ritter der
Eisernen Krone in den Adelstand erhoben (mit dem Piädicate v. Vesteneck). Nachdem
er im October 1850 zum Leiter der Finanz-Landes-Direction in Innsbruck ernannt worden,
Beitrag zur Dogmen-Geschicbte der Schutzzollidee. 251
den Wohlstand ihres Staates ohne Eücksicht auf das Gedeihen fremder
Länder . . . begründen und befördern sollen." Da die Staaten sich in un-
gleichen politischen und finanziellen Verhältnissen befinden, werden sie das
nämliche Ziel auf verschiedenen Wegen verfolgen müssen. Bei jedem Ge-
sellschaftszweck, „den Privatkräfte gar nicht oder nicht so vollständig
en*eichen, beginnt nach den Grundsätzen der Staatsweisheit die Thätigkeit
der Regierung" so z. B. wenn der Nationalwohlstand durch die blosse
Privatthätigkeit der arbeitenden Glasse nicht vollständig „erreicht" werden
kann: „wenn endlich die Gegenwart nichts besonderes darbietet, aber die
fernere Zukunft gewisse Yortheile zeiget, so wird die Weisheit der Regie-
rung hier ebenfalls den, mehr die nahen Vortheile beachtenden Privaten
vorauseilen und selbst auf Kosten der Gegenwart künftigen Generationen
überwiegende Yortheile sichern." Sind nun Prohibitivmaassregeln zu allen
diesen Zwecken die wirksamen Mittel?
Der erste Abschnitt behandelt die Zölle „als Mittel, die Production
im Inlande zu heben". Man sagt gewöhnlich, die Production werde sich von
selbst heben, wenn Gewerbsgeschicklichkeit, Capital und Hoffnung auf
Absatz vorhanden sind; wenn wir trotzdem die Gewerbserzeugnisse aus dem
Auslande beziehen, so sei dies ein Beweis, dass uns „die Naturanlage für
diesen Productionszweig fehlt." Allein um im Kampfe mit Erfolg zu be-
stehen, müssen alle genannten Vorbedingungen zu gleicher Zeit vorhanden sein,
überdies müssen die Gegner mit gleichen Waffen kämpfen, und wenn „unser
wurde er im Mai 1851 wieder ins Finanzministerium zurückberufen, und im selben Jahre
zum Ministerialrathe, dann im Jahre 1862 zum Sectionschef und Generaldirector der
directen Steuern ernannt. Es wurden ihm in seiner Beamtenlaufbahn vielfache Beweise
grossen Vertrauens zutheil; so wurde er in den Jahren 1848 und 1849 in geheimen
Missionen nach Petersburg und Warschau entsendet, er war Protokollführer in der unter
Vorsitz des Kaisers abgehaltenen Conferenz der Minister und Reichsräthe über das soge-
nannte Nationalanlehen, im September 1859 verfasste er im Auftrage des Ministers
Freiherrn v. Brück den Entwurf eines Statutes für den verstärkten Reichsrath, seit
August 1862 war er mit der Leitung der im Finanzministerium stattfindenden Berathungen
über eine neue allgemeine Classensteuer betraut. Am 29. Juli 1865 wurde Franzi in
Disponibilität versetzt; am 26. October 1865 erfolgte seine Pensionierung. Franzi lebte
von da ab in Zurückgezogenheit auf seinem Gute jSTeudegg in Krain. Er starb am
27. März 1875 an einer Rippenfellentzündung in Wien.
Bis zu seinem Eintritt in den Finanzdienst, im Jahre 1841, Avar Franzi ein
fleissiger, vielseitiger Schriftsteller. Es erschienen von ihm in der Zeit von 1834 bis 1841
die bereits erwähnte Schrift über die Zölle, ferner ein commentierender Auszug
aus der Zoll -, Staats - und Monopolsordnung . „des österreichischen Strafgesetzes
über Gefällsübel-tretungen allgemeiner Theil", Wien 1838, „Statistische Uebersicht der
Eisenbahnen, Canäle und Dampfschiffahrten Europas und Amerikas", Wien 1838, endlich
eine Statistik; der erste Band ist vom Jahre 1838, die zwei Abtheilungen des zweiten
Bandes sind vom Jahre 1839 und die drei Abtheilungen des dritten Bandes vom Jahre
1841 datiert. In den Jahren 1838 bis 1840 besorgte er die Redaction der Wagnerischen
Zeitschrift für österreichische Rechtsgelehrsamkeit. Nach 1841 hat Franzi, soviel ich
weiss, nichts mehr im Druck erscheinen lassen. Von diesen Arbeiten gehört bloss die
Erstlingsschrift über die Zölle in die politische Oekonomie, die „Statistik" enthält indessen
noch manche Beziehungen zu dieser Wissenschaft.
17*
252 Zuckerkandl.
Rival ein Monopol für sich hätte, so ist für unsere Industrie nur dann
Erfolg zu erwarten, wenn wir ihr gleichfalls ein Monopol verschaffen".
Prohibitivmaassregeln sind daher erprobte Helfer. Sie befördern die Gewerbs-
geschicklichkeit, „indem sie Gewerbe künstlich hervorrufen, dadurch eine
Schule für Gewerbserfahrung bilden ... Sie befördern auch die Ver-
mehrung der Capitale, indem sie manchen Gütervorrath ... der neu-
geschaffenen inländischen Production zuführen". Die Einwendung, dass das
Capital, welches den künstlich hervorgerufenen Gewerben zufliesst, bei
ungestörtem Gange der Dinge sich einer zweckmässigeren Productionsart
zugewendet hätte, sei unrichtig. Denn es wird dabei vorausgesetzt, dass
bereits alle Arbeitskräfte und disponiblen Gütervorräthe für die Production
gewonnen seien, während die meisten Nationen sich in diesem blühenden
Zustande nicht befinden. „Wie viele Talente sind fast in jedem Volke un-
benutzt, wie viele Gütermassen todt, wie viele Arme müssig! ... Es ist
also sehr denkbar, dass die Kegierung die bestehenden Erwerbswege schonen
und dennoch durch Schutzzölle neue hervorrufen könne." Wo sich diese Voraus-
setzung erfüllt hat, „da wäre es thöricht, aber auch unmöglich, noch durch
Maassregeln der Kegierung neue Productionswege hervorzurufen", und die Re-
gierung kann nur die Aufgabe haben, das Bestehende zu sichern, wobei Prohi-
bitivmaassregeln das beste Mittel sind. „Nach und nach erst können die hier
eine ganz entgegengesetzte Tendenz verfolgenden Zölle heruntergesetzt werden,
um die Nation nicht fortwährend mit einem für sie kostspieligen Productions-
zweige zu belasten." Wer möchte behaupten, dass in den amerikanischen
Staaten, in Ostindien, Russland nicht unendlich viele Keime des Wohl-
standes noch schlummern? Warten, „bis sie bei freigelassenem Verkehre
entwickelt werden, heisst die Lage der verkehrenden Völker, die Natur des
Menschen, die Macht der Gewohnheit, das gefährliche Uebergewicht der
Nachbarn verkennen, heisst mindestens, sich auf viele Decennien hinaus
jener Vortheile berauben, die schnellere Entwickelung vergegenwärtigen
könnte." Die in der Industrie hervorragenden Länder haben sich gleichsam
in die Versorgung der consumierenden Welt getheilt, und sie haben bei
freigelassenem Verkehre nicht leicht die Concurrenz eines Anfängers zu
befürchten. Werden Prohibitivmaassregeln ergriffen, dann kann man erst,
„geschützt gegen die bisher erdrückende Concurrenz, mit sicherem Erfolge
ein Capital für industrielle Production verwenden"; den Consumenten wird
dabei allerdings etwas von ihrem . Einkommen abgenommen, „um durch eine
Zeitlang den Neubruch zu düngen . . . allein der endliche Vortheil ist
ebenso überwiegend, wie bei einem Menschen, der sich bisher tragen Hess
und nun durch Anstrengungen und Kosten selbst gehen lernt." Wenn durch
das Prohibitivsystem der äussere Verkehr wirklich beschränkt würde, so
müsste der innere Verkehr zunehmen. Wenn Amerika statt ein Federmesser aus
England um einen Dollar zu beziehen, es selbst um IV2 Dollar zu erzeugen
unternimmt, so hat es einen halben Dollar geopfert, aber einen Messerschmied
gewonnen. „Ist das Opfer der Consumenten dann noch -zu gross, wenn man
damit nicht bloss die Producte, sondern die Producenten selbst sammt ihren
Beitrag zur Dogmen-Geschichte der Schutzzollidee. 253
Familien gewinnt?" Es wird von verschiedenen Opportunitätserwägungen
abhängen, ob man die freie Concurrenz zulassen solle oder nicht. „So oft
der Verlust am äusseren Absatz durch inneren Verkehr ersetzt wird", sind
Zölle einzuführen; es ist unrichtig, dass die Fabrikanten dadurch zu Mono-
polisten gemacht werden, es wird nur ein Monopol an Stelle des noch
schädlicheren der fremden Fabrikanten gesetzt.
Franzi vergleicht die Prohibitivsysteme mit den Erfindungsprivilegien:
jene werden dem ganzen auflebenden Gewerbsstande ertheilt und statt für
10 für 80 bis 100 Jahre. „Verewigen will auch der stärkste Anhänger des
Prohibitivsj^stems den Zollsatz nicht, sondern nur die Grenze schliessen,
bis er die Concurrenz aushält. " Zölle sind einzuführen, wenn noch viele
Canäle für inländische Production und Handel unbenutzt sind; man soll
aber die Capitalien und Arbeitskräfte nicht in naturwidrige Productionen
drängen. „Nie wird es aufhören, die schwere Kunst der Kegierungen zu
sein, ebensosehr den flüchtigen Vortheil des Augenblickes zu ergreifen,
als die fernste Zukunft zu Käthe zu ziehen." Handelsstaaten wären unklug,
wenn sie ihr Lebensprincip durch Prohibitivmaassregeln beschränken wollten.
..Die natürliche Entwickelung eines Staates fordert Urproduction — Gewerbs-
leute — Handelsleute. So lange eines davon fehlet, ermangelt die Gesell-
schaft eines zu ihrem Wohlstande nothwendigen Elementes. . . . Alle Ge-
werbsarten können selbst in einem grossen Staate sich nicht mit Vortheil
finden; viele aber und zwar die wichtigsten können unter jeder Staatsform
und auf jedem Staatsgebiete gedeihen, und die Kegierungen sollen nicht
früher ruhen, als bis sie diese Hauptgewerbsarten auf inländischen Boden
verpflanzt und erstarkt sehen." Es mag dann immerhin der üeberschuss zum
Ankaufe fremder Luxuswaaren verwendet werden, allein das natürliche Ver-
hältnis ist erst dann hergestellt, wenn im auswärtigen Handel hauptsächlicli
Fabrikate, nicht aber Urproducte einerseits, Fabrikate andererseits gegen
einander ausgetauscht werden; verkauft ein Land seine Kohproducte,
so „hat freilich jeder Webstuhl des Auslandes einen Pflug im Inlande in
Bewegung gesetzt . . . ; allein der ganze oft Millionen betragende Arbeits-
lohn, Unternehmungsprofit und Capitalgewinn, den sich das Ausland in
unseren ürproducten zahlen Hess, ist ein Verlust für die Nation, der erspart
wird, wenn Fabrikate gegen Fabrikate getauscht werden, weil in diesem
Falle mit denselben vorerst eine inländische Fabrikantenclasse genährt
wurde und diese dann *imr ihre Ueberschüsse gegen fremde Ueberschüsse
umsetzte."
Worin liegt das Princip für Anfang .und Ende des Prohibitivsystemes ?
„Erst dann kann man mit Prohibitivmaassregeln anfangen, wenn das Volk
so weit auf der Bahn der Civilisation vorgeschritten ist, dass es bereits
ein Bedürfnis nach den Erzeugnissen der Mittelclasse fühlet, und zweitens,
auch genug Hände und Gütervorräthe besitzt, um selbst für die Verbesserung
seiner Lage arbeiten zu können. Bis diese beiden Bedingungen eintreffen,
muss . . . freier Verkehr den Trieb erwecken, Bildung und Sparsamkeit
der Kegierung aber die Mittel schaffen, um die weitere Entwicklung vor-
254 Zuckerkandl.
zubereiten . . . Man könnte mit vieler Wahrheit sagen, dass es dann,
wenn ein junger Staat anfängt, G-etreide und Mehl auszuführen, auch Zeit
sei, an eine weise Anwendung des Prohibitivsystems zu denken." Denn die
Staaten, die Urproducte ^ausführen und Gewerbsartikel einführen, liefern
damit den Beweis, dass sie, ohne an der Zahl und dem Wohlstande ihrer
ürproducenten zu verlieren, noch überdies eine bedeutende Gewerbsclasse
in ihrer Mitte aufnehmen könnten. Viele Familien würden von dem was aus-
geführt wurde, leben und die IVEanufacturwaaren erzeugen, „wenn die Nation
<iazu erzogen wäre." Dem Prohibitivsysteme ein Ende zu bereiten, ist der
Regierung erst dann möglich, wenn sie die Beruhigung erhält, dass die
Gewerbsindustrie sich von selbst ungehindert und kraftvoll entwickeln werde.
Bei dieser Ueberzeugung kann man die Zölle allmählich herabsetzen und
endlich „das Gewerbswesen emancipieren. ... So sind es also die Umstände,
die über die Nothwendigkeit oder Nützlichkeit des Prohibitivsystemes
entscheiden."
Der erste Abschnitt der Schrift, den ich zumeist mit den Worten
des Verfassers wiedergegeben habe, ist der wichtigste und längste. Die folgen-
den vier Abschnitte sind minder bedeutsam. Die Ueberschriften derselben
lauten: „Zölle als Mittel die Consumtion zu beschränken", „Zölle als Be-
steuerungsmittel", „Zölle als Mittel, den Gang der Industrie und des Han-
dels zu übersehen", „Zölle als Mittel, bestehende Industrie zu erhalten, als
Repressalien und bei Handelsverträgen". Von einer Wiedergabe des In-
haltes sehe ich der Kürze wegen ab. In einer Schlussbemerkung kommt
der Verfasser zu einer bündigen Wiederholung seiner Ansichten. Er erklärt,
„dass Zölle unter gewissen Umständen nöthig, unter anderen wieder nützlich
sind, und dass selbst bei den industriöseren Nationen volle Handelsfreiheit
schwerlich hergestellt werden dürfte, wenn jede Regierung den Gesammt-
vortheil ihrer Nation vor Augen hält." Die bekannte Aeusserung Hamil-
1 0 n's, der anscheinend auch N e b e n i u s beipflichtet, dass die Freihandels-
lehre A. Smith's an sich wahr, aber unausführbar sei, insolange nicht
alle Regierungen sich darüber einverstanden hätten, sei unzutreffend: nicht
der Wille der Regierungen, „das Lebensalter des Volkes, seine Entwicke-
lung, der Geist und die Wohlhabenheit desselben, seine früheren Schick-
sale, politische und Elementarereignisse, ferner alle diese Umstände bei
allen damit in Verkehr tretenden Völkern, endlich die politische Tendenz
der Regierung überhaupt, das sind die Bedingungen, von denen Handels-
freiheit oder Beschränkungen abhängen". Die englischen Anpreisungen der
Handelsfreiheit machen den Eindruck, als wollte England verhüten, dass
andere Staaten jene Maassregeln treffen, die einst England gross gemacht
hatten. „Allein die Wissenschaft soll nie dem einen Lande, und wäre es
selbst das eigene, sondern nur der reinen Wahrheit dienen". —
Es ist unverkennbar, und tritt wohl auch aus dem vorstehenden Aus-
zuge hervor, dass die Ideen FränzTs denjenigen List's, wie sie im
nationalen System der politischen Oekonomie niedergelegt sind, sehr nahe-
stehen. Die Tendenz ist die nämliche, und es lässt sich eine weitgehende
Beitrag zur Dogmen-Geschichte der SchutzzoUidee. 255
U eberein Stimmung in der Begründung der Lehre nachweisen. Beide erklären,
dass die Freihandelslehre vom Standpunkte der Weltwirtschaft richtig sei,
aber unanwendbar und unrichtig, wenn man die Umstände der Nationen
und Staaten beachte. Während List in dieser Beziehung auf die zwischen
dem Individuum und der Menschheit stehende Nation hinweist, die die volle
Entfaltung ihres Könnens anstrebe, hält sich Franzi mehr an den Staat
und die Regierung, welche die Aufgabe haben, das Beste der Staatsbürger
zu befördern, und dabei vorsorglich auch die Zukunft in Betrachtung zu
nehmen. Beide sind darin einig, dass nur jene Nation oder Gesellschaft,
welche neben der Urproduction Handel und Industrie besitzt, den möglichen
Grad der Entwickelung erreicht hat, von Beiden wird die Bedeutung der
Industrie für das wirtschaftliche und geistige Wohl der Völker sehr hoch ver-
anschlagt: Franzi stellt dies mehr als ein Axiom hin, während List diese
Idee mit besonderer Liebe unter dem Gesichtspunkte der Arbeitstheilung und
der Conföderation der Beschäftigungen darlegt. Dass der Schutz der natio-
nalen Arbeit der Nation zunächst Opfer auferlegt, war beiden klar, nicht
minder, dass der endliche Vortheil sicher sei. List beruft sich dabei vor-
wiegend auf die Erweckung der productiven Kräfte durch den Schutz und
stellt diese Lehre der Theorie der Werte entgegen; auch Franzi weist
oft genug auf den Gewinn an Kräften hin (s. §§ 5, 16, 22 und 23), doch
sucht er auch nachzuweisen, dass, wenn die Schutzpolitik den äusseren
Verkehr verlängert, der innere Verkehr steigen müsse. Beide fassen den
Schutz der nationalen Arbeit als eine vorübergehende Erziehungsmaassregel
auf, die nur in bestimmten Entwickelungszuständen der Völker angemessen sei,
und versuchten für Anfang und Ende der Schutzpolitik ein Princip zu finden.
Beide verweisen auf die durch die Entwickelung eigener Industrien herbei-
geführte Unabhängigkeit der Nationen und Staaten vom Auslande, beide
denken bei der Schutzpolitik zunächst an die „Hauptindustriezweige, welche
gleichsam den Stamm des Nationalwoblstandes bilden", das heisst „Artikel
des gemeinen Verbrauches erzeugen". Beide sind nur für den Schutz jener
Industrien, für welche die natürlichen Grundlagen vorhanden sind.
In der Polemik gegen das Freihandelss3^stem werden die einzelnen
Argumente mit verschiedener Ausführlichkeit behandelt. List sucht vor
allem den Satz zu widerlegen, dass die Production nur in dem Maasse an-
wachsen könne, wie das Capital (in dem von der „Schule" angenommenen
Sinne), indem er darstellt, dass durch die Einführung von Industrien viele
in einem Agriculturstaate nothwendig nicht benutzbare natürliche und
geistige Productivkräfte geweckt werden. Franzi entgegnet seinerseits auf
die Behauptung der Freihandelslehre, dass die Production durch das Capital
begrenzt werde, und dass man durch Schutzmaassregeln die Production
nicht vermehrt, sondern nur verändert, indem man das Capital nöthigt, den
geschützten Beschäftigungen zuzufliessen und diejenigen, die nicht geschützt
sind, zu verlassen. Er ist in der Widerlegung dieses Satzes, wie ich glaube,
sehr glücklich, indem er festzustellen sucht, dass eine Natjon, welche Eoh-
producte ausführt um fremde Gewerbserzeugnisse einzuführen, dem Auslande
256 Zuckerkandl.
die wichtigsten Productionsmittel abgibt, mit deren Hilfe man die aus dem
Auslande bezogenen Waren im Inlande herstellen könnte.
Ein Fehler der Arbeit FränzFs liegt darin, dass die ungleiche Wirk-
samkeit und Nützlichkeit der verschiedenen Schutzmaassnahmen nicht unter-
sucht wird; es werden anscheinend Prohibitionen, Schutzzölle und Zölle
unterschiedlos empfohlen. Der Verfasser hat offenbar nur eine Besprechung
des Principes des Schutzes der nationalen Arbeit beabsichtigt, und die zur
Durchführung geeigneten Mittel nicht untersuchen zu sollen geglaubt. Auch
die von List so ausführlich behandelte Frage des Schutzes der Landwirt-
schaft durch Zölle hat Franzi nicht berührt, üeberhaupt ist das nationale
System List's -viel umfassender und reichhaltiger als die kleine Schrift
Fränzl's. Man darf, wenn man die beiden Arbeiten vergleicht, die Verschieden-
heiten nicht übersehen, welche mit Bezug auf die Verfasser und die Veran-
lassungen und Absichten der Veröffentlichung vorliegen. Franzi war im
Jahre 1834- ein wissenschaftlicher Anfänger, der sich mit seinen in bescheidenem
Tone vorgetragenen Lehren an einen kleinen Kreis von Fachgenossen wendete,
um sie eines Besseren zu belehren und für seine Ideen zu gewinnen. Das
nationale System, von List zur Zeit seiner höchsten Leistungsfähigkeit ge-
schrieben, sollte sein Hauptwerk werden, und nicht bloss die Freihandelslehre,
sondern das ganze System der Schule. widerlegen und durch ein neues ersetzen.
Nach dieser Vergleichung Fränzl's mit List ist es zur richtigen
W^ürdigung beider unerlässlich, durch Heranziehung der älteren, geistes-
verwandten Autoren festzustellen, was sie bloss wiederholt und was sie
Neues gefunden haben. Wollte man diese Untersuchung vollständig durch-
führen, so müsste man freilich sehr weit zurückgehen, denn der Schutz der
nationalen Arbeit war bekanntlich der Hauptgrundsatz des gewiss nicht
kosmopolitischen Mercantilismus, ja er ist älter als seine wissenschaftliche
Vertretung: denn er bildet, da er der menschlichen Natur congenial ist,
gleichsam die natürliche Handelspolitik jedes aufstrebenden Volkes, während
die Freihandelslehre eine von der Wissenschaft entdeckte Theorie ist, deren
Richtigkeit den Nationen nicht leicht nachgewiesen werden kann. Wenn
sich derart in der älteren Literatur, vermengt mit vielen Irrthümern, ein-
zelne der Ideen finden, die List und seine Vorgänger vertraten, so wäre
doch die Annahme irrig, dass es diesen leicht gewesen sei, zu ihren Lehren
zu gelangen. Im Gegentheile, es war in den ersten 40 Jahren dieses
Jahrhunderts ebenso schwer, ein Gegner der Freihandelslehre zu sein, als
es hundert Jahre früher schwer war, den Schutz der nationalen Arbeit zu
bekämpfen. Ist es überhaupt nicht leicht, sich von der herrschenden An-
sicht loszumachen, so war die Aufgabe im vorliegenden Falle umso grösser,
als die Gegner A. Smith's mit Rücksicht auf dessen eindringliche Wider-
legung des Mercantilismus, für ihre Lehren eine neue theoretische Grund-
lage schaffen mussten. Diese nun ist nur allmählich zustande gekommen
und durch die wissenschaftlichen Bemühungen Vieler; das Hauptsächlichste
aus dieser Entwickelung möchte ich hier nach der mir zugänglichen
Literatur in kurzer Zusammenfassung feststellen.
Beitrag zur Dogmen-Geschichte der Schutzzollidee. 257
Ueber den Beitrag, den die Nationalökonomen der Vereinigten Staaten
von Amerika zur modernen Lehre vom Schutze der nationalen Arbeit ge-
liefert haben, will ich mich vor allem äussern, wegen der Anregungen, die
List empfangen haben mag, während er in den Vereinigten Staaten ver-
weilte. Die einschlägige Fachliteratur ist mir zu meinem Bedauern nicht
in genügendem Maasse zugänglich gewesen, und ich musste mich mit
Mittheilungen aus zweiter Hand begnügen. Das VVichtigste verdanke ich
in dieser Beziehung einem jungen Forscher aus der nordamerikanischen
Union, Herrn Harry J. Furber, der in seinem noch ungedruckten Werke:
„History of the development of economic theory in the United States",
interessante Beiträge zu dieser Frage liefern dürfte.
Schon in den beiden ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts be-
kannten sich viele Politiker und Nationalökonomen der Union zu dem Satze
Alexander Hamilton's, dass jede Nation trachten müsse, selbst für die
wichtigsten Theile ihres Bedarfes aufzukommen. In den Discussionen übei>
die Zolltariffrage im Jahre 1824 gab einer der Führer des Protectionismus,
Henry Clay, das Schlagwort vom amerikanischen System der politischen
Oekonomie aus, eine Benennung, die grosse Volksthümlichkeit erlangte,
und im Titel der bekannten Schrift List's, die dieser auf Anregung
IngersoU's schrieb, wiederkehrt. Nicht zu übersehen sind in Bezug auf
die Entwickelung der Schutzzollidee die Arbeiten Daniel Kaymond's, von
dem das erste systematische Werk über Nationalökonomie herrührt, das in
Amerika erschien. Dieser unterscheidet in seinen „Thoughts on Political
Economy" (Baltimore 1820) zwischen individuellem und Nationalreichthum,
ähnlich wie Lauderdale, und zwischen private und political economy; das
Princip der völligen wirtschaftlichen Freiheit ist nach seiner Meinung mit
den Interessen einer Nationalökonomie unvereinbar, wenn es auch für eine
auf individualistischer Grundlage aufgebaute Wirtschaft Geltung haben
sollte. Sehr bemerkenswert ist, dass, während Eaymond den individuellen
Eeichthum als Ueberfluss an materiellen Gütern bezeichnet, er den National-
reichthum definiert als die „capacity for aquiring the necessities and com-
forts of life", womit eine Aeusserung List's nahezu ganz übereinstimmt.
Die Unterscheidung der für die Privat- und der für die Nationalökonomie
wichtigen Maximen wurde damals bereits für sehr wichtig gehalten; sie war
Gegenstand eines wissenschaftlichen Streites, und es hat insbesondere der
von List citierte Cooper sich um den Nachweis bemüht, dass dem Be-
griffe der Nation kein existierendes Ding entspreche.
Die Schutzidee findet wichtige Vertreter in der französischen Literatur
und sind hier besonders vier Forscher zu nennen: Ferrier, Chaptal,
Ganiih und Louis Say. Ferrier war mit seiner Ueberschätzung der
Bedeutung des Geldes ein Mercantilist im landläufigen Sinne des
Wortes. Er betrachtet das Geld als Quelle des Eeichthums, und nennt es
das kostbarste Capital, weil es zur Schaffung und Erhaltung der übrigen
Capitalien beiträgt. Die Ausfuhr von Geld sei ein Uebel, und die Völker
müssten daher einen Activhandel anstreben und durch Ausschliessung
258 Zuckerkandl.
fremder Erzeugnisse eine grössere Anzahl von Arbeitern im Inlande unter-
lialten. Er befürwortet den Zollscliutz auch als dauernde Maassregel.
Ferrier ist noch kein moderner Theoretiker des Schutzsystems.^)
Chaptal, der Verfasser des höchst verdienstvollen Werkes über die
französische Industrie stellt, ohne viel in theoretische Auseinandersetzungen
sich einzulassen, dar, dass die Aufhebung des Schutzes, den die französische
Arbeit geniesst, den Euin des heimischen Wohlstandes herbeiführen würde,
weil die ausländische Concurrenz unüberwindlich sei, dass in vielen Fällen
die Production nur durch den staatlichen Schutz hervorgerufen werden
könne, und dass dabei zwischen Eohproduction und industrieller Production
kein Unterschied zu machen sei. Er betont die Schwierigkeiten, die eine
richtige Schutzpolitik wegen der zahlreichen, einander widerstreitenden
Interessen zu überwinden habe, und mahnt mit Kecht zu sorgfältiger
Prüfung der jeweiligen Sachlage, sowie zu genauer Abwägung aller erhobenen
Ansprüche und betheiligten Interessen. )^
Durch Schutzzölle seien die Ungleichheiten in den Gestehungskosten
der Producte auszugleichen. Verbote könnten nur als Repressalien angesehen
werden, oder um einer Production über die Kinderjahre hinwegzuhelfen. Stellt
sich in verlässlicher Weise heraus, dass ein bisher aus dem Auslande bezogenes
Gut im Inlande hergestellt werden könne, dann seien die Zölle allmählich zu
erhöhen, und man könne sogar zu Verboten schreiten, sobald die inländische
Production das betreffende Gut herzustellen begonnen habe. Das Opfer der
Consumenten sei vorübergehend, und dem Vaterlande gebracht, um eine
neue Quelle des ßeichthums zu erschliessen; die inländische Concurrenz
drücke die Preise alsbald auf das entsprechende Niveau herab. Er verlangt
endlich, dass jede gute Zollpolitik stabil, ja unbeweglich (immuable) sein
solle. ^) In eine Widerlegung der theoretischen Grundlagen der Freihandels-
lehre lässt Chaptal sich nicht ein.
Ganilh war ein origineller Theoretiker des Schutzsystems. Er betont
nachdrücklich den nationalen Standpunkt und sondert das Gesammt-Interesse
vom Einzel -Interesse. Der Zweck, den ein Volk durch die Schutzpolitik
anstrebe, sei „de mettre ä Tabri de toute concurrence etrangere les facultes
productives de son sol, le travail de ses classes laborieuses, et le placement
de son capital jusque ä ce qu'ils puissent la soutenir avec avantage ou du
inoins sans perte." Die Unmöglichkeit der Concurrenz mit den in der
Industrie weiter vorgeschrittenen Staaten wird auch von ihm bestätigt.
Den Einwand, dass die Production eines Volkes durch dessen Capital
begrenzt sei, sucht er zu widerlegen durch den Hinweis darauf, dass jede
Nation durch die bessere Verwendung ihres Capitals sich bereichere und dass
Handel und Industrie dem Capital höheren Gewinn bringen, als die Agri-
cultur. Man könnte also durch eine veränderte Verwendung des Capitals die
Industrien fördern, ja sogar schaffen. Wenn die Nation Mittel hat, um die
^) Du gouvemement cousidere dans ses rapports avec le commerce, 1821, 2. Ausgabe.
3. und 4. Buch.
2j De rindustrie fraTi9aise, 1819, 2. Band, pag. 412 ff.
Beitrag zur Dogmen-Geschichte der Schutzzollidee. 259
Erzeugnisse des Auslandes zu bezahlen, dann kann sie immer diesen Theil
ihres Einkommens zur Begründung von Manufacturen verwenden. Er geht
noch weiter und behauptet: „le capital de chaque peuple dans son etat actuel
lui suffit, pour faire fabriquer dans ses manufactures les objets qu'il achete
de Tetranger .... chaque pays, . . . par le seul deplacement de la partie de
son revenu, qu'il affectait au paiement des produits de l'industrie etrangere,
peut faire fabriquer les memes produits dans ses manufactures". Die für die
heimischen Erzeugnisse zu entrichtenden höheren Preise seien „le levier
de la production plutöt, que la recompense du producteur". Aber, und
darin erblickt Ganilh eine von ihm beigebrachte neue Idee „ces privations
seraient absurdes, si elles ne devaient jamais produire Teffet, qu'on s'en
est promis", man muss also den Anordnungen, welche die Einfuhr hindern,
eine Grenze setzen.^) -|-
Ich glaube, es ist nicht schwer, die Mängel dieser Lehre herauszu-
finden; es ist sicherlich unrichtig, dass jedes Volk die materiellen Mittel
— von den geistigen ganz abgesehen — besitzt, um das selbst zu er-
zeugen, was es aus dem Auslande bezieht. Auch wird nicht dargelegt,
wann der Schutz beginnen solle, es wird nicht zwischen Agricultur- und
Industriestaaten unterschieden, sondern Ganilh verfällt in die alt-
mercantilistische Maasslosigkeit, wenn er sagt: „le veri table interet de tous
les peuples leur impose le devoir, de gener l'importation des produits de
rindustrie etrangere, quand ils sont ä meilleur marche, que ceux de sa
propre Industrie; ils n'ont pas d'autre moyen pour se conserver au rang
des peuples industrieux. pour ne pas retomber dans l'etat inferieur des
peuples agricoles." Dieser Grundsatz würde zur Ausschliessung fast aller
fremden Gewerbserzeugnisse führen, zur Aufhebung der internationalen
Arbeitstheilung auch zwischen Industrievölkern und zu einer zwecklosen
Verschwendung von Arbeitskraft und Capital.
Dieselbe Maasslosigkeit findet man auch bei Louis Say. Er stellt das
Princip auf, der auswärtige Handel solle einer Nation nur jene Güter
bringen, die sie selbst nur schwer erzeugen könne. Diese gewiss unrichtige
Auifassung, welche die Prohibition unter Umständen als eine dauernde
Staatseinrichtung gelten lässt, beruht auf einer interessanten theoretischen
Grundlage, die ich weiter unten mittheilen werde. Schon hier möchte ich
jedoch hervorheben, dass bereits Say die Handelsgrundsätze vom kosmo-
politischen und vom nationalen Standpunkte sondert, und überdies .sehr
eindringlich darthut, dass nicht alles, was dem Interesse des Einzelnen
entspricht, deshalb auch schon für die I^ation nützlich sein müsse, und
dass die kluge Wahrnehmung des eigenen Vortheils oder die geschickte
Vermehrung des eigenen Gewinnes seitens des Einzelnen keineswegs stets
auch den Wohlstand der Nation erhöht. 2)
') La theorie de l'Econ. pol. 2. Auflage, 1822, 2. Band, pag. 197 if.
2) Traite elem. de la richesse individuelle et de la riehesse publique, 1827. Siehe
insbesondere Buch 2, Ch. IL, pag. 193, 211 If.
260 Zuckerkandl.
Die Untersuchungen über Handelspolitik in der deutschen Literatur
sind in der Zeit nach Beendigung der Freiheitskriege, wie bekannt, aus
den unbehaglichen wirtschaftlichen Verhältnissen herausgewachsen, in denen
sich Deutschland damals befand. Die Berichte aus jener Zeit stimmen darin
tiberein, dass die nach dem Frieden wiederangeknüpften internationalen
Handelsbeziehungen der deutschen Production eine sehr unerwünschte Con-
currenz schufen, indem die deutschen Länder besonders durch England mit
billigen Erzeugnissen überreich versorgt wurden. Dieser dem Absätze der
deutschen Producte abträgliche Wettbewerb wurde umso schwerer empfanden,
als England selbst sich durch Verbote und Zölle abgesperrt hatte und der
Absatz auf deutschem Boden durch zahlreiche Mautschranken der Bundes-
staaten behindert wurde. Die nationale Begeisterung und der wieder belebte
Einheitsgedanke forderten auch auf dem Gebiete der Handelspolitik eine
Annäherung der deutschen Völker und eine nach aussen imponierende
Zusammenfassung aller Kräfte. In dieser Bewegung trat Friedrich List zum
erstenmale vor die grosse Oeffentlichkeit. Seine Ansichten sind im „Organ
für Handel und Industrie" niedergelegt. Seine zahlreichen Beiträge zu dieser
Zeitung beweisen, dass List damals die Grundzüge seiner späteren Lehren
noch nicht bekanntgab; er kämpfte für die Beseitigung der Zollschranken
in Deutschland und für ein Ketorsionszollsystem nach aussen und zeigt
sich eher als Anhänger der Freihandelslehre i). Es ist unter solchen Um-
ständen begreiflich, dass ein Vertheidiger des Schutzsystems, Hopf, mit
') Es wäre leicht dies aus dem „Organ" vielfältig zu belegen. Ich verweise nur
auf zwei Stellen, die von List selbst herrühren. „Immer und überall hat der Handels-
verein in seinen Eingaben anerkannt: das höchste, was für den deutschen Nahrungsstand,
sowie für alle Nationen zu wünschen wäre, sei Handelsfreiheit in ganz Europa, in der
ganzen Welt; ein deutsches Mercantilsystem sei bloss das Mittel, um durch Handels-
verträge nach und nach die Anerkenntnis dieses Principes herbeizuführen". (Organ f. H.
u. J., Jahrg. 1820, pag. 142.) Ferner: „So sollte — meint der Handelsverein — und wir
zweifeln, ob es einen unbefangenen mit gesundem Verstände ausgestatteten Menschen in
ganz Deutschland gibt, der dies leugnet — so sollte Deutschland das Panier der allge-
meinen Handelsfreiheit aufstecken", vorerst aber Eetorsionen anwenden, um den anderen
Nationen „die Thorheit" ihrer Handelssysteme begreiflich zu machen; ein europäischer
Handelscongress „soll ein gemeinsames Handelssystem feststellen, welches, indem es die
möglichste Freiheit theils schon jetzt zulässt, theils vorbereitet, allen Nationen gleiche
Vortheile gewähren wird." (1. c. pag. 228.) List erklärt seine damalige Haltung als
die Frucht eines Compromisses mit den leitenden Persönlichkeiten des Handelsvereines.
(Das nationale System etc. 1841, pag. XIII. if.) Ich möchte hier auch noch auf einen Beitrag
^^Bemerkungen über das Bestreben des deutschen Handels- und Gewerbe -Vereines"
aufmerksam machen, den Eau dem „Organ" lieferte. (1. c. Nr. 14 ex 1819 u. Nr. 19 ex
1820.) Es wird darin ausgeführt, dass wenn in einem Lande „die technischen Erfordernisse
eines Gewerbes" vorhanden sind, Einfuhrzölle ein „mächtiger Sporn" seien, da sie atf einige
Zeit Schutz vor ausländischer Concun-enz gewähren; es müsse jedoch immer vorerst
festgestellt sein, ob dieses Gewerbe „dem jetzigen Zustande des Gewerbswesens ganz
entspreche, ob es nicht einträglichere Anwendungen von Capital und Arbeit gebe". Es
wird femer zur Vorsicht bei Aufhebung bestehender Zölle gemahnt, und constatiert, die
Erfahrung habe „längst bewiesen", dass bei günstigen Verhältnissen die Gewerbe durch
Zölle schnell zu vervollkommnen sind.
Beitrag zur Dogmen- Geschichte der Schutzzollidee. 261
dem „Organ" (ohne es zu nennen) als Vertreter der Freiliandelslehre
polemisiert/)
Der Schutz der nationalen Arbeit wird in der deutschen Literatur
lange vor dem nationalen System mit dem Hinweise darauf unterstützt, dass
man zwischen einer kosmopolitischen und einer nationalen Oekonomie unter-
scheiden müsse. Man findet diesen Gedanken bei Cancrin^): „Politische
Oekonomie ist uns die Wissenschaft vom Weltreichthum überhaupt (besser
Weltökonomie): Nationalökonomie, wenn sie auf ein bestimmtes Volk
angewendet wird." Er bezeichnet das „Universalgeschichtliche" als „herrliches
Ueberheben über die gemeine Menschennatur, in der Praxis aber für die
Masse verderblich. Jede Menschenrasse muss in ihren Unterabtheilungen,
jede als unabhängiges selbständiges Volk, eigenthümlich nach allen seinen
Eigenheiten und Bedürfnissen regiert und ausgebildet werden, denn sonst
gelangt keine zu möglichster Blüte und Consistenz. Unabhängige und
gesicherte Existenz ist also der Hauptzweck eines Volkes, dem auch der
Nationalreich thum untergeordnet werden muss." Alles dort zu kaufen, wo
es am wohlfeilsten ist, widerspricht dem Postulate der Nationalunabhängigkeit,
alles selbst zu machen, wäre ein anderes irriges Extrem. Wenn die Industrie
soweit Lage und Klima es erlauben .alle eigenen Bedürfnisse des Landes
befriedigt", befindet sie sich in natürlichen Grenzen, auch wenn sie über den
Landesbedarf pro duciert, „um diejenigen unserer Bedürfnisse damit zu kaufen,
in deren Erzeugung uns die Natur nicht begünstigt . . . Etwas ganz
anderes ist es, eine Fabrication bloss für andere zu bezwecken, die Städte,
die in Eussland sein sollten, in England zu erkünsteln ..."
Eine sehr ausführliche Empfehlung des Prohibitivsystems gibt Hopf.^)
Seine Arbeit ist von patriotischem Geiste durchzogen und mit besonderer
Rücksicht auf Deutschland geschrieben. Er verlangt im Interesse der
Unabhängigkeit des Volkes die Prohibition der ausländischen Erzeug-
nisse; die deutsche Arbeit gehe ohne Schutz zugrunde. Der freie Handel
verhindere sie auch, die den Eigen thümlichkeiten des Landes entsprechenden
Industriezweige zu entwickeln: die Handelsfreiheit sei wohlthätig nur für
Nationen, die auf der gleichen Höhe der Cultur stehen, anderenfalls bedeute
sie einerseits das Verbleiben auf einer niedrigeren Culturstufe. Durch
Prohibitionen werden „die inländischen Fabriken vor allzu früher und über-
legener Zudringlichkeit der auswärtigen Erzeugnisse geschützt und ihnen
•) Auf Seite 70 (der noch zu erwähnenden Schrift Hopfs). Die Polemik richtet
sich gegen eine Stelle pag. 42 des Organs, Jahrg. 1819.
■•^) In seinem anonymen Werke „Weltreichthum, Nationalreichthum und Staats-
Avirtschaft" etc., München 1821, Seite XI, 101 if. Bei einer umfassenden Darstellung der
Opposition gegen Smith wäre Adam Müller besonders zu beachten. Aeusserungen
über Handelspolitik finden sich „Elemente der Staatskunst", Berlin 1809, Bd. I, pag. 285,
Bd. II, pag. 236, 240 und Bd. III, pag. 4 u. 114.
3) Meinungen von der Handelsfreiheit und dem Prohibitivsystem in Beziehung auf
die Industrie in den deutschen Bundesstaaten, zur endlichen Entscheidung dargestellt
von Heinrich Friedrich Hopf. Wien 1823. S. bes. pag. 48, 50, 55, 68, 77, 134, 141
und 159.
2(52 Zuckerkandl.
Müsse gelassen . . . sich zur Höhe emporzuarbeiten, auf welcher sie fremde
Concurrenz nicht mehr zu fürchten haben." Durch diesen Schutz seien
England und Frankreich zu ihren Industrien gelangt. Die „Aemulation"^
welche durch den Freihandel erzielt werden soll, sei zu vergleichen mit
dem „Bilde eines starken, gesunden, mit allen Waffen versehenen und im
Gebrauche derselben geübten Mannes, der einen Knaben zum Zweikampfe
herausfordert." Von der Handelsfreiheit könnte nur dann die Kede sein,
„wenn die verschiedenen Völker der Erde aus einer Familie beständen, die
nach einerlei Gesetzen regiert und für deren Wohlstand von einem Kegenten
mit väterlicher Unparteilichkeit gesorgt würde." Hopfs Argumente sind
mehr praktisch und patriotisch als theoretisch: es ist in dieser Beziehung
gewiss bemerkenswert, dass er den freihändlerischen Satz, die Einfuhr
bewirke erhöhte Ausfuhr, also vermehrte Nachfrage nach inländischen Er-
zeugnissen, derart zu widerlegen sucht, dass er einwendet, die vermehrte
Production erfordert mehr Capital, „wo kommen nun die Capitale her, welche
zur Befriedigung der vermehrten Nachfrage erfordert werden?" Das fragen,
wie bekannt, die Anhänger A. Smith's, wenn man durch Zölle oder Ver-
bote Industrien gründen will.
Als Gegner der Freihandelslehre sind weiter zu nennen: C. T. Frei-
herr v. Gans und P. Kaufmann. Sie vertreten eine unrichtige Geld-
theorie, von der sie anscheinend zur alten Handelsbilanzlehre und zur
Schutzpolitik gelangt sind. Erwähnenswert ist indessen, dass beide über-
einstimmend leugnen, die Productivkraft, die das erzeugte, was nunmehr
aus dem Auslande bezogen wird, werde im Inlande lohnende Beschäftigung
finden. Dies könne bloss „in Staaten der Fall sein", sagt Gans, „die noch
nicht bedeutend cultiviert sind". Es wäre für den Staat nur dann zweck-
mässig, aus dem Auslande das billigere Gewerbserzeugnis einzuführen,
welches bisher im Inlande theurer erzeugt wurde, wenn feststünde, dass
durch eine anderweitige Verwendung der Productivkraft ein Product erzeugt
Av erden könnte, „dessen Vertausch gegen das erstere einen üeberschuss
zurücklässt." Dies sei, nicht der Fall, und durch die Handelsfreiheit wurden
jene Länder am meisten leiden, die sich durch kluge Staatsmaassregeln
auf den höchsten Gipfel des Nationalwohlstandes hinaufgeschwungen haben. ^)
Kaufmann setzt überdies auseinander, dass die Concurrenz mit den grossen
Industriestaaten unmöglich ist, er ist gegen unbedingte Handelsfreiheit,
aber auch gegen unbedingte Einfuhrverbote. Er leugnet gegen die Lehre
A. Smith's, dass bei Anlegung von neuen Industrien eine ältere Production
vernachlässigt werden müsse. Seine Ausführungen in dieser Beziehung sind
geistreich, und ich werde noch einmal auf sie zu verweisen in der Lage sein. 2)
Der Vollständigkeit wegen ist auch noch Lips zu erwähnen-^), der
für die Prohibition der ausländischen Waaren in Deutschland eintritt, an-
*) System der Staatswirtschaft. Leipzig 1826. pag. 43.
J^) Defaisa Adami Smithii circa bilanciam mercatoriani theoria.Heidelbergae 1827.
pag. 5. Untersuchungen im Gebiete der politischen Oekonomie. Bonn 1829. pag. 82 ff.
3) Deutschlands Nationalökonomie etc. Giessen 1830. pag. 333 fP,
Beitrag zur Dogmen-Gescliiclite der Schutzzolliclee. 263
sclieinencl um durch eine derartige Wiedervergeltung zur allgemeinen Handels-
freiheit zu gelangen. Seine Darstellung ist nicht ganz klar. Einerseits preist
er die Handelsfreiheit, und bezeichnet das Prohibitivsystem als verwerflich;
es sei indessen nothwendig, solange keine allgemeine Vereinigung zur gegen-
seitigen Freiheit des Handels stattfindet. Unter gewissen Umständen soll das
Prohibitivsystem grosse Yortheile haben, denn es diene als Stütze einer auf
der Stufe der Kindheit befindlichen Industrie. Daneben lesen wir, dass
Verbote das unfehlbare Mittel seien, „die Handelsfreiheit zu erdringen",
dass sie anzuwenden sind, „wie sehr auch Geist und Herz zur Handels-
freiheit sich hingezogen fühlen mögen", aber auch dass die Grundsätze des
Prohibitivsystems Grundsätze des gesunden Menschenverstandes sind.
Eine hohe Bedeutung für die hier in Eede stehenden Lehren ist den
Arbeiten Johann S c h ö n's beizulegen. Schon in seiner ersten grösseren
Schrift äussert er Bedenken gegen die allgemeine AuAvendbarkeit der Frei-
handelslehre, indem er die Nothwendigkeit betont, wegen der inländischen
Steuern Zölle auf die ausländischen Waren zu legen und mit Rücksicht
auf die Unabhängigkeit des Staates gewisse Güter selbst mit Opfern im
Inlande zu erzeugen'). In einem anderen Werke unterscheidet Schön
bereits zwischen einer isolierten, geselligen und staatsgesellschaftlicheu
Oekonomie; die gesellige Oekonomie müsse sich zu einer staatsgesellschaftlichen
erheben, die Nation sei gegen das Ausland eine geschlossene Familie, es
gebe deshalb auch einen Nationaleigennutz. Auf dem Gebiete des äusseren
Handels sei es Pflicht der öffentlichen Gewalt „Störungen und Erschütte-
rungen der Nationalökonomie, die durch gefährliche Concurrenz ausländischei:.
Producenten entspringen" hintanzuhalten oder zu beseitigen.-)
In seinem reifsten Werke hat Schön diese Gedanken genauer aus-
geführt, er wiederholt den Begriff der staatsgesellschaftlichen Oekonomie
und verv/eist auf den Unterschied zwischen dem gemeinen Besten und dem
„reinen Privatwohl". Die Wirtschaft der Bürger werde durch den Staat
nach aussen fesi begrenzt, und zu einem abgerundeten Ganzen erhoben,
„es entsteht ein Staatsinteresse den Fremden gegenüber und sohin ein
neuer, aber grossartiger Eigennutz, der den auswärtigen Verkehr nicht unter-
brechen, allein doch für die Interessen der Staatsgesellschaft gefahrlos
machen darf". Er tritt für ein „freies Schutzsystem" ein. Jedes Volk solle
die Entfaltung aller seiner Anlagen und Mittel anstreben, „es muss daher
erlaubt sein, auch auf jene Geschäfte das Auge zu richten, die von den
natürlichen Verhältnissen gar nicht ausgeschlossen sind, aber doch nur
durch Ueberwindung gewisser äusserer oder historischer Hindernisse an-
getreten werden können". Mit einem industriell weit vorgeschrittenen Volke
sei die freie Concurrenz unmöglich, es müssen daher Anstalten getroffen
werden, um „das Aufkommen oder Fortschreiten der zur Blüte der Nation
schlechterdings nothwendigen Industrien gegen eine bloss aus historischen
^) Die Staatswissenschaft, geschichts - philosophisch begründet. Breslau 1831.
pag. 267 f.
■'») Die Grundsätze der Finanz. 1832, pag. 7 f.
264 Zuckerkandl.
Verhältnissen lieiTülirende Uebermacht ausländischer Concurrenz" möglich
zu machen. „Schutzzölle", so heisst es endlich, „müssen nichts beabsichtigen,
als die Ausgleichung der rein historischen und jedenfalls vorübergehenden
in- und ausländischen Verhältnisse."^)
Aus der Zeit zwischen 1834 und 1841 ist endlich noch Schmitt-
henner sehr bemerkenswert. Er unterscheidet das Weltinteresse und das
nationale Interesse, jenem entspreche allein die absolute Freiheit des Ver-
kehres, diesem häufig die Beschränkung der Freiheit. Das natioiiale Wohl
erfordert: „1. dass die Nation streben muss, den möglichst grossen Theil
ihres primären Bedarfs und selbst ihrer Luxusmittel im Inlande zu erzeugen.
Dies hat nämlich nicht nur den politischen Vortheil, dass die Selbständigkeit
der Nation mehr gesichert wird, sondern auch den ökonomischen, dass die
Arbeitsverdienste und Productionsgewinne erhalten werden ... 2. ebenso
hat der Staat weiter zu erstreben, dass er möglichst viele Fabrikate aus-
und dafür die Kohstoffe einführe . . . Bei völliger Freiheit des auswärtigen
Handels kann nicht jeder Staat dieses Ziel erreichen; eine Nation ist oft sogar
nicht einmal imstande, gleiche Concurrenz zu halten . . . Aus allem diesem
folgt mit unabweisbarer Evidenz, dass in der Kegel ein Staat seine industriellen
Interessen nur durch ein wohlberechnetes und wohlgeregeltes Eestrictivs3^stem
sichern und wahren kann". Es wird auf die Verschiedenheit der handels-
politischen Praxis und Theorie verwiesen, die .Unmacht" sie zu erklären, beruhe
zum Theil auf der der Wissenschaft mangelnden Unterscheidung .zwischen
privatökonomischem, nationalökonomischem und kosmopolitischem Interesse"^).
Versucht man, nach den bisher dargestellten Lehren sich den Stand
der handelspolitischen Doctrin vor Franzi und vor List klarzumachen,
so wäre etwa Folgendes zu sagen : Man wusste vor Franzi und vor List,
dass die Beseitigung des Schutzsystemes einen Theil der betreffenden Nation
schwer schädigen müsse, und man wurde nicht müde dies immer wieder
zu beweisen, trotzdem bereits A. Smith eine übereilte Einführung des Frei-
handels widerrathen hatte. So wie man überzeugt war, dass eine Nation
durch die Aufhebung des Schutzes einen Theil ihrer selbst, nämlich die
gewerblichen Producenten verlieren müsse, so glaubte man durch die Ein-
richtung des Schutzes der nationalen Arbeit, einer bloss mit der Koh-
production beschäftigten Nation eine grosse industrielle Bevölkenmg an-
gliedern zu können. Man hielt es für unmöglich, ohne staatlichen Schutz
die Industrie grosszuziehen, wegen der überwältigenden Concurrenz Englands,
und zweifelte andererseits nicht daran, dass die Production unter dem Schutze
rasch gedeihen, und bald zu ebenso billigen Preisen erzeugen werde, wie das
Ausland. Letzteres hatte bekanntlich auch A. Smith gelehrt. Aus dieser
Ueberzeugung ergab sich die Ansicht, dass der staatliche Schutz nach einer
gewissen Zeit entbehrlich sein werde, und es war eine Lehrmeinung geworden,
dass er nur dann berechtigt sei, wenn er sich selbst zu beseitigen vermöge.
^) Neue Untersuchung der Nationalökonomie etc. Stuttgart 1835. S. bes. pag. 250 ff.
2) Zwölf Bücher vom Staate. 1. Band, 1839, § 483.
Beitrag zur Dogmen-Geschichte der Schutzzollidee. 265
Daraus folgte, dass man nur jene Productionszweige schützen solle, für welche
die natürlichen Vorbedingungen in dem betreffenden Staate gegeben seien.
Den Schutz verlangte man auch mit Kücksicht auf das Interesse der Nation,
welches man dem des Einzelnen und dem der Menschheit entgegensetzte,
indem man die Welt- und die Nationalökonomie sorgfältig trennte, ferner aus
Gründen der Sicherheit und Unabhängigkeit des Staates. Den am weitesten
Vorgeschrittenen erschien der allgemeine Freihandel als das Ideal, das man am
sichersten erreiche, wenn jede zurückgebliebene Nation sich durch einen
zeitweiligen Schutz der aufstrebenden Industrie auf eine höhere Stufe der
wirtschaftlichen Entwickelung hinaufhebe. Dabei war es gelungen, die
Behauptungen zu widerlegen, dass die Production durch die Concurrenz
des Auslandes in allen Fällen gestärkt werde, und dass die Wahrnehmung
des eigenen Interesses stets das allgemeine Wohl befördere.
Bei diesen ihren Ansichten stützten sich die Forscher etwa so wie
verständige Praktiker bloss auf Beobachtungen, sie wussten, welche Wirkungen
der Schutz der nationalen Arbeit oder die Einführung der Handelsfreiheit
hatte oder haben würde, allein die tiefer liegenden Ursachen dieser
Wirkungen waren nicht blossgelegt worden, es fehlte die theoretische Be-
gründung des Schutzsystems ebenso, wie die theoretische Widerlegung der
Freihandelslehre. Die Hauptsätze dieser Doctrin: die Einfuhr aus dem Auslande
wird durch Ausfuhr bezahlt, wer nicht kaufen will, kann nicht verkaufen, die
Verhinderung- der Einfahr vernichtet die Ausfuhr . die Production ist duroh
das Nation alcapital begrenzt, durch die Aenderung der Handelspolitik wird
das Capital nicht geschaffen, um also jene Güter zu erzeugen, die man
bisher aus dem Auslande bezogen hatte, muss das Capital aus anderen
lohnenden Beschäftigungen herausgezogen werden, oder der jährliche Zufluss
an Capital ergiesst sich nicht in das natürliche Bett, sondern in künstlich
gegrabene Canäle — waren unwiderlegt.
Zur Beantwortung dieser Argumente hat nun, wie mir scheint, Franzi
beigetragen, durch seine bereits oben hervorgehobene Lehre, dass der Capital-
begriff bei den Anhängern A. Smith's zu eng gefasst sei. Die Nahrungs-
mittel und Rohstoffe bilden nach seiner Lehre die wichtigsten Productions-
mittel und eine Nation die diese ausführt, um Gewerbserzeugnisse einzuführen,
erhält nur das, was sie abgegeben, in verarbeiteter, condensierter Gestalt
wieder. Es fehlt ihr also nicht an Capital und wenn es unbeschäftigte Arbeits-
kräfte gibt, so hat sie alles, was sie benöthigt, um zum mindesten einen
Theil dessen, was sie vom Auslande bezieht, zunächst selbst zu erzeugen.^)
\) Ansätze dieser Lehre finde ich bei Louis Say: „Nous pensons donc, que toute
sortie annuelle de produits agricoles de premiere necessite, employe'e ä servir de paiement
pour des produits manufactures etrangers, est en veritable perte pour TEtat et qu'en con-
sequence Ton doit toujours . . . tächer que le commerce, en demandant les produits
industriels ä l'interieur au lieu de les demander ä Texterieur, fasse jouir les nationaux et
non Tetranger des produits nationaux agricoles." 1. c. pag. 212. S. auch Ganilh 1. c.
pag. 201 „le pays qui renonce ä ses manufactures livre ses matieres premieres ä l'etranger . . .
il transporte donc, en quelque sorte, ses manufactures ä l'etranger. " S. ferner pag. 244.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. II. Heft. 18
266 Zuckerkandl.
Im Jahre 1839 hat List dieselbe Idee in der klarsten Weise aus-
gesprochen.^) .
Betrachtet man nun das nationale System der politischen Oekonomie,
so ist wohl nicht zu verkennen, dass ein grosser Theil nur die allerdings
viel eindringlichere und klarere Wiederholung älterer Lehren enthält, die
bereits vor dem Jahre 1827 bekannt waren, in welchem List zum ersten-
male die mit seinem Namen verknüpften handelspolitischen Lehren sammt
ihrer theoretischen Begründung in seinen, mir leider nicht zugänglichen
„ Outlines " niedergelegt haben soll. Die Unterscheidung zwischen kosmo-
politischer und nationaler Oekonomie, die erziehende Kraft des Schutzes,
dessen vorübergehende Nothwendigkeit um junge Industrien grosszuziehen,
die Unmöglichkeit bei Freihandel Industrien zu begründen, all dies war
wenn auch nicht so tief erfasst wie von List, bekannt. Die theoretische
Bedeutung des nationalen Systems glaube ich, von der tieferen Erfassung
der überkommenen Theorien abgesehen, in der Lehre von den productiven
Kräften zu finden. Nicht als ob man von den productiven Kräften vor List
nichts gewusst hätte. Ich bin überzeugt, es war der wissenschaftlichen
Nationalökonomie nie unbekannt, welche Wichtigkeit für die Grütererzeugung
den in der Natur und im Menschen vorhandenen Kräften beizumessen
sei und dass Religion, Cultur, öffentliche Sicherheit, Rechtsordnung auf
die Bereicherung der Nationen den grössten Einfluss nehmen. Wie wäre
es möglich, an den Tauschwerten zu haften und die erzeugenden Kräfte
zu übersehen, wenn uns die flüchtigste Beobachtung zeigt, dass der
grösste Theil der Güterwelt unausgesetzt neu geschaffen werden muss,
da er nur zur raschen Verzehrung erzeugt wird. Es wäre leicht all
dies durch Citate aus A. Smith und seinen Anhängern zu beweisen.
Nicht darin liegt also List's Verdienst, dass er den (nicht ganz
richtig gefassten) Satz aufgestellt hat: „die Prosperität einer Nation ist
nicht wie Say glaubt umso grösser, je mehr sie Reichthümer d. h.
Tauschwerte aufgehäuft, sondern je mehr sie ihre productiven Kräfte ent-
wickelt hat," wohl aber darin, dass er nachweist, wie bei der Begründung
von Industrien durch den Schutz ein den Verlust an Werten weit über-
treffender Gewinn an productiven Kräften stattfinde. Eine Nation, die neben
der Rohproduction auch die Industrie zu pflegen beginnt, erwirbt höhere
Intelligenz, höhere Cultur und grössere Macht, Güter hervorzubringen, sie
benützt zahlreiche, sonst nutzlose Naturkräfte, und eine weitgehende Theilung
der Beschäftigungen in der Rohproduction und in der Industrie ermöglicht
ein weit umfangreicheres wirtschaftliches Schaffen. Die Nation entfaltet alle
ihre Fähigkeiten, jede einzelne wird durch Specialisierung zur Vollkommen-
heit gebracht, während alle Productivkräfte harmonisch zusammenwirken
und einander fördern.
Die beredten Auseinandersetzungen List's über den Gewinn an pro-
ductiven Kräften und die Conföderation der nationalen Productivkräfte sind
^) Das Wesen und der Wert einer nationalen Gewerbsproductivkraft. Gesammelte
Schriften. 2. Band, pag. 121 ff.
Beitrag zur Dogmen-Geschichte der Schutzzollidee. 267
bekannt und erscheint eine Wiedergabe derselben hier unnöthig.^) Ich will
nur beifügen, dass durch diese Lehre sowie durch die Einsicht, dass
Nahrungsmittel und Kohstoffe die ursprünglichen Productionsmittel sind, aus
denen alle anderen Capitalien entstehen, die Idee vom Schutze der natio-
nalen Arbeit eine solide theoretische Grundlage erhielt. Erst durch sie
kommt in die Beobachtungen über die Wirkungen des Schutzes einer- und
des Freihandels andererseits Zusammenhang, erst durch sie versteht man
die Erscheinungen.
Ist die vorstehende Auffassung richtig, so erscheint der Kuhm List's
auch vom dogmengeschichtlichen Standpunkte als ein voll berechtigter,
denn die Wissenschaft verdankt ihm nicht nur die klarste Zusammen-
fassung und Vertiefung des Ueberkommenen, sondern eine wichtige Ver-
mehrung ihres Besitzstandes. Doch ist der dogmengeschichtliche Standpunkt
nicht derjenige, von dem aus List richtig gewürdigt werden kann ; er hat
sich einerseits als Mann der That die grössten Verdienste erworben; anderer-
seits war er es allein, der seinen und den ihm und seinen Vorgängern gemein-
samen Ideen die wissenschaftliche Geltung verschafft hat. Er hatte zu viel Er-
fahrung, um nicht zu wissen, dass die Freihandelslehre durch eine gelehrte,
für eine kleine Zahl von Fachgenossen bestimmte Abhandlung nicht erschütter
werden könne; deshalb wandte er sich von der nach seiner Ueberzeugung
übel berathenen Wissenschaft an die besser zu unterrichtende deutsche
Nation, und sprach zu ihr über ihre eigenen Interessen in einer, wenn
auch nicht classischen, so doch schönen und oft hinreissenden Sprache.
Als die fachliche Kritik sich mit ihm zu beschäftigen begann, hatte er
seine Sache bei der Nation bereits gewonnen, und es konnte eine all-
mähliche ümstimmung auch der wissenschaftlichen Ansichten nicht aus-
bleiben.
Für diejenigen Forscher, die in unserem Jahrhundert vor dem Er-
scheinen des nationalen Systems für den Schutz der heimischen Arbeit
eintraten, genügt dagegen die dogmengeschichtliche Würdigung. Von
diesem Standpunkte aus erscheint es mir nicht der Sachlage zu entsprechen,
dass Franzi vergessen ist. Dass er bei seinem Auftreten keinen Beifall
fand, ist allerdings begreiflich. In seiner österreichischen Heimat herrschte
zwar das Prohibitivsystem, und an den Universitäten waren die „Grundsätze
der Polizei, Handlung und Finanz" von Sonnenfels das vorgeschriebene
Lehrbuch, allein die meisten damaligen österreichischen Lehrer der politi-
schen Oekonomie befanden sich in der Opposition, sowohl zur heimischen
Praxis der Handelspolitik, als zur amtlich gebilligten Theorie derselben,
und waren, wie ihre Collegen in Deutschland, Anhänger A. Smith's.
^) Eine Andeutung der Theorie der productiven Kräfte finde ich bei P. Kaufmann:
In seiner ersten Schrift sagt er „Commercii restrictione id potissimum spectatur, ut vis.
otians, seu steriliter agens ad res quae vel necessariae vel utiles sunt, producendas
incitatur atque intendatur". In der zweiten Schrift wendet er sich gegen die Ansicht,
dass die Industrie „eine unveränderliche Grösse" sei, mit dem Argumente, dass es in keinem
Lande an menschlichen und Naturkräften fehle, die zur Industrie verwandt werden könnten.
18*
2(38 Zuckerkandl.
Freiherr v. Tomascliek, dessen Erinnerungen bis in die Zwanzigerjahre
dieses Jahrhunderts zurückreichten, erzählte mir, dass die Fachprofessoren
damals bereits das vorgeschriebene Lehrbuch nicht mehr genau inne hatten
und nicht daran dachten, es zur Grundlage der Vorträge zu nehmen. Eine
Yertheidigung der Schutzpolitik konnte also zu jener Zeit bei uns nicht
auf günstige Beurtheilung hoffen. Im Falle Franzi übernahm es Kudler
selbst, die veralteten und irrigen Lehren seines Schülers schonungsvoll zu
tadeln.^) Wenige Jahre später waren Kudler's wissenschaftliche üeber-
zeugungen andere, und sein Hauptwerk zeigt, was mir auch Freiherr
V. Tomaschek bekräftigte, dass List mächtig auf ihn eingewirkt
hatte. ^) Die Erwartung, dass Kudler nunmehr sein älteres Urtheil über
Franzi in seinem Lehrbuche berichtigen werde, findet der Leser indessen
nicht erfüllt.
In Deutschland wird Fränzl's Schrift in den ersten zehn Jahren nach
ihrem Erscheinen öfter citiert, so von Lotz, von Schmitthenner und von
Ptau.^) Auch Eos eher nennt sie in seinem „Grundriss zu Vorlesungen über die
Staatswirtschaft nach geschichtlicher Methode"^), auch Mo hl in seiner
Polizeiwissenschaft^) und im Staatslexikon von Kotteck und Welcker.'^)
Eine eingehende Würdigung des Buches fehlt jedoch; das nationale System
verdunkelte alle älteren Schriften, die sich mit demselben in der Tendenz
begegneten, und die Vorgänger List's gewannen deshalb nichts dabei, dass
sich die öffentliche Aufmerksamkeit der Handelspolitik mit sichtlichem
Wohlwollen für den Schutz der nationalen Arbeit zugewandt hatte. Auch
die Schriftsteller, welche sich um den Nachweis bemühten, dass das nationale
System ein Plagiat sei, erwähnen Franzi nicht. Am seltsamsten ist wohl
das üebersehen Schmitthenner's, der im Jahre 1843 die Priorität vor
List für sich auf Grund der oben angeführten Stelle in sehr starken Aus-
drücken in Anspruch nahm'j, ohne zu bemerken, dass Franzi und Schön
vor ihm dieselben Gedanken ausgesprochen hatten. Von da an geräth die
Schrift Fränzl's immer mehr in Vergessenheit, Kautz erwähnt sie noch
in seinem mit grossem Fleisse gearbeiteten Werke ^); in der Geschichte
der deutschen Nationalökonomie von Koscher, in den Handbüchern von
Du bring und Eisenhart, in der umfassenden Würdigung List's von
Eheberg *^) wird sie nicht mehr genannt.
^) Zeitschrift für österreichische Eechtsgelehrsamkeit etc. 1834. pag, 349.
2) Die Grundlehren der Volkswirtschaft. Wien 1846. 2. Theil, § 142 ff.
3) Lotz, Handbuch 1838. 2. Band, pag. 157 und 168; Schmitthenner 1. c.
pag. 665; ßau, Volkswirtschftspfl. 3. Aufl. § 205 und „Zur Kritik über Friedr. List's
nationales System", 1843, pag. 7.
*') Erschienen zu Güttingen 1843, pag. 65 und 150.
s) 2. Auflage, 2. Band, pag. 360.
^) Siehe den Artikel „Gewerbe- und Fabrikswesen".
■J) Grundlinien des allgemeinen und idealen Staatsrechtes, pag. 365. Anm. 1.
^) Die geschichtliche Entwickelung der Nationalökonomik und ihrer Literatur. Wien
1860, zweite Abtheilung, pag. 658.
9j Das nationale System der politischen Oekonomie. 7. Auflage, 1883.
Beitrag zur Doginen-Geschichte der Schutzzollidee. 269
Franzi trägt wohl selbst auch Schuld daran, dass er vergessen wurde,
denn er hat nach Vollendung seiner Statistik im Jahre 1841 nichts mehr
publiciert. In dieser wiederholt er seine handelspolitischen üeberzeugungen,
nur in viel stärkeren Worten, offenbar ermuthigt durch den Beifall, den
List gefunden. Er meint, seine Schrift „lieber Zölle, Handelsfreiheit und
Handelsvereine " sei um sechs Jahre zu früh erschienen und gibt der Ge-
nugthuung Ausdruck, dass nunmehr List die Ideen jener Abhandlung
„adoptiert" habe.^) Die Begründung des deutschen Zollvereines begrüsst er
mit lebhafter Freude und gewärtigt, dass Oesten-eich sich an dessen Spitze
stellen werde.
Das ist eigentlich das letzte Wort, das Franzi über Handelspolitik
veröffentlicht hat. Seine Beamtenlaufbahn fällt in die Zeit, da Oesterreich
vom Verbotssystem allmählich zu einem gemässigten Schutzsystem übergieng
und auch ausserhalb Oesterreichs eine mehr dem Freihandel geneigte
Zollpolitik befolgt wurde. Den Umschwung in der Handelspolitik im
Jahre 1879 hat Franzi nicht mehr erlebt.
r. 526.
VERHANDLUNGEN DER GESELLSCHAFT
ÖSTERREICHISCHER VOLKSWIRTE.
XXVII. Plenapvepsammlung vom 4. Jänner 1892.
-Uer Präsident, Herr Sectionschef von Inama-Sternegg eröffnet die Ver-
sammlung mit einer Ansprache, in welcher er den Abschluss der Handelsverträge
als jenes Ereignis feiert, welches Oesterreich den politisch befreundeten Mächten
auf eine Eeihe von Jahren hinaus auch handelspolitisch nahe rücke und welches
mit Vertrauen in die handelspolitische Zukunft Oesterreichs zu blicken erlaube.
Nach dieser Ansprache ertheilt der Präsident Herrn Prof. Dr. Ernst Mischler
das Wort zu seinem Vortrag über: „Die österreichische Steuerreform und
das Finanzwesen der Selbstverwaltung." Der Herr Vortragende hob zunächst
hervor, dass das heutige Steuersystem Oesterreichs in allen seinen Bestandtheilen
eine Einheit zu bilden habe und dass hiebei nicht nur die Staats- sondern auch
die Eeichs- und die Steuern der Selbstverwaltungskörper in Betracht kommen;
die letztern schliessen sich an die directen Staatssteuern an, sie kommen also speciell
im Verhältnisse zu diesen in Betracht. Nach einer eingehenden historischen
Betrachtung der Landes-, Bezirks- und Gemeindehaushalte gelangte der Vortragende
zur Untersuchung der Präge, ob mit Eücksicht auf die ständige Fortentwickelung
einer lebensvollen Selbstverwaltung die bisher üblichen Steuerzuschläge noch
Berechtigung haben oder nicht; aus verschiedenen Gründen müsse diese Frage
verneint werden. Was hat nun an die Stelle der Zuschläge zu treten? Angesichts
des Gesetzes von der anwachsenden, öffentlichen Thätigkeit müssen auch die
öffentlichen Einnahmen beständig zunehmen; den bezüglichen Anforderungen der
Selbstverwaltungskörper solle nicht durch Zuschläge zu den staatlichen Steuern
entsprochen werden, man müsse also die im Staate vereinigten Steuern qualitativ
zwischen dem Staatsbudget und der Selbstverwaltung theilen und zwar müssen der
letztern vorwiegend directe Steuern überwiesen werden. Zu diesem Zwecke wären
aus der heutigen Einkommensteuer nur jene Elemente beizubehalten, welche
Ertragssteuer-Charakter haben ; diese, unter eventueller Erhöhung der Erwerbsteuer,
würden das Staatssteuersystem darstellen; daneben müsste eine eigentliche,
progressive Einkommensteuer geschaffen werden, deren Erträgnisse der Selbst-
verwaltung zu überweisen wären. Die diesem Systeme anhaftenden Schwierigkeiten,
bestehend in der Aufgabe, die für die Selbstverwaltung aufzubringende Summe
XXVII. Plenarversaramlung vom 4. Jänner 1892. 271
von SO — 90 Millionen Gulden zwischen den verschiedenen Körpern auseinander-
zusetzen und die vielfach in den Gebieten verschiedener Selbstverwaltungskürper
liegenden Steuerquellen entsprechend nach aliquoten Theilen zuzuweisen, seien
unschwer zu überwinden; die Yortheile für den Staat und die Steuerträger seien
dagegen sehr erheblich; dieselben bestehen hauptsächlich in der Klärung der
Sachlage für den Staat und die Steuerträger, in der nun möglich werdenden
Eücksichtnahme auf die Arten der Einkommensquellen, in der Erhöhung des
Zusammengehörigkeitsgefühles innerhalb eines Selbstverwaltungskörpers und in der
Möglichkeit, den stets wachsenden Aufgaben der Selbstverwaltung gerecht zu
werden. Natürlich können übrigens die Selbstverwaltungskörper neben der Ein-
kommensteuer auch noch andere Steuern erheben.
lieber diesen, in seinen wesentlichsten Punkten skizzierten Vortrag entspann
sich eine lebhafte Debatte, welche Herr Gustav v. Fächer mit der Piemerkung
eröffnete, dass das proponierte Steuersystem eine ausserordentliche Erhöhung der
unproductiven ümlegungs- und Einhebungskosten verursachen und überdies für
den Steuerträger eine erhebliche Complication seiner Leistungen für öffentliche
Körperschaften hervorbringen würde; während es ganz unerfindlich sei, warum die
Ertragssteuern mehr für den Staat, die Einkommensteuer dagegen mehr für die
Selbstverwaltungskörper passend sein sollen, liege es auf der Hand, dass das den
Steuerzuschlägen anhaftende Odium mit dem Augenblicke schwinden würde, in
welchem eine neue, gerechte Besteuerung in Kraft träte und eine gerechte
Basis schüfe.
Der letztern Anschauung pflichtet auch Herr Eudolf Au spitz bei, welcher
überdies ausführt, wie viel angemessener es wäre, die Ertragssteuern, resp. einen
Theil derselben, den Selbstverwaltungskörpern und die progressive Personal-
einkommensteuer dem Staate zuzutheilen, u. zw. dies schon wegen der grossen
Schwierigkeiten, welche mit der Eepartierung der letztern auf die einzelnen Körper
unvermeidlich verbunden wären; die Personaleinkommensteuer müsste im Wege
eines Abkommens mit den Landesvertretungen von allen Zuschlägen befreit werden
und würde, da sie überdies in niedrigem Ausmaasse auferlegt werden müsste,
niemals auch nur annähernd 80 — 90 Millionen ergeben.
Nach einigen Bemerkungen des Eedners über die Ausgestaltung der übrigen
Gemeindesteuern replicierte Herr Dr. Mischler zunächst gegen Herrn Auspitz,
indem er insbesondere die von demselben bezweifelte Möglichkeit, 80 — 90 Millionen
mit der Personaleinkommensteuer zu erzielen und die Zuweisung dieser an die
Selbstverwaltung und der Ertragsteuern an den Staat verfocht; eine Zuweisung
der Ertragsteuern an die Selbstverwaltung im Sinne des Herrn Auspitz sei
praktisch nicht durchführbar, schon deswegen nicht, weil eine Grenze zwischen
Dorf und Stadt nicht gezogen, daher z. B. die Grundsteuer dem einen und die
Hauszinssteuer der anderen nicht ohne weiteres zugetheilt werden könne. Herrn
V. Pacher gegenüber bemerkt Prof. Mischler, dass eine ideale Basis für Steuer-
zuschläge dort undenkbar sei, wo Länder, Bezirke und Gemeinden damit machen
können, was sie wollen.
Der Herr Vorsitzende sprach sohin dem Herrn Prof. Mischler den Dank
aus und schloss die Versammlung.
272 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
XXVIII. Plenarversammlung vom 18. Jänner 1892.
Der Gegenstand der 28. Plenarversammlung war eine Discussion über die
Arbeiter-Ausschüsse und Einig'iingsämter betreffenden österreichischen Gesetz-
entwürfe. Nach Eröffnung der Versammlung durch den Präsidenten, Sectionschef
V. Inama-Stern egg, ergriff Her Ludwig Stross das Wort.
Derselbe führt zunächst aus, worin der Zweck der Eegierungsvorlage gelegen
sei; es sollen Lohnkämpfe möglichst vermieden, wenn aber einmal unvermeidlich
geworden, in möglichst ruhige Bahnen geleitet werden; auf administrativem Wege
sei dieses Ziel nicht zu erreichen, es müsse daher die Gesetzgebung eine ent-
sprechende Organisation einführen; charakteristisch für den vorliegenden Gesetz-
entwurf sei das dabei beabsichtigte Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer
und die obligatorische Einführung der Arbeiterausschüsse; in erster Eeihe wäre
hervorzuheben, dass der Unternehmer nicht einmal an den Ausschuss-Sitzungen
theilzunehmen das Eecht habe, sowie, dass die Ausschüsse keine bestimmte Com-
petenz haben ; diese Umstände stellen den Wert der Ausschüsse in Frage, die
auch nur pro forma Beschwerden vorbringen können und denen vielfach die
erforderliche, insbesondere technische Sachkenntnis fehlen dürfte. In der zweiten
Richtung hält Eedner die Einwürfe schon mit Rücksicht auf die vom Vereine für
Socialpolitik gesammelten Gutachten für unbegründet; es sei auch die Befürchtung
unbegründet, dass die obligatorischen Ausschüsse anders als facultative func-
tionieren v.'ürden.
Die Genossenschaften seien ebenso gegen das Interesse der Arbeiter, wie
gegen jenes der Unternehmer; auch die territoriale Organisation sei schädlich;
dagegen müssen die Einigungsämter als wünschenswert bezeichnet werden, schon
deswegen, weil jene von den streitenden Parteien, welche sich w^eigern, an der
Verhandlung theilzunehmen, oder sich dem Schiedsgerichte zu unterwerfen, des-
wegen dem öffentlichen Urtheile anheimfallen, weil in diesem Falle eine öffent-
liche Bekanntmachung stattfinden müsse. Sei alledem aber, wie ihm wolle, ' der
Weg der gesetzlichen Organisation sei einmal beschritten und das allein habe den
grössten Wert.
Herr Gustav v. Fächer begrüsst die Vorlage, insoweit sie zunächst die
Arbeiterausschüsse betrifft, mit Freuden, denn durch dieselben werde zwischen
Arbeitgeber und -Nehmer ein modernes Eechtsverhältnis begründet; allerdings
seien die Verhältnisse in verschiedenen Ländern, ja von Unternehmung zu Unter-
nehmung sehr verschieden; in jedem Falle sollte nicht das Verhältnis des Lohn-
kampfes als der Angelpunkt des Verhältnisses zwischen Arbeiter und Unternehmer
hingestellt werden. Es sei gut, dass die Unternehmer oder Delegierte derselben
im Ausschusse nicht Zutritt haben, weil sonst die Arbeiter das Vertrauen in die
Ausschüsse verlieren würden und es sei auch gut, dass nicht zu jugendliche
Elemente in die Ausschüsse gelangen können.
Es wäre räthlich, die Arbeiterausschüsse zunächst nicht obligatorisch ein-
zuführen, dadurch habe man Zeit Erfahrungen zu gewinnen und vermeide man
das Misstrauen, welches mit Zwangsmaassregeln verbunden sei; es sollen der-
artige Ausscliüsso freiwillig, aber möglichst rasch und energisch gebildet werden.
XaYIII. Plenarversammlung vom 18. Jänner 1892. 273
Herr Yicedirector Wittelshöfer finJel: im Eeg-iernngsentwiirfe die Bethäti-
guiig eines Theiles des socialen Eeformprogrammes der Conservativen, dessen Ziel
es sei, den freien Arbeitsvertrag halbwegs zustande zu bringen, u. zw. dadurch,
dass man die schwachen Kräfte corporativ organisiere. Durch die Ausschüsse aber
könne dieses Ziel nicht erreicht werden, denn der Unternehmer habe immer die
Mittel zur Hand, pflichteifrige Arbeiterausschüsse zu entlassen; verschiedene
Umstände bringen es mit sich, dass .aus der ganzen Institution die Arbeitgeber
grössere Vortheile ziehen, als die Arbeiter u. zw. schon deswegen, weil die oft
für das Unternehmen ungeschulten Unternehmer -durch den Verkehr mit den
Arbeiterdelegierten leicht den erforderlichen Einblick in technische Einzelheiten
erlangen und weil sie überdies das Odium ihrer Maassregeln auf den Ausschuss
vrerden überwälzen können. Auch die Trennung der Arbeiterschaft in locale
Gruppen sei gegen deren Interesse ; das würden die Arbeiter selbst bald erkennen.
Ausserdem aber werde sich aus der Durchführung des Kegierungsentwurfes nicht
einmal eine wirkliche Vertretung der Arbeiter ergeben; die Altersgrenze allein
schon, welche für die "Wahlberechtigung festgestellt werde, bilde eine Engherzig-
keit; die ganze Idee müsse ernst durchgeführt werden und nicht wie beabsichtigt sei.
Xach einer Entgegnung des Herrn v. Fächer ergreift der Eeichsraths-
abgeordnete Pernerstorfer das Wort.
Er glaubt, dass in der vorliegenden Streitfrage selbst beim grössten Wohl-
wollen immer die Classeninteressen zu Worte kommen; man wolle im Sinne der
Conservativen die Arbeiterschaft von oben herab organisieren; die Engherzigkeit
des vorliegenden Gesetzentwurfes werde aber mit dem Classenbewusstsein der
Arbeiter in Conflict gerathen müssen; die letztern würden seine Fesseln sprengen,
oder ihn für ihre Zwecke ausnützen. Aus dem Statute des industriellen Clubs
müsse die Doppelaufgabe der Ausschüsse, für die Sparsamkeit der Arbeiter zu
sorgen und ihre Sittlichkeit zu überwachen, unbedingt gestrichen werden; die
Altersgrenze dürfe mit Kücksicht auf die speciellen Verhältnisse des Arbeiter-
standes nicht so hoch gestellt werden, wie beabsichtigt ist; in jedem Falle
involviere der Gesetzentwurf den innern Widerspruch, dass man von den Arbeitern
die Delegierung erfahrungs- und wissensreicher Männer fordere und ihnen anderer-
seits jedes selbständige Auftreten unmöglich mache; dieses Gesetz werde also,
wenn der politischen Freiheit gegenübergestellt, von den Arbeitern gewiss nicht
gewählt w^erden; die politische Freiheit zu erlangen, dazu solle der Unternehmer
dem Arbeiter verhelfen; wenn er das thue, werde sich das Verhältnis beider
v/enigstens leidlicher gestalten.
Dr. Victor Adler findet es bedauerlich und bezeichnend, dass die Dis-
cussion über das vorliegende Thema so wenige Unternehmer herbeigelockt habe;
dieselben glauben eben in den Handelskammern und durch ihre übrigen Gut-
achten bereits ihre Pflicht gethan zu haben und fühlen sich im übrigen vor
dem Zustandekommen des Gesetzes sicher; übrigens sei der Entwurf nur für die
Unternehmer und in ihrem Interesse gemacht, man müsse daher staunen, dass
es Leute dieser Classe gebe, die ihn bekämpfen und nicht mit Freuden einen so
billigen Ausweg ergreifen. So wie die Arbeiterausschüsse gedacht seien, müssen sie
als wertlos bezeichnet werden, weil man durch die politischen Behörden die freie
274 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
Organisation der Arbeiter allerseits behindere ; vielleicht würden die Arbeiter seiner-
zeit etwas aus ihnen machen. Wenn die Unternehmer so sehr davor zurückscheuen,
dass die Arbeiter den Lohnvertrag- besprechen, so sei das sehr eigenthümlich ;
auch perhorresciere man es, dass die Arbeiterausschüsse obligatorisch gedacht
seien; man solle doch berücksichtigen, dass man auch Unternehmern, die sehr häufig
nicht im Sinne des Gesetzes handeln, gar manches befehlen sollte.
Die Genossenschaften wären von grösserer Wichtigkeit, weil sie allein sub-
sidiär als Grundlage einer Organisation dienen könnten. Die Einigungsämter seien
wertlos, weil hinter jenen Mitgliedern derselben, die Arbeiter wären, keine Macht
stehe, die ihrem Votum Nachdruck verleihen könnte, u. zw. solange als keine
Organisation der Arbeiterschaft bestehe. Es sei die Hoffnung der Arbeiterschaft,
dass es ihr gelingen werde, die herrschenden Classen dazu zu zwingen, dass
sie ihr die politische Freiheit einräumen.
Der Herr Abgeordnete Schwab glaubt, man solle am guten Willen jener,
welche den Gesetzentwurf acceptieren, nicht zweifeln; er selbst sei nicht davon
überzeugt, dass derselbe das Einvernehmen zwischen Unternehmern und Arbeitern
fördern werde; das geschähe höchstens dann, wenn die Arbeiterausschüsse nur
als das unterste Gebilde in der Organisation betrachtet würden, als der Boden,
auf dem sich die Parteien gegenseitig nähern könnten; dies aber könne von oben
herab nicht geschehen, er sei daher ein Gegner der obligatorischen Ausschüsse;
die Einigungsämter dagegen würden, weil in ihnen beide Theile vertreten seien
und ein unparteiischer Obmann an der Spitze stehe, maassgebende Urtheile zu
fällen in der Lage sein.
Nach diesen Ausführungen unterbrach der Vorsitzende die Verhandlung,
welche in der
XXIX. Plenanversammlung vom 25. Jänner 1892
fortgesetzt wurde. Die Discussion wurde durch eine eingehende Polemik des Herrn
V. Pacher gegen die Herren Pernerstorfer und Dr. Adler eröffnet.
Er sagt, der Unternehmer solle allerdings dem Arbeiter zeigen, wie er um
denselben Betrag eine bessere Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse erzielen
könne und in dieser Weise die Arbeiter zu sparsamer Lebensführung anleiten;
dass daran gedacht worden sei. den Arbeiterausschüssen eine gewisse Ueber-
wachung der Sittlichkeit der Arbeiter anzuvertrauen, möge inopportun sein, es sei
aber gewiss nicht lächerlich; im übrigen genüge zur Erfüllung der Aufgabe eines
Arbeiterausschusses entwickelter Verstand und guter Wille; ein Widerspruch
zwischen den Aufgaben der Arbeiterausschüsse und dem von Herrn Pernerstorfer
hervorgehobenen Mangel an politischer Bewegungs- und Organisationsfreiheit der
Arbeiter bestehe also nicht. Wenn dann Dr. Adler Ziele verfolgen sollte, welchen
durch die Förderung des guten Einvernehmens zwischen Arbeiter und Unter-
nehmer nicht entsprochen werde, dann sei sein Eingreifen in diese Discussion
überhaupt nicht förderlich gewesen und es höre sich jede weitere Erörterung von
selbst auf.
Herr Dr. Ferdinand Schmid bespricht die principielle Bedeutung der
Regierungsvorlage und fragt dann, ob die Arbeiterausscliüsse facultativ oder
XXIX. Plenarversammlung vom 25. Jänne? 1892. 275
obligatorisch sein sollen. Es ist, sage Dr. Sclimid, consequent und logisch, wenn
die Eegiening die Arbeiterausschüsse als obligatorisch bezeichnet, sie sind ein
Mittel zur Förderung des guten Einvernehmens, wer dieses will, muss auch das
Mittel annehmen; überdies seien die Ausschüsse ohne grosse Gewerksorganisation
für die Unternehmer gar nicht gefährlich; endlich habe man bis zur Durchführung
der staatlichen Organisation 6 — 10 Jahre Zeit, durch freiwillige Errichtung von
Ausschüssen zuvorzukommen. Die Theilnahme an der Verwaltung der Wohlfahrts-
einrichtungen gehör« nicht in die erste Eeihe der Aufgaben der Ausschüsse; das
Kecht, Beschwerden vorzubringen, dürfe nicht unterdrückt, die Aufgabe, die Sitt-
lichkeit der Arbeiter zu überwachen, müsse so umschrieben werden, dass das
Privatleben der Arbeiter nicht unter eine Art Polizeiaufsicht gerathe; die Alters-
grenze für das Wahlrecht sei annehmbar; die Bestimmung, dass eine gewisse
Beschäftigungsdauer Voraussetzung des passiven Wahlrechts sei, wäre dagegen
zu beseitigen, da die vielfachen Ursachen der Wanderbewegung unter den Arbeitern
dabei unbeachtet bleiben würden. Es dürfte gut sein, dass die Unternehmer keinen
Theil an den Berathungen des Ausschusses haben sollen, dagegen sollte man
Unternehmer, die mit der Errichtung der Ausschüsse säumen, strenger bestrafen
können, als vorgesehen sei; wenn die Arbeiter sich weigern, die Wahl vorzu-
nehmen, könne man allerdings nichts thun. Bedenken verursache die Bestimmung,
dass Arbeiterausschüsse in allen „fabriksmässigen" Betrieben zu errichten seien,
weil der Sinn des Wortes „fabriksmässig" nicht feststehe; man hätte ähnlich,
wie die Commission des deutschen Eeichstages vorgehen und somit alle Betriebe
mit einer bestimmten Anzahl von im Lohn oder gegen Gehalt beschäftigten
Personen einbeziehen sollen. Die Mandatsdauer von 1 — 3 Jahren sei zu kurz,
auch weise der Entwurf manche Lücken auf.
Die Absicht der Eegierung, die genossenschaftliche Organisation auszu-
dehnen, errege mit Eücksicht auf die bisherigen Erfahrungen Erstaunen; man
werde vielleicht in den Genossenschaften ein Auskunftsmittel für Vermeidung der
Arbeiterkammern vermuthen und glauben, dass sie nur errichtet seien, um
Jemanden zu haben, der die Kosten der Einigungsämter trage.
Nachdem der Eedner die Verschiedenheiten zwischen den Entwürfen des
Handels- und des Ackerbauministers hervorgehoben hatte, fasste er seine An-
schauung dahin zusammen, dass der vorliegende Entwurf ein bedeutsamer Schritt
der Eegierung sei, aber in seinen Einzelheiten mancher Verbesserungen bedürfe.
Herr Eudolf Auspitz wendet sich gegen Herrn Dr. Adler; er sieht in
den gegebenen Verhältnissen das Ergebnis einer auf Grund der die Menschennatur
beherrschenden Gesetze sich von selbst vollziehenden Entwickelung, die nach
beständiger Verbesserung hinstrebe, aber nicht sprungweise erfolge. Es sei
wünschenswert, dass die Organisationsbestrebungen der Arbeiter gef(3rdert werden,
der Uebereifer der Polizei dagegen sei selbst für die Unternehmer keineswegs
erwünscht; bei ruhigem Gewährenlassen entwickle sich die Intelligenz der Arbeiter
und sei ein einträchtiges Zusammenwirken derselben mit den anderen Bevölkerungs-
classen für die Zukunft eher zu hoffen, als wenn man ängstliche Eepression übe.
Da aber überall dort, wo eine homogene, nicht fluctuierende Berufsarbeiter-
schaft fehle, kein Mensch Arbeiterausschüsse mit erspriesslicher Wirksamkeit
276 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
schaffen könne, da also solche Ausschüsse jedenfalls vielfach auf dem Papier sein
würden, müsse man die ganze Angelegenheit schon aus Achtung vor der G-esetz-
gebung doppelt überlegen. Die Genossenschaften haben nirgends Anklang gefunden,
damit aber verschwinde auch jede Basis für die Einigungsämter.
Herr Sigmund Man dl spricht sich als „Jungliberaler" für die obligatorischen
Arbeiterausschüsse aus; ihm sei die sociale Trage eine Frage des Ausgleichs
zwischen widerstreitenden Interessen im Eahmen der bestehenden Gesellschafts-
ordnung; ein solcher Ausgleich sei nur möglich aufgrund von Verzichtleistungen;
da solche freiwillig nicht erfolgen, müsse der Staat eingreifen. Redner plaidiert
für die im Gesetze vorgesehene Altersgrenze für die Wahlberechtigung.
Dr. V. Adler erklärt auf die Frage des Herrn v. Fächer, dass er und
seine Parteigenossen das Einvernehmen zwischen Arbeitern und Unternehmern
nicht fördern wollen ; weil die Vorlage dieses Einvernehmen fördern könnte, wünsche
er sie nicht, sollten aber die Unternehmer trachten, sie zum Gesetze zu machen
u. zw. je eher, je lieber, später dürfte ein den Unternehmern so günstiges Gesetz
nicht mehr erzielt werden können; dieses Einvernehmen sei aber dasselbe, welches
zwischen dem Gefangenen und dem Kerkermeister bestehe; sein Bestand aufgrund
der Existenz von Arbeiterausschüssen würde den Unternehmern aber immerhin
das Mittel bieten, jede andere Vertretung der Arbeiter hinauszuwerfen.
Die Genossenschaften werden von den Unternehmern bekämpft, obwohl
gerade sie es wären, was den Arbeitern in Oesterreich nützen könnte; die Mit-
glieder der ArbeiterausscMsse wären immer in der Atmosphäre ihres individuellen
Betriebes; in der Genossenschaft aber lernen die Arbeiter ihre Lage und sich
selbst als Proletarier erkennen, weil sie in die freie Luft kommen; das sei es,
was die Unternehmer fürchten.
Redner tadelt schliesslich am Gesetze noch, dass in demselben auf dio
Hausindustrie keinerlei Rücksicht genommen sei, wiewohl gerade für diese die
geplante Organisation nothwendig w^äre.
Der Herr Vorsitzende, Sectionschef v. Inama-Sternegg, resümierte sodann
noch die Ergebnisse der Discussion und schloss hierauf die Versammlung.
XXX. Plenapvepsammlung vom 7. März 1892.
Nach Eröffnung der Versammlung durch den Herrn Vorsitzenden, Sections-
chef V. Inama-Sternegg, ergreift Prof. Dr. Victor Mataja das Wort zu seinem
Vortrage über „Hausier- und Abzahlungsgeschäfte". Er führt aus, dass der Hausier-
handel desw^egen vom stabilen Handel bekämpft w^erde, w^eil er seinen Concur-
renten darstelle; trotzdem aber dürfe der Hausierhandel weder eingeschränkt, noch
gar beseitigt werden, wenn nicht das allgemeine Interesse dies fordere. In
Gegenden mit geringer Bevölkerung und mangelhaftem Verkehre sei der ambulante
die ökonomischeste Form des Handels, hier also dürfe er auch nicht
beschränkt werden; anders verhalte es sich in Gegenden mit höherer Cultur und
in grösseren Städten. Trotzdem sehen mr, dass der Hausierhandel gerade in
Niederösterreich ausserordentlich stark auftritt, während er in Galizien und in der
Bukowina einen geringen Percentsatz des Gesammthandels bildet; seine Kraft
XXX. Plenarversammlung vom 7. März 1892. 277
schöpft in diesem Palle der Hausierhandel aus der Anwendung einer niedrigem,
kaufmännischen Moral und einer bedenklichen Verfahrensweise im Geschäftsbetriebe,
sowie daraus, dass er sich durch den Tiefstand seiner Ansprüche an Lebens-
genuss concurrenzfähig macht. Wenn im Streite zwischen beiden Arten des Handels
sich der Nationalökonom und Socialpolitiker auf die Seite des sesshaften Kauf-
mannes stellt, geschieht dies, weil er der Verkümmerung geistiger und körperlicher
Kräfte vorbeugen will; aus diesem Titel aber rechtfertigt sich nur die Beschrän-
kung, nicht die Aufhebung des Hausierhandels; grosse Städte kann man aller-
dings mit dem einen Vorbehalte für den Hausierhandel sperren, dass man gewissen
localen Bedürfnissen durch ausnahmsweise Ertheilung von Licenzen auch ferner-
hin nachkommen werde, denn auch in Städten kann der Hausierhandel unter
Umständen und für gewisse Warengattungen rationell sein. Hie einschlägigen
Bestimmungen müssen in jedem Falle so gestaltet werden, dass ihre Einhaltung
leicht controliert werden kann. Der vorliegende Eegierungsentwurf erv/eist sich
in dieser letztern Eichtung nicht als vollständig genügend; sein Kern liegt darin,
dass grössere Gemeinden gegen den Hausierhandel im Verordnungswege geschlossen
werden können; die Einschränkung dieser Bestimmung auf grössere Orte ist
schon deshalb gerechtfertigt, weil gerade in solchen der mittlere und kleine
Handel ohnehin schon durch Consumvereine und durch den Grosshandel in die
Enge getrieben wird.
Wenn man radicale Maassregeln gegen den Hausierhandel ergreift, so
geschieht dies nicht, um die Schwachen den Starken zu opfern, sondern deswegen,
damit der Handel in rationelle Bahnen gelenkt werde; natürlich werden indivi-
duelle Interessen dabei ab und zu verletzt werden, die Anwendung entsprechender
Mittel würde aber gewiss den Uebergang in die neuen Verhältnisse erleichtern.
Anders verhält es sich mit den Abzahlungsgeschäften, von denen hier nur
der Eatenhandel in Betracht kommt; dieser ist sehr bedenklich, weil er zu
unbedachten Anschaffungen verleitet und der auf Credit angewiesene Käufer nicht
imstande ist, sein Interesse nachdrücklich genug zu vertreten. Die Gesetzgebung soll
also trachten, unbedachte Käufe möglichst zu erschweren und zwischen Käufer
und Verkäufer ein gesundes Eechtsverhältnis herzustellen. In der ersteren Eich-
tung muss besonders dem Agentenunwesen u. zw. hauptsächlich dort vorgebeugt
werden, wo es sich um den Verkauf von Luxusgegenständen handelt. § 5 des
Eegierungsentwurfes hat diesem Gesichtspunkte in beschränkter Weise Eechnung
getragen, indem er das Aufsuchen von Bestellungen von Ort zu Ort und die
Einladung zu Eatengeschäften nur in solchen Fällen gestattet, in welchen Gegen-
stände in Frage kommen, welche für die Wirtschaft oder den Geschäftsbetrieb des
präsumtiven Käufers dienlich sind. Die Frage, ob eine höhere Anzahlung festzusetzen
sei und man dem Käufer gegen Zahlung eines Eeugeldes das Eücktrittsrecht
zugestehen solle, mag allerdings, wenigstens im einzelnen, streitig sein. In Betreff
der zweiten Gefahr, welche darin besteht, dass drückende, die Eechtsverfolgung
erschwerende Klauseln und Bestimmungen in den Eatenvertrag aufgenommen
werden, ist darauf zu achten, dass gegentheilige , gesetzliche Maassnahmen
erfahrungsgemäss sehr leicht umgangen werden können; man wird also entweder
ganz genau fixieren müssen, was erlaubt und was verboten ist, oder man muss
278 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volltswirte.
der staatlichen Aufsichtsbehörde einen sehr Aveiten Spielraum ihrer Ingerenz
einräumen.
Damit übrigens die ganze Frage vollständige Klärung finde, muss man auch
den Kleinhandel und das Kleingewerbe — am besten im Wege einer mündlichen
Enquete,, die weit besser functionieren würde, als eine schriftliche, und welche
die Aufgabe hätte, die thatsächlichen Verhältnisse nach allen Eichtungen auf-
zudecken, — ja sogar, schon der Gerechtigkeit Avegen, auch die Hausierer und
Katenhändler zu Worte kommen lassen; erst dann wird es möglich sein, ein
Gesetz zu schaffen, das eine gewisse Dauer verspricht.
Nach diesen mit grossem Beifalle aufgenommenen Ausführungen schliesst
der Vorsitzende, da sich Niemand zur Discussion meldet, die Versammlung.
DAS GESETZ, BETEEFFEND BEGÜNSTIGUNGEN
FÜR NEUBAUTEN MIT AEBEITERWOHNUNGEN.
EINGELEITET VON
DR. GUSTAV GEOSS.
-Lis kann nicht die Aufgabe einer Einleitung zu dem im Titel bezeichneten
Gesetz vom 9. Februar 1892 sein, die ganze Bedeutung der Wohnungsfrage zu
erörtern. Es ist ja in zahllosen, theils selbständigen, theils in verschiedenen
Zeitschriften und Sammelwerken erschienenen Publicationen die Wohnungsfrage
in der erschöpfendsten Weise erörtert worden, und es kann kein Zweifel darüber
bestehen, dass dieselbe von der einschneidendsten Bedeutung für die ganze Ent-
wickelung unserer gesellschaftlichen und socialen Verhältnisse ist.
Die Zusammendrängung grösserer Arbeitermengen in den Grosstädten und
in einzelnen Industriecentren hat natürlicherweise ein wesentliches Missverhältnis
zwischen Angebot und Nachfrage an Wohnungen hervorgebracht. Aber nicht nur,
dass thatsächlich die vorhandenen Wohnungen kleineren Umfanges nicht für den
Bedarf ausreichen, wird dieses Missverhältnis noch gesteigert durch den Wohnungs-
wucher, welcher nur zu häufig von Hausbesitzern und noch mehr von Wohnungs-
inhabem im Wege der Aftermiete und der Aufnahme von Bettgehern, jener
unglücklichsten Classe der überhaupt Wohnenden, betrieben wird. Es liegt auf
der Hand, dass eine gründliche Aenderung dieser Verhältnisse nur eintreten
könnte durch eine wesentliche Erhöhung des Einkommens der unteren Schichten
der Bevölkerung, insbesondere der Industriearbeiter, durch eine solche Erhöhung
des Standard of life, welche auch den unteren Classen eine vollkommene Befrie-
digung des Wohnungsbedürfnisses ermöglichen würde. Allein die Lösung dieser
Frage liegt in weiter Ferne, und es wäre ein grober Fehler, sich auf eine solche
Lösung verlassend, andere Versuche zur Besserung der Wohnungsverhältnisse, '
welche ebenso in ökonomischer, als auch in hygienischer und ethischer Hinsicht
für die Arbeiterschaft von der verderblichsten Wirkung sind, zu unterlassen.
Insoweit die öffentliche Gewalt überhaupt die Lösung dieser Frage in die
Hand nimmt, müssen in erster Eeihe sanitätspolizeiliche Maassregeln getroffen
werden, durch welche die den Gesundheitszustand ihrer Bewohner, sowie deren
280 Gross.
Kaclikommenscliaft, aufs schwerste bedrohenden Wohnungen beseitigt würden.
Dass in dieser Beziehung auch bei uns in Oesterreich unendlich viel zu thun
bleibt, dass die Gemeinden, welchen die Sanitätspolizei obliegt, dieselbe nur zu
häufig arg vernachlässigen, braucht kaum erv.ähnt zu vrerden; auch muss die
Schallung sanitätsi)olizeilicher Gesetze, durch welche in dieser Beziehung Wandel
geschaffen wird, als dringend wünschenswert bezeichnet werden. Keineswegs
darf man sich aber der Täuschung hingeben , dass sanitätspolizeiliche
Maassregeln allein genügen würden, um eine Besserung herbeizuführen. Xicht
mit der Beseitigung schlechter Wohnungen allein kann diese Besserung herbei-
geführt werden; wenn man sich darauf beschränken würde, ungesunde Wohnungen
vollkommen zu beseitigen oder ihre Benützung zu verbieten, UeberfüUung von
Wohnungen durch polizeiliche Maassregeln zu verhindern, so würde das Kesultat
sein, dass der Wohnungsmangel sich noch empfindlicher gestalten würde, dass
jenes Missverhältnis zwischen dem Einkommen der Arbeiter und den für eine
entsprechende Wohnung unumgänglich nothwendigen Auslagen, ein noch empfind-
licheres werden würde, abgesehen davon, dass solche sanitätspolizeiliche Maass-
regeln nicht wohl ohne ein oft empfindliches Eingreifen in die privaten Ver-
hältnisse der Bewohner möglich wären.
Das Ziel einer Action zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse von Seiton
der öffentlichen Gewalt muss vielmehr auch darin gesucht werden, die vorhandenen,
für Arbeiter passenden Wohnungen zu vermehren, sei es, dass die Unternehmer
verhalten oder wenigstens angeeifert werden, solche Wohnungen in genügendem
Ausmaasse herzustellen, sei es dass Gemeinden, gemeinnützige Vereine, Genossen-
schaften und sonstige Gesellschaften diese Aufgabe übernehmen.
Das vorliegende Gesetz soll durch die Erleichterung der in Oesterreich
ausserordentlich drückenden Lasten der Hauszinssteuer einerseits die Baulust der
ervrähnten Factoren anspornen, andererseits aber auch die heute unverhältnismässig
hohen Mietpreise herabdrücken. Ist es ja doch eine unbestrittene Thatsache, dass
heute kleine Wohnungen in gleicher Lage sich nicht nur relativ zum Einkommen
-der Mieter, sondern auch im Verhältnisse ihres Ausmaasses bedeutend höher
stellen, als Wohnungen mittleren oder gar grösseren Umfanges in gleicher Lage,
und wenige Zinshäuser dürften eine so hohe Eente abwerfen, als die an den
Peripherien grosser Städte* gelegenen, ausschliesslich von Arbeitern bewohnten
Zinskasernen.
Der durch das Gesetz eingeschlagene Weg ist nicht neu. Wenn wir auch
von der in England für kleine Wohnungen allgemeinen Steuerbefreiung und
Steuerermässigung absehen, so ist ein ganz ähnliches Verfahren eingeschlagen
worden durch das belgische Gesetz vom 9. August 1889, welches in den Steuer-
befreiungen bedeutend weiter geht als das vorliegende Gesetz. Dieses hat eine
lange parlamentarische Lebens- oder vielmehr Leidensgeschichte hinter sich,
welche beweist, wie unendlich schwer es selbst heute noch ist, in unseren consti-
tutionellen Staaten socialpolitische Maassregeln zur Durchführung zu bringen, auch
dann, wenn, dieselben weder dem Staate, noch den Unternehmern wesentliche
Opfer auferlegen. Das Gesetz, wie es heute vorliegt, ist entsprungen aus einem
ursprünglich schon im Jahre 1883 von den Abgeordneten Hermann und Port-
Das Gesetz, betreiFend Begünstigungen für Neubauten mit Arbeiterwohnungen. 281
heim eingebrachten Antrage, welcher eine Befreiung von der Hauszinssteuer nicht
nur für Arbeiterwohnungen, sondern für kleine Wohnungen überhaupt anstrebte.
Da dieser Antrag nicht zur Behandlung im Hause gelangte, wurde derselbe im
Jahre 1885 in der 10. Session des Abgeordnetenhauses von den Abgeordneten
Mauthner und Winterholler wiederaufgenommen; in dieser Session wurde der
Antrag wenigstens im Ausschusse berathen, und der Bericht an das Haus erstattet.
Bei dieser Ausschussberathung wurde bereits eine wichtige Einschränkung
in der Weise vorgenommen, dass die Steuerbefreiung nicht für alle kleinen
Wohnungen, sondern ausschliesslich für Gebäude mit Arbeiterwohnungen wirksam
werden sollte. Jener Ausschussbericht gelangte aber nicht im Plenum des
Hauses zur Berathung, so dass der Antrag beim Beginn der 11. Session im
Frühjahre des Jahres 1891 von denselben Antragstellern neuerdings eingebracht
wurde und dann im Herbste desselben Jahres im Abgeordnetenhause zur Be-
handlung gelangte, wobei der Schreiber dieser Zeilen die Ehre hatte als Bericht-
erstatter des Steuerausschusses zu fungieren. Nach einigen Differenzen zwischen
den beiden Häusern des Eeichsrathes, welche schon ein neuerliches Scheitern des
Gesetzes befürchten Hessen, konnte dasselbe endlich im Februar dieses Jahres
zur Allerhöchsten Sanction vorgelegt werden.
Was nun den Inhalt des Gesetzes betrifft, so ist der Umfang, in welchem'
die Steuerbefreiung gewährt werden soll, ein sehr beschränkter. Nicht nur sind
alle andern, als Arbeiterwohnungen im engsten Sinne des Wortes, von den
Begünstigungen, welche das Gesetz gewährt, ausgeschlossen, sondern es w^erden
auch nur solche Gebäude der Steuerbefreiung theilhaftig werden, welche entweder
von Gemeinden und gemeinnützigen Vereinen, oder von aus Arbeitern gebildeten
Genossenschaften für ihre Mitglieder, oder endlich von Arbeitgebern für ihre
Arbeiter errichtet werden. Bei den grossen Schwierigkeiten, welche naturgemäss
die Bildung von Baugenossenschaften aus dem Kreise der Arbeiter haben muss,
kommt diese Kategorie leider kaum in Betracht. Hingegen wurden andere, als
streng gemeinnützige Vereine, also insbesondere Actiengesellschaften,^ ebenso wie
Unternehmer, welche für nicht bei ihnen in Arbeit stehende Arbeiter Wohngebäude
errichten, durch das Gesetz ausgeschlossen. Die Tendenz der letzteren Einschrän-
kung, welche verhindern soll, dass die Arbeiterwohnung zum Gegenstände der
Speculation gemacht werde, ist gewiss vollkommen zu billigen. Es mag aber
zweifelhaft sein, ob nicht durch die im Gesetze normierte Beschränkung des
Mietzinses, und durch eine mögliche Beschränkung der Dividende, wenigstens
die Actiengesellschaften in den Eahmen des Gesetzes hätten einbezogen werden
können. Sind doch die Erfahrungen, die man in anderen Ländern und namentlich
in Frankreich mit Actiengesellschaften zur Erbauung von Arbeiterwohnungen,
welche dort vielfach vom Staate, den Departements und Gemeinden unter-
stützt w^urden, gemacht hat, im grossen und ganzen sehr günstig gewesen.
Auch darf nicht verkannt werden, dass es gemeinnützigen Vereinen im engsten
Sinne des Wortes nur schwer gelingen wird, die zur Erbauung von Wohngebäuden
in grösserem Umfange erforderlichen Mittel aufzutreiben.
Das Ausmaass der für Arbeiter Wohnungen zu gewährenden Steuerfreiheit
bildete eine der vielen Klippen, welche das Gesetz während seiner parlamentari'-
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. II. Heft. 19
282 Gross.
sehen Leidenslaufbahn zu umschiffen hatte. Vor allem ergaben sich Meinungs-
verschiedenheiten über die Dauer, für welche die Steuerfreiheit zu gewähren wäre.
Während die Antragsteller ursprünglich eine Dauer von 30 Jahren in Aussicht
genommen hatten — die allgemeine Steuerfreiheit für Neubauten dauert heute
zwölf Jahre — erklärte die Eegierung anfangs, nur auf eine Befreiung von 20
Jahren eingehen zu können, so dass endlich im Compromisswege die Dauer der
Steuerfreiheit für Neubauten mit 24 Jahren fixiert wurde.
Noch grössere Schwierigkeiten bot die Lösung der Frage, ob und in
welchem Umfange auch die kleineren Zwangs-Gesammtwirtschaften, Länder, Be-
zirke und Gemeinden hinsichtlich ihrer Zuschläge zu den Staatssteuern zur
Gewährung einer Begünstigung heranzuziehen seien. Ursprünglich gieng die Absicht
dahin, die Staatssteuern überhaupt nicht in Vorschreibung bringen zu lassen,
wodurch auch die Erhebung von Zuschlägen zu denselben ausgeschlossen ge-
wesen wäre. Dieser Standpunkt wurde auch von der Eegierung, welche die
Meinung vertrat, dass die Lösung der Wohnungsfrage in erster Keihe Sache der
Local-Gesammtwirtschaften sei, getheilt. Allein gegen eine solche Fassung des
Gesetzes machten sich nicht nur — wie so häufig in Oesterreich — staatsrecht-
liche Bedenken geltend, indem befürchtet wurde, dass dadurch die Autonomie
der „Königreiche und Länder" verletzt werden könnte, sondern es wurde auch
namentlich darauf hingewiesen, dass die Gemeinden, denen aus der Erbauung
neuer Wohnhäuser häufig grosse Kosten für Herstellung von Strassen, Canälen,
Wasserleitungen, namentlich aber von Schulen erwachsen, die Zuschläge zu den
Steuern für solche Gebäude nicht entbehren können. Demgemäss hat auch das Ab-
geordnetenhaus anfangs den Standtpunkt vertreten, dass die Gemeindezuschläge
durch das Gesetz in keine*- Weise berührt werden sollen, und erst infolge einer
im Herrenhause vorgenommenen Abänderung des § 1 des Gesetzes, wurde die
heutige Textierung angenommen, nach welcher das Gesetz überall dort in Wirk-
samkeit tritt, wo im Wege der Landesgesetzgebung die Landes- und Bezirks-
zuschläge zu den vom Staate erlassenen Steuern gleichalls nachgesehen werden,
und eine Ermässigung der Gemeindezuschläge eintritt, deren Ausmaass der
Landesgesetzgebung überlassen bleibt. Es kann demnach der Fall eintreten, und
er wird auch ziemlich wahrscheinlich eintreten, dass das Gesetz nur in einigen
Provinzen Oesterreichs Geltung erlangt^).
Im übrigen sind jene Bestimmungen des' Gesetzes die wichtigsten, welche
das Ausmaass der herzustellenden Wohnungen und den Mietpreis hiefür be-
stimmen. Bei der Fixierung des Ausmaasses wurde sowohl auf Wohnungen, welche
bloss ein einziges Gelass enthielten, als auch auf Wohnungen mit mehreren
1) Allerdings wurden bei der soeben (am 3. März 1892) eröffneten Session der
Landtage in den meisten Landtagen Gesetzentwürfe eingebracht, nach welchen für alle
von dem Gesetze begünstigten Gebäude die vollkommene Befreiung von den Landes- und
Bezirksumlagen, sowie eine 50percentige Ermässigung der Gemeindeumlagen eintritt.
Trotzdem bleibt aber abzuwarten, in welchen Landtagen diese Vorlage zum Gesetze er-
hoben werden wird, umsomehr, als zu befürchten steht, dass auch hier sich mehrfach
jene Tendenzen geltend machen werden, welche eine Betheiligung der Gemeinden gänzlich
perhorrescieren.
Das Gesetz, betreffend Begünstigungen für Neubauten mit Arbeiterwohnungen. 283
Eäumen Rücksiclit genommen. Die besondere Berücksichtigung von Wohnungen
mit einem einzigen Gelasse erschien deshalb nothwendig, weil ja heute thatsäch-
lich in grossem Umfang solche Wohnungen bestehen (in Wien allein 20.827, welche
Anzahl durch die Einbeziehung der Vororte noch in ganz unverhältnismässigem
Maasse erhöht worden ist) und eine plötzliche Aenderung in dieser Beziehung,
wenn auch höchst erstrebenswert, so doch kaum für erreichbar angesehen werden
kann. Auch war zu berücksichtigen, dass kinderlose Ehepaare und vollends ledige
Arbeiter sich schwerlich beim heutigen Standard of life der Arbeiter dazu ent-
schliessen werden, eine grössere Wohnung zu nehmen, dass also, wenn blos für
Wehnungen, die aus einem oder gar mehreren Zimmern und Küche bestehen,
Vorsorge getroffen würde, die Bettgeherwirtschaft nach wie vor florieren würde.
Wenn auch nicht behauptet werden kann, dass durch die Schaffung einzelner
Zimmw, welche nach ihrem Umfang und nach ihrem Preis den Bedürfnissen
einzelner Arbeiter entsprechen, jener Krebsschaden wirklich beseitigt werden
wird, so musste doch die Möglichkeit geboten werden, hier eine Bessemng
eintreten zu lassen. Die Fixierung des Minimalansmaasses für die Wohnungan mit 15,
beziehungsweise 40 m"^ ist keinesfalls zu niedrig gegriffen, und werden Wohnun-
gen von 40 w^ Fläche wohl heute in den seltensten Fällen von Arbeiterfamilien
benützt werden, ' ja dieses Minimalausmaass ist auch bedeutend grösser, als das
Ausmaass, welches in den in neuerer Zeit von verschiedenen Seiten angefertigten
Normalplänen, so namentlich in dem Normalplane des „Deutschen Vereines für
Armenpflege" in Aussicht genommen wurde. Die Hinzufügang von Maximalaus-
maassen für die Wohnungen mag auf den ersten Blick in Erstaunen setzen. Der
Grund für die Festsetzung solcher Maxima liegt darin, dass man bei einzelnen
Zimmern grössere Schlafsäle für eine beträchtliche Anzahl von Arbeitern ver-
meiden wollte, während das Maximalausmaass für andere Wohnungen lediglich
von fiscalischen Eücksichten dictiert wurde, da die Eegierung befürchtete, dass
ohne ein solches Maximalausmaass auch andere als Arbeiterwohnungen an den
Wohlthaten des Gesetzes participieren könnten, was vermieden werden sollte.
Eine ursprünglich in Aussicht genommene Einschränkung bezüglich des
Umfanges der zu erbauenden Häuser wurde später fallen gelassen. Diese Be-
schränkung hätte den Zweck gehabt, dass die zu erbauenden Häuser vollständig
oder doch nahezu den Charakter von Cottages haben sollten. So wünschenswert
es nun auch erscheinen mag, dem Arbeiter Wohnungen dieser Art j^eizustellen,
so muss doch für die heutige Zeit und die heutigen Wohnverhältnisse es als ein
unerreichbares Ideal bezeichnet werden, jeder Arbeiterfamilie ihr eigenes Haus
zu verschaffen, ganz abgesehen davon, dass durch das Cottage-System — wenn
es durchgeführt würde — die Freizügigkeit der Arbeiter in noch weit höherem.
Maasse beschränkt würde, als dies durch anderweitige, von Unternehmern bei-
gestellte Wohnungen der Fall ist. Die Herstellung grösserer Gebäude mit Arbeiter-
wohnungen ist nicht nur weit ökonomischer, es können auch in diesen Gebäuden
bei entsprechender Veranlagung der Pläne vielfache Vortheile geboten werden,
welche bei einzelnen isolierten Häuschen nicht erreichbar sind, üeberdies zeigen
ja thatsächlich die neuesten Erfahrungen, die man mit dem Cottage-System viel-
fach und insbesondere in dem einst so viel gerühmten und berühmten M ü h 1-
19*
284 Gross.
hausen gemacht hat, dass dort das Cottage-System nicht etwa dahin geführt
hat, jeder Arbeiterfamilie ihr selbständiges Heim zu verschaffen, sondern, dass
nur eine Minderheit von Familien solche Häuser erwerben kann, und dass dann
Aftermiete und Bettgeherwirtschaft, verbunden mit der rücksichtslosesten Aus-
beutung durch die Vermieter und der denkbar ärgsten Ueberfüllung, sich noch
in schlimmerer Weise geltend machen, als bei Arbeiterkasernen.
Die wichtigste und unseres Wissens auch ganz originelle Bestimmung des
Gesetzes enthält der § 5, durch welchen für die Wohnungen in den begünstigten
Häusern nach dem Ausmaasse ein Maximalzins bestimmt wird. Es war bezeich-
nend für den gewaltigen Umschwung, der sich in den letzten Jahrzehnten in
unseren volkwirtschaftlichen Anschauungen vollzogen hat, dass das Princip,
welches darin zum Ausdruck gelangt, von keiner Seite eine Anfechtung erfahren
hat, während wahrscheinlich vor noch nicht langer Zeit eine solche gesetzliche
Bestimmung als ein unerhörter, absolut unzulässiger Eingriff in das freie Getriebe
der Volkswirtschaft u. s. w. erklärt worden wäre. Man hat sich aber heute bereits
vollkommen mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass die öffentliche Gewalt
nicht allein berufen ist, im wirtschaftlichen Verkehre Schutz gegen Rechtsbruch zu
gewähren, sondern auch bestimmend selbst in die Preisbildung einzugreifen. Die
Feststellung eines Maximalzinssatzes war hier umso nothwendiger, als die heute
bestehenden von Unternehmern erbauten Arbeiterwohnungen nur allzuhäufig den
grellsten Beweis dafür erbringen, dass den Unternehmern bei der Herstellung
solcher Wohnungen nicht so sehr das Wohl ihrer Arbeiter als ihre pecuniären
Vortheile am Herzen liegen. Das Interesse des Unternehmers erfordert oft ge-
bieterisch die Herstellung von Arbeiterwohnungen, wenn er überhaupt Arbeiter
für sein Unternehmen bekommen und erhalten will, weil eben sonst die aus der
Fremde zugezogenen Arbeiter überhaupt kein Unterkommen finden würden. Und
nur zu häufig benützt der Unternehmer dennoch die Gelegenheit, um aus den
erbauten Arbeiterwohnungen beträchtliche Mietzinse zu ziehen, welche sogar eine
Verzinsung des Anlage capitals von mehr als 67o ergeben. Sind uns doch Fälle
bekannt, wo in den Arbeiterwohnungen einer Actiengesellschaft für 1 m^ bewohn-
bare Fläche, nicht in Wien, sondern auf dem flachen Lande, Zinse von 2 — 3 fl.,
ja noch mehr, gezahlt werden.
Bei der Festsetzung der gestatteten Maximalzinse mussten zwei Gesichts-
punkte maassgebend sein. Dieselben sollten einerseits zu dem erforderlichen Bau-
capitale in einem solchen Verhältnisse stehen, dass eine massige Verzinsung
desselben, sowie die langsame Amortisation ermöglicht werde, andererseits aber
auch so bemessen werden, dass einem Arbeiter mit ortsüblichem Taglohn die
Möglichkeit geboten werde, für sich und seine Familie eine entsprechende
Wohnung zu erlangen, ohne eine unverhältnismässig hohe Quote seines Einkommens
dafür verwenden zu müssen.
Begreiflicherweise müsste, wenn alle einzelnen Verhältnisse berücksichtigt
werden sollen, dieser Maximalzins fast für jeden Ort in einer anderen Höhe
bestimmt werden. Die Schwierigkeiten einer solchen verschiedenartigen Bemessung
bestimmten aber den Ausschuss des Abgeordnetenhauses und dieses Haus selbst,
sich darauf zu beschränken, drei Kategorien von Zinsen nach der Bevölkerungs-
Das Gesetz, betreffend Begünstigungen für Neubauten mit Arbeiterwohnungen. 285
anzaM der betreffenden Orte zu schaffen, ohne sich in eine nähere Unterscheidung
einzulassen. Ohne sich zu verhehlen, dass an vielen Orten diese Zinse nicht ent-
sprechend sein würden, dass dieselben vielleicht vielfach zu hoch erscheinen
würden, glaubte man doch besser diesen Weg einschlagen zu sollen, als den, die
Festsetzung der Zinse etwa localen Behörden zu überlassen, weil in diesem Fallo
sehr leicht der übermächtige Einfluss des Unternehmers sich geltend machen
könnte. Um die Bedeutung dieser Zinse richtig zu verstehen, darf man eben nicht
vergessen, dass es sich nur um Maximalzinse handelt, welche hoffentlich nur
selten erreicht werden, und welche namentlich in den von Gemeinden und
gemeinnützigen Vereinen erbauten Häusern schwerlich werden angewendet werden
müssen.
Was nun die voraussichtliche Wirkung des Gesetzes betrifft, so darf wohl
— selbstverständlich vorausgesetzt, dass die Landtage ehestens die betreffenden
Bestimmungen im Gesetzeswege erlassen — der Hoffnung Ausdruck gegeben
werden, dass das angestrebte Ziel, eine ausgiebige Vermehrung der für Arbeiter
verfügbaren W^ohnungen herbeizuführen, durch dieses Gesetz wesentlich befördert
wird. Durch die abnorm hohe Hauszinssteuer haben sich dermalen auch viele
ihren Arbeitern wohlwollende Unternehmer von der Herstellung von Wohnungen
abhalten lassen, weil sie den Arbeitern mit Eücksicht auf die hohe Steuer nur zu
solchen Mietpreisen hätten Wohnungen bieten können, welche die Mietpreise
in anderen, freilich in keiner Weise entsprechenden Wohngebäuden beiweitem
übersteigen. Vollends dürfte das Gesetz von jenen Unternehmern in Anwendung
gebracht werden, welche den Arbeitern die Wohnung als einen Theil des Lohnes
gewähren, beziehungsweise in Anrechnung bringen. Vor einer Uebervortheilung
beziehungsweise vor einer allzuhohen Anrechnung der Wohnung ist aber der
Arbeiter auch in diesem Falle durch die Festsetzung des Maximalzinses geschützt.
Abzuwarten bleibt, in welchem Umfange es gelingen wird, die Gemeinden und
die gemeinnützigen Vereine für die Sache zu interessieren. Unzweifelhaft gehört
es zu den wichtigsten Aufgaben der Gemeinde, hier nicht blos regelnd, rathend,
helfend, unterstützend, sondern auch direct selbstthätig einzugreifen. Durch dieses
Gesetz wird den Gemeinden die Möglichkeit geboten, dies ohne grosse materielle
Opfer in einer auch den Arbeitern entsprechenden Weise zu thun. Und schon der
Umstand, dass sich unter den Antragstellern der Bürgermeister einer unserer
grössten Lidustriestädte befindet, berechtigt zu der Hoffnung, dass die Gemeinden
auch thatsächlich von dieser Möglichkeit Gebrauch machen werden. Dabei kann
selbstverständlich jedoch nur von grossen Gemeinwesen die Kede sein, nicht von
jenen Landgemeinden, welche durch die zufällige Placierung einer oder mehrerer
Fabriken in denselben, plötzlich eine grosse Arbeiterb evölkerung erhalten.')
Die Thätigkeit gemeinnütziger Vereine in dieser Kichtung wird nur dann
eine nennenswerte sein können, wenn dieselben von Seiten unserer Geldinstitute
die entsprechende Unterstützung finden. Bei der vielfachen Inanspruchnahme
unserer wohlhabenden und Mittelkreise zu wohlthätigen und gemeinnützigen
1) Während des Druckes ist erfreulicher Weise im Wiener Gemeinderathe bereits ein
Antrag auf Erbauung von Arbeiterwohnhäusern durch die Gemeinde eingebracht worden.
286 Cr'^OSS.
Zwecken ist es wohl ausgeschlossen, in diesen Kreisen etwa im Wege der
Sammlung die immerhin beträchtlichen Kosten für die Erbauung von grossen
Arbeiterw^ohnungen aufzubringen. Es ist dies aber auch nicht nothwendig, da ja
eine massige Verzinsung des Anlagecapitals fast vollkommen gesichert erscheint,
und es wird demnach die Aufgabe unserer haute finance und unserer G-eldinstitute
sein, den sich bildenden Vereinen zum Zweck der Ausführung die nöthigen
Capitalien zur Verfügur.g zu stellen. Dass dies auch wirklich geschehe darf wohl
umso eher erhofft w^erden, als denn doch endlich unter unseren Industriellen
und Einanzmännern langsam das Verständnis für die socialen Aufgaben des
privaten Grosscapitales aufzudämmern beginnt, und als überdies die Klagen über
Mangel an entsprechenden Anlagegelegenheiten für grosse Capitalien sich immer
mehren und die Unlust der Capitalbesitzer sich in grösserem Umfange an indu-
striellen Unternehmungen zu betheiligen, noch immer in vollem Maasse vorhanden ist.
Unter allen Umständen aber kann das Gesetz, selbst wenn sein Erfolg hinter den
bescheidensten Erwartungen zurückbleiben sollte, doch insoferne als ein social-
politisches Ereignis bezeichnet werden, als dadurch zum erstenmale auch in Oester-
reich das Princip anerkannt wird, dass die Zwangsgesammtwirtschaften sich an
der Lösung socialer Fragen nicht nur durch Gesetzgebungs- und Verwaltungs-
maassregeln sondern auch durch materielle, wenn auch zunächst nur negative
Leistungen zu betheiligen haben.
Gesetz vom 9. Februar 1892, E.-G.-B. Kr. 37, betreffend Begünstigungen
für Neubauten mit Arbeiterwohnungen.
Mit Zustimmung beider Häuser des ßeichsrathes finde Ich anzuordnen,
wie folgt:
§ 1. Von der auf dem kaiserlichen Patente vom 23. Februar 1820 beru-
henden Hauszinssteuer, sowie von der nach § 7 des Gesetzes vom 9. Februar 1882
(E.-G.-Bl. Xr. 17) von steuerfreien Gebäuden zu entrichtenden Steuer sind nach
Maassgabe der Bestimmung des § 2 dieses Gesetzes jene Wohngebäude befreit,
welche zu dem Zwecke erbaut werden, um ausschliesslich an Arbeiter vermietet
zu werden und dtnselben gesunde und billige Wohnungen zu bieten, und zwar
wenn solche:
a) von Gemeinden, gemeinnützigen Vereinen und Anstalten für Arbeiter;
b) von aus Arbeitern gebildeten Genossenschaften für ihre Mitglieder;
c) von Arbeitgebern für ihre Arbeiter errichtet werden.
Diese Steuerbefreiung tritt nur in jenen Königreichen und Ländern in
Kraft, in welchen den bezeichneten Neubauten im Wege der Landesgesetzgebung
auch die Befreiung von allen Landes- und Bezirkszuschlägen, sowie eine Er-
mässis^ung der Gemeindezuschläge zu den genannten Staatssteuern für die ganze
Dauer der staatlichen Steuerbefreiung gewährt wird.
§ 2. Die Steuerfreiheit erstreckt sich auf 24 Jahre vom Zeitpunkte der
Vollendung des Gebäudes.
§ 3. Gebäude, welche Wohnungen enthalten, deren Fussboden unter der
Strassenoberfläche liegt, sind von dieser Steuerfreiheit ausgeschlossen.
Das Gesetz, betreffend Begünstigungen für Neubauten mit Arbeiterwohnungen. 287
§ 4. Der bewohnbare Eaum einer einzelnen Wohnung darf, wenn dieselbe
nur ein einziges Gelass enthält, nicht weniger als 15 und nicht mehr als 30 m^,
bei Wohnungen, welche aus mehreren Eäumen bestehen, nicht weniger als 40 und
nicht mehr als 75 m^ betragen.
Von den in den §§ 3 und 4 vorgezeichneten speciellen Bedingungen
können die Erbauer ganz oder theilweise entbunden werden, wenn der zweck-
entsprechende und gemeinnützige Charakter der Bauführungen in anderer Weise
sichergestellt ist.
§ 5. Der jährliche Mietzins für 1 m^ bewohnbaren Raumes darf höchstens
betragen:
a) in Wien 1 fl. 75 kr. öst. W.;
b) in Orten mit mehr als 10.000 Einwohnern 1 fl. 15 kr. ö. W.;
c) in allen anderen Orten 80 kr. ö. W.
§ 6. Die durch dieses Gesetz gewährten Begünstigungen erlöschen, wenn
die Bestimmungen der §§ 1, 3 oder 4 ausseracht gelassen werden, oder wenn
die betreffenden Gebäude auf andere Weise als durch Erbgang an Personen
übertragen werden, welche, wenn sie selbst den Bau unternommen hätten, keinen
Anspruch auf die Begünstigung dieses Gesetzes gehabt hätten.
Im Falle der eingeforderte Mietzins die im § 5 festgesetzte Höhe über-
schreitet, so hat der Vermieter bei dem erstmaligen Ueberschreiten, sowie im
erstmaligen Wiederholungsfalle eine Geldstrafe zu entrichten, welche das Zehn-
fache des zu viel eingehobenen Zinses beträgt; tritt der Fall einer solchen
Ueberschreitung jedoch zum drittenmale ein, so erlöschen die durch dieses Gesetz
gewährten Begünstigungen.
§ 7. Die Begünstigungen dieses Gesetzes haben für jene Bauten Geltung,
welche bis zum Ablaufe des zehnten Jahres nach Beginn der Wirksamkeit des-
selben fertiggestellt sind.
§ 8. Im übrigen bleiben die Bestimmungen des Gesetzes vom 25. März 1880
(E.-G.-Bl. Nr. 39), betreffend die Steuerfreiheit von Neu-, Zu- und Umbauten,
unverändert in 'Geltung, und sind für das Verfahren nach dem vorliegenden
Gesetze gleichfalls maassgebend.
Die Verhängung der im § 6 angedrohten Geldstrafe steht gleichfalls den
Steuerbehörden erster Instanz unter Berücksichtigung des Gesetzes vom 19. März
1876 (R.-G.-Bl. Nr. 28) zu.
Diese Geldstrafe fällt dem Armenfonde derjenigen Gemeinde zu, in welcher
die befreiten Wohngebäude gelegen sind.
Die im § 4 vorgesehene theilweise Entbindung von den Bestimmungen
des Gesetzes bleibt dem Finanzminister vorbehalten.
§ 9. Mit dem Vollzuge dieses Gesetzes sind der Finanzminister und der
Minister des Innern beauftragt.
DIE STATISTIK AUF DKEI INTEENATIONALEN
COMEESSEN DES JAHRES 1891.
VON
DR. GEOKG V. MAYR.
Zunächst hat es wohl den Anschein, als führe nur der äussere Umstand
meiner persönlichen Anwesenheit auf den drei Congressen, von denen im weiteren
die Kede sein soll, zu einer zusammenfassenden Betrachtung ihrer Bedeutung für
die statistische Forschung. Eine nähere Untersuchung aber ergibt, dass in dem
persönlichen Moment nur der äussere Anstoss zu einer auch innerlich berechtigten
Zusammenfassung liegt. Zu diesem Behufe möge ein kurzer, allgemeiner Blick
auf die Wandlungen gestattet sein, welche die Technik des Lernens und Lehrens
der längst der Schule Entwachsenen in der Neuzeit erfahren hat.
Man würde sich irren, wollte man glauben, nur die Technik des eigentlich
zunftmässigen Unterrichts in der Schule — auf ihren sämmtlichen Stufen, von
der Elementarschule bis zur Hochschule — habe in der Neuzeit Veränderungen
erfahren. Fast mehr noch war dies der Fall bei dem Lernen und Lehren der
längst der Schule Entwachsenen, welches die Fortbildung all unseres Wissens
vermittelt. Die Individualform dieses Lernens und Lehrens, wie sie in der Haupt-
sache durch die Fachliteratur vermittelt wird, hat insofern eine eigenartige Aus-
gestaltung erfahren, als das ein grösseres Wissensgebiet in abgeschlossener Form
betrachtende Buch gegenüber dem rascheren und lebendigeren Gedankenaustausch,
welchen die Fachzeitschrift vermittelt, als Lehr- und Lernmittel der activen
Mitglieder der Wissenschaftspflege stark in den Hintergrund gedrängt ist, während
hinwiederum der Fachzeitschrift in mancher Beziehung seitens der Tagespresse
eine nicht unbedeutende Concurrenz gemacht wird.
Noch bedeutungsvoller erscheint die Veränderung der Technik des Lernens
und Lehrens auf dem gesammten Gebiete der Förderung der Wissenschaft, welche
das Auftreten der Collectivform des Lernens und Lehrens neben der alther-
gebrachten Individualfoi*m veranlasst hat. In gewissem Sinne macht sich in der
Vielzahl der Mitarbeiter an einer Zeitschrift, oder an einem gross angelegten Hand-
buch schon eine Hinneigung zu collectiver wissenschaftlicher Arbeit geltend.
Immerhin aber ist dies nur äusserlich, in einem gewissen formellen Sinne
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 289
zutreffend; von einer wirklichen geistigen Zusammenarbeit Mehrerer ist dabei nicht
die Rede; es handelt sich nur um ein Nebeneinander, oft auch um ein Gegen-
einander der Ansichten innerhalb des gemeinschaftlichen äusseren Eahmens der
buchhändlerischen Unternehmung. Nicht bloss formelle, sondern auch wirkliche,
materielle, geistige Zusammenarbeit ist dagegen der — wenn auch nicht immer
voll erreichte — Zweck der neuzeitlichen wissenschaftlichen Congresse. Mag auch
mancher wackere Anhänger der alten Individualmethode nicht gerade mit gün-
stigem Blick auf sie herabsehen, die Congressa sind eine bedeutungsvolle neue
Betriebsform der Geistesarbeit geworden, welche an Bedeutung die historische
Urform der geistigen Zusammenarbeit innerhalb eines enggeschlossenen zünftigen
Kreises, wie sie in den Akademien verkörpert ist, überragt. Unterstützt durch die
Hilfsmittel des modernen Verkehrs ist diese Co operativform der geistigen Arbeit,
wenn auch in ihren Einzelheiten mannigfaltigen Umgestaltungen unterworfen,
für die Zukunft ein unentbehrliches Hilfsmittel der Fortbildung der Wissenschaft.
Ihre sachliche Kraft schöpfen die wissenschaftlichen Congresse gegenüber der
durch die strenge geistige Zurückgezogenheit unter allen Umständen hochwertigen
In di vi dualform des Lernens und Lehrens aus zwei Umständen, erstens aus der
Stärkung der Beziehungen der Träger der wissenschaftlichen Strebungen, welche
aus der Anknüpfung persönlicher Bekanntschaft und dauernder Pflege derselben
sich ergibt, und zweitens aus der Bedeutung, welche nach der Natur der geistigen
Zusammenarbeit, dem lebendigen Wort im Gegensatz zum Gedruckten zufällt. Es
ist eine naturgemässe Eeaction gegen die UeberfüUe des Gedruckten, mit welchem
wir überflutet werden, wenn wir uns nach all der Leetüre, mit der wir uns in
11 Monaten des Jahres gequält haben, im zwölften an dem mündlichen Gedanken-
austausch auf einem wissenschaftlichen Congresse erfrischen.
Auch die wissenschaftlichen Congresse aber folgen dem Entwickolungsgesetz
der Arbeitstheilung. Aus -den wenigen allumfassenden Congressen, die sich zuerst
hervorgethan haben, ist eine immer reichere Fülle von Congressen, zumeist mit
specielleren Aufgaben erwachsen, wenn auch daneben die zusammenfassenden
allgemeinen Congresse ebensowenig ihre Bedeutung ganz verloren haben, als das
wissenschaftliche Compendium neben der Fachzeitschrift. Auch bei der Statistik
hat sich das Monopol der vormaligen allgemeinen statistischen Congresse nicht
als haltbar erwiesen. Wenn auch zweifellos äussere Umstände von Einfluss darauf
gewesen sind, dass gerade der statistische Congress in Budapest von 1876 der
letzte dieser Congresse, und die Versammlung der permanenten Commission in
Paris im Jahre 1878 die letzte dieser Versammlungen war, so sind es schliesslich
doch auch innere Gründe gewesen, welche gegen die Monopolisierung geistiger
Zusammenarbeit in statistischen Angelegenheiten durch den statistischen Congress
sprachen.
So gross die Vorurtheile sind, mit welchen die Statistik zu allen Zeiten zu
kämpfen hatte, und mit welchen sie auch heute noch kämpft, das Interesse an der
Statistik, und was noch wichtiger ißt, das sachliche Bedürfnis nach Pflege der
Statistik ist in der Neuzeit gewaltig gestiegen. Ohne Zweifel hat der social-
politische Zug der neueren Zeit das wichtigste Ferment für die Erkenntnis dieses
Bedürfnisses nach Statistik geliefert; beachtenswert ist auch die Anlehnung, welche
290 ^ayr.
die hygionisclien Bestrebungen an statistische Forscliung suchten. Mit dieser Ver-
aligemeinung des wissenschaftlichen Interesses an der Statistik ist die ausschliess-
liche Behandlung statistischer Probleme auf einem Congresse nicht gut vereinbar.
So finden wir denn auch thatsächlich seit längerer Zeit verschiedenartige Congress-
arbeit auf diesem Gebiete, theils in besonders der Statistik gewidmeter Zusammen-
arbeit, theils in äusserlicher Yeibindung solcher statistischer Geistesarbeit mit
anderweitiger Zusammenarbeit, theils endlich als innerlichen Bestandtheil der auf
ein bestimmtes sociales Problem gerichteten internationalen Zusammenarbeit. Diese
dreierlei Arten von statistischer Zusammenarbeit finden sich auf den drei Congressen
des Jahres 1891 vertreten, welche den Gegenstand der nachfolgenden Betrachtung
bilden sollen. Eine besonders der Statistik gewidmete Zusammenarbeit war die
Versammlung des internationalen statistischen Instituts in Wien, in äusserlicher
Verbindung mit anderweitiger Zusammenarbeit erscheint der internationale demo-
graphische Congress in London, und als Typus einer Sonderbehandlung statistischer
Fragen aus Anlass der internationalen Erörterung eines socialpolitischen Problems
stellt sich die Besprechung der Statistik der Arbeiterversicherung auf dem inter-
nationalen Unfall-Congresse in Bern dar. Es möge gestattet sein, die für die
Statistik bedeutsamen Arbeiten dieser Congresse nach der Zeitfolge der Abhaltung
der Congresse zu besprechen und demgemäss zuerst den Londoner, dann den Berner
und zuletzt den Wiener Congress in Betracht zu ziehen.
\. Internationaler demographischer Congress in London vom
10. bis 17. August 1891.
Im grossen Rahmen der mannigfaltigen Fragen, mit welchen die Congresse
für Hygiene und Demographie sich beschäftigt haben, stellt das demographische
Gebiet ein geschlossenes Ganzes dar, das zwar auch innerlich manchen Zusammen-
hang mit hygienischen Problemen hat, in der Hauptsache aber doch nur mehr
äusserlich mit den hygienischen Aufgaben zusammengeschweisst ist, und dem-
gemäss auch insofern äusserlich abgesondert erscheint, als in den grossen
Gesammtcongress noch ein besonderer „demographischer Congress" einge-
schlossen ist. Dieser, vorzugsweise aus Vertretern der Statistik und Volkswirtschaft
bestehend, ist nichts anderes als ein vorzugsweise mit Fragen der ßevölkerungs-
und Wirtschaftsstatistik beschäftigter Congress, welcher allerdings in London noch
mehr als früher, insbesondere als in Wien, in der Selbständigkeit seiner
Erscheinung und Wirksamkeit unter dem Drucke der reichgegliederten Massen-
concurrenz der verschiedenen hygienischen Sectionen des Congresses stand.
Dies fand schon darin seinen Ausdruck, dass die im übrigen ganz vortreff-
liche und ausführliche Eröffnungsrede des Prinzen von Wales der Demographie
überhaupt gar nicht erwähnte. Der Prinz beschränkte sich keineswegs auf die
üblichen Begrüssungsphrasen, sondern schilderte in eingehender sachlicher Dar-
legung die Bedeutung der Hygiene für das öffentliche Wohl und insbesondere für
die Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen. Die Rede war unverkennbar
von manchen Tropfen socialpolitischen Oels durchdrungen, daneben spielte auch
die Befriedigung über die ausserordentlich grosse Zahl (weit über 2000) der
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 291
Theilnehmer, sowie namentlich über die zahlreiche Betheiligung- aus dem indischen
Kaiserreich eine Kulle. Der Gedankengang seiner Eede kehrte immer wieder zu
dem socialpolitischen Programme möglichster Förderung der „öffentlichen" oder
der „nationalen" Gesundheit zurück, und innerhalb des Rahmens dieser Strebungen
ganz besonders zur Frage der Förderung der gesundheitlichen Entwicklung der
arbeitenden Classen namentlich in den gewaltigen Centren der modernen Bevöl-
kerungsanhäufung und in den Gebieten der aufs höchste gesteigerten industriellen
Thätigkeit. Von der „Demographie" aber war in der Rede des Prinzeu überhaupt
nicht die Rede; sie wurde in der Eröffnungssitzung nur von Körösi (Budapest)
einigermaassen zur Geltung gebracht, der in zutreffender Weise hervorhob, dass
England als Mutterland der Demographie angesehen werden müsse, da gerade
vor etwa 200 Jahren durch Graunt, Betty u. s. w. der Wissenszweig geschaffen
worden sei, welchem heute neben der Hygiene die Arbeitsthätigkeit des Congresses
gewidmet sei.
Das Arbeitsprogramm des Londoner demographischen Congresses stellte sich,
nachdem man an Ort und Stelle zur Arbeit versammelt war, als ausserordentlich,
reichhaltig heraus, viel reichhaltiger, als nach dem vorher zur Versendung
gelangten vorläufigen Programm zu erwarten w^ar. Für die vier Verhandlungstage
des demographischen Congresses (oder der demographischen Section des Congresses
für Hygiene und Demographie) waren nicht weniger als 30 Vorträge und Referate
auf das Programm gesetzt. Einzelnes kam zwar, theils wegen Abwesenheit der
Berichterstatter, theils wegen des störenden Einflusses der sonstigen Congress-
arbeit in Wegfall; die Fülle des Stoffs war aber immerhin noch eine übergrosse
und dadurch der Discussion, welche neben den Vorträgen das eigentlich belebende
Element der Congresse bildet, einigermaassen der Boden entzogen. In gleicher
Richtung wirkte die neben sehr massiger Kenntnis fremder Sprachen bei den
Engländern entschieden obwaltende Vorliebe für das Verlesen ausführlicher „Papers"
in Verbindung mit der Erwartung, dass sich daran keine oder nur eine weniger
tief eindringende Erörterung, vor allem aber — selbst da wo nicht wissenschaft-
liche Fragen, sondern Fragen der praktischen Einrichtung der Stoffbeschaffung
erörtert werden — keine Abstimmung irgend welcher Art knöpfen werde. Wenig
förderlich für den Gedankenaustausch im Schooss des Congresses war es auch,
dass entgegen der ursprünglich kundgegebenen Absicht nur kurze Auszüge aus
den Referaten gedruckt zur Vertheilüng gekommen waren (Abstracts of papers,
communicated to the seventh international Congress of hygiene and demography.
Printed by Eyre and Spottiswoode, Her Majesty's Printers). Die Referate selbst,
welche gleich den Auszügen daraus von den Berichterstattern behufs Drucklegung
eingefordert worden waren, wurden denselben, wenigstens soweit sie nicht aus
England waren, bei Beginn des Congresses zu deren Ueberraschung zurückgestellt,
so dass bedauerlicherweise diese Referate den Congressmitgliedern bei der
Berathung nicht vorlagen. Merkwürdigerweise war bezüglich einer grossen Zahl
von Referaten, welche in englischen Händen lagen, ein anderes Verfahren einge-
schlagen worden. Auch diese Referate waren zwar vor der Verhandlung nicht
gedruckt vertheilt, aber sie wurden mehrfach bei der Verhandlung selbst unter
die anwesenden Zuhörer (in provisorischem Fahnendruck) vertheilt. Das Verständnis
292 Mayr.
der oft recht flüchtigen Paper-Lesung wurde dadurch für die Zuhörer erleichtert;
es wäre aber erwünscht gewesen, dass Gleiches auch bei ausländischen Referaten
geschehen wäre. Es scheint, dass die Sprachenfrage hier unerwartete Schwierig-
keiten bereitet hat. Auch bei den Verhandlungen selbst hat die Theilnahmslosigkeit
fast aller englischen Mitglieder gegen das in anderer als in englischer Sprache
Vorgebrachte manche wissenschaftliche Verständigung erschwert.
Wie unter diesen Schwierigkeiten gleichwohl eine Anzahl beachtenswerter
Anregungen auf verschiedenen Gebieten der Statistik sich ergeben hat, wolle aus
folgender üebersicht entnommen werden.
a) Bevölkerungsstatistik.
Hier ist vor allem des Präsidenten der demographischen Section Francis
Galton „Opening address" zu nennen. In geistreicher Weise behandelte dieselbe
zwar nicht abgeschlossene Ergebnisse, aber beachtenswerte Zielpunkte der
Eorschungen auf dem Gebiete der exacten Bevölkerungslehre ; oder wie er es
selbst bezeichnete, gewisse Punkte der demographischen Forschung, welche zu
dem grossen Problem der zukünftigen Verbesserung der menschlichen Rasse
gehören. Seine Ausführungen gipfelten in der Untersuchung der Frage, wie einer-
seits die menschlichen Generationen der verschiedenen Rassen zu verschiedenen
Zeiten, unterstützt durch die Factoren, welche die Abstufung der Fruchtbarkeit
bedingen, sich geschichtlich über den Erdball verbreitet haben, und wie anderer-
seits eine Aussicht sich eröffnet, bei sorgfältiger Auswahl des für die Civilisation
und Cultur der Tropen geeigneten Menschenstocks im ganzen eine Verbesserung
der Erdbevölkerung herbeizuführen.
Diese „Rassenverbesserung" als praktischer Zweck bildet den deutlichen
praktischen Hintergrund der vorhergehenden theoretischen Erörterungen über die
relative Fruchtbarkeit der verschiedenen Classen und Rassen und über deren
Tendenz, einander unter gegebenen Umständen aufzusaugen und zu ersetzen. Im
einzelnen beschäftigte er sich weiter namentlich mit der Frage, in wie weit die
Entwickelung der Menschheit in einem gegebenen Lande günstig oder ungünstig
durch die besondere Civilisationsform dieses Landes beeinflusst werde, sodann
mit Erörterungen über Veränderungen des Stärkeverhältnisses der einzelnen Rassen
und über die Rassenverpflanzung. Bedeutungsvoll für den Statistiker ist die von
Galton ausgesprochene Aufforderung die Untersuchungen über die Fruchtbarkeit
nicht bloss auf die grossen Gesammtzahlen für die einzelnen Nationen zu
beschränken, sondern sie mehr ins Detail zu führen, namentlich in dem Sinne,
dass das Maass der erblichen Beständigkeit der verschiedenen socialen Schichten
klar gelegt würde. Dabei scheint er auf die Untersuchung der Extreme dieser
Schichten besonderes Gewicht zu legen.
Ein wichtiges Capitel bevölkerungs- und socialstatistischer Forschung wurde
durch William Ogle, den Chef der amtlichen Bevölkerungsstatistik von England
und Wales, Dr. Farr's Nachfolger, berührt. Er hielt einen Vortrag über Sterb-
lichkeit in Beziehung zum Beruf. Die Messung der Sterblichkeit weiter zu
erstrecken als auf die Ermittlung der Todesraten oder besonderen Sterbeziffern
einiger Hauptberufsarten, jedoch mit Berücksichtigung des Altersaufbaues der
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 293
Lebenden und Gestorbenen, lag nicht in seiner Absicht. Das grundsätzliche
Erfordernis, dass man die Untersuchung der Sterblichkeit der einzelnen Berufs-
gruppen nach Altersclassen der Lebenden wie der Gestorbenen abstufen müsse,
brachte er richtig zur Geltung; seine eigene Ausführung desselben aber konnte
nicht befriedigen. Um nämlich zu seiner vergleichenden Sterblichkeit der männ-
lichen Personen von 25 bis 65 Jahren in verschiedenen Berufszweigen zu gelangen,
begnügte er sich mit der Ermittlung der Todesraten für nur zwei, viel zu weit
gegriffene Altersclassen, nämlich von 25 bis 45, und von 45 bis 65 Jahren,
indem er weiterhin für Bemessung der relativen Höhe der Sterblichkeit die inner-
halb dieser zwei Altersclassen gefundene Todesrate nach Maassgabe der verhältnis-
mässigen Vertretung der beiden Altersgruppen in dem lebenden Bestand der
betreffenden Altersclasse ins Gewicht fallen Hess. (So glaube ich wenigstens die
Erklärung, welche Ogle gibt, auffassen zu dürfen, wenn er sagt, dass die Eaten
der erwähnten beiden Altersclassen „have been in each case applied to a male
Population in which those under and those over 45 bore a certain fixed Pro-
portion to each other.") Ausser der ungenügenden Abstufung der Altersverhält-
nisse, welche eigentlich einjährig, mindestens aber fünfjährig hätte in Betracht
gezogen werden müssen, erweckt die anscheinend unsystematisch und ungleich-
artig getroffene Auswahl der Berufsgruppen Bedenken. Namentlich ist durchaus
unklar, in wie weit bei verschiedenen Berufsarten nur Selbständige, oder nur
Gehilfen und Arbeiter, oder beide Gruppen zusammen berücksichtigt sind. Auch
die Schwierigkeit einer durchaus gleichmässigen Unterscheidung der lebenden und
der sterbenden Bevölkerung nach dem Beruf, wobei namentlich der Umstand ins
Gewicht fällt, dass die erstere an einem einzigen Stichtag eines Jahres, die
letztere fortlaufend durch eine Eeihe von Jahren ermittelt wird, erweckt bei
Ogle keine Scrupel. Das Zahlenmaterial, welches den Berechnungen zugrunde
liegt, stammt bezüglich der Sterbefiüle aus den Jahren 1880, 1881 und 1882;
als die dem Sterben Ausgesetzten sind die bei dem Census von 1881 Ermittelten
behandelt.
Ogle legte überhaupt — dabei offenbar der Verbindung der Hygiene mit
der Demographie besondere Kechnung tragend — geringeres Gewicht auf die
Darlegung der statistischen Methode seiner Berechnungen und deren sorgsame
Kritik, als auf die Verwertung der gefundenen Zahlenergebnisse für die prak-
tische Frage der Aufspürung der vermuthlichen Ursachen einer gesteigerten Sterb-
lichkeit. Diese Ursachen zerlegte er in folgende 7 Hauptgruppen: 1. Arbeit in
gedrückter und eingeengter Haltung, namentlich wenn damit Druck auf die Brust
verbunden ist und die Thätigkeit des Herzens und der Lunge beeinträchtigt wird,
2. die Action besonderer Gifte oder angreifender Stoffe, 3. Uebermaass der Arbeit,
der körperlichen wie der geistigen, 4. Arbeit in eingeschlossenen Bäumen und
in verdorbener Luft (muthmaasslich eine der Hauptursachen der Sterblichkeits-
erhöhung), 5. Uebermaass im Trinken, 6. Unfallgefahren, 7. Staubeinathmung.
Nach Ogle gab zunächst Bertillon (Paris) einiges über ähnliche —
allerdings nur für die Pariser Bevölkerung — in Frankreich durchgeführte Unter-
suchungen bekannt, zu deren Erläuterung eine Reihe von graphischen Darstellungen
zur Vertheilung gelangte. Dabei unterliess Bertillon nicht die Schwierigkeiten
294 Majr.
zu betonen, welche sowohl die Unterscheidung nach dem Beruf als die Ermittlung
der Todesursachen bietet. Noch ernstlicher geschah dies von Milliet (Bern),
welcher in zutreffender Weise von „Optimisten" und „Pessimisten" unter den
Statistikern sprach. Dass er die englischen Statistiker, insbesondere Ogle bezüglich
seiner Berechnungen über die Abstufung der Sterblichkeit nach Berufsarten zu
den Optimisten zähle, bemerkte er nicht ausdrücklich; nach dem oben über die
Ogle'sche Berechnungsweise Angegebenen ergibt es sich aber von selbst. Ein
unerwartetes Ferment in die bis dahin mehr bevölkerungs- als socialstatistisch
angehauchte Discussion brachte der französische Socialist Yaillant, indem er als
erste und entscheidende Ursache der höheren Sterblichkeit der arbeitenden Classen
die Arbeitsüberhäufung geltend machte und den förmlichen Antrag stellte, dass
der Congress sich für den allgemeinen achtstündigen Arbeitstag aussprechen möge.
Damit brachte er den Präsidenten Francis Galton in gewaltige Verlegenheit;
denn unter die statutarische Bestimmung, dass über wissenschaftliche Fragen nicht
abgestimmt werden dürfe, war die Ablehnung dieses Antrages nicht zu bringen.
Da es sich hier nicht um eine statistische Frage handelt, steht es mir nicht zu,
näher auf die Verhandlungen über Vaillant's Antrag einzugehen. Ich bemerke
nur, dass man schliesslich nach Prüfung der Sache im Gresammt-Comite des
Congresses den Ausweg dahin fand, den Vaillant'schen Antrag abzulehnen, da-
gegen zu beschliessen, dass die Frage der Dauer der Arbeitszeit und des Einflusses,
welchen dieselbe auf die Gesundheit des Arbeiters hat, auf die Tagesordnung des
nächsten Congresses (also des für 1894 in Budapest in Aussicht genommenen
Congresses) gesetzt werden solle.
Zu einer eingehenden Debatte über Ogle's und Bertillon's Ausführungen
fehlte die Grundlage eines vorher den Mitgliedern zugänglichen Eeferates. Hervor-
gehoben sei hier Böhmert's Eingreifen, welcher sich entschieden auf die Seite
der „Pessimisten" stellte. Ihm dienen die grossen Zahlen der allgemeinen Sterb-
lichkeitsstatistik nur dazu, die Eichtung weiterer Forschungen anzudeuten, nament-
lich insofern sie es ermöglichen die besonders gefährdeten Berufe zu erkennen. Die
Ursachenerforschung aber — aufweiche gerade Ogle mit besonderer Vorliebe
eingegangen war, möchte er erst von weiterer, allerdings mühsamer, Einzel-
forschung abhängig machen. Die möglichst weitgreifende Verbreitung solcher
Einzelforschungen im Sinne der Le Play'schen Schule befürwortet er auf
das wärmste.
War auch die Debatte über den Zusammenhang zwischen Sterblichkeit und
Beruf nicht sehr fruchtbar, so ist doch die Behandlung dieses Gegenstandes auf
dem Londoner demographischen Congresse darum dankenswert, weil sie eine
Mahnung an die amtliche Statistik vieler Länder enthält, der Sammlung der
Nachweise über die Berufszugehörigkeit der Bevölkerung und insbesondere der
statistisch-technischen Ausbeutung dieser Nachweise grössere Aufmerksamkeit zu-
zuwenden als diese zur Zeit der Fall ist. Ein „Caeterum censeo", welches gegen-
über jeder Völkszählung zu verkünden wäre, müsste dahin gehen: Keine Erfragung
einer Thatsache ohne entsprechende Auszählung der constatierten thatsächlichen
Verhältnisse, also keine Ermittlung von Beruf und Erwerb ohne gleichzeitige
Herstellung einer Berufsstatistik! Leider wird hiegegen sehr vielfach gefehlt; auch
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 295
in Deutschland, wo die grossartige berufsstatistische Erhebung von 1882 ein so
kostbares Vergleichsmaterial bot, hat man leider auf eine Ausnützung der Auf-
zeichnungen von 1890 über die Berufsverhältnisse für die Zwecke der Eeichs-
statistik verzichtet. Eine weitere specielle Mahnung, welche sich aus der Belebung
des Interesses an der Ermittlung der Lebensgefährdung der verschiedenen Berufe
ergibt, geht dahin, keine Berufsstatistik ohne weitgehende Combination mit
Altersabstufungen vorzunehmen. Die deutsche Berufsstatistik von 1882 hat eine
Reihe von Altersclassen berücksichtigt, die österreichische Auszählung der Volks-
zählungsergebnisse von 1890 thut das Gleiche. Es wäre zu wünschen, dass man
mindestens probeweise, für einzelne besonders abgrenzbare und interessante
Berufsgruppen noch weiter gienge, und bei Lebenden wie Gestorbenen die Com-
bination mit den einzelnen Lebensjahren zur Durchführung brächte.
Mit einer Specialfrage auf dem Gebiete der Forschungen über die Einflüsse,
welche die Leblichkeit der Generationen bestimmen, beschäftigte sich Körösi in
seinem Vortrag über den Einfluss des Alters der Eltern auf die Leblich-
keit der Kinder. Körösi hatte in zweckmässiger Weise dafür gesorgt, dass
sein Vortrag gleichzeitig gedruckt, und zwar in englischer Sprache, zur Ver-
theilung gelangte. Indes war es nicht möglich im Eahmen der sich anschliessen-
den Debatte, tiefer in das Materielle seiner Forschungsweise einzugehen. Es
wurde nur im allgemeinen bemerkt, dass Eubin-Wertergaard ähnliche Unter-
suchungen angestellt hätten (auf die übrigens Körösi selbst in einer Anmerkung
verwiesen hatte), wie auch Böckh für Berlin. In sachlicher Beziehung wurde
kurz hervorgehoben, dass eine Vertiefung der Untersuchung durch Unterscheidung
socialer Hauptgruppen der Bevölkerung geboten erscheine. Der Vorsitzende,
Francis Galton, bei welchem durchwegs eine starke Hinneigung zu natur-
wissenschaftlicher Betrachtungsweise sieb geltend machte, meinte, man solle die
in Frage stehenden Untersuchungen durch analoge Beobachtungen bei Hausthieren
ergänzen. Wäre die Körösische Brochüre (On the influence of the age of
parents on the vitality of their children Budapest 1891) früher in den Händen
der Mitglieder gewesen, so würde wohl auch gegen die gesammte Methode seiner
Ermittlungen und Berechnungen mancher Widerspruch sich erhoben haben. Dass
sein Material nicht massenhaft genug ist, wenigstens vorerst, hebt er selbst
hervor. Ausserdem aber möchte ich zwei Bedenken zum Ausdruck bringen. Der
Gedanke, die Todesursachen der innerhalb der ersten zehn Lebensjahre gestorbenen
Kinder in „uterine" und „extrauterine", d. h. solche, welche allenfalls noch auf
die mütterliche Constitution zurückgeführt oder nicht zurückgeführt werden können,
zu unterscheiden, verdient alle Anerkennung. Dagegen scheinen mir die Schwierig-
keiten unterschätzt, welche seiner Ausführung entgegenstehen. Wenn für irgend
ein Alter, so sind gerade für das. jugendliche, und insbesondere für das erste
Kindesalter die Diagnosen der Todesursachen durchaus unzuverlässig und ver-
schwommen, selbst da, wo ärztliche Hilfe geleistet worden war, während in den
Fällen, wo keine ärztliche Behandlung platzgegriffen hatte, die Verhältnisse noch
ungünstiger liegen. Abgesehen aber hievon bietet auch die Einreihung selbst
correct festgestellter Todesursachen in die eine oder die andere von den zwei
Hauptgruppen grosse Schwierigkeit. Ich greife die „Atrophie" heraus. Körösi
296 Mayr.
rechnet sie zu der uterinen Gruppe; für die allerjüngsten Kinder, etwa während
des ersten Lebensmonats mag dies im allgemeinen zutreffen. Im weiteren Verlauf
des Kindeslebens aber wird die Atrophie mehr und mehr als Folge nicht einer
schwachen mütterlichen Constitution, sondern der Vernachlässigung der Ernährung
des Kindes, also als eine echte „extrauterine" Todesursache auftreten. Man sehe
nur, welchen gewaltigen Antheil diese Todesursache an der hohen Kindersterb-
lichkeit in Süddeutschland hat; daraus auf eine entsprechende kindergefährdende
Constitution der Mütter zu schliessen, wäre ein grosser Trugschluss.
Das zweite Bedenken gründet sich darauf, dass Körösi vorerst nur die
verhältnismässige Betheiligung gewisser Todesursachen in Betracht zieht, und nicht
die Intensität der Lebensbedrohung an sich. Das wird allerdings nach Gewinnung
des bei der Volkszählung von 1890 erhobenen zur Berechnung dieser Lebens-
bedrohung erforderlichen Grundmaterials besser werden. Dann wird Körösi wohl
selbst dazu kommen, auf die Todesursachenunterscheidung geringeres Gewicht zu
legen, dafür aber mit um so grösserer Sorgsamkeit die Grade der allgemeinen
Lebensbedrohung der Kinder, abgestuft nach den Altorsverhältnissen der Eltern,
uns vorzuführen.
Als Anregung zu Sonderforschungen auf dem zweifellos interessanten Gebiete
des Einflusses der elterlichen Altersverhältnisse auf die Kinder sind auch die
vorläufigen Forschungen Körösi' s, wenn sie auch erhebliche methodische Be-
denken gegen sich haben, immerhin von Interesse. In dieser Beschränkung sind
auch seine Schlussfolgerungen entgegenzunehmen, in welchen er alte, weltbekannte
Klugheitsregeln in das Gewand exact begründeter statistischer Wahrheiten kleidet,
so z. B., dass Mädchen nicht vor 20 Jahren heiraten, alte Männer nicht zu
junge Mädchen heiraten, weibliche Wesen von 30 bis 35 Jahren Männer über
50 Jahre heiraten sollten, u. s. w.
Die tiefergehende Nutzanwendung, welche ich aus der Erörterung der vor-
bezeichneten Fragen für die Statistik ziehe, geht dahin, dass man allen Grund
hat, der emsigen Thätigkeit Dank zu wissen, mit welcher in einigen der bedeu-
tendsten communalstatistischen Aemter die filigranartig verschlungene Forschung
nach den innersten Zusammenhängen bevölkerungsstatistischer Vorgänge gefördert
wird. Können auch nicht alle diese Probleme der grossen Massenerprobung durch
das Material ganzer Länder unterstellt werden, so werden sich doch im Laufe
der Zeit einzelne Gesichtspunkte der Forschung als so bedeutungsvoll heraus-
stellen, dass auch die amtliche Bevölkerungsstatistik der Staaten nicht wird
umhin können, denselben Rechnung zu tragen.
Ein beachtenswertes Beispiel sorgsamer Sonderbehandlung der Statistik
einer speciellen Todesursache lieferte Alfred Haviland mit seinem Vortrag über
den Einfluss von Thon- und Kalkformationen auf die medicinische
Geographie, erläutert an Nachweisen über die geographische Verbreitung des
Krebses bei Frauen in England und Wales. Der Vortrag wurde durch zahlreiche
Cartogramme erläutert; das Material umfasste die Jahre 1851 — 60 und 1861 — 70;
das Jahrzehnt 1871 — 80 war ausser Betracht gelassen, weil das „Kegistrar-
General's Supplement" für dasselbe in einer vom Vortragenden lebhaft bedauerten
Abweichung von dem durch Dr. Farr seinerzeit befolgten Muster — die Trennung
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1881. 297
der Geschlecliter bei Anfülirung der Todesursachen in den 630 Eegistrierungs-
Districten unterlassen hat.
Das Resultat der Forschungen Havilands geht dahin, der Kalksteinfor-
mation eine geringere Krebshäufigkeit zuzuschreiben, vrobei jedoch zu bemerken
ist, dass solches für das Jahrzehnt 1861 — 70 bei im ganzen gesteigerter Sterb-
lichkeit der Weiber an dieser Krankheit viel weniger hervortritt, so dass man
fast vermuthen möchte, es würde für 1871 — 80 bezw. 1881 — 90, wenn für diese
Jahrzehnte aus den Nachweisen der Einzelberichte des Registrar General über
die Todesursachen in den Registrierungs-Grafschaften, ein allerdings nicht ganz
vergleichbares Material zusammengesucht wird, der Unterschied noch weiter ver-
schwinden.
Es ist indessen nicht meine Absicht auf diese Specialfrage hier weiter ein-
zugehen ; sondern nur daraus Veranlassung zu nehmen im allgemeinen die
Mahnung an die Vertretet', insbesondere der amtlichen Statistik auf sorgsame
Pflege des geographischen Details der Statistik zu erheben. Die Sache ist aller-
dings mühsam und bringt nicht die rasche und willkommene Ernte, wie eine
Berücksichtigung grosser Durchschnittsverhältnisse ganzer Länder, aber die lang-
sam reifende Ernte liefert hier schliesslich doch die wissenschaftlich wertvollere
Frucht. Als langjähriger Befürworter der „geographischen Methode" der Statistik
auch zu jener Zeit, da ich in der Lage war, derselben in amtlichen statistischen
Arbeiten für Bayern Folge zu geben, darf ich wohl noch einen Augenblick hiebe!
verweilen. Es ist mir nämlich darum zu thun, klarer als ich es früher, insbeson-
dere auch zuletzt in meiner „Gesetzmässigkeit im Gesellschaftsleben'' gethan habe,
zum Ausdruck zu bringen, in welcher Weise in der statistischen Methodologie das
geographische Moment Berücksichtigung finden solle.
Meines Erachtens thut man gut, die geographische Betrachtungsweise einer-
seits, und die statistisch-geographisehe Methode andererseits zu unterscheiden.
Geographische Betrachtungsweise liegt dann vor, wenn man die Beobachtungs-
ergebnisse in räumlicher Hinsicht derart zusammenfasst, dass sie nicht nach
administrativen Grenzen, sondern nach geographisch von einander sich abhebenden
Gebieten oder Zonen gruppiert sind; hier sind topographische, hydrographische,
geognostische und ähnliche Gebietsbildungen in Frage. Was ich jetzt „statistisch
geographische" Methode nenne, habe ich zuerst theoretisch behandelt in der
Zeitschrift des k. bayer. statistischen Bureau, Jahrg. 1871. (Zur Verständigung
über die Anv.endung der „geographischen Methode" in der Statistik. Eine Vor-
studie zu dem internationalen statistischen Congresse in St. Petersburg.) Das Wesen
dieser Methode besteht darin, dass an Stelle der Benützung blosser Haupt-
Durchschnittsergebnisse grösserer administrativer Bezirke die eigenartige geogra-
phische Gestaltung der verschiedenen Abstufungen einer statistisch beobachteten
concreten Thatsachenerscheinun^* ermittelt wird. Hiezu ist es nöthig zu kleineren,
und zwar „möglichst kleinen" aber nicht „zu" kleinen Raumabschnitten bei der
statistischen Materialverwertung herabzusteigen. Dann prüft man, ob bei diesem
Verfahren eine Xebeneinanderlagerung grösserer oder kleinerer räumlicher Complexe
mit gleichen oder ähnlichen Erscheinungsabstufungen sich zeigt. Ist dies der Fall,
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. II. Heft. 20
298 Majr.
dann erweist sich die statistisch-geographische Methode als wirksames Reagens.
Die neuen Complexe, die man so findet, sind also keine festen geographischen
Bezirke im. gewöhnlichen Sinn, sondern je nach dem concreten statistischen Ob-
ject wechselnde „statistische Bezirke in geographischer Lagerung." Auch hier ge-
bietet das praktische Bedürfniss den Anschluss an die kleinsten Verwaltungsbezirke,
doch mag man immerhin bei besonders interessantem Grenzverlauf der statistischen
Bezirke noch weitere Localforschung behufs genauerer Bestimmung des Grenzzugs
machen. Zu ihrem vollen Wert als statistisches Eeagens kommt die statistisch-
geographische Methode, wenn man die für eine gegebene Thatsachenerscheinung
festgelegten speciellen statistischen Bezirke benützt, um für die gleichen Bezirke
in der ihnen eigenen Abstufung Yergleichungsmaterial zusammenzustellen. Bei
diesen gegenständlichen Yergleichungen kommt man dem am nächsten, was das
Experiment in der Naturwissenschaft leistet. Auf dem Gebiete der für die Cau-
salitätserforschung wichtigen Gruppierung der erkannten Thatsachen leistet die
statistisch-geographische Methode bedeutendes.
Im Zusammenhang mit der Frage der allgemeinen Sterblichkeit stand der
Vortrag über die Tauglichkeit tropischer Hochländer für europäische
Besiedelung von E. Felkin, Lehrer der tropischen Krankheiten an der
medicinischen Schule von Edinburg. Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass
gerade die statistischen Grundlagen des Referates, welche die Beurtheilung der
Gesundheitsverhältnisse lediglich auf die allgemeine Sterbeziffer, und zwar vielfach
nur nach Ermittlungen für kurze Zeiträume gründeten, nicht unanfechtbar waren.
Der Referent hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Höhenzonen zu bestimmen,
innerhalb deren Europäern nicht bloss eine vorübergehende Acclimatisierung,
sondern eine intensive und dauernde Angewöhnung an das Klima ermöglicht
würde, so dass sie im Stande wären, ständig dort zu leben, zu arbeiten und
Familien zu begründen und erhalten. Das Schlussergebnis der Meinung des
Referenten ist, dass bei einer Höhe von 4000 Fuss erst die Wahrscheinlichkeit
das bezeichnete Ziel zu erreichen beginnt und zwar nur für Portugiesen, Spanier
und Italiener. Für die Briten und Norddeutschen (von den anderen Deutschen,
den Oesterreichern, Franzosen u. s. w. war merkwürdigerweise überhaupt nicht
die Rede!) verlangte Referent sogar eine Höhenlage von 6000 bis 10.000 Fuss,
und auch da müsste noch der Ansiedlungspunkt sorgfältigst unter Berücksichtigung
aller gesundheitlichen Vorsichtsmaassregeln ausgesucht werden. Die eigentlich
typischen Höhenzonen für die Besiedelung der Tropen durch die Briten und die
Norddeutschen seien die Lagen zwischen 5000 und 7000 Fuss.
Zu der darauf folgenden Debatte hatten sich namhafte Hygieniker namentlich
aus dem am Colonialbesitz interessierten Holland (Ov erb eck -Meyer und Stock-
fish) eingefunden, welche gegenüber der sehr generalisierenden und pessimistischen
Auffassung des Referenten eine mehr optimistische Auffassung vertraten. Für die
statistische Seite der Frage fiel bei der im übrigen sehr interessanten Debatte
wenig ab; ich darf deshalb nicht näher darauf eingehen; doch hebe ich hervor,
dass Ov erb eck -Hey er auf die in den holländischen Colonien beobachtete zeit-
liche Abnahme der Sterblichkeit hinwies, und dass Cl. Markham in interessanter
Weise über die Beobachtungen berichtete, Avelche aus Indien und Amerika über
Die Statistik aui drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 299
die Fortpflanzung weisser Familien durci eine Reihe von Generationen in den
Tropen vorliegen. Milliet fand Anlass der Behauptung des Referenten über die
vermeintliche Krankheitslosigkeit der schweizerischen Hochthäler entgegenzutreten,
und Knapp schloss sich als „Historiker" den Optimisten an; auch Europa sei,
wenn man die Jetztzeit beispielsweise mit jener des Tacitus vergleiche, sanitarisch
sehr verbessert worden, nicht durch hygienische Congresse und deren Beschlüsse,
sondern durch die Cultur; wie in Europa der Anbau sich zugleich zur Assanierung
gestaltet habe, so dürfe man auf eine Assanierung der Tropen durch bewusste
Culturthätigkeit erwarten.
War das letzterwähnte Thema auch nur zum kleineren Theil ein statistisches,
so diente es doch dazu, nach zwei Richtungen das Interesse an statistischer
Specialforschung zu beleben, erstens, insoweit die Sterblichkeitsstatistik der Colonien
in Frage kommt, welcher — bei der hohen wissenschaftlichen und praktischen
Bedeutung derselben — der höchste Grad der Durchbildung zu wünschen ist, und
zweitens, insofern es sich um Sonderstudien über die Gestaltung der Sterblichkeit
nach der Höhenlage bei uns handelt. Damit ist ein umfassendes Problem eigen-
artiger Anwendung der geographischen Methode der Statistik gestellt, wobei die
Höhenzonen die unter besondere Beobachtung zu stellenden geographischen
Bezirke bilden.
Auf das Gebiet der Wanderungen führte ein sehr beachtenswerter Vor-
trag über zeitweilige Wanderungen zu Arbeitszwecken von Raven-
stein, welcher in der statistischen Literatur über das Wanderungswesen durch
seine Veröffentlichungen über die „Laws of migration" im Journal der Londoner
Statistischen Gesellschaft vortheilhaft bekannt ist. (Der zweite Theil dieser Aus-
führungen ist im Juiiiheft 1889 des Journal of the Royal Statistical Society
erschienen.) Ravenstein charakterisierte die drei verschiedenen Gruppen, in welche
er die Wanderungen überhaupt theilt, folgendermaassen. Die erste Gruppe um-
fasst die zeitweiligen Wanderungen von kurzer Dauer; es handelt sich bei diesen
um die nach Jahres- oder Betriebszeiten sich richtende Weg- und Rückwanderang
Die zweite Gruppe bilden die zeitweiligen Auswanderungen von längerer, mehr-
jähriger Dauer, bei welchen aber durchweg die Absicht der Rückwanderung noch
besteht. Die dritte Gruppe, auf welche in dem Vortrag nach dessen Begrenzung
grandsätzlich nicht weiter eingegangen wurde, sind die dauernden Auswanderungen,
bei welchen eine Rückwanderungsabsicht nicht vorliegt. Zu den beiden Formen
der zeitweiligen Auswanderung gab Ravenstein eine Reihe interessanter Bei-
spiele; von besonderem Interesse waren die Mittheilungen über einen ansehn-
lichen Exodus von städtischer Bevölkerung aus London nach den benachbarten
Grafschaften gelegentlich der Ernte, insbesondere von Früchten aller Art und von
Hopfen. Ravenstein, der übrigens durch Geburt Deutschland angehört, zeigte
sich auch als Kenner der einschlägigen deutschen Verhältnisse. Eine social-
politische Frage besonderer Art, welche gleichfalls gestreift wurde, bezieht sich
auf die Einfuhr von Arbeitermassen, welche auf einer niedereren Stufe der Lebens-
haltung und Bildung stehen, z. B. der Kulis. Ravenstein betonte hiebei, dass
eine derartige Zuwanderung unenv^ünscht sein und bleiben müsse; eine wichtige
Voraussetzung der Zweckmässigkeit der Zufuhr fremder Arbeitermassen bilde die
20*
300 ^^^y^'-
annähernde Gleichartigkeit des Wesens und Charakters der einheimischen und der
zugeführten Arbeitermassen.
In der Debatte machte der bekannte englische Statistiker Mouat, welcher
lange Zeit seines Lebens in Indien vervreilt hatte, einige Bemerkungen über die
Kulifrage, hob aber hervor, dass er nicht in der Lage gevresen sei, das ein-
schlägige Material zur Sitzung mitzubringen, weil der Eavenstein'sche Bericht
leider vorher den Mitgliedern des Congresses im Druck nicht zugegangen sei.
Dieser, auch sonst allgemein hervortretende Mangel an genügender technischer
Vorbereitung der Congressarbeiten beeinträchtigte überhaupt die Berathungen in
erheblichem Maasse. Nachdem noch sonst von englischer Seite einige Bemerkungen
zur Sache gemacht waren, von denen insbesondere jene von Grimshaw, Eegistrar-
General von Irland, über die irische Ausvranderungsfrage beachtenswert waren,
ergriff Eichmond Mayo Smith vom Columbia-College in New- York — bekannt
durch sein treffliches Buch „Emigration and Immigration, New-York 1890" — das
Wort zu einer interessanten Kennzeichnung des nordamerikanischen Standpunktes
in der Einwanderungsfrage. Er erkannte an, dass Nordamerika seine ganze heutige
Grösse in der Hauptsache der Einwanderung schulde, meinte aber doch, dass
die zahlreichen schlimmen Elemente, welche unter den Einwanderern sich befinden,
ernste Sorge bereiten müssten. Dabei nahm er nicht bloss auf die dauernde
Einwanderung aller Art aus anderen Welttheilen Bezug, sondern auch auf die zeit-
weilige Einwanderung aus Canada nach den östlichen Staaten der Union. Er
meinte, durch die Gestaltung, v.^ eiche heute die Einwanderung in die Vereinigten
Staaten gewonnen habe, trete eine bedenkliche Verschiebung der wirtschaftlichen
und socialen Verhältnisse ein. Die auf die amerikanische Demokratie zuge-
schnittenen „socialen Arrangements" würden in der unerwünschtesten Weise über
den Haufen geworfen und in wirtschaftlicher Beziehung biete die billige fremde
Arbeit keine genügende Compensation für die in den Kauf zu nehmenden
geringeren Charaktereigenschaften der Arbeiter. Nachdem Eaven stein noch betont
hatte, dass man über den heutigen Zustand der englischen Landarbeiter nicht
genügend unterrichtet sei und demgemäss die Vornahme einer besonderen
parlamentarischen Untersuchung hierüber befürwortet hatte, nahm Knapp
Anlass, darauf hinzuvreisen , dass in Preussen derartige Untersuchungen fort-
während — zwar nicht in der officiellen Form einer parlamentarischen Enquete,
aber halbofficiell durch das Hinausschicken von Beamten und jungen Gelehrten
zum Zwecke der Untersuchung der Verhältnisse an Ort und Stelle vorgenommen
werden. Dabei wies er namentlich auf die bezüglichen Specialarbeiten über
die Sachsengängerei und über die Zustände in den östlichen preussischen
Provinzen hin.
Die Behandlung der Wanderungsstatistik auf dem Londoner Congresse war
dazu angethan, das Interesse an dem sorgsamen Ausbau derselben, an welchem
es übrigens in unserer socialpolitisch veranlagten Zeit ohnedies nicht fehlt, ernst-
lich aufzufrischen. Man wird, wenn man sich eine Gewissenserforschung auf
diesem Gebiete der Statistik angelegen sein lässt, dazu kommen, dass man einer-
seits eine gründliche, zu den kleinen Verwaltungsbezirken herabsteigende Aus-
beutung der Gebürtigkeitsstatistik befürwortet und andererseits in Erwägung
Die Statistik auf drei inlernatioiialeii Congressen des Jahres 1891. 301
nimmt, in welcher Weise die bisher von der amtlichen Statistik noch sehr yer-
nachlässig'ten zeitweiligen Wanderungen erfasst werden können. Eine gute Gebürtig-
keitsstatistik hält die dauernden Effecte des Wanderwesens sehr gut fest: recht
wünschenswert wäre es dabei die Ergebnisse unserer Winterzählungen gelegentlich
durch jene einer Sommerzählung ergänzen zu können. Was aber die zeitweiligen
kurzdauernden Wanderungen anlangt, so wird man überlegen müssen, wie mittelst
Erfassung am Wegvranderungs- und Zuwanderungsplatz, vielleicht auch einiger-
maassen durch Feststellung auf dem Wanderzuge selbst mittelst der Eisen-
bahnverkehrs-Statistik eine möglichst genaue zahlenmässige Feststellung jener
eigenartigen Wanderbewegungen möglich ist, deren wirtschaftliche und sociale
Bedeutung als notorisch angesehen werden kann.
Ein ansehnlicher Theil der Verhandlungen des Londoner demographischen
Congresses war somatologischen Erörterungen verschiedenster Art gewidmet,
bei welchen die Grenze zwischen naturwissenschaftlicher Einzelbeobachtung und
statistischer Massenbeobachtung nieht immer streng eingehalten wurde. Ausser dem
wissenschaftlichen Interesse an Feststellung menschlicher Körperverhältnisse trat
dabei auch das praktische Interesse der Verwaltung insbesondere der Strafrechts-
pflege in den Vordergrund. Man beschäftigte sich nämlich vor allem mit der
Frage, wie es zu ermöglichen ist, die Identificierung einer Person aufgrund
vorgängiger somatologischer Feststellungen auch bei massenhaft zu bevrältigendem
Material in sicherer Weise durchzuführen. Dies war auch die Frage, mit welcher
der Präsident des demographischen Congresses, Francis Galton, sich selbst in
eingehender Weise beschäftigt hatte. Nach seiner Ansicht bildet die Gewinnung
von Abdrücken der Hautzeichnungen der Finger das beste Mittel der Identi-
ficierung. Dem gegenüber vertrat der Pariser Communalstatistiker Bertillon das
von seinem Bruder erfundene und seitdem weithin (insbesondere in Amerika)
zur Anwendung gelangte „Bertillon'sche System" der Identificierung, welches auf
einer sinnreichen Combination der Photographie mit einer Auswahl von Messungen
bestimmter, möglichst unveränderlicher und genau messbarer Körpertheile beruht.
Es wäre vorlockend, hier näher auf die «Darlegung dieses Identificierungsverfahrens
einzugehen; da ich mir aber die Bedeutung des Congresses für die „Statistik"
zu erörtern vorgenommen habe, trage ich Bedenken; denn diese zu praktischen
Zwecken vorgenommenen Körpermessungen stehen nur in entferntem Zusammen-
hang mit der Beschaffung von Material für die Statistik als Wissenschaft der
exacten Gesellschaftslehre.
Gleiches gilt von einigen weiteren somatologischen Erörterungen, die sich
zum Thoil ganz in die unstatistische Einzelbeobachtung verloren. Einigermaassen
statistischen Charakter trugen die Vorträge von Warner über physische Be-
schaffenheit von Schulkindern und die locale Vertheilnng der Bedingungen
mangelhafter Entwicklung, und von Miss Fowke über die physischen Zu-
stände armer Kinder, welche auswärts (d. h. nicht in Arbeitshäusern) ver-
pflegt werden. Die erstere, auf 50.000 Schulkinder sich beziehende Special-
untersuchung wird bei dem Ausbau exacter schulhygienischer Beobachtungen,
welche in Zukunft ein selbstverständliches Correlat des Schulzwanges bilden
werden, mit Nutzen verwertet werden können.
302 Mayr.
b) Wirtschaftliche Statistik.
Wirtschaftliche Fragen finden in England allseitig Beachtung. Es war daher
zu erwarten, dass sie auch unter den Yerhandlungsgegenständen des demo-
graphibchen Congresses nicht fehlen würden. In der That kam Verschiedenes^
was dem wirtschafts- und socialpolitischen Gebiet angehört, zur Sprache; aber
nur vereinzelt handelte es sich dabei um statistische Angelegenheiten, möge man
nun die statistische Methode oder die Darlegung statistischer Ergebnisse im Auge
haben. Auf diese wirtschaftspolitisch interessanten Verhandlungen über das Spar-
wesen in England, über die Gewinnbetheiligung in England, die Hausindustrie in
Kussland, welche statistisch keine Ausbeute bieten, einzugehen, habe ich hier
keine Berechtigung. Das Gleiche gilt von den hochinteressanten nicht ohne
Leidenschaftlichkeit durchgeführten Debatten über die indische Fabriksgesetzgebung
insbesondere über das (genügende oder ungenügende?) Maass des dortigen
Arbeiterschutzes in Bezug auf Frauen und Jugendliche.
Ein einziger von den hier einzureihenden Berathungsgegenständen trug
einen zweifellos statistischen Charakter; er war zugleich derjenige, welcher über-
haupt zu einer eingehenderen sachlichen Beschlussfassung des Londoner demo-
graphischen Congresses Anlass gab. Es handelt sich dabei um meine Anträge
über die socialstatistische Ausbeute der Arbeiterversicherung (was
merkwürdigerweise mit „Insurance societies of the working classes" übersetzt
worden war).
Auf dem demographischen Congresse in Wien (1887) war auf meinen
Antrag beschlossen worden, die Entwicklung der Statistik der Arbeiterversicherung
zunächst den einzelnen Staatsverwaltungen zu überlassen und von Aufstellung
eines internationalen Programmes der demographischen Anforderungen an diese
Statistik zur Zeit abzusehen.
Zugleich war ich vom Congress beauftragt worden, die Einrichtungen der
Arbeiterversicherung und insbesondere die Gestaltung des dabei im Kohen und
in der Verarbeitung anfallenden demographischen Materiales an Massenbeobach-
tungen international zu studieren und das Ergebnis dieser Studien fortlaufend
zur Kenntnis des demographischen Congresses zu bringen. Diesem Auftrage habe
ich durch einen Bericht') an den Londoner Congress entsprochen, welcher
bezüglich der Statistik der öffentlich-rechtlichen Arbeiterversicherung nicht mehr
auf dem Standpunkte der Vorschläge von 1887, welche dilatorischer Natur
gewesen waren, steht. Ich war, nachdem nunmehr die ölf entlich-rechtliche Kranken-
und Unfallversicherung in Deutschland und in Oesterreich seit einiger Zeit in
Geltung gewesen war, zu der Auffassung gelangt, dass das allgemeine über die
engeren Kreise der Staatsverwaltung hinausgehende Interesse an einer guten
Ausgestaltung der Socialstatistik ein so bedeutendes sei, dass die zuständige
öffentliche sachverständige Meinung in diesen Dingen eben so berechtigt wie ver-
pflichtet sei, darüber sich zu äussern, was an socialstatistischen Hauptergebnissen
füglich erwartet werden dürfe, nachdem der entscheidende Hauptschritt — das
') Derselbe ist mit gerinoren Aenderungen abgedruckt im Allgemeinen statistischen
Archiv. II. Jahrg. I. Halbb. (1892) Tübingen. Laupp. S. 127 u. ff
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 303
zwangsweise Eingreifen des Staates zur Vermittlung der Versicherung — einmal
geschehen und damit die Erfassung zahlreicher socialstatistisch bedeutsamer
Thatsachen sichergestellt ist.
Gleichwohl erachtete ich es aber auch jetzt noch nicht für angezeigt, ein
in alle Einzelheiten eingehendes Programm für eine internationale Statistik der
öffentlich-rechtlichen Arbeiterversicherung vorzulegen. In zwei Beziehungen glaubte
ich mir vielmehr eine Beschränkung auferlegen zu sollen. Als üebergang aus der
Keserve, in welcher sich der Wiener Congress gehalten hatte, schien es mir
zunächst angezeigt von weitgehenden Detailvorschlägen abzusehen, und nur einige
wenige Zielpunkte zu bezeichnen, welche als socialstatistische Früchte der Arbeiter-
versicherung in Aussicht zu nehmen wären. Auch hiebei behielt ich wohl im
Auge, dass es sich um Ziele eines Strebens handelt, von dem nicht zu erwarten
ist, dass es sofort und allenthalben die nicht unbedeutenden Hindernisse seiner
Durchführung zu übervrinden im Stande sein werde. Eine zweite Beschränkung
schien mir dahin angezeigt, dass nicht das gesammte Gebiet der öffentlich-recht-
lichen Arbeiterversicherung sondern nur jenes der Kranken- und Unfallversicherung
ins Auge zu fassen wäre, da die öffentlich-rechtliche, zwangsweise geregelte
liivaliditäts- und Altersversicherung bis dahin nur in Deutschland und auch da
nur kurze Zeit in Geltung war.
Bei meinen Vorschlägen behielt ich im übrigen, entsprechend dem schon
in Wien eingeschlagenen Verfahren, in erster Linie die öffentlich-rechtliche
Arbeiterversicherung, wie sie unter Zuhilfenahme einer staatlichen Zwangsgesetz-
gebung zuerst in Deutschlnnd eingeführt wurde, im Auge. Die formulierten Vor-
schläge, welche mein Bericht enthielt, bezogen sich auf die Einrichtung sowohl
der socialstatistischen Nachweisungen, welche sich direct aus einer wohl-
geordneten Buchführung der Versicherungsanstalten ergeben, als auch der
indirect, insbesondere auf dem Gebiete der Lohnstatistik, anfallenden Nachweise
solcher Art.
In ersterer Hinsicht betonte ich namentlich die Nothwendigkeit, sowohl
den Bestand an Versicherten, als derjenigen für welche die Versicherung wirksam
geworden ist, nach Geschlecht, Alter, Civilstand, Beruf nachzuweisen. Auch
bezeichnete ich es als wünschenswert, dass die einzelnen Krankheiten nach einigen
Hauptaltersgruppen und mit Berücksichtigung der Kalenderzeit des Krankheits-
eintritts und der Dauer der Erkrankung nachgewiesen v/ürden. Besondere Vor-
schläge widmete ich weiter der fortlaufend zu erhebenden eingehenden Unfalls-
statistik. Was die indirect anfallenden Nachweise anlangt, so sollte die Herstellung
der Lohnstatistik dadurch ermöglicht werden, dass die Unternehmer verpflichtet
v.erden Lohnzahlungslisten aufzustellen und einzureichen, welche die Dauer der
Beschäftigung jedes einzelnen Arbeiters in einem gegebenen Zeitabschnitt und
den Betrag des demselben im ganzen gezahlten Lohnes nachweisen; dazu empfahl
ich zur Gewährleistung der Vollständigkeit und Genauigkeit der Nachweise
die Bildung gemischter Ausschüsse (Arbeitgeber und Arbeitervertreter) zur Be-
gutachtung der Lohnlisten. Bezüglich der Methode der statistisch-technischen
Ausbeutung des in den Lohnzahlungslisten niedergelegten Urmaterials empfahl ich
die UebertrafiTunfiT der Individualan i^aben auf Zählkarten und die statistisch-
304 ^i^}-^-
technische Verarbeitung der Zählkarten bei einem staatlichen Arbeitsamt. In
einem Anhang erörterte ich sodann weiter die Frage, wie entsprechende Nach-
weise der vorbezeichneten Art auch in solchen Ländern zu beschaifen wären, in
welchen die günstigen Voraussetzungen der allgemeinen obligatorischen Arbeiter-
versicherung nicht gegeben sind.
Die Discussion dieser Anträge litt, soweit insbesondere die Antheilnahme
englischer Mitglieder des Congresses in Frage kam, unter einem offenbar vor-
handenen Missverständnis, dessen Beseitigung jedo&h nicht ganz gelang. Bei den
übrigen wirtschafts- und socialpolitischen Fragen, welche im Congress zur Be-
handlung gekommen waren, hatte man in erster Linie mit den materiellen Streit-
punkten, z. B. des Arbeiterschutzes, sich beschäftigt und die Frage der formellen
statistischen Eegistrierung war ganz in den Hintergrund getreten. Diese Stimmung
wirkte auch bei der Besprechung meiner, doch ausschliesslich der letzteren Sich-
tung angehörigen Anträge nach. Es ist nach dem Lihalt der in der Debatte
gefallenen Aeusserungen nicht zu bezweifeln, dass namentlich unter den englischen
Congressmitgliedern vielfach die Ansicht bestand, als beabsichtigte ich ein Votum
des Congresses für die Zweckmässigkeit der staatlich geleiteten obligatorischen
Arbeiterversicherung zu erzielen, während ich doch nur für den Fall des Bestandes
einer solchen Einrichtung gewissermaassen die statistischen Consequenzen ziehen
wollte. Nur hieraus im Zusammenhang mit der Abneigung der Engländer, sich
irgendwie di;irch ein Votum zu binden, ist es zu erklären, dass schliesslich bei
der Abstimmung über meine Anträge eine Anzahl von englischen Mitgliedern des
Congresses sich der Abstimmung enthielt. Sie motivierten durch den Mund von
Sir Eawson ihre Enthaltung damit, dass sie nicht genügend informiert seien,
uni über den ins Detail eingehenden Antrag abzustimmen; ich konnte meinerseits
hiezu bemerken, dass es nicht an mir liege, vrenn bloss der Wortlaut der Anträge
und nicht auch der ausführliche, dieselben erläuternde Bericht zur Kenntnis der
Congressmitglieder gekommen sei.
Bei den Congressmitgliedern, welche anderen Nationen angehörten, machte
sich eine ähnliche Befangenheit wie bei den englischen nicht geltend. Der Grund-
gedanke meiner Vorschläge fand hier allgemeine Billigung und wurden im Ein-
zelnen theils Ergänzungs- theils Beschränkungsvorschläge gebracht. Der schwei-
zerische Arbeiters ecretär Greulich und v. Juraschek (Wien) befürworteten
Erweiterung des Schemas der Statistik der Krankenversicherung, insbesondere
durch Nachweis der Dauer der Berufszugehörigkeit und der Stellung im Beruf,
sowie bezüglich der Lohnhöhe. Milliet dagegen wollte die Ermittlung der
Ursachen von Betriebsunfällen gestrichen wissen; auch wurde mehrfach das
Verlangen der Bearbeitung des Materials gerade bei einem „staatlichen" Arbeits-
amt beanständet. Aufgrund dieser verschiedenen Anregungen einigte ich mich
mit V. Juraschek und Milliet zu einem gemeinschaftlichen Antrag, welcher
auch am letzten Tage der Verhandlungen des demographischen Congresses An-
nahme fand.
Hienach empfiehlt die demographische Section des VII. internationalen
Congresses für Hygiene und Demographie die Aufnahme und Bearbeitung folgen-
der socialstatistischer Daten:
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 305
I. In Ländern mit allgemeiner öffentlich-rechtlicher Arbeiter-
versicherung:
1. Hinsichtlich der Krankenversicherung: Xachweis aller Versicherten
nach Geschlecht, Alter, Civilstand und Beruf. Es ist der gegenwärtige Beruf, die
Stellung im Berufe, die Dauer der Zugehörigkeit zu demselben, der eventuell
vorher zuletzt ausgeübte Beruf und die Dauer Aer Versicherung nachzuweisen.
* Von den Erkrankten und Verstorbenen ist nachzuweisen: Art der Er-
krankung, Zeit des Krankheitseintritts, Dauer der Krankheit, Todesursache.
2. Hinsichtlich der Unfallversicherung sind dieselben Daten zu liefern,
nur ist anzugeben statt der eventuellen Erkrankung der eventuelle Eintritt eines
Unfalls; letztere sind zu unterscheiden nach der Grösse der Verletzungen und
deren Folgen, der Art der Verletzungen und der verletzten Körpertheile, der Zeit
des Unfalleintrittes, den Betriebseinrichtungen und Vorgängen, bei welchen sich
die Unfälle ereignet haben.
3. Hinsichtlich der Lohn Statistik sind Lohnzahlungslisten einzurichten
mit Angabe der Dauer der Beschäftigung jedes Arbeiters und des ausbezahlten
Lohnes für die Berichtszeit.
4. Die Nachweisung ist individuell und fortlaufend zu führen. Eine
Berichterstattung hat halbjährlich stattzufinden.
5. Die Bearbeitung soll central bei einem Arbeitsamte erfolgen,
welches die Arbeiter und Unternehmer zur Mitwirkung bei Aufnahme und Cor-
rectur der Daten heranzuziehen hat.
IL In Ländern, in welchen keine öffentlich-rechtliche Versicherung existiert,
sollen analoge Daten beschafft werden.
Der Beschluss zu II. ist etwas sehr summarisch ausgefallen; meine Vor-
schläge hatten etwas näher auf die Sache eingehend, folgendermaassen gelautet:
„II. Arbeiterversicherungsv.'esen ausserhalb der öffentlich-rechtlichen
Zwangsversicherung: a) Soweit Staatsanstalten in Frage sind, kann das
Programm zu I. ohne weiteres angewendet werden, b) Im übrigen ist in erster
Linie erwünscht, dass die Versicherungsanstalten aller Art, welche der
Arbeiterversicherung dienen, durch Gesetz verpflichtet werden, nicht bloss
rechnungsmässige Darlegungen, sondern auch statistische Nachweise (eventuell
unter Bezeichnung der Hauptpunkte im Gesetz) zu liefern. Hiebei kommt neben
Androhung von Rechtsnachtheilen auch die eigentliche Strafandrohung in Betracht.
c) Soweit die Voraussetzung zu b) nicht erreichbar ist, bleibt nur der Weg des
Ersuchens des Staats an die Versicherungsanstalten um freiwillige Lieferung
der oben bezeichneten statistischen Nachweise, wobei allerdings auf Vollständig-
keit und Gleichmässigkeit derselben nicht zu rechnen ist. Auch zu der knappen
Fassung des Beschlusses, welcher dahin geht, dass die Bearbeitung des (aus der
Arbeiterversicherung anfallenden) Materials central bei einem Arbeitsamte erfolgen
solle, möchte ich hier einige Bemerkungen einschalten. Der Vorschlag, die
Bearbeitung bei einem „Arb^itsamte" vornehmen zu lassen, hat zur Voraussetzung,
dass eine derartige besondere Institution, welche ressortmässig alle Fragen der
Arbeit in den Kreis ihrer Wirksamkeit zu ziehen hat, in einem gegeben Lande
überhaupt besteht. Ist solches nicht der Fall, dann wird die statistische
306 ^^^y^-
Bearbeitung" des aus der Arbeiterversicherung entfallenden Materials, v.'onn eine
besondere Centralbehörde besteht, welche ausschliesslich mit Arbeiterversicherungs-
Angelegenheiten beschäftigt ist, zweckmässig dieser Centralbehörde, bezw. einer
statistischen Abtheilung derselben anzuvertrauen sein. Fehlt dagegen eine solche
Behörde, dann wird das allgemeine statistische Centralamt als das berufene
Organ der statistischen Bearbeitung des Stoffes erscheinen. Wenn nicht die
besondere ressortmässige Beschäftigung eines Arbeitsamtes allgemeiner Katur oder
eines besonderen Versicherungsamtes eine specielle Bürgschaft für sorgsame
Pflege auch der an diese primäre Eessortthätigkeit anschliessende secundäre
Thätigkeit verbürgt, ist der Bearbeitung des Materials an der allgemeinen stati-
stischen Centralstelle, als Eegel, der Vorzug vor anderweitiger Art der Bearbeitung
zu geben. In diesem Sinne habe ich mich in meinem Referat für den Londoner
Congress, und noch etwas ausführlicher in der darauf bezugnehmenden Erörterung
im Allgemeinen Statist. Archiv ^) geäussert.
Seit auf dem Londoner demographischen Congresse die im Vorstehenden
kurz berührten Verhandlungen über die socialstatistische Ausbeute der Arbeiter-
versicherung stattgefunden haben, ist das öffentliche Interesse an der Arbeits-
und Arbeiterstatistik allenthalben bedeutend in Zunahme begriffen. Für Deutsch-
land kommt namentlich in Betracht die bevorstehende Wirksamkeit der gemäss
Erklärung des Ministers v. Bötticher in der Eeichsrathssitzung vom 13. Januar
1892 dem kaiserlichen statistischen Amte beizuordnenden Commission für Arbeiter-
statistik, deren Wirksamkeit — wenn auch zunächst nur in ganz allgemeinen
Umrissen — aus dem inzwischen (am 24. März 1892) dem Eeichstag vorgelegten
„Regulativ für die Errichtung einer Commission für die Arbeiterstatistik" vorher-
gesehen werden kann. Unter dem reichen Studienmaterial, welches diese Commission
in der Literatur des Auslands, insbesondere in den Leistungen bestehender
Arbeitsämter — vorab der nordamerikanischen — vorfinden wird, dürften auch
die oben berührten Verhandlungen des Londoner Congresses eine wenn auch
bescheidene, so doch immerhin beachtenswerte Stellung einnehmen.
c) Allgemeines über Methode und Technik der Statistik.
Hieher ist zu rechnen ein Vortrag von Prof. Földes (Budapest) über die
Methode der Untersuchung bei Erforschung von Ursachen periodi-
scher demographischer Erscheinungen. Der Vortrag, welcher u. A. den
Antheil der inductiven nnd der deductiven Forschung bei der Lösung der in
Frage stehenden Probleme behandelte, lag im Druck nicht vor. Hiewegen und
mit Eücksicht auf den Eaum, welchen ich für den Londoner Congress bereits in
Anspruch genommen habe, ist es mir leider nicht möglich, näher auf denselben
einzugehen.
Grosses Interesse erweckte in der Versammlung eine Mittheilung v. Jura-
schek's über die in Wien zur Ausbeutung des Volkszählungs - Materials ver-
*) Ueber Sammlung und Verwertung des durch die Arbeiterversicherung gebotenen
socialstatistischen Materials. Allg. Stat. Archiv. II. Jahrg. 1891/92. L Halbb. S. 127 u.
ff. insbes. 149 ii. 151.
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. o07
wendete elektrische Zählmaschine. Es war ursprünglich in Aussicht
genommen, dass der Amerikaner Hollerith die von ihm erfundene, bei der
Bearbeitung der Censusergebnisse in den Vereinigten Staaten benützte elektrische
Maschine demonstrieren sollte. Da aber Hollerith ausgeblieben war, so trat v.
Juraschek (Wien) mit einer dankenswerten trefflichen Mittheilung über die
Einrichtung und Wirksamkeit einer ähnlichen verbesserten Maschine ein, welche
in Wien hergestellt worden ist, und dort zur Auszählung des Materials der
Bevölkerungsaufnahme benützt wird. v. Juraschek erläuterte, wie die Ueber-
tragung der Einzelangaben der Volkszählungsliste für jede einzelne Person auf
eine besondere Karte mittelst Durchlochung derselben an der für die betreffende
Individualangabe bestimmten Stelle stattfindet, wobei durch sinnreiche Com-
binationen mehrfacher Lochungen die Zahl der erforderlichen Lochplätze auf den
geringstmöglichen Betrag zurückgeführt ist. Weiter erläuterte er sodann, wie die
gelochten Karten mittelst der Elektricität und unter analoger Anwendung eines
dem Jacquard-Webstuhl eigenen Princips mittelst eines Systems von Zähluhren
einer ausserordentlich raschen und sicheren Auszählung unterworfen werden. Es
knüpfte sich hieran eine sehr belebte Discussion, namentlich Dank dem sach-
kundigen Eintreten des deutschen Elements auf dem Gebiete der statistischen
Technik. Ausser dem, was für und wider die elektrische Auszählung vorzubringen
ist, kam auch die Technik der Gewinnung des Urmaterials selbst — Zählkarte,
Zählbüchlein, Zählungsliste — zur eingehenden Erörterung. Eine Ausgleichung
der widerstrebenden Anschauungen der Anhänger der „Zählungsliste" und der
„Zählkarte" hat dabei ebensowenig stattgefunden, wie im Kreise der amtlichen
deutschen Statistiker, die hierin auch bei der jüngsten deutschen Volkszählung
in zwei Heerlager getrennt waren. Dass die Anhänger der Zählungsliste, welche
in der Zählkarte eine von der Tagesmode überschätzte Verkünstelung des Volks-
zählungs-Erhebungsformulars sehen, durch die bedeutende Aussicht, welche die
elektrische Auszählung eröffnet, einen namhaften Bundesgenossen gewonnen haben,
liegt auf der Hand. Da nämlich die Individualisierung zu Auszählungszwecken auf
besonderen Lochkarten vorgenommen werden muss, möge man das Urmaterial
wie immer gesammelt haben, so liegt gar kein Grund mehr vor, an Stelle der
bequemeren listenmässigen Verzeichnung der Angaben für sämmtliche Haushaltungs-
mitglieder in Einem Erhebungsformular die Zersplitterung dieser Angaben in die
mühseliger auszufüllenden Zählkarten treten zu lassen.
II. Internationaler Congress, betreffend Unfälle bei der Arbeit, in Bern
vom 21. bis 26. September 1891.
Dieser Congress war vortrefflich vorbereitet. Unter den mehr als 20
Referaten, welche auf der Tagesordnung standen, überwogen die thatsächlichen
Mittheilungen über den Stand der Unfallgesetzgebung und die Statistik der Unfälle
und der Unfallversicherung in den verschiedenen Ländern. Die Berichte lagen mit
wenigen Ausnahmen gedruckt vor und bildeten für sich eine wertvolle Ueber-
sicht des augenblicklichen Standes der Gesetzgebung über Unfälle und Unfall-
versicherung, sowie der Wirksamkeit dieser Gesetzgebung. Neben den thatsäch-
308 Majr.
liehen Mittheilungen nahmen in den Berichten auch allgemeine "wirtschafts- und
socialpolitische Erwägungen, insbesondere über die Grenze der Action des Staates
auf dem Gebiete der Unfallfürsorge einen erheblichen Eaum in Anspruch. Dadurch
ist eine beachtenswerte Ueberschau der verschiedenen Grundauffassungen vom
reinen Manchesterthum bis zu dem sorgsamst ausgebildeten „Staatssocialismus"
geboten worden. Auf diese Statistik der Meinungen einzugehen, bin ich hier nicht
befugt. Dagegen will ich die wichtigeren von den Mittheilungen über unfall-
statistisches Material der verschiedenen Länder hier erwähnen, welche bereits in
Bern gedruckt vorlagen, ausserdem aber auch in dem mit dankenswerter Be-
schleunigung noch im Jahre 1891 erschienenen Bericht über die Verhandlungen i)
enthalten sind. Die in Betracht kommenden Mittheilungen sind folgende:
Dr. Bödiker, Präsident des Eeichsversicherungsamts in. Berlin: Die Gestal-
tung der Unfallversicherung in Deutschland.
Dr. Jul. Kahn,. Inspector im versicherungstechnischen Departement des
k. k. Ministeriums des Innern in Wien: Ueber die Arbeiter-Unfallversicherung in
Oesterreich.
Dr. Guillaume, Directeur du bureau federal de statistique ä Berne: La
statistique des accidents en Suisse, but, Organisation et etat actuel des travaux.
Fred. H. Whymper, Inspecteur gdneral des fabriques de Sa Majeste,
Ministere de Tlnterieur, Londres: De quelques accidents survenus dans les fabri-
ques de la Grande-Bretagne.
Westerouen van Meeteren, President de Tassociation nMerlandaise
pour la prevention des accidents ä Amsterdam : Les caisses d'enterrement
(i'assurance des frais funeraires) en Hollande.
Aber nicht bloss durch diese thatsächlichen Mittheilungen über Unfall- und
Unfallversicherung - Statistik bot der Berner Congress statistisches Interesse;
noch wichtiger ist, dass auf demselben auch die Frage der Unfallstatistik
selbst principiell erörtert worden ist. Wir haben hier einen jener praktischen
Belege vor uns, welche das im Eingang dieses Artikels über die Verallgemeinung
der statistischen Interessen Gesagte erhärten. Die allgemeinen statistischen
Congresse vermögen das Monopol der Erörterung statistischer Fragen nicht zu
behaupten; naturgemäss wird die Erörterung von Einzelfragen statistischer Natur
mehr und mehr von den Specialisten übernommen, welche nicht in erster Linie
auf Bereicherung unseres statistischen Wissens um seiner selbst willen ausgehen,
sondern welche Vorbereitung praktischer Maassnahmen der Gesetzgebung oder
Verwaltung durch statistische Grundlagen erleichtern und die Ergebnisse solcher
Maassnahmen an Hand der exacten Massenbeobachtung der Statistik prüfen wollen.
Der Statistiker als solcher hat allen Grund sich des Entstehens solcher' neuer
Heerde statistischen Wissensdrangs zu freuen; er kann sicher sein, dass gerade
bei solchen Bestrebungen die Berücksichtigung alles sachlich Bedeutsamen am
besten gewährleistet ist, während allerdings für die Technik der Thatsachen-
') Congres international des accidents du travail. 2. Session, tenue ä Berne du
21 aa 26 Septembre 1891. Piapports et proces verbaux, publies par les soins du comite
suJssö d'ort'anisation. Berne 1891.
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 309
Beobachtung- und der Nutzbarmachung- des Beobachteten die Mitwirkung des
allgemein statistisch gebildeten Fachmannes von Nutzen sein wird.
Mit der Frage der Gestaltung der Unfallstatistik beschäftigten sich zwei
dem Berner Congress vorgelegte Referate:
Felix Jottrand, Ingenieur ä Bruxelles: Les bases de la statistique
des accidents du travail.
Octave Keller, Ingenieur en chef des mines, ancien President de la
societe de statistique de Paris: Conditions d'une statistique rationelle des
accidents du travail.
Der Bericht von Jottrand macht zunächst in zutreffender Weise auf die
zw^ei Gruppen praktischer Zwecke aufmerksam, w^elche der Unfallstatistik zugrunde
liegen können. Es kann sich darum handeln die Ursachen der Unfälle zu ent-
hüllen, um die Wiederkehr derselben möglichst zu verhindern, oder es kann die
Bestimmung des Risico in Frage sein, welches der Arbeiter läuft, um danach
die Versicherung auf sicherer Grundlage einzurichten. Für den ersteren Zweck
käme eigentlich die Schwere des Unfalls kaum in Betracht; hier komirit es auf
die Kenntnis der Unfall veranlassenden Vorrichtung, der falschen Handhabung,
der Unvorsichtigkeit, die dabei im Spiele war, an.
Dagegen ist für die Frage der Schadloshaltung, der Versicherung, die
Schwere des Falls das entscheidende Element. Alle Unfälle zur Feststellung zu
bringen, auch jene mit nur minimalen Folgen, darf man nicht hoffen. Referent
meint, man solle die Grenze etwa bei sechswöchentlicher Arbeitsunfähigkeit ziehen;
erst w^enn man hierüber einig sei, könne man die Statistik verschiedener Länder
vergleichen. Weiterhin zieht derselbe namentlich diejenigen Momente in Betracht,
welche vom Standpunkt der Versicherungsfrage bedeutungsvoll sind. Hier wird
zunächst die als Grundlage der Berechnung erforderliche Ermittlung des Arbeiter-
stands in Erörterung genommen. Dass die Ergebnisse der nur nach längeren
Zwischenräumen wiederkehrenden allgemeinen Volkszählungen nicht brauchbar
sind, ist klar; es kommt darauf an den effectiven Arbeiterbestand des Jahres
kennen zu lernen und zwar nicht bloss die Zahl der überhaupt beschäftigt
gewiesenen Arbeiter, sondern auch die Zahl der von ihnen geleisteten Arbeitstage.
Referent meint, es würde für die Arbeitnehmer überhaupt einfacher sein, nur die
Zahl der Arbeitstage statt der oft schwankenden Zahl der beschäftigten Arbeiter
nachzuweisen. Bezüglich der Gruppierung der Nachweise legt weiterhin der
Referent ganz besonderes Gewicht darauf, dass dieselbe nicht nach „Industries"
also nach Industriezweigen, sondern nach den „professions", den „metiers", also
nach der concreten Beschäftigungsart erfolge, so dass die Arbeiter, welche die
gleiche Art der Arbeit betreiben, zusammengefasst werden und nicht die Betriebs-
stätten, an welchen mehr oder minder ähnliche Industrien betrieben werden. Der
Referent macht auch positive Vorschläge, 32 solcher Beschäftigungsarten zu unter-
scheiden, in deren Kritik hier nicht eingegangen werden kann. — Ich möchte
hiezu bemerken, dass diese Frage von einer allgemeinen, weittragenden Bedeutung
ist und in gleicher Weise wichtig ist für die allgemeine Gewerbestatistik, w^elche
im allgemeinen in neuerer Zeit unverdientermaassen in Vernachlässigung gefallen
zu sein scheint. Ich mochte dabei — handle es sich nun um die allgemeine
310 Mayr.
Gewerbestatistik oder um die besondere Materialsammlnng für Zwecke der
vergleichenden Unfallstatistik nicht soweit gehen, nur die Gleichartigkeit der
Beschäftigungsweise ohne Rücksicht auf den Industriezweig, in welchem sie statt-
findet, in Betracht zu ziehen, wohl aber möchte ich die Beschäftigungsweise als
Untereintheilungsgrund für die im übrigen auseinanderzuhaltenden hauptsächlichen
Industriegruppen verwendet sehen.
In allgemeinerer Weise, als dieses in dem vorbezeichneten Referate von
Jottrand geschehen ist, behandelt Keller in seinem Bericht über die Bedin-
gungen einer rationellen Statistik der Arbeitsunfälle die Frage der Unfallstatistik.
Er hält die Länder mit und ohne obligatorischer Arbeiterversicherung streng aus-
einander und betont, dass da, wo keine derartige Yersicherungsorganisation bestehe,
die gesammelten Nachweise in der Regel rein „technischer" Natur seien, welche
nur den Anforderungen der auf die Unfallverhütung bezüglichen Untersuchungen,
keineswegs aber jenen der Versicherung entsprächen.
Die vollständige Statistik der Unfälle zerlegt Keller in folgende Gruppen:
Die Grundlage bildet die „allgemeine Statistik", welche die jährliche
Ermittlung der Zahl der Unfälle und der Zahl der Opfer begreift mit Unterscheidung
nach der Art der Beschäftigung und der Zahl der Personen, welche solche ausüben.
Um diese allgemeine Statistik gruppieren sich nach Keller's Auffassung
verschiedene ergänzende Statistiken von besonderer Art, nämlich:
1. Die „technische Statistik", welche die materiellen Ursachen der Unfälle
kennen lehrt und alle Nachweise liefert, welche der Unfallverhütung dienlich sind;
2. die „moralische Statistik", welche die moralischen Ursachen der Unfälle
— grobes und leichtes Versehen, des Arbeitgebers, des Arbeiters, eines Dritten,
Zufall, unbestimmte oder unbekannte Ursachen — nachweist;
3. die „medicinische Statistik", welche die auf die Art der Verletzungen
und ihrer Folgen bezüglichen Nachweise umfasst. Dazu könnten weiter sonstige
hygienische und demographische Ermittlungen über die persönlichen Verhältnisse
der Opfer, über Arbeitsdauer u. s. w. gerechnet werden;
4. „die „Versicherungs-" oder specielle „Finanzstatistik", mit den Nach-
weisungen über Lohnbezüge als Ausgangspunkt der Beitragserhebung und über
die Entschädigungsleistungen. Sie entnimmt der durch die technische und medi-
cinische Statistik ergänzten allgemeinen Statistik die Nachweise zur genauen
Ermittlung der Gefahrcoefficienten.
Ausserdem will Keller noch eine „ökonomische Statistik" der Unfälle con-
struieren, und darunter alle Untersuchungen begreifen, welche darauf abzielen, die
im Jahreslauf vorgekommenen Unfälle auf die Menge der geleisteten Arbeit zu
beziehen. Man sieht, dass es sich hiebei nicht um eine neue Thatsachenfest-
stellung, sondern nur um eine Combination der Ergebnisse der Unfallstatistik mit
solchen der wirtschaftlichen Productionsstatistik handelt.
Eine so eingehende Unfallstatistik allgemeiner Art hält Keller nur da
für möglich, wo eine staatlich organisierte Arbeiterversicherung besteht; eine ver-
gleichende Unfallstatistik will er überhaupt nur als Zukunftsaufgabe in Aussicht
genommen wissen. Als zvrei besondere Wünsche bezeichnete Keller bei dem
mündlichen Vortrag seiner Anschauungen folgende : 1) die Feststellung des
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 311
Grades der Erfahrung des Arbeiters mittelst Angabe der Zahl der Monate oder
Jahre, während welcher er die fragliche Beschäftigung bereits ausgeübt hat;
2) die besondere zusammenfassende Hervorhebung der Massenunfälle, welche als
„Katastrophen" zu bezeichnen sind.
Dass der Eeferent Keller die Möglichkeit der Erzielung einer Alles um-
fassenden Unfallstatistik unmittelbar in Zusammenhang mit der staatlichen Orga-
nisation der Arbeiterversicherung gebracht hatte, war gar nicht nach dem
Geschmacke der auf dem Berner Congress sehr stattlich vertretenen französischen
Privat-Yersicherungsgesellschaften, welche ja gerade darum so zahlreich erschienen
waren, um auf dem Congress im anscheinenden Kampfe gegen das deutsche
System der Arbeiterversicherung das ihnen seitens ihres eigenen Handelsministers
gebotene sehr ähnliche System zu untergraben. Es ist deshalb nicht zu ver-
wundern, dass in der Debatte alsbald der Director der „Preservatrice" in Paris,
Marestaing, das Wort ergriff, um die staatliche Aufgabe der Ermittlung der
Unfallstatistik für den von ihm principiell allein als zulässig erachteten Stand-
punkt des freien Waltens der Privat-Versicherungsthätigkeit zu formulieren. Die
einzige Aufgabe, vrelche dem Staate zufällt, besteht nach seiner Meinung darin;
durch Gesetz oder Verordnung dafür zu sorgen, dass die Privat-Versicherungs-
anstalten in den Stand gesetzt würden, gute „cadres statistiques" aufzustellen.
Dieses Resultat wäre leicht zu erreichen, wenn man die Betriebsunternehmer
verpflichten würde, regelmässig Tag für Tag in den Abrechnungsregistem zur
"Verzeichnung zu bringen: die Namen der beschäftigten Arbeiter, die Zahl der
effectiv von denselben geleisteten Arbeitstage, den auf diese Arbeitstage treffenden
Lohn, sämmtliche Unfälle, welche vorkommen. Soweit sollte der Staat helfen ;
die Statistik hätte dann der Versicherer aufzustellen.
Dieser Vorschlag eines Mannes der Privatversicherung ist in mehrfacher
Hinsicht von Interesse. Ich möchte hier nur den Umstand hervorheben, dass
auch bei einem principiell so entschiedenen Gegner des Staatssocialismus doch
der Gedanke durchschlägt, dass eine gewisse Publicität des Productionsprocesses
unter unseren modernen socialen Verhältnissen zur Nothwendigkeit wird. Der
Unternehmer soll über die Arbeitsverwendung Detailnachweise bekannt geber,
welche ehedem zu den Betriebsgeheimnissen gehörten. Dieser Zug nach der
Publicität des privaten Wirtschaftslebens, nach einer gewissermaassen öffentlich-
rechtlicheren Qualification desselben ist für unsere neuzeitliche Entwickelung
charakteristisch. Etwas Aehnliches liegt in dem Beifall, welche eine sehr ins
Einzelne gehende Einkommens-Erklärung zu Besteuerungszwecken findet. Damit
v/ird die Einkommenserzielung ähnlich in das Licht einer relativen Publicität
gerückt wie der wirtschaftliche Productionsprocess bei gründlicher Organisation
einer öffentlich-rechtlichen Arbeiterversicherung.
Im weiteren Verlauf der Debatte über die Unfallstatistik wurde namentlich
auf Anregung Guillaume's, des Directors des eidgen.-statistischen Bureaus, die
schwierige Frage der Classification der Berufsthätigkeit besprochen. Zu einem
materiellen Beschlüsse gelangte die Versammlung nicht. Die Bedeutung der
Erörterungen der Unfallstatistik auf dem Berner Congress liegt in der sachkundigen
Anregung der verschiedenen im Vorstehenden kurz bezeichneten Gesichtspunkte.
312 Mayr.
Dass nicht sofort in der Sache selbst Beschluss gefasst, sondern noch weiteres
Studium derselben vorbehalten wurde, zeigt die Vorsicht, mit welcher eine aus
so zahlreichen Sachverständigen bestehende Versammlung, an die namentlich in
Betreff der Unterscheidung der Beschäftigung so schwierige Frage der Unfall-
statistik herangetreten ist.
Der dilatorische Beschluss der Versammlung lautet: „Der Congress
bestätigt seinem permanenten Comite den Auftrag, das Studium über die einheit-
liche Anlage einer internationalen Unfallstatistik fortzusetzen, und verbindet damit
die Einladung, diese Anlage, gegebenenMls im Einvernehmen mit dem inter-
nationalen statistischen Institut, dem internationalen Ausschuss für Gesundheits-
pflege und Demographie und anderen ähnlichen Corporationen, dem nächsten
Congresse vorzulegen, um dadurch eine internationale Verständigung über die
jener Statistik zugrunde zu legenden Normen, wie beispielsweise der Namens-
bezeichnung der Todesursachen und der Berufsarten, herbeizuführen.''
III. Versammlung des internationalen statistischen Instituts in Wien
vom 28. September bis 3. October 1891.
Die Versammlung des internationalen statistischen Instituts in Wien bildete
weitaus den bedeutungsvollsten Ausdruck der internationalen Pflege, welche die
Statistik im Jahre 1891 gefunden hat. Statutenmässig hat das Institut die För-
derung sowohl der administrativen als der wissenschaftlichen Statistik im Auge.
Dieser Doppelaufgabe ist es auch bei seinen Wiener Verhandlungen in hervor-
ragendem Maasse gerecht geworden; denn Theorie und Praxis der Statistik, die
wissenschaftlich beschauliche Vertiefung in einzelne Probleme wie die Agitation
für die methodisch und technisch zutreffende Ausgestaltung bestimmter Massen-
Beobachtungen, haben bei den — stofflich fast übermässig reichhaltigen — Ver-
handlungen des Instituts eine gleich liebevolle Berücksichtigung gefunden. Für
solche Arbeit konnte auch nicht leicht ein geeigneterer Boden als jener von Wien
gefunden werden, wo in Fortführung und kräftiger Weiterentwicklung verdienst-
voller älterer Bestrebungen der jetzige Leiter der amtlichen Statistik Oesterreichs
V. Inama-Sternegg die fruchtbringende Verbindung der Theorie und Praxis
der Statistik durch die That erweist und die Erhaltung des Werkes, welches er
begründet hat, durch die Heranbildung eines trefflichen zielbewussten Nachwuchses
junger Statistiker sichergestellt hat. In der Begrüssungsrede des Ministers Dr.
Freiherrn v. Gautsch fand die Sachlegitimation Oesterreichs zur Beherbergung
des statistischen Instituts knappen, zutreffenden Ausdruck. Er hob hervor, dass
Oesterreich das Verdienst in Anspruch nehmen dürfe, die hohe Bedeutung der
Statistik längst erkannt zu haben; die ältesten Spuren statistischen Unterrichts
an den Universitäten führten vielleicht nach Wien, wo der Humanist Conrad
Celtis, der Lehrer des Kosmographen Sebastian Münster, über den politischen
Zustand des alten Deutschen Reiches Vorlesungen gehalten habe; im 17. Jahr-
hundert hätten die Mercantilisten Becher, Hornik und Schröder theoretisch
und praktisch für die Durchdringung der Verwaltung mit statistischem Wissen
erfolgreich gewirkt, und im 18. Jahrhundert seien von bedeutenden Männern,
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 313
wie Justi und Sonnenfels, mächtige Anregungen zur Pflege der Statistik aus-
gegangen, so dass die Studienordnung für die Juristen schon damals auf die
Statistik in vollstem Maasse Bedacht genommen habe. Allseitiger aufrichtigster
Zustimmung war der Minister sicher, wenn er im Anschluss hieran bemerkte, dass
noch bis vor kurzem eines der verdientesten Ehrenmitglieder, Freiherr v.
Czoernig, gewesen sei, der mit Eecht als der Begründer der administrativen
Statistik in Oesterreich bezeichnet w^erde, und dass seine Nachfolger sich bemühen,
jene grossen Traditionen der österreichischen Statistik zu pflegen, w^elche auf ihn
zurückreichen.
In zutreffender Weise charakterisierte der Minister die Aufgabe der Statistik
im allgemeinen und die Wirksamkeit des statistischen Instituts im besonderen.
,, Unter denjenigen Wissenschaften, welche dem öffentlichen Leben und der Ver-
waltung nahestehen, nimmt die Statistik eine hervorragende Stellung ein. Mit
Consequenz erzieht sie zur Selbstbetrachtung, zur Ordnung und Gewissenhaftigkeit
in den Dingen des öffentlichen Lebens. Mit Unparteilichkeit fasst sie die
Erscheinungen des Volkslebens in einem Bilde zusammen, lehrt das Wichtige vom
Unwichtigen, das Bleibende* vom Vorübergehenden unterscheiden und so die
ungeheure Mannigfaltigkeit der Thatsachen sicher beherrschen; sie entwickelt ihre
Reihen durch die Jahre und Jahrzehnte hindurch und zeigt die regelmässige
Wiederkehr der Erscheinungen, die Constanz und den Wechsel der Lebens-
bedingungen auf, ja sie weist uns vielfach die voraussichtliche Gestaltung der
nächsten Zukunft!" Die Bestrebungen des Instituts kennzeichnete der Minister
dahin, dass gelehrte Forschung und praktisch-statistische Arbeit auf dem Boden
des Instituts sich verbinden, nicht nur um sich gegenseitig in ihren Bestrebungen
zu fördern und zu ergänzen, sondern auch um zu beweisen, dass zwischen Wissen-
schaft und Praxis keinerlei Gegensatz, sondern die vollste Identität der Interessen
besteht. Ausserdem aber pflege das Institut auch den idealen Gedanken einer
internationalen Einheit cultureller Interessen, und sei bestrebt, denselben im
Dienste einer vom streng wissenschaftlichen Geiste durchdrungenen Verwaltungs-
statistik zu verwirklichen.
Die Versicherung des Ministers, dass die k. k. Eegierung der Thätigkeit
des Instituts lebhafte Aufmerksamkeit entgegenbringe und dessen Berathungen
mit den besten Wünschen begleite, hatte durch die vorerwähnte wohlerwogene
sachliche Begründung doppelten Wert erlangt. Im Interesse der Statistik ist es
gelegen, dass die Auffassung vom Wesen und der Bedeutung derselben, welche
der österreichische Unterrichtsminister bei diesem feierlichen Anlasse sich zu eigen
gemacht hat, von recht vielen seiner Eessortcollegen, in grossen wie in kleineren
Staaten, und namentlich auch von deren vortragenden Käthen getheilt werden
möge. Nicht bloss die Empfindung des Dankes, welchen ich als Mitglied des
Instituts schulde, sondern auch die praktische Erwägung des Nutzens möglichst
weiter Verbreitung der goldenen Worte des Ministers Freiherrn v. Gautsch
waren mir Anlass, dieselben hier ausdrücklich zu erwähnen.
Was nun die Arbeiten des Instituts auf der Wiener Versammlung anlangt,
so lassen sich dieselben in folgende vier — der Bedeutung nach allerdings sehr
ungleichmässige — Gruppen zerlegen:
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. 11 Heft. 21
314 Mayr.
1. Wissenschaftliche Vorträge, welche neue Methoden oder Ergebnisse
Torführten ;
2. Praktisch-kritische Erörterungen statistischer Leistungen unter allgemeinen
Gesichtspunkten mit Nutzanwendungen für die Handhabung statistischer Methoden;
3. Mittheilungen über den Stand der Statistik in einzelnen Ländern und
über statistische Bestrebungen anderweitiger Vereinigungen;
4. Vorschläge über die Zielpunkte und die Einrichtung der statistischen
Massenbeobachtung auf ihren einzelnen Erscheinungsgebieten.
Die Hauptarbeit fiel auf die zweite und auf die vierte Gruppe. Es möge
desshalb gestattet sein, vorab der auf die zwei anderen Gruppen fallenden
Erörterungen zu gedenken und dann etwas näher auf den Hauptinhalt der Wiener
Arbeit des Instituts — die wissenschaftlichen Vorträge und die Einzelvorschläge zu
statistischen Erhebungen — einzugehen.
Als eine praktisch-kritische Erörterung statistischer Leistungen unter
allgemeinen Gesichtspunkten mit Nutzanwendung für die Handhabung statistischer
Methoden darf ich wohl den Vortrag bezeichnen, welchen ich „über die zweck-
mässige Einrichtung der statistischen Veröffentlichungen" gehalten
habe. Ich habe dabei sowohl den sachlichen Inhalt der Veröffentlichungen, als
die formelle Einrichtung derselben in Betracht gezogen. Leitender Grundsatz ist
mir in der ersteren Hinsicht, dass die Veröffentlichungen den Bedürfnissen sowohl
der nationalen als der internationalen Statistik entsprechen müssen. Die rationelle
Veröffentlichung steht mit der rationellen Ausbeutung des Urmaterials in Zu-
sammenhang; ein Hauptgrundsatz der letzteren sollte sein, dass nichts erfragt
und ins Urmaterial gebracht wird, was nicht auch gründlich und allseitig aus-
gebeutet wird. Im Einzelnen habe ich sodann namentlich den Zusammenhang
zwischen der Materialausbeutung und der Gestaltung der Veröffentlichung insoweit
behandelt, als die äusserlich-sachliche Gliederung der zeitlichen und räumlichen
Verhältnisse in Betracht kommt. Dabei hatte ich der Vorfrage centralisierter oder
decentralisierter Bearbeitung des Urmaterials eine besondere Erörterung zu widmen,
weil diese für das Maass des geographischen Details, welches schliesslich in den
Veröffentlichungen berücksichtigt werden sollte, von Einfluss ist; insbesondere lege
ich darauf Gewicht, dass bei centralisierter Ausbeutung auch den statistischen
Bedürfnissen der Local- und Verwaltungsbehörden Rechnung getragen wird, deren
Interessierung an der Statistik und ihren Ergebnissen von Wichtigkeit ist. Wenn
sich hiebei ergibt, dass in den detailgeographischen Nachweisen weiter gegangen
werden sollte, als dies vielfach der Fall ist, so bin ich des Einwurfs der sog.
„Praktiker" aus den Kreisen der Bureaukratie, dass ein solches Verfahren zu
umständlich und zu kostspielig sei, gewärtig. Darauf erwidere ich Folgendes:
Es kommt gar nicht darauf an, dass jede Seite der statistischen Tabellenwerke
alsbald bei ihrem Erscheinen einen Interessenten und Leser finde, aber darauf
kommt es an, in diesen Quellenwerken für alle Zeit die Ergebnisse der Buch-
führung über das menschliche Gesellschaftsleben documentarisch niederzulegen.
Und was die Kosten anlangt, so ist darauf zu vein^-eisen, dass auch die sorg-
samste — auf detailgeographische Nachweise in vollem Umfange eingehende —
statistische Veröffentlichung in ihrem Kostenbetrag immer nur einen kleinen
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. " 315
Betrag der Ausgaben und geldwerten persönlichen Opfer darstellt, welche durch die
Sammlung und Bearbeitung des ürmaterials hervorgerufen sind. Ein Knickern mit
Druckkosten ist deshalb eine Sparsamkeit am unrechten Ort, welche in Verschwen-
dung umschlägt; denn verschw^endet ist ein grosser Theil des Aufwandes für die
statistische Erhebung und Bearbeitung, wenn eine lückenhafte Veröffentlichung
nur ein ungenügendes Bild der an sich zutreffend erhobenen Zustände und
Erscheinungen bietet. — Unter dem Begriff der „formellen Einrichtung" der
Veröffentlichungen habe ich zusammengefasst und erörtert: 1. was sich darstellt als
technische und wissenschaftliche Zuthat zu dem Tabellenwerke; 2. was Bezug hat
auf die Erscheinungszeit der Veröffentlichung, 3. auf die literarischen Organe
und 4. auf gewisse rein äusserliche Formen der Pablicationen.
Zu praktisch-kritischen Erörterungen einer wichtigen Erscheinung auf dem
Gebiet der statistischen Technik gab die Vorführung der elektrischen Zähl-
maschine durch Dr. Eauchberg, den verdienstvollen Unterchef der fabrika-
torischen Ausbeutung des österreichischen Volkszählungsmaterials, einen allen
Mitgliedern des Instituts hocherwünschten Anlass. Dr. ßauchberg erstattete nicht
nur einen durch Vorführung einer Zählmaschine unterstützten, auch für den Nicht-
techniker w^ohl verständlichen Vortrag in einer allgemeinen Versammlung des
Instituts, sondern er führte auch die Gesammtheit der durch die elektrische Aus-
zählung gekrönten Ausbeutungsarbeiten einzelnen Gruppen der Mitglieder an der
Amtsstelle noch besonders vor. Auch konnte derselbe Sonderabdrücke seines im
„Allgemeinen Statistischen Archiv" II. Jahrgang 1891/92, Halbb. I. (Tübingen,
Laupp) enthaltenen Artikels „Die elektrische Zählmaschine und ihre Anwendung,
insbesondere bei der österreichischen Volkszählung"- zur Verfügung stellen. Für
Manchen von den Theilnehmern, insbesondere für die Leiter grosser statistischer
Aemter, an welchen, wie in England, noch nach der alten Strichelmethode
gearbeitet wird, war die Kenntnisnahme von den technischen Fortschritten des
Ausbeutungsverfahrens, wde sie ihnen in Wien wurde, in gewissem Sinne eine wirk-
liche Offenbarung. Ueber die ausserordentliche sachliche Bedeutung des Verfahrens
bestand kaum ein Widerstreit der Meinungen; dagegen wurde mehrfach der
Wunsch nach genauer Prüfung des Kostenpunktes laut. Der Abschluss der öster-
reichischen Auszählung des Volkszählungsmaterials wird bald wohl auch in dieser
Hinsicht die gewünschten Nachweise bieten.
Die Entgegennahme von Mittheilungen über den Stand der Statistik
in einzelnen Ländern ist die Wiederaufnahme eines bei den älteren statistischen
Congressen eingehaltenen Verfahrens. Dieselbe erscheint zweckmässig unter der
Voraussetzung, dass sie in der Kegel in der Üeberreichung gedruckter Berichte
besteht, und nur ausnahmsweise — wenn wirklich merkwürdige Vorgänge im
Bereich der amtlichen Statistik eines Landes zu berichten sind — mündlich
erfolgt. Diesmal erfolgten Mittheilungen von Manos und Djuvara über die
amtliche Statistik von Griechenland bezw. Kumänien. Zu erAvähnen ist ferner
die sachlich besonders interessante Mittheilung von Gould über den Fort-
schritt der Arbeitsstatistik in den Vereinigten Staaten aufgrund einer von ihm
eingereichten Denkschrift „The progress of Labour Statistics in the United States,
by E. E. L. Gould, Ph. D., Statistical Expert, United States Departement of
21*
016 ^layr.
Labour." Er führt darin u. A. aus: In den Vereinigten Staaten ist zuerst officiell
die Nützlichkeit der Statistik bei der Erforschung von „labour probleras" aner-
kannt worden. Das Bureau für Arbeitsstatistik von Massachusetts wurde 1869
gegründet. In den letzten 22 Jahren sind ein nationales Arbeitsdepartement und
25 staatliche Bureaus ins Leben gerufen M^orden. Eine dem Berichte beigefügte
Uebersicht gibt Aufschluss über Organisation, Befugnisse und Pflichten dieser
Behörden. Als günstige Bedingungen für die Wirksamkeit der arbeitsstatistischen
Aemter führt Gould den Umstand an, dass in den Vereinigten Staaten die
arbeitenden Classen im allgemeinen wohlorganisiert und intelligent seien. Die
Führer der Arbeiterbewegung strebten durchweg danach, ihre Bestrebungen
durch den Nachweis bestimmter festgestellter Thatsachen und nicht etwa durch
Erwägungen „theoretischer Gerechtigkeit" zu begründen. Ein zweiter wichtiger
Umstand sei der, dass die amerikanischen Unternehmer viel weniger geheimnis-
krämerisch (secretive) und viel geneigter zur Ertheilung von Aufschlüssen über
ihre eigenen Interessen und jene ihrer Arbeitnehmer seien als in anderen Ländern.
Namentlich habe die Erfahrung sie gelehrt, dass Manches, was als Geschäfts-
geheimnis angesehen werden mag, diese Eigenschaft verliert, sobald es unpersön-
lich wird und die Quelle der betreffenden Information nicht mehr identificiert
werden kann. Dem Takt von CaroU D. Wright, dem Chef des Arbeitsdeparte-
ments, ist es namentlich zu danken, dass Unparteilichkeit, Ehrlichkeit und Achtung
vor gewährtem Vertrauen den Verdacht entwaffnet und bereitwillige Mitarbeit
gewonnen haben. Für die weitere Ausbeutung der statistischen Aemter war ferner
— ausser den bereits erwähnten Umständen — die Thatsache wirksam, dass
die ermittelten Thatsachen ohne irgend eine „particular advocacy'' dargelegt wurden
und dass die Erfahrung gezeigt hatte, dass die fraglichen Behörden in nutz-
bringender Weise die Gesetzgebung beeinflusst und ein besseres Verständnis
zwischen Capital und Arbeit befördert hatten. — Von 16 Aemtern liegen Nach-
weise über den Betrag ihrer Ausgaben (ausschliesslich der Drucksosten für die
Berichte) im ersten Jahr der Gründung und für das laufende Jahr (1891) vor;
dieselben betragen 97.200, bezw. 290.470 Dollar. Gould ist der Ansicht, dass
die bedeutende Zunahme dieser Beträge, welche beim Centralamt (Departement
of labour) allein 25.000 auf 168.270 Dollar beträgt, die zunehmende öffentliche
Ueberzeugung ausdrücken, dass die verantwortliche statistische Erforschung die
Speculation bei der Behandlung der sogenannten socialen Probleme ersetzen müsse.
Weiter geht Gould auf die im Lauf der Zeit eingetretene Verbesserung der
Arbeiten der Bureaux ein. In der ersten Zeit habe gewissermaassen mehr der
Interviewer als der Statistiker gewaltet; erst allmählich sei eine statistische Con-
centration auf eine geringere Zahl wichtiger Punkte eingetreten. Zur Verbesserung
der Ermittlungen hätten namentlich die Jahresversammlungen der Vorstände bei-
getragen. — Es werden jährlich nind 130.000 Bände „labour reports" in den
Vereinigten Staaten gedruckt. Was geschieht mit all' dieser Literatur? Davon
gehen etwa 70 Procent direct in die Hände der arbeitenden Classen über, der
Best geht an Zeitungen, öffentliche Bibliotheken, Abgeordnete, Professoren und
Lehrer, Juristen, Geistliche, Industrielle. Zu bemerken ist, dass in den Ver-
einigten Staaten die „public documents" auf Verlangen umsonst abgegeben werden.
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 317
Man nimmt an, dass die Leute, die das Interesse zeigen, sie zu verlangen, die-
selben auch lesen. Aus den Verhandlungen in den gesetzgebenden Körpern, in der
Presse, auf dem Lehrstuhl und innerhalb der Arbeiterorganisationen geht hervor,
dass der Inhalt der Berichte mehr und mehr bekannt wird. Gould berührt als-
dann im Einzelnen die durch die Arbeitsämter vorbereiteten Fortschritte der
Gesetzgebung und betont besonders das durch dieselben begründete öffentliche
Zutrauen, so zwar, dass sie als Erzieher des „public sentiment" angesehen werden
können. — Als die bemerkenswerteste Leistung des Arbeitsdepartements ist die
auf nahezu dreijähriger Untersuchung in Amerika und Europa beruhende Ermitt-
lung der Productionskosten bei einigen hauptsächlichen Industriezweigen mit
Nachweis des Verhältnisses der Kosten der Arbeit zu den gesammten Productions-
kosten, sowie des Erw^erbs und der Kosten des Lebensunterhalts der Arbeiter.
Die Nachweise sind direct von den Experten aus den Büchern von einigen
hundert amerikanischen und mehr als 100 europäischen Etablissements entnommen.
(Hievon ist inzwischen erschienen die Ermittlung für die Eisen- und Stahlindustrie
mit Einschluss des Rohmaterials derselben als Sixth annual Report of the Com-
missioner of Labor 1890. Washington 1890. 1404 S. 8«.)
Bei der grossen Bedeutung, welche die Frage, nicht mehr der Einrichtung
überhaupt, sondern der zweckmässigsten Einrichtung arbeitsstatistischer Unter-
suchungen gerade in neuester Zeit auch für die europäischen Länder gewonnen
hat, glaubte ich nicht unterlassen zu sollen, auf den knappen, aber doch viel-
fach interessanten Bericht Gould's in Vorstehendem etwas näher einzugehen.
Zu den Mittheilungen über statistische Ereignisse in den einzelnen Ländern
gehört auch jene, welche Bateman über die Fortschritte der auf Verein-
heitlichung der Handelsstatistik des gesammten britischen Reichs
gerichteten Bestrebungen machte. Bisher stand die Verschiedenartigkeit der
Handelsausweise einer vergleichenden Zusammenstellung des Mutterlandes, der
Colonien und sonstigen Besitzungen gegenüber. Eine vom Colonial office berufene
Commission versucht Abhilfe hiefür aber ohne ein Eingreifen in die Systematik
der verschiedenen Handelsausweise lediglich mittelst Aufstellung so weit greifender
Kategorien, dass sie aus den Specialnachweisen entnommen werden können. Es
sollen nämlich bezüglich der vorzugsweise in Betracht kommenden Waren-
classification nur unterschieden werden: I. Lebende Thiere, Nahrungsmittel,
Getränke, mit Einschluss der Narcotica; IL Rohstoffe der Industrie a) Textile,
b) Metalle, c) Andere; III. Fabrikate a) Textile, b) Metalle, c) Andere. IV. Edel-
metalle. Halbfabrikate liess man geflissentlich bei Seite, das Halbfabrikat soll
im Ausfuhrland als Fabrikat, im Einfuhrland als Rohstoff zählen. Diese summa-
rische Unterscheidung werde voraussichtlich in den Kroncolonien, und wohl auch
in der grösseren Zahl der autonomen Colonien angenommen werden. Bateman
wollte dieses System auch für die internationale Handelsstatistik empfehlen, stiess
aber auf den Widerspruch der handelsstatistischen Commission des Instituts. Es
liegt auf der Hand, dass eine derartig summarische internationale Handelsstatistik
nur von sehr geringem Werte wäre.
Unter den Mittheilungen ist endlich Juraschek's Bericht über den Lon-
doner demographischen Congress hervorzuheben, in welchem er namentlich
318 ^^y^-
auf die Bedeutung der dort von mir vorgeschlagenen sorgsamen statistischen
Ausbeutung des Materials der Arbeiterversicherung hinwies. Bei den künftigen
Versammlungen des Instituts wird vermuthlich der Berichterstattung über den
Stand der Statistik in den verschiedenen Ländern ein breiterer Baum zufallen,
denn es gelangte in der Schlusssitzung ein Antrag von Cheysson zur Annahme,
dass für jedes Land ein Berichterstatter zu bestimmen sei, welcher über die
Fortschritte der Statistik in seinem Yaterlande berichten solle.
Als eine Mittheilung, welche sich auf die Erweiterung des Interessenten-
kreises der Statistik durch literarische Bemühung bezieht, erscheint Levasseur's
Darlegung über die Einführung gewisser Hauptergebnisse der Statistik in den
Secundär- und Elementarunterricht. Zur Veranschaulichung legte er die von ihm
bearbeiteten „Precis geographiques" vor, welche Frankreich, Europa und die
Erde behandeln, nebst dem dazu gehörigen statistischen Atlas. Die Frage des
statistischen Unterrichts in den Volks- und Mittelschulen kam im übrigen nicht
weiter zur Sprache.
Ich komme nunmehr zu den beiden Hauptgruppen der Verhandlungen des
statistischen Instituts bei der Wiener Versammlung, zu den wissenschaftlichen
Vorträgen und zu den praktisch-statistischen Einzelvorschlägen. Es
würde den mir hier billigerweise zuzugestehenden Kaum überschreiten, wollte ich
eine vollständige Darlegung des Inhalts dieser Verhandlungen versuchen. Auch
wäre ich dazu wegen der Zersplitterung der Commissionsarbeit in zahlreiche
gleichzeitig tagende Comite's gar nicht imstande. Ich glaube den Wünschen der
Leser dieser Zeitschrift am besten zu entsprechen, wenn ich es versuche eine
nach Hauptzweigen der Statistik geordnete Hauptübersicht dessen zu geben, was
in beiden Eichtungen geleistet ist, unter Vorbehalt, auf einige, insbesondere volks-
wirtschaftlich bedeutsame Einzelheiten etwas näher einzugehen.
a) Wissenschaftliche Vorträge.
1. Bevölkerungsstatistik. An Bedeutung obenan steht der Vortrag von
Prof. Lexis über die Elemente der demographischen Forschung. Im
Anschluss an die Thatsache, dass ausser den ursprünglich allein beachteten
administrativen Zwecken bei den Aufzeichnungen über den Stand und die Bewegung
der Bevölkerung mehr und mehr auch wissenschaftliche biologische und socio-
logische Gesichtspunkte sich geltend machen, bezeichnet Lexis die Frage nach
dem Ideal demographischer Forschung nicht mehr als verfrüht. Ein solches Ideal
ergibt sich aus gewissen leitenden Vorstellungen der demographischen Statistik.
Im mittleren Menschen Quetelets besitzt man eine solche Vorstellung für den
Stand der Bevölkerung, insbesondere für anthropometrische Thatsachen. Dieser
für das statistische Gebiet anwendbare Typus reicht aber nicht für das dynamische
aus. Hier dient der „demographische Lebenslauf des abstracten Menschen^ als
leitende Vorstellung. Jeder Mensch kann eine Eeihe von Lebensphasen durch-
laufen, für deren Eintritt eine bestimmte Wahrscheinlichkeit besteht. Diese Eeihe
von Wahrscheinlichkeiten bildet den specifischen Ausdruck des demographischen
Lebenslaufs. Die nähere sachliche Beweisführung gab Lexis für den demographischen
Lebenslauf des weiblichen Geschlechts, welches mehr statistisch bedeutsame
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 319
Stadien durchläuft als das männliche (Geburt, Yerehelichung, Niederkunft, Witwen-
schaft, Wiederverehelichung, Tod). Die Veröffentlichung des vom Vortragenden frei
und zum Theil mit Abkürzungen gegebenen Vortrags im Bulletin des Instituts
verspricht hochinteressant zu werden, sowohl um des sachlichen Inhalts willen,
als auch wegen der grundlegenden klaren Darlegung der Methode der Messung
aller Veränderungserscheinungen des menschlichen Lebenslaufs. Sorgsam ent-
worfene graphische Darstellungen, deren Wiedergabe im Bulletin wohl auch
erwartet werden darf, dienten zur erwünschten Erläuterung der grundlegenden
theoretischen Betrachtung des Vortragenden.
Körösi verbreitete sich über die Fruchtbarkeit der Ehen und die
Vitalitätsverhältnisse der Kinder, sowie über die in Budapest bei der
Geburtsstatistik eingeführten Eeformen. Ogle beschäftigte sich damit, einen rasch
vergleichbaren Ausdruck der allgemeinen Trauungs-, Geburts- und
Sterbeziffern zu finden; gleiches erstrebt Körösi speciell bezüglich der letzteren
Ziffer, welche übrigens auch Ogle vorzugsweise interessiert. Davon ausgehend,
dass die ungleichartige Zusammensetzung verschiedener Bevölkerungen nach Alter
und Geschlecht die Vergleichbarkeit der in gewöhnlicher Weise auf den Gesammt-
bevölkerungsstand berechneten Trauungs-, Geburts- und Sterbeziffern beeinträchtigt,
gleichwohl aber ein kurzer einfacher Ausdruck an Stelle einer Eeihe von beson-
deren, nach Alters- und Geschlechtsgruppen abgestuften Ziffern solcher Art
erwünscht ist, wird vorgeschlagen, sich über eine „Standard -Bevölkerung" zu
verständigen, deren bestimmtes Geschlechts- und Altersverhältnis allen Vergleichs-
berechnungen zugrunde zu legen wäre. Es würde demnach für jedes einzelne
Land die für die einzelne Geschlechts- und Altersclasse sich ergebende besondere
Sterbeziffer berechnet, und daraus unter Zugrundelegung der angenommenen
Geschlechts- und Aitersclassenvertheilung die allgemeine Sterbeziffer berechnet
werden, welche man bisher einfach aus der Vergleichung der Sterbefälle mit der
affectiven Gesammtbevölkeruug gefunden hat. Ogle schlägt die Gesammtbevölkerung
einer Anzahl von Staaten Europas als Standard-Bevölkerung vor. Es ist nicht zu
leugnen, dass diese Berechnungsweise, vorausgesetzt, dass eine genügend grosse
Zahl von Altersclassen gebildet wird, wohl geeignet ist, die Sterbeziffer, insoweit
man — und das thun ja ganz besonders die Engländer — geneigt ist, ohne
weiteres darin einen Maassstab der grösseren oder geringeren Lebensgefährdung
zu sehen, zu verbessern, insoferne dadurch die Unterschiede in der Lebens-
bedrohung der Gesammtbevölkerung, welche nicht von der Gefährdung der ein-
zelnen Geschlechts- und Altersclassen, sondern lediglich von der verschiedenen
Vertretung der letzteren herrühren, eliminiert werden. Durch diese modificierte
Berechnungsweise wird übrigens für gewisse allgemeine Betrachtungen anderer
Art die übliche Berechnung der allgemeinen Trauungs-, Geburts- und Sterbe-
ziffern ebensowenig überflüssig gemacht, als für ein tieferes Eindringen in das
Wesen der Bevölkerungsbewegung eine sorgsame Berechnung zahlreicher besonderer
Geburts-, Trauungs- und Sterbeziffern für die verschiedensten Bevölkerungs-
gruppen— nicht bloss für jene nach Geschlecht und Alter — entbehrt werden kann.
Ein eigenartiges Interesse bot die Mittheilung Bouffet's, des Directors
der Departemental- und Communalv er waltung im französischen Ministerium des
320 ^^y^-
Innern, über die letzte französische Volkszählung. Dadurch kam nämlich
die das französische Yolkszählungsvresen beherrschende Zwiespältigkeit der Eessorts
des Ministeriums des Innern und des Handelsministeriums zum Ausdruck. Letzterem
fällt als dem statistischen Ressort die schli essliche Benützung der Yolkszählungs-
Ergebnisse für die Zwecke der allgemeinen Statistik zu; auf die Durchführung
der Zählung selbst hat es keinen unmittelbaren Einfluss; aber ebensowenig steht
ihm die statistisch-technische Ausbeutung des ürmaterials zu. Die ganze
Erhebung und das ganze Depouillement wird, sowohl für die Zwecke des Mini-
steriums des Innern fpopulation legale) als des Handelsministeriums (population
de fait in ihren verschiedenen Gliederungen) lediglich durch die Organe des
Ministeriums des Innern, die Präfecten und die Bürgermeister nach altmodischer
Weise besorgt und zvrar auch jetzt noch, nachdem für die Erhebung das moderne
Formular der Individualzählkärte gewählt ist. Dass der Vertreter der eigentlichen
Bureaukratie auf die feineren demographischen Feststellungen nicht gut zu
sprechen ist, begreift man; selbst dem Verlangen einiger Präfecten, die undelicate
Frage nach dem Alter der Gezählten zu unterdrücken, steht er sympathisch
gegenüber. Diesen restrictiven Bestrebungen muss der Statistiker entschieden
gegenübertreten, wenn dies auch in Wien seitens Vannacque's, des Vertreters
der französischen Generalstatistik, wohl deshalb nicht geschah, weil man es nicht
für ziemlich hielt, Gegensätze amtlicher französischer Vertreter offen zum Ausdruck
zu bringen. Was dagegen Bouffet über die Unvollkommenheiten der Zählungs-
durchfiihrung und insbesondere über die Nothwendigkeit der Vermehrung der
Zahler und einer verbesserten Organisation derselben vorbrachte, düvfte allseitiger
Zustimmung sicher sein. Gleiches gilt von den Ausführungen über die Unzweck-
mässigkeit der Einrichtung der statistisch-technischen Ausbeutung, nach welcher
noch heute in Frankreich die Ausfüllung spaltenreicher Concentrationsformulare
den Bürgermeistereien und deren Summierung den Präfecturen zufällt, wie es in
Deutschland in der Hauptsache seit Jahrzehnten nicht mehr geschieht. Bezüglich
der Frage der Centralisation der Ausbeutun2:sarbeit machte es den Eindruck, als
sei Bouffet mit dem Gedanken nach Wien gekommen, die Errichtung von
statistischen Bureaux bei den einzelnen Präfecturen zu befürvrorten, und als habe
erst das, was er in Wien von den centralen Leistungen eines Eeichsbureau
gesehen hatte, ihn zu dem schliesslichen „persönlichen" Votum einer Centralisation
der Ausbeutungsarbeiten für ganz Frankreich bewogen, worin ihm übrigens nur
zugestimmt werden kann. Ein Stächelchen gegen die Pariser, unter Bertillon's
treft'licher Leitung stehende Communalstatistik, brachte Bouffet's Schlusswort,
indem er dem allenfalsigen Erstaunen darüber, dass er über die Pariser Volks-
zählung gar nichts gebracht habe, mit der Bemerkung begegnete, dass Bertillon
ihm nicht ä temps den verlangten Bericht erstattet habe. Doch bemerkte Bouffet
— etwas auffallend herablassend — weiter, dass er diese Verzögerung verzeihe
und zum Beweis dafür erkläre, dass die Zählung in Paris trotz der grossen
Schwierigkeiten unter den besten Umständen erfolgt sei und dass dieser Erfolg dem
Eifer und der geschickten Leitung des Chefs des statistischen Dienstes der Stadt
Paris zu danken sei. — Nach Allem kann man nur wünschen, dass das ganze
französiche Volkszählungswesen einer gründlichen Reform unterstellt werden möge.
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 321
2. Moraistatistik. Hier kommt nur der Vortrag von Földes (Budapest)
über die „Statistik der Eecidivität in Ungarn" in Betracht. Földes hat
in jüngster Zeit eine Arbeit über „Einige Ergebnisse der neueren Criminal Statistik"
in der Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft (Band XI, Heft 5 u. 6)
veröffentlicht, welche auf gründlicher Literaturkenntnis fusst und eine sehr
beachtenswerte Durchsprechung aller criminalstatistisch wichtigen Gesichtspunkte
enthält. In dem Vortrag über die Kückfälligkeit in Ungarn hat er sich einen,
nach sachlichem Inhalt, wie nach dem herangezogenen statistischen Belegmaterial
ziemlich eng bemessenen Ausschnitt aus dem Gesammtgebiet der criminalstatisti-
sehen Untersuchungen gewählt. Er konnte dabei an das specielle Interesse anknüpfen
welches die internationale criminalistische Vereinigung auf ihrer Herbstversammlung
von 1891 zu Christiania für den Ausbau der Rückfälligkeitsstatistik bekundet
hatte. Das Material seiner speciellen Betrachtungen hat er nicht der ungarischen
Statistik der Strafrechtspflege im engeren Sinne, sondern der ungarischen Gefangnis-
statistik entnommen; in den Einzelheiten der Durchführung sind in knapper
Uebersicht alle criminalpolitisch wie socialogisch wichtigeren Zielpunkte der
statistischen Forschungen auf dem Gebiete der Eückfälligkeit zur Geltung gebracht.
3. AVirtschaftliche Statistik. Zuerst sei des Altmeisters Engel Vortrag
über die statistische Tragweite des Familienbudgets erwähnt. Derselbe
stellt sich nur als eine vorläufige Mittheilung über die von Engel bewirkte
statistische Ausbeutung von Haushaltungs-Rechnungsbüchern dar, welche ihm von
3278 Familien (mit rund 18.000 Personen) aus allen Ständen vertrauensvoll zur
Benützung überlassen wurden. Es handelt sich dabei nicht etwa bloss um sog.
„Arbeiterbudgets" ; denn es sind dabei Jahres-Haushaltsausgaben von 300 bis
300.000 Mark vertreten. Der Vortrag Engel's enthielt nur einige kurzgefasste
vorläufige Mittheilungen über die Technik der Aufarbeitung des von ihm gesam-
melten Materials und über einzelne dabei hervortretende Schwierigkeiten. Bezüglich
der materiellen Ergebnisse bemerkte er nur, dass bei Ordnung der nach Ein-
nahme-und Ausgabegliederungen geordneten Tabellen, gleichsam von selbst das auf
den grossen Zahlen beruhende Gesetz der Ausgaben erwachse ; dieses Gesetz
lehre zugleich, wie viel bei gegebenen Mitteln für jedwede Familie von einer oder
der anderen Einheitenzahl für die verschiedenen Bedürfnisse des Lebens aus-
gegeben werden könne und dürfe; nicht minder gebe dieses Gesetz Aufschluss,
welche Kosten die Erziehung und Auferziehung des einzelnen Menschen in den
verschiedensten Vermögensclassen verursache. Engel hat eine vollständigere
Darlegung der Ergebnisse seiner Untersuchungen im Bulletin de l'Institut in
Aussicht gestellt, welcher man mit grossem Interesse entgegensehen darf. Die
Neuzeit beeilt sich durch die exacte Massenbeobachtung der privaten Einzelwirt-
schaften eine Lücke der Erkenntnis auszufüllen, welche gegenüber der durch die
Finanzstatistik gebotenen Kenntnis des Haushalts der öffentlichen Einzelwirt-
schaften als besonders empfindlich erscheinen musste. Es es nicht zu bezweifeln,
dass auf der statistischen Grundlage dieser Massenbeobachtungen der privaten Einzel-
wirtschaften allmählich in der Wirtschaftslehre als Gegenstück zur Finanzwissen-
schaft als der Wissenschaft vom öffentlichen Haushalt sich eine neue Disciplin,
die Wissenschaft vom Privathaushalt, ausbilden wird.
322 Mayr.
Ein treffliches Beispiel einer sorgsam ausgestalteten secundärstatistischen
Arbeit bildet die in Frankreich an die neue Ermittlung und Einschätzung
des Gebäudebestandes angeknüpfte statistische Darlegung der Ergebnisse
dieser, zunächst nicht um der Bereicherung statistischen Wissens sondern gewisser
Steuerreformzwecke willen durchgeführten Ermittlungen. Staatsrath Boutin, General-
director der directen Steuern und des Catasters im Finanzministerium, zugleich
eifriges Mitglied der Pariser statistischen Gesellschaft gab in formgewandter Eede
einen üeberblick der in wirtschafts-statistischer Hinsicht sehr interessanten
Ergebnisse der unter seiner Leitung in ganz Frankreich in nicht viel mehr als
zwei Jahren (August 1887 bis Xovember 1889) durchgeführten Erhebung. Das
Bulletin des Instituts wird die vollständige, mit einigen tabellarischen Nachweisen
ausgestattete Boutin'sche Zusammenstellung bringen, von welcher der Eedner
beim mündlichen Vortrag Einzelnes in Wegfall bringen musste. Man wird diese
Arbeit auf lange hinaus als ein Musterbild von dem ansehen dürfen, was bei
ernsthafter Zusammenarbeit administrativen und statistischen Sinnes aus dem
Urstoff einer fiscalischen Erhebung gemacht werden kann. Darin liegt die weiter-
greifende methodologische Bedeutung dieser Arbeit; denn noch ausserordentlich
viel ungenützter wirtschaftsstatistischer Stoff steckt in den massenhaften Auf-
zeichnungen unserer Steuerveranlagungs- und Steuererb ebungsbehürden aller Art.
Die nächste dringende Aufgabe, welche anwächst, wird in Oesterreich wie in
Preussen die gründliche Ausgestaltung einer, an die zu beschliessende, bezw.
beschlossene Steuerreform anknüpfenden Einkommensteuer - Statistik sein. Was
speciell die von Boutin behandelte Statistik der Gebäude-Ermittlung und -Ein-
schätzung anlangt, so mag noch darauf aufmerksam gemacht sein, dass eine
ganz ähnliche Arbeit, wie sie in Frankreich von 1887 bis 1889 durchgeführt
wurde, in Elsass-Lothringen — wo im übrigen noch die französische Grund-
besteuerung in Geltung ist — unmittelbar bevorsteht. Durch das kürzlich erlassene
Gesetz vom 6. April 1892, betr. Abänderung des Gesetzes über die Bereini-
gung des Catasters, die Ausgleichung der Grundsteuer und die Fortführung des
Catasters vom 31. März 1884 ist bestimmt, dass alsbald eine Neueinschätzung
der Gebäude unabhängig von der Catasterbereinigung stattzufinden hat. Zugleich
sind eingehende Bestimmungen über die Grundsätze getroffen, nach welchen die
Einschätzung zu erfolgen hat. Man darf wohl annehmen, dass an die dadurch
veranlasste, gleichfalls auf etwa zwei Jahre veranschlagte Yerwaltungsthätigkeit
sich eine ähnliche wirtschaftsstatistische Ausnützung des Materials anschliessen
wird wie in Frankreich.
Von den an Boutin's Vortrag anknüpfenden Erörterungen ist hervorzu-
heben eine eingehende, sachkundige Darlegung von John (Innsbruck) über die
Nothwendigkeit bei der Gebäude Statistik auf die Ennittlung der im Bau
begriffenen Gebäude Rücksicht zu nehmen, und zwar nicht bloss gelegentlich
einer nach längeren Zwischenräumen wiederkehrenden einmaligen Aufnahme,
sondern mittelst fortlaufender Eegistrierung der gesammten Bauthätigkeit.
Eine Keihe interessanter wirtschaftsstatistischer Speciali täten sind in dem
gedruckt eingereichten, von Vannacque im Auszug verlesenen Aufsatze von
Neymarck über die A'ertheilung der französischen Ersparnisse auf französi-
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 323
sehe und ausländische Mobiliar werte enthalten. Die vrissenschaftlich noch
wenig gepflegten Gebiete der Bursenstatistik und der Statistik der Staats-
schuld, bei letzterer mit thunlichster Berücksichtigung der geographischen
Yertheilung der Eenteninscriptionen, werden hier in beachtenswerter Weise
betreten ; daran schliessen sich allgemeine wirtschaftspolitische und hochpolitische
Betrachtungen. In den Schlussergebnissen wird die Xothwendigkeit eines inter-
nationalen öffentlichen Finanzrechts betont und auf den Zusammenhang des
bedeutenden französischen Mobiliarvermögens mit der Friedensliebe des Landes
hingewiesen.
Auf dem Gebiete der Arbeiterstatistik hielt Dr. Ogle einen fgl eichzeitig
gedruckt vorgelegten) Vortrag, den er selbst bezeichnete als „Bemerkungen über
de-n Civilstand, die Familie, die Wohnung und den Mietzins bei der arbeitenden
Classe in London und über das Verhältnis zwischen dem Mietbetrag und den
Löhnen". Wir haben es bei der Ermittlung, deren summarische Ergebnisse Dr. Ogle
vorführte, offenbar mit einem Versuche noch aus der Zeit der systemlosen arbeits-
statistischen Erhebungen zu thun. Das Material wurde vor etwa vier Jahren von
Eegierungs wegen (durch welche Behörde? gibt Ogle nicht an) in der Art
gesammelt, dass in vier verschiedenen Districten Londons, welche vorzugsweise
von Arbeitern bewohnt sind, Karten mit gewissen vorgedruckten Fragen an die
Arbeiterfamilien und einzeln lebende Arbeiter vertheilt wurden. Wie viel Karten
zur Vertheilung kamen, ist nicht gesagt; dagegen erfahren wir, dass 29.451
Karten ausgefüllt eingesammelt werden konnten, wovon 8008 oder nicht weniger
als 27 Proc. auf ausser Arbeit stehende Arbeiter trafen (diese hatte« wohl am
meisten Zeit zur Ausfüllung der Karten!). Die Karten wurden keinerlei Prüfung
unterworfen, sondern einfach zusammengestellt; die wichtige Frage nach dem
Lohn scheint lediglich in der — nunmehr allseitig verworfenen — Form der
Erfragung von Wochendurchschnittslöhnen gestellt worden zu sein. Ogle hat
selbst in das Material kein besonderes Vertrauen, meint aber demselben doch
einen gewissen negativen Vorzug zuschreiben zu dürfen, weil in den ungeprüften
Karten die Lage der Arbeiter vermuthlich keinesfalls zu ungünstig erscheine, da
eine Tendenz zur Uebertreibung der Ausgaben und zur Unterschätzung der Ein-
nahmen vorgelegen haben dürfte. Man muss sich nur über die Unempfindlichkeit
der dieses Material bearbeitenden Stelle wundern, welche nicht einmal mittelst
Stichproben eine Prüfung darüber anstellte, ob ihre vorbezeichnete deductive Ver-
muthung denn auch inductiv haltbar Aväre. Auch bei der Ogle'schen Schluss-
zusammenfassung der Kesultate, z. B. bei der Ermittlung eines Hauptdurchschnitts-
lohns (der, nebenbei bemerkt, einen recht geringen socialstatistischen Wert hat)
laufen noch manche, in der optimistischen englischen Statistik unserer Tage
übrigens nicht selten anzutreffende, recht anfechtbare Hypothesen mit unter. Man
darf hienach die Schlussergebnisse Ogle's nur unter grossen Eeserven annehmen
und in ihnen mehr blosse Fragenanreger als Fragenlöser erkennen. In diesem
Sinne mögen dieselben hier, zugleich zur Charakterisierung der ganzen Ogle'schen
Studie, aufgeführt sein:
Wenn die ungeprüften Angaben der Londoner Arbeiter als wahr angenom-
men werden, ergibt sich:
324 ^fay^-
1. Dass der Arbeiter sehr zeitig heiratet und foli,4ich eine starke Familie
zu unterhalten hat, da auf einen Verheirateten drei hei ihm lebende Kinder
treifen ;
2. dass das durchschnittliche Wocheneinkommen der in Arbeit stehenden
Männer aus allen Quellen 26*19 Schilling oder Mark (13*09 Gulden, 32-74
Francs) beträgt;
3. dass von dieser Einnahme etwa 23*5 Proc. auf Hausmiete treffen, wobei
sich das Verhältnis umgekehrt zur Höhe des Einkommens gestaltet;
4. dass die Wohnungsverhältnisse sich so gestalten, dass in der Kegel
1*65 Personen auf 1 Zimmer treifen;
5. und dass die Wohnungskosten im Mittel in der Woche für ein Zimmer
2*19 Schilling oder Mark (1*10 fl., 2*74 Frcs.) und für eine Person 1*33 Schilling
oder Mark (1*16 fl., 1*66 Frcs.) betragen.
Ueber die Statistik der professione»llen Syndicate und Arbeiter-
verbände in Frankreich hielt Turquan, der Chef des Bureau für allgemeine
Statistik einen Vortrag. Er konnte dabei die durch die Gesetzgebung geförderte
bedeutende Zunahme aller S3ndicate, sowohl der Arbeitgeber als der Arbeit-
nehmer, nachweisen.
Eine interessante Specialität war auch der durch graphische Darstellungen
in sinnreicher Weise veranschaulichte Vortrag von Foville, dem Chef des
statistischen Bureaus im französischen Finanzmin-isterium' über die französischen
Münzenzählungen von 1878, 1885 und 1891. Es wird der Bestand an Münzen
bei allen öffentlichen Cassen und bei jenen Creditan stalten ermittelt, welche sich
dazu bereit erklären. Daraus ergeben sich für Frankreich ungefähr 20.000 Er-
hebungsstationen. Die Zählung findet an demselben Tage, zu derselben Stunde
aufgrund eines einheitlichen Formulars statt. Gold- und Silbermünzen werden
getrennt nachgewiesen. In allen diesen Punkten unterscheidet sich die französische
Münzenzählung nicht wesentlich von ähnlichen Erhebungen wie sie, zum Theil
sogar alljährlich, auch anderwärts, insbesondere in Deutschland stattfinden. Eine
beachtenswerte Eigenartigkeit der französischen Münzenzählungen, welche denselben
ein besonderes statistisches Interesse verleiht, liegt darin, dass auch die Nationa-
lität und das Prägungsjahr der Münzen ermittelt und in den statistischen Ueber-
sichten nachgewiesen sind. Dadurch wird es im Zusammenhang mit den Nachweisen
über die Ausprägungen gewissermaassen möglich eine Art Absterbeordnung der
Münzen, wenigstens soweit die Circulation im Inlande in Frage ist, aufzustellen.
Als wesentlichste Hauptergebnisse führte Foville folgende an: 1. In den Jahren
1891 und 1885 machte der Goldumlauf 69 Proc, der Silberumlauf 31 Proc.
der gesaramten Circulation aus; 2. im Jahre 1885 machte das fremde Gold
10*14 Proc, im Jahre 1891 31 Vo Pi'oc des gesammten Umlaufs aus; 3. unter
den silbernen Courantmünzen (5-Frankenstücke) waren im Jahre 1885 29 Proc,
im Jahre 1891 31^/2 Proc. fremden Gepräges; 4. es ist wahrscheinlich, dass in
Frankreich im ganzen 4 Milliarden Franken in Gold französischen und fremden
Geprägs und 2^,'^ Milliarden Silbermünzen (Courantmünzen und ihre Untertheilungen)
oder im ganzen 6V2 Milliarden Franken in Münze vorhanden sind.
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jalires 1891. 325
b) Praktiscli-statistische Einzelvorschläge.
AYas bisher von den Verhandlungen des internationalen statistischen Instituts
in Wien erörtert worden ist, war so geartet, dass es eine active Zusammenarbeit
der gelehrten Gesellschaft nicht erforderte, sondern vorzugsweise nur eine receptive
Thätigkeit derselben in Anspruch nahm. Noch aber ist eine wichtige G-ruppe der
Verhandlungen zu erwähnen, bei welcher recht eigentlich die geistige Zusammen-
arbeit der Mitglieder in den Vordergrund tritt. Es handelt sich um die auf das
Gebiet der praktischen Statistik sich erstreckenden Vorschläge über die Ziel-
punkte und die Einrichtung der statistischen Massenbeobachtung auf ihren
einzelnen Erscheinungsgebieten. Die Zusammenarbeit der Mitglieder in dieser
Hinsicht hat die Hauptstätte ihrer Wirksamkeit in den zahlreichen Commissionen
gefunden, welche theils von früheren Sessionen übernommen, theils in Wien
neugebildet worden waren. Die weitgehende Arbeitstheilung, welche hiedurch für
die Commissionsarbeit erzielt war, hat ihre guten, aber auch ihre bedenklichen
Seiten, und fast will mir scheinen als hätten bei der Wiener Versammlung des
Instituts die letzteren überwogen. Die Vielheit der Commissionen hat es ermöglicht
in verhältnismässig kurzer Zeit zahlreiche Verhandlungsgegenstände zur Erledigung
zu bringen. Dagegen hatte dieselbe ein vielfaches Nebeneinandertagen der ver-
schiedenen Commissionen und damit für manches Mitglied die Unmöglichkeit zur
Folge bei Verhandlungen, die ihm an sich grosses Interesse geboten hätten,
Theil zu nehmen, wenn es durch die Verhandlungen in einer anderen Commission
gebunden war. Mancher sachkundige Beitrag zu den A'erhandlungen ist dadurch
unterdrückt worden, was meines Erachtens um so bedauerlicher ist, als die grosse
Fülle der Vorarbeit, welche für alle Einzelfragen theils theoretisch durch die
älteren statistischen Congresse, theils praktisch durch die Statistik der verschiedenen
Länder geleistet ist, Gefahr läuft nicht durchwegs vollständig gewürdigt zu
werden, wenn in den Commissionen nur eine kleine Zahl von Mitgliedern mit-
arbeitet. Mir kommt es vor, als empfehle es sich für die nächste Versammlung
des Instituts ein gleichzeitiges Tagen verschiedener Commissionen zu vermeiden.
Demgemäss wäre die Zahl der Verhandlungsgegenstände stark einzuschränken.
Weiters möchte ich empfehlen über alle diese Gegenstände vor der Berathung
in der Commission eine vorläufige Besprechung im Plenum, gewissermaassen eine
erste Lesung eintreten zu lassen, und dieselben erst dann je nach Bedürfnis an
die Commission zu verweisen. Dadurch wird in sachlicher Hinsicht die möglichs
vollständige Hervorhebung aller in Betracht kommenden Gesichtspunkte gefördert
und in persönlicher Beziehung der Vortheil erzielt, dass alle Diejenigen, welche
für den concreten Gegenstand nach Maassgabe der Vorerörterung sich zu
interessieren veranlasst fühlen, alsdann bei den Commissionsverhandluiigen sich
einfinden werden. Diese sachliche Verstärkung der Plenar- und Commissions-
arbeit während der Tagung des Instituts scheint mir wichtiger, als die grund-
sätzlich angenommene Fortdauer der Commissionsthätigkeit zwischen den einzelnen
Tagungen, welche an der räumlichen Trennung der Commissionsmitgiieder fast
unüberwindliche Hindernisse findet.
Im Folgenden soll zum Abschluss der Erörterungen über die Wiener Ver-
handlungen des internationalen statistischen Instituts ein Blick auf die wichtigeren
326 ^layr.
Beschlüsse auf dem Gebiet praktisch-statistischer Eiiizelvorschläge geworfen
werden. Dabei wird es Billigung finden, wenn über jene Punkte, bei welchen
man zu bestimmten Vorschlägen sich noch nicht zu einigen vermochte, über welche
deshalb die Arbeit des Instituts zunächst noch fortgesetzt werden soll, hier
nur ganz kurz berichtet wird.
1. Bevölkerungsstatistik. Am bedeutungsvollsten sind die vom Institut
gefassten Beschlüsse über den internationalen Austausch der auf die
Statistik der Staatsfremden bezüglichen Nachweise. Vorschläge hierüber
waren von v. Inama-Stern egg nach zwei Eichtungen erstattet, sowohl hin-
sichtlich des Austausches der für die Fremden gelegentlich der Volkszählungen
erwachsenen Individual-Anschreibungen als hinsichtlich der Individualaufzeichung
der Aus- und Einwanderer in den Ein- und Ausschiffungshäfen. Den internationalen
Austausch von Copien der Zählkarten oder der Zählungslisten-Einträge der
Volkszählung zu beantragen, war gerade v. Inama-Sternegg in hervorragender
Weise befugt, nachdem 0 esterreich mit gutem Beispiele vorangegangen ist und
sich bereit erklärt hat Individual-Karten über die bei der Zählung ermittelten
Staatsfremden selbst solchen Staaten zur Verfügung zu stellen, welche keine
Keciprocität gewähren. Auch im Deutschen Reich ist bei der Volkszählung von
1890 in den vom Bundesrath über die Bearbeitung der Ergebnisse derselben
getroffenen Bestimmungen zum erstenmal die Anordnung getroffen worden, dass
seitens der mit der Ausbeutung des Volkszählungsmaterials betrauten einzel-
staatlichen statistischen Aemter über die ortsanwesenden Reichsausländer sowie
über die im Reichsauslande geborenen deutschen Reichsangehörigen Abschriften
aller in den Zählungsformularen (Zählkarten oder Zählungslisten) enthaltenen
persönlichen Angaben unter Beifügung des Staats, des Bezirks, der Gemeinde
und des Orts der Zählung anzufertigen und dem kaiserlichen statistischen Amt
bis zum 31. December 1892 zu übersenden sind. Schon nach der Zählung von
1885 hatte die Reichsverwaltung sich veranlasst gesehen, auswärtigen Regierungen
auf ihr Ansuchen Mittheilungen über deren im Reichsgebiet gezählte Angehörige
zu machen; nachdem inzwischen mit einer Reihe fremder Regierungen Abreden
behufs Austausches solcher Mittheilungen getroffen waren, erwies sich die oben
erwähnte bundesräthliche Anordnung als nothwendig.
AVas das Institut hinsichtlich des Austausches der Individual-Zählungs-
Ergebnisse befürwortet, ist demnach nichts absolut neues; der AYert des Beschlusses
liegt in der Befürwortung einer Verallgemeinung des zAvischen einzelnen Staaten
bereits eingeführten A^erfahrens und in dem AVunsch, dass es den Bemühungen
der Diplomatie gelingen möge, darüber eine besondere internationale Convention
zustande zu bringen. Erst bei allgemeiner Durchführung dieses Austausches
findet der volle social-statistische AVert der darin liegenden Internationalisierung
gewisser Elemente der Bevölkerungsstatistik seinen Ausdruck. Erst wenn man die
gesammte, in allen AA^elttheilen ausser dem Heimatstaat lebende Staatsangehörige
Bevölkerung kennt, kann man für einen gegebenen Staat die volle Summe der
ihm öffentlich-rechtlich zugehörigen Bevölkerung ermitteln. Dabei bietet es social-
und wirtschaftsstatistisches Interesse Aveiterhin den Aufenthalt dieser ausser den
Staatsgrenzen lebenden Staatsangehörigen im geographischen Detail sowohl seiner
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 327
ausländischen Aufenthalts- wie seiner inländischen Geburtsbezirke nachweisen zu
können. Aus der ersteren Betrachtung ergibt sich die Eigenartigkeit der inter-
nationalen Expansivkraft einer Bevölkerung, während die zweite Betrachtung
eine wichtige Ergänzung zu den Xachweisungen über das Maass der Nachwuchs-
liefemng in den einzelnen Landestheilen bietet, welche aus einer sorgsam
bearbeiteten nationalen Gebürtigkeitsstatistik entnommen werden können. Voll-
ständig ist die Betrachtungsweise letzterer Art dann, wenn man — wie dies
in den deutschen bundesräthlichen Bestimmungen vorgesehen ist — nicht bloss
auf die rechtlichen Ausländer sondern auch auf die lediglich der Gebürtigkeit
nach dem Ausland Zugehörigen Rücksicht nimmt. In Wien kam das Gebürtigkeits-
verhältnis nicht in diesem ergänzenden Sinne sondern nur subsidiär zur Sprache,
derart, dass in jenen Ländern, in welchen die Staatsangehörigkeit überhaupt nicht
ermittelt werde, der Anstausch nach Maassgabe der Feststellungen über die
Gebürtigkeit erfolgen solle.
Bezüglich des Inhalts der auszutauschenden Individual-Nachweise machte
sich bei der Commissionsberathung mehrseitig die Auffassung geltend, dass die
Aufführung der Namen unterbleiben müsse; man fürchtete einerseits für das Asyl-
recht, anderers its glaubte man, dass im Falle der Uebermittlung auch der
Namen der Anreiz für solche Fremde, welche sich eine Gesetzesverletzung vorzu-
werfen hätten, der Zählung sich zu entziehen, grösser wurde. Dem letzteren
Gesichtspunkte ist einige Berechtigung nicht abzusprechen; für die Statistik —
und nur deren Bedürfnisse sind hier in Frage, kommt es auf die Namen
in diesem Falle überhaupt nicht an. Ein weiteres Zeichen der Aengstlichkeit, mit
welchem die Commission an die Frage herantrat, liegt darin, dass sie die Angabe
des Zählungs„orts" strich. Dies ist statistisch nicht unbedenklich, weil dadurch
der genauere geographische Nachweis über die Versendung von Menschenmaterial
nach dem Ausland, namentlich auch unter dem Gesichtspunkt seiner Ueberweisung
an städtische oder ländliche Bevölkerung, überhaupt nach den verschiedenen
Agglomerationsgruppen, geschädigt werden kann. Mir scheint dieser restrictive
Beschluss sachlich nicht gerechtfertigt.
Bemerkt sei schliesslich noch, dass man den allgemeinen internationalen
Kartenaustausch nicht für alle, sondern jeweils für die am Abschlüsse der Jahr-
zehnte stattfindenden Volkszählungen befürwortete.
Bezüglich der überseeischen Auswanderung wird befürwortet, dass die
Hafenbehörden namentliche Verzeichnisse der Angehörigen der verschiedenen
Staaten aufstellen, mit Angabe des Geschlechts, des Alters, der Nationalität, der
Geburtsprovinz und des Berufs, und diese in regelmässigen Zeitabschnitten den
betreffenden Staaten zukommen lassen. Dieser Beschluss, welcher ohne grosse
Mühe durchführbar ist und bei seiner Durchführung wesentlich zur Verbesserung
der Aus- und Einwanderungsstatistik beitragen würde, ist durchaus zu billigen.
Ein Schmerzenskind der Bevölkerungs- wie der wirtschaftlichen Statistik
bildet seit lange die angemessene Erfassung der Berufsgliederung der Bevölkerung.
Die socialpolitischen Bestrebungen der Neuzeit haben diese — wie man ein-
gestehen muss — von der theoretischen wie praktischen Statistik etwas ver-
nachlässigte Aufgabe mit Wucht in den Vordergrund gerückt. Es war deshalb
328 ^^r-
sehr daiikeswert, dass Bertillon diese Frage, v.elclie auch auf dem Berner
ünfallcoiigress gestreift worden war, aufgenommen und den Entvrurf einer
Komenclatur der Berufe (professi'ons) vorgelegt hatte. Den praktischen
Bedenken, welche gegen eine zu reichhaltige Gliederung erhoben werden und den
theoretischen Angriffen, welchen eine zu summarische Unterscheidung ausgesetzt
ist, glaubte er dadurch Rechnung tragen zu sollen, dass er dreierlei Ausgaben
seiller Nomenclatur mit verschiedener Reichhaltigkeit der Gliederung vorlegte,
vrobei die . minder gegliederte jeweils durch Zusammenziehung verschiedener
Positionen der reicher gegliederten sich ergab. So ergaben sich Schemate von
456, 196 mid 65 Rubriken. Damit sollte jedoch eine bestimmte Einschränkung
der nationalen Unterscheidungen nicht verbunden sein, dieselben sollten sich nur
als einreihungsfähig in die vorgeschlagenen Schemata erweisen. Bei der Commissions-
berathung konnte man sich jedoch nur zur Empfehlung der allgemeinen Principien
der vorgeschlagenen Eintheilung entschliessen, und wollte vorerst noch Meinungs-
äusserungen der verschiedenen „statistischen Verwaltungen '' und „internationalen
Comites" einholen. Zu einem positiveren Beschlüsse kam man auch im Plenum
nicht, nur liess man die ausdrückliche Einvernahme der permanenten Comites
(d. i. des demographischen und des Unfallcongresses) fallen. Ein Beschluss in
der Sache ist hienach nicht erzielt und bleibt die Aufstellung einer Xomenclatur
der Berufe (wozu etwas hastig auch noch jene der Todesursachen gefügt wurde!)
weiterhin Aufgabe der Arbeiten des Instituts, insbesondere der speciellen hiefür
gebildeten Commission. Die Sache ist von höchster Wichtigkeit; zu ervrägen vräre,
ob" nicht der sehr schwer zu erreichenden allgemeinen Verständigung durch
Sonderverständigung einzelner Staaten vorzuarbeiten vräre. Am meisten Anlass
wäre angesichts der Verwandtschaft der socialpolitischen Action in dieser Hin-
sicht zu einer Specialverständigung zwischen Deutschland und Oesterreich-Ungarn
gegeben. Die fragliche Nomenklatur hat ja nicht bloss für die Volkszählungen
sondern für zahlreiche andere Zweige der Statistik, nämlich überall da Bedeutung,
wo die Klarlegung gesellschaftlicher Erscheinungen irgendwie von näherem Ein-
gehen auf die Berufsverhältnisse der Bevölkerung abhängig ist. Keinen Zweig der
Statistik gibt es, in welchem dies nicht mehrfällig der Fall wäre.
Die Bedenken, welche gegen die Verwendung der allgemeinen Sterbeziffer
(Verhältnis der Sterbfälle zur Gesammtbevölkerung) als Maasstab der Gesundheits-
verhältnisse bestehen, sind jedem Sachkundigen wohl bekannt; gleichwohl macht
sich das Bedürfnis nach einem einfachen kurzen Ausdruck für die Salubritäts-
verhältnisse geltend. Ganz besonders gilt dies für die vergleichende Statistik der
Grosstädte, wo einerseits die störenden Elemente besonders stark vertreten sind
(anormale Altersclassen- und Geschlechtsvertheilung, Belastung mit Sterbefällen
der zu Heilungszwecken zugezogenen Kranken) und andererseits das Interesse
fortlaufender Constatierung der Gesundheitsverhältnisse — damit aber auch der
gegenseitige Xeid auf günstige Zahlen — nicht bloss vom wissenschaftlichen
Standpunkte aus sondern auch aus praktischen geschäftlichen Erwägungen
(Fremdenanziehung!) stark entwickelt ist.
Wir sehen deshalb die Statistiker der Grosstädte wie der Städte überhaupt
und auch die Statistiker solcher Länder, in welchen wie in England auf die
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 329
allgemeine Sterbeziffer besonderer Wert gelegt wird, allenthalben am AVerk ange-
messene Correcturen der allgemeinen Sterbeziffern vorzunehmen, welche
deren Yergleichbarkeit unter dem Gesichtspunkte des Eisicos, welches die
einzelnen Alters- und Geschlechtsclassen laufen, zu gewährleisten geeignet sind.
Die eine Weise dieser Correcturversuche besteht in der oben gelegentlich
eines Vortrages von Ogle bereits erwähnten von diesem und von Körösi gleichzeitig
befürworteten Zugrundelegung einer „Standard-Bevölkerung" mit angenommener
fixer Altersclassen- und Geschlechtsvertheilung. Dieser Vorschlag hat, wenn man
auf eine „Salubritätsziffer" ausgeht, entschiedene Berechtigung. Das Institut hatte
darüber im Schoosse der Commission einen lehrreichen Gedankenaustausch, kam
aber nicht zu definitiver Entscheidung.
Dagegen wurde ein Beschluss, der übrigens inzwischen bereits literarische
Anfechtung erfahren hat, in der zweiten Eichtung der Correcturversuche gefasst,
welche sich auf Entlastung der städtischen Sterblichkeit von den ihr bei Eück-
schlüssen auf die Gesundheitsverhältnisse mit unrecht zur Last gelegten Todes-
fälle beziehen, und mit welchen sich namentlich eingehende Vorschläge Erben's
(Prag) beschäftigt hatten. Es wurde beschlossen, dass in den Grosstädten die
Berechnung der Sterbeziffer auf zw^eierlei Art erfolgen solle: a) Mittelst Ver-
gleichung der thatsächlichen Sterbfälle mit der factischen Bevölkerung, b) mittelst
Ausschluss der Personen, welche von aussen krank in die Hospitäler gekommen
sind, sodann der Irrenhäuser, Gebäranstalten und Gefängnisse, dagegen mit
möglichstem Einschluss der Stadtbewohner, welche auswärts sterben (unter Angabe
der Zahl der letzteren). — Ich halte jeden derartigen Versuch einer mehr oder
minder verkünstelten Eichtigstellung der allgemeinen Sterbeziffer für bedenklich;
nur bezüglich der von aussen in die Krankenanstalten der Stadt gebrachten und
dort Verstorbenen scheint mir eine abgesonderte Behandlung der Sterbefrequenz
gerechtfertigt.
üeber anthropometrische Fragen war auf Veranlassung des Altmeisters
Engel von E. Uhlitzsch, wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im königl. sächs. statist.
Bureau eine Denkschrift ausgearbeitet, welche unter beachtenswerter Behandlung^
insbesondere der Vererbungsfrage schliesslich in dem Vorschlage gipfelte einen
„internationalen Verein für Anthropometrie" durch eine anthropometrische Abtheilung
beim internationalen Institut zu errichten. Es ist ein eigenartiges Zusammen-
treffen, dass Engel gerade wie Quetelet in seinem höheren Lebensalter für
diese vom Gebiet der gesellschafts-wisseuschaftlichen Forschung engeren Sinns
etwas weiter abliegenden Fragen besonders Interesse zeigt. Zu einer sachlichen
Verhandlung über die verschiedenen anthropometrischen Fragen kam man in
Wien übrigens nicht. Man begnügte sich, das anthropometrische Comit^ mit der
vorläufigen Ausarbeitung eines Planes anthropometrischer Untersuchungen zu beauf-
tragen, welche sich auf die verschiedenen Länder und die verschiedenen Ver-
zweigungen des menschlichen Lebens beziehen sollen.
2. Moralstatistik. Ueber die Statistik der Strafrechtspflege hatte
der unermüdliche Bodio einen trefflichen Orientierungs-Bericht erstattet. Er
knüpfte an die älteren Arbeiten der statistischen Congresse an, und bezeichnete
es in zutreffender Weise als Schattenseiten derselben, dass man einerseits bezüglich
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. II. Heft. 22
330 ^^3'^-
des Maasses der geforderten Nachweise über das richtige Maass hinausgegangen
sei, andererseits aber die wichtige Frage der Methode der Erhebung vielfach
vernachlässigt habe. (Tür die Verhandlungen des Petersburger Congresses von
1872 trifft allerdings letzteres wohl nicht zu.) Aus Anlass der Bearbeitung
seines Keferats hat Bodio eine Anfrage bei den wichtigsten statistischen Aemtern
veranlasst, deren, in ausführlicher üebersicht zusammengestellte Ergebnisse seiner-
zeit im Kechenschaftbericht über die Wiener Versammlung mit grossem Interesse
werden entgegengenommen werden. Die wichtigsten Punkte aus Bodio's Eeferat,
dem auch die Commission und das Plenum beitraten, sind folgende:
Der Wunsch nach Herstellung einer international vergleichenden Nomen-
clatur der Delicte wird erneuert. — Es wird betont, dass in der Criminalstatistik
in das volle Detail der Gliederung der abgeurtheilten Reate eingegangen werden
müsse. In den Ausführungen des Berichts tritt Bodio der in der deutschen
Criminalstatistik durchgeführten Auffassung bei, dass die für die Constatierung
der Thatsachen entscheidende Einheit nicht jene des Falles auch nicht des
Delicts sondern des beschuldigten Individuums sein solle. Doch will er keine so
ausschliessliche Beschränkung auf die abgeurtheilten Personen und Delicte, wie
die deutsche Statistik sie bietet, sondern daneben auch noch eingehende Nach-
weise über die überhaupt constatierten Reate, wenn auch für dieselben ein
Thäter nicht zur Aburtheilung zu bringen war. — Bezüglich der Methode wird
die in Italien nach deutschem Muster eingeführte Zählkarte als Urmaterial für
die wichtigsten criminal-statistischen Nachweise, neben gleichzeitiger fortlaufender
Anschreibung sonstiger wissenswerter Vorgänge bei den Gerichten und die
centralisierte Ausbeutung der Zählkarten, empfohlen. Aus den, im übrigen nicht
sehr eingehenden Commissionsverhandlungen ist zu entnehmen, dass in Frankreich,
dessen Criminalstatistik seit vielen Jahrzehnten in wesentlich unveränderter Art
aber durchwegs nach decentralisiertem System bearbeitet wird, anscheinend wenig
Aussicht auf Annahme des rationelleren deutsch-italienischen Systems der Urmaterial-
Gewinnung besteht. — Als Zeitpunkt der Erfassung der criminal-statistischen
Momente wird, gleichfalls nach deutschem Muster, der Eintritt der Rechtskraft
des Urtheils empfohlen. — Bezüglich der für die Abgeurtheilten zu constatierenden
Individualnachweise soll es bei den hierüber vom Institut im Jahre 1889 gefassten
Beschlüssen verbleiben. — Als Specialnachweise, welchen aus criminal-politischen
Rücksichten besondere Berücksichtigung zugewendet werden sollte, werden
bezeichnet: die Wirkungen der gesetzlichen Bestimmungen über die Behandlung
der Rückfälligen, die Untersuchungshaft und die Dauer der Voruntersuchungen;
in den Ausführungen des Referats nimmt Bodio auch Anlass der Strebungen der
Internationalen criminalistischen Vereinigung und ihres ausgezeichneten Vor-
kämpfers, des Prof. Liszt in Halle zu gedenken. Endlich soll in den Jahres-
veröffentlichungen der Aenderungen der Gesetzgebung Erwähnung gethan und ein
Nachweis über die Zuständigkeit der Gerichte gegeben werden.
3. Bildungsstatistik. Levasseur als Geograph und Statistiker ebenso
eifrig wie vielseitig, hat über die Statistik des Primärunterrichts der Ver-
sammlung des Instituts eine ausführliche Arbeit vorgelegt, welche unter der
Bezeichnung „Rapport" zugleich den Versuch einer eingehenden internationalen
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 331
Statistik des Volksschulunterrichts enthält. Von demselben lagen allerdings in
Wien selbst nur die Conclusionen vor, der Eechenschaftsbericht aber wird die
Levasseur'sche Arbeit in ihrer ganzen Ausdehnung und damit eine dankens-
werte Bereicherung unseres internationalen Wissens über das Yolksschulwesen
einer grossen Zahl europäischer Länder (14) bringen. Der erste Theil des
Levasseur'schen Berichtes behandelt der Reihe nach die Statistik des Primär-
unterrichts für die einzelnen Staaten unter gleichzeitiger Berücksichtigung der
geschichtlichen und legislativen Entwicklung, der Regelung der Schulbehörden,
der Finanzen und der Unterrichtsmethoden, und mit Aufführung der einschlägigen
statistischen Publicationen. Im zweiten Theil des Berichtes gibt Levasseur :
1. eine Yergleichung der in den verschiedenen Staaten angewendeten statistischen
Methoden, 2. eine Yergleichung der statistischen Ergebnisse, 3. formulierte Anträge
zur internationalen IJnterrichtsstatistik. Die Yergleichung der statistischen Ergeb-
nisse schliesst sich eng an den ersten Theil der Levasseur'schen Arbeit an.
Auf die Ergebnisse dieses Yersuchs einer internationalen Unterrichtsstatistik möchte
ich hier nicht eingehen; dagegen scheint es mir angezeigt, das Interesse weiterer
Kreise auf jene Ausführungen des Levasseur'schen Berichts zu leiten, welche
ein bisher noch ziemlich vernachlässigtes Capitel, nämlich Methode und Technik
der Unterrichtsstatistik betreffen. Solche Ausführungen kritischer Art enthält der
oben erwähnte Abschnitt des Levasseur'schen Berichts über die Yergleichung
der in den einzelnen Staaten angewendeten Methoden. In dankenswerter Weise
geht Levasseur auf die gerade bei der Unterrichtsstatistik bisher vielfach unter-
schätzte Frage der correcten Beschaffung des Urmaterials ein. In lehrreicher Weise
behandelt er das Wesen der Schulmatrikeln und Schulregister, die Bedeutung
der staatlichen Einflussnahme (in statistischer Hinsicht) auf die Privatschulen, die
Begrenzung des Yolksschulbegriffs und die Classificierung der Schularten. Geradezu
meisterhaft sind die Ausführungen über die Schwierigkeiten der Ermittlung von
Lehrkraft und Lernmasse, d. i. des Bestandes an Lehrern und Schülern. Was
insbesondere die Ermittlung der Schülerzahl anlangt, so führt Levasseur 9 ver-
schiedene Arten derselben an und fasst sein Urtheil schliesslich dahin zusammen,
dass für sich allein keine einzige dieser Ermittlungsarten genüge, sondern dass
man mehrere Ermittlungsweisen combinieren müsse. Die Zahl der während des
Jahres überhaupt Eingeschriebenen bezeichnet das Maximum des Schülerbestandes ;
man soll aber diese Ermittlung beibehalten, obwohl dieser Bestand über dem
Betrag der wirklich in der Schule gewesenen Kinder steht, denn alle anderen
Methoden (durchschnittliche Präsenz, Präsenz an einem Stichtag u. s. w.) ergeben
einen zu geringen Bestand.
Die positiven Yorschläge Levasseurs auf dem Gebiete der internationalen
Unterrichtsstatistik, welche auch vom Plenum gebilligt wurden, sind folgende:
Die Statistik des Elementarunterrichts soll von allen Staaten periodisch,
wenigstens alle 5 Jahre, veröffentlicht werden. Als wesentliche Bestandtheile
dieser Statistik sollen unbeschadet weiterer Sondernachweise der einzelnen Staaten,
angesehen werden:
1. Die Ausgaben für Unterrichtszwecke, mit Unterscheidung der Quellen
(Gemeinde, Provinz, Staat);
22*
382 ^^y^-
2. Zahl der gewöhnlichen Primarschulen, sowie möglichst auch der ergän-
zenden Schulen, sowohl der Fortbildungsschulen für die mehr als 12 Jahre alten
Kinder, als der Anstalten für Kinder unter 6 Jahren, mit Unterscheidung von
Privat- und öffentlichen, Knaben-, Mädchen- und gemischten Schulen.
3. Lehrerzahl, mit angemessenen Unterscheidungen nach den Anstalten, an
denen sie wirken und nach ihrer Qualification.
4. Schülerzahl mit Geschlechtsunterscheidung, und zwar möglichst die
Gesammtzahl der im Lauf des Jahres und der zu einem bestimmten Zeitpunkt
(December) Eingeschriebenen, nach Schularten unterschieden.
5. Bildungsgrad der Eecruten und wenn möglich der Brautleute.
4. Wirtschaftliche Statistik. Die wirtschaftlichen Probleme haben bei
den Erwägungen der Wiener Versammlung des Instituts über praktisch-statistische
Vorschläge die erste Stelle eingenommen. Dass dabei auch Fragen der Arbeiter-
statistik, insbesondere der Lohnstatistik zur Erörterung kamen, entspricht dem
Zuge der Zeit, der in dieser Hinsicht auch schon das Programm dos Londoner
demographischen Congresses beeinflusst hatte. Zu keiner Zeit, wie gerade jetzt,
war das Wachsthum der Ueberzeugung von der ünentbehrlichkeit umfassender
arbeitsstatistischer Erhebungen ein so bedeutendes, wie jetzt. Thatsächlich ist in
der Spanne Zeit, welche seit dem Herbste 1891 verflossen ist, dieses Wachsthum
wiederum ein so bedeutendes gewesen, dass die Berührung der einschlägigen
Probleme auf der Wiener Versammlung des Instituts kaum mehr als Voll- Ausdruck
des Verlangens nach arbeiterstatistischen Erhebungen angesehen werden kann,
wie solches seitdem ein allgemein empfundenes und auch parlamentarisch aner-
kanntes geworden ist. Immerhin aber ist ein Rückblick auf die bezüglichen
Strebungen des Instituts, wie sie hauptsächlich durch die Arbeit des „Comitö du
travail" dargestellt sind, auch jetzt noch von Literesse.
Zunächst sei jedoch der Arbeiten auf dem Gebiete der Statistik des
Grundeigenthums gedacht. Bei den einschlägigen Commissionsberathungen kamen
verschiedene interessante Gesichtspunkte zur Erwägung, ich habe aber gerade als
Theilnehmer an diesen Verhandlungen den Eindruck gewonnen, dass bei der weit-
gehenden Arbeitstheilung im Institut keine genügende Gewähr dafür gegeben
war, dass die verhältnismässig kleine Zahl von Mitgliedern, die sich zur Berathung
zusammenfand, innerhalb der kurzen Berathungsfrist die aufgeworfenen Fragen
vollständig und mit Kenntnis des früher von den statistischen Congressen darüber
Beschlossenen erörtern würde. Die Commission erachtet übrigens ihre Arbeiten
nicht für abgeschlossen, will dieselben vielmehr durch die Einbeziehung von
folgenden drei Fragen ei-^'eitern: I.Statistik der Bodenpreise, 2. Gebäudestatistik,
8. Statistik der Grund- und Gebäudestenern. Die Punkte, deren Berücksichtigung
— mit Zustimmung des Plenums — für die vom Institut befürw'ortete Grund-
eigenthums-Statistik besonders empfohlen werden, betreffen a) die Classificierung
des Grund und Bodens nach der Qualität der Eigenthümer (individuelles oder
■ collectives Eigenthum, letzteres politischer, socialer oder ökonomischer Natur),
b) die Statistik der Bodenpreise (Quellen: namentlich Besitzänderungssteuern;
ausserdem besondere Enqueten, Wertanschläge der directen Steuergesetzgebung,
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 333
Wertbestimmungen von Banken oder durch landwirtschaftliche Gesellschaften),
c) Gebäudestatistik. Darauf bezügliche Mittheilungen sollen im Bulletin abgedruckt
werden; dieses wird beispielsweise eine solche von Sindenbladh für Schweden
bringen (Note sur la valeur des propridtes foncieres en Snede).
Ueber die Arbeiten des ^yComite' du travail", welches sich mit der Statistik
der Löhne und den Lohnzahlungsmethoden beschäftigte, sei Folgendes
hervorgehoben.
Böhmert hatte sachlich sehr eingehende Vorschläge über die Ermittlung
der Lohnverhältnisse der Arbeiter vorgelegt. Das Material der Lohnstatistik sollte
durch die Ausfüllung von Zählkarten für die einzelnen Betriebe und für alle
einzelnen beschäftigten Arbeiter erfolgen. Die Arbeiter-Zählkarte hatte nicht
weniger als 17 Eubriken behufs Aufnahme der Individualangaben, wovon die
letzten über die lohnstatistische Ermittlung insofern hinausgriffen, als auch der
Nebenberuf und das Einkommen daraus, der Grund-, Haus- und Hausthierbesitz,
die Höhe der gezahlten Miete und der Erlös aus Aftervermietang, erfragt werden
sollte. Diese eingehenden Erhebungen aber wollte Böhmert nicht als dun'-h-
greifende Massenbeobachtung, sondern als typische Einzelbeobachtungen durch-
geführt. Zur Befürwortung der Detaüvorschläge Böhmert's konnte sich die
Arbeitscommission des Instituts nicht entschliessen ; dagegen wurden aus denselben
einige Grundgedanken filtriert, welche schliesslich unter Beeinflussung durch den
Gang der Discussion in der Commission und im Plenum von letzterem zum
Beschluss erhoben wurden. Dieselben zeigen meines Erachtens in stärkerem Maasse
noch Spuren der von der eigentlichen durchgreifenden Massenbeobachtung
abgewendeten Vorschläge Böhmert's als es nach dem Inhalt der eingehenden
Vorberathungen, insbesondere für jene Länder, in welchen die moderne Arbeiter-
schutz- und Arbeiterversicherungs - Gesetzgebung eine gewisse — wenn auch
nur dem Staate gegenüber begründete — Publicität von Productionsvorgängen,
insbesondere auf dem Gebiete des Lohnzahlungswesens, zur Folge hat, zu erwarten
gewesen wäre.
Bei der Commissionsberathung kamen verschiedene principielle Gesichts-
punkte zur Sprache. Der vorstehend erwähnte Gegensatz der durchgreifenden
Massenbeobachtung und der monographisch ausgestalteten Einzelbeobachtung
wurde mehrfach erörtert. Man hat dabei den Eindruck, dass eine erhebliche
Anzahl von Mitberathem sich nur darum bei typischer Einzelbeobachtung beruhigen
zu dürfen glaubte, weil man die Möglichkeit bezweifelte, mangels ausdrücklicher
gesetzlicher Grundlage, von Seite der Unternehmer zutreffende Aufschlüsse zu
erhalten. Optimisten — und zwar aufgrund wohlbegründeter Erfahrung — waren
in dieser Hinsicht eigentlich nur die Amerikaner, als Vertreter der Pessimisten
kann der Franzose Cheysson angesehen werden, welcher deshalb die Unter-
suchungen bei den staatlichen oder den staatlich überwachten Betrieben begonnen
sehen möchte, im übrigen die bezüglich der Erfassungsfahigkeit der Löhne in
Deutschland und Gestenreich durch die Arbeiterversicherung gebotenen günstigen
Bedingungen — von welchen Böhmert, der sich nur für seine monographischen
Darstellungen interessierte, ganz geschwiegen hatte — in zutreffender Weise
hervorhob.
334 Mayr.
Bezüglich des Objectes der Beobachtung fand Böhmert die verdiente
allseitige Zustimmung für sein seit Jahren mit anerkennenswerter Beharrlichkeit
festgehaltenes, auch in der Praxis seiner lohnstatistischen Einzelforschungen fest-
gehaltenes Verlangen, dass nicht „sogenannte Durchschnittslöhne", sondern nur
wirklich gezahlte, aus den Lohnbüchern nachweisbare Löhne bestimmter Arbeiter
zu erheben und zur Grundlage statistischer Darstellungen zu nehmen seien.
Bezüglich des Umfangs der Fragestellung hat sich das Institut vorläufig
.einer Meinungsäusserung enthalten; die Böhmert'sche Detaillierung der Frage-
stellung wurde allseitig für wirkliche Massenbeobachtungen, welche die Mehrheit
offenbar w^oUte, wenn sie ihre einschlägige Meinung auch nicht formulierte, als
zu weit gehend erachtet. Es liegt in dieser Hinsicht vorerst ein non liquet vor.
Es ist dies zu bedauern; denn gerade diese Frage hat bei dem allseitigen Auf-
schwung des Interesses für die Arbeiterstatistik eine sehr actuelle Bedeutung. Es
ist schade, dass die Uebersetzung des Programms der Wiener Versammlung des
Instituts nicht gestattet hat die Frage der Arbeiterstatistik gründlich zu erledigen.
Hätte man zuerst die Angelegenheit einer Vorbe'sp rechung im Plenum unterworfen,
und dann in der Commission mit der Detailarbeit sich beschäftigt, so hätte man
vielleicht auch über den Umfang der Fragestellung sich verständigen können.
Auch bezüglich der Methode der Erfragung enthielt sich das Institut einer
durchgreifenden Meinungsäusserung zur Sache, doch sind immerhin zwei Momente
beachtenswert, nämlich die Betonung der Zweckmässigkeit einer Mitbetheiligung
der Arbeiter und der Hinweis auf den Anhalt, welchen die Einrichtung öffentlich-
rechtlicher Arbeiterversicherung ^) bietet.
Sehr ausführliche Erörterung fand in der Commission die Frage, ob die
Bearbeitung der Lohnstatistik besonderen, neu zu schaffenden Arbeitsämtern zu
übertragen sei oder ob es sich empfehle, die bestehenden statistischen Bureaux
damit zu beauftragen. Leider fand diese Frage im Plenum nicht die wünschens-
werte specielle Berücksichtigung; wäre sie nicht im Zusammenhang der Gesammt-
beschlüsse zur Sache, sondern für sich aufgeworfen worden, so hätte sie wahr-
scheinlich noch manche gewichtige Meinungsäusserung von Sachkundigen hervor-
gerufen, welche in der Commission nicht anw^esend sein konnten. In der Commission
sprachen sich hervorragende Vertreter, sowohl der staatswissenschaftlichen Theorie
(z. B. Schmoller), wie der statistischen Praxis (Engel, Böhmert) für die
') Der hierauf bezügliche Satz V. der Beschlüsse (siehe unten) wurde erst auf
meinen Antrag im Plenum in die von der Commission vorgeschlagenen Resolutionen
eingefügt. Leider hatte ich den Commissionsberathungen nur kurze Zeit beiwohnen können,
ersah also erst aus der Feststellung der Commissionsbeschlüsse, dass die Bedeutung des
Materials der Arbeiterversicherung ganz unerwähnt geblieben war, obgleich doch der Referent
Böhmert erst kurz vorher in London bei dem demographischen Congress zu dem hierauf
bezüglichen eingehenden Beschluss des Congresses mitgewirkt hatte. Der Zusatz den ich
beantragte fand allseitige Zustimmung; Cheysson, welcher neben B ö h m e rt als
Referent in französischer Sprache fungierte, hat denselben nachträglich — wie ich aus
den durch B o d i o's Güte mir zur Verfügung gestellten Bürstenabzügen des Compte-Rendu
ersehe — unter die Commissionsanträge selbst, unter ganz zutreffender Motivierung auf-
genommen. — Der thatsächliche Sachveraalt ist aus dem Sitzungsbericht ersichtlich,
welcher in der „Wiener Zeitung" vom 2. October 1891 abgedruckt ist.
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 335
besonderen Arbeitsbureaux aus. Die Sache selbst ist zu wichtig, als dass ich sie
materiell hier am Schlüsse einer ohnedies schon zu lange gewordenen Bericht-
erstattung über internationale Congressarbeit erledigen könnte; wie ich im allge-
meinen zur Sache stehe, ist aus meinen oben erörterten Anträgen auf dem Londoner
demographischen Congress ersichtlich. Für die augenblicklich in verschiedenen
Ländern schwebende Frage der besten Organisation der Arbeiterstatistik ist jeden-
falls der hierüber in Wien stattgehabte Gedankenaustausch von Interesse, um so
mehr ist — ich wiederhole dies — zu bedauern, dass er wegen vielfacher
Abhaltung von Mitgliedern durch anderweitige Commissionsarbeit sich nicht so
erschöpfend gestalten konnte, als es an sich wünschenswert gewesen wäre.
Bei dem hohen Interesse, welches sich an alle Fragen der Lohnstatistik
knüpft, wird es Billigung finden, wenn ich im nachstehenden den Wortlaut der
Beschlüsse des Instituts mittheile:
„Das internationale statistische Institut, auf den Bericht der Arbeits-
commission, in Anerkennung der täglich wachsenden Nothwendigkeit einer guten
Lohnstatistik,
I. ist der Ansicht,
a) dass es zur Aufstellung dieser Statistik nicht genügt, die Durchschnittslöhne
zu ermitteln, sondern dass die jedem Arbeiter wirklich gezahlten Löhne
zu erheben sind;
b) dass man sich nicht damit begnügen darf, Tages- oder Wochenlöhne zu
ermitteln, sondern dass man auch den Betrag der während des Jahres (oder
während einer Campagne bei den mit Unterbrechungen arbeitenden Betrieben)
empfangenen Löhne und die Zahl der Arbeitsstunden im Tag und der
Arbeitstage im Jahr feststellen muss;
c) dass es ausserdem angemessen ist der verschiedenen Lohnzahlungsmethoden
und ihrer Ergänzungen zu gedenken.
n. Das Institut empfiehlt solche Statistiken fortzusetzen oder zu unter-
nehmen, für bestimmte als Typen betrachtete Betriebsstätten und sie zu ergänzen
durch Familien-Monographien, mit Budgets der Einnahmen und Ausgaben, nach
der Methode und dem Schema bereits vorliegender geschätzter Publicationen, damit
die Ergebnisse vergleichbar werden.
ni. Bezüglich der Auswahl der Betriebsstätten empfiehlt das Institut sich
gleichzeitig an diejenigen, welche vom Staat, der Provinz oder den Gemeinden
verwaltet oder überwacht sind, und an diejenigen Privatbetriebe zu wenden, deren
Unternehmer bereit sind, einer solchen Untersuchung sich zu unterziehen und die
zugleich Vertrauen verdienen.
IV. Das Institut empfiehlt überall, wo es möglich ist, die Arbeiter selbst
an dieser Statistik zu interessieren und sie dazu in gewissem Maasse heran-
zuziehen.
V. In den Ländern, in welchen obligatorische Arbeiterversicherung besteht,
empfiehlt das Institut, für die allgemeine Lohnstatistik die aus Anlass der
Versicherungs-Verwdltung erwachsenden Nachweise zu verwerten.
336 ^ay^-
VI. Das Institut spricht endlich den Wunsch aus
a) dass die gelehrten Gesellschaften, welche sich die methodische Ausarbeitung
solcher Statistiken und Monographien zum Zwecke setzen, sich in den
verschiedenen Ländern verbreiten möchten;
b) dass die Eegierungen Arbeitsämter, ähnlich jenen in den Vereinigten Staaten,
einsetzen möchten, insoweit solche noch nicht bestehen, sei es, dass sie
ganz neu als specielle Organe geschaffen werden, sei es, dass die Organi-
sation bestehender statistischer Bureaux dafür verwertet wird.
Nicht bloss mit dem Preis der Arbeit, sondern auch mit den Preisen
im allgemeinen und deren Statistik hat man sich in Wien beschäftigt,
allerdings nicht in so concreter in positive Vorschläge auslaufender Weise als
es bei der Lohnstatistik der Fall war. Das schon früher vom Institut niedergesetzte
Comitö der Preise hatte einen Vorbericht erstattet und darin über verschiedene
literarische Leistungen von Griffen, Foville, Levasseur, v. Inama-Sternegg,
Körösi, Grub er, sowie des Arbeitsbureaus von Massachusetts berichtet. Zwei
Engländer (Martin und Palgrave) waren die Berichterstatter; es ist deshalb
nicht zu verwundern, dass der in England besonders eifrig gepflegten Ermittlung
der sog. „Index numbers", die einen möglichst unveränderlichen Sach-Preismesser
bilden sollen, in hervorragender Weise gedacht wird. Bei den einschlägigen
Commissionsverhandlungen in Wien traten die historischen Preisuntersuchungen
in den Vordergrund, insbesondere gelangte eine Denkschrift von Grub er, welche
Untersuchungen über die historische Statistik der Preise in Italien enthält, zur Ver-
lesung. Dieselbe wird im Eechenschaftsbericht erscheinen. Auch erhielten die Mitglieder
die Tabellen eines von v. Inama-Sternegg's veranlassten, noch nicht im Druck
erschienenen Quellenwerks über „Preise, Löhne, Kaufkraft des Geldes". Das Comite
beschloss seine Arbeiten fortzusetzen; in sachlicher Hinsicht empfiehlt es — was
auch das Plenum billigte — den Statistikern bei allen Preisuntersuchungen auf
die Währungs- und Münzfragen besondere Eücksicht zu nehmen, damit ent-
schieden werden könne, welche von den Gold- oder Silbennünzen zu einer
gegebenen Zeit hervorragenden Einfluss auf die Preisbildung geübt haben.
lieber die sonstigen Arbeiten des Instituts auf wirtschaftsstatistischem
Gebiete glaube ich mich kurz fassen zu sollen.
Dass auf dem Gebiete der vergleichenden Handelsstatistik die Vor-
schläge des Engländers Bateman keinen Anklang fanden, ist bereits oben
dargelegt worden. An positiven principiellen Beschlüssen über diesen Gegenstand
sind zu verzeichnen 1. ein Votum für primäre Ermittlung der Handelswerte durch
Declaration der Betheiligten unter Belassung der officiellen Wertermittlungen zur
Controle, da wo solche bestehen; daran ist der Wunsch gereiht, dass die
Durchführung und Controle dieses Systems durch internationale Vereinbarungen
geregelt werde; 2. die Erklärung, dass es geboten sei, so genau als nur immer
möglich die Länder der ursprünglichen Herkunft und der letzten Bestimmung der
Waren zur Verzeichnung zu bringen. Mit diesen Beschlüssen hat die Commission
über vielumstrittene Principienfragen — allerdings sehr im Gegensatze zu den
Anschauungen ihres Referenten Bateman — Stellung genommen, und das
Plenum hat sich ihr angeschlossen.
Die Statistik auf drei internationalen Congressen des Jahres 1891. 337
Zu Erörterungen im Schoosse der Commissionen, jedoch nicht zu speciellen
Beschlussfassungen des Instituts führten der Bericht Cheysson's über das
Binnenverkehrswesen und jener Kiaer's über die Schiffsmessungs-
methoden.
Die üebersicht der internationalen Zusammenarbeit, welche der Statistik auf
drei internationalen Congressen des Jahres 1891 gewidmet worden ist, lässt
darüber keinen Zweifel, dass die amtlichen und privaten Statistiker der wissen-
schaftlichen Welt eine grosse Anzahl von Eisen im Feuer haben und dass sie
ernstlich bemüht sind, daraus für Praxis und Wissenschaft brauchbare Gebilde zu
gestalten. Ein solcher Ueberblick mannigfaltiger Strebungen ist meines Erachtens
geeignet, die Ueberzeugung zu festigen, dass die Statistik allen entgegenstehenden
Definitionen zum Trotz im Begriffe ist, sich zu einer exacten Gresellschaftslehre
im weitesten Sinne des Wortes, aber doch mit festgeschlossenem Forschungs-
und Wissensgebiete zu entwickeln.
DIE ÖSTERREICHISCHE WÄHRUNG S-EXüUllTE.
VON
PROF. VICTOR MATAJA.
im Zoll- und Handelsbündnisse zwischen den Eeichsrathsländern und
Ungarn in der Fassung vom 27. Mai 1887 hatten sich die beiderseitigen Regie-
rungen laut Art Xn verpflichtet, „unmittelbar nach Abschluss des Zoll- und
Handelsbündnisses eine Commission einzusetzen, zum Zwecke der Berathung jener
vorbereitenden Maassregeln, welche nothwendig sind, um beim Vorhandensein
einer günstigen finanziellen Lage die Herstellung der Barzahlungen in der
Monarchie zu ermöglichen." Nachdem sich der Zusammentritt der Commissionen
— wie man nach der dem Artikel XII zutheil gewordenen Auslegung sagen
muss — durch längere Zeit verzögert hatte, was nach einer im Jahre 1889
geführten Xeitungsfehde zu urtheilen auf das Conto von Ungarn zu setzen ist,
erschien jetzt der Zeitpunkt für jene Verhandlungen gekommen und am 8. März
1. J. versammelfen sich in Wien und Budapest die von den beiderseitigen Finanz-
ministern berufenen Commissionen zur ersten Sitzung. Das den Commissionen
vorgelegte Questionnaire enthielt folgende Fragepunkte, über welche die einzelnen
Experten der Reihe nach einvernommen wurden :
1. Welche Währung soll bei Regelung der Valuta zur Grundlage ge-
nommen werden?
2. Soll für den Fall der Annahme der Goldwährung auch ein contingen-
tierter Umlauf von Courant-Silber zulässig sein, und in welcher Höhe?
3. Wäre ein gewisser Umlauf von jederzeit gegen Courantgeld einlöslichen,
nicht mit Zwangscours ausgestatteten, unverzinslichen Staatscassascheinen zulässig,
und unter welchen Bedingungen?
4. Welche Grundsätze wären für die Umrechnung des bestehenden Guldens
in Gold zur Richtschnur zu nehmen?
5. Welche Münzeinheit wäre zu wählen?
Wie man aus diesem Fragebogen ersieht, handelte es sich — entsprechend
der seit Abschluss des Zoll- und Handelsbündnisses gereiften Situation — nicht
mehr um Berathungen über vorbereitende Maassnahmen im eigentlichen Sinne
des Wortes, sondern über die Grundlagen des künftigen Währungswesens, wes-
halb man auch kurzweg von der „Währungs-Enquete" sprach. Aufgabe des
Die österreichische Währungs-Enquöte. 339
Folgenden ist es, die Ergebnisse der österreichischen Enquete, bei welcher
35 Personen verschiedener Berufskreise (neben Universitätsprofessoren und
Publicisten insbesondere Vertreter des Handels, der Industrie, der Landwirtschaft
und namentlich des Bankwesens) erschienen waren und die ihre Verhandlungen,
bei welchen stets der Finanzminister Dr. Steinbach selbst den Vorsitz geführt
hatte, am 17. März scliloss, so zusammenfassend wie nur möglich zu resümieren.^)
Vorangeschickt sei nur noch, dass der Enquete drei ganz vortrefflich ausgearbeitete
Publicationen (Denkschrift über den Gang der Währungsfrage seit dem Jahre 1867
— Denkschrift über das Papiergeldwesen der österreichisch-ungarischen Monarchie —
Statistische Tabellen zur Währungsfrage der österreichisch-ungarischen Monarchie,
sämmtlich verfasst im k. k. Finanzministerium) vorlagen, deren Wert allseitig
gewürdigt wurde und denen sich dann auch noch eine „Deutsche Uebersetzung
der von dem kön. ungar. Finanzministerium der für den 8. März 1892 einbe-
rufenen Valuta-Enquete vorgelegten .statistischen und synoptischen Tabellen"
anschloss.
Will man den Verlauf der Enqueteverhandlungen kurz charakterisieren, so
ist vor allem hervorzuheben, dass sie sich zu einer grossen Kundgebung für die
Valutaherstellung gestalteten, zu einer Manifestation des Vertrauens in die Macht-
und Hilfsquellen des Staates und seine gegenwärtige Finanzverwaltung, das Unter-
nehmen mit Aussicht auf glücklichen Erfolg beginnen und durchführen zu können.
Die Nachtheile des heutigen Geldwesens von Oesterreich-Ungarn sind eben
so einleuchtend, dass nicht leicht ein Sachkundiger gegen die Umgestaltung des-
selben auftreten kann; bezeichnend dafür ist auch der Umstand, dass in der
Enquete verhältnismässig nur sehr wenig über die Misslichkeiten der gegen-
wärtigen Geldordnung gesprochen wurde, gleichsam als wäre eine weitere Er-
örterung darüber überflüssig. Mmerhin wollen wir hier, um auch dem in die
österreichischen Geldverhältnisse weniger Eingeweihten das Verständnis der
■Währungsverhandlungen zu erleichtern, die hauptsächlichsten Nachtheile andeuten.
Oesterreich-Ungarn befindet sich gegenwärtig, was seine Währung betrifft, im
Zustande voller Isoliertheit, indem durch die 1879 erfolgte Einstellung der freien
Prägung und die Erhebung des Silberguldens auf einen Seltenheitswert (da der
Metallwert desselben sich bei einem Londoner Silberpreis von 40 und dem Cours auf
London von 119, was ungefähr den gegenwärtigen Verhältnissen — Anfang April —
entspricht, auf rund 76 kr. österr. Währ, stellt) jeder Zusammenhang selbst mit
fremder Silberwährung, insoweit eine solche noch besteht, abgeschnitten ist:
weder kann sich fremde Münze in österreichische, noch österreichische in fremde
(wegen des künstlichen Wertes der ersteren) verwandeln. Der Verkehr ist erfüllt
von uneinlöslichem Papiergeld, in Staats- und Banknoten bestehend, ein Credit-
geld gleichsam zur zweiten Potenz erhoben, da es ein Geld, den Silbergulden,
*) Zur leichteren Vergleichung mit den Originalausführungen werden in Klammem
die bezüglichen Seitenzahlen der „Stenographischen Protokolle über die vom
8. bis 17. März 1892 abgehaltenen Sitzungen der nach Wien einberufenen
Währungs-Enquete-Commission" (Wien, 1892) beigesetzt.
340 Mataja.
vertritt, der auch seinerseits keinen ausreichenden Metallwert in sich trägt, ein Ver-
hältnis, das sich je nach Entwicklung der Silberfrage sogar leicht noch erheblich
verschlimmeni könnte. Oesterreich-Ungarn ist der Möglichkeit beraubt, Disparitäten
der Zahlungsbilanz durch Geldsendungen auszugleichen, beziehungsweise einzuziehen.
(Prof. Carl Menger, 197.) Auch rechtlich gibt der heutige Zustand zu verschiedenen
ernsten Bedenken Anlass, wie der ebengenannte Experte überzeugend ausführte (198):
die freie Silberprägung ist 1879 durch einfachen Auftrag der beiderseitigen Finanz-
ministerien an die Münzstätten eingestellt worden und es besteht kaum ein
Zweifel, dass die Eegierungen die Wiederaufnahme der Prägungen auf dem näm-
lichen Wege wieder einzuführen vermöchten; in der Hand jedes einzelnen der
beiden Finanzministerien ist es daher gelegen, eine Verschiebung des Geldwertes
— nach den gegenwärtigen Verhältnissen von circa 25 Proc. — zu provocieren.
Selbstverständlich könnte dasselbe Resultat auch durch ausgiebige, finanziell
zunächst einträgliche Silberausprägung auf Rechnung des Staates entstehen und
sei immerhin daran erinnert, dass trotz mancher warnenden Stimme (darunter
derjenigen der österreichisch-ungarischen Bank) selbst in normalen Zeiten die Aus-
prägung eines bestimmten Silberquantums für staatliche Rechnung nicht unter-
lassen wurde, eines Quantums, das freilich nicht gross genug war um eine
fühlbare Einwirkung auf den Verkehrswert des Geldes zu äussern. Bietet ferner
das heutige Geldwesen vermöge des grossen Bestandes an uneinlöslichem Papiergeld
beim Eintritt gewisser Eventualitäten die Gefahr einer Wiederkehr des Silberagios
dar, so ist auch das nicht zu übersehen, dass es auf der anderen Seite aber auch
der ruhigen normalen Entwickelung der Volkswirtschaft nicht genügt, indem dem
steigenden Geldbedarf des Verkehrs keine wachsende, und zwar genau den Bedürf-
nissen desselben angepasste, weil sich selbstthätig regulierende Geldmenge zur
Verfugung steht. Bisher wurde Abhilfe getroffen theils durch die erwähnten Silber-
ausprägungen, theils (1887) durch eine Revision der Bankstatuten, theils durch
Erweiterung des Staatsnotenumlaufes auf Kosten der sogenannten Salinenscheine
(Ges. vom 24. December 1867). Alle diese Maassnahmen sind aber der Natur der
Sache nach auf die Dauer unzulänglich, indem eine starke Silberausprägung sich
aus verschiedenen Gründen höchst bedenklich darstellen würde, einer weiteren
Erleichterung der Deckungsvorschriften für die Banknoten doch sicherlich enge
Grenzen gezogen sind und einer Vermehrung der Staatsnoten über den ohnehin bald
erreichten Maximalbetrag von 412 Millionen niemand das Wort reden kann.
Thatsächlich weist auch jetzt schon die österreichische Valuta eine belangreiche
Wertsteigerung auf, indem sie sich nicht nur losgelöst hat vom Preisrückgang
des Silbers, sondern seit 1887 auch wesentlich dem Gold gegenüber gewonnen
hat, in welcher Bewegung nach aufwärts nur in der letzten Zeit ein Rückschlag
eingetreten ist, bei dem aber sicherlich gewisse, ausserhalb der gewöhnlichen
Marktbewegung gelegene Einflüsse in Hinblick auf die bevorstehende Valuta-
regelung ins Spiel kommen, wie wiederholt bei der Enquete bemerkt wurde (61,
137, 232, 266, 275). Oesterreich ist eben auch bei der allergünstigsten Bilanz
des auswärtigen Verkehrs gegen Einströmen fremden Geldes zur Behinderung des
Fallens der Wechselcourse abgeschlossen. Bei der Enquete hat Dr. Hertzka die
jährliche Wertzunahme des österreichischen Geldes, von Störungen abgesehen, auf
Die österreichische Währungs-Enquöte, 341
IY2 Proc. geschätzt und bemerkt, dass beiläufig in einem Menschenalter der
Wechselcours auf London etwa auf 60 (statt gegenwärtig circa 119) stehen
würde (96). — Diese Annahme mag ja viel zu weit gehen und den möglichen
Hemmnissen dieser Wertsteigerung nicht genügend Rechnung tragen, aber die
Richtigkeit des Princips^) scheint mir schon durch die bisherige Erfahrung
bestätigt. (Vergl. jedoch Prof. Menger, 214). Endlich sei noch auf ein inter-
^) Der Annahme einer voraussichtlichen Wertsteigerung des österreichischen Geldes
bei normaler Entwickelung der Volkswirtschaft infolge der Unthunlichkeit, die Menge
des Geldes auf rationelle Weise mit dem steigenden Bedarf in üebereinstimmung zu
bringen, wird wohl der Hinweis auf die Silberausprägung und die Banknotenemission
entgegengesetzt. Was erstere anbelangt, so wird aber wohl Niemand, so bald die
Yalutaregelung überhaupt nicht aufgegeben oder, wenn aufgeschoben, in einer geradezu
unübersehbaren Weise erschwert werden soll, einer fortgesetzten starken Neuemission
von Silbergulden das Wort reden können. Was die vermehrte Ausgabe von Banknoten
anbetriift, so ist daran zu erinnern, dass nach dem für das Notenwesen angenommenen
Contingentierungsprincip die Bank nur das Recht besitzt, steuerfrei eine metallisch nicht
gedeckte Summe von 200 oder genau gesagt von 230 Mill. Gulden zu emittieren, d. i.
ohnehin schon so viel wie sämmtliche deutsche Notenbanken zusammen (385 Mill. Mark).
Angenommen, dass es nicht opportun ist, das Contingent überhaupt oder gar wesentlich
zu erweitern, bliebe somit nur ein Mittel übrig, den Notenumlauf zu steigern, d. i. eine
dieser Steigerung correspondierende Erhöhung des Barschatzes. Diese Erhöhung wäre
wiederum möglich durch Aufnahme von Silbergulden in denselben (was dann keine
eigentliche Vermehrung des GeldvoiTathes bedeuten könnte, da dem Verkehre eine äqui-
valente Menge anderen Geldes dadurch entzogen würde), von ungeprägtem Silber (was
eine nur illusorische Notendeckung wäre), endlich von Gold. Berechnet man die Gold-
deckung mit einem hinter dem jeweiligen Course zurückbleibenden Wert, so verliert die
Bank bei der Mehremission von Noten, weil sie dann ein höherwertiges Capital in ihren
Gassen verschliessen muss, als sie hiefür an Noten ausgeben kann. Gestattet man eine
Notenemission nach Maassgabe des Courswertes des hinterlegten Goldes, dann würde die
Bank aus der Mehremission zwar noch immer nichts gewinnen, aber doch wenigstens
nichts direct verlieren; es wäre dies aber ein Verfahren, das auf berechtigten Wider-
spruch stossen und bei jeder Coursänderung das Deckungsverhältnis der Noten alterieren
würde. Thatsächlich ist auch der übrigens durch besondere Verhältnisse seinerzeit hervor-
gerufene Bestand an Gold (und Golddevisen) seit Langem ein stabiler. Der Geldbedarf
der Monarchie, deren Geschäftsleben zunimmt, in welcher das Papiergeldwesen dem
Giro- und Checkverkehr ein nicht zu unterschätzendes Hemmnis bereitet und weite Kreise
sich erst der eigentlichen Geldwirtschaft erschliessen, ist aber naturgemäss ziemlich rasch
wachsend. Es betrug, wenn wir die drei charakteristischen Jahre 1878 (Vorjahr der
Einstellung der freien Silberprägung), 1887 (Tiefstand der österreichischen Valuta gegen
Gold) und 1891 hervorheben:
Der Banknotenumlauf Metallschatz davon Silber
(einschl. Golddevisen)
Ende 1878 288-8 165'4 86-5 Mill. Gulden
„ 1887 391-1 224-3 145-1
„ 1891 455-2 245-9 166-6
Der niederste Stand des Banknotenumlaufes war im Jahre
1888 346-1 Mill. Gulden
1891 392-8 „
mit einer Metalldeckung (nach Abzug der im Besitze der Bank befindlichen Staatsnoten)
von 65-68, beziehungsweise 62-73%, was deshalb erwähnt sei, weil der Banknotenumlauf
Ende 1891 verhältnismässig hoch war, jedoch nicht der höchste dieses Jahres, welcher
vielmehr 466'7 Millionen Gulden betrug.
342 Mataja.
essantes, der Charakterisierung unseres Geldwesens dienendes Detail aufmerksam
gemacht, welches der Experte v. Lindheim (138) beibrachte: die französische
Börsenkrise von 1882 äusserte sich kräftiger auf die österreichischen, als auf die
französischen Effecten, so empfindlich ist der Geldmarkt in Betreff der öster-
reichischen "Werte.
Der Staatsnotenamlauf war
Ende 1878 364 Mill. Gulden
„ 1887 337-4 „
„ 1891 378-8 „
Der Staats- und Banknotenumlauf ergibt zusammen noch nicht vollständig die
wirkliche Vermehrung des Geldumlaufes, indem jenes neu ausgeprägte Silber, welches
nicht in die Bank geströmt ist und damit eine Erhöhung der Notenemission bewirkte,
sondern sich im Verkehre erhielt, soweit es nicht bloss zur Deckung von Abgängen durch
Verluste, Einschmelzung etc. diente, noch in Anschlag zu bringen wäre; wir kennen diese
Ziffer jedoch nicht und wissen bloss, dass weit mehr ausgeprägt worden ist, als die Ver-
mehrung des Silberschatzes der Bank ausmacht. Lassen wir daher das Silber ganz bei
Seite und beschränken wir uns bloss darauf, die Banknotenvermehrung voll in Rechnung
zu stellen ohne Abzug für die aus dem Verkehre geschöpfte Vermehrung des Silber-
schatzes der Bank, so war der Bank- und Staatsnotenumlauf zusammen :
Ende 1878 652-8 Mill. Gulden
,, 1887 728-5 „
„ 1891 834-0 „
was in den dreizehn Jahren (immer abgesehen von einer Vermehrung des Silbergeldes
im Verkehre) einen Geldzuwachs von 181-2 Mill. Gulden ergibt, der namentlich
1887—1891 rapid gewesen ist. Die Epoche nach 1887 bis 1891 ist auch jene der wesent-
lichen Besserung der österreichischen Valuta gegenüber dem Gold. Während nun in
Ländern mit geordneter Währung eine Geldknappheit und relative Geldvertheuerung im
Vergleiche zum Ausland, was sich an günstigen Wechselcoursen zeigt (die ja nichts
anderes sind als der Ausdruck des Wertverhältnisses des Geldes in einem Staate zu dem in
einem andern) zu Edelmetallströmungen und damit zu einem Ausgleich führt, ist dies
hinsichtlich Oesterreich-Ungarns ausgeschlossen; dieselben Umstände, die anderswo zu
einer massigen Abweichung der Wechselcourse vom Paristande und Vermehrung des
Metallbesitzes führen, bewirken hier eine namhafte Steigerung des Geldwertes, die sich
in einer wesentlichen Aenderung der Wechselcourse (und deren hier nicht näher zu
erörternden Folgen) äussert. Wird dort der Geldbesitz extensiv, so wird er hier intensiv
gesteigert. Wenn nun das in Oesterreich-Ungarn seit 1878 (über die allerletzte Zeit siehe
die Bemerkung oben im Texte) der Fall war trotz der namhaften Vermehrung des Geld-
besitzes selbst, so zeugt das für die Stärke der Tendenz, welche bewirkt hat, dass die
österreichische Valuta 1878 — 91, wenn auch nicht gänzlich unabhängig vom Silberpreis
geworden (s. Enquete, 213) doch den Rückgang desselben überwunden und sich sogar
gegenüber dem Gold positiv gehoben hat. Sollte der Geldbedarf in der Folge gleichmässig
weiter steigen, so könnte allerdings auch beim Fortbestände der gegenwärtigen Währung
noch durch weitere Erleichterungen der Bankstatuten eine Abhilfe geboten werden; ob
aber diese Erleichterungen rationeller Weise in genügendem Maasse gewährt werden
können, ist sehr zu bezweifeln.
Die Annahme, dass die österreichische Valuta bei ihrer Abgeschlossenheit voraus-
sichtlich auch in Zukunft an Wert steigen werde, wird auch von praktischen Finanzmännern
getheilt. (Elbogen 77, Lieben 126). — Diese Erörterungen haben selbst wenn
es, wie zu hoffen, jetzt glückt die Valutaoperation durchzuführen, kein blosses theo-
retisches Interesse, weil sie dazu dienen, die Nothwendigkeit der Valutaregelung
zu begründen, und später für die Abwehr, von bei solchen Gelegenheiten nie fehlenden
Recriminationen von Wert sein können.
Die österreichische Währungs-Enquete. 343
Nach dieser kleinen Abschwieifung' gelangen wir zur eigentlichen Aufgabe
der Währungs-Enquete: zur Formulierung der wünschenswerten Reform.
Erste Frage. Welche Währung soll bei Regelung der Valuta zur
Grundlage genommen werden?
Hier finden wir das bemerkenswerte Resultat, dass einstimmig nicht nur
die Valutaregelung überhaupt, sondern auch der üebergang zur Goldwährung
empfohlen wurde. Es ist zwar richtig, dass mehrere Enquete-Mitglieder von
Besorgnissen der Bevölkerung gegenüber der Valutaherstellung zu berichten wussten,
so aus Böhmen, Galizien, Oberösterreich (35, 40, 65, 68, 192), aber immerhin
gelangte keiner zu einem schlechtweg ablehnenden Votum und gerade ein Experte,
den man srewissermaassen als einen Vertreter der Landbevölkerung ansehen kann,
Abt Schachinge r, erklärte unter grossem Beifall der Versammlung, dass er zwar
als Gegner der Goldwährung gekommen, es aber infolge der gehörten Darlegungen
nicht mehr sei (66).
Allerdings zeigte sich auch eine kleine bimetallistische Schilderhebung, zum
Theile aber so gedämpft, dass man hierin kaum mehr als eine Reminiscenz an
frühere Zeiten erblicken kann, so beim Eisenwerksbesitzer Bondy (36). Ener-
gisch wurde jedoch der bimetallistische Standpunkt durch Prof. v. Milewski
aus Krakau vertreten, wenngleich auch dieser in seinen praktischen Conclusionen
zur Einführung der Goldwährung (freilich der hinkenden Währung, wie jedoch viele
Vertreter der Goldwährung überhaupt) gelangte (175 ff., 186), nur eingeschränkt
durch die von ihm allerdings an die Spitze gestellte Forderung eines Versuches,
eine bimetallistische Vereinigung zu Stande zu bringen. (Ausserdem bekannten
sich als Bimetallisten Prof. Pilat aus Lemberg und Dr. Nava, Generalsecretär
der ersten österr. Sparcasse in W^ien, 191 und 229). Prof. v. Milewski, welcher
bereits- als Schriftsteller in der Währungsfrage hervorgetreten ist^), löste
die schwierige Aufgabe, in einer der Goldwährung so zugeneigten Versammlung
die Absichten und Anschauungen der Bimetallisten darzulegen, in ausgezeichneter
fesselnder Weise und mit jener Sachkenntnis, welche eben die langjährige eifrige
Beschäftigung mit dem Währungsproblem verleiht. Sein Auftreten gereichte der
Enquete entschieden zum Vortheil, sowohl im Interesse der Klarstellung des
complicierten, vielfach unterschätzten Währungsproblems als auch durch die
rückhaltslose Betonung der Schwächen der monometallischen Lösung dieser Frage,
die zu kennen und zu mirdigen gerade bei einem Versuch in letzterer Richtung
hohe praktische Bedeutung hat. Referent will die eingehenden und gehaltvollen
Ausführungen Milewski 's gewiss nicht in ein paar Zeilen kritisieren und sie
damit als abgethan ansehen, es wäre dies ein grobes unrecht; aber immerhin
will er den Eindruck nicht verhehlen, dass es ihm wünschenswert erschienen
wäre, wenn dem kritischen, gegen die Goldwährung gerichteten Theile des Vor-
trages eine gleich eindrucksvolle positive Ausführung über die Durchführbarkeit
der internationalen Doppelwährung ohne Beschränkung, beziehungsweise Monopo-
lisierung der Silbei-production und ohne Gefährdung des Geldwertes durch die
1) Stosunek wartocsi zlota do srebra. (Das Wertverhältnis zwischen Gold und
Silber). Krakau 1891. Eine kurze Inhaltsangabe daraus in deutscher Sprache findet sich
im Anzeiger der Akademie der Wissenschaften in Krakau, Januar 1891.
344 Mataja.
bedingungslose Einführung der ungeheuren Silbermassen in das Courantgeld gefolgt
wäre. Möge bezüglich des letzten Punktes nur an die Bemerkung des Bimetallisten
Pierson erinnert werden: „Die nüchterne Wahrheit, welche man auf Grund
der Erfahrung feststellen muss, ist, dass Wertverminderung des Geldes noch
nachtheiliger wirkt als Werterhöhung" (Grondbeginselen ni. und Leerboek I.
550). Eine eigentliche schrittweise Bekämpfung der Ausführungen Milewski's
erfolgte bei der Enquete nicht; Prof. Meng er nahm jedoch Anlass seine Stellung
gegenüber dem internationalen Bimetallismus zu kennzeichnen. Die Durchführung
desselben unter den heutigen Verhältnissen würde nach ihm ein bisher in keiner
Weise erprobtes Experiment darstellen, er würde die Gefahr eines Sturzes des
allgemeinen Geldwertes und einer dauernden Tendenz desselben zum Sinken
erzeugen, und sprach sich Menger demgemäss nur für internationale Maass-
nahmen zur Beseitigung oder doch Milderung der Uebelstände der aber doch
Ton überwiegenden Yortheilen begleiteten Goldwährung (insbesondere in Betreff
der Zulassung von auf kleinere Wertstufen lautenden Banknoten und eines
contingentierten Silbercourantumlaufes) aus. (200).
Umgekehrt hielten die eingehendsten Plaidoyers zu Gunsten der Gold-
währung die Experten Benedikt,, Herausgeber der „Neuen freien Presse" (15 fg.)
und Hertzka, der Verfasser „Freilands" etc. (93 fg.), während die anderen
Experten zumeist nur einzelne Punkte der Währungsfrage berührten.
Wie schon bemerkt, herrschte ein dem Währungs Wechsel sehr günstige
Stimmung. Einzelne Experten sahen sich sogar veranlasst ausdmcklich den gegen-
wärtigen Zeitpunkt als einen für die Reform sehr günstigen zu bezeichnen. So
verwies Handelskammerrath v. Lindheim auf die geordnete Finanzlage des
Eeiches, den niedrigen Zinsfuss der Gegenwart, die günstige Gestaltung der
gegenwärtigen Handelsbilanz (137); man sehe auch die Ausfühningen von Thors ch
(272), welcher Experte vermöge seiner hervorragenden Stellung im Edelmetall-
handel grosse Beachtung verdient, die von Zgurski, Director der galizischen
Landesbank, über die Entwicklung seiner Heimatprovinz, Galiziens (68), von Prof.
Bräf (Prag) gegen die Hinausschiebung der Reform (40) und A. Freilich fehlte
es auch nicht an Stimmen, welche zurückhaltender klangen. Hierher gehört
insbesondere Nava, Generalsecretär der ersten österr. Sparcasse, welcher das
heutige sog. Goldagio zu hoch fand, und glaubte, es sei mit der Währungs-
reform lieber zuzuwarten, bis dieses Agio gesunken sei. (228, 235). Taussig,
Director der Bodencreditanstalt und Präsident der österr.-ungar. Staatseisenbahn-
Gesellschaft, war der Ansicht, dass es zweckmässig wäre, die Action zu theilen
und vorerst die Herstellung der metallischen Grundlage für die Währung, sowie
die Fundierung, nicht die Einziehung der im Umlaufe befindlichen Staatsnoten
in Angriff zu nehmen, die Lösung der Frage der Aufnahme der Barzahlungen
jedoch und der damit zusammenhängenden Probleme einem Zeitpunkt zu über-
lassen, in welchem der erste Theil der Action durchgeführt oder wenigstens m
seiner Durchführung vollständig gesichert sein wird (259, 260).
Insbesondere kehrte die Frage, ob und inwieweit der gegenwärtige Zeit-
punkt als günstig für die Reform zu gelten habe, bei Erörterung der Verhält-
nisse für die Goldbeschaffung wieder. Viele Experten sahen die Lage hiefür
Die Österreichische Währungs-Enquete. 345
als sehr günstig an. Der Director des Wiener Bankvereines, Bauer, erklärte
auf Grund verlässlicher Informationen von Finanzmännern Deutschlands, Englands
und Frankreichs, welche auf dem internationalen Edelmetallmarkte eine hervor-
ragende Stellung einnehmen, dass die Beschaffung jener Groldmenge, welche
zur Einführung der Goldwährung in Oesterreich-Ungarn nothwendig ist, ohne
ernste Schwierigkeiten durchgeführt werden kann, dass dieser Theil der Operation
bei besonnenem, vorsichtigem, schrittweisem Vorgehen nirgends auf ernstliche
Hindernisse stossen wird (4). Benedikt verwies auf die Währungsgeschichte der
jüngsten Zeit, welche ergebe, dass so viele Staaten in der Lage waren, sich das
Gold zu beschaffen, ohne dass eine heftige Störung des Weltmarktes oder eine
Krise eingetreten wäre; warum sollte gerade für 0 esterreich ein Goldmangel
bestehen? (20) Elbogen, Präsident der Anglo-österreichischen Bank, bemerkte,
dass im praktischen Leben Fälle vorkämen, wo Gold leichter zu haben sei als
Silber, wie das Beispiel der Valutaregulierung in Italien beweise, wo das bezüg-
liche Consortium genöthigt war an die italienische Kegierung das Ersuchen zu
richten, einen grösseren Theil der Summe, welche es in Silber zu liefern hatte,
in Gold liefern zu dürfen (73). Am weitesten gieng Hertzka, welcher die Frage
der Goldbeschaffung eine durchaus österreichische nannte, von welcher die ganze
übrige Welt nichts gewusst habe. Noch niemals sei es einem Volke eingefallen,
in Zweifel zu setzen, ob es sich Gold verschaffen könne, wenn es dasselbe zu
bezahlen in der Lage war. Die Anleihe werde doch in Europa aufgelegt und da
bekomme man gar nichts anderes als Gold. Wenn in der That auf ausländischen
Geldplätzen vorübergehend Angst vor der Valutaoperation vorhanden gewesen sei^
so habe dies auf einem Missverständnis beruht: man habe sich dort gar nicht
vor der Goldbeschaffung, sondern vor der Silberabstossung gefürchtet (97 — 102).
Vorsichtiger als diese Stimme klang die des Experten Ritter v. Mauthner,
Director der Creditanstalt. Er glaubte, dass die Chancen der Monarchie, einen
Platz unter der Golddecke zu gewinnen, kaum günstiger werden dürften als
sie heute sind. England, Deutschland, Frankreich und Belgien, führte
er weiter aus, sind gegenwärtig mit Gold gesättigt, die Währungspolitik der
nordamerikanischen Union ist eine solche, dass seit längerer Zeit sich mehr oder
minder ein reichlicher Goldstrom nach Europa ergiesst, andere Staaten, die der
südeuropäischen Halbinseln, haben zwar den dringenden Wunsch ihren Gold-
bestand zu stärken, doch machen es ihre Verhältnisse höchst unwahrscheinlich,
dass sie in absehbarer Zeit als Concurrenten auf dem Geldmarkte erscheinen,
Russland wird bei dem grossen Ausfall in seinem Export dieses und höchst
wahrscheinlich auch des künftigen Jahres den grössten Theil seiner bestehenden,
allerdings bedeutenden Goldguthabungen im Ausland zur Bezahlung der Zinsen
seiner grossen Goldschuld verwenden müssen. Die Goldbeschaffung ist weder, wie
die Einen sagen, eine keinerlei Schwierigkeiten bietende einfache Bankoperation, noch,
wie man vor kurzem im Ausland gesagt hatte, eine Unmöglichkeit. Die ersten fünfzig
bis hundert Millionen Gulden werden so leicht beschafft werden, wie die Optimisten
es glauben, dann werden die Schwierigkeiten beginnen. Fraglich ist es natürlich
nicht, dass, wie gesagt wurde, wenn jemand ein Guthaben bei der Bank von
England besitzt, er sich gegen dieses Guthaben Gold beschaffen kann. Es besteht
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. II. Heft. 23
346 Mataja.
aber die Frage, ob die Bank von England nicht mächtig genug ist, um uns zu
hindern, uns das Gutliaben in der nöthigen Höhe zu beschaffen. Die Lage der
auswärtigen Effectenmärkte ist heute nicht so, dass über diese Frage kein Zweifel
bestehen kann. Vor einigen Jahren verschlangen wirklich die Effectenmärkte,
beziehungsweise das Publicum, gierig alles, was man ihnen vorsetzte; so steht aber
die Sache heute nicht mehr und die Bank von England mit ihrer den Weltmarkt
beherrschenden Zinsfusspolitik ist ein Factor, mit dem man ernstlich rechnen
muss. Die Operation muss also zielbewusst in Angriff genommen und dem Aus-
lande Beruhigung gew^ährt werden, dass man seine Interessen nicht rücksichtslos
beiseite schieben will (163, 164).
In ähnlicher Weise wurde vielfach die Nothwendigkeit vorsichtigen, all-
mählichen Vorgehens betont (21, 60, 73, 204, 226, 240, 248). Menger verwarf
insbesondere das Argument (127, 138), dass, weil sogar Länder wie Eumänien und
die Türkei sich das nöthige Gold zu ihrer Valutareform verschaffen und
erhalten konnten, auch Oesterreich-Ungarn dies zu thun vermöchte. Umgekehrt,
meinte er, gerade weil Oesterreich gross und diesen Staaten überlegen ist und
seine Nachfrage daher ganz andere Quantitäten Gold betrifft, sei seine Aufgabe
unendlich schwieriger. Gold könne man freilich wie jede andere Ware kaufen,
wenn man es bezahlen kann; aber hier handle es sich um eine besondere
Ware, um Gold zu einer Münzregulierung, das nicht theurer werden darf,
andernfalls man nicht schon jetzt die Wertrelation fesstellen dürfe (203).
Wie viel Gold wird Oesterreich-Ungarn brauchen? Die Frage ist
natürlich anders zu beantworten, je nachdem man den Goldbetrag ins Auge
fasst, welchen der Staat zu beschaffen haben wird, um die gegenwärtigen Geld-
zeichen einzulösen, oder, wenn man den Bedarf der künftigen Geldcirculation
veranschlagen will. In beiden Fällen, die nicht von allen Experten klar genug
auseinandergehalten wurden, kommt jedoch in Betracht, wie man sich den
künftigen Bestand an Scheidemünze und die Frage des Silbercourants sowie der
Staatscassenscheine geordnet denkt. Hahn, Generaldirector der Länderbank,
bezeichnete eine Summe von 400 Mill. Gulden (ohne den heutigen Goldbestand
der Bank) als diejenige, bei der man mit Beruhigung die Barzahlungen auf-
nehmen könne (83). Dub, Procurist des Hauses Eothschild, dem angesichts
dieser Stellung mit besonderer Aufmerksamkeit zuzuhören aller Anlass vorhanden
war, fand eine Summe von 400 Mill. Gulden für zu gering, besonders mit Kück-
sicht auf den Umstand, dass sich gerade im Anfang, W'O das Publicum noch
nicht daran gewöhnt ist, für seine Banknoten Gold zu erhalten, der Andrang an
den Bankcassen heftiger gestalten wird; er glaubte, dass mindestens 50 Mill.
Pfund Sterling, vielleicht 600 Mill. Gulden neue Währung, einschhesslich dessen,
was sich im Lande befindet, nicht zu hoch geschätzt wäre, um allen Eventualitäten
gerecht zu werden (83). Menger gelangte zur gleichen Ziffer von 600 Mill.,
zog jedoch von diesem Erfordernis den Goldbesitz der beiden Kegierungen und
der Bank = 54.000 Kilo ab, so dass er, den künftigen Goldgulden mit
0*6 Gramm Feingold angenommen, die Beschaffung von 306.000 Kilo Gold für
nöthig hielt, d. i. je nach der Schätzung des monetarischen Goldvorrathes der Welt
der sechzehnte oder achtzehnte Theil desselben (202). Lindheim sprach von einem
Die üsterreiclnsclie Währungs-Enquete. 347
Goldbedarf von 500 MilL, wovon noch der Bestand der Bank und die bereits
angeschafften Goldmengen in Abgang kämen (138), Pfeiffer, Präsident des
Giro- und Cassenvereines, von 500 Mill. ohne einen solchen Abzug (240).
Hertzka bezifferte das Valutaanlehen mit 312 Mill. Gulden im Maximum, den
Goldbetrag zur Etablierung der Goldvaluta insgesammt auf 500 Mill. Gulden der
neuen österr.-ung. Währ. (100, 101.)
Vieles wurde auch über die Frage der Golderhaltung vorgebracht.
Professor Sax (Prag) machte, um in diese Frage grössere Klarheit zu bringen,
eine sorgsame und interessante Berechnung über Oesterreich-Ungarns Zahlungs-
bilanz. Mit Kücksicht auf die Handelsbilanz, den muthmaasslichen Besitz des
Auslandes an österreichischen und ungarischen Effecten, das Frachtgeschäft etc.
gelangte er zu dem Schlüsse, dass Oesterreich-Ungarn eine active Zahlungsbilanz
besitze, deren Saldo mindestens 35, wahrscheinlich aber 40 bis 50 MilL Gulden
betrage (249 — 253, siehe die kleine Richtigstellung: 268, wo von 35 bis
40 Mill. Activsaldo die Eede ist). Taussig polemisierte gegen diese Aufstellung;
er selbst nahm die Verschuldung Oesterreich-Ungarns ans Ausland mit 4 Milli-
arden an (ungerechnet die Privatverpflichtungen, aber auch ohne Abzug für den
inländischen Besitz an fremden Papieren) eine Schuld, deren Verzinsung und
theilweise Amortisation jährlich eine so grosse Ziffer in Anspruch nimmt, dass
man sich über die gegen optimistische Anschauungen geäusserten Zweifel nicht
allzuleicht hinwegsetzen darf (259, 268). Benedikt bemerkte hingegen, dass
der Saldo der Handelsbilanz mehr als 200 Mill. Gulden ausmachen dürfte
(gemäss dem Ergebnis von 1890 und einer Correctur an den officiellen Ziffern)
und meinte, dass dieser Saldo mehr als hinreichend sei, um die aus der
Zahlungsbilanz i. e. S. erwachsenden Verpflichtungen zu erfüllen. Dass
Oesterreichs Bilanz im ganzen activ sei, folgerte er daraus, dass es eine grosse
Aufnahmsfähigkeit für seine Effecten besitzt und somit Schulden zurückzahlt,
ohne dass der Wechselcours eine steigende Tendenz verräth. Ein Land mit activer
Zahlungsbilanz habe aber die Frage der Goldbehauptung nicht zu fürchten (23, 24).
Auch jene Vorstellung, dass das Ausland, welches Forderungen an Oesterreich
besitzt, durch Eealisierung derselben stets die Kraft habe, das Gold an sich zu
ziehen, wurde von Benedikt verworfen. Die Eückströmung der Effecten, meint
er, ist nichts anderes als der Verkauf derselben. Man kann aber nur dann verkaufen,
wenn ein Käufer vorhanden ist. Mit anderen Worten, das Maass der Eückströmung
richtet sich nicht allein nach dem Passivsaldo der Zahlungsbilanz, sondern
auch nach der Aufnahmsfähigkeit des Inlandes, d. h. nach der Summe
des für Effectenkäufe verfügbaren Capitals und Credits. Sind die Verhältnisse im
Schuldnerlande derart, um Misstrauen und damit eine Tendenz zur Eückströmung
zu erzeugen, so werden aber aus den gleichen Ursachen, welche in dieser Hin-
sicht auf das Ausland einwirken, sich Capital und Credit des Inlandes für
') Diese Correctur an den officiellen Ziffern, welche gar nicht zu beanständen ist,
beruHt auf der Erwägung, dass in den amtlichen Ausweisen die Ausfuhr zu niedrig, die
Einfuhr zu hoch bewertet erscheine. Dieser Fehler mache, wie Benedikt bemerkte,
nach den Untersuchungen des deutschen statistischen Amtes 25 Procent des Wertes aus,
er wolle jedoch einen viel niedrigeren Schlüssel anlegen.
23*
gj^g Mataja.
Effectenkäiife verringern. Die Verkaufslust des Auslandes und die Kauflust des
Inlandes bewegen sich in der Regel im verkehrten Verhältnisse (21, 22).
Hertzka behandelte auch die Golderhaltung mit jener Entschiedenheit, welche
gar nicht einmal eine Frage erkennt, wo andere Leute sich den Kopf zerbrechen.
Es ist nicht möglich, sagte er, dass ein Goldstück von dort, wo es eine höhere
Tauschkraft hat, dorthin geht, wo es eine geringere besitzt; es ist nicht möglich,
dass ein Goldstück dort eine höhere Tauschkraft hat, wo man es minder noth-
wendig bedarf. Man kann uns zum Ankauf unserer Schuldtitres nicht nöthigen,
man verkauft sie uns auch nur, wenn wir einen höheren Preis dafür bieten, als
das Ausland. Wie kann man sich aber vorstellen, dass ein von Zahlmitteln ent-
blösster Geldmarkt freiwillig der beste Käufer seiner eigenen Titres sein werde?
Und das müsste ja sein, damit Gold abströmt, es müsste hier weniger kaufen
als im Auslande. Wenn thatsächlich unser Aussenhandel einmal passiv werden
sollte, so werden wir das Plus der Importwaren mit dem bezahlen, was wir
entbehren können, entbehren müssen, und Gold wird dies — abgesehen von dem
Falle, wo eine vorübergehende Flutwelle davon zu viel hereingeführt hat, was
wieder bald abgeschwemmt wird — insolange nicht sein, als nicht die Gold-
production bei uns einen ganz besonderen Aufschwung nehmen sollte (103, 104).
Diese günstige Auffassung wurde jedoch nicht allgemein getheilt. Elbogen
machte darauf aufmerksam, dass ausser jenen Forderungen, die nur durch Ver-
kauf zu begeben sind, auch laufende Credite von Kaufleuten, von Industriellen,
besonders in London, bestehen, die in Zeiten der Krisis sehr leicht plötzlich
gekündigt und im Laufe sehr kurzer Zeit mobilisiert werden können (74).
Meng er trat insbesondere jener Argumentation entgegen, welche aus der Ver-
sicherung, dass zum Kaufe zwei Personen gehören, Beruhigung gegen die Gefahr
der Goldentziehung durch Eückströmen der Effecten schöpfen. So lange es, be-
merkte er, eine öffentliche Börse in Wien gibt und die Effecten einen Cours
haben, kann man doch beliebige Quantitäten, wenn auch zu gesunkenen Coursen,
verkaufen. Es könnte höchstens geschehen, dass die Papiere so sehr im Preise
sinken, dass das Ausland nicht weiter seinen Vortheil darin fände, die Papiere
zurückzusenden; aber eine solche Eventualität will man doch nicht durch eine
Valutaregulierung herbeiführen (204). Auch Mauthner hatte Einwendungen gegen
die genannte Anschauung vorgebracht und namentlich auf in Italien und Spanien
gemachte Erfahrungen verwiesen (165, 166). Immerhin wurden also nur Schwierig-
Keiten, niemals jedoch eine Unmöglichkeit der Goldbeschaffung und Goldbehauptung
angenommen.
Zweite Frage. Soll für den Fall der Annahme der Goldwährung
auch ein contingentierter Umlauf von Courant-Silber zulässig sein,
und in welcher Höhe?
Hierüber waren die Ansichten sehr getheilt.
Die Frage war, wie wiederholt bemerkt wurde, vor allem eine solche nach
der Verwendung des vorhandenen Silbervorrathes. Dieser selbst ist aber nicht
genau bekannt; sicher sind nur zwei Ziffern: der Besitz der Bank (Ende 1891:
166^2 Mill. Gulden, wobei es jedoch nicht ganz klar gestellt ist, ob und in
welchem Maasse ungemünztes Silber darin enthalten ist) und der österreichischen
Die österreichische Währungs-Enquete. 349
Staatscassen (1890: 7*4 Mill., wobei dann noch die zu übernehmenden Vereins-
thaler im Werte von 13 Mill. zu berücksichtigen sind). Unbekannt ist, was der
ungarische Staat besitzt und was sich beim Publicum — in Umlauf oder thesauriert
— befindet. Je nach der Höhe der acceptierten Schätzung mussten dann begreif-
licherweise auch die Vorschläge in Betreff der Verwendung des Silbers variieren,
wobei dann auch noch der Umstand in Betracht kommt, dass die Aufnahms-
fähigkeit des Verkehrs für das Silbergeld infolge der überlieferten Papierwirtschaft
unerprobt ist und daher auch einer sehr abweichenden Beurtheilung zugänglich
ist. Vielfach nahm man die beim Publicum befindliche Menge Silbercourantmünze
mit circa 30 Mill. Gulden an. Der Generaldirector der Nordbahn Jeitteles
berechnete sie hingegen mit circa 83 Mill. (84), Lieben, Banquier und Mitver-
fasser der auf mathematischer Methode beruhenden „Theorie der Preise'*, nahm
sie mit 45 Mill. an (285), Menger sprach von 35 Mill. in Umlauf und 25 Mill.
als thesauriert. Nach letzterem kämen insgesammt 270 Mill. Gulden Silber
(einschliesslich der bestehenden Scheidemünze von nominell 38 V3 Mill., umge-
rechnet nach dem wirklichen Metallgehalt) in Betracht. (207). Hertzka nahm
— gleichfalls einschliesslich der Vereinsthaler, aber ohne Scheidemünze — einen
Silbervorrath von 210 Mill. Gulden an. (106).
Selbstverständlich treten bei Beantwortung der zweiten Frage noch andere
Momente ins Spiel, insbesondere bedeutsam ist die Auffassung hinsichtlich der
Staatscassenscheine. Allgemein wurde ferner bei dieser und der folgenden Frage
die Nothwendigkeit gefühlt, die Summe der heute im Verkehr befindlichen kleineren
Geldzeichen nicht zu restringieren.
Für die Einführung des Silbercourants waren bei gewissen Experten —
nämlich den Anhängern der Doppelwährung — principielle Envägungen aus-
schlaggebend. Milewski war überhaupt der Ansicht, dass nur das Allernöthigsto
zu thun, das heisst das Gold in die Währung aufzunehmen sei und das Silber-
courant als volles Courantgeld in der Währung beizubehalten wäre, jedoch nicht
unter Contingentierung des jetzigen Umlaufs, sondern unter Contingentierung auf
den Kopf der Bevölkerung, damit die Möglichkeit einer Vermehrung der Umlaufs-
mittel im Falle eines nicht genügenden Zuflusses von Gold in Zukunft gegeben
sei. (186). Der Experte Zgurski glaubte, dass durch die Beibehaltung des
Silbercourants doch nicht alle Brücken gegenüber einer möglichen internationalen
Einführung der bimetallistischen Währung abgebrochen seien (welche er zwar nicht
ausdrücklich vertrat, sondern nur als eine offene discussionsfähige Frage bezeich-
nete), und nahm gleichfalls eine Contingentierung per Kopf 5 — 8 fl. an (70, 72),
welche Anschauung auch die Zustimmung des Bimetallisten Prof. Pilat fand (193).
Bei den anderen Experten, welche den bimetallistischen Standpunkt nicht
theilten, waren natürlich die auf eventuelle Doppelwährung abzielenden Rücksichten
nicht maassgebend.
Aber schon darüber waren die Ansichten getheilt, ob dieser Frage überhaupt
eine grosse Tragweite baizumessen sei oder nicht. Während manche Experten
nämlich das Silbercourant heftig bekämpften, bemerkte Prof. Sax, dass er dieser
Frage nicht jene principielle Bedeutung beizumessen vermöge, welche ihr nach
mancher Seite zukömmt; es sei einfach unvermeidlich, ein solches Courantsilber
350 l^M^]^.
einzuführen, und zwar weil Niemand sagen könne, wie gross der Bedarf Oester-
reicli-Ungarns an Scheidemünze bei der Metallwährung sein werde. Man müsse
also experimentell vorgehen und neben der Scheidemünze das noch erübrigende
Silberquantum als Courantgeld contingentieren. Bedürfe der Verkehr dieses Silbers
nicht, so bleibe dasselbe einfach in der Bank und erleichtere ganz wesentlich
die Notendeckung; sei aber im Verkehr Bedarf vorhanden, so werde er dieses
Silber * allmählich aus der Bank an sich ziehen (253). Prof. Menger wiederum
schlug folgende Combination vor: Behufs Verwertung des vorhandenen Silbervor-
rathes Erhöhung der Scheidemünze auf den Betrag von 170 Mill. Gulden, mehr
könne der Verkehr nicht ertragen; daneben eine nur mit der Zunahme der
Beölkerung etwa zu erhöhende Maximalsumme 100 Mill. Silbercourant, welche
jedoch durch Staatsnoten in Appoints zu 1 und 5 fl. ersetzt werden können, je
nachdem der Verkehr mehr von der einen oder der anderen Geldsorte benöthige.
Die Bank sei dann vollkommen dagegen gesichert, viel Courantsilber aufgenöthigt
zu erhalten, da das Publicum die kleinen Noten, beziehungsweise das Silber-
courant, welches jederzeit in Noten umgewandelt werden kann, dringend brauchen
wird (208, 209, 219).
Unter den Gegnern des Silbercourants sei zunächst v. Lucam, der bekannte
ehemalige Generalsecretär der österreichischen Notenbank, genannt. Er besorgte,
dass das Silber immer weiter geschoben werde auf irgend eine Person, die sich
der Annahme durchaus nicht entziehen könne, und das sei die Notenbank. Es
werde auch keinen günstigen Eindruck auf die Bevölkerung machen, wenn sie
in kurzer Zeit nach Uebergang zur Goldwährung thatsächlich aber Silber erhalte;
auch sei mit Eücksicht auf die bestehenden Verhältnisse zu erwägen, dass es
um keine Eecriminationen zu erwecken, in manchen Landestheilen, z. B. in Ungarn,
schwierig sein werde, für die Bank mit Silberzahlungen aufzutreten (147, 148).
"VVie man sieht, war es insbesondere streitig, ob man zweckmässiger Weise
der Bank das Halten eines Metallvorrathes in Silbercourant zumuthen könne.
Dafür seien noch einige Beispiele beigebracht. Experte v. Hahn, Generaldirector der
Länderbank, sprach sich für die vorläufige Belassung von Silbercourant aus,
welches am zweckmässigsten in den Barschatz des Noteninstitutes aufzunehmen
wäre, wo dasselbe in der Eegel deponiert bleiben solle. Man könne wohl
annehmen, dass dieser Silbercourant ein Fünftel des Bankschatzes repräsentieren
dürfe, ohne die Solidität der Währung zu gefährden. Der Umtausch des Courant-
silbers gegen Gold, wenn auch innerhalb eines längeren Zeitraumes, wäre nie
•gänzlich aus dem Auge zu verlieren. (80). Experte Elbo gen war zwar im
Principe für möglichst reine Goldwährung, glaubte aber immerhin, dass von den
zunächst zu erhaltenden Silbergulden die Bank einen Theil, der aber sechs Procent
der Banknoten nicht überschreiten dürfe, sich in den Metallschatz solle einrechnen
dürfen {76), Benedikt wollte nach Durchführung der Maassregeln, welche noth-
wendig sind, um die Einlösung des Papiergeldes in Gold vorzubereiten und zu
sichern, und nach Aufnahme der Barzahlungen in Gold den Umlauf von Courant-
silber als nicht zulässig angesehen wissen, indem er auf die Gefahr eines Gold-
agios, auf die Discontopolitik als das richtige Mittel gegen den Goldexport und
die Geringfügigkeit des Silbervorrathes verwies, der bei Ausprägung von Scheide-
Die östeiTeichische Währungs-Enquete. 351
münze im Betrage von 4 fl. pr. Kopf d. i. 160 Mill. und Ertlieilung der
Gestattung an die Bank, einen bescheidenen Betrag Silbermünze in die metallische
Bedeckung einzurechnen, etwa bis zu 20 Mill. (was sich schon dadurch recht-
fertige, dass auch die Bank mit Scheidemünze zu bewerkstelligende Theilzahlungen
zu leisten und zu empfangen habe), also bei einem monetären Silberstand von
180 Mill. im Wesentlichen d. i. bis auf 30 Mill. erschöpft sei, eine Summe,
die nicht von solcher Bedeutung wäre, um auf die Währungspolitik irgendwelchen
Einfluss zu üben oder finanziell stark ins Gewicht zu fallen. (27. — Ueber die
Schätzung des Silbervorrathes s. oben). In einem ähnlichen Sinne erklärte
Lieben, dass der beste Schutz der Währung, die beste Garantie der Gold-
erhaltung in der möglichsten Eeinheit der Währung gelegen sei, und sprach sich
auch gegen die Anwendbarkeit der französischen Prämienpolitik in Oesterreich
aus (128); auch Hertzka wandte sich gegen die hinkende Währung und die
Prämienpolitik (106) und auch Bräf sprach sich gegen letztere aus (42). Anders
über das Verhältnis von Bankpolitik und Silber dachte Dr. Bunzl, Verfasser der
mit Recht geschätzten Schrift „Die Währungsfrage in Oesterreich-Ungarn" (Wien,
1887). Er glaubte, dass ein massiges Silbercontingent nicht absolut unvereinbar
sei mit der Stabilität der Währung, sowie, dass der vorhandene Silbervorrath zu
gross sei um gänzlich als Scheidemünze Verwendung finden zu können; daneben
machte er darauf aufmerksam, dass Oesterreich von Ländern umgeben sei, welche
in der Lage sind, ihren Goldschatz im äussersten Falle vermittelst des Silbers
zu vertheidigen, und er nicht wisse, ob Oesterreich sich von vorneherein stark
genug fühle, um einer solchen ultima ratio für den äussersten Fall entrathen zu
können (51, 52).
Manche Experten wollten das Silborcourantgeld zwar bis auf weiteres, doch
nicht auf immer, als dauernde Institution zulassen. Director Bauer fasste das
Bedenken gegen das Silbercourant in dem Satze zusammen: die Währungsfeinheit
der Wechsel auf dem internationalen Markte darf nicht angezweifelt werden,
d. h. das Verhältnis zwischen Gold und Silber muss derart sein, dass dem
Abflüsse des Goldes keinerlei Schwierigkeit bereitet werden muss; er glaubte ein
Contingent von HO Millionen Silbercourant sei hiermit vollständig verträglich
und könne provisorisch beibehalten werden; bis eine Conjunctur die Abstossung
ermögliche; die Eegierung solle diesfalls freie Hand behalten (ähnlich wie gemäss
Artikel 15 des deutschen Münzgesetzes) und wäre die Silbermünze möglichst in
die Bank- und Staatscassen zu bannen (7 — 9). Zu einer ähnlichen Conclusion
— die Eegierungen sollten nach Analogie des citierten Artikels 15 ermächtigt
sein, die vorläufig noch als Courantgeld zu belassenden Silbergulden als Scheide-
münze zu erklären — gelangte Director v. Mauthner, jedoch mit der Modi-
fication, dass das Silber als ein schwer realisierbares Circulationsmittel nicht in
den Staatscassen zu concentrieren, sondern thunlichst in den Verkehr gebracht
werden sollte; da der Silberbestand viel geringer sei als der deutsche, so werde
auch die Regierung mit jener Erklärung nicht so lange zu zögern brauchen, wie
dies in Deutschland der Fall sei und wäre überhaupt so rasch wie nur möglich
zur reinen Goldwährung zu übergehen. Ueberhaupt schien diesem Experten die
hinkende Währung nicht empfehlenswert; sie habe noch nicht eine Probe in
352 Mataja.
stürmisclien Zeiten bestanden und werde sie auch nicht bestehen (167, 168).
Auch die Experten Taussig (261) und Thorsch (275) erklärten sich für die
provisorische Belassung der Silbergulden als Courantgeld, wobei beide, wenn
auch in abweichender Form, eine Vermehrung der Scheidemünze auf Kosten der
Silbergulden in Aussicht nahmen. Prof. Mataja (Innsbruck) sprach sich gegen
die dauernde, das ist über die Möglichkeit der Umgestaltung in Scheidemünze
oder sonstige Verwertung hinausreichende Einführung eines Silbercourants wegen
der demselben anhaftenden Schwächen aus (155). W. F. Warhanek, Schriftsteller und
Redacteur des „Fremdenblatt", empfahl vorläufig bis zur Aufnahme der Gold-
barzahlungen durch die Bank, den Silbergulden mit voller Zahlkraft in Circulation
zu belassen; bis zur Aufnahme der Goldbarzahlungen werde die Erfahrung ein
zuverlässiges Urtheil gestatten, ob überhaupt ein Courantsilber möglich sei; wenn
es thunlich wäre, sollte man mit Rücksicht auf die freie Discontopolitik der Bank
die anderweitige Verwendung des Silbers in Aussicht nehmen (282). Aehnlich
sagte V. Dimmer, Vicepräsident der Handelskammer und Börsedeputation in Triest,
dass die Frage, ob das Courantsilber transitorisch oder dauernd zu belassen sei,
am besten noch offen bleibe, wogegen ein Maximum für die Verbindlichkeit der
Zahlungsannahme in Silber zu bestimmen wäre — ein Zusatz, welcher freilich
dem Begriffe des Courantgeldes widerstrebt (56).
Die Gegner des Silbercourants hielten sich regelmässig schadlos durch die
Annahme eines sehr weiten Scheidemünzumlaufes. Lucam glaubte den ganzen
Silbervorrath von 250 Mill. Gulden im Maximum der Scheidemünze zuweisen zu
können, indem auch das erst einen Betrag von 5^/4 fl. per Kopf ergebe, von
welchem man nicht einmal mit Bestimmtheit sagen könnte, dass er unter den
Verhältnissen der Goldwährung ausreichen würde (148). (Bei seiner Berechnung
werden die nach dem 45 Gulden-Fuss ausgeprägten Silbergulden mit der jetzigen
Scheidemünze, von welcher 75 fl. aus 500 Gramm hergestellt werden, nach
dem Nominalwert addiert; auch ist nicht angegeben, ob die neue Scheidemünze
mit dem Feingehalt der alten oder anders ausgeprägt werden soll. Wäre ersteres
der Fall, so würden die angenommenen 250 Mill. natürlich weit mehr an Scheide-
münze ergeben, nämlich 416 Y2 Mill.). Lindheim machte darauf aufmerksam,
dass die Manipulation mit Hartgeld schwerfälliger sei als die mit Noten und
der Verkehr daher in Zukunft eine grössere Menge kleinerer Geldzeichen als
jetzt benöthigen werde; er glaube daher, dass sich auch ohne Courantsilber
keine grossen überschüssigen Silbermengen ergeben dürften. (140). Einig war
man darüber, dass die künftige Scheidemünze auch höherwertige Stücke —
namentlich auch halbe Gulden — zu enthalten haben werde. Den Umlauf von
Scheidemünze glaubte man auch dadurch befördern zu sollen, dass die Annahme-
pflicht gegen die jetzige Bestimmung (nur bis zu 2 fl. unter Privaten) erweitert
werde; so Juraschek, Regierungsrath bei der statistischen Central-Commission,
welcher die Ziffer von 100 fl. nannte (120), Mattus, Director der böhmischen
Landesbank (48), Lindheim (141) u. A. Wiederholt wurde ferner, was eine recht
wohlthätige Verwendung eines Theiles des Silbers darstelle, die bessere Aus-
stattung der kleinen Münze, als es jetzt der Fall ist, empfohlen (Juraschek, 120,
Warhanek, 284), auch mit dem Zusätze, dass unter der schlechten Beschaffenheit
Die österreichische Währungs-Enquete. 353
der gegenwärtigen Scheidemünze besonders die unteren Schichten der Bevölkerung
leiden (Mataja, I57j. Mehrfach wurde auf die Klagen über die Spärlichkeit der
kleinen Münze verwiesen (z. B. 129, 156).
In verschiedenen Formen tauchte endlich der Vorschlag auf, Silbercertifi-
cate auszugeben, d. h. Bescheinigungen über hinterlegtes Silber, selbstverständlich
mit dem Eechte des Inhabers, jederzeit das Silber selbst zu beheben. Man
glaubte damit indirect ein grosses Quantum Silber für die Geldcirculation dienst-
bar machen zu können, ohne dem Verkehr eine übermässige, ihm unbequeme
und ungewohnte Menge von Metall aufnöthigen zu müssen. Hertzka sprach die
Vermuthung aus, es würden sich etwa 100 Mill. Certificate neben 30 Mill. Silber-
gulden (die er als jetzt schon im Verkehr befindlich annahm) und 50 Mill. unter-
wertig ausgeprägter Halbguldenstücke in Umlauf bringen lassen (107). Silber-
certificate im Betrage von fünf Gulden, meinte Lieben, werden wahrscheinlich
ein dringendes Verkehrsbedürfnis bilden; sollte ihre Emission beliebt werden, so
wäre diese der Bank zu übertragen, sei es commissionsweise oder in anderer
Eorm (130). Generalsecretär Dr. Nava empfahl wiederum folgende Lösung:
Das gegenwärtige Silbercourantgeld behält diesen Charakter bis zum Zeitpunkte
der allfällig erfolgten Anschaffung des zum Ersätze desselben genügenden Gold-
vorrathes, worauf es dann als Scheidemünze zu gelten haben wird; bis zu jenem
Zeitpunkte wären durch Courantsilber vollständig zu bedeckende und stets ein-
lösliche Silbercertificate der Bank bis zur Höhe von 120 Mill. Gulden im
Umlauf zu halten (228). Des Vorschlages Mengers wurde schon oben Er-
Avähnung gethan.
Sofort zu Silberverkäufen zu schreiten wurde in der Enquete nicht ange-
rathen. Man betonte, dass gerade dies das Ausland beunruhen und gegen die
Valutareform einnehmen würde (7, 52, 76, 120, 141, u. ö.). Professor Menger
sprach sogar von einer Pfiicht der internationalen Moral, dass kein Staat gegen-
wärtig mit Silberverkäufen vorgehe (207). Selbst Lieben, der in seinem 1887 an
die Wiener Handels- und Gewerbekammer über die Valutafrage erstatteten geschätzten
Referate noch den Verkauf des überschüssigen Silbers in Aussicht genommen
hatte, glaubte jetzt mit Rücksicht auf das Ausland von solchen Verkäufen ab-
sehen zu sollen (128). Sofern also einzelne Experten nach ihren Vorschlägen
mit überschüssigem Silber zu rechnen hatten, dachten sie nur an eine allmähliche,
je nach den sich darbietenden Conjuncturen vorwärts schreitende Abstossung.
Dritte Frage. Wäre ein gewisser Umlauf von jederzeit gegen
Courantgeld einlöslichen, nicht mit Zwangscours ausgestatteten,
unverzinslichen Staatscassascheinen zulässig, und unter welchen
Bedingungen ?
Begreiflicherweise steht diese Frage in einem innigen Zusammenhang mit
der vorhergehenden, theils weil beide Erleichterungsmittel der finanziellen Seite
der Valutaoperation betreffen, theils weil sowohl die Zulassung von Silbercourant
wie die Ausgabe von Staatscassenscheinen eine Schwächung der Goldcirculation
bedeutet und bei der Lösung der Aufgabe in Betracht kommt, wie dem Ver-
kehre Ersatz für die gegenwärtigen kleinen Geldzeichen zu bieten sei. In Ver-
bindung mit diesen Gesichtspunkten steht auch die Erwägung, dass durch
354 Mataja.
Herstellung von Surrogaten für das Gold der Goldbedarf Oesterreich-Üngarns und
damit auch die Einwirkung der Valutaregelung auf den Edelmetallmarkt gemindert
werde. (Yrgl. Menger, 205; umgekehrt hatte Bräf in Betreff der Zulassung des
Silbercourants den Gedanken abgewiesen, dass diese zu einer Verminderung der
Goldbeschaffung dienen solle, 40.)
Die Majorität der Enquetemitglieder war der Emission von Cassascheinen
günstig gesinnt und zeigte sich eine ausgeprägte Vorliebe für kleine Appoints
derselben; sie wurden zumeist dazu ausersehen, die Lücke in der Stückelung
zwischen der Siibermünze einerseits, der Goldmünze und der Banknote anderer-
seits auszufüllen. In diesem Sinne fanden namentlich die Fünfguldenscheine
Anhänger. Selbst Benedikt, welcher principiell den Wert der Einheit des
Papiergeldes und des dadurch gewährleisteten Einflusses der Notenbank auf die
Eegulierung des Geldmarktes betonte, welcher leiden müsste, wenn neben der
Banknote noch Staatsnoten existierten, auf deren Ausströmung und Eückströmung
die Bank nur indirect einzuwirken vermöchte, befürwortete die Emission von
100 Mill. Gulden in Scheinen ä 5 fl., weil die kleineren Noten vom Verkehre
aufgesaugt werden, am schwersten zu concentrieren und gleichsam als Waffe gegen
die Discontopolitik der Bank zu gebrauchen sind 28, 29). Die Schätzungen darüber,
welcher Betrag zu emittieren sei, beziehungsweise bequem im Verkehr erhalten
vrerden könne, wichen wesentlich von einander ab; abgesehen von der beliebten
Ziffer von 100 Mill. finden wir als Minimum die Schätzung von 50 — 60 Mill.
(Grosshändler Dutschka 62), als Maximum die von 120 Mill. (Mattus 48.)
Wenn ferner, wie schon gesagt, sehr häufig die Emission von Fünfguldenscheinen
empfohlen wurde, so war doch die Bevorzugung gerade dieser Stückelung nicht
die ausschliesslich dominierende. Auch andere Appoints fanden ihre Vertreter.
So sprachen sich für die Ausgabe von Fünfzigguldenscheinen aus: Bondy, mit
dem Zusätze „vielleicht etwas darunter" und der Motivierung, dass im Wege der
Münzprägung zwar für die gegenwärtigen Ein- und Fünfguldennoten, nicht aber
für die Fünfzigguldennoten Ersatz geboten werden könne (37), Mattus, der in c
einem ähnlichen Gedankengung darauf verwies, dass die Einguldennoten in
Silber, die Fünfguldennoten in Gold einzulösen wären und daher noch die
Fünfzigguldennoten (Ende 1891 im Betrage von 156 Mill. in Umlauf) erübrigen
(48). Lindheim glaubte, dass 100 Mill. Eeichscassenscheine in der Form von
Fünf-, Zwanzig- und Fünfundzwanzig-Guldennoten einem Bedürfnis entsprechen
würden (141). Juras chek nahm für die von ihm befürworteten, durch das
Gold- und Silbergeld der Staatscassen voll gedeckten Cassenscheine von nicht
über 100 Mill. kleine Appoints, etwa von fünf Neugulden (das ist im Werte von
2Y2 fl. der gegenwärtigen Währung) in Aussicht (121). Hahn war, ebenfalls
mit Bücksicht auf die Bedürfnisse des A^erkehrs, für die Ausgabe von 100 Mill.
Cassenscheine zu Ein und Fünf Gulden (80). Menger, welcher die Cassenscheine
in Zusammenhang mit dem Silbercourant gebracht hatte (s. bei Frage 2), betonte,
dass das Papiergeld ein vom Verkehr vielleicht doch nur schwer zu entbehrendes
ümlaufsmittel sei, dass es nothwendig sein werde, dem üebermaass an Silber-
münze durch Staatsnoten entgegenzuwirken, dass viele Verkehrsacte mit Hartgeld
sich nur schwer durchführen lassen ; den Mangel kleiner Notenappoints würde
Die österreichische Währungs-Enquete. 355
bei Geldsendungen durch die Post nicht nur der kleine, sondern ebenso auch
der grosse Verkehr schwer empfinden, welcher die kleinen Appoints zur Ergänzung
der grösseren in Banknoten zu versendenden Beträge bedürfe; zu wählen wären
Xoten zu Fünf und selbst ein gewisses Quantum von Noten zu Ein Gulden,
jedenfalls aber Appoints, die von denen der Banknoten genügend weit entfernt
sind und auch nicht auf den nämlichen Betrag wie die Hauptgoldmünzen lauten
(205, 209).
Theilweise wurde auch die Frage der zur Einlösung der Staatscassenscheine
bereit zu haltenden Mittel behandelt. Bald hielt man keine besondere Deckung
für nothwendig, sondern meinte, dass die staatlichen Cassabestände überhaupt
ausreichten, so Abt Schachinger (67). Andere glaubten eines speciellen
Deckungsfondes nicht entrathen zu können, welchen Bauer (11) mit der Hälfte,
Bräf mit mindestens einem Drittel der Emissionssumme bezifferte (43). Ueber
Vorschläge zur Ausgabe voll bedeckter Cassenscheine (Silbercertificate) siehe oben
bei Frage 2. Menger machte darauf aufmerksam, dass die Deckungsmodalitäten in
einem Lande, in welchem die Goldwährung besteht, wesentlich andere sein
müssen, als in einem Lande mit Silberwährung, indem dort, wo man mit Zehn-
guldenstücken zahlen muss, der Zudrang des Publicums zu den Einlösungscassen
etwas ganz anderes bedeutet, als wo man etwa mit Viertelgulden zahlen kann
(209). Hertzka sprach sich gegen die Ansicht aus, die Deckung von
Noten nach Procenten der Emission zu bestimmen; bei geringem, dem Bedarf
des Verkehres entsprechendem Umlauf könne der Deckungsfond auf ein Minimum
sinken, bei übermässiger Emission nütze auch eine procentual hohe Deckung
nichts, da eben die überschüssigen Noten zurückströmen. Selbst ein vollbedeckti-r
Umlauf von Staatsnoten involviere für die Bank den Nachtheil, dass, wenn zuviel
Papiergeld im Verkehr vorhanden, dieses zurückströmt und damit der Bankschatz
etwa in jenem Ausmaassc vi mindert wird, welches sich bei gleichmässiger Auf-
theilung der überschüssigen Noten auf die Ziffern des Bank- und des Staats-
notenumlaufes ergibt. In ihrer Wirkung auf die Reserve der Bank komme also
jede wie immer geartete Staatsnotenemission einer Vermehrung des Banknoten-
umlaufes gleichzuachten (108, 109).
Gegen die Cassenscheine wurde insbesondere der moralische Effect, die
Gefahr einer missverständlichen Auffassung ins Treffen geführt. Wie Lieben
bekannt gab, hatte er in keinem Punkte seines im Jahre 1887 erstatteten, oben
erwähnten Referates so viele Anfechtungen erfahren, wie hinsichtlich der
dort ausgesprochenen Zulassung von Staatsnoten (in einem massigen Betrage von
50 — 100 Mill.). Er müsse sich jetzt gegen die Staatsnoten erklären, zunächst
desshalb, weil man mit dem Misstrauen im Inlande und im Auslande zu kämpfen
hätte; dann bestimme ihn aber noch unsere dualistische Verfassung, indem man
nicht einmal zwei, sondern drei Noten emittierende Stellen hätte — er könne
sich aber nicht vorstellen, wie drei Emissionsstellen gleichzeitig nebeneinander
wirtschaften sollen, ohne die Politik der Bank wesentlich zu schädigen, ja gerade
zu gefährden (128, 130). Dass das Staatspapiergeld auch in seiner veränderten
Form Misstrauen gegen die Festigkeit der Valutaregelung erwecken werde,
betonten auch die Experten Zgörski (70), Elbogen (76), Jeitteles (88).
356 Mataja.
Umgekehrt sprach Mataja die Ansicht aus, dass ein so handgreiflicher Unterschied
vorhanden sei zwischen den 300 — 400 Mill. unbedeckten Staatsnoten, die mit
unbeschränktem Zwangscours versehen und nirgends einlösbar sind, und einer
ungleich geringeren Menge von Staatscassenscheinen, welche einlösbar und ohne
Zwangscours sind, so dass dieser Unterschied über kurz oder lang der Bevölkerung
doch zum deutlichen Bewusstsein kommen müsste (155). Auch hinsichtlich des
zweiten Punktes der oben wiedergegebenen Aeusserung Liebens herrschte in der
Enquete keine Einstimmigkeit: wie es scheint, nahm die Mehrzahl der Experten
die Staatscassenscheine nach Art der gegenwärtigen Staatsnoten als zwischen den
Eeichsrathsländern und Ungarn „gemeinsam" an. (Siehe auch Bräf, 43.)
Luc am, welcher sich ebenso wie gegen das Silbercourant auch gegen die
Staatscassenscheine aussprach, bemerkte, dass in der Versagung des gesetzlichen
Zwangscourses noch keine Garantie gegen die moralische Nöthigung liege, dieses
Geld anzunehmen; im Verkehre spiele der Buchcredit noch eine ganz absurde
EoUe und, wenn säumige Schuldner mit Cassenscheinen zahlen wollten, werde der
Gläubiger, froh darüber, überhaupt etwas zu bekommen, nach den angebotenen
Cassenscheinen greifen müssen; auch die Bank selbst werde sich dem nicht ent-
ziehen können (149). Ganz entgegengesetzt dachte Meng er: das Publicum
werde die kleinen Staatsnoten dringend festhalten, weil sie dem Bedarf des Ver-
kehres entsprechen, die Bank hätte demnach auch gar nicht zu besorgen, dass
ihr zu grosse Mengen zuströmen, beziehungsweise die erhaltenen nicht leicht
anbringen zu können (219).
Mehrfach wurde ausgeführt, dass der Staat keinen rechten finanziellen Vor-
theil aus der Ausgabe von Cassenscheinen hätte, da diese den Wert des Bank-
privilegiums und somit die Höhe der von der Bank hiefür zu gewärtigenden
Gegenleistung beeinträchtigten (Elbogen, 77, Sax, 254); diese Anschauung wurde
umgekehrt mit dem Hinweis bekämpft, dass die Cassenscheine ja nie von der
Bank aufgenommen zu werden brauchen. (Warhanek, 282.)
Endlich sei noch des Vorschlages von Hertzka gedacht, dass ein
eiserner Vorrath von beispielsweise 100 Mill. Gulden in den Staatscassen in
Form von Cassenscheinen angelegt werde, welcher, von sehr vorübergehenden
Fluctuationen abgesehen, gar niemals in den Verkehr gebracht würde; es
würde von grosser Bedeutung sein, wenn in der Stunde der Gefahr die Staats-
verwaltungen in der Lage wären, ohne ein Gesetz einzubringen, ohne zu alar-
mieren, über eine Reserve verfügen zu können (HO). Dem gegenüber machte
Juras chek die Einwendung, dass ein solches Geld sofort bei Erscheinen dem
grössten Misstrauen begegnen würde (121).
Wie man sieht, wurde beim zweiten und dritten Fragepunkt eine Fülle
von Combinationen versucht, entsprechend der Mannigfaltigkeit der Interessen,
welche sich an jene Punkte knüpfen. Die Erfordernisse eines glatten Bank-
verkehres, die Ansprüche des Publicums, Rücksichten auf die Staatsfinanzen —
dies alles kommt hier ins Spiel. Nicht zu vergessen ist die leidige Nothwendigkeit,
mit jenen Eventualitäten rechnen zu müssen, welche nun einmal sich für einen in
Die österreichische Währungs-Enquete. 357
der Mitte Europas gelegenen Staat ergehen können. Mögen wir auch noch so
wünschen und glauben, dass die Zeit ferne sei, wo wir jene Ordnung des Credit-
geldes als die beste ansehen müssen, welche den Stürmen einer politischen
Verwicklung am besten trotzt und am ehesten eine Erweiterung gestattet, ohne
sogleich das ganze Geldwesen in Unordnung zu bringen, mögen wir dies also
immerhin thun, so dürfen wir, da eine Währungsreform doch nicht bloss für ein
paar Jahre geschieht, doch nicht auch nur die entferntesten Möglichkeiten ver-
gessen. Darnach kann man auch fragen: was empfiehlt sich mit Eücksicht auf
jene Eventualität besser, erhöhter Scheidemünzumlauf oder das sich leicht an
einzelnen Punkten anhäufende Silbercourantgeld, wie weit kann die Menge unter-
wertigen Geldes gehen, wäre es alarmierender, wenn ein schon bestehender
kleiner Staatscassenscheinumlauf vermehrt oder wenn bisher noch gar nicht im
Verkehr befindliche Cassenscheine neu emittirt würden etc.? Lassen wir indes
die Politik bei Seite und beschränken wir uns darauf, nur noch die Erwägung
ohne weitere kritische Conclusionen anzuschliessen, dass die Bequemlichkeit der
verschiedenen Geldsorten ein ziemlich relativer Begriff ist. Wer hätte nicht
schon die Erfahrung gemacht, dass sich Ausländer in Oesterreich über die
unbequemen papierenen Zettel beklagen und ihre heimische Münze anpreisen? Wer
hätte nicht bei einigermaassen längerem Aufenthalt im Ausland an sich selbst
erprobt, wie man, sobald man nur an ein fremdes Geld gewöhnt ist, es auch
bequem zu finden anfängt? Selbst den französischen Soustücken gewinnt man
nach einigem Gebrauch gute Seiten ab und findet sie beispielsweise beim Zählen
handlicher und übersichtlicher als die an sich gewiss bequemeren kleinen
österreichischen Kreuzer. Man darf daher wohl darauf vertrauen, dass Manches,
das heute, weil ungewohnt, auch sehr unbequem erscheint, in Zukunft einem
freundlicheren Urtheil begegnen werde.
Vierte Frage. Welche Grundsätze wären für die Umrechnung
des bestehenden Guldens in Gold zur Richtschnur zu nehmen?
Die Frage der Eelation gestaltete sich zu der am meisten controversen —
begreiflicherweise, da es sich hierbei nicht nur um eine Divergenz der Anschauungen,
sondern auch um Interessengegensätze handelt. Die hauptsächlichsten hierbei
verhandelten Streitfragen waren die folgenden :
1. Wann ist die Eelation festzustellen?
Experte D immer befürwortete, dass die Umrechnung jener Zeit überlassen
werde, in welcher die Barzahlungen aufgenommen werden und folglich auch alle
Vorkehrungen dazu getroffen sein müssen; dies allein würde den Sitten und
Bedürfnissen des Geschäftsverkehres entsprechen (56). Lieben war für die
Fixierung der Eelation nach dem Course jenes Tages, an dem der Uebergang zur
neuen Währung erfolgt, und zwar um einen plötzlichen Courssprung zu vermeiden.
Die Eelation könne unmöglich so lange in Schwebe bleiben, bis die Barzahlungen
aufgenommen werden; es gehe aber auch nicht an, dass bei der Einbringung
der Währungsvorlage schon ein Cours ausgesprochen werde, welcher dann bei
den wochenlangen Berathungen hin- und hergezogen werde, was den Geldmarkt
in peinlicher Weise irritieren müsste. (Lieben gestaltete seinen Vorschlag positiv
dahin aus, dass der Tagescours am Tage der dritten Lesung im Herrenhause
358 Mataja.
zur Ausfüllung der inzwischen offen, bleibenden Ziffer diene, eine Annahme,
über deren staatsrechtliche Durchführbarkeit eine Auseinandersetzung stattfand.
131 — 136). Fabrikant Schoeller (Brunn) wollte principiell den Cours am Tage des
Währungswechsels, d. i. der Aufnahme der Barzahlungen, aus praktischen Gründen
aber den Durchschnittscours der Periode 1879 — 91, und wenigstens unter
Umständen die Periode, deren Durchschnittscours er als maassgebend ansah, bis
zum Tage der Aufnahme der Barzahlungen ausgedehnt wissen, woraus folgt, dass
auch dieser Experte dann an keine frühere Festsetzung der Relation dachte
(125, 1261
Gegen D immer wurde eingewendet, dass an dem Tage der Aufnahme
der Barzahlungen der neue Gulden schon feststehen müsse, folglich nicht erst
dann bestimmt werden könne (57\
Nava hielt jene Eelation für die entsprechende, welche sich zwischen
österr. Währung und dem Warencourse der Devise London an jenem Börsentage
ergibt, welcher der Sanctionierung des Gesetzes über die Einführung der Gold-
währung unmittelbar vorangeht (228).
Menger stand auf dem Standpunkt, dass . die Umrechnung am zweck-
mässigsten nach Beschaffung der erforderlichen Goldmenge und nach eingetre-
tenem Gleichgewichtszustande auf dem Edelmetallmarkte vorgenommen w^erde;
Motiv dieses Vorschlages war die Erwägung, dass die Valutaherstellung selbst von
Einfluss auf den Goldwert im Sinne einer Steigerung desselben sein werde. Für
den Fall, als entgegen dieser Ansicht die sofortige Feststellung der Eelation
angenommen würde, schlug Menger auch hiefür einen Berechnungsmodus vor
(215, 222).
Gegen die Hinausschiebung der Feststellung der Eelation wurden jedoch
mancherlei Bedenken geäussert. Elbogen erklärte es für eine grosse Wohlthat,
wenn die in Aussicht genommene Eelation baldigst bekannt W'ürde, w^eil dadurch
dem Treiben der Speculation immerhin eine gewisse Grenze gesetzt würde (77).
Jeitteles machte (gegenüber dem Vorschlag Liebens) auf die gegenwärtig herr-
schende Beunruhigung aufmerksam und betonte, dass es vom Standpunkt der
Bevölkerung höchst wünschenswert wäre, wenn der Zeitpunkt für die Bekanntgabe
der zwischen beiden Eegierungen getroffenen Vereinbarung möglichst nahe gerückt
wäre (136). Siehe auch Lindheim (142).
Offenbar sind auch die Schwierigkeiten nicht zu verkennen, welche es mit
sich brächte eine Währungsreform in Angriff zu nehmen, an der zwei Eegierungen
und zwei Parlamente betheiligt sind, und dabei einen solchen überaus streitigen
Cardinalpunkt der Eeform wie die Feststellung der Eelation vorläufig unausge-
tragen zu lassen. (Vrgl. die Bemerkung Benedikts, 32). So wenig daher auch
die principielle Eichtigkeit der Annahme, den Goldwert des gegenwärtigen Guldens
erst nach erfolgter Beobachtung des Einflusses der Goldbeschaffung auf den Wert
des Goldes selbst, erschüttert, ja auch nur bekämpft wx)rden war, giengen die
Verhandlungen der Enquete im Wesentlichen doch in der Voraussetzung vor
sich, dass die Eelation sofort zur Fesstellung gelangen werde.
2. Auf der einen Seite wurde als der schlechthin leitende Gedanke bei der
Umrechnung des gegenwärtigen Guldens in Gold das Princip der Continuität
Die österreichische Währungs-Eiiquete. 359
des Geldwertes aufgestellt; auf anderer Seite hielt man eine gewisse Ver-
schiebung für opportun.
Im ersteren Sinne sprach sich Director Bauer aus: Der wichtigste Gesichts-
punkt für die Feststellung der Eelation ist die Continuität, die möglichst geringe
Veränderung. Der Schuldner soll, soweit irgend möglich, genau dasselbe schuldig
bleiben, der Gläubiger dasselbe zu fordern haben wie früher. Niemand darf die
Empfindung einer Veränderung, einer Ungerechtigkeit haben (13). Oder wie
Benedikt sehr scharfsinnig sagte: Jene Eelation wird die beste sein, welche
nach ihrer Declarierung den allergeringsten Eindruck auf die wirtschaftliche Lage
ausüben wird (32j. 3Iataja suchte darzuthun, dass die Folgen einer Aenderung
des Geldwertes weit über das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner hinaus-
reichen, und wegen der Ungleichmässigkeit, mit der sich die einzelnen Preise
der Waren und Dienstleistungen einer solchen Aenderung anpassen, mannig-
fache Verschiebungen in den Einkommens- und Vermögens-Verhältnissen
sich ergeben müssteu (157 — 161). Auch die Ausführungen Mengers waren im
Wesentlichen im Sinne des Princips der Continuität des Geldwertes gehalten,
indem alle von ihm vorgeschlagenen Correcturen an dem Uebergangscours, mit
einer später zu erwähnenden Ausnahme, nur den Zweck haben, den Wert des
heutigen Geldes richtig zu bestimmen und diesen Wert im künftigen Goldgelde
unverändert fortzusetzen.
Andere wollten, wie schon gesagt, absichtlich eine wenn auch kleine Ver-
schiebung aus Opportunitätsrücksichten eintreten lassen z. B. eine Abrundung
behufs leichterer Umrechnung in die Markwährung (Lindheim, 142) etc.; dominierend
war hier der Wunsch nach einer „Abrundung der Relation nach unten, "^^ auf
deutsch: einer absichtlichen Erhöhung des Goldgehaltes des Guldens.^)
In diesem Sinne äussertv^.n sich die Experten: Dub (58), Dutschka (62),
Elbogen (78), Jeitt eles (90), Juraschek (122), Lindheim (142), Nava (285)
u. A. Als Grund dafür wurde namentlich angeführt, dass die Valutaverbesserung
im Auslande und bei der Bevölkerung eine gute Stimmung für die Währungsform
hervorrufen, beziehungsweise ein umgekehrtes Verfahren verstimmen würde, was
bei Umstände, als jetzt Oesterreich an den auswärtigen Geldmarkt werde appellieren
müssen, von grossem Belang sei.^) Director v. Taussig hielt seinerseits die
') Nimmt man beispielsweise den Cours der Devise London (10 Pfund Sterling)
mit 118 V'o an, so würde eine Abrundung nach unten bedeuten, die Umrechnung vorzu^
nehmen als wäre der Cours etwa 118, der Goldgehalt des neuen Guldens würde sich
also erhöhen, da schon 118 und nicht erst 118 73 genügten um 10 Pfund Sterling zu
kaufen und umgekehrt. Die Abrundung nach oben z. B. auf 119 würde zur Folge haben,
dass 119 und nicht US^/j erforderlich wären um 10 Pfund Sterling zu ergeben. Der
Abrundung nach unten entspricht der sogen, schwere, der nach oben der sogen, leichte
Gulden — lauter undeutliche, aber häufig gebrauchte Schlagworte.
2) Anmerkungsweise will ich erwähnen, dass Oesterreich-Ungarn ein Schuldner ist.
wie man nicht leicht einen zweiten finden wird. Es hat künstlich, d. h. durch die Ein-
stellung der freien Silberprägung den Wert des geschuldeten Gegenstandes erhöht und
geht jetzt daran, diesen also künstlich gestützten Wert definitiv zu stabilisiren und sich
damit für alle Zukunft der Gelegenheit zu berauben, durch blosse Ausübung eines unbe-
streitbaren Rechtes, d. i. der Münzprägung, seine Schuldenlast bedeutend zu erleichtern.
360 Mataja.
unteren Classen durch eine Entwertung des Geldes am empfindlichsten berührt
und glaubte auch, dass eine den Schuldnern bei der Währungsumwandlung unter
welchen Titel immer zugewendete Erleichterung, welche von den Grläubigern als
ein Unrecht empfunden würde, ersteren keinen wahren Vortheil einbrächte; denn
je gesicherter sich das Capital in einem Lande fühle, desto massiger würden
seine Ansprüche (265).
Energisch sprachen sich gegen die absichtliche Erhöhung des Goldwertes
des Guldens bei der Umrechnung als eine sehr un zweckmässige, der Gerechtigkeit
widerstreitende Begünstigung des Geldbesitzes und der Gläubiger des Staates
sowohl als von Privaten Mataja (157, 161) und Milewski (188) aus, ersterer
auch betonend, dass ein zu schwerer Gulden den Goldabfluss erleichtern müsste.
Während das Interesse des mobilen Capitals mit seinen in der Vergangen-
heit ausgemachten festen Bezügen auf eine Steigerung des Geldwertes hinleitet,
ist begreiflicherweise der Standpunkt der Landwirtschaftskreise — Schuldner des
ersteren — ein anderer. In der That empfahl Zgorski gerade als Agrarier die
„Abrundung nach oben" (d. h. die Annahme eines höheren in österr. Währ,
ausgedrückten Goldcourses, wodurch der Goldgehalt des Guldens sänke). Er be-
gründete diese Abrundung mit Billigkeitsrücksichten und insbesondere dem Umstand,
dass sich infolge der Yalutaregelung der Goldpreis steigern werde (71). Letzteres
Motiv gehört eigentlich nicht mehr in das Capitel der absichtlichen Aenderungen
des Geldwertes und führt bereits hinüber zum folgenden Punkte.
3. Soll bei der gegenwärtigen Feststellung der Eelation dem
voraussichtlichen Einfluss des Währungswechsels auf den Goldwert
Rechnung getragen werden?
Zgorski hatte, wie eben erwähnt, schon die Berücksichtigung des steigenden
Goldpreises bei Feststellung der Eelation empfohlen, weit entschiedener noch that
dies Milewski. Unter nachdrücklichem Hinweis auf die durch die neue, in Hinblick
auf die Beschränkheit des Goldvorrathes ins Gewicht fallende Nachfrage nach
Gold zu gewärtigende Wertsteigerung desselben und auf die im deutschen Reiche
gemachte Erfahrung befürwortete er, bei der Bestimmung der Relation die infolge
der Währungsreform vorauszusehende Steigerung des Geldwertes im reellen Maasse
zu berücksichtigen (187). Seinen Ausführungen schloss sich Pilat an (195).
Aehnlich empfahl dann auch nach Besprechung der Vorgänge im deutschen
Reiche Menger (sofern nicht die Relation erst nach der Beschaffung des Goldes
bestimmt würde, was er in erster Linie befürwortete, s. oben Punkt l) der voraus-
sichtlichen Einwirkung der Valutaregulierung auf den Goldwert und der allge-
Dass man dann noch obendrein bei dieser Umrechnung, dieser Stabilisierung selbst mehr
als nöthig geben solle, ist ein etwas eigenthümliches Verlangen, begreiflich hingegen,
dass dann das Ausland und das auf feste Renten gesetzte Capital guter Stimmung wären.
Dahingestellt will ich es sein lassen, ob es praktisch wäre, um (wenn dies überhaupt
der Fall sein sollte !) ein neues Anlehen von ein paar hundert Millionen günstiger unter-
zubringen, sich eine Schuldenlast von mehreren Milliarden drückender zu machen. Richtig
scheint mir aber jedenfalls, dass das Interesse des auswärtigen Gläubigers vor allem die
Feststellung einer solchen Relation fordert, welche das Zustandekommen und die glück-
liche Durchführung der Währungsreform thunlichst sichert.
Die österreichische Währungs-Enquete. 361
meinen Tendenz des Goldwertes zum Steigen durch die Annahme eines dem Fein-
gewichte nach leichteren Goldguldens Rechnung zu tragen (215).
Die nämliche Behauptung, welche man bei Milewski ruhig passieren Hess,
führte, nachdem sie auch von Menger aufgenommen worden war, zu einer nach-
drücklichen Polemik.
Taussig (220) wendete ein, dass bei einer Veranschlagung der Zukunft denn
doch eine Täuschung, etwa auch durch ein unvorgesehenes Ereignis, wie z. B.
die Entdeckung neuer Goldfelder, unterlaufen könne, und warf die Frage auf,
wie dann die nachträgliche Sanierung des Irrthums möglich wäre (vergl. auch
seine Antwort auf eine Frage Milewskis 272). Menger bemerkte hierauf, dass
allerdings die Berücksichtigung der Zukunft immer etwas Arbiträres an sich
habe, dass man aber doch nicht drohende Gefahren bloss desshab ganz über-
sehen dürfe, weil sie sich vielleicht nicht ganz sicher realisieren. Habe man
unparteiisch und nach bestem Ermessen gehandelt, so sei man gegen Vorwürfe
gesichert auch dann, wenn ein besonderer Zufall die Berechnung zu einer irrigen
mache (220).
4. Ist bei Feststellung der Relation die gegenwärtige Wert-
gestaltung als maassgebend anzusehen oder ist auch der Vergangen-
heit Rechnung zu tragen?
Auch hierüber wurden gegensätzliche Aeusserungen abgegeben.
Bondy sprach von einer Berücksichtigung der im Laufe der Jahre ein-
gegangenen Verpflichtungen bei Feststellung der Relation (37). Mersi glaubte,
dass nicht allein das thatsächliche Agio maassgebend sein könne, und erinnerte
daran, dass die Warenpreise nicht sofort den Schwankungen des Agio folgen
(174). Milewski sprach sich überhaupt dagegen aus, dass die gerechte Relation
allein aus den Wechselcoursen ermittelt werden könne. Die Preise des täglichen
Lebens, besonders des Kleinverkehrs, passen sich den Wechselcoursen nicht sofort
an. Wenn man also die Kaufkraft des Guldens gerecht ermitteln will, kann man
sich nicht ausschliesslich an die Wechselcourse allein halten, man muss daneben
die Kaufkraft des Guldens im Innern berücksichtigen, wofür die Preis- und
Lohnstatistik eine Basis bietet (188. — Bei der Festsetzung der Relation handelt
es sich um die Umrechnung des gegenwärtigen Geldes in Gold; wie zu diesem
Zwecke die Preis- und Lohnstatistik, d. i. die Preise der Waren und Dienst-
leistungen im gegenwärtigen Gelde zu verwerten wären, darüber wurde von
Milewski eine nähere Angabe nicht gemacht). Vgl. auch Taussig (266),
Warhanek (283).
Umgekehrt sprachen andere dem Werte der Vergangenheit principiell jene
Bedeutung ab; nur die gegenwärtige Wertgestaltung (natürlich richtig bemessen!)
solle in die Wagschale fallen. So Menger (211), Dutschka (62), Mataja
(157, 158). Selbstverständlich gehören hierher auch die Vertreter der Umrech-
nung nach dem Momentcourse (s. u.j.
5. Der actuelle Wert als maassgebend angesehen, wie ist er
richtig zu bestimmen?
Ist der Cours eines bestimmten Tages oder etwas weniger schroff gesagt
einer bestimmten ganz kurzen Epoche der Umrechnung zugrunde zu legen?
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung II. Heft. 24
362 Mataja.
Für einen solchen Moment- oder Augenblickscours sprachen sich aus :
Bauer (im Interesse möglichst geringer Veränderung — s. oben Punkt 2 — keine
Durchschnittsrechnung, sondern Festsetzung der Kelation nach dem möglichst
unbeeinflussten, thatsächlichen Stand der Wechselcourse, 13); Lieben (nach dem
Course jenes Tages, an dem der Uebergang zur neuen AVährung erfolgt, 131,
s. auch oben Punkt 1); Lindheim (Tagescours vor dem Währungswechsel, 142);
Nava (228) s. oben Punkt 1 u. A. In Betreff der von manchen dieser Experten
empfohlenen Abrundungen wurde auch schon früher bei Punkt 2 Erwähnung gethan.
Andere Experten waren hingegen der Ansicht, dass auch der actuelle Wert
nicht zutreffend aus dem Course eines einzelnen Tages erkannt werden könne,
dass dieser Cours also keinen befriedigenden Ausdruck des Wertverhältnisses
abgebe. Sie waren der Ansicht, dass auch der actuelle Wert nur richtig durch
eine gewisse Berücksichtigung der Vergangenheit bestimmt werden könne.
Hier taucht also die Frage wieder auf, ob und wie die Vergangenheit in
Betracht zu ziehen sei, jedoch nicht, weil ihr eine selbständige Bedeutung zu-
erkannt wird, sondern als methodisches Hilfsmittel zur richtigen Bestimmung des
Gegenwartswertes. Praktisch liegt der Unterschied hievon darin, dass nicht die
Vergangenheit als solche in Betracht kommt, sondern nur insoweit, als sie ein
Mittel zur Erkenntnis der sich in einem einzelnen Course, in dem Course der
Uebergangszeit, vorfindenden Zufälligkeiten oder absichtlicher Einflüsse abgeben
kann; demnach ist auch die in die Rechnung einzubeziehende Epoche nicht nach
einer eigenen Bedeutung derselben, sondern ihrem methodischen Werte nach
zu wählen.
Hier muss ich jedoch bemerken, dass mir die meisten Begründungen, welche
für die Durchschnittsberechnung ins Treffen geführt wurden, nicht so klar
erscheinen, um sie mit voller Beruhigung in obige Kategorie oder die früher be-
sprochene — der Berücksichtigung der Vergangenheit als solcher — einzureihen,
gleichwie es auch zumeist schwer fällt herauszufinden, welche präcisen Gesichts-
punkte dafür als maassgebend angesehen wurden, um gerade diese und keine andere
Epoche als vorgeschlagen der Durchschnittsrechnung zugrunde zu legen. Aehnlich
war auch der Eindruck bei anderen Experten, woraus man dann auch eine Einwen-
dung gegen die Durchschnittsrechnung überhaupt schöpfte. „Bei dem Durchschnitts-
cours", sagte Jeitteles (89), „greift der Eine auf eine sehr lange, der Andere
auf eine mittlere, der Dritte auf eine kurze Periode zurück. Einer der Herren
Experten hat sogar den Durchschnitt von drei Jahren gewählt mit Ausschluss der
letzten Jahre 1891 und 1892. Er will die Eelation ermitteln im Durchschnitte der
Jahre 1888 bis 1890; einer der Herren Experten wählte den Umrechnungscours
der letzten Monate. Alle diese Verschiedenheiten in den Anschauungen zeigen,
dass der durchschnittliche Cours keine innere Berechtigung hat. Ich habe den
Eindruck gewonnen, dass jeder der Herren Experten, der einen Durchschnittscours
für die Eelation erforderlich erachtete, sich zuerst eine Eelation als zweckmässig
ausgedacht hat . . . und dann haben sie eine Durchschnittsperiode gesucht, die
dieser Eelation entspricht."
Menger gebürt das Verdienst, allein eine präcise Abgrenzung und Begrün-
dung der gewählten Periode für die Durchschnittsrechnung behufs Ausgleichung der
Die österreichische Währungs-Enquete. 3(33
Zufälligkeiten etc., geliefert zu haben. Er verwies darauf, dass zwischen der jeweiligen
Handelsbilanz und dem jeweiligen in Gold ausgedrückten Werte der Valuta ein
gewisser Parallelismus bestehe und dass daher die Periode für die Durchschnitts-
rechnung so zu wählen sei, dass sie nicht bloss Zeiten sehr günstiger Handelsbilanz
umfasse, wie es der Fall wäre, wenn bloss die letzten Jahre in Betracht gezogen
würden. Ihm schien daher die Periode 1884 bis 1891 den gerechtesten Durch-
schnitt zu ergeben (212 — 215, 221\ Auch Mataja betonte, dass die Course der
Vergangenheit nicht kraft eigenen Eechts, sondern nur insoweit inEechnung kommen,
als sie Hilfsmittel zur richtigen Beurtheilung der Gegenwart abgeben (159).
Uebrigens wurden auch Zweifel an der Verwendbarkeit der Durchschnitts-
rechnung im obigen Sinne, d. h. zur Eichtigstellung der Gegenwartscourse
geäussert. Benedikt sagte nämlich: „Es ist kein Zweifel dass das Gelingen der
Valutaregelung in hohem Maasse von der richtigen Wahl der Eelation abhängig
ist, und dass diese richtige Wahl dann am leichtesten möglich ist, wenn der
Wechsel der Währung sich nach einer Periode relativer Stetigkeit des öster-
reichischen Geldwerts vollzieht. Nach einer Periode grösserer oder gar heftiger
Schwankungen besteht die Gefahr, dass die Verhältnisse des Augenblicks das
richtige Urtheil über den von Zufällen und Einflüssen unabhängigen Wert des
österreichischen Geldes in Gold erschwert. Gegen dieses üebel bietet aber die
Durchnittsrechnung kein Heilmittel, denn es handelt sich bei der Eelation niemals
darum zu untersuchen, wie das Verhältnis des Österreichischen Geldes zum Gold
als W^are gewesen ist, sondern immer darum, wie es factisch ist. Ist diese
Untersuchung durch äussere Einflüsse und plötzliche Veränderungen erschwert, so
wird man aus der Durchschnittsrechnung nicht erfahren, ob das Eesultat mit den
Constanten Factoren, welche den österreichischen Geldwert bestimmen, harmoniert,
und wenn die Durchschnittsrechnung mit denselben nicht harmoniert, so wird die
Eelation zur Gefahr und zum Unrecht". (31.)
6. Ist bei Feststellung der Eelation künftigen Ereignissen
Eechnung zu tragen?
Hierher gehört zunächst jene schon früher (Punkt 3) erwähnte Forderung, dass
die durch den Währungswechsel selbst bewirkte Steigerung des Goldwertes berück-
sichtigt werde. Dieser Wunsch selbst ist nur ein Ausfluss des Verlangens, dass
die Continuität des Geldwertes nicht beeinträchtigt werde.
Nicht auf diesem Princip beruhend ist jedoch die Ansicht Menger's, dass
in Erwägung des Umstandes, dass je niedriger der Silberpreis im Durchschnitte
der Jahre, um so tiefer im allgemeinen der Goldwert des österreichischen
Guldens, auch der künftige Goldgulden etwas leichter auszuprägen sei, sobald —
was nach seinem Dafürhalten richtig — dem Silberpreis die Tendenz zum Sinken
zugeschrieben wird (213)^); ebenso glaubte er (auch abgesehen von dem Einflüsse
^) Dieser Forderang möchte ich principiell entgegentreten. Gegen das Verlangen,
es sei schon jetzt bei der Eelationsfeststellung dem Steigen des Goldwertes infolge
der Währungsreform Eechnung zu tragen, Hesse sich freilich das Bedenken erheben,
dass damit — weil die Goldanschaffungen selbst und damit auch deren Einwirkung
auf den Goldpreis erst später erfolgen — zunächst eine Eeduction des Goldwertes erzielt
würde, die sich erst in der Folge durch die allmähliche Goldvertheuerung ausgliche. Diese
24*
364 Mataja.
des Währungswechsels selbst auf den Wert des Groldes) der allgemeinen Tendenz
des Goldwertes zum Steigen billigerweise, insbesondere mit Eücksicht auf die
Schuldner, durch Bestimmung eines etwas leichteren Goldgehaltes des neuen
Guldens Rechnung tragen zu sollen (213, 215).
Endlich sei noch erwähnt, dass einige Experten hinsichtlich der Eelations-
feststellnng bestimmte ziffermässige Vorschläge machten, selbstverständlich unter
Anwendung der von ihnen für die Umrechnung aufgestellten Grundsätze. Der
neue Gulden hätte nun an Gold zu enthalten:
nach Bondy zwischen 80 und 84 derzeitige Goldkreuzer (38),
nach Elbogen nahe dem Cours 215 Francs ziz 100 fl. (78),
nach Hertzka 2 Francs 10 Centimes (114),
nach Juraschek 86 Goldkreuzer (122),
nach Milewski wären 2 Fr. 10 C. noch viel zu hoch (188),
nach Menger 2 Fr. 5 C. (noch ohne Berücksichtigung der für die künftige
Wertsteigerung des Goldes zu machenden Abrundung, 213),
nach Thor seh höchstens nach dem Course 58 fl. = 100 Mark (276).
Im Gegensatze zu jenen Experten befanden sich solche", welche überhaupt
glaubten, keine präcisen Bestimmungen machen zu können, so beispielsweise
Luc am, welcher sagte: bei der Umwandlung soll der neue Gulden dem gegen-
wärtigen möglichst nahe kommen, unter billiger Berücksichtigung der verschiedenen
Interessen (151); Warhanek: bei der Umrechnung sei die Coursbewegung der
letzten Zeit seit Inangriffnahme der Vorarbeiten für die Valutaregulierung zugrunde
zu legen, jedoch der eigentliche Umrechnungssatz unter Berücksichtigung der
verschiedenen Interessen nach Maassgabe der Staatsraison zu fixieren (283),
und Andere. Mauthner glaubte, dass allerdings in letzter Linie die Bestimmung
der Relation unter Besücksichtigung aller einschlägigen Verhältnisse den beiden
Eegierungen überlassen bleiben müsse; wesentliche Aenderungen der Wechselcourse
durch speculative Einflüsse wären nach ihm nicht in Anschlag zu bringen (171).
Fünfte Frage. Welche Münzeinheit wäre zu wählen?
Allgemein wurde von einem Uebergang zu einer fremden Währung, dem
Franc- oder Marksystem, abgesehen. Die Gründe für diese ablehnende Haltung
Einwendung trifft aber gar nicht, sonderu stärkt nur den Hauptstandpunkt Menger's
(s.oben Punkt 1), dass nämlich die Relation erst nach erfolgter Goldbeschaffung vorgenommen
werde. Dem Verlangen hingegen einer Minderung des Goldguldens aus dem Titel des
weiteren Preisfalles des Silbers kann ich mich jedenfalls nicht anschliessen. Erstens
scheint mir jener Preisfall nicht die vorausgesetzte Wirkung zu üben, sondern umgekehrt
wahrscheinlicherweise die österreichische Valuta gegen Gold zu steigen, wofür die
Periode 1878 — 1891 angerufen werden kann, indem sich eben der Wert dieser Valuta
nicht lediglich nach dem Silber und dessen Preisrückgang richtet, sondern noch andere
und mächtigere Kräfte ins Spiel kommen (vgl. die früheren Ausführungen) und zweitens
glaube ich, dass selbst wenn die Wertverminderung der österreichischen Valuta wirklich
wahrscheinlich wäre, dies kein Grund dafür wäre den Goldgulden leichter als den gegen-
wärtigen Verhältnissen entsprechend auszuprägen. Wertänderungen des Geldes erzeugen
unverdiente Verluste und Gewinne und sind daher gewöhnlich ein Uebel, es kann daher
nur einen Vortheil bedeuten, wenn wir ihnen durch einen Währungswechsel entgehen,
nicht aber besitzen wir einen Anlass, sie im Wege der Relationsfeststellung auch in die
neue Währung hinüberzuretten.
Die österreichische Währungs-Enquete. 365
vraren : Die Schwierigkeiten bei der Umrechnung nach erfolgtem Währungswechsel ;
das Wertverhältnis der fremden Münzen untereinander, welches doch nur den
Anschluss an eines der Systeme möglich mache; die Wechselcourse stünden auch
dann nicht auf Pari, es blieben also auch dann nicht dem grossen Verkehr
complicierte Eechnungen erspart ; die Goldmünzen könnten leichter abfliessen oder
abgenützte Münzen anderer Länder leichter eindringen. (13, 33, 59, 78, 215 u. ö.)
Im übrigen theilten sich die Stimmen fast gleichmässig für eine Münz-
einheit im Werte des heutigen Guldens oder der Hälfte desselben; mehrere
Experten sprachen sich hierbei freilich ziemlich unentschieden aus, während
andere wiederum sehr entschieden in dem einen oder dem andern Sinne auftraten.
Das Hauptargument für die Beibehaltung des alten Guldenwertes bildete
wohl die Eücksicht auf die Continuität der Verhältnisse, der Wunsch, angesichts
der ohnehin unvermeidlichen Veränderungen nicht ohne zwingenden Grund Hand
anzulegen an bestehende Einrichtungen und den üebergang so bequem und
leicht wie nur möglich zu gestalten. (Vrgl. 68, 78, 82, 91 u. ö.)
Abgesehen davon gab es für die Erhaltung des gegenwärtigen Guldenw^ertes
noch Gründe zweierlei Art; erstens erachtete man diesen Guldenwert an sich für
eine passende Wertgrösse für die Münzeinheit und zweitens bezeichnete man die
an die Herabsetzung auf die Hälfte geknüpften Erwartungen für eine Illusion.
In ersterer Hinsicht ist namentlich auf die Aeusserung Mengers zu ver-
weisen. Derselbe bezeichnete den Gulden für die Goldwährung als eine geradezu
ideale Münzeinheit, während in Deutschland entgegen dem Decimalsystem das
Zw^anzigmarkstück, in Frankreich das Zwanzigfrancsstück die Hauptmünze abgeben
müsse. Der hundertste Theil des Halbguldens wäre eine W^ertgrösse, welche der
Vorstellung nicht mehr ganz entspricht, wie denn auch in der That der gegen-
wärtige halbe Kreuzer in Oesterreich, der Centime in Paris gänzlich oder fast
gänzlich im Verkehr verschwinden (216).
Die andere Gruppe von Argumenten zielte, wie schon bemerkt, darauf ab,
die aus der Herabsetzung der Münzeinheit erwarteten Vortheile in Abrede
zu stellen.
Sehr scharf sprach sich in diesem Sinne Sax aus. Die Meinung, eine
kleinere Münzeinheit sei erwünscht, um auf die Preise einen Druck zu üben,
bezeichnete er als einen volkswirtschaftlichen Aberglauben. Wenn ferner auf dem
Markte z. B. vier Stück einer Ware zehn Kreuzer kosten, Jemand will aber nur
ein Stück, so wird er freilich nicht zweiundeinhalb, sondern drei Kreuzer dafür
bezahlen müssen, nicht wegen Mangels einer entsprechenden Münze, sondern aus
wirtschaftlichen Gründen, infolge deren überhaupt je kleiner das Verkaufsquantum,
desto höher der Preis ist. Dasselbe Vorgehen beobachte jeder Detaillist (255).
Ebenso skeptisch dachte Lieben: nur ein kleiner Theil der Bevölkerung, meinte
er, interessiert sich für diese Münzänderung und zwar jener, der eigentlich für
jedes Schlagwort zu haben ist, das ihm eine Verbesserung seines Zustandes ohne
eigene Anstrengung in Aussicht stellt (132). Als Beweise bezw. Folgen wurde insbe-
sondere angeführt: Centime und Pfennig seien nicht gangbar (132) — der
Hinweis auf die bei Einführung der österr. Währung gemachten Erfahrungen
w^o der alte Kreuzer einem minderwertigen Platz machte (1 alter = 1^4 neue).
366 Mataja.
aber durchaus keine Yerwohlfeilung, sondern infolge der Abrundungen eine Ver-
theuerung eintrat (Dutschka, 63) — die Erfahrung, dass auch in Deutschland
bei üebergang von der Thaler- zur Markwährung sich keine Verwohlfeiiung
ergab (BunzI, 54, Sax, 255) — die eventuelle Anpassung der Preise minder-
wertiger Waren an die neue Münzeinheit würde auf Kosten der Quantität und
Qualität vor sich gehen (Menger, 215) — die in runden Ziffern vor sich
gehenden Liberalitätsacte würden vielleicht verwohlfeilt werden, dies aber gerade
zum Nachtheil der Bedürftigen (Nava, 237) — bei Herabsetzung des Gruldens
auf den Halbgulden (Krone) müssten die unzähligen heute auf Gulden lautenden
Titres geändert werden oder die Manipulation mit ihnen wäre unbequem (Elbo-
gen, 78). i)
Für die Herabsetzung der Münzeinheit auf den halben Wert der gegen-
wärtigen sprach eine Eeihe von Eednern. Zgörski erwartete sich davon eine
Verwohlfeiiung und eine Anregung des Sparsinnes (72), Mataja glaubte, dass
eine solche eine bessere Anpassung der Preise und damit eine gerechtere Preis-
bildung ermögliche, sowie dass die Staatsverwaltung durch geeignete Feststellung
der Preise ihrer Tabakfabrikate etc. mannigfache Mittel an der Hand habe, den
Verkehr an die kleine Münze zu gewöhnen (161, 162); dafür äusserten sich
auch Mersi (174), Milewski (188) u. a. Taussig erklärte sich gleichfalls für
die kleinere Münzeinheit unter einem neuen Namen mit dem Bemerken, dass
^) Ich kann hier die Bemerkung nicht unterdrücken, dass mir manche der gegen
die Herabsetzung der Münzeinheit gebrauchten Argumente wenig stichhältig erscheinen.
Beispielsweise scheint mir die Berufung auf die mit der Einführung der österreichischen
und der Markwährung gemachten Erfahrungen sehr wenig Beweiskraft zu besitzen. Wenn
man eine Münzeinheit durch eine solche ersetzt, welche sich gegen erstere nur mit
Bruchtheilen umrechnen lässt — wer zweifelt daran, dass dann zahllose Abrundungen auf
Kosten des Publicums stattfinden? In Deutschland wiederum hatte der kleine Verkehr gar
nicht mit Thalern, sondern mit Groschen und Pfennigen gerechnet und das Umrechnungs-
verhältnis war hinsichtlich letzterer in Preussen etc. 360 alte = 300 neue Pfennige: des-
gleichen unbequeme Ziffern ergaben sich beim Verhältnis zwischen dem süddeutschen Gulden
und der Mark. Uebrigens wären meines Erachtens nicht einmal die durch solche Umstände
etwa beim Üebergang erzeugten ungünstigen Erfahrungen schlechtweg zwingend gegen
den Wert einer kleineren Münzeinheit ; sofern letztere überhaupt zweckmässig ist, wird
sie eben dauernde Vortheile abwerfen, während die Misslichkeiten aus dem Währungs-
übergang doch nur trän sitoris eher Art sind. Dass aber heute in Deutschland der Pfennig
nicht gangbar sei, ist doch sicherlich eine viel zu weitgehende Behauptung; in Frankreich
spielt der Centime wenigstens rechuungsmässig eine gewisse KoUe. Gegen die Ausführungen
des Prof. Sax möchte ich bemerken, dass im kleinen Verkehr das Bedürfnis, wegen Ent-
nahme geringer Quantitäten höhere Preise anzusetzen, sich sonderbarer' Weise regelmässig
gerade dort geltend macht, wo die geeignete Münze fehlt oder spärlich vertreten und
wenig gangbar ist, (wie unser halber Kreuzer schon durch diese Bezeichnung!) um den
Preis genau auszudrücken. Kosten vier Eier zwölf Kreuzer, so wird man eines sicherlich nicht
mit vier Kreuzern berechnen, also ruhig die kleinere Quantität ebenso berechnen, wie die
etwas grössere; kostet ein Liter Wein oder drgl. 36 Kreuzer, so wird das Viertel
sicherlich 9, und wenn er 26 Kreuzer kostet, 7 Kreuzer kosten. Schon diese Beobachtung
lehrt, dass die Abrundungen nicht erfolgen, um den grösseren Abnehmer zu begünstigen,
sondern weil die entsprechende Münzeinhezeit nicht zur Hand ist um die Preise genau
anzusetzen. Ganz anders steht die Sache natürlich, wenn es sich um die Abnahme von
grösseren Quantitäten als üblich handelt, wenn also Jemand bei der in dieser Debatte
Die österreichische Währungs-Enquete. 367
andernfalls zwei Goldgulden ^) von ganz verschiedenem Wert existierten, was zu
Irrthümern und Verwicklungen Anlass geben konnte (267). Lindheim war
dafür, den in hundert Kreuzer einzutheilenden Gulden wie früher beizubehalten,
daneben aber eine zweite Münzsorte den Halbgulden oder die Krone zu schaffen,
die aber nicht hundert halbe Kreuzer, sondern hundert „Kronkreuzer" zu gelten
habe, da dem Umlauf einer Münze die Bezeichnung als „halbe" entgegenstünde
(143, 144).
Ganz allgemein traten die Anhänger des alten Guldenwertes für die
Schaffung einer Fünfzigkreuzermünze ein, wie überhaupt mannigfache Bemerkungen
über die Stückelung der Scheidemünze vorgebracht wurden.
Die W^ährungs-Enquete hat, wie man aus Vorstehendem ersieht, eine Fülle
verschiedenartiger Erörterungen gebracht. Sie hat, wie das bei den Enqueten
volkswirtschaftlichen Charakters Regel, nicht bloss die vorhandenen Divergenzen
der Ansichten, sondern auch der Interessen klargestellt, was dann noch durch
die Presse, namentlich jene unteren Ranges, eine wenn auch nicht immer
geschmackvolle, so doch deutliche weitere Illustration gefunden hat. Die kleinen,
bei ähnlichen Gelegenheiten nun einmal unvermeidlichen Ausfälle auf die Theorie
und die Theoretiker etwa abgerechnet, waren die Verhandlungen im ganzen ruhig
und streng sachlich abgelaufen. In seiner Antwort auf die ihm in der Schluss-
sitzung namens der Commission dargebrachte Danksagung sprach Finanzminister
Dr. Steinbach das unter solchen Umständen bedeutungsvolle Wort aus, dass- er
bei Leitung der Verhandlungen getrachtet habe objectiv zu sein und diesen
Weg auch in Zukunft zu verfolgen trachten werde. Die grosse Reforfti, in diesem
Sinne unternommen, wird dann zweifellos die beste Gewähr des Gelingens in sich
tragen und Jenen, welche sie durchgeführt, einen Ehrenplatz in der Geschichte
der Consolidierunsr und des Fortschrittes der Monarchie sichern.
oft genannten Eierfrau nicht ein paar Stück Eier, sondern ein paar Dutzend kauft;
dann tritt eine wirklich beabsichtigte Preisermässigung ein. Abgesehen also von jenen
Fällen, wo es am Mangel geeigneter Münze liegt, ist es im Detailhandel doch wahrlich
nicht Regel, dem Käufer der zwei oder drei Stück nimmt, vor jenem zu begünstigen,
der nur eines braucht; wo die entsprechende Münze fehlt, wird dies jedoch geradezu zur
Nothwendigkeit. Die durch die höhere Münzeinheit bewirkten höheren Preise
kommen übrigens viel weniger der Industrie, als dem Zwischenhandel zu Gute. Man
kann natürlich nicht erwarten, ja nicht einmal wünschen, dass durch die Einführung der
kleineren Münzeinheit Alles wohlfeiler werde, indem Einer hierbei nur gewinnen könnte,
was ein Anderer verliert, und ein solcher Wunsch in dieser Allgemeinheit unbillig wäre.
Was man aber im Interesse der Volkswirtschaft und der Gerechtigkeit wünschen muss,
ist die genaue Anpassung des Preises an den Wert des Gebotenen, die thunlichste Be-
schränkung der regelmässig gegen das Publicum gerichteten Abrundungen und der
gewohnheitsmässig nachlässigen Behandlung geringer Wertgrössen.
1) Genau genommen gibt es jetzt schon zweierlei Goldgulden, den Münz-Gold-
gulden z= 2 Mark und den Zoll-Goldgulden zz 2^/2 Francs. Vrgl. die Auseinandersetzungen
von Kreibig in Doms Volksw. Wochenschrift vom 11. Februar 1892.
LITERATURBERICHT.
Dr. Julius Laudesber^er. Währungssystem und Relation. Beiträge zur
Währungsreform in Oesterreich-Üngarn. Wien 1891.
Der Verfasser der vorliegenden Schrift, die zu den gediegeneren gehört, die über
Währungsreform in Oesten'eich geschrieben worden sind, behandelt das Problem in zwei
äusserlich sowohl wie dem Inhalte nach selbständigen Abhandlungen; der erste Theil
über das Währungssystem (Seite 1 — 148) sucht auf Grund einer zusammenfassenden Dar-
stellung und Kritik der gegenwärtigen internationalen Währungszustände einen praktischen
Vorschlag für die concrete Gestaltung unseres künftigen Währungssystems aufzustellen,
der zweite Theil über die Relation ist ausschliesslich der Erörterung dieses schwierigen
und strittigen Punktes gewidmet, woran eine Tabelle, die Bewegung des internationalen
Geldmarktes während kritischer Perioden des letzten Dececniums darstellend, sich an-
schliesst. Auf die Frage des Münzsystems und der Münzeinheit geht der Verfasser „um
der Begrenzung des Stoffes willen" nicht ein, was indes gerade bei seinem Währungs-
project erwünscht gewesen wäre; dieser Abschnitt hätte darthun sollen, ob und in wie-
fern eine von vielen gewünschte Aenderung des Münzsystems mit seinem Vorschlag, der
die Eeform organisch auf dem Boden des Bestehenden aufbauen will, vereinbar sei.
Um nun des Näheren auf den reichen und klar dargestellten Inhalt des Buches
einzugehen, ^ei es mit dem Verfasser zuerst hervorgehoben, dass es sich in Oesterreich
nicht um eine einfache Wiederaufnahme von Barzahlungen handelt, welche sich mit der
unpraktischen und unerwünschten Rückkehr zur Silberwährung decken würde, sondern
um eine Combination von Maassnahmen, die einerseits die metallische Grundlage für das
Währungssystem restituieren sollen, andererseits durch das Bedürfnis der Aufnahme des
Goldes in die Circulation einen Währungswechsel involvieren und diesen durchzuführen
haben. — Die Erörterungen über das Währungssystem umfassen vier Capitel, deren I.
sich mit den principiellen Argumenten gegen die Doppelwährung befasst und deren Ein-
fluss auf die deutsche Währungsreform schildert und vielfach trefflich kritisiert. Nach
Feststellung des Parallelismus der deutschen Wähi-ungsreform mit dem in Oesterreich zu
lösenden Problem geht der Verfasser im II. Capitel auf den Stand der internationalen
Währungsfrage ein, bespricht eingehend die Preisdepression • der letzten siebzehn Jahre,
wobei er geschickt viele Ansichten widerlegt, die der Goldwährung zu Liebe jeden Ein-
fluss derselben auf die Preisdepression negieren, femer die Symptome der voraussichtlichen
monetären Entwickelung und die neueste amerikanische Silbergesetzgebung. Das III.
Capitel enthält eine Kritik der bestehenden Währungssysteme, insbesondere des deutschen
und des französischen Typus der hinkenden Währung, worauf eine treffliche und viel
Gutes bietende Besprechung des Wesens und des Unterschiedes von Goldagio und Gold-
prämie, und daran sich anschliessend der Discontopolitik und der Prämienpolitik folgt,
mit ausreichender Berücksichtigung der monetären Situation der letzten Jahre. Der
Darstellung der concreten Gestaltung des künftigen Währungsystems ist das IV. Capitel
gewidmet, wobei die Lage. Aufgabe und Mitwirkung der östeiTeichisch - ungarischen
Bank bei der Währungsrefonn eingehende Besprechung und Berücksichtigung finden.
Der Verfasser ist ein Anhänger des Bimetallismus, und diese seine principielle
Stellung ist durch den ganzen Inhalt des Buches ebenso hervorleuchtend, Avie sachlich
Literatiirbericht. 360
motiviert. Er gehört aber nicht zu der Kategorie der abstracten Principienreiter, die
jedem Problem ein absolutes entweder — oder entgegenstellen, die gleich das Beste oder
gar nichts wollen, sondern er trachtet nur nach dem derzeit Erreichbaren, mag es auch
dem Ideale der Währungs Organisation nicht am nächsten kommen, wenn es demselben
nur nahe genug kommt. Seiner praktischen Anschauung gemäss stellt er den Vor-
schlag einer dem französischen Typus entsprechenden hinkenden Währung, wobei unser
bisheriges Courantgeld ohne eine Einschränkung der Zahlkratt im Verkehr bleiben würde,
wiewohl es dann eigentlich als ein Surrogat der die Wertmessung und Kaufkraft be-
stimmenden neuen Goldmünzen auftreten wird. Diese Art von Währung entspricht zwar
nicht den reinen Typen der Doppel- oder der Goldwährung, ist rein theoretisch nicht
richtig, praktisch auch nicht ohne Gefahr, indes lässt sie sich leichter aufbauen auf die
thatsächlichen Währungsverhältnisse in Oesterreich und ist auch leichter zu erhalten. Die
Ueberlegenheit des französischen Geldmarktes beruht zum grossen Theile darauf, dass
die französische Bank neben der Discontoschraube auch der Prämienpolitik sich
bedienen kann. Nasse und viele Andere haben öfters — wohl nicht ohne Eücksicht
auf die zahlreichen sich über so häufige Discontoänderungen in den Goldwährungsländern
beklagenden Stimmen — geradezu als einen Vorzug der Goldwährung bezeichnet, dass
sie zur vorsichtigeren Discontopolitik zwingt. — Der Verfasser stellt dem gegenüber die
richtige Unterscheidung auf zwischen inneren und äusseren Ursachen der Bedrohung der
Metallreserve, und will je nach der Art der Gefahr ein anderes Rettungsmittel anwenden.
„Die Discontopolitik ist am Platze, warnend und zügelnd einzugreifen, wenn und soweit
die Gestaltung der Circulation eines Landes bedingt ist, durch dessen eigene wirtschaftliche
Entwickelung. Aber gegen die Eeflexwirkung der von aussen andringenden Circulations-
spannungen und Krisen wollen wir unserem Geldmarkte ein stärker und rascher
wirkendes und den heimischen Verkehr minder empfindlich treifendes Correctiv zur
Verfügung gestellt wissen: Die der Centralbank rechtlich und factisch gewährte Möglich-
keit, eine Goldprämie zu erheben. (S. 134)."
Der Standpunkt des Verfassers erinnert vielfach an den von John Prince-
Smith's vor 20 Jahren auf dem volkswirtschaftlichen Congress eingenommenen; wie
damals Pr ine e- Smith nur für eine Einführung des Goldes in die Währung, ohne
Silberdemonetisation, eintrat und vor einer weiteren Entscheidung die Folgen davon erst
abwarten wollte, ebenso will der Verfasser in Oesterreich nur diesen einen Schritt thun,
wozu ihn ausser den obigen Gründen die Rücksicht bewegt, um durch einen zu
entschiedenen Schritt (in der Richtung der Goldwährung) der endgiltigen Regelung der
Währungsfrage nicht vorzugreifen oder dieselbe zu hindern. — In Deutschland siegte
Soetbeer gegen Prince- Smith, man wollte eben nicht abwarten, man wähnte —
ungeachtet der Schriften Wolowski's und Seyd's — alles schon voll und ganz zu
wissen, entschieden wollte man sich nicht mit einem Uebergangszustand befriedigen,
sondern sogleich eine neue Währung feiiig haben, nnd diese rücksichtslose Entschlossenheit
ist doch trotz immenser Mittel und grosser Verluste stecken geblieben, ihre Prämissen
haben sich zum grossen Theile als falsch erwiesen, das Währungsproblem ist durch den
Uebergang Deutschlands zur Goldwährung nicht gelöst, sondern erst recht geschaifen
worden. Auf Grund dieser Erfahrung und der anerkannten Unmöglichkeit einer allgemeinen
Goldwährung, wenn auch nur der hochcivilisierten Völker — Nasse und Lexis
glaubten ja überhaupt nicht an die Möglichkeit der Goldwährung in Oesterreich —
muss man dem Verfasser auch zustimmen, wenn er die Währungsfrage nicht überstürzt
entscheiden sondern allmählich sich entwickeln lassen und in der Richtung der Gold-
währung nur die durchaus nöthigen Schritte thun will. Damit steht wohl aber im
Widerspruch, wenn er schon jetzt der Regierung in Aussicht stellt bei verbesserter,
Marktlage für das Silber unseren Silberbestand — dessen Höhe er noch ohne Berück-
sichtigung der Eventualität des Zurückströmens unserer Thaler berechnet — allmählich
gegen Gold auszutauschen. Dies würde ja einen entschiedenen Uebergang zur reinen
Goldwährung bedeuten, unsere Prämienpolitik wäre dahin, es müsste die Lage des Silbers
— denn dafür ist die Thatsache der Aussercourssetzung viel wichtiger als das Quantum
370 Literaturbericht.
des realen Angebots — verschlimmern, noch mehr das Zustandekommen des auch dem
Verfasser erwünschten Bimetallismus erschweren. — Auch darf man wohl den Optimismus
des Verfassers nicht theilen, w^enn er auf fremden Erfahrungen beruhend voraussetzt, dass
auch bei uns nur wenige Staatsnoten zur Einlösung präsentiert würden; im Gegentheil,
es ist zu befürchten, dass eine Art von Misstrauen gegen das Gelingen der Reform
ebenso wie eine leicht sich weckende Vorliebe für neue Goldmünzen zur Festhaltung
eines bedeutenden Theiles des neuen Goldes sowohl in Privat- wie in commerziellen
Kreisen führen könnten. Jedenfalls darf man diese Möglichkeit nicht ausseracht lassen.
Der zweite Theil des Buches beschäftigt sich mit der sogenannten Eelation, d. i.
richtiger gesagt mit der Frage, welches Goldquantum dem Gulden ö. W. gleichgesetzt
werden soll. Der Verfasser unterscheidet zwischen ökonomischer Relation, für die er
den Courswert des Guldens ö. W. zur Zeit des Währungswechsels entscheiden lassen
will, und der juristischen Relation, welche die Schulden individualisierend nach dem
Zeitpunkte ihrer Entstehung soweit damit das Postulat der Prakticabilität vereinbar ist,
umrechnen soll. Dem Verfasser selbst entgeht es nicht, dass dies viele Schwierigkeiten
verursachen würde, so bei den Inhaberpapieren, Steuern u. s. w., und Referent kann sich
nicht mit diesem Theile der Schrift einverstanden erklären. Auch bei vielen Privat-
schulden stehen sich jetzt oft ganz andere Personen (und seit verschiedener Zeit) gegen-
über, als zur Zeit ihrer Entstehung, das Streben nach absoluter Gerechtigkeit würde
auch hier oftmals das summum ius summa iniuria thatsächlich hervorrufen. Ueberhaupt
steht Referent in dieser Frage des Goldinhalts des zukünftigen Guldens auf einem
anderen Standpunkt, wie die ihm bekannten diesbezüglichen Ansichten in Oesterreich;
die Einen wollen 1 Gulden der ehemals '-^/s Th. war, nunmehr mit 2 Mark Gold eingelöst
sehen. Andere wollen sei es die Momentrelation des Währungswechsels, sei es den
Durchschnitt der letzten Jahre, sei es den Cours der Entstehungszeit der Verbindlich-
keiten zur Basis der Umrechnung wählen. Allen diesen Anforderungen entsprach man
in Deutschland, wo die Einführung der Goldwährung sich auf der Basis von 1 : löVa
vollzog, was wirklich damals sowohl der Moment- wie der Durchschnittsrelation, wie dem
Course der Entstehungszeit der Schulden entsprach; aber der üebergang Deutschlands
zur Goldwährung hat eine Goldwertsteigerung verursacht, und da jene auf einer
ex präterito gewählten ümrechnungsbasis beruhte, so ward dadurch die Last sämmtlicher
Schulden positiv vergrössert. Wir müssen daher im voraus mit der Thatsache einer
Goldwertsteigerung infolge der Aufnahme des Goldes in unsere Währung rechnen.
Unsere Reform wird auf zwei Wegen den disponiblen Goldschatz der bisher sich des
Goldes bedienenden Nationen verringern, einmal durch die mehr wie 300 Millionen, die
wir für den Umlauf nöthig haben werden, und welche bei dem kolossalen industriellen
Goldverbrauch den ganzen Ueberschuss der Production von 3 — 4 Jahren absorbieren
werden, dann durch die infolge unserer Reform auftretende Aussercourssetzung unserer
Thaler in Deutschland, an deren Stelle Gold wird treten müssen. Die neueste Rede
Go Sehens, welche an seinem früheren Project festhält, die Bankgoldreserve zu verstärken,
durch ausgedehnte Ersetzung des Goldes im Verkehr durch Pfundnoten, die kurzen
Schicksale des Goldumlaufs in Italien, zeigen deutlich dass eine dauernde — und das
wollen wir ja — Ersetzung anderer Circulationsmittel durch Gold wohl nicht ohne
Einfluss auf den Goldwert wird bleiben können. Dementsprechend müsste man auch den
Goldinhalt des Guldens mit Berücksichtigung der voraussichtlichen Goldwertsteigerung
bestimmen. Wie viel Gold wir anno x für 1 Gulden hätten kaufen können, wo wir ihn
doch nicht gekauft haben, also auf die Nachfrage folglich auch auf den Goldwert über-
haupt nicht einwirkten, das hat nur ein historisches, kein praktisches Interesse. Dies
Interesse muss aber danach streben den Goldinhalt so zu bestimmen, dass wir künftighin
nur so viele Waren für 1 Goldgulden zu geben haben werden, wie wir in den letzten
Jahren gegeben haben. Ohne dies zu berücksichtigen würden wir unser Rechtsgefühl,
Production, Finanzen, äusserst verletzen. Der Verfasser geht auf die finanzielle Seite der
Reformfrage nicht ein; sie wird auch gewöhnlich so gestellt, als ob es sich nur um die Frage
der Deckung der Zinsen von einem neuen grossen Anlehen handeln würde; man sollte
Literaturbericht. 371
aber nicht unerwägt lassen, ob bei einer ex präterito gewählten Umrechnungsbasis nicht
in futuro eine reale und nicht geringe Vergrösserung der ganzen inländischen Zinsen-
und Schuldenlast sich einstellen würde; für die bereits in Goldwährung contrahierten
wird das wohl jedenfalls unausbleibig sein. In England hat man ja manchmal (z. B.
Gold and Silver Commission, Final Ep. I 149, II 128) sich für Goldwährung erklärt,
da England der Gläubiger des Weltalls ist — demgegenüber müssten wir doch wohl
an unsere Verschuldung denken und nicht durch falsche Umrechnung die Staats- und
Communalschuldenlast — ebenso natürlich auch die Privatschulden — unberechtigter
Weise zu Gunsten der Gläubiger vergrössern. Darin liegt der Kernpunkt auch der finan-
ziellen Seite der Frage. Wir wollen den Gläubigern nicht weniger geben, wie ihnen gebürt,
aber auch nicht mehr. Freilich bietet die Forderung die künftige Wertsteigerung des
Goldes zu berücksichtigen manche und grosse Schwierigkeiten, man darf sie aber nicht
vernachlässigen, denn unsere Reform wird dies verursachen. Hat man dies gethan so
wird man auch keinen Unterschied zwischen ökonomischer und juridischer Eelation
zu thun brauchen, Alles wird sich einheitlich regeln lassen.
Diesen im December vorigen Jahres geschriebenen Ausführungen ist nun hinzu-
zufügen, dass in der Yaluta-Enquöte in Wien mehrere Stimmen, vor allem aber Prof.
C. Menger in ausgezeichneter Weise die Nothwendigkeit bei der Festsetzung der Re-
lation die Wertsteigerung des Goldes zu berücksichtigen, dargethan hat.
Dr. J. V. Milewski.
Au introcluction to the theory of valiie on the lines of Men^er, Wieser
and Böhm-Bawerk, by Williaiii Smart, London, Macmillan and Co., 1891, VI und
88 Seiten.
Der Verfasser dieser Schrift hat sich um die Verbreitung der Lehren der öster-
reichischen Nationalökonomen grosse Verdienste erworben, er ist der Uebersetzer des
Böhm'schen Werkes über das Capital, gegenwärtig Avird unter seiner Anleitung eine
Uebersetzung des Wieser'schen Werkes über den natürlichen Wert ausgearbeitet und
auch das vorliegende Büchlein ist dazu bestimmt, eine specifisch österreichische Lehre
den englichen Fachgenossen näher zu rücken. Es wird darin die Wertlehre, wie sie in
den Schriften Mengers, Wiesers und Böhms niedergelegt ist, dargestellt, auch das, was
in diesen Werken über den Preis gesagt wurde, findet Berücksichtigung; bloss die
Beziehungen zwischen der Wert- und Preislehre und dem Vertheilungsproblem bleiben,
eben mit Rücksicht auf die Uebersetzung des Wieser'schen Werkes, ausser Betracht.
Deshalb wohl nennt sich die Schrift eine Einleitung zur Wertlehre; denn von dieser
Beschränkung abgesehen, ist die Arbeit trotz ihrer Kürze eine gelungene Darstellung der
sämmtlichen einschlägigen Hauptlehren und wohl geeignet, das Verständnis derselben
zu fördern.
Nach einer kurzen Einleitung gibt der Verfasser zunächst eine Analyse des Wertes
und begründet den Unterschied zwischen Nützlichkeit und Wert; es folgt eine Unter-
suchung über die Wertscala und den Grenznutzen, wobei stets gut gewählte Beispiele
zur Erläuterung herangezogen werden. Die Untersuchung des Wertes der complementären
Güter, schliesst den Theil. der sich mit dem Werte, ohne Rücksicht auf den Gütertausch
beschäftigt. Nach einer Darlegung des subjectiven Tauschwertes kommt der Verfasser
zum objectiven Tauschwerte und zum Preis. Im Sinne der Ausführungen Böhms stellt
der Verfasser fest, dass der Preis sich innerhalb der subjectiven Bewertungen des „besten"
Käufers und des „besten" Verkäufers, also des sogenannten Grenzpaares festsetzen w^erde.
Dabei wird die Wertschätzung des Geldes gebürend beachtet. Mit besonderer Ausführlich-
keit behandelt Smart die Beziehung der Grenznutzentheorie und der Lehre von den
Productionskosten. Er legt dar, dass die Productionsmittel ihren Wert von dem der
Befriedigungsmittel ableiten; da aber aus einem Productionsmittel verschiedene Güter
hervorgehen, so werde der Wert der letzten ökonomisch noch erzeugbaren Güter den
Wert der Productionsmittel bestimmen, während der Wert aller übrigen aus dem Pro-
ductionsmittel hervorgehenden Güter auf den Wert jenes Grenzproductes abgeglichen
werde. Es sei also vollkommen richtig, dass bei beliebig reproducierbaren Gütern die Kosten
372 Literatlirbericht.
den Wert bestimmen. Doch sei dies bloss Ein Fall der Anwendung des allgemeinen
Gesetzes, dass der Grenznutzen für den Wert maassgebend ist, indem doch immer der
Grenznutzen bestimmt, welche Productionskosten wirtschaftlicherweise aufgewendet werden
können. Vermehrt sich die Menge eines Productionsmittels, so werde eine neue Grenz-
verwendung des Productionsmittels geschaffen. Kurz das Kostengesetz ist ein secundäres
Gesetz für gewisse Güter, die Lehre vom Grenznutzen gibt das allgemeine und fundamen-
tale Wertgesetz.
Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, dass der Verfasser selbst der von ihm
dargestellten Wertlehre beistimmt. Seine sehr klaren und eindringlichen Darlegungen werden
auch von deutschen Lesern mit Nutzen studiert werden. Robert Zuckerkandl.
Ghino Valenti. La teoria del Valore, Roma, LoescJier 1890 (240 S.).
Die italienische Wissenschaft hat sich mit dem Wertprobleme in den letzten
Jahren vielfach befasst; die verschiedenen Lehren, welche die Literatur der europäischen
Culturvölker aufweist, haben, wie z. B. die ausgezeichneten dogmengeschichtlichen Arbeiten
Graziani's, Montanari's und Loria's nachweisen, in ihrer Mehrzahl auch in Italien
ihre Vertreter gefunden; am eifrigsten aber wurde in letzter Zeit die von Ferrara genial
aufgefasste Reproductionskosten-Theorie und die Menger'sche Lehre vom Grenznutzen
verfochten. Als die hervorragendsten Werttheoretiker möchten wir übrigens Achille
Loria und Giulio Alessio bezeichnen, weil ihre von einander und von den sonst in
Italien herrschenden Theorien vielfach abweichenden Anschauungen von ihnen mit her-
vorragender Meisterschaft begründet worden sind. Das vorliegende Werk, in welchem
der Autor den Auffassungen Loria's nahekommt, stellt es sich zur Aufgabe, das viel-
erörterte Problem nochmals, und zwar so recht von seinen Grundlagen herauf durchzu-
arbeiten. Der Autor beginnt daher auch nicht ohne weiteres mit der Entwickelung des Wert-
begriffes, sondern untersucht in erster Reihe die Begriffe „Reichth um" und „Nützlichkeit".
Unter Reich thum „ricchezza" versteht er den Inbegriff jener Güter, welche, sei es wegen
der zu ihrer Herstellung erforderlichen Arbeit, sei es wegen ihres quantitativ wirt-
schaftlichen Charakters oder aus beiden Gründen, weder direct, noch im Wege des
Tausches ohne Opfer erworben werden können.
Die Nützlichkeit ist die durchaus subjective Eigenschaft eines Gutes, menschliche
Bedürfnisse zu befriedigen; sie ist wenigstens allgemein und social objectiv und quanti-
tativ nicht messbar. Der Wert dagegen ist quantitativ verschiedenartig, qualitativ aber ein-
heitlich, weil er von Ursachen beherrscht wird, welche innerhalb gewisser zeitlicher und
örtlicher Grenzen gesellschaftlich wirksam sind; er kann daher gemessen werden; er stellt
nichts anderes dar, als die Schätzung der zwei Tauschgütern innewohnenden gegen-
seitigen Schwierigkeit der Erlangung, also die Macht, eine Sache gegen eine gegebene
Menge anderer Dinge auszutauschen und steht im Verhältnisse zu dieser Schwierigkeit
der Erlangung. Daraus ergibt sich, dass Valenti nach dem Vorgange der meisten
Italiener unter Valore nur die Kategorie des Tauschwertes versteht. Seine Auffassung
über den Gebrauchswert (S. 29) und die dadurch begründete Zurücksetzung dieses
Begriffes scheint uns nicht ganz überzeugend; ebenso sind seine Erörterungen über den
Begriff des subjectiven Wertes und seine Polemik gegen v. Böhm-Bawerk in diesem
Punkte wenig beruhigend, obwohl mit der oben mitgetheilten Wertdefinition fast von
selbst gegeben. Die Kosten sind im Gegensatze zum Wert, der auch bei Naturproducten
vorkommen kann, die reelle Summe der Anstrengungen, Opfer und Gefahren, welche der
Production innewohnen; die Begriffe Wert und Kosten decken sich also nicht ohne
weiteres; die Kosten setzen sich nicht nur aus Arbeit zusammen und sind immer vom
Standpunkte des Producenten aus zu beurtheilen ; (S. 36 f.) sie können unter Umständen
auch Uebergewinne umschliessen.
Den Begriffen „Wert" und „Kosten" steht der Begriff „Preis" gegenüber. Preis
ist die concrete Manifestation des Wertes; damit sich der Preis bilde, ist es durchaus
nicht nothwendig, dass „Geld" existiere; dagegen kann, wenn Geld existiert, zwischen
reellem und laufendem Preise unterschieden werden, je nachdem jene Ware, welche man
für den Geldpreis des Verkaufsobjectes erwerben kann, oder dieser Geldpreis selbst als
Literaturbericlit. 375
Preis betrachtet wird. — Da nun der Wert keine innere Eigenschaft der Güter ist,
sondern sich aus einem auf äussere Thatsachen aufgebauten Urtheile ergibt, da er somit
von Natur aus wandelbar ist, gibt es kein exactes Maass des Wertes; ein solches ist
auch das Geld nicht; das Geld erleichtert nur den Tausch, schafft gewissermaassen einen
gemeinsamen Nenner für die Rechnung. Diese Betrachtungen, welche eine genaue Ver-
trautheit mit der einschlägigen Literatur ausser Zweifel stellen, schliessen den ersten Theil
des Buches. Der zweite gibt eine kritische Dogmengeschichte des Wertes, welche mit
Ricardo beginnt und mit der Menger'schen Wertlehre und zwar hauptsächlich mit der
Lehre v. Bühm-Bawerk's abschliesst. Die Untersuchung der letzteren scheint uns
nicht tief genug und übersieht unseres Erachtens den Kern derselben; Yalenti schliesst
sich auch dieser Lehre nicht an, sondern entwickelt im 3. Theile seines Werkes eine
andere Theorie, deren Hauptresultate im folgenden gedrängt wiedergegeben werden
sollen. Grundlegend ist und bleibt für Yalenti die Lehre Ricardo's; um ihre Lücken
auszufüllen, genügt es, die Gesetze aufzudecken, welche die Abweichungen von dem
durch die Kosten bestimmten Nonnalmaasse des Wertes herbeiführen.
Das allgemeine Wertgesetz ist absolut; unter allen Umständen und zu allen Zeiten
stellt sich der Wert der Güter proportional der Schwierigkeit ihrer Erlangung; diese
besteht in jener qualitativen und quantitativen Beschränktheit der natürlichen Güter,
welche durch directe und indirecte Arbeit überwunden werden muss; bei freier Concur-
renz besteht sie ausschliesslich aus den Productionskosten (s. S. 182); wenn freie Con-
currenz fehlt, im Grade der Beschränktheit des Gutes (s. S. 169 f.). Positive und nega-
tive Ursachen (s. S. 171 ff.) bewirken, dass unter bestimmten Verhältnissen und in be-
stimmten Perioden der Wert dauernd über oder unter den Kosten bleibt; in solchen
Fällen liegen specielle oder historische Wertgesetze vor. Wenn der Austausch zwischen
körperlichen Sachen oder Diensten auf Grund der Kosten erfolgt, liegt kein Privileg
und kein Monopol vor; bei der Gütervertheilung, welche durch den Tausch erfolgt, er-
hält in diesem Falle jeder jene Gütermenge, deien Erzeugung seiner Theilnahme an der
Production zuzuschreiben ist ; wenn dagegen der Austausch mit Rücksicht auf die quanti-
tative Beschränktheit der Güter erfolgt, fehlt die gerechte Vertheilung; diese Beschränkt-
heit ist die Ursache jeder ökonomischen und socialen Ungleichheit, sie selbst aber beruht
auf dem Mangel freier Concurrenz. Nur die Arbeit, welche Ursache des Wertes dann
ist, wenn sie eine Belästigung (pena) darstellt, ebenso wie auch das Capital nur insoferne
Wert hat, als es Arbeit und eine Belästigung darstellt, ist wirtschaftlich productiv, nur
aus ihr kann eine absolute Vermehrung des gesellschaftlichen Eeichthums entstehen, auf
andere Weise gibt es nur eine Verschiebung desselben. Hieraus ergeben sich die Prin-
cipien des ökonomischen Fortschrittes, der in einem beständigen Kampfe gegen die
quantitative Beschränktheit der Güter besteht, und daraus wieder eine Reihe von Sätzen»
die in den Rahmen der Socialpolitik fallen und sich vielfach auf die Anschauung gründen,
dass zu wenig Capital vorhanden sei, die Arbeit daher nicht im Gleichgewichte mit den
natürlichen und künstlichen Productionsfactoren stehe.
Die Betrachtungen, auf welche sich diese Schlussergebnisse stützen, sind überaus
eingehend, scharfsinnig und gewissenhaft durchgeführt; sie umfassen auch das Problem
der Monopolwerte, der Werte von mit verschiedenen Kosten und zu verschiedenen Zeiten
hergestellten Producten, der mit gemeinsamen Kosten erzeugten, das Problem der Werte
complementärer Güter, jenes des internationalen Tausches, das der Werte von Diensten,
das Lohn-, Zins- und Rentenproblem, sowie die Frage des Unternehmergewinnes; einigen
Capiteln, so z. B. dem Abschnitte über die Grundrente, müssen besondere Vorzüge nach-
gerühmt werden; die Resultate selbst sind aber doch nicht vollständig befriedigend und
widerlegen wohl kaum alle die gewichtigen principiellen Einwendungen, welche gegen
die Kostentheorie bestehen. Wohl aber reizt das vorliegende Buch zu neuerlichem
Studium des Wertproblems unter den mannigfachen Gesichtspunkten an, die z. T. erst
von Valenti mit voller Bestimmtheit gewählt worden sind. Ob freilich nicht auch
hiebei wieder eine andere als die Ricard'sche Lehre zum Siege gelangen würde, müssen
wir hier dahingestellt sein lassen. Schullern.
374 Literaturbericht.
Grhiuo Valenti. Le Idee economiche di Gian Domenico üomagnosi; saggio
critico, Eoma, Loescher 1891 (226 S.).
Es war eine pietätvolle That des Autors, aus den zahlreichen Yolkswirtschaftlichen,
philosophischen, rechtswissenschaftlichen und geschichtlichen Schriften Romagnosi's
die wichtigsten auf die politische Oekonomie bezüglichen Gedanken hervorzuheben, diesen
geistvollen Gelehrten hiedurch ins Gedächtnis der heutigen Fachmänner zu bringen und
so seinen Verdiensten ein schönes Denkmal zu setzen. Die Ausführung dieser Idee durch
Y a 1 e n t i ist eine sehr lobenswerte, da sich im grossen und ganzen das vorliegende
Buch strengster Objectivität befleissiget und wie schon das Inhaltsverzeichnis lehrt, das
Thema in trefflicher Anordnung behandelt. Romagnosi gehört zu den Koryphäen der
italienischen Nationalökonomie ; allerdings lebte er in einer Zeit tiefen Verfalles der Wissen-
schaft, um so verdienstlicher erscheint aber sein Wirken, das noch mehr als ein halbes
Jahrhundert nach seinem Tode einen jungen Gelehrten zu ausgedehnten Specialstudien
über seine Arbeiten begeistern und nach den gewaltigen Umwälzungen, welche die
Wissenschaft seither erfahren hat, noch volles Interesse erwecken kann. — Valenti,
hebt eine Eigenthümlichkeit Romagnosi's besonders hervor, welche gerade gegenwärtig
doppeltes Interesse erwecken muss ; sie bestand darin, dass er die Wirtschaft mit Moral
und Recht in innige Verbindung brachte, so dass in seinen juridischen Schriften stets
der liberale Oekonomist zu Tage trat. Da heute der Gedanke, volkswirtschaftliche Ge-
sichtspunkte in der Rechtswissenschaft zur Geltung zu bringen, wenn auch langsam
ihrer bisherigen, mehr formalistischen Gestaltung gegenüber Boden gewinnt, ist es von
besonderem Interesse, einen verhältnismässig so frühen Träger dieser Idee vor Augen
zu haben. Vor allem tritt hier sein Werk: „Introduzione al diritto pubblico" hervor,
in welchem mit tiefem Bewusstsein nachgewiesen wird, dass die ökonomische Ordnung
das Substrat der juridischen und dass die Principien, welche die eine und die andere
beherrschen, innig mit einander verbunden seien.
Wir können uns nicht darauf einlassen, alle wichtigen Einzelnheiten der Lehren
Romagnosi's hervorzuheben, beschränken uns vielmehr darauf, einige Capitel aus
Valenti's Buch zu bezeichnen, welchen unseres Erachtens eine allgemeinere Bedeutung
zukommt; dies gilt z. B. vom Absatz 2 des IL Capitels im I. Theile, worin die Bedeutung
der freien Concurrenz als Hauptgrundsatz der Wirtschaft hervorgehoben, aber auch gewisse
Schranken, welche sie anerkennen müsse, markiert werden i^s. S. 44). Die Stellung der
Volkswirtschaftslehre zu den Rechtswissenschaften behandeln die ersten Abschnitte des
III. Capitels. Aus dem 11. Theile, welcher Romagnosi's wirtschaftliche Begriffe und
Theorien untersucht, verweisen wir besonders auf Capitel I. Abschnitt III, welcher das
Wertgesetz behandelt; Romagnosi betrachtet nur den subjectiven Wert und bezeichnet
ihn als die von den Menschen anerkannte Nützlichkeit einer Sache; im übrigen finden
sich in seiner Wertlehre unstreitig gewisse Anklänge an die Lehre Mengers, ohne dass
aber unseres Erachtens denselben eine nennenswerte Bedeutung zukäme. Auch der
Abschnitt über die Entwickelung und den wirtschaftlichen Fortschritt weist interessante
Anschauungen Romagnosi's nach (Cap. III.).
Der in. Theil des Buches behandelt die Aufgabe und Wirksamkeit des Staates
und die wirtschaftliche Freiheit und kommt insbesondere eingehend auf Romagnosi's
ökonomische Theorie des Eigenthums zu sprechen. Hiefür ist der Satz charakteristisch,
dass das Eigenthum sich nicht weiter ausdehnen dürfe, als die Arbeit und das Bedürfnis
des Eigenthümers reicht; dass das ökonomische Bedürfnis die Grundlage des Privat-
eigenthums sei.
Nach dieser hastigen Skizze genügt es auf den Schluss von Valenti's Buch zu
verweisen, welcher die Ergebnisse desselben recht gut zusammenfasst. Wir unserer-
seits möchten den Wunsch aussprechen, dass auch andere ältere Nationalökonomen Italiens,
insbesondere aber Giammaria Ortes einen so gewissenhaften und liebevollen Bearbeiter
finden möchten, wie ihn Romagnosi in Valenti gefunden hat.
Schullern,
Literaturbericht. 375
Emanuel Herrmanu, Miniaturbilder aus dem Gebiete der Wirtschaft, wohlfeile
Ausgabe, Halle a. S. Nebert 1891.
Das vorliegende Werk des in weitesten Kreisen als Erfinder der Correspondenz-
karte bekannten Gelehrten ist zum erstenmale im Jahre 1872, dann in zweiter Auflage
im Jahre 1876 erschienen. Die neueste Auflage dürfte wegen ihrer Billigkeit geeignet
sein, dem Buche noch grössere Verbreitung, als es ohnehin schon besass, zu verschaffen;
leider muss man gar viele Druckfehler mit in den Kauf nehmen.
Der Inhalt des Werkes zeigt für die Vorliebe des Autors für und seine Gewandt-
heit in der Kleinmalerei, für eine scharfe Beobachtungsgabe und hervorragende Kunst der
Darstellung; er ist unzweifelhaft geeignet, mehrfache Kenntnisse in weitesten Kreisen
in der einfachsten und anregendsten Form zu verbreiten. Die Capitel über das
Thünen'sche Gesetz und über die Correspondenzkarte sind besonders anregend, das
Capitel über die Launen der Pracht bietet eine grosse Menge interessanter Daten. Das
Buch ist natürlich für das grosse Publicum bestimmt; möge es bei demselben freundliche
Aufnahme finden. r Schullern.
ZEITSCHßlFTE^s-ÜBERSICHT.
Jahrbucher für Nationalökonomie und Statistik, hgg. v. J. Conrad, L. Elster, E. Loening
W. Lexis: III. F. III. B. II. Heft.
Loefiing'. Die Landgemeinden und Gutsbezirke in den östlichen Provinzen Preussens. — Lindsay :
Silberfrage in den Vereinigten Staaten Nordamerikas. — Loening: Novelle zum preussischen Armengesetz. —
van der Borgkt; Urtheile der deutschen Handelskammern über die Novelle zur Gewerbeordnung. — Zunahme
der Bevölkerung in den hauptsächl. Culturstaaten. — Hirscheyg: Brotpreise in Berlin 1891. — Recensionen.
III. Heft: Böhm-Ba'werk: "Wert, Kosten, Grenznutzen. — Conrad: Verleihung der Corporations-
rechte. — W irminghatts : Statistik der Krankenversicherung der Arbeiter im deutschen Reiche 1889. —
Dieztnann : Der engl. Aussenhandel seit 1880. — Flesch : Arbeiterwohnungsfrage. Schwankungen des Disconts
und des Silberp reises 1891 und den Vorjahren. — Preisaufgaben der Rubenowstiftung. — Gesetzgebung. —
Viertel.iahresschrift für Volkswirtschaft Politik und Cnltnrgeschichte, hgg v. C, Braun
XXIX. Jgg. I. Bd. I. 2. Heft.
Lehr: Durchschnittprofitrate auf Grund des Marxischen "Wertgesetzes. — Ch. Meyer: Handwerk
und Arbeit in geschichtlicher Betrachtung. — FkUippson: Volkswirtschaft seit Adam Smith. — Correspondenz,
Bücherschau.
Journal des Economistes. Redacteur en chef: M. G. de MoUnari. Librairie Guillaumin et Cie.,
rue Richelieu, 14. Paris. 51e annee. — 36 fr. par an pour la France, 38 fr. pour les pays compris dans
rUnion postale, Prix du numero : 3 fr. ,50.
Sommaire du numc^ro de fevrier 1892; La participation aux benefices, Examen critique d'une
proposition de loi. — Les marines marchandes et la protection. — Deux reformes ä introduire dans le
regime fiscal des successions. — Le movxvement agricole. — Revue critique des publications economiques
en langue fran^aise. — La Compagnie roj-ale des chemins de fer portugais. — Le commerce et l'industrie
de la Suisse. — Logique protectionniste. — Necrologie : Henri Baudrillart. — Bulletin. — Societe d'öconomie
politique (reunion du 5 fevrier 1892). — Comptes rendus. — Chronique economique. — Necrologie de
Tannee 1891.
Sommaire du numero de mars 1892 : La pacification des rapports du capital et du travail. —
Mouvement scientifique et industriel. — Revue de l'Academie des sciences morales et politiques (du
1 decembre 1891 au 15 fevrier 1892). — L'incidence des droits protecteurs. — Les houilleres dn Nord et du
Pas-de-Calais. — Souvenirs de France: Lettres in(5dites d'un magistrat etranger. — Lettre d'Italie. — Lettre
d'Autriche-Hongrie. — Bulletin. — Societe d'economie politique (seance du 5 mars 1892). — Societe
d'economie politique de Belgique (s<5ance du 21 fevrier 1892). — Comptes rendus. — Notices bibliographiques.
— Chronique,
Sommaire du numero d'avril 1892: La concurrence entre les Compagnies d'assurances sur la vie
americaines et les Compagnies fran^aises. — L'impot sur les transactions de Bourse en Antriebe. — Revue
des principales publications economiques de l'etranger. — Le monde de la finance au XVIIe siecle. —
Lettre du Canada. — Bulletin. — Necrologie. — Societe d'economie politique (seance du 5 avril 1892). —
Comptes rendus. — Notices bibliographiques. — Chronique economique.
Berue d'Economie Politique, hgg. \.P. Canwes, Ch. Gide, E. Schwiedland ■o.nü E. Villey. Monatlich
7 bis 8 Bogen, gr. S». Preis jährlich 21 Francs. Paris, Larose & Forcel, editeurs.
Feberheft: A. Peez: A propos des traites de commerce entre TAllemagne, l'Autriche-Hongrie et
ritalie. — y. Jeans: Effets de la legislation sur les fabriques en Angleterre (suite et fin.) — Ch, Ai enger:
La monnaie mesure de valeur. — L. Brentano : Origine et abolition des droits sur les cereales en Angleterre.
— E. Villey: Chronique legislative. — Buchanzeigen von Mataja. Gide, Conigliani, u. A.
Märzheft: H. St. Marc, ;Etude sur l'enseignement de l'economie politique dans les universit«53
d'Allemagne et d' Antriebe. — V, Mataya: Les projets de loi francais et italien concemant l'arbitrage
et les conseils de prud'hommes. — L. GroLund: Le socialisme comme probleme moral et national.
— Ed. Fitster: Assistance privee et socialisme d'Etat; la mendicite et Tassistance par le travail en Allemagne. —
H. Herktier: La vie des ouvriers de fabriques dans le Grande Duche de Bade. — Ch. Gide: Chronique
economique. — Edm. Villey: Chronique legislative. — Buchbesprechungen von R. de St. Andre, Mataja,
Lallt ent, Ocza/>owski und Gide.
The economic Journal, edited by F. V. Edgeworth, Vol. IL, No. 5, March 1892.
Ciinnlnzham : Relativity of economic doctrine. — Frice: Notes on a recent economic treatise. —
Cicnynghanie : Geometrical methods of treating exchange-value, monopoly and rent. — Cannnn: The origin
of the law of diminishing returns. — Jenks: Trust in the United States.' — Champion: Origin of the 8 hours
System at the antipodes. — Ellis: Influence of opinion on markets. — Reviews. — ■ Notes and Memoranda.
Annais of the American Acadeniy of pol. and soc. science, Vol. II. No. 5, March 189^, edited by
E. y, James, Falkner, Robinson.
Garmo: Ethical training in the public Schools. — Wieser: Theory of Value. — Lowrey: Basis of
Jnterest. — Richardsom Party government II. — Personal notes, Book reviews, notes, Miscellany.
Quarferly Journal of Economics, Harvard University Boston. Vol. VI. No. 3, April 1892.
Cnm7nines: University Settlements. Haivley : Fundamental Error of Kapital and Kapitalzins. —
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Moore: Asylum in legations and in Vessels I. — Schwah : Finances of the Confederacy. — Dunning:
Irish Land legislation I. — Gitterman: New York Council of Appointment. — Giddings : Nature of pol.
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?iiartcrly Publications of the American Statistical Association II. Vol. New S. No. 16, Dec. 1891.
lehn: Census Enumeration in Prussia. — Holmes; A Plea for the average. — Reviews and Notices.
Glornale defli Economisti. Direzione: Vitl de Marco, Mazzola, Patttaleoni, Zorli. 1892.
Febbrajo: X. La situazione del mercato monetario. — Sartori: Prime linee di una tooria generale
dell' As.sicurazione. — Viti de Marco: Nuova tarifa doganale Italiana. — Benini E.i II totalizzatoie applicato
agli indici del movimento economic©. — Note, Previdenza, Bibliografia, Cronaca.
Marzo 1892: X. La situazione del mercato monetario. — Fareio: Teoria dei prezzi dei Signori
Auspitz e Lieben e le osservazioni del prof. "Walras. — Virgilii: II problema dolla popolazione, critica dei
sistemi. Salvioni: La „Clearing House" po.stale. — Nota, Cronaca, Supplemento : Bertolini: Saggio di
bibliografia economica Ttaliana.
Aprile 1892: X. La situazione del mercato monetario. — Bertolini e Pantaleoni: Cenni sul concetto
di massimi edonistici individuali e collettivi. — Fisani: Bilancio dello stato. — Martello'. Le razze umane
e le unioni eugene.siche — Nota, Previdenza, Cronaca. — Allmonatlich ein Supplement : Giornale delle Camere
di Commercio e degli Istituti di Credito.
DIE EEFOEM DER DIRECTEN PERSONALSTEÜEEN
IN ÖSTERREICH.
VON
PROF. DR. VICTOR MATAJA (I^^NSBRCCK).
I.
Der dem Abgeorclnetenhaiise am 19. Februar 1892 durch Finanz-
minister Dr. Steinbach vorgelegte Gesetzentwurf über die directen Personal-
steuern verfolgt den Zweck, an die Stelle der veralteten Erwerb- und Ein-
kommensteuer eine neue, den heutigen Ansprüchen genügende Besteuerungsart
zu setzen.
Die neuen, für den Platz der alten Steuern bestimmten Abgaben
gliedern sich in eine allgemeine Erwerbsteuer, eine Erwerbsteuer von den
der öffentlichen Eechnungslegung unterworfenen Unternehmungen, eine
Besoldungs- und eine Kentensteuer; diesen Ertragssteuern schliesst sich
sodann als eine neue Einführung die allgemeine Personaleinkommensteuer an.
Die projectierte Steuerreform ist aber nichts weniger als ein blosses
Flicken oder Ausbessern der heutigen Einrichtungen, sie ist eine vollkommene
Umwälzung derselben, und zwar eine Umwälzung in mehrfachem Sinne. Sie
bedeutet nicht bloss zumeist eine einschneidende Veränderung von Steuerfuss,
Bemessungsgrundlage imd sonstigen Einzelheiten, welche für die Resultate
der Besteuerung von Wichtigkeit sind, sondern sucht einen neuen Geist in
das Gebiet, in alle Theile, welche mit demselben in Berührung kommen,
hineinzubringen. An die Stelle des heutigen verknöcherten einseitig bureau-
kratischen Steuerverfahrens soll ein solches mit freierem Zuge, mit aus-
gedehnter Mitwirkung der Steuerpflichtigen selbst treten, an die Stelle des
Wustes von alten Gesetzen, Verordnungen, Erlässen, Nachträgen, Nachträgen
zu den Nachträgen mit ihren Unklarheiten und Un Verständlichkeiten ein
einziges übersichtliches Gesetz; das fiscalische Interesse weicht zurück vor
dem Bestreben eine gerechte und darum erträgliche Steuer zu schaffen und
den schonungsbedürftigen Elementen eine Erleichterung zu gewähren; das
Publicum, welches heute mit berechtigtem Misstrauen gegen das Steuer-
wesen erfüllt und dem nicht zu verargen ist, wenn es jedes wahre
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. III. Heft. 25
378 -^Jataja.
Wort vor der Steuerbehörde scheut, soll zur Aufrichtigkeit, zur Hingebung
an die nun einmal unvermeidlichen staatsbürgerlichen Pflichten erzogen
werden. Selbst über das Gebiet der staatlichen Besteuerung greift der
ßeformentwurf hinaus und legt den ersten Stein für den Umbau der
Besteuerung der Selbstverwaltungskörper.
An dem Eeformproject ist aber nicht allein der gute Wille zu preisen.
An seiner Ausarbeitung haben in verdienstlichster Weise praktische Erfahrung
und wissenschaftliche Theorie mitgewirkt, man hat in gründlicher Weise
die ausländischen Vorbilder und die früheren heimischen legislativen
Arbeiten benützt und, wo nöthig, originell ausgestaltet und ergänzt. Darüber
kann wohl nur eine Stimme herrschen. Das grosse Unternehmen der
Steuerreform kann sich auf ein Fundament der solidesten Art stützen.
Zweck der nachfolgenden Ausführungen ist nicht, den Entwurf allen
seinen Principien und Einzelheiten nach darzustellen oder zu kritisieren.
Ich glaube meine Wertschätzung des Werkes nicht besser an den Tag legen
zu können, als indem ich freimüthig vor allem jene Punkte, sei es von
grösserer, sei es von vergleichsweise nebensächlicher Bedeutung, zur Sprache
bringe, wo ich eine abweichende Ansicht zu vertreten habe, und damit,
soweit dies in meinen Kräften steht, an der Klarstellung der Sachlage
mitarbeite. Die Principien und Ziele des Entwurfes erhellen aus dem
Gesetzestexte und der im allgemeinen Theile ausführlichen Begründung
mit genügender Deutlichkeit und bedürfen fremder Befürwortung nicht.
IL
Wesentlich erleichtert wird die Eeform dadurch, dass sie keine eigent-
lichen flscalischen Zwecke verfolgt. Dies prägt sich bekanntlich darin aus,
dass die allgemeine Erwerbsteuer nach der bisherigen Steuerleistung der
unter dieselbe fallenden Erwerbszweige (zuzüglich des erfahrungsgemässen
Zuwachspercentes) contingentiert wird, der Gesaramtmehrertrag der directen
Personalsteuern gegenüber dem gegenwärtigen Ertrag der zur Abschaffung
gelangenden Erwerb- und Einkommensteuer (unter Bedachtnahme auf die
erhöhten Veranlagungskosten und die erfahrungsgemässe Steigerung der Steuern
sowie auf den eventuellen Antheil der Länder im Sinne des § 271) zunächst
zu Nachlässen an bestimmten anderen Steuern, sodann, wenn die Resultate
der neuen Besteuerung geklärt sind, zur definitiven Herabsetzung dieser
Steuern verwendet werden soll.
Zur Theilnahme an den Nachlässen, beziehungsweise der späteren
definitiven Herabsetzung sind bestimmt die Grundsteuer, die Hausclassen-
steuer, die Hauszinssteuer, die allgemeine Erwerbsteuer. Die Art und
Weise, wie die zu Nachlasszwecken verfügbare Summe vertheilt werden
soll, ist so sinnreich und zweckmässig combiniert (s. darüber Motiven-
bericht S. 35—45), dass hierüber billiger Weise lebhafte Anerkennung
herrschen muss. Da die Einkommensteuer, welche die Ueberschüsse liefert,
progressiv veranlagt ist, während die Ertragsteuern im Wesentlichen den
Ertrag ohne Abzug der Passivzinsen proportional besteuern und gemäss den
Die Reform der directen Personalsteuern in Oesterreich. 379
Ergebnissen der Einkommensteuer eine Herabsetzung des Steuerfusses
erfahren, so ist es klar, dass die kleinen und verschuldeten Steuerträger
zwar gleichmässig an der Entlastung, aber nicht gleiclimässig an der Auf-
bringung der für dieselbe erforderlichen Mittel Antheil haben, was ein sehr
erfreuliches Resultat ergibt.
Eine hervorstechende Eigenthümlichkeit im Entwürfe ist ferner, dass
er überall dort, wo eine ausreichende Controle über die wirkliche Höhe der
zu besteuernden Summe nicht gut möglich ist und eine aufrichtige Mit-
wirkung der Steuerpflichtigen besondere Bedeutung besitzt, den Steuerfuss
sehr massig ansetzt. Dies gilt von der Rentensteuer, welche, soweit es sich
nicht um die Zinsen aus öffentlichen Anlehen handelt (§ 166, lit. a,) nur
zwei Procent der steuerpflichtigen Bezüge beträgt, es gilt aber auch von
der Einkommensteuer, die mit dem Steuerfuss von 0'6 Proc. beginnt, mit
der Höhe des Einkommens allmählich zunimmt, erst bei einem Einkommen
von 10.000 fl. den Satz von 3 Proc. erreicht und endlich bei den Ein-
kommen von 100.000 fl. und darüber mit dem Satze von 4 Proc. ihren
Abschluss findet. Von dem Personal-Einkommensteuer-Erträgnisse wird
übrigens gemäss § 271 eine zwanzigprocentige Quote jenen Ländern
zugesichert, in welchen vermittelst der Landesgesetzgebung die Freiheit der
Einkommensteuer von Zuschlägen der Communalverbände ausgesprochen wird.^)
Diese Verschiedenheit der Steuersätze, welche sich sonach ergibt:
eine Besoldungssteuer von 1 — 10 Proc. (§ 136), eine Rentensteuer von
10 Pro Cent als Ausnahme — übrigens fraglicher Bedeutung wie Coupons-
steuern überhaupt — und von 2 Proc. als Regel, eine Gewerbesteuer
— VI. Abthlg. — von 1 — 6 Proc. (bezhw. etwas darunter: Motive S. 30)
ist natürlich sehr misslich. Es ist freilich nur zu billigen, dass man
dort lieber einen niedrigen nominellen Steuerfuss ansetzt, wo man
voraussichtlich nicht imstande wäre einen höheren durchzuführen. Misslich
ist es aber doch, dass offen gesagt werden muss, die Einnahmen der
Staatsbürger werden gewissermaassen um so stärker durch die Steuer getroffen,
je grösser an ihnen der Antheil des Arbeitseinkommens ist. Es zeigt dies,
dass die directe Besteuerung in der That auf einen kritischen Wendepunkt
gekommen ist. Wir wollen uns hier, jedoch in keine Speculationen über
die Zukunft einlassen, sondern uns der heute für Oesterreich allein praktischen
Aufgabe zuwenden, das ist der den gegenwärtigen Verhältnissen am meisten
entsprechenden Gestaltung der Steuerreform.
HL
Die allgemeine Erwerbsteuer.
Die heute in Kraft stehende Besteuerung der gewerblichen Unter-
nehmungen beruht auf einer Combination der Steuerleistung nach einem
Tarife und einer Percentualbesteuerung des Reinertrages.
') Mi schier äussert (im Handelsmus eura, Mai 1892) Bedenken über die Wirk-
samkeit des § 271.
25*
380 Mataja.
Der Erwerbsteuertarif ist äusserst mangelhaft construiert und im Laufe
der Zeiten vollkommen unzulänglich geworden; für die ganz grossen lucrativen
Unternehmungen spielt der Tarif praktisch genommen keine EoUe (Maxi-
malsatz 1575 Gulden und 100 Proc. Zuschlag), für die kleinen und kleinsten
Unternehmungen wird er unter umständen sehr drückend. Die sogenannte
Einkommensteuer wird daneben mit 5 Proc. des Reinertrages und einem
Zuschlage von 100 oder 70 Proc. dieses fünfpercentigen Ordinariums
erhoben, je nachdem dasselbe einschliesslich des Erwerbsteuerordinariums
mehr als dreissig Gulden beträgt oder nicht. Mag der Ertrag jedoch noch
so gering sein oder gar negativ ausfallen, so gilt doch, dass die Einkommen-
steuer, von welcher die Erwerbsteuer in Abzug zu bringen ist, nicht geringer
angesetzt wird, als nöthig, um die Erwerbsteuer um ein Drittel zu über-
ragen. Jedenfalls muss daher gezahlt werden der dem betreffenden Unter-
nehmen zuerkannte Erwerbsteuersatz sammt einer Einkommensteuer im
Betrage eines Drittels desselben; je nach dem Reinertrag des Unternehmens
kann sich dann auch noch eine höhere Einkommensteuer ergeben. Bei
ganz grossen lucrativen Unternehmungen verschwindet dann die Erwerbsteuer
gänzlich hinter der Einkommensteuer, da für solche angesichts der geringen
Maximalhöhe der Erwerbsteuersätze auch die Bestimmung über das Mindest-
maass der Einkommensteuer nichts Bedrohliches an sich hat: sie wendet
sich namentlich gegen die kleinen und kleinsten Unternehmungen. Die
Höhe des Einkommensteuerfusses sowie die Art und Weise der Berechnung
des der Besteuerung zu unterziehenden Ertrages geben, abgesehen von den
sehr oft berechtigten Klagen über den Bemessungsvorgang der Steuer-
behörden, zu den begründetsten Bedenken Anlass. Die Motive zum neuen
Entwurf sagen diessbezügiich: ^Ursprünglich mit 5 Procent festgesetzt,
stieg er (der Steuerfuss) infolge des Hinzutreten s von Staatszuschlägen
andauernd für die niedrigste Kategorie der Steuerträger auf 8V2, ftir alle
übrigen auf 10 Proc. wobei die Zuschläge, die zu Gunsten der autonomen
Verwaltung für Land. Bezirk und Gemeinde erhoben und die oft eine sehr
ansehnliche Höhe erreichen, noch nicht gerechnet sind. Jener an sich hohe
Steuerfuss erfährt aber ferner für viele Steuerpflichtige noch eine weitere
empfindliche Erhöhung dadurch, dass er nicht vom wahren Reineinkommen
des Steuerpflichtigen, sondern von einer Grösse zu entrichten ist, die für
ihn mehr den Charakter eines Roheinkommens hat, indem kraft gewisser
Detailbestimmungen des Gesetzes zum Beispiel die Zinsen für geliehene
fremde Capitalien oder die üblichen Abschreibungen für Abnützung des
stehenden Capitals u. dgl. von den steuerpflichtigen Betriebseinnahmen nicht
in Abzug gebracht werden dürfen. Es lässt sich leicht ennessen. dass
zufolge dieser Bestimmungen die Steuer bei Steuerpflichtigen, die viel
fremdes Capital investiert haben, oder mit einem einer starken Abnützung
unterliegenden Inventar arbeiten, bei buchstäblicher Erfüllung des Gesetzes
unter Umständen 30, 40 oder selbst noch mehr Procente ihres wahren
Reineinkommens absorbieren konnte." (S. 12.)
Die Reform ist nun in der Regierungsvorlage geplant wie folgt.
Die Reform der directen Personalsteiiern in Oesterreioli. 381
Von der „allgemeinen Erwerbsteuer" werden (wenn wir von vergleichs-
weise nebensächlichen Veränderungen des Geltungsbereiches im Vergleiche
zur heutigen Erwerbsteuer absehen) ausgeschieden die zur öffentlichen
Eechnungslegung verpflichteten Unternehmungen. Ihr Betrag wird sodann
contigentiert. Das Gesammtcontingent des Eeiches, die sog. Erwerb-
steuerhauptsumme (über deren Höhe, die zunächst dem gegenwärtigen
Steuerertrag und dessen erfahrungsgemässem Wachsen angepasst ist, § 11
handelt) wird in Bezirkscontingente für die einzelnen Veranlagungs-
bezirke (die politischen Bezirke sowie die Städte Wien, Prag, Graz etc.)
aufgetbeilt. In den Steuerjahren 1894 und 1895 hat jeder Veranlagungs-
bezirk einen Betrag aufzubringen, welcher um 2*4 Proc. höher ist als die
laufende Jahresschuldigkeit 1893 an Erwerb- und Einkommensteuer der
dem neuen Gesetz unterliegenden Beschäftigungszweige; die Contingente
werden verhältnismässig gekürzt, je nachdem aus dem Ertrag der Einkommen-
steuer Beträge für Nachlasszwecke resultieren. Ausser jenen Aenderungen,
die sich als als selbstverständliche Folge der Modificationen an den
Bestimmungen über den Ort der Steuervorschreibung im neuen Gesetz
ergeben, kann dann noch eine sog. Contingentscommission eine Ver-
schiebung in den Bezirkscontingenten vornehmen. Für die folgenden
Veranhigungsperioden ist die jeweilige Erwevbsteuerhauptsumme vorbehaltlich
der Befugnisse der Contingentscommission jedesmal nach demjenigen Ver-
hältnisse aufzutheilen, welches in der letztvorangegangenen Veranlagungs-
periode zwischen den einzelnen Bezirkscontingenten bestanden hatte (§ 56 — 63).
In den einzelnen Bezirken besorgen dann mit freiester Bewegung ausgestattete
sog. Erwerbsteuercommissionen mit theils ernannten, theils durch die
Interessentenkreise gewählten Mitgliedern die Veranlagung der Erwerbsteuer
an der Hand eines sehr dehnbaren Tarifes: überragt die Summe der
zuerkannten Steuersätze das Contingent des Bezirkes, so werden diese
entsprechend percentuell gekürzt, und umgekehrt. (§§ 13 fg., 58.)
Auf diese Weise will man erreichen, dass einerseits die mit den
Verhältnissen im Bezirk vertrauten Steuerpflichtigen selbst werkthätig an
der Steuerveranlagung mitwirken und andererseits weder besondere Milde
noch besondere Strenge einzelner Commissionen zu üngleichmässigkeiten in
der Besteuerung führe, weil erstere nur die Folge hätte, dass keine Steuer-
nachlässe eintreten, beziehungsweise sogar Erhöhungen stattfinden müssen,
letztere nur zu grossen Abschreibungen Anlass geben würde. Der Kampf
zwischen Steuerbehörde und Steuerpflichtigen um den Steuersatz wird
gewissermaassen beseitigt und die Steuerveranlagung zu einer internen
Angelegenheit der Steuerpflichtigen gemacht, deren Austragung den Fiscus
nicht unmittelbar interessiert. Ich begrüsse diese Methode der Veranlagung
aufs freudigste: sie scheint mir nicht nur an sich sehr zweckmässig und
scharfsinnig gewählt zu sein, sondern auch geeignet, gerade an den in
Oesterreich herrschenden Uebelständen — jenem Antagonismus zwischen
Steuerbehörde und Steuerzahler und jener weitverbreiteten hochgradigen
Erbitterung in den Kreisen der Bevölkerung — bessernde Hand anzulegen
382 Mataja.
und eine den neuzeitlichen Verhältnissen entsprechende würdigere Stellung
der Steuerzahler im Besteuerungsverfahren herbeizuführen, als beim gegen-
wärtigen bureaukra tischen Eegimente.
Bei aller Anerkennung der Grundgedanken der Vorlage als einer hoch-
bedeutsamen Neuerung kann ich jedoch Bedenken gegen mehrere Einzel-
heiten der geplanten Reform nicht unterdrücken.
Die Verhältnismässigkeit oder Gleichmässigkeit der Besteuerung ist
offenbar an folgende Voraussetzungen gebunden: an die richtige Bestimmung
der Bezirkscontingente, an die richtige Gestaltung des Tarifes. an das richtige
Functionieren des Einschätzungsverfahrens; ich glaube nun, dass an den
bezüglichen Bestimmungen Mancherlei geeignet ist Widerspruch zu erregen.
Im Folgenden soll versucht werden dieses zu begründen.
a) Die Bestimmung der Bezirkscontingente.
Die Grundlage für die Auftheilung der Erwerbsteuerhauptsumme
bildet, wie schon gesagt, die bisherige Steuerleistung der einzelnen Veran-
lagungsbezirke; es wird wohl lange Zeit brauchen, bis die durch Beschlüsse
der Contingentscommission (welche übrigens zum Theil nur unter erschwe-
renden Voraussetzungen zustande kommen können, s. §§ 62. 63) erfolgten
Aenderungen im Vertheilungsschlüssel den Einfluss des ursprünglichen
Maassstabes wesentlich verwischt haben werden.
Leider ist diese Grundlage bei der Unvollkommenheit der gegen-
wärtigen Besteuerung eine äusserst mangelhafte, da die üngleichmässigkeit
der letzteren eine von Niemand geleugnete Thatsache ist und die Annahme
mir illusorisch zu sein scheint, die Belastung der einzelnen Bezirke im
Vergleiche mit einander stelle sich viel gieichmässiger als die der Personen,
weil sich in allen Fälle der zu niedrigen Steuerleistung compensieren mit
Fällen zu hoher Belastung. Eine Besteuerungsart wie die gegenwärtige
lässt eben zahlreichen Zufälligkeiten Raum und es ist kein Grund vorhanden
anzunehmen, dass sich diese Zufälligkeiten nicht in einer Gruppe von
Bezirken vorwiegend in der einen, in einer zweiten Gruppe vorwiegend in
der anderen Richtung bewegen. Sagt doch der Motivenbericht S. 12 selbst:
„Thatsache ist, dass die steuerpflichtige Bevölkerung sich diesen hohen
und mitunter selbst harten Anforderungen des Gesetzes in weitem Umfange
durch zu niedrige Angaben der steuerpflichtigen Gewerbserträgnisse zu
entziehen sucht. Diese Bestrebungen sind um so häufiger von Erfolg begleitet,
als das mit dem Einkommensteuerpatente vom Jahre 1849 eingeführte
Besteuerungsverfahren auch sonst wenige wirksame Garantien für eine
richtige Ermittlung der Erträgnisse bietet, und als das Bewusstsein, dass
unter Umständen die buchstäbliche Erfüllung des Gesetzes dem Steuer-
pflichtigen in der That eine geradezu unerschwingliche Last auferlegen
würde, auch auf die Energie der mit der Controle der Bekenntnisse betrauten
Organe lähmend einwirkt und ihnen vielfach eine leicht begreifliche Zurück-
haltung und Duldung nahegelegt." Wo ist nun bewiesen, dass diese
Zurückhaltung und Duldung überall in gleichem Maasse geübt wurden?
Die Reform der directen Personalsteuern in Oesterreich. 383
Bei einem so arbiträren Bemessungsverfahren wie dem heutigen spielt
notliwendigerweise die individuelle Auffassung der einzelnen Organe und
Aemter eine grosse Kolle, und dies selbst in sehr engem Kreise. So
erinnere ich mich beispielsweise daran, dass ein vermöge seiner amtlichen
Stellung gut eingeweihter Beamter, mit dem ich über eine Wiener Erwerb-
steuersache sprach, sich zunächst nach dem Standort des betreffenden
Unternehmens erkundigte und nach erhaltener Auskunft bemerkte, es werde
sich in dieser Angelegenheit nichts machen lassen, da gerade die competente
Steueradministration sehr streng sei.
Ferner möchte ich darauf aufmerksam machen, dass unser gegen-
wärtiger Erwerbsteuertarif mit seinen Ortsclassen (mit Ausnahme der Fabriken
und Grosshandlungen) auf dem Principe aufgebaut ist, dass je grösser die
Gemeinde des Standortes der Unternehmung, desto rentabler und leistungs-
fähiger diese selbst. Dieses Princip in dieser 'Allgemeinheit scheint mir
unrichtig. Es gibt in der Weltstadt Wien eine Menge so dürftiger, so
elender Existenzen im Kleingewerbe und Handel wie nur in anderen Orten,
und die Bestimmung, dass die Minimalsteuerleistung der ersteren höher
sei als die der auswärtigen Standesgenossen ist jetzt eine Härte gegen sie
selbst, welche in Zukunft, da ihre Steuerleistung bei der Bemessung der
Bezirkscontingente eine Rolle spielt, den Bezirken zur Last fallen würde.
Es scheint mir hier überhaupt sich ein ähnlicher Mangel zu ergeben, wie
bei unserer gegenwärtigen Yerzehrungssteuer. Die Aufwandbesteuerung soll
natürlich das höhere Einkommen, die grössere Wohlhabenheit stärkai* treffen,
sie kann diesen Zweck in entsprechender Weise aber nur erreichen durch
eine passende Auswahl der Steuerobjecte und die geeignete Abstufung der
Steuersätze nach Art, Qualität etc. dieser Objecte. Dadurch jedoch, dass
man einfach für ein Gebiet höhere Steuersätze festsetzt oder mehr Gegenstände
besteuert, trifft man nicht etwa die in der einen Gegend herrschende oder
vorausgesetzte grössere Wohlhabenheit stärker, sondern nur das gleiche
Einkommen in verschiedenen Orten verschieden. Wer z. B. in Prag ein
Einkommen von 400 oder 4000 Gulden hat, zahlt eine andere (staatliche)
Verzehrungssteuer als in einem Dorfe ein Gleichgestellter. W^arum der
Prager leistungsfähiger sein soll, ist unerfindlich. Sind die Erwerbs-
verhältnisse in der grossen Stadt günstiger als in einem Dorfe (man
denke aber auch an Eentner, Pensionisten etc., mit vom Wohnsitz unab-
hängigem Einkommen), so wird dieser Umstand ohnehin und mit Eecht
durch grösseren Consum steuerpflichtiger Objecte zu einer höheren Steuer-
leistung führen; reicht die Aufwandbesteuerung nicht aus eine solche
Verhältnismässigkeit herbeizuführen, so wird sie auch unzulänglich sein,
innerhalb der Stadt oder des Dorfes selbst eine verhältnismässige Belastung
der verschiedenen CJassen zu bewirken.
Aehnlich liegen die Dinge hinsichtlich der Erwerbsteuer. Die Unter-
nehmungen sollen nach ihrem Umfang, bezw. ihrem Ertrage besteuert
werden. Das erreicht man aber schon, eine tadellose gleichmässige Ein-
schätzung vorausgesetzt, durch einen für alle Orte gleichen Tarif; sind die
384 :SMü]a.
Untern ehmuDgen in einem Orte einträglicher als in einem andern, so werden
eben in jenem mehr höhere Steuersätze zur Anwendung kommen als in dem
letzteren. Vielleicht empfiehlt es sich sogar, einen verschiedenen Tarif auf-
zustellen, ich werde selbst diesbezüglich unten eine Begründung dafür vor-
bringen. Die Ortsclassen dürfen jedoch nicht so construiert sein, dass sie
schlechtweg zur höheren Besteuerung der Unternehmungen in einem Orte
nöthigen als in einem andern. Manches hat sich übrigens seit der Zeit, wo
der Erwerb Steuertarif aufgestellt wurde, geändert. Gewiss, müssen wir heute
sagen, ist es, dass ein grosser Ort mehr Spielraum zur Entfaltung für ein
gewerbliches oder commercielles Unternehmen bietet als ein kleiner; er
bietet aber auch oft mehr Schwierigkeiten. Der Kleinhandel z. B. ist in
den grossen Städten in erhöhtem Maasse durch Consumvereine und die rege
Concurrenz speculativer Elemente bedrängt, die Kundschaft ist unzuver-
lässiger, die Spesen höher: ich bezweifle ernstlichst, dass eine genaue
Statistik über die Eentabilität der Handelsunternehmungen in allen Zweigen
zu Gunsten der Grossstädte ausschlagen würde. Ich bin nun ausser Stande
zu beurtheilen, inwieweit die Ortsclassen des Erwerbsteuertarifes thatsächlich
zu einer relativ höheren Belastung der Unternehmungen in grösseren Ge-
meinden geführt haben, glaube aber immerhin, dass aus diesem Grunde die
bisherige Steuerverfassung zu Ungleichmässigkeiten geführt hat.
Ergibt sich auch aus dem Dargestellten, dass die Eepartition der
Erwerbsteuerhauptsumme nach der bisherigen Steuerleistung der Bezirke
wesentliche Mängel besitzt, so scheint mir doch der in der Vorlage gewählte
Vertheilungsmaassstab der einzig praktisch denkbare, nur würde ich wünschen,
dass die Contingentscommission eifrig und vorurtheilslos ihres Amtes walte.
In ihrer Hand ist es gelegen, den gewählten Eepartitionsschlüssel erst
grosser Unvollkommenheiten zu entkleiden. Sie wird eine umso aus-
giebigere Thätigkeit zu entfalten haben, als das neue Steuergesetz sich in
vielen wesentlichen Beziehungen von dem bisherigen unterscheidet, so in
Ansehung der Steuerbefreiungen, der Tendenz zur Entlastung der schwächeren
Elemente u. A., und eben desshalb je nach den wirtschaftlichen Verhält-
nissen der einzelnen Bezirke auch aus diesem Grunde eine weitgehende
Verschiebung der nach dem alten Gesetz entstandenen Steuerverpflichtungen
nothwendig erscheint. Jedenfalls schiene es mir aber auch wünschenswert,
dass der allgemeine Zuschlag von 2*4 Proc, welcher sich auf das Anwachsen
der Steuerleistung im gesammten Staate gründet, ersetzt würde durch den
Procentsatz der Zunahme (eventuell Abnahme!) in den einzelnen Bezirken,
da offenbar die gewerbliche Thätigkeit in den verschiedenen Gegenden in
einer ungleichmässigen Entwicklung begriffen ist und demnach der allge-
meine Durchschnitt nothwendigerweise auf der einen Seite viel zu wenig,
auf der anderen viel zu viel besagt.
b) Der Erwerbsteuertarif.
Der Tarif der Vorlage unterscheidet sich von dem gegenwärtigen
Erwerbsteuertarif vor allem dadurch, dass er nicht wie letzterer über die
Die Reform der directen Personalsteueni in Oesterreich. 385
absolute Höhe der Steuer entscheidet, sondern nur die Verhältniszahlen für
die Auftheilung des einem Bezirke zuerkannten Contingentes auf die dort
ansässigen Steuerpflichtigen gibt. Damit wird allerdings ein allgemein bei
der Einschätzung sich geltend machender Fehler — • allgemein zu weit-
gehende Strenge oder Milde — der eigentlichen Bedeutung entkleidet, wo-
gegen der Tarif von ungeschmälerter Wichtigkeit ist für die Bemessung
der individuellen Steuerschuldigkeiten im Verhältnis zu einander. Der Tarif
lässt freilich dem Ermessen der Einschätzungsorgane einen ungemein grossen
Spielraum, der noch erweitert wird durch verschiedene in das Gesetz selbst
aufgenommene Bestimmungen (so §§31, 32, 33, 38 fg.). Bei der Viel-
gestaltigkeit der realen Verhältnisse ist die Ermöglichung einer solcherart
freieren Bewegung bei der Einschätzung eine glückliche Maassnahme, zu
deren Begründung hier kein weiteres Wort verloren werden soll. Ebenso
wenig bedarf es wohl einer langen Beweisführung dafür, dass die vom
Tarife gegebenen Normalsätze trotz dieser Freiheit der Steuercommissionen
eine grosse Bedeutung besitzen und für die praktische Handhabung des
Gesetzes von grösster Wichtigkeit sind. Es erscheint sogar äusserst anstre-
benswert, jene Normalsätze möglichst zutreffend zu gestalten, um die Com-
missionen möglichst selten zur Anwendung ausnahmsweiser Steuersätze zu
drängen, wäre dies auch nur, um dem schon von Adam Smith mit Recht
so betonten Erfordernis der Bestimmtheit der Besteuerung entgegenzu-
kommen. Gar zu viel darf man sich übrigens auch nicht auf das Walten
aller Steuercommissionen verlassen,
Damit der Tarif als gelungen bezeichnet werden könnte, sollte er
offenbar zweierlei Anforderungen genügen: er sollte bei richtiger, dem Geiste
des Gesetzes angepasster Anwendung zu einer gleichmässigen Vertheilung
der Steuerlast unter den Einzelnen und dann aber auch wenigstens annähernd
zur Erhebung der gewünschten Summe führen. Constante bedeutende Nach-
lässe oder Aufschläge im Sinne des § 58 des Gesetzentwurfes würden zu
grossen Unbequemlichkeiten für die Steuerträger führen (s. die Motive
S. 110 fg.) und auch die Erwägung nahelegen, dass der angelegte Maass-
stab allgemein oder vorwiegend zu gross oder zu klein war und demnach
zu Zweifeln an der Richtigkeit des Contingentes, der Erwerbsteuerhaupt-
summe selbst berechtigen. Denn die Angemessenheit der letzteren kann
doch wohl nicht aus dem Umstände, allein beurtheilt werden, dass bei der
gewählten Ziffer der Staatsschatz nichts verliert und gewinnt, sondern sie
muss auch in Beziehung zur Leistungsfähigkeit der Steuerzahler gesetzt werden.
Ueberblickt man den Tarif im ganzen, so stellt er sich sofort als ein
Erzeugnis imponierenden Fleisses und Scharfsinnes dar. Ob und welche
Einzelheiten in den Steuersätzen einer Aenderung bedürftig sind — in diese
Untersuchung einzugehen bin ich begreiflicher Weise ausser Stande. Ob
eben ein Steuersatz von 8 — 32 Kreuzern für jeden Metercentner des gewon-
nenen Products bei der Erdölgewinnung in einem richtigen Verhältnis steht
zu einem Satze von 4 — IG Kreuzern für jeden Hektoliter leichteren Bieres
bei einer grösseren Bierbrauerei und dieser wiederum zu den 5 — 20 Kreuzern,
386 Mataja.
welche auf je 25 Cubikmeter Kohlengas einer Gasanstalt entfallen, und so fort
— darüber sollen mit den geschäftlichen Verhältnissen Vertraute urtheilen,
deren Einwendungen dann der Verfasser des Tarifes entgegentreten mag, da
zweifellos jede einzelne Position unter sorgfältiger Benützung der gemachten
Erfahrungen und genauer Erwägung aller Umstände entworfen worden ist. Erst
aus einem sozusagen contradictorischen Verfahren kann sich Klarheit ergeben
und, wie mir scheint, wird auch dann erst die Frage mit einiger Beruhigung
zu beantworten sein, ob der Tarif eine an sich natürlich wünschenswerte
Vereinfachung verträgt, ohne dass dadurch die Eichtigkeit desselben leidet.
Dies vorangeschickt möchte ich nur einige Bemerkungen vergleichs-
weise allgemeinen Charakters über den Tarif unter Vermeidung einer Kritik
der einzelnen Sätze desselben vorbringen.
Abtheilung I des Tarifes^) betriift (nach § 36) die fabriksmässig
und die mechanisch betriebenen Productionsgewerbe, soweit letztere nicht
nach Ermessen der Erwerbsteuercommission wegen verhältnismässig nur
geringen Umfanges der verwendeten motorischen Kräfte nach der IL Abthei-
lung des Tarifes besteuert werden, fernere einzelne namentlich aufgezählte
Gewerbe schlechtweg.
Vor allem taucht da die Frage auf: welche Gewerbe erscheinen als
fabriksmässig betrieben? Das Gesetz (§ 36) verweist auf das Gewerbe-
recht, wenngleich anerkannt wird, dass in der bisherigen Gesetzgebung der
Begriff der Fabrik nicht erschöpfend definiert sei (Motive S. 110).
Dem gegenüber möchte ich bemerken, dass mir mit diesen Bestim-
mungen eine der vielen Unklarheiten des Gewerberechtes in das Steuerrecht
hinübergenommen und hier sogar noch verstärkt erscheint. Mich auf meine
diesbezüglich wiederholt vorgebrachten Ausführungen berufend 2), will ich
1) Eine hervorragende Kolle spielt in der I. Abtheilung die Besteuerung nach
„Arbeitskräften" (Betriebskräfte o. dgl. wäre vielleicht deutlicher und besser, da nach
dem Sprachgebrauch zu den Arbeitskräften nur die menschlichen gehören). Was als
Arbeitskraft anzusehen ist, bestimmt § 37 des Entwurfes; über die Hilfsarbeiter handelt
§ 33. Zu letzteren zählen sowohl die in § 73 der Gewerbeordnung genannten Personen,
als auch die dort ausgeschlossenen, in Art. Y., lit. d) des Kundmachungspatentes zur
Gewerbeordnung angeführten, Avelche Lohnarbeit der gemeinsten Art (Taglühnerarbeit etc.)
verrichten. Gehören letztere aber hierher, sind das überhaupt ständige Hilfskräfte? Siehe
über diese streitige , in den Gewerbeinspectorenberichten wiederholt berührte Frage
Sitzungsberichte der Handels- und Gewerbekammer für Oesterreich unter der Enns, 1887,
S. 29, Punkt 39. Auch die Gewerbeinspectorenconferenz wünschte schon einmal die
Klarstellung der Sache. (Berichte über 1887, S. 31.)
2) „Eine offene Frage der österr. Gewerbeordnung". Monatsschrift Deutsche Worte
1886, und „Die österr. Gewerbeinspection", Jahrb. für Xat. Oek. und Statistik, N. F.,
XVIII. (1889) S. 266 fg. — Vgl. auch Leo Verkauf in demselben Bande der Jahr-
bücher S, 195 fg., Schwiedland in Schmollers Jahrb., 1891. S. 1252, Hampke, der
Befähigungsnachweis im Handwerk (Jena, 1892) S, 102 fg. — Als weitere, in den oben
genannten Ausführungen noch nicht berücksichtigte Beispiele für die Charakterisierung
der gewerberechtlichen Praxis verweise ich noch auf die Stellen in den Berichten der
Gewerbeinspectoren über 1888, S. 119 (ein grösseres Dampfsägewerk kein fabriksmässig
betriebenes Unternehmen!), S. 848, 349 (womit insbesondere die Bemerkungen auf S. 309
zu vergleichen sind), über 1889, S. 85, 289, 321, 363, über 1891, S. 100.
Die Reform der directen Personalsteueni in Oesterreich. 387
liier nur anführen, dass die Gewerbe-Ordnung von „fabriksmässig betriebenen
Unternehmungen" spricht, eine Definition dieses Begriffes in der Gesetz-
gebung aber nicht bloss nicht erschöpfend, sondern gar nicht gegeben ist.
Die Grundlage für die Praxis bildet noch immer der zur Durchführung des
Gesetzes vom 15. März 1883 (YIL Hauptstück der Gewerbe- Ordnung über
die Genossenschaften) an die Statthaltereien ergangene Ministerial-Erlass
vom 18. Juli 1883, in welchem „empfohlen" wird, als fabriksmässig betrie-
bene Unternehmungen solche Gewerbsunternehmungen anzusehen, in welchen
die Herstellung oder Yerarbeitung von gewerblichen Verkehrsgegenständen
in geschlossenen Werkstätten unter Betheiligung einer gewöhnlich die Zahl
von' zwanzig übersteigenden, ausserhalb ihrer Wohnungen beschäftigten
Anzahl von gewerblichen Hilfsarbeitern erfolgt, wobei die Benützung von
Maschinen als Hilfsmittel und die Anwendung eines arbeitsth eiligen Ver-
fahrens die Kegel bildet, und bei denen eine Unterscheidung von den hand-
werksmässig betriebenen Productionsgewerben auch durch die Persönlichkeit
des zwar das Unternehmen leitenden, jedoch an der manuellen Arbeits-
leistung nicht theilnehmenden Gewerbsunternehmers, dann durch höhere
Steuerleistung, durch Firmaprotokollierung u. dergl. eintritt.^}
Ich habe gegen diesen Erlass die Einwendung erhoben, dass er statt
„fabriksmässig betriebene Unternehmungen'* zu definieren, die „Fabriken"
trifft, dass dies aber zwei sehr verschiedene Dinge ^) sind, dass damit in
bedauerlicher Weise die österreichische Arbeiterschutzgesetzgebung (und
auch die Unfallversicherung) an ihrem Geltungsbereiche verkürzt wird, dass
die gegebene Begriffsbestimmung, selbst wenn es sich nur um „Fabriken''
handelte, auch dann noch für Oesterreich zu hoch gegriffene Merkmale ^),
sowie Unklarheiten enthält und deshalb zu Streitigkeiten Anlass gibt —
diese Punkte will ich hier jedoch nicht neuerlich behandeln, weil sie das
Gewerberecht und nicht das Steuerrecht interessieren. Hingegen berührt es
allerdings gerade das letztere, dass also für die Besteuerung eines Unter-
nehmens die Entscheidung wichtig ist, ob dasselbe als fabriksmässig betrieben
anerkannt werden solle und demnach nach Abtheilung' I des Tarifes zu
behandeln sei, während zur Beantwortung dieser Frage unter anderem auf —
die Steuerleistung und die Firmaprotokollierung verwiesen wird, welche letz-
tere wiederum von der Steuer des Unternehmens abhängt. Man mag sich
ja in der Praxis über diese Schwierigkeiten hinaushelfen, die verdächtig an
die That Münchhausens erinnern, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpfe
') Der Erlass ist abgedruckt in Weigelsperg's Compendium der Gewerbegesetze,
3. Aufl. (1890), S. 212 fg.
2) „ . . . . (diese Betriebe) waren entweder Fabriken oder ausgesprochen fabriks-
mässige Betriebe" (Berichte der Gewerbeinspectoren über 1888, S. 139).
3) d. i. das, wie es scheint, von der behördlichen Praxis so oft als ausschlaggebend
angesehene Merkmal von zwanzig Hilfsarbeitern, wobei freilich nicht in Abrede zu stellen
ist, dass selbst ausgesprochen nicht fabriksmässig betriebene Unternehmungen diese
Arbeiterzahl erreichen können (Inspectorenberichte 1888, S. 180). Unter Umständen
versagt jedes im Erlasse gegebene Merkmal, selbst der „an der manuellen Arbeitsleistung
nicht theilnehmende Gewerbsunternehmer": Berichte 1888, S. 309.
388 Mataja.
zog, aber eine juristisch befriedigende Lösung gibt ein solches wechsel-
seitiges Unterst ützungs Verhältnis zweier Begriffe nicht.
Aber auch noch in anderer Hinsicht scheint mir die getroffene Ent-
scheidung anfechtbar. Dadurch, dass zu den hervorstechendsten Merkmalen
der „fabriksmässigen Unternehmungen" (abgesehen von der höheren Steuer-
leistung, auf die man sich nach Obigem kaum berufen kann, wenn überhaupt
erst die Frage der Besteuerung entschieden werden soll) die Beschäftigung
einer grösseren Anzahl von Hilfsarbeitern in einer geschlossenen Werk-
stätte und als Regel die Benützung von Maschinen zählen, werden zum
guten Theile zwei Gruppen von Betrieben aus der Abtheilung I gedrängt,
die ökonomisch viel mehr zu den Fabriken gehören, als manche jener Unter-
nehmungen, die im Gesetze, obzwar sie nicht Fabriken sind, doch diesen
ausdrücklich angereiht werden (§ 36, Ziff. 2 und 3). Es sind dies die mit
Hausindustriellen arbeitenden Unternehmungen, insbesondere die Confections-
betriebe und die sog. Manufacturen. Auch diese sind ökonomisch capitali-
stische Grossbetriebe, auch bei ihnen tritt häufig der locale Absatz an
Bedeutung zurück, auch bei ihnen wäre daher — wenn man überhaupt
zwei Gruppen von Unternehmungen annimmt, von denen die eine als von
localen Verhältnissen abhängiger einer Besteuerung nach Ortsclassen unter-
liegen soll und die andere nicht — die Einreihung unter die unabhängig
vom Standort zu besteuernden Unternehmungen richtiger. Der Entwurf hat
selbst schon in dem unten noch einmal zu erwähnenden § 35 einen Schritt
in dieser Richtung gemacht, indem die Hausindustriellen den Hilfsarbeitern
einer Unternehmung zugerechnet werden, möchte man also doch noch den
weiteren thun, auch an dem Fehlen einer grösseren geschlossenen Werk-
stätte und der Maschinen keinen Anstoss nehmen (was bei Betrieben der
gedachten Art in der That häutig der Fall ist, da sich die nicht ausser
Haus gegebene Arbeit auf einige wenige Operationen des Vorrichtens u. dgl.
beschränkt) und die Grossbetriebe beisammenlassen!
Die n. Abtheilung des Tarifes betrifft die „mit Rücksicht auf
den Betriebsort zu besteuernden productiven Gewerbe und Be-
schäftigungen"; die Steuer zerfällt in eine Grund- und eine (zumeist nach
der Zahl der Hilfsarbeiter abgestufte^ Betriebstaxe.
Hier tauchen die Ortsclassen zum erstenmale auf: sie betreffen die
Orte mit einer Bevölkerung von höchstens 1000—10.000 — ü'ber 10.000
Einwohner — Wien. In der Regel ist bei Abstufung der Steuersätze eine
Proportion wie folgt angewendet 10 : 12 : 16 : 20.
Obwohl nun die Steuersätze nach dem Tarife nicht die Bedeutung
absoluter, sondern nur von Relativziffern für die Auftheilung des Contingentes
im Bezirke besitzen, so hat jene Abstufung nach Ortsclassen doch ein
grosses praktisches Interesse für die Gewerbetreibenden. Es handelt sich
ja nicht bloss darum, eine Steuersumme unter ihnen selbst aufzutheilen
(wo es etwa für sie gleichgiltig wäre, ob die Ziffern aller hinauf- oder
herabgesetzt werden), sondern mit ihnen kommen auch Unternehmungen in
Betracht, für die keine Ortsclassen existieren, wie denn auch Orte, die in
Die Eeform der clirecten Persoiialsteuern in Oesterreicli. 389
verschiedene Ortsclassen eingereiht sind, zu einem Yeranlagungsbezirk
gehören können. Würcle beispielsweise einer nach Tarifpost 1 zu besteuernden
Fabrik, auf welche der Maximalsatz Anwendung fände und eine Steuer von
400 ergäbe (100 Arbeitskräfte ä 4), eine Zahl von 40 Kleingewerbetreibenden
^egrenüberstehen, die nach der untersten Ortsclasse mit zusammen 400. nach
der obersten mit zusammen 800 in Betracht kommen, so würde in dem
ersten Falle das gemeinsame Steuercontingent zwischen Fabrik und Gewerbe
im Verhältnis Yon 1:1, im zweiten Falle im Verhältnis von 1 : 2 aufgetheilt,
da das Ortsclassensystem zwar die Steuersätze der Kleingewerbetreibenden,
nicht aber die der Fabriken emportreibt.
Man kann nun über die Bedeutung und Zwecke des Ortsclassensystems
sehr verschiedener Ansicht sein. Mir scheint dasselbe die folgende, beschränkte
Anwendbarkeit zu besitzen.
An sich würde, wie schon oben gesagt, ein Tarif für alle Orte genügen;
sind in einem Orte die Unternehmungen durchschnittlich grösser, erträgnis-
reicher als anderswo, so werden eben dort die oberen Steuersätze häufiger
zur Anwendung kommen als hier. Indessen werden bei der Durchführung
immerhin Schwierigkeiten entstehen; ein passend gewähltes Ortsclassen-
system kann die Sache jedoch erleichtern. Bei der Einschätzung in den
Tarif wird man eben naturgemäss eine Art Mittelsatz zugrundelegen,
gebildet aus der Beobachtung der am Orte befindlichen Unternehmungen;
bei den hervorragenderen Unternehmungen wird man dann über den Mittelsatz
hinausgehen, bei den kleineren Unternehmungen hinter ihm zurückbleiben.
Offenbar ist es nun für die Einschätzung von Vortheil, wenn ein Tarif
vorliegt, welcher dem herrschenden Geschäftstypus angepasst ist, denn wie
leicht zu begreifen, wird das Einschätzungsorgan Anstand nehmen, sich bei
den Einschätzungen vorwiegend in den obersten Spitzen oder vorwiegend auf
den untersten Stufen der Scala zu bewegen; ebenso liegt die Gefahr nahe,
dasss die Einschätzungscommissionen der einzelnen Gegenden, weil sie ver-
schiedene gewerbliche Verhältnisse vor Augen haben, den Maassstab ver-
schieden treffen, d. h. einen abweichenden Mittelsatz sich bilden, dass folglich
ein Unternehmen dort, wo kleinliche Geschäftsverhältnisse herrschen, schon
als besonders hervoiTagend und steuerkräftig gilt, während es anderswo nur
als massig entwickelt zählen würde. Dem kann man nun vorbeugen, wenn
man für verschiedene Orte verschiedene Tarife aufstellt, deren Mittelsätze
den jeweils vorkommenden Unternehmungen mittleren Umfanges, deren obere
Sätze den kräftigen Unternehmungen, deren unteren Sätze den kleineren
Unternehmungen als im allgemeinen ortsüblich entsprechen. Damit wird
den Einschätzungsorganen ein festerer Halt geboten als mit einem allgemeinen
Tarife und, wenn die Ortsclassen nur richtig combiniert sind, werden die
Einschätzungen zu gleichmässigen Resultaten führen.
Ich will nun in keine weitläufige Untersuchung darüber eingehen,
unter welchen Voraussetzungen und wie ein Ortsclassensystem von diesem
Standpunkte aus anzuordnen wäre. Der Motivenbericht zur Vorlage geht
nämlich von einem anderen aus und scheint es mir von grösserem praktischen
390 Mataja.
Interesse zu sein, die Durchführung des Ortsclassensysteras im Tarife und
die für dasselbe als maassgebend erklärten Grundsätze miteinander zu
vergleichen.
Die Begründung motiviert die Beibehaltung der Ortsclassen für die
gewerblichen Betriebe (mit Ausnahme der nach Abtheilung I zu besteuernden)
unter anderem (auf Seite 109) mit der Erwägung, dass der Geldwert in den
stärker bevölkerten Orten meist niedriger stehe als in kleineren Orten und
demnach, da der Tarif die Steuersätze nicht in Procenten, sondern in
absoluten Geldbeträgen ausdrücke, erklärlicher Weise dem geringeren Geld-
werte und den infolge dessen grösseren Suramen des Umsatzes, der Löhne^),
der Lebenshaltung u. s. w. grössere Tarifsätze entsprechen. Ich will dieser
Bemerkung sicherlich nicht schlechtweg entgegentreten, aber vor allem
scheint mir, die Eichtigkeit des Grundgedankens angenommen, aus ihr nicht
das zu folgen, was zu beweisen ist. Stellt sich in der That in den bevöl-
kerteren Orten der Geldwert geringer, so folgt zunächst nur, dass viele
Productionskosten sich dort der Ziffer nach höher stellen; ob aber auch
der Umsatz oder gar die Verkaufspreise und mit ihnen der Ertrag, hängt
dann noch von dem Umstände ab, wo der Absatz erzielt wird. Handelt es
sich um Eabriken und Gewerbe, die ihren Absatz in der Ferne suchen, die
exportieren, so wird ihnen die Niedrigkeit des Geldwertes an Productions-
orte nur schaden, nicht nützen, da hierdurch die Kosten theilweise erhöht,
die Absatzpreise jedoch nicht gesteigert werden. Die Ortsclassen hätten
dann sogar die umgekehrte Bedeutung, die ihnen gegeben werden! Thatsache
ist es ja auch, dass in einer Keihe von Branchen die industriellen Etablisse-
ments die grossen Städte verlassen. Kun kann man bei den heutigen
gewerblichen oder commerziellen Verhältnissen weder sagen, dass die fabriks-
mässigen, nach Abtheilung I unabhängig vom Standorte zu besteuernden
Unternehmungen schlechtweg mit dem localen Absatz, wo die örtlich höheren
Preise vortheilhaft ins Gewicht fallen, nichts zu thun haben, noch dass die
kleineren Unternehmungen nur von dem nahen Markte leben. Man darf
eben auch bei den Fabriken nicht bloss an die kolossalen Unternehmungen
denken, welche Producte in die verschiedensten Gegenden der Erde senden.
Soweit daher überhaupt Ortsclassen berechtigt sind, scheinen sie mir auf
einen grossen Theil der fabriksmässig betriebenen Unternehmungen gerade
so anwendbar zu sein wie auf kleingewerbliche, z. B. also auch auf die Bier-
brauereien (Tarifpost 13, S. 142) u. a. Ebensowenig darf übersehen
^) Wenn wirklich nach Ansicht der Eegierung in den stärker bevölkerten Orten
der Geldwert meist niedriger steht und demgemäss die Löhne grössere Summen erreichen,
so möchte ich bei dieser Gelegenheit die Frage aufwerfen, wie sich diese Annahme mit
den behördlichen Festsetzungen der üblichen Taglöhne (§ 7 des Krankenversicherungs-
gesetzes) verträgt, die zum grossen Theile jener Anschauung direct widersprechen. Man
vergleiche die in den amtlichen Nachrichten betr. die Unfall- und Krankenversicherung,
1. Jahrg., S. 427, 587 gegebenen Nachweisungen oder gar die Berechnung, 3. Jahrg.,
S. 271, über die in den einzelnen Ländern durchschnittlich üblichen Taglöhne. An der
Spitze marschieren Dalmatien und Küstenland, dann Kärnten, dann Salzburg und Nieder-
österreich u. s. w., zuletzt kommen Mähren und Schlesien.
Die Eeform der directen Personalsteuern in Oesterreicli. 39 1
werden, dass Abtlieilung I gemäss § 36, Ziffer 2 und 3. sich gar nicht
auf Fabriken beschränkt, sondern eine Reihe anderer Gewerbsunternehmungen
umfasst. Eine durchgreifende Begründung für die Anordnung des Tarifes
wird daher vom Standpunkte des Motivenberichtes kaum zu geben sein.
Jedenfalls möchte ich befürworten, in den Ortsclassen den Mindest-
betrag der Steuersätze langsamer ansteigen zu lassen als den Höchstbetrag,
da mit der Grösse des Ortes zwar der Spielraum für die Entfaltung und
Ertragsfähigkeit eines durch die localen Verhältnisse beeinflussten Unter-
nehmens wächst. Betriebe der kleinsten und dürftigsten Art ^) sich jedoch
überall vorfinden, welche den geringeren Geldwert sogar mehr nachtheilig
als vortheilhaft empfinden. Nicht unbedenklich finde ich es, Wien mit seiner
gegenwärtig so grossen Ausdehnung und der weitgehenden Verschiedenheit
seiner Theile als ein einheitliches Gebiet zu behandeln und z. B. den Klein-
gewerbetreibenden in den ehemaligen Gemeinden Breitensee etc. principiell
höhere Sätze in Aussicht zu stellen als ihren Eachgenossen in Prag
oder Triest.
Schliesslich sei noch der Behandlung der Hausindustrie gedacht.
Hiefür sind insbesondere zwei Bestimmungen im Entwürfe wichtig. § 3,
Zift\ 3, befreit von der Erwerbsteuer: .Hausindustrielle, welche ausschliess-
lich im Auftrag und für Rechnung von Unternehmern persönlich oder unter
Mitwirkung von nicht mehr als zwei Personen des eigenen Hausstandes,
jedoch ohne fremde Hilfsarbeiter industrielle Erzeugnisse herstellen oder
bearbeiten." Was sind jedoch Hausindustrielle? Offenbar wird hierbei an
die Gewerbegesetzgebung gedacht, welche aber auch ihrerseits diese Frage
nicht löst. In diese Lücke ist der Erlass des Handelsministeriums vom
16. September 1883, Z. 26.701, eingetreten: Hausindustiie ist darnach jene
gewerbliche Production. welche nach örtlicher Gepflogenheit von Personen
in ihren Wohnsitzen als Haupt- oder Nebenbeschäftigung in der Art betrieben
wird, dass diese Personen bei ihrer Erwerbsthätigkeit. falls sie derselben
nicht bloss persönlich obliegen, keinerlei gewerbliche Hilfsarbeiter (Gehilfen,
Lehrlinge u. s. w.) beschäftigen, sondern sich lediglich der Mitwirkung der
Angehörigen des eigenen Hausstandes bedienen. In dieser Definition ist das
für die Hausindustrie im modernen Sinne Wichtigste übergangen: die Person
des Verlegers. (Vergl. Schwiedland in dieser Zeitschrift, oben S. 169.)
Das Merkmal der „örtlichen Gepflogenheit" hingegen ist geeignet, die
Definition die eigentliche, wegen der socialpolitisch desolaten Zustände
besonders berücksichtigenswerte Hausindustrie häufig verfehlen zu lassen.
Ich wenigstens möchte die kleine massige Wohlthat des § 3 nicht durch
ZAveifel über das Vorhandensein von „örtliclien Gepflogenheiten" in ihrer
') Insbesondere auch dadurch, dass die Befreiungen von der Steuerpflicht (§§ 3, 5)
ziemlich eng begrenzt sind. Warum gewisse geringfügige Erwerbsgattungen als „Neben-
beschäftigungen" ausgeübt steuerfrei, hingegen als Hauptbeschäftigung steuerpflichtig
sein sollen während die Lage des Betreffenden doch im letzteren Falle ungünstiger
erscheint, #ehe ich übrigens nicht ganz ein.
392 Mataja.
Anwendung eingeengt wissen, lieber sollte noch eine Erweiterung eintreten,
indem gerade bei hausindustriellen Betrieben die Mitwirkung zahlreicher
Mitglieder des Hausstandes üblich ist und die Ziffer von zwei somit sehr
häufig überschritten werden dürfte, ohne dass der Anspruch auf Steuer-
befreiung ein unbilliger wird. § 35 des Steuergesetz-Entwurfes sagt wiederum:
„Bei der Besteuerung von Unternehmern, welche Gegenstände ihres Produc-
tionsbetriebes ^) durch Hausindustrielle herstellen oder bearbeiten lassen,
sind letztere sammt ihren hierbei verwendeten Hilfsarbeitern nach Maass-
gabe der dieser Verwendung gewidmeten Zeit als Hilfsarbeiter zu zählen,
ohne Unterschied, ob sie selbständig besteuert sind oder nicht." Diese
Bestimmung ist sicherlich sehr zutreffend, mag auch ihre Durchführung
dort, wo Hausindustrielle nicht ständig für ein und denselben Unternehmer
arbeiten, zu einigen Schwierigkeiten führen. Bemerkenswert ist aber auch,
dass dieser Paragraph von Hilfsarbeitern der Hausindustriellen spricht. Nach
dem Handelsministerial-Erlasse hört ja die Hausindustiie auf, wenn Hilfs-
arbeiter beschäftigt werden.
Bei diesem Anlasse kann ich das Bedenken nicht verschweigen, welches
das Verfahren in mir wachruft, wichtige, zahllose Einzelinteressen in Bezie-
hung auf Besteuerung und andere bedeutsame Angelegenheiten berührende
Kechtsfragen, so was ein fabriksmässiger, was ein hausindustrieller Betrieb
sei, im Wege von internen, einer Kundmachung gar nicht fähigen Amts-
verfügungen zu entscheiden. Vielleicht erinnert man sich dieser Fragen,
die schon zu viel Streitigkeiten^) Anlass gegeben haben, jetzt, wo ihnen
der Steuergesetz-Entwurf erhöhte Bedeutung gewährt.
Die ni. Abtheilung betrifft die Handelsgewerbe, wieder mit
Ortsclassen, über die Aehnliches wie das früher Bemerkte zu sagen wäre.
Auch hier setzt sich die Steuer zusammen aus einer Grundtaxe und
einer nach der Zahl der Hilfsarbeiter sich abstufenden Betriebstaxe. Da der
Handel weniger Hilfsarbeiter benöthigt als die gewerbliche Thätigkeit, ist
die Grundtaxe regelmässig höher gehalten und damit wird die im Verhältnis
zur Grundtaxe ausgedrückte Betriebstaxe von selbst grösser. Misslich bei
der Sache ist, dass die Ertragsfähigkeit eines kaufmännischen Unternehmens
noch viel weniger in einem geregelten Zusammenhange mit der Zahl der
Hilfsarbeiter steht, als die eines gewerblichen Betriebes. Misslich ist ferner,
dass die Betriebstaxe sich häufig sehr hoch stellt und damit ein grosser
Anreiz zur Ersparung von Arbeitskräften gegeben wird, namentlich zur Ab-
stossung von geringerwertigen. Eine Steuer, wie sie z. B. nach Tarifpost 79,
Ziffer 2 und 3, für Wien sich ergibt, nämlich möglicherweise 80 Gulden
für einen Buchhalter, Disponenten, Handlungsreisenden oder 40 Gulden für
andere Hilfsarbeiter, ist immerhin schon eine Ziffer, die ins Gewicht fällt.
Noch mehr gewinnt sie an Bedeutung, wenn man erwägt, dass die Zahl
1) Ich würde lieber „Gewerbebetriebes" sagen, um unzweideutig auch die kauf-
männischen Verleger dem § 35 zu unterwerfen.
'^) Es sei an die Kämpfe der Mühlenbesitzer, Buchdrucker u. a. erinnert, um ihre
Unternehmungen nicht als fabriksmässig anerkannt zu sehen.
Die Eeform der directen Personalsteuern in Oesterreicli. 393
der Hilfsarbeiter gewiss eine wichtige Eolle schon hei Bemessung der Grund-
taxe spielen wird, sowie, dass unter Umständen mit der Erreichung einer
bestimmten Zahl von Hilfsarbeitern das Hinaufrücken in eine ungünstigere
Steuerkategorie verbunden ist. Nehmen wir ein allerdings etwas extrem
gestelltes Beispiel. Ein nach Tarifpost 79 zu besteuerndes Unternehmen in
Wien erfüllt die in der Anmerkung genannte Voraussetzung und wird daher
dem Maximum der Besteuerung ausgesetzt. Bei neun Hilfsarbeitern (Ver-
käufern u. dergl.) zahlt es darnach (immer abgesehen von den Contingents-
Zuschlägen oder Abschreibungen) an Grundtaxe 240 Gulden, an Betriebs-
taxe 270 Gulden mehr ein Drittel von der Summe laut Anmerkung, also
insgesammt 680 Gulden; bei Erhöhung der Hilfsarbeiter auf 11 kann die
Steuer auf eine Grundtaxe von 800 steigen, der sich dann eine Betriebstaxe
von 330 Gulden und ein Drittelzuschlag anschliesst, so dass also jetzt die
Summe sich von 680 auf 1506 Gulden erhöht. Der Fall mag nicht überaus
wahrscheinlich sein, er ist jedoch ganz gut möglich: ein Geschäft ist als
besonders rentabel bekannt und trägt daher die Steuercommission kein
Bedenken, die Steuer so hoch wie nur rechtlich möglich anzusetzen, die
Commission mag sogar, wie nur neun Hilfsarbeiter vorhanden waren, bedauert
haben, das Geschäft nach Ziffer 2 behandeln zu müssen. Nun kann ja die
Steuer von 1500 Gulden angemessen sein, das steht hier nicht in Frage;
betont soll hier ja nur werden, wie der Unternehmer daran interessiert ist,
sein Personal nicht zu vermehren. Den Sprung von drei auf vier Hilfs-
arbeiter (Ziffer 1) oder von zehn auf eilf (Ziffer 2) wird aber sicherlich
Jeder ungern machen! — Ich will die Bedeutung dieser Bestimmungen des
Steuergesetz-Entwurfes für die Gestaltung des Arbeitsmarktes gewiss nicht
allzu hoch anschlagen, ich kann sie aber auch nicht gänzlich in Abrede
stellen. Gerade im kaufmännischen Gewerbe, wo man ohnehin so häufig
eine Ueberlastung der Angestellten findet, ist die Unterstützung dieser
Tendenz, der Einstellung von mehr Hilfskräften durch Ueberanspannung der
vorhandenen vorzubeugen, etwas Bedenkliches. Vielleicht erinnert man sich
an die Sache, wenn einmal die Erweiterung des kaufmännischen Arbeiter-
schutzes zur Verhandlung kömmt.
Da es jedoch zu weit führen würde, diesen Punkt hier schon näher
behandeln zu wollen, möchte ich nur auf einige das Steuerrecht unmittelbar
berührende Details aufmerksam machen. Vor allem erscheint mir die Aus-
drucksAveise in der Kubrik -Betriebstaxe- nicht in jeder Hinsicht klar und
unzweideutig. Häufig ist hier von einer Betriebstaxe „für jeden Buchhalter,
Disponenten, Procuraführer oder Handlungsreisenden " die Rede. Was heisst
nun jeder Buchhalter? Jeder bei der Buchhaltung dauernd Beschäftigte oder
nur jene, welche hierbei eine selbständige, leitende Stellung innehaben?
Bei gi'ossen Geschäften gehen beide Kategorien weit auseinander und sind
bei der Buchführung auch recht untergeordnete Kräfte thätig, deren beson-
dere Veranschlagung bei der Besteuerung gegenüber viel wichtigeren Hilfs-
kräften, z. B. Cassieren, Platzagenten u. a. kaum gerechtfertigt wäre. Ob
die kaufmännischen Kreise die Bezeichnung „Disponent" ganz klar und
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung III, Hoft. 26
394 Mataja.
uazweideutig finden, wäre vielleicht auch der Untersuchung wert. Der Pro-
curaführer wiederum braucht gar nicht Angestellter des Unternehmers sein,
der z. B. seiner Frau die Procura ertheilt, damit erforderlichenfalls bei
seiner Verhinderung gewisse Unterschriften gegeben werden können, während
er Niemand seines Personals eine so weitgehende Vollmacht tibertragen will;
es würde daher hier zur Vermeidung von Missverständnissen klar zu sagen
sein, dass nur mit der Procura ausgestattete Hilfsarbeiter (§ 33 des Gesetzes)
in Betracht kommen. Vielleicht würde auch die Frage der Collectivprocura
einer Kegelung bedürfen. Ohne ferner der gerade auch im Handel vorkom-
menden Lehrlingszüchterei Vorschub leisten zu wollen, schiene es mir ange-
sichts der relativ hohen Betriebstaxe angemessen, die Lehrlinge allgemein
(und nicht bloss fallweise nach § 33, Abs. 3) nur als eine halbe Kraft in
Anschlag zu bringen, jedoch als Schutz gegen Missbrauch nur die im Sinne
des § 99 der Gewerbe-Ordnung regelrecht aufgedungenen. Schliesslich scheint
mir die Anwendung des Abs. 2 des § 33 nicht überall klar gestellt zu sein,
z. B. bei Tarifpost 62; ein Agent, der sich einen Comptoiristen hält, soll
diesen, weil unter Ziff. H fallend, mit zwei Kräften angerechnet sehen, also
(in Wien) eventuell 200 Gulden Betriebstaxe zahlen?
Interessenten seien auf die Anmerkung zu Tarifpost 74 aufmerksam
gemacht, wonach der mit dem Delicatessenhandel verbundene Weinhandel
selbständig zu besteuern ist.
Mehr mit Bedauern als mit dem Gefühl der Ueberraschung sehe ich
in- die Tarifpost 82 die Lebensmittelmagazine eingereiht. Ich w^eiss wohl,
dass dies der heutigen Praxis entspricht; indessen möchte ich doch darauf
aufmerksam machen, dass sich die projectierte Besteuerung, welche sich
an die äusseren Merkmale des Betriebsumfanges hält und den Erwerb-
steuercommissionen freien Spielraum lässt, in denen sicherlich die Gegner
der Magazine mehr Einfluss haben werden als die Betheiligten , leicht
vielfach belangreich ungünstiger stellen kann als die gegenwärtige Be-
steuerung, bei welcher denn doch der wirkliche Eeinertrag eine Kolle spielt,
der Eeinertrag, den es bei den ihren Zwecken treu bleibenden Lebensmittel-
magazinen gar nicht gibt. Es würde zu bedauern sein, wenn dies den
wirklich in humanem Geist gegründeten und geleiteten Institutionen zum
Abbruch gereichen sollte.
Abtheilung IV betrifft die Gastgewerbe; auch hier finden sich
neben allerlei Unterabtheilungen Ortsclassen und Betriebstaxen, abgestuft in
Hinblick auf die Zahl der Hilfsarbeiter.
Fachkreise wiederum mögen sich darüber äussern, ob die Abstufungen
richtig gewählt sind; mir wenigstens kommt die ansehnliche Steigerung
der Steuersätze für die „eleganten Betriebsstätten" etwas bedenklich vor,
da, soweit mir bekannt, Einträglichkeit und vornehme Ausstattung beim
Gastgewerbe durchaus nicht immer parallel gehen. Eine Correctur wird
freilich — wenigstens bei Tarifpost 98 — dadurch geboten, dass ein
Steuerminimum gemäss dem Absatz an Getränken aufgestellt wird. Offenbar
können darnach auch minder ansehnliche, aber sehr gut besuchte Betriebs-
Die Eeform der directen Person alsteiieru in Oesterreich. 395
statten zu einer höheren Steueiieistung herangezogen werden , als den
Sätzen der Grund- und Betriebstaxe entspricht. Den eleganten, aber wenig
einträglichen Localen ist damit freilich nicht geholfen.
Das Zimmer- und Bettenvermieten (Tarifpost 101) scheint mir in
dieser Allgemeinheit nicht hierher zu gehören, sondern nur unter Voraus-
setzungen, welche dieses Vermieten zu einer dauernden Erwerbsunternehmung
oder Beschäftigung stempeln.
Die V. Abtheilung umfasst Dienstleistungen, Leihgewerbe, Aus-
übung von Patenten, Sanitätsgewerbe, Transportgewerbe, Unterricht, Ver-
gnügungsgewerbe.
Die VI. Abtheilung betrifft die nach dem abzuschätzenden
Ertrage zu besteuernden Gewerbe und Beschäftigungen. Hier
sind jene Erwerbsgattungen zusammengefasst, für welche eine ausreichende
Steuerpflicht aus äusseren Merkmalen nicht mit Bernhigung bestimmt
werden konnte. Für die Bemessung der Steuer besteht eine Scala mit
gemäss der Höhe des Ertrages wachsenden Steuerprocenten; dabei sind
(nach äusseren Merkmalen) Mindestbeträge der Steuer fixiert. Letzteres ist
sehr richtig, um einer Ungleiclimässigkelt der Besteuemng entgegenzuwirken,
welche sich sonst leicht aus der immer etwas misslichen Anwendung von
so verschiedenen Maassstäben ergeben kann.
Nach § 28 des Entwurfes ist jedem Erwerbsteuerpflichtigen innerhalb
der im Tarif gezogenen Schranken derjenige Steuersatz zuzuweisen, welcher
der Ertragsfähigkeit seines Gewerbes im Verhältnisse zur Ertragsfähigkeit
der Gewerbe des anderen Steuerpflichtigen des Bezirkes am besten entspricht.
§ 46 bestimmt dann speciell für die Anwendung der für die VI. Abtheilung
aufgestellten Scala: ..Innerhalb des für jede Ertragsstufe vorgezeichneten
mindesten und höchsten Procentsatzes hat die Erwerbsteuercommission
einen desto niedrigeren Procentsatz anzuwenden, je mehr der Ertrag auf
der persönlichen Thätigkeit des Steuerpflichtigen und je weniger er auf
der Mitwirkung von Capital beruht, je mehr sodann im Falle einer solchen
Mitwirkung das im Betriebe verwendete fremde Capital über das eigene
Capital des Steuerpflichtigen überwiegt, und je weniger endlich die Steuer-
kraft des letzteren durch sonstige Umstände, w^elche nicht schon durch die
Wahl der scalamässigen Steuerstufe zur Berücksichtigung gelangten,
gehoben wird.- Diese Grundsätze sind so schön, dass ich sie nicht bloss
auf die VI. Abtheilung angewendet wissen wollte.
Die Hausier- und Wandergewerbe sind besonderen Vorschriften-
unterstellt, welche (vgl. Motive S. 63) den etwa heute bestehenden Be-
günstigungen ein Ende bereiten sollen. Dagegen ist im allgemeinen nichts
einzuwenden, wenngleich einzelne Bestimmungen (so § 85, Abs. 1) eine
gewisse Zurücksetzung der Hausierer etc. involvieren. Ich weiss, dass gerade
dieses eine wohlwollende xiufnahme finden wird, gebe aber hier nochmals
der Ueberzeugung Ausdruck, dass man den Hausierhandel und die durch
ihn für den sesshaften Handelsstand unleugbar erzeugten Gefahren kaum
erfolgreich bekämpfen wird durch allerlei kleine Maassnahmen, sondern
26*
396 ^^^^^j^-
nur durch vergleichsweise radicale Vorkehrungen. Socialpolitisch wichtig scheint
es mir, nicht dem Hausierer, der oft ein Aermster unter den Armen ist,
das Leben sauer zu machen, sondern überhaupt den Handel in jene Bahnen
zu lenken, in welchen eine ünt erbietung, wie sie jetzt durch den Hausier-
handel geschieht, d. i. durch Anwendung einer tiefer stehenden kaufmännischen
Moral und Gebarung, sowie durch Herab drücken der Lebenshaltung, zum
Nutzen aller Theile nicht stattfindet.^)
c) Das Einschätzungsverfahren.
Hiezu habe ich nur wenig vorzubringen.
Was zunächst die Bildung der Eiiverbsteuercommissionen anbelangt,
so finde ich nur den gänzlichen Ausschluss der Frauen von der persönlichen
Ausübung des Wahlrechtes (§ 15) unpassend, wenn man schon eine
Anregung, ihnen die Wahlfähigkeit zu ertheilen, als aussichtslos übergehen
will. Dort, wo die Frau die gleichen Pflichten wie der Mann trägt, wo sie
durch den Umstand, dass sie selbstständige Steuerträgerin ist, auch ihre
wirtschaftliche Selbständigkeit documentiert, ist jene Zurücksetzung oifenbar
ungerecht und auch etwas kleinlich, da praktisch bedeutsame Folgen sich
unzweifelhaft ohnehin nicht daran knüpfen.
Die Bestimmungen über die Einschätzung selbst erscheinen sehr sach-
gemäss, wie überhaupt die Anordnungen über den Geschäftsgang wiederholt
äusserst scharfsinnig und vorsichtig abgefasst sind (so z. B. § 62). Ob es
möglich und zweckmässig wäre, den Einschätzungscommissionen die Hoffnung
zu benehmen, durch constant niedrige Einschätzungen und damit Unter-
schreitung des Contingentes die Herabsetzung des letzteren selbst zu
erreichen, bleibe dahingestellt.
IV.
Die Epwerbsteuep von den den öffentlichen Rechnungslegung
unterworfenen Unternehmungen.
Die gegenüber den heutigen Verhältnissen beabsichtigte Eeform bezieht
sich insbesondere darauf, dass zwar die zehnpercentige Steuer auf den
Keinertrag beibehalten, dieser selbst aber in richtigerer Weise berechnet
wird. Diese Reform empfiehlt sich von selbst und bedarf, wie mir scheint,
neben den im Motivenbericht gegebenen Erläuterungen einer weiteren Befür-
wortung nicht.
Ernstliche Bedenken scheint mir jedoch die Erweiterung zu verdienen,
welche der Begriff der „ Erwerbsunternehmungen " im Gesetzentwurf erfährt.
Insbesondere gilt dies von der unterschiedslosen Einreihung der
Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften.
^) Vgl. meine Ausführungen über „die Refoim der Hausiergesetzgebung" im
Handelsmuseum April 1888 und in der XXX. Plenarversammlung der Gesellschaft österr.
Volkswirte (vorliegende Zeitschrift S. 276 und Doms Volksw. Wochenschrift. 10. März 1892).
Die Reform der clirecten Personalsteuern in Oesterreich. 397
Ein Consumverein zum Beispiel, welcher nur an Mitglieder verkauft,
ist jedoch gar keine Erwerbsunternehmung. Es ist weiter nichts anderes
als ei-ne Veranstaltung zum gemeinschaftlichen Einkauf und aus einer
solchen kann schon begrifflich kein Erwerb, kein Einkommen folgen. Was
die Mitglieder aus dem Verein erzielen, ist kein neues Einkommen, sondern
nur eine Ersparnis, eine bessere Verwertung des anderwärtigen Einkommens.
Die Mitglieder können sofort jenen fictiven „Keinertrag" verschwinden
machen, wenn sie die Waren genau zum Gestehungspreise (einschliesslich
des Generalkostenzuschlages) verrechnen und abgeben. Wenn sie dies nicht
thun, sondern aus Rücksicht auf eine vorsichtige Gebarung oder um ein
unmerkliches Zusammensparen zu erzielen, höhere Preise anrechnen und
am Schlüsse des Jahres eine ..Dividende" vertheilen, so ist das kein wirk-
licher Ertrag, sondern unterscheidet sich von den Geschäftsergebnissen einer
Erw^erbsunternehmung wie eine ersparte Auslage von einem neuen Gewinn,
welcher das Vermögen positiv vermehi-t. Wenn den Mitgliedern diese
Sparmethode gefällt, d. h. dass bei allen Einkäufen ein paar Kreuzer mehr
als nöthig gezahlt werden und am Schlüsse des Jahres die also ange-
sammelte Summe aus den Ueberzahlungen zurückerstattet wird, wie kann
sich daraus ein Titel für eine Besteuerung ergeben? Die Mitglieder haben
es in ihrer Hand, jenen Zuschlag grösser oder kleiner zu machen und
darnach die Dividende zu steigern oder herabzudrücken; seit wann kann man
„Erträge" beliebig regulieren? Man kann Waren wohlfeil oder theuer erstehen,
aber aus dem blossen Einkauf, ob er nun für Rechnung eines Einzelnen
oder für gemeinsame Rechnung erfolgt, kann, wenn es sich nur um die
Deckung des eigenen Bedarfes handelt, niemals ein Einkommen entstehen.^)
Doch vergessen wir nicht die im Entwürfe den Genossenschaften zuge-
dachten oder richtiger gesagt aufrecht erhaltenen „Steuerbegünstigungen".
Die ihren Geschäftsbetrieb statutenmässig und thatsächlich auf ihre eigenen
Mitglieder beschänkenden Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften sind
steuerfrei, wenn ihr „Reinertrag" 300 fl. nicht übersteigt ; das erste Tausend
wird mit drei Zehntel, das zweite Tausend mit fünf Zehntel und erst die
weiteren Beträge voll der Besteuerung unterzogen (§ 93, 106). Die Wirkung
dieser sinnreichen Besteuerungsmethode ist wie folgt. Es bilden einige
Personen eine Vereinigung, um gemeinsam einzukaufen, berechnen sich die
Waren jedoch nicht zu dem Preise, der allen Kosten entspricht, sondern
legen einen kleinen Zuschlag darauf, um gegen unvorhergesehene Even-
tualitäten gedeckt zu sein und im günstigen Falle jedem am Schlüsse des
^) Im Entwürfe ist dies insoferne anerkannt, als zwar grundsätzlich der Ertrag
der Unternehmungen mit öffentlicher Eechnungslegung bei der Unternehmung und da-
neben der dem einzelnen Theilnehmer (Actionär etc.) zufliessende Antheil bei diesem —
der Einkommensteuer — unterliegt, doch gemäss § 204 nur die Zinsen und Dividenden
von Geschäftseinlagen und Genossenschaftsantheilen zur Einkommensteuer herangezogen
erscheinen, die Dividenden nach Maassgabe der Einkäufe aber nicht genannt sind. Dass
für die Unterwerfung der Dividenden auf Genossenschaftsantheile unter die Einkommen-
steuer bei den einzelnen Genossenschaftern Gesichtspunkte sprechen, erhellt aus der
zweitnächsten Anmerkunsr.
898 Mataja.
Jahres ein paar Gulden ausfolgen zu können, die also nichts anderes sind
als eine kleine Sparsunime zusammengebracht durch die Ueberzahlungen
bei der Entnahme der Waren: angenommen, diese Sparsumme beträgt
per Kopf 10 fl. und die Anzahl der Theilnehmer ist gering, so tritt keine
Steuer ein. Die Verhältnisse bleiben beim alten, die Zahl der Theilnehmer
nimmt zu und damit, ohne dass irgend jemand gegen früher ein grösseres Er-
trägnis erzielt, die Gesammtsumme des Ersparten — die Besteuerung ergreift
nunmehr dieselbe. Falls die Vereinigung weiter wächst und etwa auf 10.000 Mit-
glieder ansteigt, so werden die Ersparnisse der letzteren beim Einkauf pro-
portionell ebenso besteuert, wie der Ertrag der mächtigsten Capitalsassociationen,
wie die Spielgewinne eines Credit mobilier!^) Das heisst mit anderen Worten:
So lange diese Vereinigungen leistungsunfähige Zwerggebilde sind oder
unbesorgt in den Tag hineinwirtschaften oder die Mitglieder sich um die
Sparzwecke nicht kümmern, werden sie vom Fiscus ignoriert; breiten sie
sich aber aus, schlagen sie eine rationelle Geschäftsführung ein und suchen
sie bei ihren Mitgliedern den Sparsinn zu pflegen, so eiTeicht sie, je gründ-
licher sie dies thun, auch die Besteuerung umso gründlicher.
Genau das, was hier zunächst in Beziehung auf die Consumvereine
ausgeführt worden ist, gilt auch von allen übrigen Wirtschaftsgenossen-
schaften mit Ausnahme von jenen, welche Geschäfte machen, die, wenn
ein Einzelner sie vornähme, auch erwerbsteuerpflichtig w^ären. Was immer
hier als Gewinn oder Ertrag erscheint, ist seinem Wesen nach nichts anderes
als ein Geschöpf der Abrechnung aus Veranstaltungen, die mit den Ertrag-
steuern nichts zu thun haben. ^)
^) Die Begünstigung, dass das erste Tausend nur drei Zehntel zahlt etc., darf bei
dieser Rechnung wirklich vernachlässigt werden. Dafür stehen aber alle Vereinigungen
— auch die kleinsten — unter dem Absatz 3 des § 106, der freilich für sie nicht sehr
gefährlich sein dürfte.
2) Insbesondere gehören hierher auch die Credit- und Vorschussvereine. Insolange
sie von dritten Personen nur Credit nehmen, nicht aber an solche gewähren, können
sie — ebenso wenig wie die Consumvereine — einen wirklichen Ertrag haben, da man
durch Ausleihen von Fremden keine Einnahmen erzielt, so wenig wie durch Ankauf.
Eine abweichende Anschauung kann hier jedoch eher durch den Umstand entstehen, dass
die Ueberschüsse, d. i. die den Mitgliedern zu viel berechneten Zinsen für gewährte
Credite, regelmässig nicht (wie die Dividende der Consumvereine) nach Maassgabe der
Inanspruchnahme der Genossenschaft durch die Einzelnen, sondern einfach nach den
Geschäftsantheilen vertheilt werden. Für den einzelnen Antheilseigner können dadurch
in der That Einnahmen entstehen, allerdings nur auf Kosten eines andern Mitgliedes,
welches im Wege der Dividende nicht jene Rückvergütung erhält, die ihm bei Bemessung
nach dem correcten Schlüssel zukäme. Das ist hier aber irrelevant, da nicht die Be-
steuerung der Genossenschafter, sondern der Genossenschaft als Ganzes in Frage steht.
Die Genossenschaft aber (welche nur an Mitglieder Credit gewährt) kann keine Einnahme
haben, weil dazu eine nothwendige Voraussetzung fehlt, sie tritt nach aussen nur als
Käufer, Entlehner auf. nicht aber als Verkäufer. Wenn mehrere Personen gemeinsam
Waren kaufen, gemeinsam Credit aufnehmen, gemeinsam ein Magazin mieten etc., so
können sie immerhin die gemeinsamen Kosten nicht gerecht auftheilen, d. h. nach Maass-
gabe der Benützung des gemeinsam Beschafften durch jeden Einzelnen; sie können bei
der Abrechnung zu hohe Preise annehmen und den Ueberschuss — das zu viel Berechnete —
Die Eeform der directen Personalsteiiern in Oesterreich. 399
Nebenbei bemerkt, scheint mir die Besteuerung der Consumvereine
leiclit eine zweischneidige Waffe werden zu können, die sich auch gegen
Jene zu richten vermöchte, denen man damit ein Entgegenkommen beweisen
will. Der Detaihandelsstand hat ein Interesse daran, dass sich die Consum-
vereine streng auf den Verkauf an Mitglieder beschränken. Welchen Vortheil
haben aber namentlich grössere Vereine in Zukunft davon dies zu thun?
Heute droht ihnen beim Aufgeben dieser Beschränkung der Verlust der
durch das Gesetz vom 27. December 1880 gewährten Begünstigungen, wie
der Befreiurg von der Erwerbsteuer etc.; in Zukunft, wo diese bisher
exceptionell gewährten Bestimmungen im Wesentlichen allen der öffentlichen
Kechnungslegung unterworfenen Unternehmungen zugute kommen sollen
(Motive S. 65). so viel wie Nichts. Mögen also die Betheiligten zusehen,
dass ihnen nicht selber aus der neuen Sachlage ein Schade erwachse.
Associationen, die als Erwerbsunternehmungen besteuert werden, dürfen
sich wohl erlauben dem Erwerb nachzugehen.
Wir können von den Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften noch
nicht Abschied nehmen, auch die Productivgenossenschaften geben zu
einigen Worten Anlass. Wie bekannt unterliegen sie heute der Besteuerung
wie andere Unternehmungen; thatsächlich ist aber diese Gleichheit in vielen
Fällen nur ein Schein, indem die Productivgenossenschaften eine öffentliche
Eechnungslegung haben und daher die Erträge voll und ganz oder mit
Kücksicht auf die Vorschriften über nicht passierbare Auslagen etc. sogar
einer fictiven Ziffer nach besteuert werden, während die von einzelnen
Privaten geführten Unternehmungen (den eigentlichen Concurrenten der
Genossenschaften) ihre Erträge bekanntlich oft in hohem Mansse zu ver-
schleiern wissen, so dass eben nur ein Theil zur wirklichen Besteuerung
gelangt. Vor Jahren hat Ziller, der bekannte Anwalt des Genossenschafts-
wesens in Oesterreich, infolge der Verschiedenheit des Vorganges bei
Ermittlung des steuerpflichtigen Einkommens in der Regel die Steuer der
Productivgenossenschaften auf das drei-, selbst sechsfache als die der
entsprechenden Einzelunternehmung oder offenen Handelsgesellschaft mit
derselben Geschäftsausdehnung geschätzt. Man erinnere sich auch der
Mittheilungen, die Abgeordneter Wrabetz im Abgeordnetenhause am
beispielsweise gleich und nicht nach Maassgabe dessen vertheilen, wie jeder an der
Erzielung dieser rechnungsmässigen Ueberschüsse mitgewirkt hat. Der Einzelne kann
dadurch profitieren, nicht aber die Gesammtheit als solche, die immer nur theuer oder
wohlfeil einkaufen, nicht aber einen Gewinn machen kann. Das preussische Ministerial-
rescript vom 5. August 1885 (jetzt durch die neuen Steuergesetze überholt) hatte jene
Credit- und Vorschussvereine als gewerbesteuerfrei erklärt, welche nur an Mitglieder
Credit gewähren und den ganzen Geschäftsnberschuss ausschliesslich denjenigen, welche
den Credit in Anspruch genommen haben, nach Maassgabe dieser Inanspruchnahme
wieder zuwenden. Diese Bestimmung zeigt, wie man bei allzu eifrigem Bestreben, genau
und consequent zu sein, irre gehen kann. Die Unmöglichkeit eines Erwerbes liegt bei
den Genossenschaften — als Ganzes genommen — an ihrem Wesen, nicht an dem
Vertheilungsschlüssel der rechnungsmässigen Ueberschüsse. Unnöthig zu sagen, dass die
Vorschuss- und Creditvereine jener Bedingung nicht nachkommen konnten.
400 Mataja.
3. Juli 1891 über die Besteuerung der Productivgenossenschaften gemacht
hat. Im neuen Gesetzentwurf sehen sich die Productivgenossenschaften
einer zehnprocentigen Steuer vom Ertrage unterstellt, während selbst die
rentabelsten grössten Privatunternehmungen nach Abtheilung VI des Erwerb-
steuertarifes circa 5 Proc. — Motivenbericht S. 30 — zahlen sollen, aller-
dings mit der für kleinere Genossenschaften nicht unwesentlichen Begünsti-
gung der §§ 93 und 106 in Betreff der Steuerfreiheit eines Keinertrages bis
300 Gulden und der Steuerermässigung für die ersten zweitausend Gulden,
welche auch beim Absatz an Nichtmitglieder gilt.
Ich glaube, eine Steuerreform, die sich — und mit gutem Grunde —
als eine die Entlastung der schwächeren Elemente bezweckende gibt, sollte
auch an den Productivgenossenschaften nicht achtlos vorübergehen und
dies umso weniger, als hier ein besonderes fiscalisches Interesse ohnehin
nicht in Frage kömmt. Die auf Seite 13 des Motivenberichtes dafür ange-
gebenen Gründe, dass bei Unternehmungen mit öffentlicher Kechnungslegung
„das historisch eingebürgerte Steuerausmaass von 10 Proc. ohne Bedenken
beizubehalten wäre" treffen doch wohl nur die Actiengesellschaften.
Soweit überhaupt eine Steuerpflicht der Productivgenossenschaften
angenommen werden kann, so sollte sie jedenfalls nicht das Maass der
Leistungen von Privatunternehmungen, die, wie eben gesagt, ihre Con-
currenten bilden, überschreiten; trotz § 93 wird aber oft, vielleicht regelmässig
das Gegentheil der Fall sein. Ich sage : soweit eine Steuei*pflicht angenommen
werden kann, weil es auch Associationen gibt, die, obzwar sie zu den
Productivgenossenschaften gezählt werden, doch der Natur der Sache nach
mit einer Erwerbsteuer nichts zu thun haben sollten, ob ihr Keinertrag nun
etwas grösser oder kleiner ist. Es sind dies die landwirtschaftlichen
Productivgenossenschaften. ^) Wenn ich nicht irre, sind diese in
Oesterreich zumeist in der Form von Molkereigenossenschaften ins Leben
getreten. Der Zweck derselben bestand in der gemeinsamen Verwertung der
von den Mitgliedern in ihrem Wirtschaftsbetrieb erzeugten Milch und der aus
derselben gewonnenen Producte. So lange nun der Bauer für sich allein die
Milch zu Butter und Käse verarbeiten und den Absatz besorgen will, bleibt
dieser Betrieb steuerfrei, weil ja die Wirtschaft des Bauers bereits durch die
Grundsteuer getroffen und die Verwertung der landwirtschaftlichen Producte
^) Selbst das neue preussische Geweibesteuergesetz vom 24. Juni 1891, welches
trotz der Bestrebungen von manchen Abgeordneten wie Parisius u. A. die Genossen-
schaften durchaus nicht sehr freundlich behandelt, erklärt (in §. 5) Molkereigenossen-
schaften, "Winzervereine und andere Vereine zur Bearbeitung und Verwertung der selbst-
gewonnenen Erzeugnisse der Theilnehmer nur unter denselben Voraussetzungen gewerb-
steuerpflichtig, unter welchen auch der gleiche Geschäftsbetrieb des einzelnen Mitgliedes
hinsichtlich seiner selbstgewonnenen Erzeugnisse der Gewerbesteuer unterworfen ist. — Man
hat im deutschen Keiche recht auf das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen Bedacht
zu nehmen, das sich dort bereits einer grossen Entwicklung erfreut; die Anwaltschaft
der Vereinigung der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften gibt die Zahl der-
selben 1889 mit 3753 an (darunter 1730 Creditgenossenschaften, ^»31 Molkereigonossen-
schaften etc.).
Die Reform der directen Personalsteuern in Oesterreich. 401
keiner weiteren Steuer unterworfen ist. Treten 'jedoch mehrere zusammen
und thun dasselbe gemeinsam, so entsteht mit einem Male ein neues Kechts-
subject, die Genossenschaft, die selbst weder Grundbesitzer, noch die erwerb-
uud einkommensteuerfreie landwirtschaftliche Industrie betreibt, und daher
der Erwerb- und Einkommensteuerpflicht unterliegt. So war wenigstens die
Auffassung, welche^ vor Jahren den Molkereigenossenschaften in Tirol mit
aller Schärfe entgegengebracht wurde und der ein interessantes Capitel in
der Leidensgeschichte des Kampfes der Genossenschaften in Oesterreich mit
dem Fiscus sein Entstehen verdankt." Der neue Gesetzentwurf unterstellt
(§ 91) „alle Unternehmungen- der registrierten und nicht registrierten
Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften der Steuer und besiegelt damit
wohl definitiv das Schicksal aller ähnlichen Schöpfungen wie jener Molkerei-
genossenschaften. Man darf bei diesen Dingen auch nicht bloss die Höhe
der Steuer bedenklich finden, welche ja bei kleinen Genossenschaften gemäss
den §§ 93 und 106 in der That nicht sehr beträchtlich ausfallen mag; den
Bauer schreckt schon der Verkehr mit der Steuerbehörde, ihn bangt vor
den vielen Anmeldungen, Bekenntnissen, Kecursen etc. Alle diese Schreibe-
reien bedeuten für den Landwirt nicht bloss Verdruss wie für Jedermann,
sondern viel Mühe, Zeitverlust und gewöhnlich Kosten, da er sich nicht
selbst zu rathen weiss. Wie man landwirtschaftliche Associationen fördert,
hat in glänzender Weise das französische Syndicatsgesetz vom 21. März
1884 bewiesen. In wenigen kurzen Worten wird den Gründern von Fach-
vereinen die Pflicht auferlegt, die Statuten und Namen der Leiter im
Bürgermeisteramt zu hinterlegen, beziehungsweise bei Aenderungen diese
Hinterlegung zu erneuern, und damit sind die Förmlichkeiten auch schon
beendet. Das ganze Gesetz zählt nur zehn Artikel! Die Landwirtschaft hat
sich der neuen Form in umfassendster Weise bemächtigt und erfüllen die
landwirtschaftlichen Syndicate theils die Zwecke von Vereinen in unserem
Sinne, theils von Genossenschaften für Creditbeschaffung, gemeinsamen
Ankauf von Bedarfsartikeln, gemeinsamen Verkauf etc. etc. Ihre Zahl ist
gegenwärtig schon circa 1000, und besitzen sie sicherlich weit mehr als
eine halbe Million Mitglieder. Diese Syndicate stellen für Frankreich nach
dem Worte eines französischen Publicisten eine förmliche Revolution in der
wirtschaftlichen Gebarung der französischen Agricultur dar und wandeln
sich auch schon jetzt, wenn sie erstarkt sind und eine präcisere Verfassung
bedürfen, in wirkliche Cooperativgesellschaften um. Diesen letzteren selbst,
obzwar sie keineswegs zu klagen hatten, kommt jetzt übrigens ein neuer,
eben vom Senat (Juni 1892) angenommener Gesetzentwurf entgegen,
welcher die Consumvereine, die nur an Mitglieder und sogenannte Theil-
nehmer verkaufen, als Civilgesellschaften und nicht als Handelsgesellschaften
erklärt und ihre Dividenden nach Maassgabe der Einkäufe von der Ein-
kommensteuer befreit, was übrigens der schon bestehenden Praxis entspricht.
Neben wichtigen Gebürenbefreiungen für die Cooperativgesellschaften im
allgemeinen werden dann den Productivgenossenschaften insbesondere weit-
gehende Steuerfreiheiten ertheilt. Wie wohlthuend sticht dies von unseren
402 Mataja.
Steiiergesetzen, unserem schwerfälligen Genossenschaftsgesetz mit seinen
detaillierten Bestimmungen über den Genossenschaftsvertrag etc. ab, denen
Bauern Genüge leisten sollen! Wir sind nun einmal daran gewöhnt, hinter
jede Association einen Steuerinspector oder einen Polizeicommissär oder
womöglich beide zu stellen und die Befürwortung einer anderen Methode
Socialpolitik zu treiben begegnet kühlem staatsmännischem Achselzucken.
Die Sorge vor „ Missbräuchen " lastet schwer auf unserem Gemüth und
verkümmert uns die Freude am Gebrauch einer Einrichtung. Unser Rechts-
bewusstsein ist so feinfülilig, dass wir lieber angesichts der Ueber-
schreitimgen ihres Wirkungskreises durch Einzelne lieber hundert Unschuldige
bestrafen, als einen Schuldigen entweichen zu lassen.^)
Ich sehe übrigens keinen Grund ein, warum alle Unternehmungen
mit öffentlicher Rechnungslegung bloss dieses äusserlichen Momentes halber
einem und demselben Steuersatz unterworfen sein sollen, während sie in
Wahrheit einen höchst verschiedenen Umfang und Charakter aufweisen und
sonst überall im Steuerwesen nach einer Individualisierung gestrebt wird.
Vielleicht wäre auf dem Wege, gewisse Unternehmungen wie die Genossen-
schaften, Sparcassen einem massigeren Steuersatz zu unterstellen, eine Ver-
mittlung für die in dieser Angelegenheit so abweichenden Standpunkte zu
finden. Denn sicherlich wird sich und nicht ohne Grund Opposition erheben
auch gegen die geplante Besteuerung von anderen im § 91 genannten Unter-
nehmungen als die Genossenschaften, so der Sparcassen, Vorschusscassen.
V.
Die Besoldungs- und die Rentensteuer.
Die neue Besolduugssteuer bringt relativ nur wenige Aenderungen
gegenüber den heutigen Zuständen, die Steuersätze sind zwar ermässigt,
doch ist die factische Belastung der Dienstbezüge keine geringere, da eben
auch die Einkommensteuer für diese zu entrichten ist: durch Abrundungen
entstehen gegenüber den jetzigen Steuerleistungen einzelne, jedoch nicht
bedeutende Verschiebungen und zwar, wie die Tabelle auf S. 129 der
Motive zeigt, innerhalb der einzelnen neugebildeten Steuerstufeu zumeist zu
Ungunsten der geringereu und zu Gunsten der höheren Bezüge. Eine kleine
Neuerung zu Ungunsten der veränderlichen, wandelbaren Bezüge ist darin
gelegen, dass nicht mehr wie jetzt immer der Durchschnitt aus den drei
vergangenen Jahren, sondern der Betrag der letzten Jahres zugrunde gelegt
wird. Dadurch ist es erstens unmöglich, dass der Ueberschuss in einem
Jahre über das steuerfreie Minimum sich ausgleiche mit dem Deficit eines
^) Um unserem Verfahren noch ein Gegenstück gegenüber zu halten, verweise ich
schliesslich noch auf das bekannt grossartige Genossenschaftswesen in England und die
liberale Steuerbehandlung, die es dort erfährt. Man sehe die Darstellung bei Schulze-
Gaevernitz „Zum socialen Frieden" s. bes. L, S. 346. Anm.
Die Eeform der directen Personalsteuern in Oesterreich. 403
andern Jahres, zweitens kommt auch die geplante progressive Anlage der
Steuer in Betracht. Ein Mann beispielsweise, dessen Einkommen wechselt,
etwa in einem Jahre 1000, in einem andern 2000, in einem dritten 3000
beträgt, wird nach der Durch schnittsberechnung immer 2000 d. i. nacli
dem Tarif (§ 136) in drei Jahren 60 fl. zu entrichten haben, während er
nach der neuen Berechnungsweise 10 + 20 + 60 fl. d. i. zusammen 90 fl.
zu zahlen hat. Seine Gesammtsteuer (Besoldungs- und Einkommensteuer)
würde in einer dreijährigen Periode nach dem Durchschnitt berechnet 150,
nach dem Ertrag der einzelnen Jahre 184 fl. 20 kr. betragen.
Die Beibehaltung des bisherigen Steuerausmaasses Avird (S. 33 der
Motive) damit begründet, dass die jetzt übliche stark progressive Besteuerung
(erstes Tausend 1 Proc, jedes folgende Tausend um ein weiteres Procent
höher bis zu zehn Procent, wozu dann noch der Zuschlag von 70, bzhw.
100 Proc. des Steuerordinariums kommt) den niedrigen und mittleren Stufen
des Lohneinkommens schon derzeit eine nur massige, die Steuerkraft der-
selben keineswegs übersteigende Belastung auflege; für die höheren Stufen
bewirke die scharf ansteigende Progi'ession allerdings eine — zumal für
nicht fundiertes Einkommen — ungewöhnlich hohe Belastung. Da dieselbe
sich aber seit geraumer Zeit vollständig eingelebt und wohl auch schon bei
der Ausmessung der vertragsmässigen Dienstbezüge Berücksichtigung gefunden
habe, erscheine auch hier eine essentielle Herabsetzung nicht geboten.
Eingelebt hat sich die hohe Belastung freilich, da dies kein Vorrecht
guter Steuergesetze ist; aber misslich ist es doch, nicht fundiertes Ein-
kommen so schwer zu treffen, vielfach bedeutend schwerer als fundiertes.
Auch die Bemerkung, dass die Steuer schon bei Bemessung der Dienstbezüge
Berücksichtigung gefunden habe, ist ein nur etwas magerer Trost und bliebe
dann noch immer zu untersuchen übrig, ob die solcherart auf den Dienst-
geber überwälzte Steuer den Anforderungen der Billigkeit entspricht.
Auch ist die Annahme berechtigt, dass gewisse mindere Dienstbezüge,
die heute von den directen Steuern nicht getroffen werden, in Hinkunft
(neben der Einkommensteuer) der Besoldungssteuer verfallen werden. Diese
Aenderung wird durch mannigfache Gründe bewirkt: erstens durch die
Herabsetzung des steuerfreien Betrages von 630 auf 600 fl., zweitens durch
die Bestimmung, dass alle Lohn- und Dienstbezüge, welche den Betrag von
jährlich 600 fl. übersteigen, steuerpflichtig sind, während heute die Hilfs-
arbeiter geringerer Kategorie schlechtweg steuerfrei sind (Freiberger, Hand-
buch der österr. directen Steuern, S. 366), drittens durch die eben erwähnte
Veränderung in der Berechnung wandelbarer Bezüge, viertens durch die
schärfere Erfassung des Lohneinkommens (Erweiterung der Anzeige- und
Einhebepflicht der Dienstgeber auch auf die nicht stehenden Bezüge,
insbesondere auch die Kückwirkung der Einkommensteuer mit ihrer
eventuellen Bemessung nach dem IVIietaufwand und den sonstigen Hilfs-
mitteln auf die Erhebung der Dienstbezüge ^), fünftens durch die Behandlung
') Vgl. E. Mi sc hl er im Socialpolit. Centralblatt vom 20. Juni 1892.
404 Mataja.
der Veränderungen in der Steuerpfliclit. Letzteres bedarf noch einer
Erläuterung.
Heute gilt die Kegel, dass, wenn die Besoldung nicht für eine ganz-
jährige, sondern nur für eine kürzere Dauer der Dienstverweudung im voraus
bestimmt ist, der Steuerberechnung nicht die Besoldung, die auf die
ganzjährige Dienstleistung entfiele, sondern nur jener Betrag zugrunde gelegt
wird, welcher während der wirklichen Dauer der Verwendung zur Aus-
zahlung gelangt. Princip ist eben die Einhebung der Einkommensteuer
nur nach Maassgabe der wirklichen Auszahlung der Bezüge (Freiberger,
S. 392). Nach dem Entwürfe gilt nun das Folgende. Beispielsweise ein
Commis, Werkführer o. drgl. ist durch vier Monate im Jahre beschäftigungslos,
durch acht Monate hindurch mit GO fl. Monatsgehalt angestellt, so zahlt
er Steuer, denn nach den §§ 149 fg. tritt folgende Berechnung ein: die
einzelnen Monatsbezüge sind zu besteuern, als wenn sie das ganze Jahr hindurch
andauerten. Die Besoldungssteuer für 720 fl. beträgt im Jahre 7 fl. 20 kr.,
folglich hätte unser Mann achtmal ein Zwölftel dieser Steuer d. i. zusammen
4 fl. 80 kr. zu entrichten. Aehnlich ergeht es allen, die wegen Erkrankung,
Stellenlosigkeit etc. nur einen Theil des Jahres hindurch verdienen, sie
werden besteuert während der Dauer ihres Erwerbes, als hätte derselbe ununter-
brochen angehalten. Nicht der wirkliche Verdienst eines Jahres ist Be-
steuerungsgrundlage, sondern die einzelnen Erwerbsquoten nach jenem
Maasse, als der Jahresbezug, nach ihnen calculiert, steuerbar wäre. Selbst-
verständlich kann sich dies nicht bloss in der Steuerpflicht eines das
Existenzminimum nicht erreichenden Betrages, sondern in der Anwendung
höherer Steuerpercente äussern. Ein Buchhalter beispielsweise, der nach
dreimonatlicher Beschäftigungslosigkeit eine Anstellung mit 200 fl. Monats-
gehalt erlangt, sieht seine Bezüge besteuert mit dem einen Jahresbezug
von 2400 fl. und nicht mit dem einen Bezug von 1800 fl. treffenden Steuer-
percente. Dasselbe gilt dann auch für die Einkommensteuer (§§ 261, 269).
Der Eingangssatz zum Besoldungssteuergesetze (§ 129), die Steuer-
freiheit des Existenzminimums (§ 191), die Behauptung, dass am alten
Steuerausmaasse für Besoldungen nichts geändert werde, scheinen mir daher
von fraglicher Kichtigkeit zu sein. Wer niemals, auch nicht ein einziges
Mal in seinem Leben, in einem Jahre 600 fl. verdient hat, kann in Zukunft
nach dem Entwürfe regelmässig eine directe Steuer zu entrichten haben.
Wir haben hier eine Einrichtung vor uns, die ihre Spitze insbesondere
gegen jene Personen kehrt, die sich in keiner gesicherten Anstellung befinden.
Erwerbszweige, die unter der Geissei häufiger Beschäftigungslosigkeit stehen,
werden dadurch in erster Linie betroffen. Ob die gedachten Umstände der
socialpolitischen Tendenz der Vorlage entsprechen, mag billig bezweifelt
werden: derselbe Gegenstand wird übrigens bei Besprechung der Einkommen-
steuer wieder auftauchen.
Das Hauptstück über die Rentensteuer gibt mir keinen Anlass zu
belangreichen Gegenbemerkungen. Die Niedrigkeit des Steuerfusses dürfte
eine leidige Notwendigkeit sein.
Die Eeform der directen Personalsteuem in Oesterreich. 405
VI.
Die Personaleinkommensteuep.
Wie wir aus Erfahrung wissen, ist es regelmässig die Personalein-
kommensteuer, bei welcher die schönen Forderungen der Steuerfreiheit des
Existenzminimums, der Berücksichtigung von Familienstand und persönlichen
Verhältnissen bei Bemessung der Steuer u. dergl. mehr auftauchen. Schade
ist nur, dass diese Grundsätze bloss bei einer Steuer gelten, welche finan-
ziell so sehr im Hintergrunde steht; der Ertrag der neuen Einkommensteuer
wird (Motive S. 38) mit 14'32 bis 21-48 Mill. Gulden veranschlagt, wäh-
rend gegenwärtig (nach dem Finanzgesetze pro 1892) betragen:
die directen Steuern 105*83 Mill. Gulden
« Zölle 40-55 „
y, Verzehrungssteuern .' 100*93 „ „
„ Abgabe, betr. den Handel mit geistigen
Getränken 1*14 „ „
der Reingewinn aus dem Salzmonopol . . 17*78 „ „
„ Reingewinn aus dem Tabakmonopol . 54*03 „ „
u. s. w., bei welchen Einnahmsquellen des Staates jene schönen Forderungen
leider nur sehr wenig Berücksichtigung finden, wo nicht gar geradezu das
Gegentheil von ihnen geschieht.
Der leidigen Nothwendigkeit Rechnung tragend muss man es freilich
schon mit Anerkennung, begrüsseu, wenn wenigstens bei einem geringen
Procentsatz der gesammten vom Volke erhobenen Steuerleistung den funda-
mentalen Sätzen über die Schonung der geminderten Leistungsfähigkeit
Rücksicht zutheil wird; immerhin dürfte zu verlangen sein, dass diese Rück-
sichtnahme nicht zu ängstlich abgesteckt und begrenzt, sondern wenigstens
auf diesem Splitter des Steuerwesens zur vollen Wahrheit werde.
Bei den Bestimmungen über die Besteuerungsgrundlage stellt der
Gesetzentwurf den richtigen und fruchtbaren Grundsatz auf, dass gleichsam
die Familie und nicht die Individuen die Einheit für die Besteuerung
bilden. § 193 sagt nämlich:
„Bei Ehegatten, welche im gemeinschaftlichen Haushalt leben, hat die
Besteuerung nach dem Gesammteinkommen, und zwar selbst dann zu
erfolgen, wenn dieselben ein gesondertes Einkommen beziehen. Sie schulden
die entfallende Personaleinkommensteuer zur ungetheilten Hand.
Besitzen die in der Versorgung des Familienhauptes stehenden Fami-
lienglieder ein eigenes Einkommen, so ist dasselbe, insoweit es dem Familien-
haupte zufliesst, dem Einkommen des letzteren zuzurechnen, und nur der
erübrigende Theil für die betreifenden Familienmitglieder, und zwar ohne
Rücksichtnahme auf den dem Familienhaupte zufliessenden Einkommenstheil,
besonders zu besteuern.''
Diese Bestimmungen sind unzweifelhaft ganz zutreffend: bei gemein-
schaftlichem Haushalt treten die Einzeleinkommen an Bedeutung^ zurück,
ausschlaggebend wird das Gesammteinkommen. Eine nothwendige Consequenz
406 Mataja.
dieser Auffassung scheint mir aber zu sein, dass auch ein solches Familien -
einkommen wesentlich verschieden von einem Einzeleinkommen behandelt
werde. Oder noch genauer ausgedrückt: eine consequente Berücksichtigung
des ümstandes wäre nöthig, ob von einem gegebenen Einkommen eine
Person oder mehrere Familiengiieder gemeinsam zu leben haben.
Die Stellung des Entwurfes zu dieser Frage geht aus folgenden Bestim-
mungen hervor:
a) Steuei-fi'ei sind jene Personen, deren gesammtes Einkommen, auf
ein Jahr berechnet, den Betrag von 600 Gulden nicht übersteigt. (§ 191.)
b) Stehen in der Versorgung eines Haushaltungsvorstandes, dessen
Einkommen 2000 Gulden nicht übersteigt, ausser seinem Ehegatten in Orten
mit nicht mehr als 10.000 Einwohnern mehr als 4, in Orten mit mehr als
10.000 Einwohnern mehr als 2 Familienglieder, so wird von dem Einkommen
des Haushaltungsvorstandes für jedes derartige Familienglied über die oben
bezeichnete Anzahl der Betrag von 25 Gulden in Abzug gebracht. Sollte
das hienach erübrigende Einkommen weniger als 600 Gulden betragen, so
entfällt die Einkommensteuerpflicht: in den übrigen Fällen hat wenigstens
die Ermässigung des Steuersatzes um eine Stufe (nach dem Tarif: § 207)
einzutreten. (§ 208.)
Die praktische Bedeutung dieser Bestimmungen kann nicht besser
illustriert werden, als es schon im Motivenbericht (S. 84) selbst geschieht:
sie äussert sich in der Weise, dass z. B. ein Familienvater mit acht Kindern
in Orten bis 10.000 Einwohnern mit 700 fl., in grösseren Orten „auch noch"
mit 750 fl. steuerfrei bleibt. Glücklicher Mann, der in einem Staate lebt,
dessen Steuerreformen , die Entlastung der schwächeren Elemente" anstreben!
Leider ist dieses Glück nicht ganz uneingeschränkt. Hätte nämlich unser
kinderreicher Mann ein Einkommen von der schwindelnden Höhe von 800 fl.,
so würde er in kleinen Orten eine Einkommensteuer von 4 fl. 80 kr., in
grösseren von 4 fl. zu entrichten haben; setzt sich jenes Einkommen etwa
in der Weise zusammen, dass der Mann im Dienstverhältnis 500 fl. und
die Frau und die acht Kinder zusammen 300 fl. verdienen, so würde er
freilich nach dem gegenwärtigen, nicht mit dem Stempel der Entlastung der
schwächeren Elemente versehenen Steuerrecht gar keine directe Steuer zu
entricliten haben.
Ich Avill nun nicht so weit gehen zu fordern, dass etwa das aus dem
Zusammenrechnen der Einnahmen von Mann und Frau, die in gemeinschaft-
lichem Haushalt leben, entstehende Gesammteinkommen, weil es für zwei
Personen dient, auch durch zwei dividiert und die Bemessung der Steuer
für jede Quote separat vorgenommen werde; noch weniger will ich die
Kinderanzahl einfach in den Divisor miteinbeziehen. Es Hesse sich freilich
auch dafür mancherlei anführen, namentlich in Beziehung auf die minder-
bemittelten Classen, und es wäre im Hinblick auf die bestehenden Auf-
wandsteuern und die überwälzte Gebäudesteuer immerhin noch zu unter-
suchen, was bei einer solchen Bestimmung wirkliche Begünstigung der
Familienväter und nicht bloss Ausgleichung anderweitiger steuerlicher Mehr-
Die Keform der directen Personalsteuern in Oesterreich. 407
belastuDg wäre. Jedenfalls stünde aber einem solchen Verlangen das prin-
cipielle Bedenken entgegen, dass die wirtschaftlich wertvolle Tbätigkeit der
Frau namentlich in einfacherer Lebensstellung keinen richtigen Ausdruck in
der Ziffer der von ihr auswärts erzielten Einnahmen zu finden pflegt, und
dass auch die Vereinigung verschiedener Einkommen zur Führung eines
gemeinsamen Haushaltes eine wesentliche Verstärkung ihrer Kraft bedeutet.
Man muss sich ferner bewusst sein, dass die derzeitigen Verhältnisse leider
nicht gestatten, eine wirklich sociale Steuerpolitik zu treiben.
Was man jedoch verlangen kann, scheint mir die Hintanhaltung einer
Zurücksetzung der Personen mit Familienstand im Vergleiche mit jenen
ohne einen solchen zu sein. Der Gesetzentwurf bewirkt aber das gerade
Gegentheil. Ein Einzelner mit 600 fl. ist steuerfrei; ein Mann, der 500 fl.
verdient und eine Frau und zwei Kinder besitzt, welche zusammen 150 IL
erwerben, ist mit 650 fl. steuerpflichtig, obzwar es doch äusserst fraglich
ist, dass seine wirtschaftliche Stellung günstiger sei. Befinden sich in einem
kleinen Orte zw^ei Männer, die je 700 fl. verdienen, und ist der eine unver-
ehelicht, der andere hingegen im Besitze einer fünfköpfigen Familie, die
etwa 100 fl. erwirbt, so wird letzterer nicht nur bloss höher, sondern sogar
progressivisch höher besteuert.
Mit Kücksicht also auf das in § 193 verfügte Zusammenrechnen
der Einnahmen der einzelnen Familienglieder zu einer Steuerheit und den
progressiven Charakter der Steuer scheint mir eine wesentliche Er-
weiterung der durch § 209 gewährten Erleichterungen nicht nur als ein
Gebot der Schonung geminderter Leistungsfähigkeit, sondern einfach als
ein Act der Gerechtigkeit. Selbst wenn man darauf verzichtet, bei den
höheren Einkommen, wo die Last aus der Versorgung von Familiengliedern
weniger empflndlich wird und § 193 wegen der weit grösseren Seltenheit
des Arbeitserwerbes der Frau, der weiblichen Kinder sowie der in Versor-
gung des Familienhauptes stehenden männlichen Descendenten vor allem
nur bei fundiertem, also besonders leistungsfähigem Einkommen der genannten
Personen in Anwendung kommen Avird, der Thatsache Kechnung zu tragen,
dass von dem einen Einkommen mehrere Personen zu leben haben, so wäre
darauf bei den unteren und mittleren Einkommensstufen doch keineswegs
zu verzichten. Alle diesbezüglich zu machenden ziff'ermässigen Vorschläge
haben natürlich etwas Arbiträres an sich. Immerhin möchte ich es noch
als eine mit Kücksicht auf das zu erreichende Ziel vorsichtige Formulierung
bezeichnen, wenn im Gesetze erklärt würde, dass conform dem § 193 des
Entwurfes dem der Einkommenbesteuerung zu unterziehenden Einkommen
eines Familienhauptes das etwaige Einkommen der Frau und der Familien-
glieder (soweit letzteres dem gemeinsamen Haushalt dient) hinzuzurechnen
wäre, dafür aber vom Einkommen eines Haushaltungsvorstandes — ohne
Unterschied, ob die Familienglieder etwas erwerben oder nicht — für jedes
in der Versorgung desselben stehende Familienglied ein Zehntel des Ein-
kommens — im Maximalbetrage jedoch von 150 fl. — in Abzug käme. Durch
die Beisetzung jener Maximalzift'er würde diese Abzugsbestimmung für die
408 Mataja.
grossen Einkommen ohnehin von selbst eine nur geringe Bedeutung erlangen;
ein Mann z. B. mit 5000 fl. Einkommen und einer Frau und vier Kindern,
würde dann eben statt 5000 fl. nur 4250 fl. zu versteuern, also statt 114 fl.
nur 101 fl. zu entrichten haben. Wenn man will, kann man äussersten
Falles die höheren Einkommensstufen, etwa von 3 — 4000 fl. an, von diesem
Beneficium ganz ausschliessen, obzwar ich auch hierin grosse Vorsicht für
empfehlenswert halte: die in § 208 gewählte Ziffer von 2000 fl. halte ich für
zu niedrig, da bei den heutigen Lebensverhältnissen auch bei noch höherem
Einkommen die Pflicht zur Versorgung von Familiengliedern sehr fühlbar ist. ')
Damit wäre auch ein Nachtheil vermieden, welcher der Bestimmung
eines fixen Abzuges von 25 fl. anklebt, wie dies § 208 des Entwurfes
nonuiert. Den verschiedenartigen Verhältnissen von Stadt und Land, von
höherem und niedrigerem Einkommen kann eine solche fixe Ziffer nicht
gerecht werden. Viel richtiger scheint mir daher — abgesehen von der
Höhe — die Herstellung einer bestimmten Proportion zum Einkommen selbst
zu sein: dort, wo die Lebensmittel theurer sind, pflegt auch der Lohn höher
zu sein, wo das Einkommen überhaupt grösser, ist es auch regelmässig der
Aufwand für Frau und Kind. Es setzt sich also die Erleichterung mit der
Last, für die sie gewährt wird, einigermaassen ins Gleichgewicht.
Eine Aenderung des § 208 im Sinne einer wesentlichen Erweiterung
der gebotenen Erleichterungen ist aber auch endlich desshalb nothwendig,
weil sonst eine Menge von Personen einkommensteuerpflichtig würden, die
es heute nicht sind und mit gutem Grunde nicht sind. Der Arbeiterstand
wird durch das neue Gesetz in mehrfacher Weise betroffen, es kam dies
schon oben .bei der Besoldungssteuer zur Sprache und gilt das dort Gesagte
auch für die Einkommensteuer, da diese in Beziehung auf das Arbeitsein-
kommen in der nämlichen Weise wie die darauf entfallende Besoldungs-
steuer veranlagt wird. In Betreff der Einkommensteuer tritt dann noch als
erschwerend hinzu die Addition der Einnahmen der in einem Haushalt
lebenden Familienglieder zu einem einheitlich zu besteuernden Einkommen.
Bei den Arbeiterfamilien, wo so häuflg mehrere der Familienglieder ver-
dienen, keines aber so viel, dass es für sich allein die steuerbare Grenze
von 630 fl. erreicht, ßillt der letzte Punkt besonders ins Gewicht. Man
sehe beispielsweise die in den Gewerbeinspectoren-Berichten für 1889 auf
S. 90 mitgetheilten Arbeiterhaushaltungs -Budgets: Alle diese Familien
würden in Zukunft einkommensteuerpflichtig (es handelt sich offenbar um
Arbeiter auf dem Lande), während sie voraussichtlich heute keine directe
Steuer zahlen. Die Einkommensteuer würde (da auch das Naturalquartier
^) Ich halte obige Forderungen für das Allerbescheidenste und würde dringend
wünschen, dass die gesetzgebende Gewalt sich noch zu einer Erweiterung derselben ver-
stünde. Adolf Wagner z. B. Tertritt eine wesentlich ausgiebigere Entlastung und
betont, dass gerade in den mittleren und höheren Mittelclassen der standesgemässe
Aufwand für Erziehung, Ausbildung der Kinder etc. fühlbar ist. Siehe neuestens seine
Besprechung der preussischen Steuerreform im Finanzarchiv, 1891, S. 253 fg. Vrgl. auch
zu dieser Frage E. v. Fürth, die Einkommensteuer in Oesterrdch (1892; S. 180, 201 fg.
Die Keform der directen Persoiialsteuern in Oesterreich. 409
in Anschlag zu bringen ist: § 135, Abs. 4, und § 203) etwa 4 fl. 40 kr.
bis 9 fl. 20 kr. betragen, was bei Einkommen von 650—1000 fl. für zum
Theil sechsköpfige Familien, bei welchen mehrere Personen verdienen, also
doch schon ein gewisses Alter erreicht und damit Bedürfnisse erlangt haben,
eine ganz erhebliche Belastung darstellt.
Die Sachlage wird noch verschärft durch § 268. In diesem heisst es,
dass rücksichtlich jener Bezüge, für welche die Besoldungssteuer durch die
zur Auszahlung verpflichteten Gassen oder Personen zu bemessen und ein-
zuheben ist, die Anordnungen des § 208 über die Erhöhung des steuerfreien
Einkommens über 600 Gulden mit Rücksicht auf die in der Versorgung
des Haushaltungsvorstandes stehenden Familienglieder keine Anwendung zu
finden haben.
Jene (für den Dienstgeber übrigens vielfach odiose) Pflicht zur Anzeige
und Einhebung ist nun gemäss § 142 sehr weit abgesteckt, sie erstreckt
sich auf jeden, der besoldungssteueipflichtige Bezüge (und zwar nicht bloss
stehende, s. o.) in einem für eine Person 600 Gulden im Jahre übersteigenden
Betrage auszuzahlen hat. (§§ 142, 143.)
Man schliesst also jene Wohlthat so ziemlich gerade dort aus, wo sie
am noth wendigsten ist.
Bemerkenswert ist übrigens, dass § 268 nach seinem Wortlaut nur
das eventuelle Ansteigen der steuerfreien Grenze aus dem Titel des Familien-
standes, nicht aber auch die Ermässigung der .Steuer durch Abrechnung der
25 Gulden vom Einkommen im Sinne der ersten Absätze des § 208 aus-
schliesst. Die auf S. 76 fg. des Motivenberichtes zur Begründung des
§ 208 angestellten Erwägungen — die Absicht, am Bestehenden möglichst
wenig zu ändern, Gleichbehandlung der Personaleinkommensteuer mit der
Besoldungssteuer behufs Vermeidung unnöthiger Weiterungen — sprechen
aber doch wohl ebenso für das eine wie für das andere. Mir scheint die
heutige Besteuerung der Besoldungsempfänger weder so vortreff'lich noch
so unantastbar, als dass nicht auch hier jene Modificationen vorgenommen
werden sollten, die bei allen übrigen Einkommensgattungen als zweckmässig
und billig gelten. Man sollte auch glauben, dass die Steuertechnik noch
schwierigere Probleme zu lösen hat, als die Anwendung jener allgemeinen
Bestimmungen auf die Bediensteten.
Das Facit des Ganzen stellt sich an folgendem Beispiel dar. Ein
verheirateter Arbeiter gehöre einem jener vielen Erwerbszweige an, die
unter zeitweiligem Arbeitsmangel zu leiden haben. Derselbe ist etwa
9 Monate im Jahre beschäftigt, drei Monate feiert er. Sein Lohn betrage
auf den Monat berechnet 60 Gulden: die Frau verdiene im Jahre 250 Gulden
als Fabriksarbeiterin, zwei Kinder, die vorhanden sind, nichts. Heute zahlt
er keine directe Steuer, nach dem Entwürfe hätte er zu entrichten:
Einkommensteuer für 790 fl 5 fl. 40 kr.
Besoldungssteur für 540 fl 5 „ 40 „
10 fl. 80 kr. ohne Communalzuschläge.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Soeialpolitik und Verwaltung. III. Heft. 27
410 Mataja.
Icli halte ein solches Eesultat für unmöglich, obzwar damit die Frage
des allgemeinen Wahlrechts für Oesterreich wesentlich der Lösung näher
gerückt wäre.
Selbstverständlich gelten viele der obigen Erwägungen nicht bloss für
die Handarbeiter, sondern auch für Commis und Angestellte aller Art mit
kleineren Bezügen; die Eegel des § 261, für alle Einkommensteuerpflichtigen
gegeben, kann daneben auch für andere Kreise zu Unbilligkeiten führen.
Der Arbeitgeber wiederum hat die Annehmlichkeit, bei sonstiger
eigenen Haftung die Steuer, je nachdem die Bezüge fix oder veränderlich
sind, ratenweise im Laufe des Jahres oder am Schlüsse bei der letzten Aus-
zahlung in Abzug zu bringen und nebstbei allerlei Schreibgeschäfte zu
besorgen (§ 142^ 144 u. a.). (Wie weit die nach § 157 zulässigen Erleich-
terungen gehen werden, ist natürlich vorläufig nicht zu beurtheilen.)
§ 209 (bei dem auch das neue preussische Einkommensteuergesetz,
§ 19, zu Gevatter gestanden ist) stellt die Gewährung von Steuer-
ermässigungen in Aussicht bei Fällen von die Leistungsfähigkeit des
Steuerpflichtigen wesentlich beeinträchtigenden wirtschaflichen Verhältnissen;
das Ausmaass der Begünstigung ist auf eine Ermässigung der Steuersätze
um höchstens drei Stufen begrenzt und kann diese selbst nicht concurrieren
mit einer gemäss §208 gewährten Erleichterung aus dem Titel der Anzahl
der zu versorgenden Familienglieder (Motive, S. 88). Die Anwendbarkeit
des § 209 erstreckt sich auf Einkommen bis 5000 fl. Ein Mann also
beispielsweise mit 3000 fl. Einkommen, der durch langwierige dauernde
Erkrankung von Familiengliedern , durch Brandunglück oder dergleichen
schwer heimgesucht ist, kann durch Aufrollen seiner persönlichen Verhält-
nisse vor der Steuercommission hoffen, statt 55 fl. Steuer nur 49, 44,
vielleicht gar nur 39 fl. zahlen zu müssen, also möglicherweise (aber nicht
sicher) bare 6, 11 oder gar 16 fl. zu ersparen. Hier gilt wohl der Satz,
dass, wer das Kleine nicht ehrt, auch des Grösseren nicht wert ist. Eichtiger
schiene es mir, bei Anwendung des § 209 streng zu sein, dann aber auch
die Steuer gänzlich oder zur Hälfte nachzusehen; gerade in der Grösse der
in Aussicht gestellten Vortheile liegt eine Garantie für die Gewissen-
haftigkeit bei Zuerkennung derselben. Vermuthlich wird man aber auch
hier daran erinnert werden, dass wir leider nicht in der Lage sind, energisch
sociale Steuei-politik zu treiben, und uns damit begnügen müssen, die
schöne und richtige Anschauung, die Steuerfähigkeit sei nicht lediglich
nach der Ziffer des Vermögens oder Einkommens, sondern auch nach
persönlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen zu bemessen, wenigstens
im Princip sanctioniert zu sehen.
Die sonstigen Bestimmungen über das Verfahren (Ort der Vor-
schreibung, Organe der Veranlagung etc.) tragen so sehr das Gepräge
besonnener Vorsicht und Verwertung der bisherigen Erfahrungen, dass ich
wahrlich nicht wollen kann viele Aenderungs vorschlage zu machen. Ich
Die Reform der directen Personalsteuern in Oesterreidi. 411
möchte nur darauf die Aufmerksamkeit lenken, dass die Bestimmungen
über die Berechnung des Einkommens (§ 196 fg.) sehr compliciert sind,
weshalb es sich empfehlen würde eine entsprechende Belehrung schon den
BekenntDisformularen selbst beizugeben. Diese Belehrung müsste sich
wesentlich unterscheiden von jenen, wie ich wenigstens sie bisher zumeist
vorgefunden habe, nämlich in denkbar undeutlicher Fassung mit Berufungen
auf das Keichsgesetzblatt, durchzogen voq technischen Ausdrücken u. dgl.
Unverstäiidlichkeiten mehr. Ich gestehe offen, dass mir schon das Formular
(auf S. 113) nicht ganz gefällt; der Ausdruck „Passivzinsen " z. B. ist
wohl demjenigen verständlich, den das Schicksal in eine Steueradministration
0. dgl. gestellt hat, nicht aber Jedermann.
Besondere Erwähnung verdient jedoch g 249. Nachdem nämlich in
§ 248 gesagt worden ist, dass die Schätzungscommission, wofern sie das
einbekannte Einkommen zu gering findet und nicht genaue Behelfe für dessen
Bestimmung vorliegen, sich vorzüglich aus äusseren Merkmalen ein ürtheil
über die Grösse des Einkommens zu bilden habe, wird in § 249 angeordnet,
dass hierbei insbesondere auf die Grösse des Aufwandes, speciell die Höhe
des Wohnungsaufwandes zu sehen sei; in der Regel sei das Einkommen
des Steuerpflichtigen mit nicht weniger als einem bestimmten Vielfachen
seines Wohnungsaufwandes einzuschätzen, ein Heruntergehen unter jenes
Vielfache sei in dem Einschätzungsbeschluss ausdrücklich zu motivieren.
Als Wohnungsaufwand gilt bei gemieteten Wohnungen der ausbedungene
Mietzins, bei Wohnungen im eigenen Hause der Nutzungswert derselben.
Diese Minimalsätze im Sinne des § 249 betragen :
Das steuerpflichtige Einkommen ist mindestens mit folgenden Viel-
fachen des W^ohnungsaufwandes anzunehmen :
I. In Wien.
Bei einem jährl. Wöhnungsaufwande bis 500 fl. mit dem Vierfachen.
,, ,, ,, von mehr als 500 fl. ,, 1000 ,, ,, Fünffachen.
„ 1000,, „ 2000 „ „ Sechsfachen.
„2000,, „ 5000,, „ Siebenfachen.
„ 5000 „ „ 10000 „ „ Achtfachen.
über 10000 „ „ Zehnfachen.
IL In Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern, sowie in Cur-
und Badeorten.
Bei einem jährl. Wöhnungsaufwande bis 500 fl. mit dem Fünffachen.
,, ,, ,, von mehr als 500 fl. ,, 1000 ,, „ Sechsfachen.
„ 1000 „ ., 2000 „ „ Siebenfachen.
„ 2000,, „ 5000 „ „ Achtfachen.
„ ,, „ über 5000 „ „ Zehnfachen.
III. In allen anderen Orten.
Bei einem jährl. Wöhnungsaufwande bis 500 fl. mit dem Sechsfachen.
,, ,, ,, von mehr als 500 fl. ,, 1000 „ „ Siebenfachen.
„ 1000,, „ 2000 „ „ Achtfachen.
„ „ „ über 2000 ,, ,, Zehnfachen.
27*
412 Mataja.
Die Wichtigkeit dieser Bestimmung ist evident, insbesondere für ein
Land wie Oesterreich, wo man sich darauf gefasst machen muss, dass die
Aufrichtigkeit der Bekenntnisse, zumal im Anfang, noch immer viel zu
wünschen übrig lassen wird. Es lässt sich ferner nicht in Abrede stellen,
dass unter den indirecten Kennzeichen des Einkommens der Wohnungs-
aufwand eine besondere Bedeutung besitzt, viel leichter ziffermässig fest-
zustellen ist als andere Ausgabszweige und daher unter allen Umständen —
auch dann, wenn im Gesetz nichts darüber gesagt wäre — sicherlich eine
gTOSse KoUe bei den Arbeiten der Einschätzungscommissionen spielen würde.
Mir scheint es nun weit besser, diese Kolle im Gesetz selbst, soweit dies nur
angeht, zu bestimmen, als die Festsetzung derselben einer uncontrolierbaren.
eventuell widerspruchsvollen Praxis zu überlassen. Die Opposition, die sich
bisher gerade gegen diesen Punkt der Vorlage mit Heftigkeit gewendet hat,
war, offen gesagt, eher dazu geeignet meine Sympathie für eine derartige
Bestimmung zu kräftigen als sie abzuschwächen, schien es mir doch, als sei
jene Gegnerschaft nicht bloss auf objective Gründe, sondern auch auf das
uneingestandene Gefühl zurückzuführen, dass es jetzt mit der Erfassung
des Einkommens ernst zu werden verpreche.
Empfiehlt dies Alles m. E. die in Rede stehende Bestimmung,
so spricht leider aber sehr viel gegen die Fassung, welche sie gefunden
hat. Dass eine Regel, wie aufgestellt, niemals auf alle Fälle mathematisch
genau passen kann, ist natürlich selbstverständlich, für die Zwecke der
Besteuerung wäre sie übrigens auch schon bei überwiegend annähernder
Richtigkeit höchst wertvoll. Und auf dieses Merkmal hin.' nicht in Be-
ziehung auf die Erfüllung idealer Ansprüche sei die Regel im folgenden
geprüft.
Die Tabelle trägt, wie der Motivenbericht S. 90 sagt, der Erfahrung
Rechnung, dass der Wohnungsaufwand eine desto grössere Quote des
Gesammteinkommens zu verschlingen pflegt, je kleiner das letztere und je
volkreicher der Wohnort ist.
Dies ist aber offenbar nicht richtig.
Vor Allem trifft schon das erste nicht zu, die Erfahrung lehrt nicht,
dass je kleiner das Einkommen, eine desto grössere Quote desselben durch
den Wohnungsaufwand verschlungen wird. Vor Allem gilt dies nicht für
die Vergleichung von einzellebenden Personen und solchen mit Familien-
stand, welche Kategorien jedoch die Regel in § 208 gar nicht unter-
scheidet. Aber selbst abgesehen von dieser Einwendung, gilt jene Annahme
nichts weniger als allgemein in der Wissenschaft. Auf den Aufwand eines
Familienhaushaltes bezogen, haben vielmehr Laspeyres, Hampke^) u. a.
gefunden, dass der procentuale Antheil der Wohnungsmiete an den
Gesammtauslagen einer Familie bis zu einer gewissen Mittelstufe des Auf-
wandes im wesentlichen gleich bleibt und erst bei einer gewissen Höhe des
0 Das Ausgabebudget der Privatwirtschaften S. 56, 83. Vgl. auch S. 68, 69 u.
ö. — Siehe auch Lexis in Schünbergs Handb., 3. Aufl., I. S. 712.
Die Eeform" der directen Personalsteuerii in Oesterreicli. 413
letzteren zu sinken beginnt. Einiges Material für diese Frage ist übrigens
in der nächsten Anmerkung zur Sprache gebracht.
Einschaltungsweise möchte ich freilich bemerken, dass die Discussion
über diesen Punkt recht schwierig ist. Wir besitzen überhaupt nicht über-
mässig viel befriedigende Arbeiten über die Gestaltung der Haushaltungs-
Budgets und was vorhanden ist, bezieht sich vorwiegend auf die arbeitenden
Classen, die aber hier nicht in erster Linie in Frage kommen. Bei der
grossen localen Verschiedenheit der Detailpreise und Wohnungsmietzinse
ist auch die Uebertragung der in einem Ort gesammelten Erfahrungen auf
andere Orte äusserst misslich, besonders in unserem Falle, wo es sich nicht
darum handelt allgemeine Tendenzen festzustellen, sondern darum, ob die
im Entwürfe angenommenen ziffermässigen Vielfachen einen praktischen
Wert besitzen oder nicht. Die Tendenz mag ja ganz zuverlässig aus den in
Paris, Berlin u. s. w. gemachten Erfahrungen hervorgehen, ob aber deshalb
auch die für Wien gewählten Ziffern (das Vierfache bei einem Wohnungs-
aufwand bis 500 fl., das Fünffache bei einem von 500 — 1000 fl. etc.)
richtig sind, ist eine andere Frage. Ich bedaure daher lebhaft, dass betreffs
Oesterreich so unendlich wenig Material vorliegt, was der Zurückgebliebenheit
der Erforschung unserer socialen Zustände im allgemeinen entspricht.
In jener oben wiedergegebenen Behauptung des Motivenberichtes liegt
aber m. E. noch ein drittes Uebersehen, welches vielleicht mit dem eben
bemerkten Umstände zusammenhängt, dass bisher fast ausschliesslich die
Ausgabebudgets von Angehörigen der minderbemittelten oder besser noch
gesagt der handarbeitenden Classen untersucht wurden. Der Wohnungs-
aufwand steht nämlich günstigen Falles in einer gewissen Eegelmässigkeit
zum Ausgabeetat, nicht aber zum Einkommen überhaupt. Dort wo sich
Aufwandswirtschaft und Einkommen ganz oder im wesentlichen decken,
kann daher ein Eückschluss vom Wohnungsaufwand auf das Einkommen
statthaft sein; in Kreisen, wo reichlich capitalisiert wird, ist dies jedoch
nicht der Fall. Wenn A überhaupt nur 5000 fl. im Jahre erwirbt, B aber
10.000 fl., davon jedoch 5000 fl. capitalisiert und den Best für seine
persönlichen Bedürfnisse ausgibt, so wird ihr Wohnungsaufwand sich gleich-
stellen oder, genauer gesagt, es ist kein Grund vorhanden, anzunehmen,
dass in der Auftheilung des Gesammtaufwandes von A und B auf Wohnung,
Kost etc. grössere Verschiedenheiten herrschen sollen, als es individuelle
Zufälligkeiten mit sich bringen und die sich auch ergeben würden, wenn
wir A mit einem Dritten verglichen, der auch 5000 fl. erwirbt und ausgibt.
Aber auch in Beziehung auf die allgemeine Richtigkeit des zweiten
Theiles der Behauptung im Motivenberichte, welche der Tabelle F zu
§ 249 zugrunde liegt, nämlich in Betreff' des Satzes, je volkreicher der
Wohnort, desto grösser der Antheil des Wohnungsaufwandes am Gesammt-
einkommen, lassen sich meiner Ansicht nach begründete Bedenken erheben.
Richtiger schiene mir die Formulierung, je höher die Mietzinse, desto
grösser die Quote des Wohnungsaufwandes, weil das Wohnungsbedürfnis
ein höchst wichtiges und nicht beliebig beschränkbares ist; die Wohnungs-
414 Mataja.
theuerung bewirkt also keine mit ihr parallel gehende Einschränkung des
Wohnungsconsums, wodurch die relative Höhe der Mietzinse ausgeglichen
würde. Dass aber die Höhe der Wohnungspreise parallel gehe mit der
Grösse der Einwohnerzahl eines Ortes, ist sicherlich nicht überall zutreffend.
Es kommen da wohl auch locale Verhältnisse aller Art, Besteuerungsfragen
(die bei uns so verschiedenen Zuschläge und Zinskreuzer), der Umstand in
Betracht, ob eine Stadt stationär, im Rückgang oder in raschem Aufblühen
begriffen ist. Die Grösse der Einwohnerzahl ist daher nur ein wichtiges
Moment, vielleicht das wichtigste Moment für die Höhe der Mietzinse,
aber doch nur eines, neben welchem noch andere Umstände von Ein-
fluss sind.
Dann ist aber auch zu beachten, dass selbst die Richtigkeit der Regel
im allgemeinen angenommen, die Bedenken noch nicht verstummen. Hier
in der Besteuerung handelt es sich ja nicht darum, allgemeine, im grossen
und ganzen richtige Constatierungen vorzunehmen, sondern die einzelnen
Personen richtig zu treffen, nicht darum individuelle Abweichungen zu ver-
wischen oder miteinander zu compensieren, sondern möglichst scharf zum
Ausdrucke zu bringen. Es lehrt nun eine selbst oberflächliche Beobachtung,
dass namentlich in den höheren Einkommensstufen der Wohnungsaufwand
denn doch sehr verschiedene Proportionen annimmt, je nach Laune, Ort
der Beschäftigung etc.; begreiflicherweise, in diesem Aufwand steckt häufig
nicht bloss ein nothwendiges Bedürfnis, sondern auch ein Luxusconsum,
woselbst sich alle Verschiedenheiten des Geschmackes geltend machen, wie
denn überhaupt bei Verwendung eines grösseren Einkommens auch mehr
Freiheit in der Bestimmung der Aufwandsrichtung herrscht.
Ich weiss wohl, dass § 249 nur eine Vorschrift gibt, die „in der
Regel" gelten soll, dass er nur Minimalsätze aufstellt, die, wenn sie als
niedrig gegriffen erscheinen, nur ausnahmsweise jemand über Gebür treffen
(der dann in Abweichung von der Regel zu behandeln wäre), aber doch
eine wenigstens etwas richtigere Besteuerung jener verbürgen könnten,
denen anders nicht beizukommen ist und die schon beim Bestehen jener
Regel weniger als angemessen, ohne diese Regel aber eben noch weniger
zahlen würden.
Ich glaube jedoch, ohne mich eines übertriebenen Pessimismus schuldig
zu machen, sagen zu können, dass eine solche Regel überaus häufig ziemlich
mechanisch angewendet werden wird. Jedenfalls begründet sie eine nur schwer
besiegbare Präsumtion. Die Aufgabe der Einschätzungscommissiouen ist
wahrlich keine leichte, sie wird in vielen Fällen eine so delicate sein, dass
man begierig nach dem durch das Gesetz selbst gebotenen Ausweg greifen wird.
Gegen wen soll sich ferner in erster Linie die Regel richten? Nicht gegen
solche, über deren Einkommen ausreichende ziffermässige Belege vorliegen,
wie bei den Beamten, nicht gegen jene, deren Verhältnisse überhaupt ein-
facher, klarer und daher auch leichter mit anderen Mitteln zu beurth eilen
sind, wie bei den Arbeitern, kleineren Geschäftsleuten etc. Die Regel soll
vor Allem gegen jene zugespitzt sein, die ein nicht leicht controlierbares
Die Reform der clirecten Personalsteuern in Oesterreich. 415
höheres Einkoramen beziehen. Nimmt man die Minimalsätze vergleichsweise
niedrig, so läuft man Gefahr, dass sie ihren eigentlichen Zweck verfehlen
und gerade das hohe, zur Capitalisierung führende, auch anderweitig nicht
leicht bestimmbare Einkommen nicht ausreichend treffen und nur Schärfe
gegen jene besitzen, deren Einkommen und Bedarf sich decken, bei denen,
also wirklich Mietaufwand und Einkommen in einem bestimmten Verhältnis
zu einander stehen. Bei unseren gegenwärtigen Verhältnissen ist aber letzteres
beim blossen Arbeitseinkommen die Regel, da von einem solchen gewöhnlich
nichts oder nur ein für die vorliegende Frage nicht sehr bedeutungsvoller
Bruchtheil gespart wird. Die Tabelle zu § 249, welche auf dem Principe
der Verhältnismässigkeit von WohnungsaufAvand und Einkommen beruht,
ruft demnach das Bedenken wach, dass sie zu einer stärkeren Belastuno-
des nicht fundierten Einkommens im Vergleiche mit dem fundierten oder
gemischten, wirklich zur Capitalisierung befähigenden Einkommen (des selb-
ständigen grösseren Unternehm. ers, des Rentners mit oder ohne Arbeitsein-
kommen daneben) führe.
Ich gelange demnach in dieser viel umstrittenen Frage zu folgenden
Conclusionen.
Die vielen und zum Theile durch keinerlei Formulierung zu besei-
tigenden Bedenken gegen die Regel des § 249 sind gleichwohl nicht imstande
mich zur Verwerfung derselben zu veranlassen. Ich halte es vielmehr für
höchst opportun und für einen glücklichen Griff bei Abfassung des Ent-
wurfes, eine Remedur gegen die Unterfatierung des Einkommens zu errichten.
Ich glaube aber auch, dass der Tabelle zu § 249 eine wesentlich andere
Gestalt gegeben werden müsse, damit sie ihren Zwecken entspreche und
nicht zu einer empfindlichen Mehrbelastung gerade der minder leistungs-
fähigen Steuerträger Anlass gebe.
Es fehlt mir nun das nöthige Material, um meinen Abänderungsvor-
schlägen einen bestimmten ziffermässigen Ausdruck zu verleihen. Die Re-
gierung, welche schon die Tabelle aufgestellt hat und hierbei offenbar im
Besitze reichhaltiger Daten war, da sie die Zahlen sicherlich nicht auf Grund
vager Veranschlagungen vom Schreibtisch aus gewählt hat, wäre natürlicli
in einer glücklicheren Lage, um eine neue Tabelle mit veränderten Tendenzen
und Zielpunkten zu entwerfen; da jedoch im Motivenberichte jede Mittheilung
über die Hilfsmittel der Berechnung neidisch unterdrückt wird, so bin ich
ausser Stande diese zu benützen. Die Aenderungen sollten nun meiner
Ansicht nach folgende Punkte umfassen:
a) Die Dreitheilung der Tabelle (Wien — Städte mit mehr als
10.000 Einwohnern und Cur- und Badeorte — andere Orte) sollte einer
sachgemässeren Aufstellung weichen.
Würde den obigen Anträgen und Bemänglungen in Betreff der Be-
soldungssteuer und der Besteuerung der zu einem Haushalt vereinten Per-
sonen Folge gegeben, so wäre bei der Einkommensteuer auf die hand-
arbeitenden Classen keine besondere Rücksicht zu nehmen, da ohnehin das
überwiegende Gros als steuerfrei erschiene und die Angelegenheit für sie
416 Mataja.
nur wenig Interesse hätte. ^) Es würde demnach bei Bildung der Ortsclassen
vor allem auf die Verhältnisse des Mittelstandes Bedacht zu nehmen sein,
theils, weil er der Zahl nach überwiegt, theils weil eine zu starke Belastung
bei ihm viel drückender empfanden wird als bei den wirklich wohlhabenden
Classen. Darnach wäre die Eintheilung zu treffen: Orte, wo die Mietzinse
der gewöhnlichen bürgerlichen Wohnungen als gleich gelten können, kämen
in eine Classe. Ob darnach das grosse Gemeindegebiet von Wien mit seinen
so verschiedenartigen Verhältnissen als ein Ganzes zu behandeln, ob die
jetzige zweite Classe nicht weiter zu zerlegen wäre etc. sind dann Fragen
der Durchführung.
b) Was die Bestimmung der „Vielfachen" anbelangt, so müssten
dieselben Aveit stärker ansteigen, als es in der Regierungstabelle der Fall
ist. Es muss eben nicht bloss dem Gedanken Rechnung getragen werden,
dass bei geringem Gesammtaufwand die Wohnungsausgabe eine bedeutende,
bei wachsendem Gesammtaufwand eine abnehmende Quote desselben dar-
stellt, sondern auch der Erwägung, dass je grösser das Einkommen, desto
grösser auch die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht bloss zur Deckung des
Aufwandes und somit auch des Wohnungsaufwandes, sondern auch zur
Capitalisierung bestimmt werde. Der Aufwand, ein verlässliches Kennzeichen
bei geringem Einkommen, versagt bei den oberen Stufen immer mehr.
1) Für die handarbeitenden Classen dürfte die Tabelle zu § 249 nur selten
vom praktischem Belang werden; denn regelmässig bleibt bei diesen der Wohnungsauf-
wand zurück hinter den in jener Tabelle angenommenen Quoten, zumeist sogar erheblich.
Man sehe beispielsweise die von den Gewerbeinspectoren mitgetheilten Haushaltungs-
budgets, Berichte 1887, S. 142, 1888, S. 21-8, 1890, S. 93, sowie auch die aus Kreisen
von Sachkundigen stammenden Schätzungen des Jahresbedarfes lediger und verheirateter
Arbeiter in der Publication über die Arbeits- und Lohnverhältnisse in den Fabriken und
Gewerben Niederösterreichs (1870) und dem statistischen Berichte über Industrie und
Gewerbe des Erzherzogthums Oesterreich unter der Enns (1889), beides herausgegeben
von der Wiener Handels- und Gewerbekammer. Auf Grund des Werkes von Cheysson
und Toque „Les budgets compares des cent monographies de familles" sei ferner er-
wähnt, dass unter 100 durch die Le Play'sche Schule erforschten Haushaltungsbudgets
aus verschiedenen Epochen und Gegenden nur 15 einen Mietaufwand von zehn und
mehr Procent der Gesammteinnahmen (allerdings im Le Play 'sehen Sinne) aufweisen;
das Maximum ist 18*9%, die nächste Ziffer 14*6%. — Zur Unterstützung des im Texte
Gesagten stelle ich noch aus Otto v. Leixners socialen • Briefen aus Berlin (1891)
folgende Vergleichung von drei ermittelten Budgets zusammen;
a,) Rentnerfamilie: Einnahmen 23.165 M.
Ausgaben 21.207 „
Miete 2.460 „
b; Beamtenfamilie: Einnahmen 5.450 „
Ausgaben ebenso
Miete 1.225 „
c) Arbeiterfamilie: Einnahmen 1.700 „
Ausgaben 1.612 „
Miete 259 „ .
bei a) ist die Wohnungsmiethe also 10'6'Vo der Einnahmen und ll'67o der Ausgaben,
bei b) 22-50/0, bei c) 15-27o der Einnahmen und 167o der Ausgaben.
Die Reform der directen Personalsteuern in Oesterreich, 417
Allerdings wird dann für jene Fälle, wo sich trotz der Höhe des
Einkommens dasselbe mit dem Aufwand deckt, die Gefahr einer üeber-
lastung hervorgerufen. Wo sind diese Fälle aber zu suchen? Am ehesten
wohl bei den höheren Angestellten und Beamten, welche trotz ansehnlicher
Bezüge von ihrem Einkommen mit Eücksicht auf Familienstand u. dgl.
nichts erübrigen, mit anderen Worten bei der hoch entlohnten Arbeit (die
minder entlohnte bleibt hier ja ausser Spiel). Nun gerade hier wird aber
die Schätzung auf Grund des Wohnungsaufwandes geringere Kolle spielen
und leicht durch zifferraässige Belege (§ 248) zu entkräften sein. Fraglicher
kann die Sache bei den nicht durch den Staat und öffentliche Anstalten
Angestellten mit hohen Bezügen werden; es wird aber deren nicht zu viele
geben. Uebrigens glaube ich, dass jene an sich nicht sehr ansehnliche
Gruppe, die sich so hoher Bezüge im Privatdienste erfreut, schon durch
die vergleichsweise Unsicherheit der Anstellung, durch den Wunsch, später
die Selbständigkeit zu erringen , durch Entfall vieler Repräsentations-
auslagen etc. in viel höherem Maasse zur Capitalisierung neigt und fähig
ist, daher die Fälle wirklicher ungerechtfertigter Benachtheiligung durch
den Einschätzungsmodus selten sein werden. Was bleibt dann noch übrig?
Grosse Unternehmer, Besitzer und Eentner. Gerade bei diesen Classen ist
aber die richtige Schätzung des Einkommens am schwierigsten und am
meisten von ihrem guten Willen abhängig, gerade bei diesen Classen ist
die Capitalisierung am verbreitetsten und ausgiebigsten, gerade hier darf
der Aufwand allein nicht als Kennzeichen des Einkommens gelten. Finden sie
sich übrigens tiberschätzt, so mögen sie immerhin versuchen, der Commission
ziffermässige Klarheit zu verschaffen. Geht dies nicht an, so ist auch dann
das Unglück nicht so gross ; das fundierte Einkommen wird auch dann
noch nicht, alles zusammengenommen, über Zurücksetzung zu klagen haben!
Für Wien würde sich darnach der Schätzungsschlüssel etwa wie folgt
stellen :
Wohnungsaufwand bis . . . . 500 fl. das Vierfache,
„ über 500 — 750 „ „ Fünffache,
„ 750—1000 „ „ Sechsfache,
„ 1000—1500 „ „ Siebenfache,
„ 1500—2000 „ „ Achtfache,
u. s. w.
(Die Verkleinerung der Abstände hat nebenbei bemerkt den Vortheil, den
von Mischler hevorgehobenen Mangel solcher Scalen zu verringern,
nämlich dass gewisse Einkommen darnach gar nicht zu treffen sind, z. B.
nach dem Regierungsentwurf die Einkommen von über 2000 — 2500 fl. in
Wien ; die Schätzung fällt zu hoch oder zu niedrig aus, weil kein Mietzins
denkbar ist, der nach der Scala jenem Einkommen entspräche.)
c) Jedenfalls wäre, um die Gleichheit der Belastung herzustellen, die
Bedeutung des Wohnaufwandes behufs Bestimmung des Einkommens bei
Personen mit Familie (§ 193) anders zu bemessen als bei einzellebenden
Personen, etwa in der Form, dass bei letzteren das Vielfache um eins
418 Mataja.
(z. B. statt des Yierfachen das Fünffache), in den höheren Stufen um zwei
vermehrt würde. Ich glaube, dass man in der That zumeist richtiger gehen
wird, wenn man getrost einen in Wien allein lebenden Mann, der 2000 fl.
für seine Wohnung ausgibt, nicht (mit der Eegierungstabelle) auf ein Ein-
kommen von 12.000 fl.. sondern mit Beruhigung auf 18 — 20.000 fl. schätzt.
Schlimmstenfalls würden die wegen Abganges von zu versorgenden Personen
steuerkräftigeren Elemente etwas stärker getroffen.
d) Der Begriff .Wohnungsaufwand" wäre dahin authentisch zu erläu-
tern, dass darunter nicht bloss der Mietzins der ständigen Jahreswohnung,
sondern auch von Sommerwohnungen u. dergl. (im In- und Auslande) zu
verstehen sei. Hingegen wäre der von etwaigen Aftermietern erzielte Miet-
zins entsprechend in Abzug zu bringen. Auch würde im Einkommensteuer-
Bekenntnis eine auf den Wohnungsaufwand bezügliche Erklärung ab-
zugeben sein.
Sollte die spätere Erfahrung lehren, dass auch mit diesen Hilfsmitteln
keine entsprechende Einkommensteuer zu erzielen sei, so wäre immerhin
dann noch die Frage in Erwägung zu ziehen, inwieweit das gewünschte
Eesultat durch eine beschränkte oder volle Oeffentlichkeit^) im Ein-
schätzungsverfahren erreicht werden könnte, für welche beachtenswerte
Gesichtspunkte sprechen.
vn.
Alle im Vorstehenden gegen die Vorlage gemachten Einwendungen
betreffen nicht die Principien der Keform, sondern nur Einzelheiten
derselben. Sie gipfeln zumeist in dem Bestreben, die für die Abfassung der
Vorlage selbst schon als maassgebend erklärten Tendenzen einer gerechteren
Steuervertheilung und milderen Behandlung der schwächeren Elemente voll-
ständiger und reiner zum Durchbruch zu bringen. Von allen Punkten, die
als abänderungsbedürftig bezeichnet wurden, möchte ich jene, welche die
Besteuerung des Familieneinkommens betreffen, als die weitaus wichtigsten
bezeichnen. Hier scheint mir eine eingreifende Modification nicht nur wün-
schenswert, sondern unbedingt geboten, selbst um den Preis, dass das
finanzielle Erträgnis der neuen Steuern belangreich gemindert und damit
die zu Nachlasszwecken verfügbare Summe entsprechend herabgesetzt würde.
Zum Gelingen der Reform gehört freilich noch mehr als ein vortreff-
lich abgefasstes Gesetz, es bedarf dazu auch noch der verständnisvollen
Mitwirkung der Bevölkerung und aller mit der Ausführung betrauten staat-
lichen Organe.
Der Gesetzentwurf thut wirklich alles Mögliche, um die Steuerträger
zu dem wünschenswerten Verhalten zu veranlassen. Artikel II der Vorlage,
welcher die Erwerb- und Einkommensteuergesetze mit allen hiezu erflossenen
Vollzugs- und Nachtragsbestimmungen für aufgehoben erklärt, wird, wenn
mit Gesetzeskraft ausgestattet, von den Betheiligten sicherlich wie die
Befreiung von einem schweren Alp begrüsst werden — mögen sie immerhin
') Vgl. Ad. Wagner. Finanzarchiv, 1891, IL S. 282 fg., Fürth S. 258 fg.
Die Eeform der directen Personalsteiierii in Oesterreich. 419
sich bei Zeiten daran erinnern, dass es wesentlich von ihnen selbst abhängt,
die Reform zu einer wirklich fruchtbringenden zu gestalten. Dieselbe ver-
langt von ihnen sicherlich manche Opfer und unter diesen nicht zu unter-
schätzen ist der erhebliche Kräfteaufwand in den verschiedenen Steuercom-
missionen, der auch dort, wo Taggelder in Aussicht stehen (§ 232), für die
Betroffenen kaum eine ausreichende Entlohnung mit sich bringen wird, mit
sich bringen soll. Die Berufung der richtigen Männer in die Commissionen
wird zweifellos, man darf sich das nicht verhehlen, eine schwierige Sache
sein, da das öffentliche Leben ohnehin schon viel Kräfte in Anspruch
nimmt und sich gerade unter den am besten qualificierten Personen viel-
fach schon eine gewisse Zurückhaltung gegen die Uebernahme derartiger
Stellen zeigt.
Ebenso müssen aber auch die Steuerbehörden die Grösse des Augen-
blicks erfassen. Auch hier ist eben manches zu bessern. Wenn ich mich
z. B. erinnere an die Form der Mittheilung der Beweggründe bei Ein-
kommensteuer-Bemessungen, wie ich dies manchmal in der Praxis gesehen
habe, an die nachträglichen und verspäteten Steuervorschreibnngen ^), an
die häufig bemerkten Schwierigkeiten für das rechtskundige Publicum er-
schöpfende Auskünfte zu erlangen etc., so glaube ich, dass eine gründliche
Steuerreform nicht allein sich auf das Gesetz beschränken darf, sondern
vielfach auch die Handhabung desselben ergreifen muss.-)
Die gegenwärtige Finanzverwaltung Oesterreichs sieht sich wahrlich
einem Aufgabenkreis gegenüber, der an Grösse und Bedeutung Nichts zu
wünschen übrig lässt. Einen hervorragenden Platz in demselben nimmt die
Eeform der Personalsteuern ein, sie ist eine ebenso dringliche, wie populäre
Maassnahme. Möge es daher gestattet sein, diese Zeilen mit dem Ausdruck
der Hoffnung und Erwartung schliessen zu dürfen, dass es diesesmal nicht
wieder bei einem Versuch bleibe, sondern Erfolg jenem grossen Aufwand
an Geist und Mühe zutheil werde, den es gekostet hat, eine Vorlage wie
die gegenwärtige fertig zu stellen.
') Ein Musterbeispiel: Eine Wiener Productivgenossenschaft (also ein Unternehmen
mit öffentlicher Rechnungslegung) erhielt während der ersten 5V4 Jahre ihres Be-
standes j5 Steuervorschreibungen; von diesen entfielen 10 Vorschreibungen auf eine
Frist von 6 Tagen des Monates November 1889 und davon wiederum sieben auf einen
einzigen Tag; von den 10 Yorschreibungen betrafen je zwei die Jahre 1884, 1886, 1887
und 1888. Plötzlich sah sich die Productivgenossenschaft, die bis dahin ihre Steuern
pünktlich bezahlt hatte, einer grossen Steaerschuld gegenüber, die sie in der kurzen
Zeit nicht zahlen konnte, so dass sie Execution über sich ergehen lassen mu'sste. („Die
Genossenschaft", 1891, Nr. 29).
2) So enthält der Entwurf wiederholt die Bestimmung, dass Berufungen keine
aufschiebende Wirkung bezüglich der Entrichtung der vorgeschriebenen Steuer und der
Maassregeln zur Einbringung derselben haben. Ganz recht! Aber als Ergänzung gehört
wohl dazu, dass die Berufungen nicht mit jener furchtbaren Langsamkeit erledigt werden,
die wir heute oft wahrnehmen.
( DIE GESETZGEBUNG ÜBER DEN
GLÄUBIGER-CONCURS VOM STANDPUNKTE DER
VOLKSWIRTSCHAFT.
VON
DR. HERMANN v. SCHULLERN-SCHRATTENHOFEN, y
PKIVATDOCENTEX AN DER UNIVEHSTTÄT WIEN
Einleitung.
Der Conciirs und seine volkswirtscliaftliclie Bedeutung.
V\ eiiii das Wort Concurs genannt wird, verstellt wohl Jedermann,
wenigstens der Hauptsache nach, das Gleiche unter demselben. Eine genaue
Formulierung des Begriffes aber, so dass sie definitiv für alle verschiedenen
Gesetzgebungen der europäischen Culturstaaten Anwendung fände, ohne
übermässig lang und unhandlich, oder allzu lückenhaft zu sein, ist nicht
so leicht zu finden, als auf den ersten Blick scheinen mag. Um zu ihr
zu gelangen, ist eine kurze rechtshistorische Abschweifung nicht zu ver-
meiden.
Jedermann weiss, dass es sich beim Concurse um das Zusammen-
treten der Gläubiger eines ihnen gemeinsamen Schuldners handelt, welches
bezweckt, unter Hilfeleistung und Aufsicht des Staates das active Vermögen
des Schuldners nach gewissen Grundsätzen den Gläubigern zur vollständigen
oder doch theilweisen Tilgung ihrer Forderungen zuzuweisen; Jedermann
sieht also zunächst im Concurse das Auftreten einer Mehrheit von Gläu-
bigern eiüem Schuldner gegenüber, dann aber einen das active Vermögen des
Schuldners betreffenden Theilungsact. Diese natürlich ganz lückenhafte
Auffassung passt so ziemlich auf alle bei den heutigen Culturnationen
Europas geltenden ßegelungen des fraglichen Verhältnisses; eine vorschnelle,
genauere, absolut gefasste Gestaltung aber würde uns in Gefahr bringen,
mit der Gesetzgebung eines oder des andern Staates in Widerspruch zu
gerathen.
Das römische Recht kennt ein eigentliches Concursverfahren im heu-
tigen Sinne nicht; wir finden die beiden Institute der Missio und der
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurse v. Standpunkte d. Volkwirtschaft. 421
Cessio, welche aber ebenso für einen einzigen Gläubiger, resp. ihm gegen-
über, als für und zu Gunsten einer Vielheit von Gläubigern anwendbar waren.
Jeder Gläubiger konnte für sich die Missio in omnia bona des Schuldners
erwirken, jedem Gläubiger, auch wenn nur ein einziger vorhanden war,
konnte der Schuldner Omnia bona codieren. Die einzige Garantie dafür,
dass alle Gläubiger an der Theilung des mittierten Vermögens Antheil
erhalten konnten, bestand ursprünglich in der amtlichen Verlautbarung der
ertheilten Missio und darin, dass der Verkauf der Vermögensstücke in
jedem Falle erst nach Ablauf einer bestimmten Frist erfolgen durfte. All-
mählich trat die Cessio der Missio gegenüber immer mehr in den Vorder-
grund und es wurde als nothwendig erkannt, dass der Schuldner zu einem
Offenbarungseide über den Stand seines Vermögens herangezogen werde ^).
Von einer Universalität des Concursverfahrens, insoweit man überhaupt bei
den Kömern von einem solchen sprechen kann, war wohl keine Eede, es
war weder die üniversitas creditorum noch die Universitas bonorum in
Activen und Passiven genügend sicher gestellt, im übrigen die Einfluss-
nahme des Staates auf den ganzen Vertheilungsprocess auf ein Minimum
beschränkt. Für den Eömer handelte es sich eigentlich nur darum, einen
speciellen Fall der Execution zu regeln. Die allmähliche Entwicklung jenes
Principes der Universalität bezeichnet die aufeinanderfolgenden Stadien
der späteren Kechtsbildung. Schon das Mittelalter kannte für den Fall der
Ertheilung der Missio eine gerichtliche Beschlagnahme des schuldnerischen
Vermögens; — allerdings hatte bei dem Vorherrschen des Cessionsver-
fahrens diese Neuerung nur geringe, thatsächliche Bedeutung. — Als dem
deutschen Rechtsbewusstsein die römischen Eechtsbegriffe und Eechtsein-
richtungen aufgepfropft wurden, gelangten auch in Deutschland die Missio
und hauptsächlich die Cessio, letztere vielfach unter der Voraussetzung
unverschuldeter Zahlungsunfähigkeit, zur Herrschaft, u. z. umsoleichter als
ja die deutschrechtlichen Einrichtungen, die Fronung und Beweldigung
ihnen nicht allzu fremdartig gegenüberstanden. Die von hier an beginnende
Entwickelung führt, wie schon betont, das Princip durch, dass alle Gläu-
biger der Vermögungstheilung beizuziehen sind und die ganze Habe des
Schuldners aufgetheilt zu werden hat; hiebei musste natürlich das Ein-
greifen des Eichters in immer weiterem Maasse geboten erscheinen. Damit
stehen wir vor der Betrachtung des heutigen Zustandes der G-esetzgebung,
welcher zwar im wesentlichen den Grundlagen nach einheitlich, in manchen
Punkten aber mehrgestaltig ist. Schon die gesetzlichen Voraussetzungen
für das Eintreten des Concurszustandes sind in verschiedenen Staaten und
unter verschiedenen Umständen verschieden. -^Während nämlich die über-
') S. Endemann: Das deutsche Concursverfahren, Leipzig, Fues, 1889. S. 5 ff.
Renouard: Traite des faillites et banqueroutes, III. edition, Paris 1857, insbes. I. S.
18 f. Borsari: Codice di Conimercio del regno d'ltalia, Torino-Napoli 1869, IL Bd.
755 ff', greift nicht auf das römische Recht zurück.
Die gesetzHchen Bestimmungen, welche die Person des Schuldners als solche be-
treffen, lassen wir ausseracht.
^22 Scliullern.
wiegende Anzahl der Gesetzgebungen die Zalilungsunfäliigkeit als Grundlage
des Concurses betrachtet, fordern andere wenigstens unter Umständen
geradezu die Ueberschuldung ^). Während das österreichische Gesetz inner-
halb des Concursverfahrens zwischen Kaufleuten und Privatpersonen unter-
scheidet und einzelne Bestimmungen nur für die erstere der beiden Schuldner-
kategorien anwendet, kennt Frankreich ^) und Italien ^) nur den kauf-
männischen Concurs und behandeln Deutschland^) und England^) den
Concurs als einen allen Berufsständen gemeinsamen, juristischen Zustand.
In Betreff des ersthervorgeb ebenen Unterscheidungsgrundes sei bemerkt,
dass Frankreich ^), Italien '), Oesterreich ^) und wohl auch England ^) im
Anschlüsse an die ältere und abweichend von der gemeinrechtlichen,
deutschen Doctrin die Zahlungsunfähigkeit als Voraussetzung des Concurses
gelten lassen, während die Concursordnung für das deutsche Eeich ^^), die
Zahlungsunfähigkeit des Gemeinschuldners als regelmässigen Grund der
Concurseröffnung bezeichnet, in Ausnahmsfällen (bei Actiengesellschaften)
aber die Ueberschuldung voraussetzt..
Die hervorgehobenen Verschiedenheiten erschweren zunächst die Auf-
stellung einer einheitlichen Definition, sie bringen aber noch die weitere
Folge mit sich, dass die uns gebotenen statistischen Daten (wir fassen nur
jene Oesterreichs, Deutschlands, Italiens, Englands und Frankreichs ins
Auge) zum mindesten schwer vergleichbar werden. Versuchen wir nun
zunächst, so gui es geht, eine Definition des Concurses zu gewinnen. Der
Concurs ist auf Seiten des Schuldners ein Zustand, auf Seiten der Gläubiger
eine Handlung; aber nicht die Gläubiger allein handeln, sondern es treten der
Staat und seine Functionäre an ihre Seite, gewissermaassen als Führer an ihre
Spitze, um jeneHandlung einerseits den gesetzlichen Bestimmungen anzupassen,
andererseits aber — dieses Ziel sollte schärfer als bisher ins Auge gefasst
werden — gerade hiedurch auch das öffentliche Interesse zu wahren; wir
*) S. Leon Say: Nouveau dictionnaire d'econ. polit. faillite, 985. (Michel.)
2) Art. 437 des Gesetzes vom 23. Mai 1838; wenn ein Nichtkaufmann zahlungs-
unfähig ist (hier muss die Zahlungsunfähigkeit mit der Ueberschuldung verbunden sein),
befindet er sich im Zustande der deconfiture, er untersteht den für den Concurs geltenden
Gesetzen nicht, s. Renouard. a. o. 0. S. 236 u. Say a. o. 0.
3) Codice di Commercio del regno d'ltalia. sanctioniert am 31. Oct. 1882, Art. 683.
4) Concursordnung §. 2 I.
^) The bankruptcy Act 1883 Art. IV. Actiengesellschaften unterstehen diesem
Gesetze nicht. Auch in den Vereinigten Staaten von Nordamerika werden Berufsunter-
schiede nicht berücksichtigt.
ö) Art. 437.
") Art. 633.
-} Concursordnung, s. hingegen übrigens: Das allgemeine Strafgesetz §. 4Sp^
^1 „InabiKty to pay his debts;" s. hiezu Gertscher: Das englische Concursrecht
nach dem Gesetze vom 25. August 1883, Wien 1885, Manz.
"^) Endemann, a. o. 0. S. 30 ff. Es ist zwischen Zahlungsunfähigkeit und Zahlungs-
stockung zu unterscheiden; der Begriff der Zahlungsunfähigkeit setzt eine längere Dauer
des letztbezeichneten Zustandes voraus; in der Regel wird die Zahlungsunfähigkeit mit
der Ueberschuldung zusammenfallen, nothwendig ist dies aber nicht.
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 423
werden somit am besten thun, wenn wir uns darauf beschränken, den Con-
ciirs als jenes Theilungßverfahren des schuldnerj sehen Gesammtactivvermögens
zu bezeichnen, welches im Interesse der sämmtlichen Gläubiger unter
Leitung des Staates dann einem jeden oder einem bestimmt qualificierten
Schuldner gegenüber statthat, wenn derselbe sich in einer bestimmten un-
günstigen Vermögenslage befindet und wenn diese seine Lage in einer be-
stimmten Weise zur Kenntnis des Gerichtes gelangt ist. Schon aus dem
Gesagten ergibt sich, dass der Concurs zunächst ein juristisches Problem
ist; hiedurch erklärt es sich, dass er bisher wesentlich nach rein juristischen
Gesichtspunkten geregelt worden ist.
Wenn nun der Staat sich in die privaten Angelegenheiten seiner
Bürger einmischt, sie in gewissem Sinne bevormundet, wenn er Eechtssätze
aufstellt, so thut er das allerdings in erster Reihe zum Schutze des einen
Bürgers. Damit aber soll er in zweiter Reihe auch seine übrigen Unter-
thanen schützen, u. z. der Absicht nach immer in der Weise, dass dadurch
unter möglichst geringer Beschränkung in der Selbstbestimmung des Ein-
zelnen das Wohl der Gesammtheit am besten gewahrt werde. Der Staat
muss sich bewusst sein, dass das letzte Ziel seiner Thätigkeit das Wohl
der Gesammtheit zu sein habe und er markiert, streng genommen, schon
durch die Thatsache seines Auftretens dieses Bewusstsein. Dieses Wohl
setzt nun aber in unserem Falle nicht so sehr die Wahrung der formalen
Gerechtigkeit, also das unmittelbare Ziel der Rechtsordnung, sondern mehr
noch möglichst ausgedehnten Schutz vor Schädigung des Volks- und des
Einzelvermögens, möglichste Verhinderung drohender Gütervernichtung und
Entwertung voraus; diese Veraussetzung ist eine wesentlich volkswirtschaft-
liche; da sie aber vom Staate nur durch juristische Mittel geboten werden
kann, muss derselbe in seiner auf eben diese bezüglichen Gesetzgebung
auch auf die nationalökonomische Seite Rücksicht nehmen. Je schärfer die
bisher vielfach wenig beachtet gebliebenen Bande zwischen Recht und Volks-
wirtschaft aufgedeckt werden, umso klarer wird die Richtigkeit dieses Satzes
erkennbar sein.
Uns obliegt es nun, im folgenden den wirtschaftlichen Gedanken^
insoweit er im Concursverfahren zur Geltung zu kommen hat, darzustellen,
zu zergliedern imd seine Wirkungen auf die Gestaltung des Concursrechtes
für die wichtigsten Punkte desselben hervorzuheben.
Wenn der Concurs schon an sich nichts anderes ist, als die Folge
eines Zustandes, der Schaden und Verlust für den Gläubiger in aller Regel
in sich schliesst, ^) — ist ja doch der Schuldner zahlungsunfähig und in
den meisten Fällen auch überschuldet — so liegt überdies im Concurs-
verfahren für sich selbst in seinem heutigen Zustande eine ganze Reihe von
Schadensgefahren. Die Thatsache, dass das Concursverfahren in der Regel
^) Mataja erklärt, das Recht des Concurses bezwecke eine planmässige Schaden-
vertheilung bei Insolvenzfällen: „Das Recht des Schadenersatzes vom Standpunkte der
Nationalökonomie," Leipzig, Dunkor u. Humblot, 1S88. S. 70.
424 SchuUern.
nur dann eingeleitet wird, wenn ein schädigender Zustand vorliegt, bringt
es zunächst mit sich, dass durch den Vertheilungsprocess dieser Schaden
den Gläubigern juristisch richtig zugetheilt zu werden hat, so dass keiner
zuviel und keiner zu wenig Verlust erleide; jene Thatsache fordert nun
aber vom Standpunkte der Volkswirtschaft auch, dass die Vertheilung den
Schaden für das Gesammtwohl soviel wie möglich dadurch tilge, dass sie
ihn sowohl dem Einzelnen als der Gesammtheit möglichst wenig fühlbar
werden lasse, üeberdies ergibt sich aber daraus, dass das Verfahren nicht
durch seine eigene IJn Vollkommenheit die Gefahr erhöhen darf.
Capitel I.
Die in den bestehenden Concursgesetzen gelegenen Scli«adensursachen.
§. 1. Umgrenzung des Themas.
Es obliegt uns im folgenden nicht, das Concursproblem in seinem
ganzen Umfange zu betrachten; wir haben nicht die Wirkungen des Concurs-
zustandes zu erforschen, insbesondere nicht den Concurs gegen ein Ver-
mögen als Quelle der Concurse gegen weitere Vermögen zu untersuchen,
also nicht die Frage aufzuwerfen, wieso ein Concurs der Ausgangspunkt
oder doch das Signal einer Krise, insbesondere einer Handelskrise sein
kann; auch haben wir den Zusammenhang der Concursgesetzgebung mit
dem Creditphänomene nicht als selbständigen Gegenstand unserer Unter-
suchung anzusehen, sondern wir haben das Concursverfahren als solches in
seiner Isoliertheit, und zwar als Ursache wirtschaftlichen Schadens in dem
engern Kreise seiner unmittelbaren Wirksamkeit ins Auge zu fassen, in
zweiter Keihe aber die volkswirtschaftlich richtige Gestaltung des Ver-
fahrens, insoweit uns dies möglich werden wird, zu erkunden. Würde uns
die Erschöpfung des Problems in allen seinen Erscheinungen und
Wirkungen Anlass bieten, an der Erklärung des gewaltigen Spiels und
Widerspiels der wirtschaftlichen Kräfte in ihrer vollen Compliciertheit
nach Maassgabe unserer geringen Fähigkeiten mitzuarbeiten, so bietet
uns das Problem in seiner verengten Fassung demnach Gelegenheit,
indem wir die zunächst aus dem Concursverfahren hervortretende Schadens-
gefahr, die bei jedem Concurse infolge der bestehenden Gesetzgebung
zutage treten muss, biossiegen, vielleicht den einen oder andern
Anhaltspunkt zu finden, mit Hilfe dessen eine Abschwächung jener Gefahr
ermöglicht würde.
Unser Problem betrifft also zunächst die Frage, welche diese un-
mittelbar wirkenden Schadensmotoren — wenn dieser Ausdruck gestattet
ist — und zwar den drei in Frage kommenden Subjecten oder Subjects-
gruppen, Schuldner, Gläubiger, Volkswirtschaft, gegenüber seien. i)
') Bei unseren Untersuchungen ziehen wir die Gesetzgebungen Oesterreichs, des
Deutschen Reichs, Italiens, Englands und Frankreichs in Betracht.
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Coneurs v. Standpunkte d, Volkswirtschaft, 425
§. 2. Die in den der Vertheilung der Masse vorausgehenden
Stadien des Concurses auftretenden Scliadensursachen.
Audi hier werden wir wieder von zufälligen Schadensursachen absehen
und uns darauf beschränken, die den bestehenden Yerfahrensarten ihrer
eigenthümlichen Xatur gemäss innewohnenden, wichtigsten Momente zu
beleuchten.
Als erhebliche Thatsachen sind in dieser Richtung insbesondere dreierlei
namhaft zu machen. Erstens fordern alle Gesetzgebungen die Realisierung
des Concursvermögens, das heisst die Ersetzung der Coneursgüter durch
ihren Preis, so dass aus diesem letzteren die Quotenzutheilung an die
Gläubiger zu erfolgen hat; zweitens erfordert jedes Concursverfahren mehr
oder weniger lange Zeit und drittens verursacht jedes mehr oder weniger
grosse Kosten, welche eine positive Verringerung der zu vertheilenden
Masse von oft sehr bedeutendem Ausmaasse darstellen.
A. — Da die erst bezeichnete Thatsache eine so ziemlich allgemein
giltige ist, dürfte es überflüssig sein, den Fall näher ins Auge zu fassen,
in welchem dieses Moment wegbliebe, in welchem also die Coneursgüter
direct an die Gläubiger übergehen würden. Es liegt auf der Hand, dass
auch in diesem Falle namhafte privat- und volkswirtschaftliche Schäden
fast unvermeidlich wären, da ja ein und dasselbe Gut für verschiedene
Personen sehr verschiedenen Wert besitzt und es daher durchaus nicht
sicher ist, dass das von A auf B übergehende Gut bei B eine dem Wert-
verluste bei A entsprechende Schadensausgleichung erzeugen würde. Aus
dem gesammten Yermögensstande des Gläubigers und des Schuldners Hesse
sich an der Hand des Mengerschen Grenznutzwertgesetzes das Wert-
minus auf Seiten des Gläubigers, und hieraus der positive Wertverlust auf
Seiten der Volkswirtschaft, die positive Verringerung in der Bedürfnis-
Befriedigungssumme beziffern.^) Die Möglichkeit privatwirtschaftlicher Nach-
theile auf Seiten des Gläubigers braucht nicht erst nachgewiesen zu werden.
Die ausserordentlichen Schwierigkeiten, welche sich überdies einer
solchen Vertheilungsart des Concursvermögens entgegenstellen, mögen den
Wert der Realisierung desselben dargethan haben; im ersteren Falle würde
dem Schuldner ein Gut genommen und dem Gläubiger zur Deckung
seiner Geldforderung — um eine solche handelt es sich ja gewöhnlich —
gegeben; im andern Falle erhält er ein seiner Forderung homogenes Object,
nämlich eben wieder Geld. Der Vergleich im juristischen Sinne zwischen
Forderung und Antheil am Concursvermögen, daher die „gerechte" Ver-
^) Hat das von A auf B übertragene Gut für A den Wert 10, für B den Wert 6,
so resultiert aus der Uebertragung eine Verringerung im Stande der Bedürfnisbefriedigung
gleich 4; hierin aber liegt ein volkswirtschaftlicher Schaden. — Vielfach würde es vor-
kommen, dass die Vermögensobjecte des Schuldners für den Gläubiger ganz oder fast
wertlos sind und doch würde er sie auf Abschlag seiner Forderung nehmen müssen, weil
kein anderer Gläubiger da ist, der sie höher veranschlüge. Dass übrigens in aller Regel
die Coneursgüter für den Käufer weniger Wert haben, als für den Schuldner, dürfte
klar sein.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. III. Heft. 28
426
Schullern.
theilung desselben unter alle Gläubiger war dadurch erleichtert, die Höhe
des Schadens bei Gläubiger und Schuldner kam weniger in Betracht; man
untersuchte nicht, ob dieselbe durch die Eealisierung beeinflusst werde.
Wir constatieren nun zunächst nochmals, dass die Umwandlung des
Concursvermögens in Geld und die Vertheilung des Gelderlöses unter die
Gläubiger herrschender Grundsatz ist.^) Wir haben eben gesehen, welche
Kechtfertigung hiefür gefunden werden kann, ja wieso derartige Bestim-
mungen als fast unvermeidlich zu betrachten sind.^)
a) In dem Vermögensbestände des Schuldners finden sich nun Gegen-
stände, welche für ihn vorwiegend Gebrauchs- und solche die vorwiegend
Tauschwert haben; unter den erstem gibt es wieder solche, welche nur
für ihn in dem gegebenen Ausmaasse Gebrauchswert besitzen; hier handelt
es sich insbesondere um Objecte, denen der Schuldner einen besondern
Affectionswert beilegt; alle diese Güter — es gilt uns zunächst nur den
leitenden Gesichtspunkt aufzustellen — w^erden nun gezwungen, gerade
sowie jene, deren Tauschwert für den Schuldner vorwiegend war, nur ihren
Tauschwert hervorzukehren und nur mit diesem in der Volkswirtschaft zur
Geltung zu gelangen. Sehen wir uns die Folgen dieses Vorganges näher
an. Nehmen wir an, ein Concursant besitze Möbel, welche sich trefflich für
ein alterthümliches Gemach in seinem Hause eignen, während sie nicht
leicht in einer andern Wohnung platzfinden können; diese Möbel haben
für den Concursanten grossen Affectionswert, weil sie ihm von seinen Vor-
eltern her zugekommen sind, sie seien aber nicht der herrschenden, auch
nicht der alterthümelnden Geschmacksrichtung gemäss und überdies schad-
haft. Diese Möbel werden nun executiv versteigert; während sie ihr ur-
sprünglicher Besitzer höher schätzte, als die schönste, moderne Einrichtung,
wandern sie nun an einen Trödler, der einen winzigen Betrag dafür zahlt
und sie dann stückweise an wenig bemittelte Personen weiterveräussert.
Betrachten wir diesen Thatbestand vom volkswirtschaftlichen Standpunkte
aus. Gegenstände von hohem, durch besondere Vorliebe gesteigerten Ge-
brauchswert (für den Schuldner) verlieren diesen plötzlich und sie treten
zunächst nur noch mit einem unvergleichlich kleineren Tauschwerte in die
Wertrechnung der Volkswirtschaft. Hatten die Möbel für den Schuldner
den Gebrauchswert 10, so wird vielleicht ein Tauschwert gleich 2 realisiert;
die Gläubiger erhalten 2 und der Schuldner verliert 10; der Ersteher der
Möbel bleibt für das juristische Factum des Concurses ausser Betracht, für
die Volkswirtschaft aber muss auch auf ihn Rücksicht genommen werden,
damit man erkenne, ob nicht bei ihm der alte Gebrauchswert wieder auf-
'; OesteiT. C. 0.: §. 145, 146. — K. 0. für das Deutsche Reich: §. 107. S. Ende-
mann S. 485, 569. Lois du 28. mai 1838 Art. 470, 486, 572. — Godice di Commercio.
Art. 793. — Bankruptcy Act 1883 LVI. 1. etc.
2) Ausnahmen hievon werden von der Gesetzgebung in Fällen zugelassen, in welchen
einzelne Verraögensstücke gar nicht oder doch bis zu einem bestimmten Zeitpunkte und
unter den gegebenen Verhältnissen nicht Absatz gefunden haben und voraussichtlich
ihn auch nicht finden werden; s. z. B. Endemann S. 576 f.
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 427
lebe und so der Wertverlust wieder ausgeglichen werde. Naturgemäss wird
auf dieser Seite eine kleine Wertanschwellung durch das neuerliche Hervor-
treten des Gebrauchswertes beobachtet werden können, da ja der Käufer,
wenn er anders rein wirtschaftlich handelt, durch den Kauf einen Vortheil
erzielen muss; es wird bei ihm vielleicht ein Gebrauchswert gleich 3 zutage
treten; der volle Wert gleich 10 kann aber schon deswegen nicht zur Geltung
kommen, weil ja zum mindesten das erkaufte Gut für ihn in fast allen Fällen
keinen Affectionswert besitzt. Affectionswerte als solche werden also ohne-
weiters vernichtet, im allgemeinen aber wird, auch abgesehen hievon, sich
die Wage zu Ungunsten des Yerkaufsobjectes stellen; so z. B. wird in
unserem Falle der Ersteher der Möbel nicht immer über ein ebenso ge-
eignetes Locale für dieselben verfügen; ja er wird sie vielleicht überhaupt
nicht deswegen, weil er gerade ein besonderes Bedürfnis darnach hätte,
sondern etwa nur deswegen, weil sie auffallend billig zu haben sind, kaufen.
Es tritt also ein Wertverlust ein, der Gesammtwohlstand und damit die
Volkswirtschaft wird also dadurch, dass Gegenstände von vorwiegendem
Gebrauchswerte (für den Schuldner) plötzlich in Tauschwertobjecte um-
gewandelt werden, in aller Kegel Schaden leiden; in jedem Falle aber wird der
Gewinn des Gläubigers dem Verluste des Concursanten gegenüber ein umso
kleinerer sein, je grösser der Gebrauchs- und je geringer der Tauschwert ist.
Dies gilt auch in Fällen, in welchen ein Affectionswert gar nicht in
Frage kommt. Ein Schuldner besitze einen nicht mehr neuen Winterrock,
der ihm aber gerade so gut dient, als wenn er vollständig neu wäre: der-
selbe werde nicht aus der Concursmasse ausgeschieden und er komme
daher zur Versteigerung; welcher Tauschwert kann da realisiert werden; in
welchem Verhältnisse stehen der Vortheil der Gläubiger und der Nachtheil
des Schuldners?
Bei Gütern, deren Tauschwert schon auf Seite des Schuldners hervor-
trat, ist die Sache allerdings wesentlich anders; zum mindesten ist die
Verlustchance keine so grosse; hierüber werden wir dann zu sprechen
haben, wenn wir die ferneren Wirkungen des Realisierungsprocesses von
Concursvermögen kurz ins Auge fassen werden. (7. Schadensursache.)
Aus dem Gesagten ergibt sich also als unsere These:
1. Durch die Realisierung des Concursvermögens werden vorhandene
Affectionswerte (dieses Wort im engern Sinne genommen, in jenem Betrage
also, der auf Rechnung der besondern Vorliebe zu setzen ist) vernichtet;^)
Gütern mit bisher überwiegendem Gebrauchswerte ihr geringerer Tausch-
wert aufgedrängt, ohne dass dem daraus entstehenden Wertverluste durch
den beim Ersteher der Güter auftretenden Gebrauchswert erschöpfend ent-
gegengetreten werden würde. Wir können uns auch so ausdrücken, dass
durch die Realisierung solcher Vermögensobjecte höherwertiges Privatgut
mindei*wertig gemacht wird, so zwar, dass es auch in einem spätem Stadium
nicht mehr zum alten Werte emporschnellen kann.
1) S. hierüber auch Mataja a. o. 0. S. 150—152, 178.
28"
428 Sclmllern
b) Eine zweite höchst bedeutende Schädigungsursache bringt die
gewöhnliche Art und Weise der Eealisierung des Concursvermögens mit
sich; man opfert hiebei der Schnelligkeit und Bequemlichkeit des Vor-
ganges oft sehr unbedachtsam eine sehr bedeutende Quote des Vermögens-
wertes. Schon das in mancher Gesetzgebung geltende Princip der succes-
siven Vertheilung^) bringt die NothAvendigkeit mit sich, das Vermögen als
Ganzes aufzulösen. Ist nun ein Vermögen jemals ein Ganzes; bringt seine
Zerstückelung wirklich Schaden mit sichP.^Das Vermögen eines Mannes,
der sich nur von wirtschaftlichen Grundsätzen leiten lässt, kann uijter Um-
ständen als ein geschlossenes, einheitliches Ganze ohneweiters betraclitet
werden; jedes Vermögensstück hat seinen bestimmten Platz, seine bestimmte
Aufgabe zugewiesen, jedes hat für den Besitzer, je nach seiner momentan
bestimmten Stellung in der Gütermasse einen ganz bestimmten subjectiven
Gebrauchs- oder Tauschwert. Je weiter nun das einzelne Vermögensobject
von diesem homo oeconomicus absteht — Niemand wird bei seinen
Handlungen nur wirtschaftliche Motive gelten lassen — umso lockerer ist
dieser Zusammenhang der einzelnen Vermögensstücke.
Da der homo oeconomicus nicht nur jedes Stück überhaupt an eine
bestimmte Stelle verwiesen und ihm eine bestimmte Aufgabe gegeben hat
sondern er dies auch nach der mit Kücksicht auf seine persönlichen und
Vermögens Verhältnisse wirtschaftlichsten Weise that, ist es klar, dass durch
die Zerstückelung des Concursvermögens vorerst wenigstens die einzelnen
Güter eine relativ beste Situation, damit den relativ höchsten Wert ver-
lieren; ob sie durch eine anderweitige Eintheilung auf Seiten ihres Er-
stehers wieder auf die Stufe, von der sie gesunken, emporsteigen werden,
bleibt mindestens zweifelhaft; dem Gläubiger gegenüber aber, für den ja
nur ihr Geldpreis in Frage kommt, ist wohl unter allen Umständen ein
Wertabschlag eingetreten, da die Güter isoliert und aus ihrer bisherigen
complementären Verwendung herausgerissen, veräussert worden sind.
Abgesehen aber hievon, also von einem Gesichtspunkte, der nur unter
Umständen eingenommen werden kann, finden wir einen andern Fall dann
vor, wenn innerhalb der Gütermasse sich eine Quantität einzelner Güter
findet, die in einem zweckmässigen Zusammenhange stehen und in diesem
Zusammenhange einem bestimmten, productiven Zwecke dienen sollen.^)
/ Im Vermögen des Schuldners finde sich z. B. eine Fabrik, die vollständig
wirtschaftlich eingerichtet istS ein Bauernhof mit seiner Ausdehnung an-
gepasstem fundus instructus. eine Tischlerwerkstätte mit allem Geräthe.
Die einzelnen Gegenstände dieser Vermögensmassen stehen hier in einem
naturgemässen, complementären Zusammenhange ;( ihr Wert ist die Folge
1) K. 0. §. 187. — Cod. di Comm. Art. 809; s. hiezu auch Art. 799, welcher vom
Verkaufe einzelner Güter in Masse handelt. C. 0. §. 145 u. s. w. S. hingegen das alte
römische Kecht, welches ursprünglich den Verkauf der Güter des Schuldners als Ganzes
als Princip anerkannte, s. Renouard S. 19.
-) Patten: „Die Bedeutung der Lehre vom Grenznutzen, " Jahrbücher für National-
ökonomie und Statistik III. f. II. B. 4. H. S. 507.
Gesetzgebung über d. Gläubiger- Concurs v, Standpunkte d. Volkswirtschaft. 429
ihrer procluctiven Wirksamkeit in dieser complementäreii Vereinigung.
(S. Menger. BöliTn-Bawerk.)'^^ Die Summe der Einzelnwerte dieser Gegen-
stände, wenn sie aus ihrer 'bisherigen Verbindung gebracht werden, wird in
einem solchen Falle wohl nicht die Höhe des früheren Gresammtwertes er-
reichenfder Mehrwert, der ihnen allen aus der Complemeutarität zuströmte,
ist vernichtet; viele besitzen überhaupt keine Bedeutung für den directen
Consum (z. B. Maschinen) um productiven Zwecken dienen zu können,
müssen sie erst wieder complementäre Güter aufsuchen: werden sie solche
finden, werden sie so genau zu ihnen passen, wie zu jenen, von welchen
sie getrennt worden sind, werden nicht vielfache Umgestaltungen, Ver-
kleinerungen, Vergrösserungen nothwendig sein? wird nicht oft und oft ein
früher complementär sehr wirksames Gut wegen seiner specifischen Be-
schaffenheit, weil es z. B. für ein ganz bestimmtes Locale hergestellt worden
war, nun gar nicht mehr brauchbar erscheinen, manche Maschine z. B.
als altes Eisen und Brennholz verwendet werden müssen? In einem solchen
Falle wird ein einem bestimmten Zwecke zugewiesenes Vermögen als
solches vernichtet und seine einzelnen Stücke müssen geringere wirtschaft-
liche Functionen als bisher erfüllen. Wir kommen hiemit zu unserer
zweiten These:
2. Durch die Zerstückung der Concursmasse gehen je nach Umständen
in grösserem oder geringerem Umfange die aus der Complementarität der
Güter entsprungenen Wertzuschläge derselben verloren, diejenigen Mehr-
werte nämlich, welche die Güter über ihren isolierten Wert hinaus durch
den productiven Zusammenhang gewonnen haben. Hierin liegt ein positiver
Verlust für die Privatwirtschaft des Gläubigers. Auch in diesem Falle ist
eine Wertausgleichung für die Volkswirtschaft auf Seite des Erstehers
nicht zu erwarten: auch diese leidet also schwer unter dieser Art der Ver-
mögensübertragung. A (der Schuldner) verliert mehr, als B (der Gläubiger),
ja auch als C (der Ersteher) erhält; dieses ganze Mehr ist einfach ver-
nichtet.
.' Diese Sr.hädigungsursache ist in beschränktem Umfange auch von der
Gesetzgebung gewürdiget worden, indem z. B. das österreichische Gesetz
verfügt, es dürfe der fundus instr actus nur in Verbindung mit der Kealität
versteigert und die Kealität als solche, müsse wenigstens unter bestimmten
Umständen als Ganzes betrachtet werden; an dieser Stelle gelangte also,
gleichsam vom privatwirtschaftlichen Interesse eingeführt, auch das volks-
wirtschaftliche Interesse zu einer gewissen Geltung. ^) Dass die bisherigen
^) Gerade das Grenznutzengesetz, mehr als wohl jede andere Werttheorie, würde
geeignet sein die Bedeutung derartiger, gesetzlicher Bestimmungen nachzuweisen, weil es
die Bedeutung des productiven Zusammenhanges voll zutage treten lässt (s. Böhm-
Bawerk); leider liegt der Nachweis für das Gesagte nicht im Rahmen unserer Aufgabe;
nichtsdestoweniger sei es ims gestattet, zu bemerken, dass das Gesetz des Grenznutzens
gerade für das Gebiet der angewandten Nationalökonomie unserer Anschauung naoh
höchst wertvolle Anregungen bieten wird und dass manche Bedürfnisse der Volkswirschaft,
des Gemeinwohles erst von ihm aus ihre wissenschaftlich begründete Befriedigung finden
werden.
43Q Schullern.
gesetzlichen Bestimmungen dem bestehenden Bedürfnisse nicht vollständig
gerecht werden; dass sie insbesondere nicht alle productiven Güterverbände,
insoweit ihr Fortbestand sich nach genauer Erwägung aller Umstände der
Zerstörung, Auflösung gegenüber als w^ünschenswert erweist, also nicht alle
volkswirtschaftlich richtig gestalteten Verbände dieser Art berücksichtigen,
folgt wohl aus dem Umstände, dass „Gerechtigkeit" der Yertheilung und
daneben die möglichst rasche Tilgung der Schulden als die wichtigsten,
juristischen Zwecke des Concursverfahrens aufgefasst und zu wenig beachtet
wird, dass trotzdem und oft geradezu hieraus dem Gläubiger selbst Nach-
theile erwachsen, und dass die Volkswirtschaft tief geschädiget werden
kann; auch die damit in Zusammenhang stehende Schädigung des Schuldners
wurde nicht in Betracht gezogen, so sehr es auf der Hand liegt, dass ihr
kein entsprechender Vortheil des Gläubigers gegenübersteht. Es wurde ja
überhaupt von vornherein an den wissenschaftlich -nationalökonomischen
Gesichtspunkt, speciell an das Wertgesetz kaum gedacht, die Schadensgefahr
also von allem Anfange an nicht genügend erkannt. Zahlreiche, weitere
Momente könnten als Erklärung gelten, wir wollen aber nicht weiter darauf
eingehen und uns mit der Bemerkung begnügen, dass wir in den oben an-
gedeuteten Bestimmungen, z. B. des österreichischen Gesetzes, nur Symptome
dafür zu erkennen ' haben, dass allmählich in die früher von rein juristi-
schen Gesichtspunkten beherrschte Gesetzgebung volkswirtschaftliche Ge-
danken sickern, um so allmählich neben dem Princip der Gerechtigkeit auch
das des allgemeinen, wirtschaftlichen Wohles zur Geltung zu bringen.
Bas zu unserer zweiten These Gesagte soll noch an einigen Beispielen
als richtig nachgewiesen werden.
Nehmen wir den Fall, A habe ein ihm gehörendes Wohnhaus in
eine Spinnfabrik umgewandelt, er habe Maschinen in den erforderlichen
Grössen herstellen lassen, sich mit jener Quantität Rohstoff, die sich als
angemessen erwies, versorgt, in der Nähe der Fabrik habe er Wohnungen
für die Fabriksarbeiter errichtet, er habe einen Brunnen angelegt, welcher
die für die Fabrik und deren Bedienstete erforderliche Wassermenge zu
liefern geeignet w^äre ; auch Zufahrtsstrassen habe er gebaut, kurz alles in
der angemessensten und wirtschaftlichsten Weise eingerichtet. Dadurch dass
er einem Freunde Wechselbürgschaft geleistet, oder aus einem andern
Grunde komme er in Concurs; in seiner Vermögenmasse befindet sich die
genannte Fabrik und alles was berufen war, ihren Zwecken zu dienen; in
den Händen des Concursanten bildete diese Gütergesammtheit gewisser-
maassen ein einheitliches Gut, sie war einem bestimmten Zweck gewidmet
und sollte eine einheitliche Einkommensquelle werden. Jetzt handelt es
sich um die Verwandlung dieser Gütermasse in Geld; nehmen wir an, der
Versuch, sie als Ganzes loszuschlagen, gelinge nicht sofort, weil gerade
Niemand aus der Umgegend über die zum Ankauf erforderlichen Mittel
verfüge, oder weil Niemand den Unternehmermuth des Schuldners besitze,
oder aus irgend welchem andern Grunde. Man wird zur Zerstückelung
schreiten und z. B. zunächst die Arbeiterwohnungen abtrennen; man wird
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 431
vielleicht genöthigt sein, diese nm einen verschwindend kleinen Preis ab-
zugeben, weil ihr ursprünglicher Zweck ferne gerückt ist oder überhaupt
nicht mehr besteht und sie für andere Dienste minder geeignet sind; infolge
der Abtrennung der Arbeiterwohnungen hat aber auch die Fabrik als solche
an Wert verloren; wenn sie auch sammt ihrem Maschinenbestande an eine
Person verkauft werden kann, bietet sie doch nicht mehr die frühere Be-
quemlichkeit, nicht mehr die frühere Gewinnchance, — kann ja z. B. der
Arbeitslohn deswegen erhöht werden müssen, weil sich der Arbeiter selbst
eine kostspieligere Wohnung beschaffen muss (Standard of life); es wird
vielleicht sogar nothwendig werden, den Betrieb einzuschränken; nun ist
das Gebäude zu gross, die Maschinen zu zahlreich, der Bestand an Koh-
stoff zu massenhaft, der Brunnen gibt zu viel Wasser, die Zufahrtsstrassen
sind zu breit; all dies erwägt der Kauflustige und bietet daher nur soviel
und höchstens soviel, als er für ein entsprechend kleineres Gebäude mit
entsprechend kleinern Zuthaten auch bieten würde. Bei weiterer Zerstückelung
wird sich diese Wertverringerung mehr oder weniger bei allen einzelnen Ver-
mögenstheilen zeigen.
Wir verlassen dieses Beispiel, ohne es vollständig ausgenützt
zu haben und suchen ein anders geartetes. Bei einer Villa befinde
sich ein prächtiger Garten , der Besitzer der • Villa verwende diesen
und die Villa nur zu Genusszwecken; er gerathe in Concurs; aus irgend
einem Grunde werde der Garten von der Villa .abgestückt- und dieser
Vorgang von der Behörde zugelassen; während Villa und Garten zusammen
dem Bedürfnisse eines reichen Mannes trefflich genügt, also einen grossen
Gebrauchswert besessen haben, muss jetzt die Villa vielleicht als gering-
wertiges, nur für Sommerparteien geeignetes Miethaus, der Garten etwa als
Wiese veranschlagt werden, als solcher lässt er ein verhältnismässig unbedeu-
tendes Erträgnis erwarten, sein prächtiger Baumbestand wird wohl gar als
Bau- oder Brennholz geschätzt; als solcher ist er aber von minimalem
Werte, denn die alten, herrlichen Stämme sind hohl und fast unbrauchbar;
die Summe der Preise der nun getrennten Güter wird wegen der Abtrennung
dem Gebrauchswerte nicht mehr entsprechen, welchen der frühere Besitzer
dem ganzen Gutscomplexe beigelegt hatte und welchen er vielleicht als
Ganzes auch bei einer dritten Person wiedererlangen könnte, wenn es zu-
lässig wäre, auf einen Käufer des Ganzen zu warten. Es Messen sich zahl-
reiche, noch weit näher liegende Beispiele finden, um den oben ausge-
sprochenen Gedanken zu erläutern; ja wenn man gewisse Fälle heranziehen
wollte, welche das praktische Leben bietet, käme man vielleicht in die
Lage, von volkswirtschaftlichen Sottisen zu reden, von Fällen, in welchen
die Zerstückelung in keiner Weise nothwendig, ja ganz und gar unver-
nünftig war; wir wollen aber bei diesem Gegenstande nicht länger stehen
bleiben, weil wir hoffen, ohnehin vollständig klar zu sein und wollen zur
Besprechung anderer Schädigungsursachen übergehen. Xur das eine sei be-
merkt, dass der in der obigen Weise begründete Schaden wesentlich ein
volkswirtschaftlicher ist, weil er eine Wertaustilgung für die Gesammtheit
432
Schiillern.
in sich birgt und nicht nur für den Gläubiger; es ist nicht nur der Preis
der Summe der Güter ein geringerer, als es der der Gütergesammtheit bei
entsprechendem Vorgehen hätte sein können, sondern es haben die Güter
geradezu an Productivkraft oder die Productivkraft überhaupt verloren, oder
es ist ihre directe Fähigkeit, Bedürfnisse zu befriedigen, gesunken, sie sind
als Genussgüter entwertet worden; ja es kann eine Verquickung beider
bisher von uns aufgeführter Schadensursachen in Frage kommen.
c) Beiden Ursachen, insbesondere aber der ersten nahe verwandt ist
eine dritte, die wir des geringeren theoretischen Interesses wegen nur in
aller Kürze namhaft machen wollen. Manche Gegenstände kommen bei
Kealisierung des Coneursvermögens. da ja dieselbe möglichst schnell durch-
geführt werden soll. (s. z. B. §. 145 österr. C. 0.). zu einer Zeit und, unter
Verhältnissen auf den Markt, welche zu ihrer Verschleuderung führen
müssen, z. B. ein Winterrock im Sommer, ein Eisvorrath im Winter,
eine Kealität in ungünstiger Jahreszeit oder gleichzeitig mit mehreren
anderen.
Es ergibt sich also als dritte These:
3. Durch den Zeitpunkt der Realisierung von Concursvorräthen und
die Verhältnisse unter denen sie stattfindet, ist die Gefahr einer Ver-
ringerung der zur Vertheilung gelangenden Preissumme des Schuldner-
vermögens geboten.
Diese Schädigungsursache hat zunächst vorwiegend privatwirtschaft-
liche Bedeutung, W^ichtigkeit nämlich für den Vermögensstand der Gläubiger
und wohl auch des Schuldners: für die Volkswirtschaft ist die Möglichkeit
nicht ausgeschlossen, dass das fragliche Gut, also z. B. der Winterrock,
der Eisvorrath im nächsten Winter, respective Sommer neuerdings einen
Wert erlange, wie er ihn seinerzeit in den gleichen Jahreszeiten dem Ver-
mögensstande des Schuldners gegenüber besessen hat. Trotzdem ist auch
dieser Punkt für die Volkswirtschaft nicht gleichgiltig: wir kommen hierauf
an anderer Stelle noch zurück. Auch diese Thatsache haben die Gesetzgebungen
nicht immer unbeachtet gelassen; allerdings handelt es sich bei den be-
züglichen Maassnqhmen nicht nur um die Beseitigung der Gefahr, dass
eine Schädigung Avegen ungünstigen Zeitpunktes der Veräusserung eintrete,
sondern überhaupt darum, der Verschleuderung von Concursgütern vorzu-
beugen. Das französische Gesetz (Art. 573) gibt das Recht, den Wieder-
verkauf eines bereits verkauften liegenden Gutes innerhalb 15 Tagen nacli
erfolgtem Verkaufe zu beantragen unter Uebernahme der Garantie seitens
des Antragstellers, dass der zu erzielende Preis den früher erzielten
mindestens um ein Zehntel übersteigen werde (surenchere). Das öster-
reichische Gesetz hat in der Executionsnovelle vom 10. Juni 1887, Z. 74
R.-G.-Bl., eine ganz ähnliche Bestimmung auch in Betreff liegender Güter
getroffen.
B. — a) Eine viert^These, welche wir nachweisen wollen, lässt sich dahin
zusammenfassen, dass das Concursveimögen während der Concursverhandlung
ganz oder zum Theile brach liegen, weder als Genussgut verwendet werden
Gesetzgebung über d. Gläiibiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 433
noch productiv thätig sein wird. In der Eegel findet eine Versiegelung ^)
der sclmldnerischen Güter für eine bestimmte Zeit, häufig eine Deponierung-)
einzelner bei dem Depositenamte statt; eine Fabrik wird gewöhnlich während
der ganzen Zeit stillestehen, ein Handelsgeschäft vielleicht nur um einen
Ausverkauf des Warenlagers zu ermöglichen, fortgeführt werdeii>^)
All dieses Euhenlassen productiver Güter ist vielfach und der Haupt-
sache nacli auf wirkliches oder auch nur vermeintliches, privatwirtschaft-
liches Interesse der Gläubiger zurückzuführen, w^elches gerade in diesem
Punkte vielfach mit dem Interesse der Volkswirtschaft in Widerspruch
steht. Wenn die von uns oben näher geschilderte, durchaus wirtschaftlich
eingerichtete Fabrik stille steht, wenn also die Arbeiter brodlos sind, das
in den Gebäuden, Maschinen u. s. w. investierte Capital unthätig liegt, die
bisherige Versorgung der Gegend mit den Fabriksproducten aufhört, so
liegt zweifellos ein schwerwiegender Nachtlieil für die Volkswirtschaft vor,
unter Umständen sogar unabhängig davon, ob die Fabrik im Falle ihres
Betriebes Eeinertrag in dem gegebenen Zeitpunkte abgeworfen hätte oder
nicht. Die Gläubiger dagegen sahen bei der von ihnen getroffenen Ent-
scheidung nur darauf, ob Reingewinn zu erwarten sei oder nicht, oder sie
hatten auch andere Motive als Eichtschnur genommen, welche noch weniger
mit den Interessen der Volkswirtschaft übereinstimmten.
Wenn nun auch, wie eben angedeutet, z. B. im deutschen Concurs-
recht mit Eücksicht auf den Aveiten Spielraum, welchen dasselbe dem
Masseverwalter einräumt, und im österreichischen Concursverfalu'en der Be-
stimmung des §. 139 zufolge das vollständige Brachliegen nicht als aus-
nahmsloses Vorkommnis betrachtet werden muss, so hat doch die Gesetz-
gebung, allerdings weniger des allgemeinen Wohles wegen, als im privaten
Interesse der Gläubiger vielfach noch ein weiteres, freilich nur sehr th eil-
weise wirkendes Mittel gegen die daraus erwachsenden üblen Folgen ge-
funden. Fast alle Gesetze bestimmen nämlich, dass die Vertheilung des
Concursvermögens nicht erst nach seiner vollständigen Eealisierung auf
einmal, sondern in geeigneten Zeitpunkten wiederholt und successive zu
erfolgen habe.-^) Mit Eücksicht auf die häufig sehr lange Dauer des Concurs-
^) C. 0. §. 112. 1. (die Versiegelung ist facultativ), s. hiezu die Bestimmung der
deutschen Concursordnung, dass im Concursverfahren die seit der Concurserüifnung lau-
fenden Zinsen nicht zur Geltung gebracht werden können; Codice di Commercio, Art 733;
Loi V. 28. V. 1838 Art. 455.
•^) Oesterr. C. 0. §. 87 al. 3, 139; deutsche K. 0. §. 118; Cod. di Commercio,
Art. 742, 753; — Loi 28. V. 1838, Art. 489,
3) Deutsche K. 0. §. 118 I. Cod. di Comm. 794; ßankraptcy Act 1883 LVII. 1.
österr. C. 0. §. 142 H.
■*) Die das Concursvermögen ursprünglich bildenden Güter sind, so weit realisierbar,
schon durch ihren Verkauf der Brache entzogen worden, an ihre Stelle trat ihr Preis in
Geld; dieser aber ist entweder geradezu bei Gericht deponiert oder er ist um des Dar-
leihenszinses willen angelegt; eine wesentlich andere, fruchtbringende Anlegung des
Geldes ist in diesem Stadium kaum denkbar; ob erstere aber in der Regel insbesondere
volkswirtschaftlich die beste ist, wollen wir dahingestellt sein lassen. S. d. K. 0. §. 137
Cod. di Commercio: Art. 809, Bankruptcy Act 1883 LVIII; österr. Concursordnung §. 168,
434 Schullern.
Verfahrens kommt derartigen Bestimmungen eine nicht zu unters hätzende
Wichtigkeit zu. Das für die Concursgüter als deren Preis erzielte brach-
liegende Geld wird der Circulation wiedergegeben, während bisher frucht-
bringend angelegtes Geld nun wieder freier, privater Verfügung überwiesen
wird, so dass es möglicherweise weit directer auf den volkswirtschaftlichen
Process wirken, sich als volkswirtschaftlich wertvoll darstellen kann. Der
Yermögenstand der Gläubiger wird allmählich ergänzt: der Grad ihrer Be-
dürfnisbefriedigung also potentiell gehoben; all dies ist privat- und Volks-
wirts cliaftlich wenigstens in aller Eegel vortheilhaft.
Anhangsweise wollen wir schon an dieser Stelle noch mit wenigen
Worten auf den Fall der Sequestration liegender Concursgüter zu sprechen
kommen. Dieselbe bezweckt zu verhindern, dass sie während des Concurs-
verfahrens todt liegen oder doch wegen mangelnder Beaufsichtigung nur
stark verminderten Ertrag abwerfen; (in der Kegel übrigens soll damit nur
dem Massaverwalter eine Erleichterung seiner Pflichten gewährt werden).
Dieser Fall ist z. B. in der österreichischen Concursordnung §§. 82 und 83
vorgesehen.^) Vom wirtschaftlichen Standpunkte aus dürfte gegen dieses
Institut als solches und als oft unvermeidliches Auskunftsmittel nichts ein-
zuwenden sein, es ist aber doch an dieser Stelleu zu betonen, dass die Auf-
stellung solcher besonderer Verwalter für liegende Güter den Concurs
erheblich vertheuert und dass ein wirklicher Vortheil für die Concursmasse
wohl nur dann erzielt wird, wenn der Sequester ein ebenso gewissenhafter
als fähiger Mann ist. Um nicht später wieder auf diesen Punkt eingehend
zurückkommen zu müssen, sei es gestattet, hier die Frage aufzuwerfen, ob
es nicht caeteris paribus vorth eilhafter wäre, dem Gemeinschuldner, natür-
lich nur dann, wenn er an seiner Zahlungsunfähigkeit (üeberschuldung)
keine Schuld trägt und wenn er tüchtig ist, unter strenger Controle des
Massaverwalters T respective des Gerichtes die Geschäftsführung auf den ihm
wohlbekannten und von ihm eiprobten Grundstücken zu überlassen, als eine
dritte Person heranzuziehen, der oft die Ortskenntnis fehlt und die nur ihr
eigenes Interesse verfolgt. Doch genug hievon. — S. hiezu Bankruptcy
Act. LXIV.
b) Neben diese Thesen haben wir zunächst noch eine fünfte zu stellen,
welche zwar mit der vierten in engem Zusammenhange steht, aber doch
abgesondert behandelt werden muss, weil sie nicht so sehr am Gute, als
vielmehr im Vermögensstande des Gläubigers zur Geltung kommt. Diese
fünfte These geht dahin, dass die Dauer der Concursverhandlung und die
damit verbundene Verzögerung in der Befriedigung des Gläubigers vielfach
eine Störung in der Ordnung seiner Bedürfnisbefriedigung hervorruft und
weil sie ihm die Verfügung über ihm zustehende Geldmittel vorenthält, ihn
in productiver Thätigkeit mehr oder weniger behindert und ihn der Gefahr
eines hierum cessans aussetzt; aus diesem Grunde wäre es erwägenswert
ob und inwieweit auf das letztere bei Festsetzung der Vertheilungsquoten
1) Bankruptcy Act 1883 LH.
Gesetzgebung über cl. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 435
ZU achten sei: dabei wäre, insoweit der Einfluss des Verfahrens selbst
untersucht wird, insbesondere Kücksicht auf die Frage zu nehmen, ob der
Gläubiger im Falle, dass der Concurs nicht dazwischen getreten w^äre,
früher seine Befriedigung erlangt hätte.^)
Auch auf Seiten des Schuldners kann seine mehr oder weniger ab-
solute Unfähigkeit, während der Dauer der Concursverhandlung productiv
thätig zu sein, als Voraussetzung privat- und volkswirtschaftlichen Schadens
betrachtet werden. Es ist überflüssig nachzuweisen, dass der Schuldner als
Privatperson darunter leidet; aber auch die Volkswirtschaft wird dadurch
beeinträchtigt, da jede Verringerung, jedes Brachliegen vorhandener Pro-
ductivkraft, da jede Störung in der normalen Bedürfnisbefriedigung eines
Volksgliedes auf sie schädigend zurückwirken kann. Dass aber ein Con-
cursant während der Dauer der Concursverhandlung in der Eegel productiv
ganz oder fast unthätig sein wird, liegt wohl auf der Hand. In dieser
Kichtung kann der Umstand, dass die Gesetze dem Schuldner Anspruch
auf gewisse Gegenstände aus der Concursmassa zugestehen — hier sei be-
sonders das Handwerkszeug genannt — und insbesondere auch von Unter-
stützungen für ihn während der Dauer des Verfahrens, sei es aus dem
Concursvermögen. oder aus seinem Neuerwerbe (österr. Concursordnung-)
sprechen, als Anerkenntnis seiner misslichen Lage, und als Symptom be-
trachtet werden, dass auch volkswirtschaftliche Gesichtspunkte hie und da
sich Geltung zu verschaffen suchen.
C. — Als sechste These haben wir den Satz aufzustellen, dass die Kosten
des Concursverfahrens nicht nur einen privatwirtschaftlichen Schaden für
Schuldner und Gläubiger darstellen, sondern auch volkswirtschaftlich nach-
theilig sind, denn auch vielleicht nicht nach ihrem vollen Betrage. (Diese
Schadensursache ist allen Stadien des Concursverfahrens gemeinsam.)
Da die Kosten für die Gläubiger nicht anders aufzufassen sind, denn
als eine positive Verringerung des zu vertheilenden Vermögens und da sie
auch für den Schuldner die Möglichkeit, sich zu entlasten^) verringern,
liegt für beide der privatwirtschaftliche Verlust auf der Hand. Man kann
dagegen wohl nicht mit Erfolg einwenden, dass die Massakosten für die
Gläubiger ähnlich, wie die Productionskosten dem Producenten gegenüber
aufzufassen seien; während die letztern nach wirtschaftlichen Grundsätzen
in einem bestimmten, quantitativen Verhältnisse zum Productwerte stehen,
^) S. Mataja a. o. 0. S. 153 f. 184 ff.
2) §. 5, dieser Paragraph ist hier in allen seinen Einzelbestimmungen zu beachten;
s. hiezu auch die Executionsnovelle vom 10. VI. 1887. ZI. 74 K.-G.-Bl.
Bankruptcy Act 1883, LIII. 3., XLIV. 2.; s. auch Gertscher: Das engl. Concurs-
recht nach dem Gesetze vom 25. VIII. 1883, Wien, Manz 1885. In Betreff des deutschen
Rechtes s. Endemann, a. o. 0. S. 324 f. 333, dann 112, 113. — Codice di Comni.
Art. 735, 752. — Franz. Gesetz Art. 469, 474, 530.
3) S. österr. C. 0. §. 54; Ende mann: 110; Codice di Comm. Art. 815. Französ.
Gesetz: Art. 537, wichtig ist besonders AI. II des Art. 539, hingegen erscheint von
Interesse das englische Institut der Entlastung, discharge, s. Gertscher S. 24 f, Bank-
ruptcy Act 28.
^^^ Schullern.
fehlt bei erstereii jedes solche Verhältnis: diese Kosten sind nicht die Folge
gegebener physikalischer, räumlicher, socialer Verhältnisse, wie sie sich von
Natur aus oder infolge der gegebenen Construction der menschlichen Gesell-
schaft bei einer Production einstellen, somit nicht Kosten, denen gegen-
über im Productwerte nur das als Gewinn aufgefasst werden kann, was
ihren vollen Ersatz übersteigt, sondern sie sind die Folge gewisser, vielleicht
unwirtschaftlicher juristischer Constructionen, z. B. des Dazwischentretens
dritter Personen — des Massaverwalters — und sie laufen nicht auf die
Verringerung eines durch ihre Aufwendung entstandenen Gewinnes, sondern
auf eine ohne sie vielleicht vermeidliche Erhöhung eines Verlustes hinaus.
Die Kosten des Concursverfahreus, in dem kein Theil zu gewinnen, sondern
nur jeder zu verlieren hat, dessen Aufgabe es ist, eben diesen Verlust zu
vertlieilen. dessen Aufgabe es aber auch sein sollte, ihn möglichst wenig
fühlbar zu machen, sind positive Verluste, wenigstens insoweit sie nicht
absolut unvermeidlich sind.
Wenn durch trustee's, Massaverwalter, beendete englische Concurse
bei einem Activum von weniger als 100 Pfund Sterling in den Jahren
1881 — 83 durchschnittlich mit einem Kostensatze von 74*61Vo ^^n^i 1887 — 89
mit einem solchen von 81*27% belastet waren, wählend die Kosten von
Concursen, welche durch official receivers, amtliche Massaverwalter — auf
Grund des neuen Concursgesetzes üben dieselben besonders bei summarischen
Concursen alle Functionen der trustee's aus — durchgeführt wurden, bei
demselben Activensatze 46'44^/o ausmachten,^) so ergibt sich hieraus einer-
seits, welchen enormen privatwirtschaftlichen Schaden die Kosten hervor-
rufen müssen, andererseits aber auch, wie reform- und verbesserungsfähig
die Verhältnisse sind, wie wenig die Anschauung gerechtfertigt wäre, dass
die hohen Beträge der heutigen Concurskosten unvermeidlich seien, dass
man sie also aus diesem Titel wenigstens mit Productionskosten vergleichen
könne (hiebei wäre natürlich immer an gegebenenfalls wirtschaftlich unver-
meidliche Productionskosten gedacht).
Damit bleibt noch die Frage offen, ob die Kosten des Verfahrens
wirklich auch als volkswirtschaftliche Verluste zu betrachten seien: zunächst
ist in dieser Kichtung zu erwähnen, dass aus ihnen für den Gläubiger eine
Störung seiner Bedürfnisbefriedigung und häufig auch in seiner productiven
Thätigkeit erwächst, sie involvieren ja eine Verringerung seines Vermögens.
Auch die Stellung des Schuldners nach Schluss des Concurses wird durch
sie nachtheilig beeinflusst. Beide Verhältnisse sind auch volkswirtschaftlich
erheblich; die Productiv- und Consumtivkraft von Mitgliedern des Volkes
sind entscheidende volkswirtschaftliche Factoren. Uebrigens ergehen die
Kosten häufig durch überflüssige Acte, welche auch im Sinne der be-
stehenden Gesetze ganz wohl hätten vermieden werden können; wenn sie
aber auch für gesetzlich nothwendige Acte aufgewendet werden, bleibt es
^) S. Wirrninghaus: „Die Ergebnisse der Concursstatistik" ; Hildebrandische Jahr-
bücher III. f. II. Bd. I. S. 23 f. Dieser vortreffliche Aufsatz wird uns wiederholt bei
unserer Betrachtung, insbesondere aber in einem späteren Stadium derselben dienlich sein.
Gesetzgebung über d. Gläubiger- Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 437
doch noch immer fraglich, ob diese Handlungen auch absolut nothwendig
waren; und selbst wenn diese Frage bejahend beantwortet wird, muss zu-
gegeben werden, dass eine namhafte Quote des ihnen entsprechenden
Betrages, indem sie für unproductive Leistungen, für die Vornahme eines
Theilungsactes, Personen zufällt, welche sie in aller Regel in unproductiver
Weise verbrauchen, für den volkswirtschaftlichen Productionsprocess, dem
sie sonst vielleicht angehören würde, verloren geht. Nur wenn man von
alledem absieht und abgesehen von dem hohen Interesse, welches die Volks-
wirtschaft daran hat, dass Jedem sein Recht werde und Jeder das seine
empfange, könnte man behaupten, dass es für die Volkswirtschaft von
vornherein nicht erheblich ist, ob aus dem Betrage 10, A (Gläubiger) 10
und B (z. B. Massaverwalter) nichts, oder aber A 5 und B 5 erhält. Die
Kosten involvieren also eine weitere privat- und volkswirtschaftliche
Schädigung.
Diese Thatsache dürfte kaum je verkannt Avorden sein und wenn wir,
obwohl sie eigentlich evident ist, versucht haben, sie als richtig nachzu-
weisen, so geschah dies nur, damit, wo möglich, dem Vorurtheile der Boden
entzogen werde, dass die Kosten unvermeidlich und juristisch von vorn-
herein gerechtfertigt seien, der volkswirtschaftliche Schaden daher mit in
den Kauf genommen werden müsse. Der Schaden ist ein so grosser, die Ge-
sammtheit an der Verringerung der Kosten so sehr interessiert, dass früher
oder später unter den vermeintlich unvermeidlichen Kosten eine Auslese
vorgenommen und eine solche Vereinfachung des Verfahrens wird eingeführt
werden müssen, welche eben nur die im Interesse von Gläubigern und
Schuldnern — und in dem der V^olkswirtschaft wirklich unabweisbaren Kosten
fortbestehen lässt; im Falle einer Interessencollision wird die Gesetzgebung im
Sinne des gemeinen Wohles entscheiden müssen. — Wir werden an einer
anderen Stelle dieser Arbeit einige Punkte andeuten, welche uns in dieser
Richtung von Bedeutung erscheinen; hier begnügen wir uns damit, darauf
hinzuweisen, dass das englische Gesetz für eine bestimmte Form
der Durchführung des Concursverfahrens ein bestimmtes Maxinmm der
Verwaltungskosten, u. zw. mit zwei Schilling per Pfund Sterling der
Schulden aufstellt und damit in ziemlich einfacher und einschneidender,
vielleicht in etwas zu apodiktischer Weise die Controverse theilweise zu
lösen sucht.^)
D. — Xachdem wir so die jedem Concurse gleichsam angeborenen
Schädigungsgründe, insoweit dieselben uns von besonderer Wichtigkeit
erscheinen, dargestellt und kurz auf ihre volkswirtschaftliche Bedeutung geprüft
haben, könnten wir auf die weiter aussehenden Wirkungen der Concurse
übergehen; wir wollen aber der gleich anfangs aufgestellten Beschränkung
gemäss nur einen einzigen dieser Einflüsse hervorheben, u. zw. deswegen,
weil sein Erfolg möglicherweise auf den fraglichen Concurs und den Wert
*) Bankruptcv Act CXXII. 8. Die auf den summarischen Concurs bezüglichen Be-
stimmungen des englischen Gesetzes sind von höchstem Interesse; wir kommen später
noch darauf zurück, können uns also hier mit dieser Andeutung bes^nügen.
438 Schullein.
der Masse zurückwirken kann. Der Concurs eines grossen Handelshauses wirft
massenhafte Warenvorräthe plötzlich auf den Markt; handelt es sich nun um
Güter, nach denen das Begehr kein sehr allgemeines und sehr elastisches
ist, ist insbesondere der Markt beschränkt, so wird eine Entwertung aller
derartigen Güter eintreten; die Folge hievon wird sein, dass auch die zum
Concursvermögen gehörenden Güter dieser Art — es handle sich z. B. um
den Concurs gegen das Vermögen eines grossen Weinhändlers — zu
niedrigem Preisen abgesetzt w^erden müssen, als diejenigen gewesen wären,
welche sich bei allmälichem Verkaufe hätten erzielen lassen; daraus resultiert
aber privatwirtschaftlicher Schaden; ob derselbe auch volkswirtschaftlich in
Betracht kommt, ist quaestio facti.
Unsere bisherige Betrachtung ergibt also auf Grund der im Anfange
dieses ParagTaphen namhaft gemachten drei Thatsachen hauptsächlich sieben
Schadensursachen, von welchen die sechs ersten dem Concursverfahren
gewissermaassen von Natur aus zugehören, die siebente dagegen mehr als
ein Accedens zu betrachten ist.
Das Verschwinden überwiegender Gebrauchswerte, mit Einschluss des
gesammten Affectionswertes, zu Gunsten der niedrigeren Tauschwerte (erste
Ursache), die Wertverringerung, welche sich als Folge der Zerstückelung
productiver Güterzusammenhänge ergibt (zweite Ursache), die mögliche Wert-
verringernng wegen unzeitgemässen und ungelegenen Verkaufes (dritte für
uns weniger bedeutende Ursache), müssen sämmtlich in letzter Keihe auf das
Wertgesetz zurückgeführt und können nach Maassgabe der Menger'schen
und Böhm-Bawerk'schen Lehrsätze auf ihren Ursprung und ihre Erheblich-
keit geprüft werden. Für sie alle ist die erst aufgeführte Thatsache ent-
scheidend. Die vierte Ursache (Brachliegen des Concursvermögens), die
fünfte (Schädigung von Gläubigern und Schuldnern, hauptsächlich durch
die während der Dauer des Concurses gegebene Behinderung in ihrer Pro-
ductivthätigkeit — für diese beiden ist die zweite Thatsache maassgebend — )
endlich die sechste (Kosten des Verfahrens — diese Schädigungsursache
ist identisch mit der dritten von uns als entscheidend aufgeführten That-
sache), beruhen im wesentlichen direct auf den herrschenden Bestim-
mungen des materiellen und formellen Concursrechtes und benöthigen
einer eigentlichen nationalökonomischen Erklärung weniger, als die Ur-
sachen 1—3.
W^ir finden also schon jetzt die eigenthümliche Antinomie vor, das&
das Concursverfahren, welches doch eigentlich bestimmt ist. den im Momente
des Eintrittes einer Insolvenz gegebenen Schaden planmässig u. zw. wohl
nicht nur nach den Principien der Gerechtigkeit, sondern — und dies ist
ein Postulat, welches sich immer mehr geltend machen wird — auch nach
denen des allgemeinen Wohles aufzutheilen, in seinen heutigen Gestaltungen
die Keime zu zahlreichen neuerlichen Schädigungen in sich birgt; diese
Thatsache tritt uns schon dann vor Augen, wenn wir nur den Act der
Sammlung des Concursvermögens, der sich als eine Umwandlung der ein-
zelnen, verschiedenartigen Güter in das einheitliche Gut Geld darstellt, in
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 439
Erwägung ziehend) Bevor wir auf die Betrachtung der Frage übergehen,
ob und wie diesen drohenden Schäden vorgebeugt werden könne, wollen wir
untersuchen, ob und inwieferne auch der Vertheilungsact als solcher. Ge-
fahren in sich birgt.
§. 3. Die bei Y er th eilung der Masse auftretenden
Schadens Ursachen.
Die Thatsachen, mit welchen wir hier zu rechnen haben, betreffen die
Zulassung von Vorrechten im allgemeinen Sinne und die in alle Gesetze
aufgenommene Bestimmung, dass das nach Befriedigung der bevorrechteten
Forderungen noch übrige Vermögen unter die vorrechtslosen Gläubiger im
Verhältnis der Höhe^) ihrer Forderungen vertheilt zu werden hat^). Wir
haben nun zu untersuchen, ob diese Thatsachen wirtschaftliche Schadens-
ursachen enthalten, somit neuerlichen Schaden hervorrufen können.
Die obersten Principien für die Vertheilung des Concursvermögens
und für die damit wesentlich verbundene Auftheilung des die Gläubiger
treffenden unvermeidlichen Schadens sind das der Gerechtigkeit und das
des allgemeinen Besten. Das erstere verlangt, dass jeder erhalte, was ihm
gebürt, resp. dass keinem ein grösserer Schaden auferlegt werde, als ihn
\) Zahlreiche aus der Coneurs er Öffnung und den Folgen derselben in manchen
Fällen entstehende Nachtheile für Privat- und Volkswirtschaft, z. B. aus einer unklugen
Auflösung vom Schuldner geschlossener Verträge, sind oben nicht in Betracht ge-
zogen; sie haben keine weitgehende Bedeutung und sind auch nicht mit dem heutigen
Concursverfahren wesentlich verknüpft. Der Umstand, dass die Bestimmung, wonach auch
das während der Dauer des Concurses dem Concursanten zufallende Vermögen der Concurs-
masse zufällt, wohl in Frankreich und Oesterreich (sowie in Belgien), nicht aber in
andern Ländern gilt, wird aus einem ähnlichen Grunde gleichfalls von uns ausseracht ge-
lassen. Eine Reihe praktisch schwerwiegender Nachtheile endlich, die aus derProcedur der
Versteigerung als solcher, so wie dieselbe in den verschiedenen Staaten gesetzlich ge-
regelt ist, nur zu häufig entstehen, müssen ebenso, weil ihre Ursachen nicht dem Concurs-
verfahren eigenthümlich sind, hier ausser Augen gelassen werden. An dieser Stelle sind
wohl auch die Vermögensn achtheile zu erwähnen, welche die Gläubiger dadurch erleiden
können, dass sie alle ihre Forderungen in Geld ausdrücken und anmelden müssen; wird die
Richtigkeit des Ansatzes bestritten, so kommt es zum Rechtsstreite, in welchem das Inter-
esse des Gläubigers nicht immer voll gewahrt werden wird. Endlich gehört der wesentlich
für die Privatwirtschaft erhebliche Umstand hieher, dass der Eintritt der Concurseröffnung
den Gläubigern die abgesonderte Befriedigung ihrer Forderungen unmöglich macht,
und sie zwingt, ihre Guthaben ^^anz ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Entstehung
derselben (von gewissen pfandrechtlich versicherten Forderungen abgesehen) uniform
behandeln und wo möglich, befriedigen zu lassen.
2) D. C. 0. : s. Endemann S. 512. Oesterr. C. 0. §. 45, Cod. di Comm. Art. 809.
Franz. Gesetz A. 565, Bankruptcy Act XL 4; zu beachten ist hier auch al. 5, welche
eine dem englischen Rechte eigenthümliche Bestimmung in Betreff der Zinsen enthält;
s. hiezu Gertscher S. 38. 4.
^) Die Frage, wie die Forderungen beziffert zu werden haben, ist in ihren Haupt-
punkten nicht hier zu lösen, weil die Art der Forderungsberechnung nichts dem Concurs-
verfahren eigenthümliches ist; nebensächliche Momente welche hier ihren Platz hätten,
müssen wir aber übergehen, weil ihre Betrachtung uns zu weit führen würde.
440
SchuUern.
treffen muss, wenn nicht die andern zuviel davon treffen soll, das letztere,
dass durch die Vertheilung zum mindestens keine neue Schädigung der Volks-
wirtschaft begründet werde. Für unsere Untersuchung kommt das Princip
der Gerechtigkeit nur insoferne und dann in Frage, wenn und inwieferne
eine CoUision mit dem volkswirtschaftlichen Principe möglich ist.
Betrachten wir zuerst das Institut der Vorrechte; dieselben sind ent-
weder vertragsmässig begründet oder ergeben sich infolge gesetzlicher Fest-
stellung aus der Xatur der Forderungen; zu den ersteren gehören haupt-
sächlich alle Pfandrechte, zu den letzteren z. B. gewisse Ansprüche des
Staatsschatzes, gewisse Dienstlöhne u. s. w.
Ausser Betrachtung bleiben für uns die Kückforderungsansprüche
(Aussonderungsansprüche des deutschen Eechtes), gegen deren principielle
Zulassung wohl nichts eingewendet werden kann^), sosehr manche der-
selben juristisch bestritten wurden; wir haben uns nicht auf die Frage ein-
zulassen, so wichtig sie unter Umständen sein kann, welche Güter und
unter welchen Voraussetzungen sie als nicht zum Eigenthume des Con-
cursanten gehörig zu betrachten sind; für uns, die wir nur die Hauptfragen
in Betracht zu ziehen haben, genügt es, dass es sich hiebei nur um Güter
handeln kann, welche juristisch nicht in die Masse gehören (s. hierüber die
eingehenden Ausführungen Endemann's, S. 339 ff.). Ueber die Masse-
kosten haben wir an anderer Stelle bereits, soweit dies uns für unseren
Zweck nothwendig schien, gehandelt.
Wir untersuchen also zunächst das, was die deutsche Concursordnung
als Absonderungsrecht bezeichnet und was sich als die Befugnis eines
Gläubigers, aus bestimmten, zur Concursmasse gehörenden Gegenständen
ohne Kücksicht auf die Concursgläubiger sich zu befriedigen, darstellt^); in
den meisten Fällen gründet es sich auf ein Ketentions- oder Pfandrecht.
Uns interessiert vor allem die Berücksichtigung der Pfandrechte, weil die
für uns in Betracht kommenden Gesetze vorwiegend diese Kechte ins Auge
fassen^); weil wohl nur sie überhaupt grössere praktische Bedeutung und
jedenfalls von allen in Frage kommenden den grössten volkswirtschaftlichen
Einfluss haben.
Innerhalb des Bereiches der Pfandrechte ist ein wesentlicher Unter-
schied zu machen zwischen Hypotheken und Faustpfändern. Insoferne
nämlich Hypotheken aus den öffentlichen Büchern für Jedermann ersichtlich
sind, ist es für jeden nach rein wirtschaftlichen Principien handelnden
Mann, der sich, bevor er creditiert, über den Vermögensstand des prä-
sumtiven Schuldners, so gut möglich zu unterrichten sucht und der jene
') S. franz. Ges. Art. 574 ff. Codice di Comm. Art. 802 ff. Oest. C. 0. §. 159.
D. C. 0. §. 35 etc.
2) Endemann S. 369, über die Arten der Absouderungsrechte im deutschen Recht
s. 376, 4 f. u. 377 ff.
3) Oest. Conc.-Ord. § 163 f., s. hiezu auch § 11 al. 2. Franz. Recht Art. 545 ff.,
über Retentionsrecht s. Renouard 246, 261. Cod. di Comm. 772 ff. Bankruptcy Act, Bei-
lage II. (XXXIX) 9 ff.
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 441
gesetzlichen Bestimmungen, welche die Sicherheit des Credites betreffen,
kennt oder doch kennen soll, leicht, vom Lastenstaude der Realitäten sich
Kenntnis zu verschaffen. Wer dann eine Hypothek für seine Forderung
erwirbt, erlangt kraft positiven Rechtes den Anspruch auf Befriedigung aus
der verpfändeten Realität; wer, ohne eine Hypothek zu fordern, creditiert,
weiss, dass die Realität mit so und so viel Schulden bereits belastet ist,
er also für sich selbst nur den Rest ihres Wertes nach Abzug aller be-
stehenden und noch zu schaffenden Hypotheken für seine Sicherung ins
Auge fassen kann; er muss also auch dafür aufkommen, wenn er hieraus
und aus dem Mobiliarvermögen seine volle Befriedigung nicht erlangt;
allerdings ist seine Lage im Zeitpunkte der Creditgewährung insoferne
nicht ganz klar, als er ja nicht wissen kann, welche Hypotheken in Zukunft
erworben werden, welche Faustpfänder und welche weiteren unversicherten
Forderungen bestehen und bis zur Concurseröffnung noch zustande kommen
werden; überdies ist der Wert des Concursvenuögens als Ganzes und in
seinen Theilen. insbesondere auch der Wert der liegenden Güter kein
ständiger und ist es zum mindesten zweifelhaft, ob im Wege der Reali-
sierung des Concursvermögens der ganze vom Creditgeber bemessene
Wert thatsächlich im Preise wieder auftritt, ob der Preis also nicht zu
niedrig ausfällt (selbstverständlich fasst der Creditgeber bei seiner Rech-
nung nicht etwa den Gebrauchswert der fraglichen Güter für ihren Bes-itzer,
sondern jenen Preis ins Auge, der im Falle eines Verkaufes voraussichtlich
erzielt werden wird). Da aber das Institut der Hypothek principiell all-
gemein zugänglich ist. kann vom Standpunkte der Gerechtigkeit trotzdem
gegen das Vorrecht des Hypothekargläubigers kein Einwand erhoben werden.
Vom volkswirtschaftlichen Standpunkte hat die Existenz dieses Vorrechtes
allerdings den Nachtheil, dass infolge desselben eine Reihe von Gläubigern,
und zwar thatsächlich gerade meist die wirtschaftlich schwächeren, deren
Forderungen numerisch klein sind, einen grössere Schaden erleiden, als der
wäre, der sie mangels dieses Rechtes träfe. Weil daraus möglicherweise
eine erhebliche Störung in ihrer productiven Thätigkeit und im Umfange
ihrer Consumtion entstehen kann und weil es dem Interesse der Gesammt-
heit nicht entspricht, wenn wirtschaftliche Existenzen geschädiget werden
und die armen Bevölkerungsclassen auf ein noch niedrigeres Lebensniveau
herabsinken, hat auf diese Thatsache geachtet zu werden. Wie schon an-
gedeutet, ist nun aber das Institut der Hypothek allgemein zugänglich,
potentiell ist also «Tedermann die Möglichkeit geboten, auch unter den bevor-
rechteten Gläubigern zu erscheinen. Nicht deswegen also, weil die Giltigkeit
des Hypothekarrechtes in Concursfällen anerkannt ist, sondern deswegen, weil
vom Hypothekarrecht nicht genügend ausgiebiger Gebrauch gemacht wird,
droht die eben erörterte Gefahr; es würde sich also darum handeln, den
Erwerb von Hypotheken insbesondere für kleine Forderungen zu erleichtern
und zu vereinfachen, um das Vorrecht von Hypothekarforderungen im Con-
curse nicht nur als juristisch gerecht, sondern auch als volkswirtschaftlich
unschädlich erscheinen zu lassen.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. III. lieft. 29
^12 Schul lern.
Bei Faustpfändern liegen die Dinge weniger günstig. Der Bestand
eines solchen Faustpfandes — wir sehen von den gesetzlichen Mobiliar-
pfandrechten, z. B. dem des Vermieters an den Invecta et illata des Mieters
ab — ist nicht immer leicht zu constatieren^), insbesondere dann nicht,
wenn das Object sich in den Händen des Schuldners befindet; jedenfalls
fehlt für Faustpfänder jene Notorietät, welche bei Grundpfändern vorliegt.-)
Der Gläubiger wird sich ein falsches Urtheil über den Vermögensstand des
Schuldners bilden, wenn es ihm unbekannt ist und verschwiegen wird, dass
die wertvollsten Vermögensobjecte verpfändet sind; dieser Irrthum kann
ihm nicht zum Vorwurfe gemacht werden, weil es ja keine öffentlichen
Bücher für Faustpfandrechte an Equipagen, Pferden, Schmuckgegenständen
u. s. w. gibt, und weil er sich im grossen und ganzen auf den Schuldner,
den er vielleicht für ehrlicher hält, als er ist, verlassen muss. Das Gesetz
aber erkennt dem Faustpfande Geltung auch im Concursverfahren zu, obwohl
es unzweifelhaft ist, dass diese rechtliche Bestimmung möglicherweise für
Gläubiger, welche kein Faustpfand besitzen, einen erheblichen Vermögens-
nachtheil mit sich bringen und damit auch auf das Ganze der Volkswirt-
schaft nachtheilig zurückwirken kann.
Das juristische Princip rechtfertiget nun die obige Bestimmung, da es
von rechtlichem Standpunkte evident ist, dass das einmal erworbene Pfand-
recht mit allen seinen Wirkungen dem Gläubiger nicht nachträglich ent-
zogen werden kann; das volkswirtschaftliche erhebt aber Einwendungen
dagegen; es liegt also gegebenenfalls eine Collision vor. Betrachten wir nun
zunächst das praktische Gewicht jener Einwendungen; so ernst sie theo-
retisch sind, reduciert sich ihre Bedeutung doch praktisch in sehr beträcht-
lichem Maasse. Erstens macht die Unbequemlichkeit, welche mit der
Bestellung von Faustpfändern und ihrer üebernahme verbunden ist (wirk-
liche oder symbolische Uebergabe) dieses Institut in vielen Fällen wenig
verwendbar; weiters kann schon der Qualität beweglicher Pfandobjecte nach
im allgemeinen angenommen werden, dass es nur dem Betrage nach geringe
Forderungen sind, für deren Sicherheit Faustpfänder gegeben werden 3);
ferners werden dieselben in der Praxis wohl in der Regel nur zwischen
kleinen Leuten, denen gegenüber die Concursgesetze entweder überhaupt
keine Anwendung haben, oder doch praktisch nicht zur Anwendung
^) S. hiezu das österr. bürgerl. Gesetzbuch §. 451, §. 452 und §. 467, insbesondere
die Bestimmungen, dass das Pfandrecht durch Rückstellung der verpfändeten Sache nur
dann erlischt, wenn diese Rückgabe ohne Vorbehalt erfolgt.
2) Bei gerichtlich bestellten Pfandrechten ist die Lage des präsumtiven Gläubigers
etwas besser, weil schon der Act ihrer Bestellung zu ihrer Notorietät beiträgt.
3) S. Cod. di Commercio: Art. 454 u. 456, für das italienische Recht entfällt somit
im grossen und ganzen die oben vom volkswii-tschaftlichen Standpunkte erhobene Ein-
wendung; es gelten die obigen Betrachtungen eben nur für jene Staaten, in welchen ein
Irrthum des Gläubigers über den Verinögensstand des Schuldners deswegen möglich ist,
weil der erstere vom Bestände eines Handpfandes nichts wusste, ohne dass ihm deswegen
ein Verschulden zur Last gelegt werden könnte. S. übrigens auch das österr. bürgerliche
Gesetzbuch §. 452.
Gesetzgebung über d. Glcäubiger-Coiicurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 443
kommen, in der Weise bestellt werden, dass das Pfandobject in den
Händen des Schuldners bleibt; Geldverleiher dagegen werden meist den be-
züglichen Gegenstand in eigene Verwahrung nehmen. Wenn sonstige reiche
Leute um eines Faustpfandes willen einen Verlust erleiden, wird ihnen der-
selbe in den meisten Fällen kaum fühlbar sein, da ja, wie schon gesagt,
ein Faustpfand nur selten für grössere Darlehen bestellt wird. Ueberdies
kann bei manchen Pfandbestellungen je nach ihrer speciellen Natur doch ein
gewisser Grad von Notorietät vorliegen. All dem Gesagten zufolge sind es
wohl nur wenige Fälle, in welchen die Einwendung gegen die Berücksichti-
gung der Pfandrechte grosses praktisches Gewicht haben würde: der be-
deutendste dieser Fälle dürfte jener sein, in welchem ein Fabrikant oder
Grosshändler von dem kleinen Kaufmann, dem er seine Producte, resp.
Waren liefert, zur Sicherstellung des Preises derselben ein Pfandrecht
erhält, z. B. an der Ladeneinrichtung. In einem solchen Falle wird aller-
dings die CoUision zwischen dem rechtlichen Gesichtspunkte und dem
Interesse der andern Gläubiger, welche von dieser Thatsache unverschuldet
keine Kenntnis hatten, schärfer zutage treten^). Es wird Sache einer ge-
nauen Beobachtung sein müssen, welche insbesondere auch die Häufigkeit
derartiger Vorkommnisse und den Betrag solcher Creditirungen berücksich-
tiget, sich darüber klar zu werden, ob in diesem Falle zu Gunsten des
einen oder des andern Gesichtspunktes zu entscheiden ist; gelänge es für
diese und ähnliche Pfandbestellungen eine erhöhte Notorietät zu sichern,
so würde auch diese Sckwierigkeit schwinden.
Im grossen und ganzen kann all dem Obigen zufolge gesagt werden,
dass in der Frage, welche die Berücksichtigung der Pfandrechte betrifft,
die volkswirtschaftlichen Bedenken nicht so bedeutend und so unbeseitigbar
sind, um den Sieg des juristischen Postulates, wornach einmal erworbene
Rechte nicht wieder entzogen werden dürfen, hintanzuhalten. Dies trifft
umsomehr zu. als ja an der Förderung des Creditwesens bis zu einem
gewissen Punkte die Volkswirtschaft im höchsten Grade interessiert ist und
dieselbe zweifellos dadurch gehemmt würde, dass dem Mobilarp fandrechte
für Concursfälle seine Bedeutung entzogen würde-).
Mit wenigen Worten haben wir nun von den übrigen bevorrechteten
Forderungen zu sprechen. Das österreichische Gesetz führt dieselben als
I. und IL Clnsse der Concursforderungen auf und nennt in der I. Classe:
A. die Begräbniskosten des vor oder nach der Concurseröffnung verstorbenen
Schuldners, die für das letzte Jahr vor der Concurseröffnung rückständigen
Lid- und Arbeitslöhne und letztjährigen Krankheitskosten (sei es vom Tode
des Concursanten, sei es vom Tage der Concurseröffnung, zurückgerechnet
und zwar sowohl, wenn sie für die Person des Schuldners als wenn sie für
die eines Mitgliedes seiner Familie ausgelegt werden sind), B. gewisse
öffentliche Abgaben; die Forderungen der IL Classe sind von unter-
1) S. 'hiezu z. B. das franz. Recht, Eenouard II. 270 f.
2) Es darf auch nicht übersehen werden, dass versicherte Forderungen sich häufig
niedriger verzinsen, als unversicherte.
29*
444 Schullern.
geordnetem, praktischem Interesse. ^X ^i^ Concursordnung für das Deutsche
Keich^) gewährt /A. gewissen Lohnansprächen (einschliesslich Kostgeld
II. s. w.), B. bestimmten öffentlichen Ansprüchen, insoferne dieselben
im letzten Jahre vor der Concurseröffnung fällig geworden und rückständig
sind, C. genau umschriebenen Ansprüchen von Kirchen, Schulen, öffentlich-
rechtlichen Verbänden und öffentlichen Versicherungsgesellschaften (auch
hier handelt es sich nur um solche, die seit dem letzten Jahre rückständig
sind), D. Krankheitskosten des Schuldners oder eines seiner Familienglieder
aus dem letzten Jahre seit der Concurseröffnung, E. den Forderungen der
Kinder, Adoptierten und Pflegebefohlenen aus der Vermögensverwaltung
(II. Classe des österreichischen Rechtes)^ unter bestimmten Voraussetzungen
in der gegebenen Ordnung vor den übrigen Forderungen ein Vorrechp.^)
Das englische Recht kennt einen Vorrang für Staatssteuern, kirch-
liche und Localabgaben (mit bestimmter zeitlicher Beschränkung), ferner
für den Betrag von 50 Pfund Sterling nicht übersteigende, rückständige
Löhne und Gehalte Angestellter, Bediensteter, der Taglöhner und Arbeiter,
insoweit diese Forderungen aus den letzten vier Monaten vor der Anordnung
der Massaverwaltung stammen.-^)
Aehnliche Vorzugsrechte bestimmt das französische^) und das italienische*^)
Gesetz. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass bei der Aufstellung dieser
Vorrechte der Hauptsache nach dreierlei Gesichtspunkte zur Geltung ge-
kommen sind, nämlich zum Theil ein fiskalischer, zum Theil ein moralisch-
humanitärer (insbesondere Krankheits- und Beerdigungskosten betreffend),
zum Theil endlich geradezu ein volkswirtschaftlicher (insbesondere Löhne).
Indem wir uns in Betreff der fiskalischen Bestimmungen jeder Erörterung
enthalten, genügt es uns, die Thatsache, dass der zweite Gesichtspunkt
Beachtung gefunden hat, dass man also neben der strengen Justitia auch
andere Rücksichten hat zu Worte kommen, insbesondere öffentliche
Rücksichten hat mitsprechen lassen, nochmals hervorzuheben. Nur in Betreff
des dritten Gesichtspunktes, insoweit von ihm aus die Behandlung der
Löhne geregelt wurde, seien einige Worte gestattet. Die hierauf bezüglichen
Vorrechte beruhen auf dem Principe der Billigkeit und sind im Interesse
des allgemeinen Wohles gegeben; ja es handelt sich hier, genauer gesagt,
geradezu um das wirtschaftliche Wohl Einzelner und der Gesammtheit. Die
Lohnempfänger gehören in der Regel zu der wenigst wohlhabenden und
zahlreichsten Bevölkerungsciasse, sie würde jeder Verdienstausfall dm
') §. 43.
2) §. 54.
^) Die Landesgesetze der einzelnen Bundesstaaten können noch weitere Vorzugs-
rechte begründen.
*) Bankruptcy Act XL^ alle die bevorrechteten Forderungen haben gleichen Rang.
(S. übrigens auch XL. 3. und Gertscher §. 14.
5) Art. 549 des Gesetzes vom 28. Y. 1838, dann 2101 u. 2102 des Code civil
(Begräbnis-, Krankheitskosten, Lohnforderungen, Forderung aus der Lieferung von Unter-
haltsmitteln [S. Renouard IL 213 1.], Ansprüche des Staatsschatzes).
<5) S. Art. 773 des Codice di Comraercio.
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs y. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 445
schwersten treffen, da sie vielfach durch denselben des nothwendigen
Lebensunterhaltes beraubt würden: eine percentuelle Betheiligung wäre
zwar vielleicht formell gerecht, aber unbillig. Der Staat sichert diesen
(jläubigern daher vor der Mehrzahl der andern, soweit irgend möglich,
volle Befriedigung. Hiemit ist anerkannt, dass ein verhältnismässig numerisch
gleicher Verlust möglicherweise verschiedene Personen sehr ungleich treffen
kann, und dass der Idee nach diese Ungleichheit beseitigt werden muss.
Man hat diesem Princip in einem der praktisch wichtigsten Fälle seiner
Anw^endung entsprochen, dasselbe aber nicht ganz und nur einseitig durch-
geführt. — Ist damit zunächst ein privatwirtschaftlicher Gedanke zur
Geltung gelangt, so wird gleichzeitig den Interessen der Volkswirtschaft
Kechnung getragen, welche im höchsten Grade daran interessiert ist, dass
gerade die ärmern, nicht vermögenden Volksclassen ein zum mindesten ge-
nügendes und gesichertes Einkommen beziehen.
Diese Bestimmung leitet uns naturgemäss auf den letzten Gegenstand
unserer Betrachtung in diesem Capitel, nämlich auf die Frage, ob die in
allen von uns ins Auge gefassten Staaten übliche Art und Weise der Ver-
theilung des nach Deckung aller mit Aus- und Absonderungsrechten ver-
sehenen Forderungen erübrigten Concursvermögens unter die nicht mit
Vorrechten irgend welcher Art ausgestatteten Gläubiger specifische Schadens-
ursachen, Schaden begründende Momente, in sich birgt.
Die Art dieser Vertheilung charakterisiert sich, wie wir schon gezeigt
haben, durch die Berechnung einer Forderungsquote (Tangente) als Er-
gebnis der Division des gesammten, erübrigten Activums durch den Betrag
der sämmtlichen, noch unbefriedigten Forderungen, nach welcher Quote
gleichmässig für alle in Frage kommenden Gläubiger ihr Antheil am rest-
lichen Activ-Vermögen bemessen wird.
Welche Anforderungen sind an einen richtigen Vertheilungsmodus zu
stellen? Zweifellos kommen auch hier die beiden Postulate des Eechtes
und der Volkswirtschaft in Frage, wie wir sie bereits formuliert haben.
Thatsächlich fordert nun das' Gesetz nur, dass jedem Gläubiger eine gleiche
Quote seiner Forderung zugetheilt werde; damit scheint ihm der Justitia
genug gethan. Die Volkswirtschaft fasst dagegen das Problem von einer
andern Seite an; da es sich nämlich für die Gläubiger nicht um einen
Neuerwerb handelt, sondern sie nur das erhalten, was ihnen ohnehin von ■
rechtswegen zusteht, leider aber meist nicht den Betrag ihres ganzen An-
spruches sondern nur einen Theil desselben; da es sich also nicht um einen
Gewinn, sondern um einen Schaden handelt, fordert sie, dass die Verluste
der Gläubiger dieselben mir im Verhältnis des Grösse ihrer Folgerungen
belasten, ihnen in diesem Verhältnisse fühlbar werden — ohne Rücksicht
auf die ziffermässige Proportionalität. Damit scheint ihr das Interesse der
Gesammtheit, so gut möglich, gewahrt; besser kann bei der gegebenen
Sachlage für dasselbe nicht gesorgt werden.^) Es fragt sich nun, ob diese
^) S. hierüber die weiter unten angegebenen Ausführungen.
446 Sclmllern.
beiden Postulate sich praktisch decken. Auf den ersten Blick scheint es,
dass man die Frage mit ja beantworten dürfe; wenn man genauer zusieht,
stellt sich die Sache aber ganz anders geartet dar. Nehmen wir an, es
handle sich um drei Gläubiger, von denselben haben:
ein Vermögen von und seine Forderung betrage
A 100.000 fl. 10.000 fl.
B 50.000 „ 5.000 „
C 23.000 „ 2.500 „
Die Quote, welche sich aus der nach Befriedigung der bevor-
rechteten Forderungen aller Art erübrigten Concursmassa in der oben
mitgeth eilten, heute gebräuchlichen Weise berechnen lasse, betrage 10%,
es erhalte also
A 1000 fl. und Yerliere 9.O0O fl.
B 500 „ „ , 4.500 ,
C 250 „ „ „ 2.250 „
alle Gläubiger haben nun eine gleiche Quote erhalten und den Forderungen
proportionale Verluste — ziffermässig — erlitten; damit ist aber nur eine
formale, durchaus nicht eine materielle Gleichheit gegeben. Nach dem
Menger'schen Wertgesetze wird der Verlust den Gläubigern dadurch
fühlbar werden, dass sie eine Keihe von Bedürfnissen, welche sie früher
befriedigen konnten, nun unbefriedigt lassen müssen; wenn sie nach wirt-
schaftlichen Principien vorgehen, werden sie die für sie mindest wertigen
Bedürfnisse, und zwar auf der Scala so weit herauf, als es unabweislich
uothwendig ist, unbefriedigt lassen, alle wichtigern aber nach wie vor
decken. Die wohlhabenderen Gläubiger waren nun aber mit ihren Bedürf-
nissen und der Geltendmachung derselben früher zu auf der Scala entsprechend
niedrigeren Stufen herabgestiegen; da nun jetzt für sie diese niedrigeren,
für die weniger bemittelten Gläubiger dagegen höhere Stufen unerreichbar
werden, haben die letzteren, obwohl die Forderungsquoten gleich sind, doch
einen grösseren Schaden erlitten.
Um dies zu erläutern, wollen wir einen schematischen Fall, den wir
möglichst einfach gestalten, ins Auge fassen. Der Gläubiger A. habe vor
Eintritt des Verlustes folgende Bedürfnisgrade aus folgenden Bedürfniskate-
gorien befriedigen können, und zwar:
Kategorie :
I.
IL
III,
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
Grade:
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
9
b
7
6
5
4
3
2
1
8
7
6
5
4
3 '
2
1
7
6
5
4
3
2
1
6
5
4
3
2
1
5
4
3
2
1
4
3
2
1
3
2
1
2
1
1
Gesetzgebung über d. Gläubiger- Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 447
Der Gläubiger B (welcher nur halb so viel Vermögen besitzt, wie A):
I.
II.
m.
lY.
V.
VI.
VIL
10
9
8
7
6
5
4
9
8
7
6
5
4
8
7
6
5
4
7
6
5
4
6
5
4
5
4
4
Der Gläubiger
C
endlich :
I.
IL
III.
IV.
V.
10
9
8
7
—
9
8
7
6
8
7
6
7
6
6
Nehmen wir weiter an, besser gesagt, behalten wir im Auge, dass
die Güterquantitäten, durch welche die einzelnen Grade der Bedürfnis-
befriedigung erlangt werden, mögen dieselben nun mit 10 oder mit 1 zu
veranschlagen sein, durch gleiche Summen Geldes (gleichartige und gleich
grosse Gutseinheiten) zu erlangen sind, und fassen wir nun den Verlust
ins Auge, welchen die drei Gläubiger bei einer Schadenauftheilung, wie sie
die geltenden Gesetze fordern, erleiden werden. Gesetzt, dass durch den
Concurs 7io ^^^ Forderungsbeträge verloren gehen, so wird sich die
Befriedigungsscala nunmehr folgendermaassen ausnehmen (die Forderungen
betragen je ein Zehntel des Gläubigervermögens, der Verlust also 9^ o des
letzteren) :
Pur A: (A besass 55 GQterquantitäten, er verliert davon ^
circa 5):
/loo, somit
I.
10
9
II.
9
III.
8
7
6
5
4
3
2
IV
7
6
5
4
3
2
VI.
5
4
3
2
1
VII.
4
3
2
1
VIII.
3
2
1
IX.
2
1
Für B: (B besass 28, genau 27 Vg Güterquantitäten, verliert 9^/^ der-
selben, somit 2^/2):
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
10
9
8
7
6
5
4
9
8
7
6
5
4
8
7
6
5
4
7
6
5
4
6
5
5
448 Schullern.
Für C: (C besass 14 Güterquantitäten, er verliert hievon ^\qq, somit
etwas mehr . als eines) :
I.
II.
III.
IV.
10
9
8
7
9
8
7
6
8
7
6
7
(da der Gläubiger C nicht mehr den zur Befriedigung des dritten von den
ursprünglich 4 befriedigten Bedürfnissen von der Bedeutung 6 erforderlichen
Betrag hat, kann er fortan nur mehr zwei dieser Bedürfnisse befriedigen;
ähnliches gilt auch für die Gläubiger A und B in Betreif des 5. resp.
3. Bedürfnisses).
Die effectiven Verluste stellen sich also folgendermaassen: für A
mit 5, für B mit 12, für C mit 12. Nach dem volkswirtschaftlichen
Postulate müsste sich nun :
5 : 12 : 12 zz: 10000 : 5000 : 2500
verhalten.
Aus diesem schematischen Beispiele ergibt sich also, dass trotz der
Proportionalität der ziffermässigen Schadensätze eine Verhältnismässigkeit
der effectiven Nachtheile nicht vorliegt; gerade daran aber, dass die letztere
Proportion beschafft werde, ist die Volkswirtschaft interessiert. Mögen wir
nun dieses Beispiel nach Belieben variieren, z. B. die Forderungen eines
oder sämmtlicher Minderbemittelten höher veranschlagen, als die der be-
mittelteren Gläubiger, wir werden das eine immer constatieren müssen, dass
eine Proportionalität in den Verlusten nicht vorhanden ist; es stehe z. B.
die Sache so:
A besitze 100.000 fl., fordere 2.500 fl., seine 10% betragen 250 fl., der Verlust 2.250 fl
B „ 50,000 „ „ 5.000 „ „ 10% „ 500 „ „ „ 4.500 ,
C , 25.000 „ „ 10.000 „ „ 10% „ 1.000 „ „ „ 9.000 „
A verliert somit 274% seines Vermögens
B „ „ 9%
C „ „ 367o
A verfügte über 55 Gütereinheiten, er büsst davon 274% = 2 ein (wirtschaftlich nämlich 2,
ziffermässig etwas weniger)
B „ „28 „ „ „ „ 9% =3 „
C„ „14. „ „„„ 367o = 5 (streng genommen sogar 6) ein.
Der effective Verlust beträgt daher unsern Tabellen zufolge für A 2,
für B 12, für C 31 Befriedigungen. Auch die Proportion:
2 : 12 : 31 = 2500 : 5000 : 10.000
ist unrichtig. Aus dem Gesagten ergibt sich aber nicht nur, dass die pro-
portionale Vertheilung, wie sie heute gesetzlich festgestellt ist, nicht dem
volkswirtschaftlichen Postulate, wie wir es aufgestellt haben, entspricht,
sondern es lässt sich daraus auch noch der überaus wichtige Schluss
ziehen, dass die weniger bemittelten Gläubiger in aller Regel in Concurs-
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 449
fällen einen grössern thatsächlichen Schaden erleiden, als die bemittelteren
und dass das Scliadenverhältnis umsomehr zu ihren Ungunsten ausfällt, je
ärmer sie sind. Gerade diese Thatsache ist es, welche den bestehenden
Vertheilungsmodus am meisten verurtheilt. Die A^olkswirtschaft hat das
höchste Interesse daran, dass die Bedürfnisbefriedigung eine möglichst all-
gemeine und möglichst weitgehende sei; umso ruhiger und stetiger ist der
ganze Consumtions- und Productionsprocess, umsoweniger sind Erschütte-
rungen zu befürchten; alles, was dagegen wirkt, ist volkswirtschaftlich
schädlich; wenn aber schon einmal der Eintritt von Nachth eilen und damit
eine Eeduction im Grade der Bedürfnisbefriedigungen unvermeidlich ist. so
muss doch wenigstens dafür gesorgt werden, dass dieselben möglichst
wenig zutage treten und möglichst wenig fühlbar werden. Dieses Ziel wird
dann am besten erreicht, wenn keine wesentlichen Aenderungen im Ver-
hältnisse zwischen den Bedürfnisbefriedigungen verschiedener Yolksclassen
eintreten; damit nun hier eine gewisse- Constanz festgehalten werde, muss
in unserem Falle der Schaden so vertheilt werden, dass er alle betheiligten
Personen möglichst gleich treffe (belaste, das Maass ihrer Bedürfnis-
befriedigung möglichst gleichmässig einschränke); hiemit ist das allgemeine
volkswirtschaftliche Schadenvertheilungspostulat gegeben, welches auch der
besondern Thatsache des Concurses gegenüber Geltung hat und dem, wie
wir gesehen haben, die heutige Gesetzgebung zuwider ist.
Dieser Widerspruch wäre wohl leichter erkennbar, wenn die Yer-
theilung des Concursvermögens in denjenigen Gütern erfolgte, aus welchen
es ursprünglich bestand, und zwar nach deren Schätzungswert und wenn
nicht durch das Dazwischentreten des Geldes die Sachlage verdunkelt
würde. Geld ist ein Gut, das man in bestimmter Quantität für jedes andere
erhält und für welches man, wenn es quantitativ zureicht, jedes andere er-
halten kann; es scheint also, als ob, da gleiche Quantitäten Geldes ver-
schiedenen Personen gleiche Quantitäten von Gütern derselben Art be-
schaffen können, hiedurch den ärmeren höhere Bedürfnisbefriedigung ge-
währt würde, als den Wohlhabenden und Eeichen, als ob weiter, da sich
ia jeder für sein Geld die ihm nothwendigsten, also subjectiv höchstwertigen
Güter kaufen kann und weil gerade jene Güter, welche für Arme den
grössten subjectiven Gebrauchswert haben, meist niedrige Preise aufweisen,
also durch geringe Geldquantitäteu vertreten werden, auch aus diesem
Gesichtspunkte die weniger bemittelten Gläubiger im Yortheile wären, als
ob also die percentuelle Yertheilung des Schuldnervermögens vielleicht
geradezu zu Gunsten der wirtschaftlich ungünstiger gestellten Gläubiger
ausschlüge. Wenn man so urtheilt, hat man vergessen, dass es sich im
Concurse nicht um eine Zuwendung an die Gläubiger, sondern um einen
Yerlust der Gläubiger handelt; also nicht darum, dass sie gleiche (ge-
nauer: verhältnismässig gleiche) Geldmengen erhalten, sondern darum, dass
sie verhältnismässig gleiche Geldmengen verlieren, dass also ein Yerlust in
Frage kommt, unter welchem bei der herrschenden Art seiner Zutheilung
die ärmeren Gläubiger verhältnismässig mehr leiden als die reicheren.
450 Sclnillern.
Es läge in jener irrigen Auffassung einfach eine Verwechslung
zwischen Empfang und Verlust, indem man an eine Zugabe zu einem vor-
handenen Vermögensbestande dächte, während es sich um einen Abzug von
dem Vermögen handelt; das Vermögen des Gläubigers umfasste ja zur
Zeit der Concurseröffnung auch die Forderung. Arithmetisch lässt sich das
Verhältnis folgendermaassen ausdrücken. Vor Eröffnung des Concurses war:
V (Vermögen) = F (Forderung) mehr G (im Vermögen momentan that-
sächlich vorhandene Güter); nach dem Concurse besteht das Vermögen des
Gläubigers aus
F F
— +G<VumF
X X
Wenn V ursprünglich = G wäre, so hätte der Gläubiger nach dem
Concurse allerdings G + F/x > V; das ist aber nicht richtig.^)
Es ist wahr, dass sich Jedermann für sein Geld jene Güter ver-
schaffen kann, ja wenn er anders nach wirtschaftlichen Principien vorgehen
will, verschaffen muss, welche er am dringendsten benöthigt. Wenn sich
der eine für einen bestimmten Geldbetrag, z. ß. 10 fl., Lebensmittel be-
schaffen muss, der andere sich aber ein Vergnügen verstatten kann, mag es
scheinen, dass die 10 fl., welche er erhält, für den Armen mehr Wert
haben als für den Reichen; wenn man aber darnach fragt, welche Wirkung
der Verlust eines gleichen Betrages von 10 fl. auf die verschiedenen
Gläubiger ausübt, so wird der Schleier vor dem Bilde sinken und es wird
die Richtigkeit des von uns oben Gesagten klar werden.
Wir können somit constatieren, dass auch der herrschende Ver-
theilungsmodus eine Schadensgefahr involviert, und zwar in dem Sinne,
dass durch ihn der eben einmal vorhandene Schaden nicht gleichmässig,
sondern ungleich, und zwar wesentlich zum Nachtheil der ärmeren Gläubiger
und damit der Volkswirtschaft repartiert wird. 2)
Die von uns an früherer Stelle hervorgehobenen Vorrechte gewisser
Forderungen, so insbesondere bestimmt umgrenzter Lohnansprüche, mildern
einerseits den volkswirtschaftlichen Schaden, der sich aus dem verfehlten
Theilungsmodus ergibt und zeigen andererseits, dass die Unbilligkeit erkannt
worden ist, welche in demselben läge, wenn er rücksichtslos durchgeführt
würde. Wenn übrigens sämmtliche Gesetze die Verfügung treffen, dass
nach erfolgter Vertheilung des realisierten Concursvermögens den Gläubigem
der unbefriedigt gebliebene Theil ihrer Forderungen gewahrt bleibt,^) so ist
damit die Möglichkeit einer Wiederausgleichung vorliegenden Schadens
potentiell gegeben, praktisch aber wird in verhältnismässig wenigen Fällen
^) S. Mataja. S. 164.
2j Dass das Dazwischentreten des Geldes diese Thatsache nicht nur verschleiert,
sondern auch bis zu einer gewissen Grenze thatsächlich mildert, soll damit nicht geleugnet
werden. Dies sei hier wiederholt bemerkt.
3) Oesterr. C. 0. §. 54, D. C. 0. §. 152. 1, S. Endemann S. 123, 139. Cod. di
Comm. Art. 815, franz. Gesetz Art. 539.
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft, 451
diese Eemedur zur Geltung kommen. Zu untersuchen, inwieferne durch die
verschiedenen zulässigen Arten des Vergleichs, insbesondere den Zwangs-
vergleich diese eben aufgeführten Nachtheile vemngert, oder etwa verschärft
werden, liegt nicht im Kahmen der uns gestellten Aufgabe; die einschlägigen
Bestimmungen haben übrigens nicht nur deshalb volkswirtschaftliche Be-
deutung, weil sie auf Kostenersparung abzielen, sondern auch deswegen ^
weil sie in der Regel die wirtschaftliche und sociale Lage des Concursanten
verbessern können. Wir haben die wichtigsten Ursachen neuerlichen Schadens,
welche sich aus der Art der Yertheiluno^ des Concursvermögens ergeben,
untersucht und können hiemit dieses Capitel schliessen um uns im folgen-
den dem Versuche zuzuwenden, Vorschläge zu machen, welche uns geeignet
scheinen, die Wirkungen dieser Ursachen abzuschwächen oder dieselben
ganz zu beheben.^)
II. Capitel.
Die Lex ferenda.
§. 1. Allgemeine Gesichtspunkte.
Mit dem bisher Gesagten haben wir gewissermaassen die diagnostische
Seite unseres Problems im wesentlichsten erschöpft; es fragt sich nun, ob
und eventuell in wie weit und wie jene Schadensursachen beseitiget, in
wie weit also ein gesunderer Zustand hergestellt werden kann. Wir können
somit die folgenden Ausführungen als den therapeutischen (vielleicht besser
hygienischen) Theil unserer Untersuchung bezeichnen.
Stellen wir nun zunächst fest, wer als reformierendes Organ aufzu-
treten hat und welche oberste Gesichtspunkte für ihn in Frage kommen,
welche Marschroute ihm gegeben ist. Eine Aenderung der im vorausgehen-
den Capitel besprochenen Verhältnisse ist zweifellos nur von einer Gesetz-
gebung zu erwarten, welche mehr, als dies bisher geschehen ist, volkswirt-
schaftliche Gesichtspunkte einnehmen und sich an die Ergebnisse dieser
Betrachtungsweise halten würde. Es liegt nun nahe, dass die Gesetzgebung
jene bestehenden Normen, welche die Quellen der besprochenen Schadens-
ursachen sind, zu tilgen und sie durch andere zu ersetzen hat. Es muss
also zunächst festgestellt werden, welche Theile der Concursgesetze ab-
änderungsbedürftig und hiezu geeignet sind; nachdem dies geschehen ist,
muss zunächst die weitere Frage zur Erörterung. gelangen, welche Gesichts-
punkte für die Feststellung der neueinzuführenden Nonnen zu gelten haben.
Der oberste Gesichtspunkt ist natürlich der, dass die alte Schadensursache
nicht wieder auf einem neuen Wege neu begründet und dass nicht neue
Ursachen für volkswirtschaftliche Nachtheile geschaffen werden. Falls eine
^) Es sei hier am Schlüsse des Capitels nebenbei noch der Bestimmung des
deutschen, italienischen und französischen Rechtes gedacht, wonach Zinsen von gewissen
Concursf orderungen im Concursverfahren nur bis zum Tage der ConcurseröfFnung be-
rechnet werden dürfen: C. 0. §. 56. 1., C. di C. Art. 700; Loi Ait. 445.
452 Schullern.
bestehende Vorschrift gleichzeitig eine Schadensgefahr bekämpfen und eine
andere begründen würde, müsste zunächst untersucht werden, ob nicht irgend
eine andere ihre guten, nicht aber ihre schlimmen Wirkungen hätte und
fände sich kein derartiger Ersatz, so müsste erwogen werden, welche Gefahr
drohender und schwerer wiegend sei und hieraus dann der Anhaltspunkt
für das weitere Vorgehen gewonnen werden. Ist all dies geschehen, so hat
der legislatorische Act auf Grund der Ergebnisse der bezeichneten Er-
mittelungen vollzogen zu werden, insoweit dies eben möglich ist.
Die vorliegende Aufgabe ist also an sich eine sehr umfassende und
eine ziemlich verwickelte. Um sie erfüllen zu können, benöthigen wir nicht
nur der Kenntnis ihres Zweckes und der letzten Gesichtspunkte, sondern
auch der genauen Erforschung der praktisch gegebenen Verhältnisse ; diese
würde uns nun bis zu einem gewissen Grade eine erschöpfende Concurs-
statistik ermöglichen.
Leider aber sind die Eesultate derselben nicht sehr befriedigend. Die
Verschiedenheit der Concursgesetzgebung, die verschiedenen Gesichtspunkte,
von welchen aus die Statistik in den einzelnen Staaten aufgenommen wird,
endlich die verschiedene Zahl von Momenten, welche hier und dort erhoben
werden, macht Vergleichungen fast unmöglich; auch für die einzelnen
Staaten ist das Ergebnis der Statistik vielfach nicht genügend reichhaltig,
um unseren Anforderungen zu genügen. •) Die Concursstatistik steht uns
also allerdings als wichtiges Hilfsmittel und berathend zur Seite, sie er-
möglicht aber nur in sehr seltenen Fällen Schlüsse, während sie vielfach
nur Vermuthungen über die Bedeutung einzelner Momente autkommen
lässt. Schon infolge dieses ümstandes allein werden die Eesultate unserer
Untersuchung nicht anders als lückenhaft sein können; trotzdem hoffen war,
dass sie Anlass zu weitern Betrachtungen und eingehendem Untersuchungen
geben und so früher oder später beruhigende Schlussfolgerungen werden
gezogen werden.
Wir wollen nun im folgenden die einzelnen Schadensursachen der
Keihe nach unter den Gesichtswinkeln der Volkswirtschaft und der Lex
ferenda vornehmen, um, so weit es uns möglich ist, wenigstens Fingerzeige
geben zu können.
Wir abstrahieren hiebei im grossen und ganzen von den Einzelheiten
der bestehenden Gesetze.
§. 2. Entwertung von Concursgütern durch ihre
Kealisierung.
Wir haben schon an früherer Stelle (Cap. L, §• 2 A) hervorgehoben, dass
die Realisienmg des Concursvermögens, das heisst seine Umwandlung in
eine Geldsumme allgemein giltiger Grundsatz ist, der nur in kaum nennens-
') S. hierüber Wirmingh au s am obigen Orte: S. 3—10 u. 346 ff. Eine Reihe
von Daten, welche für die Ermittlung des von uns betrachteten, volkswirtschaftlichen
Schadens wichtig wären, fehlen in der Statistik allgemein ganz oder fast ganz.
Gesetzgebung über d. Gläubiger- Concurs v. Standpunkte d. Yolkswirtschaft. 453
werten Ausnahmsfällen eine Einschränkung erfährt; wir haben an jener
Stelle auch die Gründe hervorgehoben, welche diese Kealisierung räthlich
erscheinen Hessen; die Übeln Folgen, welche daraus hervorgehen, haben
Avir auch bereits eingehend besprochen. Es liegt also schon hier das
Dilemma vor, entweder auf die Vorzüge dieser Yerfahrensart und die Er-
leichterungen, welche sie mit sich bringt, verzichten, oder die Übeln Folgen
mit in den Kauf nehmen zu müssen. Einen Ausweg hieraus zu finden, wäre
unsere Aufgabe. Dieser aber wird sich uns kaum in allgemein giltiger
Weise darbieten; nur durch Betrachtung der einzelnen Schadensursachen
und dadurch, dass man die hervortretendsten Fälle speciell ins Auge fasst,
kann dem Ziele einigermaassen nahe gerückt werden. Leider müssen wir
hiebei auf Unterstützung durch die Statistik verzichten; diese hat nämlich
die für uns erheblichen Momente entweder gar nicht, oder doch nicht in
jenem Ausmaasse erfasst, welches für uns wünschenswert wäre, oder sie
hat sie doch nicht mit der Einschränkung auf das Concursproblem in Be-
tracht gezogen; ihre Kechtfertigung findet sie übrigens unschwer in der
Thatsache, dass die statistische Erfassung der wichtigsten unter ihnen
überhaupt nur sehr schwer ausführbar wäre; dies gilt insbesondere von
dem zunächst zu betrachtenden Falle.
a) Affectionswerte lassen sich häufig überhaupt nicht ziifermässig zum
Ausdrucke bringen, in jedem Falle aber ist ihr Charakter ein so subjectiver,
dass eine Schätzung durch dritte Personen unmöglich ist; damit aber ver-
sagen auch die Mittel, über welche in solchen Fällen die Statistik verfügt,
und damit ist für uns die Unmöglichkeit festgestellt, die einschlägige Art
von Wertverlusten auf ihre quantitative Bedeutung ziffermässig zu prüfen.
Und doch ist der Affectionswert geradeso gut ein wahrer, subjectiver
Gebrauchswert wie irgend ein anderer und doch wird dieser Wert ver-
nichtet, genauer gesagt, um jenen ganzen Theil reduciert, welcher auf die
Bedeutung zurückzuführen ist, die das Gut als Object besonderer Vorliebe
des ursprünglichen Besitzers hatte.
Dass dieser Wertabschlag ein bedeutender ist, ergibt ein Blick auf
das praktische Leben. Der Abkömmling eines alten Geschlechtes besitzt
die halbverfallene Burg seiner Ahnen, an die sich tausend Erinnerungen
seiner Jugend, sein ganzes Familiengefühl klammern; seine Verhältnisse
haben sich immer mehr verschlechtert; alles hat er hingegeben, was
er sonst noch besass, in der Hoffnung, jene Mauern sich, seinen Kindern
erhalten zu können, endlich muss er sich fallit erklären und sein
theuerstes kommt zur Versteigerung; der Meistbieter zahlt kaum das,
was dem Marktpreise des Materiales und Bodens (der Bauarea) entspricht;
er reisst das alte Gemäuer nieder und setzt an seine Stelle einen Park,
einen Gastgarten oder etwas dergl. Wer wird bei solcher Sachlage
zweifeln, dass der Execut, der Concursant. weit mehr verloren hat, als der
Gläubiger erwarb?
Ein altes Handelshaus falliert, im Inventare desselben befindet sich
ein Schreibtisch, den bereits durch Generationen die Lihaber des Geschäftes
454 Scliullern.
benutzten, an den sich langjährige Traditionen knüpfen und den der gegen-
wärtige Eigenthümer mehr wertschätzte, als das prunkvollste, moderne
Möbelstück; er wird mit dem andern um den Betrag im Versteigerungs-
wege losgeschlagen, welcher dem Marktpreise der Holzmasse entspricht;
ein Concursant besitzt eine Dogge, die ihm theuer ist, obwohl sie
nicht mehr den Anforderungen entspricht, welche an einen Hund dieser
Race auf dem Markte gestellt zu werden pflegen; auch er wird verkauft
und um welchen Preis? wie hoch schätzt der Käufer das Thier, den
Schreibtisch? Dies sinä einzelne Beispiele! tausende ähnlicher Art
bringt das praktische Leben bei; nichts vielleicht schmerzt den Fallierten
mehr, als ein ähnlicl^er Verlust; nichts bringt den Gläubigern weniger
Gewinn, als ein solches Verkaufs object und doch muss der hohe Wert
auf der einen Seite vernichtet, doch muss hier die Befriedigung eines
subjectiv schwer empfundenen Bedürfnisses ausgeschlossen werden, damit
eine oft kaum fühlbare Verlustvermehrung auf der andern Seite ver-
mieden sei.
Derartige Wertreductionen lassen sich, wie bereits gesagt, schwer
oder gar nicht berechnen und doch sind sie für den Grad der Gesammt-
bedilrfnisbefriedigung in der Gesellschaft, also für die Volkswirtschaft von
höchster Bedeutung.^)
Tritt dies bei Gütern, welche Affectionswert besitzen, mit besonderer
Deutlichkeit hervor, so zeigen sich doch ähnliche Verhältnisse auch bei
allen andern Dingen, deren Gebrauchswert für die Wirtschaft des Besitzers
grösser ist, als für irgend eine andere und vielfach überhaupt bei Gütern,
deren Gebrauchswert den Tauschwert übertrifft. Ein kleiner Kaufmann be-
sitze eine altmodische, stark abgebrauchte Einrichtung, darunter zum
Beispiel eine Garnitur für ein Besuchzimmer: für seine Bedürfnisse hat sie
vollkommen genügt; wenn er falliert, wird sie um einen kaum nennens-
werten Preis losgeschlagen und der Erwerber bewertet sie nicht viel höher,
als diesem Ankaufspreise entspricht; wenn der Fallit seinerzeit in die Lage
kommt, sich wieder ein Besuchzimmer einzurichten, so muss er überdies
wohl fast in allen Fällen selbst eine derartige Garnitur weit höher zahlen,
als der Preis war, den die seine erzielt hatte. 2)
Es dürfte auf der Hand liegen, dass hiemit ein privat- und volks-
wirtschaftlicher Verlust gegeben ist. Auch derartige Verluste lassen sich
kaum ziffermässig, wenigstens nicht von dritten Personen ermessen und
darstellen.
Kann denselben nun vorgebeugt werden ? und im bejahenden
Falle, wie?
Wenn wir diese Frage aufwerfen, so sind wir uns wohl bewusst, dass
wir uns auch hier in einem Dilemma befinden; entweder es verliert der
Concursant mehr, als die Gläubiger resp. die Käufer gewinnen, oder es
^) S. hiezu Mataja: am gen. Orte S. 150—152, insb. S. 152, II. Abs., dann 17^
2) S. Mataja S. 172.
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 455
wird der Verlust der Gläubiger nicht so weit reduciert, als dies bei der
gegebenen Lage der Umstände möglich wäre. Wenn nun das Princip der
absoluten Gerechtigkeit hier auch zweifellos zu gunsten des Gläubigers
spricht, so wird doch das Princip des Gesammtwohles unter Umständen
dazu nöthigen, dem erstgenannten das TeiTain streitig zu machen. Ein
Verlust, z. B. zz: 2 a auf der einen Seite und dem gegenüber eine Verlust-
verminderung =: a auf der anderen Seite, respective ein Gewinn z=z h (<: d)
bei einer Wertschätzung des erkauften Gutes z=za -^ h (<; a) auf Seite
des Käufers kann den Interessen des Gesammtwohles durchaus nicht immer
entsprechen. Wie nun hier vorzugehen sei, bleibt unter Festhaltung des
volkswirtschaftlichen Standpunktes rein Gegenstand der Erwägung in jedem
gegebenen Falle. Wenn einzelne Gesetze, so z. B. die bereits citierte öster-
reichische Executionsnovelle, gewisse Gegenstäcde, z. B. Familienportraits,
Eheringe, die nothwendige Einrichtung, von der Execution ausschliessen,
so ist damit dem obigen Gedanken bereits in gewissem Umfange Geltung
verschafft; sollte man aber nicht doch am halben Wege stehen geblieben
sein, sollte es nicht überhaupt bei derartigen Concursgütern dem vorsich-
tigen Ermessen des Kichters — unter Vorbehalt von Kechtsmitteln —
überlassen werden, im Interesse der allgemeinen Bedürfnisbefriedigung die
Zwangsveräusserung zu hemmen? Wäre es nicht unter Umständen nach
genauer Erwägung der obwaltenden Thatsachen räthlicb, bei gewissen
Objecten Mitgliedern derselben Familie ein Vorkaufsrecht einzuräumen
oder doch wenigstens die Veräusserung nicht mit allzu grosser Beschleuni-
gung vorzunehmen, um so eben diesen Familiengliedern (bei Gütern von
besonderem Affe ctions werte) oder Personen in ähnlicher socialer Lage und
von ähnlichem Vermögensstande (bei denen also der Gebrauchswert der
bezüglichen Güter ein wenigstens annähernd gleich hoher w^äre) vermehrte
Gelegenheit zu deren Ankauf zu bieten?
Allgemeine Gesichtspunkte hier aufzustellen, fällt ungemein schwer;
abgesehen davon, dass durch die Einräumung eines derartigen Spielraumes
für den Richter in Geltendmachung des volkswirtschaftlichen Gedankens
dem Principe der Gerechtigkeit nicht allzusehr präjudiciert werden darf, dass
es sich also immer nur um Güter handeln kann, deren Tauschkraft eine
absolut geringe ist, so dass, wenn dieselbe ausfällt, der Verlust der Gläu-
biger nicht bedeutend erscheint, lässt sich hier kaum eine andere positive
Norm aufstellen als jene, welche eben im obigen enthalten ist und dahin
geht, dass eine Reduction im Grade der Bedürfnisbefriedigung für die
Gesammtheit möglichst zu vermeiden sei.
Das Gesagte lässt sich also in folgendem ersten Postulate zusammen-
zufassen: es sei bei Concursgütern, welchen nach Lage der Umstände der
Fallit einen erheblichen Affectionswert zuschreibt, oder die für ihn einen
besonders hohen Gebrauchswert haben, dann, wenn ihr Tauschwert und ihr
voraussichtlicher Gebrauchswert für den Ersteher im Verhältnisse zum
Gesammtwerte der Concursmasse kein erheblicher ist, dem gewissenhaften
Ermessen des Richters ein freier Spielraum dahin zu belassen, ob und unter
456 Schullern.
welchen Modalitäten er deren Veräusserung anordnen oder sie geradezu dem
Falliten belassen wolle. ^)
b) Die Wertverluste, welchen die Volkswirtschaft dadurch ausgesetzt
wird, dass Gütercomplexe, insbesondere complementäre Verbindungen von
Productivgütern (im Sinne der K. Menger'schen Terminologie) bei der
Kealisierung des Concursvermögens zerstückt zu werden pflegen, sei es um
die Gütermasse überhaupt oder doch rasch an Mann bringen zu können,
lassen sich, ebenso wie die oben besprochenen, nur schwer ziffermässig
darstellen und bemessen; jedenfalls fehlt uns eine bezügliche, die Concurse
betreffende Statistik; die im vorigen Capitel gebrachten Beispiele dürften
aber einen Fingerzeig dafür geben, dass sie nicht allzusehr ausser Betracht
gelassen werden dürfen. An dieser Stelle ist übrigens noch ein Moment
besonders hervorzuheben, dass nämlich nicht nur die momentane Lage der
Volkswirtschaft an einer angemessenen Ordnung dieser Verhältnisse Interesse
hat. sondern auch ihre Zukunft. Die Zerstückelung eines complementären
Güterzusammenhanges, z. B. eines grossen Fabriksetablissements kann näm-
lich möglicherweise nicht nur zur Folge haben, dass die Gläubiger, resp.
die Ersteher der einzelnen Theile des fraglichen Concursgutes weniger er-
halten, resp. ersetzt bekommen, als der Schuldner verliert, sondern unter
Umständen auch, dass die ganze Industrie dieser Art für die ganze Gegend
verloren geht, die Bewohner derselben brodlos werden und auswanderfi
müssen. Wenn dem gegenüber bedacht wird, dass es ja durchaus nicht
nothwendig nur Mangel an Lebensfähigkeit sein muss, was den Untergang
des Unternehmens zur Folge hatte, sondern dass oft rein äussere Momente
mitgespielt, oder auch allein zu diesem Ziele gewirkt haben können, so
wird man zugeben müssen, dass unter diesem weiteren Gesichtspunkte
unsere Frage an Bedeutung gewinnt. Wenn es vielleicht gelungen wäre,
die Fabrik als Ganzes mit allem, was dazu gehörte, zu veräussern, wären
möglicherweise alle schlimmen Folgen, wenigstens für die Volkswirtschaft,
vermieden worden^).
Diesen Verhältnissen haben nun einzelne Gesetzgebungen bis zu einem
gewissen Punkte — hauptsäclilich insoweit es sich um Kealitäten und deren
Zugehör handelt — bereits Rechnung getragen; trotzdem muss auch hier
die Anschauung ausgesprochen werden, dass die einmal beschrittene Bahn
noch weiter zu verfolgen, die Zerstückelungsverbote auch auf bewegliche
Gütercomplementaritäten, falls sie wirtschaftlich gestaltet sind, ausgedehnt
und Ausnahmen unter allen Umständen nur nach genauester Erwägung der
Thatsachen zugelassen zu werden haben.
(^ Unser zweites Postulat sagt also, complementär verbundene Productiv-
guter seien principiell ungetrennt zur Veräusserung zu bringen, wenn die
1) S. K n i e s : Geld u. Credit, I. Bd., Berlin, W e i d m a n n 1876, S. 212, IL Abs.,
231. (Schadensausgleichung unter gewissen Umständen.)
2) Für diesen unseren Fall kommt ein Verschwinden eines Affections- oder über-
wiegenden Gebrauchswertes nicht in Frage.
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 457
Verbindung überhaupt eine wirtschaftlich gute ist und wenn nicht aus-
nahmsweise Bedenken von grosser Erheblichkeit dagegen sprechen.
Auch in diesem Falle muss also dem Ermessen, des Kichters, unter-
stützt durch die Gutachten geeigneter und uninteressierter Sachverständiger,
ein erheblicher Spielraum gelassen werden: insbesondere wird es seine
Sache sein, den wirtschaftlichen Wert, richtiger die wirtschaftliche Bedeu-
tung derartiger Unternehmungen und die Bedeutung der einzelnen Theil-
güter für den gesammten Gütercomplex und für einander zu prüfen, dann
aber auch jene möglichen Bedenken zu erwägen.
Wenn insbesondere aus irgend einem Grunde die ganze complementäre
Gütermasse geschlosson nicht veräusserbar erscheint, z. B. wegen Mangels
des genügenden Capitales in der Hand einer einzelnen Person, oder einer
Personengruppe in jener Gegend, wird die Zerstückelung unvermeidlich sein;
unter Umständen aber würde ein Verkauf im ganzen nur ein längeres Zu-
warten erfordern, als die parcellierte Veräusserung; tritt ein solcher Fall ein,
das heisst, liegt die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges in nicht allzu ferner
Zukunft vor, so mag sehr häufig der Aufschub räthlich sein. Der mögliche
Nachtheil, der aus der Verzögerung des Concursverfahrens erwächst, kann
ja auch, z. B. durch Fortbetrieb des Geschäftes auf den Namen der
Gläubigerschaft oder in anderer Weise vermieden werden. Aehnlich, wie
derartige Bedenken, mögen auch andere auftauchen und erledigt werden
müssen: unter allen Umständen schiene uns das oben ausgesprochene
Postulat im Principe durch die Thatsachen und das Interesse aller, Theile
vollauf gerechtfertiget: seine Befolgung in einzelnen Fällen müsste sich
immer auf eine genaue Erwägung der Umstände stützen. Obwohl wir uns
bewusst sind, mit diesen kurzen Ausführungen das vorliegende, wichtige
Problem nichts w^eniger als erschöpft zu haben, wollen wir doch seine
Betrachtung schliessen, um nicht allzusehr die Geduld des Lesers in An-
spruch zu nehmen und weil wir hoffen, wenigstens die wichtigsten Momente
und Gesichtspunkte angedeutet zu haben.
Nur eine Bemerkung sei uns hier anhangsweise noch gestattet. Wenn
Wirminghaus in seiner wiederholt citierten Abhandlung \) die Bemerkung
macht, dass der Unterschied zwischen den vorläufig bezifferten und den
endgiltig festgestellten Activen zu Ungunsten der letzteren den Beweis für
deren Ueberschätzung bei der ersten Inventarisierung bringe, dass also
z. B. die in Schottland im Jahre 1880 mit 490.248 Pfund Sterling rea-
lisierten und ursprünglich mit 601.959 Pfund Sterling geschätzten,
die i. J.1886 mit 239. 758 Pf. St. realisierten u. mit293.667Pf.St. geschätzten
„ „ „ 1887 „ 485.048 , , „ „ „ 789.845 , ,
und „ , , 1888 „ 529.106 „ , „ „ „ 721.466 „ ,
Activen überschätzt gewesen seien, so möchten wir dieser Anschauung
wenigstens in dieser Allgemeinheit, in der wir glauben, sie verstehen zu
müssen, nicht ohneweiters beipflichten; wir sind nämlich der Meinung, dass
') S. 26.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, ^ocialpolitik und Verwaltung. III. Heft. gQ
458 Schullern.
die ursprüngliche Schätzung möglicherweise ganz sachgemäss gewesen sein
kann und der niedrigere Betrag der realisierten Activa sich trotzdem leicht
erklären lässt: abgesehen von andern ungünstigen Verhältnissen, welche bei
der Kealisierung obgewaltet haben können, mag gerade die Zersplitterung
der complementären Zusammenhänge, welche vielleicht bei der vorläufigen
Schätzung (jedenfalls aber in der Bilanz des Concursanten) nicht vor-
gesehen war, hiebei eine erhebliche Rolle spielen.
c) Die dritte von uns ins Auge gefasste Schadensursache ist zwar
theoretisch, wie gesagt, von nicht sehr grossem Interesse, praktisch aber
macht sie sich besonders für die Privatwirtschaft von Gläubiger und
Schuldner überaus fühlbar, und zwar entweder isoliert, oder in Verbindung
mit andern; auch hier ist eine ziffermässige Feststellung ihrer Erheblichkeit
kaum oder gar nicht durchführbar; für die Gegenwart fehlt uns jedenfalls
das Mittel, sie statistisch zu erfassen.
Die Concurseröffnung bringt die Gegenstände, aus denen sich das
Concurs vermögen zusammensetzt, in den Zustand der Verkauf lichkeit; es
liegt nun nahe, dass dieser Zustand möglichst abgekürzt wird, damit einer-
seits die fraglichen Güter wieder voll ihre ursprünglichen Functionen auf-
nehmen und die Gläubiger andererseits ehestens ihre Quoten erhalten.
Dieser Gedanke ist es. welcher häufig den Verkauf von Gütern zu einer
Zeit und unter Umständen veranlasst, welche von einer Privatperson in
aller Regel für den Verkauf ihr frei verfügbarer Objecto hiezu nicht ge-
wählt "Würden: nur das Vorhandensein äusserster Noth oder einer sonstigen
Zwangslage könnte sie hiezu bestimmen. Es liegt also gegebenen Falles
eine Collision zwischen dem Bestreben nach Verwirklichung der obigen
Zwecke und dem Wunsche vor, einen möglichst hohen Kaufpreis zu er-
zielen. Wird dem ersteren Rechnung getragen, so muss die Erfüllung des
letzteren beiseite gelassen werden und umgekehrt. Diese Sachlage tritt un-
zähligemale, ja. es kann fast behauptet werden, in der Regel beim Verkaufe
von Concursobjecten zutage; sonderbarerw^eise wird dann meist auf die Er-
zielung eines möglicherw^eise höheren Kaufpreises, also einer höheren An-
theilsquote, Verzicht geleistet. Dies hängt einerseits unter anderem mit
gesetzlichen Bestimmungen, welche die möglichste Beschleunigung des
Verfahrens vorschreiben, andererseits aber auch damit zusammen, dass die
Erreichung eines höheren Kaufpreises in späterer, geeigneter Zeit zwar
wahrscheinlich, aber nicht absolut sicher ist, so dass man vielfach den
dem Abwarten widerstrebenden Zwecken mehr Bedeutung beilegt, als den
Vortheilen, welche dieses voraussichtlich bringen würde.
Auch in dieser Thatsache mag ein guter Theil jenes Wertunterschiedes
seine Erklärung finden, welcher zwischen dem ursprünglich inventarisierten
und dem thatsächlich realisierten Werte fast regelmässig zutage tritt.
Wie könnte nun in dieser Richtung abgeholfen, wie dieser Schädigungs-
ursache der Boden entzogen werden? Da nicht nur das Interesse der
Gläubiger für die Volkswirtschaft in Frage kommt, sondern es für dieselbe
auch wichtig ist, dass für den Gemeinschuldner vermeidlicher Schaden
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d Volkswirtschaft. 459
möglichst vermieden werde, so dass sein ökonomisches Wiederaufleben
nicht allzusehr erschwert sei; da es endlich dem Interesse der Gesammtheit
nicht immer entsprechen dürfte, wenn einzelne Personen zum Nachtheile
anderer erhebliche Conjuncturalgewinne machen (hier die Ersteher der ver-
steigerten Vermögensstücke), ist es Sache des Staates, der Gesetzgebung
und der Executivorgane, einzugreifen. Da nun aber die thatsächlichen Ver-
hältnisse zu vielgestaltig sind, um eine allgemein bindende ßegel zuzulassen,
bleibt auch hier kaum ein anderer Weg offen, als der, dem Richter
(Concurscommissär) erweiterten Einfluss auf den Gang und insbesondere die
zeitliche Anordnung der Feilbietungsacte, hauptsächlich aber auch den
Beschlüssen der Gläubigerversammlung oder des Gläubigerauschusses, über-
haupt desjenigen Organes. das in erster Reihe competent ist, gegenüber
ein gewisses Vetorecht einzuräumen; selbstverständlich wird der Richter
vielfach genöthigt sein, sich bei unparteiischen Sachverständigen Raths zu
erholen.
Da wir bereits im vorigen Capitel Beispiele von hier einschlägigen
Fällen gegeben haben, können wir uns nun damit begnügen, auf Grund
des Gesagten unser drittes Postulat zu formulieren; dasselbe wird lauten: Bei
Feststellung des Zeitpunktes für die Feilbietung der Concursgegenstände
hat mehr als bisher auf die Erzielung entsprechender Erlöse geachtet,
daher so weit möglich der geeignete Zeitpunkt hiefür gewählt und wenn
nöthig. durch den Richter bestimmt zu werden. — Selbstverständlich ist
hiebei immer w^ohl zu erwägen, ob die Vortheile der Verzögerung nicht
durch deren mögliche Nachtheile aufgewogen werden und ob thatsächlich
erhebliche Vortheile und mit einer gewissen Sicherheit erwartet werden
können; es darf eben nie vergessen werden, dass es sich schliesslich um
eine Interessencollision handelt und dass das kleinere unter zwei üebeln
zu wählen ist. An anderer Stelle werden wir übrigens Gelegenheit haben,
zu untersuchen, ob es nicht doch vielleicht Mittel gibt, um üble Folgen
der Verzögerung wenigstens bis zu einem gewissen Punkte überhaupt zu
beseitigen.
§. 3. Schädigung infolge der Dauer des Concursverfahrens.
Wir nehmen die im I. Capitel besprochenen und hieher gehörigen
zwei Schadensursachen in gemeinsame Betrachtung. Die Statistik bietet
uns hiebei eine Reihe wertvoller Anhaltspunkte, wenn sie es auch nicht
vermag, die Grösse des Schadens selbst zu beziffern. Sie weist uns aber
für eine Reihe von Staaten die Dauer der Concursverfahren nach und gibt
uns hiemit die eine Prämisse für unsere Schlussfolgerungen; wenn wir
diese Dauer mit der Grösse derjenigen Activen. welche zu Beginn des
Concurses geschätzt worden waren oder zu jenen, welche schliesslich zur
Vertheilung gelangten, zusammenhalten und berücksichtigen, dass ein grosser
Theil der Concursactiven die ganze Zeit hindurch brach lag, so wird es
uns nicht schwer sein, den Verlust an Productivkraft und Pioductwert,
'60*
460 Schullern.
den die Volkswirtschaft erlitten hat, wenn auch nicht ziffermässig fest-
zustellen, so doch in seiner Bedeutung zu schätzen. Wenn z. B. in Schott-
land die Activen nach ihrer endgiltigen Realisierung im Jahre 1888 den
Betrag von 529.106 Pfund Sterling darstellten, wenn von den in diesem
Jahre durch Schlussvertheilung oder Entlastung erledigten 292 Concursen
(es sind dies 69-52% <iei' Gesammtzahl der Fallimente), 123 mehr als 1
und weniger als 2 Jahre, 56 bis zu 3 und 39 mehr als ö Jahre zu ihrer
Austragung benöthigten: wenn in Oesterreich bei den im Jahre 1886 be-
endeten Concursen inventierte Activen im Betrage von 16,708.646 fl. er-
scheinen, (hievon wären allerdings die Kosten des Concursverfahrens mit
817.043 fl. in Abzug zu bringen^) und mit Bezug auf dasselbe Jahr die
Dauer für 54'617o der Concurse mit weniger als 1 und 17*50% niit mehr
als 2 Jahren veranschlagt wurde; wenn in Frankreich im Jahre 1887 die
Concursactiven mit 75,635.496 Francs beziffert und die Dauer der Concurse
zu nur 48*337o n^it weniger als 1 Jahre, zu 31*67^, ^ aber mit mehr als
2 Jahren und darunter zu 9-737o ™i^ mehr als 5 Jahren beziffert wurden: 2)
so kann man sich aus diesen und analogen Daten ein annäherndes Bild
von der Bedeutung der während der Dauer der Concurse brachliegenden
Güterbestände machen: dass damit ein erheblicher Kachtheil für die Volks-
wirtschaft, daneben aber auch für die Privatwirtschaften von Gläubigern
und Schuldnern gegeben ist^) und dass eine Reduction der Verhandlungs-
dauer aus dieser Erwägung im höchsten Grade wünschenswert erscheint,
liegt wohl auf der Hand. In mancher Richtung kann nun eine solche Be-
schleunigung durchgeführt werden: dieselbe darf aber nicht auf Kosten der
Genauigkeit in der Ermittelung von Forderungen und Schulden und, wie
wir oben gesehen haben, auch nicht so erreicht werden, dass eine Ver-
schleuderung der Concursgüter nothwendig würde.
Da bei dem heutigen Stande der Gesetzgebung eine übermässige
Verzögerung der Concurse vielleicht weniger wahrscheinlich ist, als eine
üeberhastung ihrer Durchführung, muss die Frage erledigt werden, ob nicht
Mittel und Wege gefunden werden könnten, um dem Brachliegen von
Vermögensbestandtheilen während der unvermeidlichen Dauer des Concurs-
verfahrens und damit einer erheblichen Schädigung der Volkswirtschaft,
der Gläubiger und Schuldner vorzubeugen. Auch hier wird wieder das
richterliche Ermessen einen erheblichen Spielraum erhalten müssen. Wir
haben bereits im vorigen Capitel die Frage über den Wert der Sequestration
aufgeworfen und dürfen jetzt unter Berufung auf das dort Gesagte wohl
unsere Meinung dahin aussprechen, dass es unter bestimmten Umständen
räthlich sein dürfte, das Geschäft des Gemeinschuldners, welcher Art e?
^) Die Kosten der durch Vertheilung beendeten Concurse betrugen damals
611.952 fl.
2j WirminghausS. 26 ff.; 34, 37, 168 f.; hiezu sind aber die erläuternden
Bemerkungen wohl zu beachten, damit der Wert der obigen Ziffern und deren Com-
parabilität nicht irrig veranschlagt werde.
•■'j Wirminghaus a. 0. 0. S. 2, 170.
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 461
auch sei, durch eine unparteiische und verlässliche Person, wenn irgend
möglich durch ihn selbst in möglichst wirtschaftlicher Weise fortführen
zu lassen, bis die in complementärem Zusammenhange stehenden Güter
in dieser Verbindung und die anderen abgetrennt in vortheilhafter Weise
veräussert werden können. Dies kann natürlich nur dann geschehen, wenn
das Geschäft an sich lebensfähig war und wenn sich eine für die Führung
desselben geeignete Person, welche sich mit einem billigen ortsüblichen
Gehalte begnügt, vorfindet, respective wenn der Concursant selbst die volle
Eignung und Vertrauenswürdigkeit besitzt. Aus den Erträgen des Ge-
schäftes, dem Geschäftsgewinne, würde zunächst dem Geschäftsführer
(eventuell dem Concursanten) der Gehalt gezahlt, die Kestbeträge aber in
entsprechender Proportion an die Gläubiger gleichsam als Zinsen von ihren
Forderungen, unter Umständen auch, wenigstens zum Theile, auf Kech-
nung der Forderungen selbst, ausbezahlt; der ganze Vorgang müsste unter
der genauesten und ständigen Beaufsichtigung des Gerichtes statthaben.
Der Vorzug dieser Verfahrensart wäre der, dass das Interesse an der Be-
schleunigung des Verfahrens nicht mehr andere heilsame Maassregeln
hintanhalten würde, so den Verkauf von Gütercomplementaritäten in ihrer
Gesammtheit, das AbAvarten günstiger Conjuncturen für den Verkauf; dass
— und hierin liegen die Gründe für die erstaufgefühite Wirkung — der
ganze Activstock beständig productiv und im volkswirtschaftlichen Interesse
thätig bliebe, da ja jeder Erlös der einzeln verkauften Stücke sofort zur
Vertheilung gelangen könnte und die complementäre Gütermasse im Zu-
stande productiver Thätigkeit an den Käufer übergienge, der erlöste Preis
aber auch sofort vertheilt würde; dass der Schuldner, wenn anders er einer
Rücksicht und des Mitgefühls wert ist, seinen Lebensunterhalt und seine
gewohnte Thätigkeit beibehielte und er schon dadurch vor socialem Ver-
falle bewahrt und in der öffentlichen Meinung rehabilitiert würde, dass er
einen Vertrauensposten zu führen in der Lage ist; endlich, dass der
Gläubiger auch während der Dauer des Verfahrens wenigstens eine Art
Zinsenbezug hätte.
Wenn allerdings die Verhältnisse nicht geeignet erscheinen, in der
oben beschriebenen Weise vorzugehen, so würde nichts erübrigen, als die
beiden Ansprüche auf Beschleunigung des Verfahrens und auf möglichst
vortheilhafte Realisierung des Concursvermögens, so gut dies geht, je nach
Lage der Umstände in Einklang zu bringen, eventuell den weniger wichtigen
hintanzusetzen.
^) Es sei hier auf das Institut der Moratorien hingewiesen, welches gleichfalls eine
Verzögerung in der Befriedigung der Gläubiger mit sich bringt. S. hiezu das italienische
Gesetz Art. 819 — 829. Näher hierauf einzugehen, liegt nicht in unserer Absicht. Siehe
übrigens auch Knies: Geld und Credit. L. 228 if. Auch die verschiedenen Formen des
Ausgleichs kämen unter dem Gesichtspunkte hier zu erörtern, dass sie eine erhebliche
Beschleunigung in Erledigung des Concursverfahrens mit sich bringen; diesem Vortheile
gegenüber könnten nun aber auch zahlreiche üble Wirkungen hervorgehoben werden.
Unsere Aufgabe aber berührt dieses Thema nicht. S. Bankruptcy Act CCXXII.
462
Scliullern.
Das vierte Postulat, welches wir aufzustellen haben, tragt also einen
wesentlich hypothetischen Charakter an sich, es lässt sich dahin formu-
lieren, dass das gesammte Concursvermögen während der Dauer des Concurs-
verfahrens, wo möglich, bis zur Veräusserung in productiver Thätigkeit zu
halten und hieran der Schuldner gleichsam als Bediensteter, die Gläubiger
älmlich wie Dividendenberechtigte zu betheiligen seien.
Man könnte die Frage auf^erfen, ob eine Maassnahme der oben be-
zeichneten Art nicht einerseits den Credit schädige, andererseits die Gefahr
eines Gewinnentganges für den Gläubiger vermehre. AVas den ersten Tlieil
der Frage angeht, so mag vorerst aus der so erhöhten Gefahr für den
Gläubiger, in Fällen der Zahlungseinstellung seines Schuldners erst nacli
längerer Zeit seine Quote zu erhalten, allerdings eine Einschränkung in der
Neigung zu creditieren entstehen; andererseits würde nun aber durch die
auf Erfahrung gegründete Hoffnung, dass die Tangenten der Gläubiger in
der Eegel grösser sein werden, als bisher, der Credit neuen Impuls erhalten
und es würde das Resultat der ganzen Bewegung vielleicht das sein, dass
wenig vertrauenswürdige Personen schwerer Credit finden, als bisher, solche
aber, denen ein leicht aufzufindendes und realisierbares Vermögen zur Seite
steht, ihn leichter erlangen; vielleicht würde dadurch geradezu daran mit-
gearbeitet werden die Creditverhältnisse gesunden zu machen. Wir haben
uns übrigens im Eahmen unserer Untersuchungen nicht weiter auf diese
Frage einzulassen; es genügten diese wenigen Andeutungen, um wenigstens
die schwersten Bedenken zu entkräften.
Was endlich die das Lucrum cessans betreffende Frage angeht, so
ist zu constatieren , dass dieselbe zunächst mit wesentlich juristischen
Principien zusammenhängt. Auch die VolksAvirtschaft ist aber daran' inter-
essiert, dass Jeder dasjenige erhalte, was ihm gebürt; auch ein entgangener
Gewinn muss also bei Berechnung der Gläubigerforderung, und zwar nicht
nur vom rechtlichen, sondern auch vom volkswirtschaftlichen Standpunkte
berücksichtiget werden; hiezu gehört nun natürlich auch ein solcher
Gewinnentgang, welcher nur die Folge einer durch die oben gebrachten
Erwägungen veranlassten Verzögerung in der Vertheilung der Concurs-
tangenten wäre. Damit, durch den Bezug der Ertragsüberschüsse des Ge-
schäftes und durch die voraussichtliche Erhöhung der Tangenten würde
dem Interesse des Gläubigers zwar vielleicht nicht im vollen Umfange,
aber doch wenigstens zum Theile entsprochen. Bei dem heutigen ent-
wickelten Creditverkehre dürfte übrigens der Fall nicht oft eintreten, dass
der Gläubiger nur deswegen, weil er seine Tangente etwas später erhält,
ein sich ihm darbietendes gewinnreiches Geschäft unterlassen müsste.^)
Bei kleinen Concursen, bei welchen Leute mit sehr geringem Ver-
mögen als Gläubiger auftreten, wird unser Fall am häufigsten actuell
1) Mataja S. 153. Auch beziehen wir uns auf das im vorigen Capitel hierüber
Gesagte. — Auch das summarische Concursverfahren des britischen Gesetzes wirkt gegen
die eben besprochene Schädigungsursache, weil es die Dauer der Procedur verkürzt; die
bereits citierten Artikel der verschiedenen Gesetze sind gleichfalls im Auge zu behalten.
Gesetzgebung über d. Gläubiger- Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 463
werden: gerade in solchen Fällen aber dürfte eine erhebliche Verlängerung
des Verfahrens infolge der Tendenz, das Vermögen vortheilhaft zu
realisieren, mit Kücksicht auf dessen Zusammensetzung kaum zu ge-
wärtigen sein.
§. 4. Schädigung durch die Kosten des Concursverfahrens.
Wir haben bereits an anderer Stelle alle jene Momente hervorgehoben,
welche für die volkswirtschaftliche Beurtheilung der Concurskosten in Be-
tracht kommen. Wir werden uns daher hier sehr kurz fassen können und
zunächst beispielsweise einige statistische Daten, welche die Wichtigkeit
unseres Problems beleuchten sollen, mittheilen.
Tm Jahre 1886 entfielen in Oesterreich auf je 100 fl., welche aus
dem Massavermögen unter die Concursgläubiger vertheilt worden sind, 40 fl.
(im Jahre 1884: 40 fl. und 1885: 43 fl.) auf die Kosten des Verfahrens
(darunter in Tirol Hfl. und in Niederösterreich 102 fl.).^) Für England
gibt Wirminghaus^) folgende Tabelle (für unsere Bedürfnisse reduciert):
Kosten "/o der Activa bei Concursen beendet durch
Acliva in Pf. St. Trustees 1881- S3 Off. receivers Trustees 1887—89
50 — 100 74-61 46-44 81-27
100 — 150
7093
36-72
62-17
150 - 200
64-85
3145
53-29
1000 — 1200
33-53
17-60
2G37
2000 — 3000
26-52
1020
20-13
Aus diesen Daten ergibt sich dreierlei, und zwar: 1. die ausser-
ordentliche Bedeutung der Concurskosten, 2. die Thatsache, dass dieselben
umso schwerer ins Gewicht fallen, je geringfilgiger der Activstand des
Gemeinschuldners ist, 3. endlich, dass die Kosten erheblich reductionsfähig
sind (dies erweist ein Vergleich zwischen den Kosten der Verwaltung durch
Off. Receivers und durch Trustees); dass die Volkswirtschaft, dass
Gläubiger und Schuldner an der Reduction dieser Kosten und somit an der
Vereinfachung des Verfahrens im höchsten Grade interessiert sind, liegt
bei dieser Sachlage und mit Rücksicht auf das an anderer Stelle Gesagte
auf der Hand; die Berechtigung dieses Bestrebens findet erst dort seine
Grenze, wo eine weitere Kostenverminderung zum Nachtheile der Richtigkeit
des Verfahrens und zur Verringerung des Erlöses ausschlagen würde, streng
genommen, in letzterer Richtung sogar erst dort, wo die Verringerung des
Erlöses so bedeutend wäre, dass sie den Betrag der Kostenreduction voll-
ständig aufwiegen würde. Wenn durch eine neuerliche Ausschreibung der
Feilbietung in öffentlichen Blättern, welche 100 Mark kosten würde, ein
Mehrerlös von nur 100 Mark zu erwarten w^äre, so wird es räthlich sein.
^) Wir sprechen hier nur von durch Vertheilung beendeten Concursen. S. Oesterr.
Statistik, Wien, Gerold 1888, 1889, XIX. 2. XXIV. 2. (Auf je 100 fl. der Activen
überhaupt entfielen 1884: 8 fl., 1885: 12 fl., 1886: 10. fl. an Kosten.)
2) S. S. 24.
464 SchuUcrn.
diese Kostenerhöliung zu unterlassen; dasselbe gilt, wenn bei Verlängerung
einer Sequestration um ein halbes Jahr eine Kostenerhöhung von etwa
1000 fl. entstünde und der Verkauf nach Ablauf dieses halben Jahres
einen Mehrerlös von nur 1000 fl. in Aussicht stellte.
Was gibt es nun für Mittel, um die Kosten zu reducieren?
Ein erstes Mittel wäre die Beseitigung der Gebürenpflicht im eigent-
lichen Concursverfahren dem Staate gegenüber, so dass also alle darauf
bezüglichen Acte und Eingaben stempelfrei wären; eine derartige Maassregel
würde sich wohl dadurch vollkommen rechtfertigen, dass ja im Concurse
kein Theil Vortheile anstrebt, sondern nur darnach getrachtet wird, drohende
Nachtheile möglichst zu verringern.^) Eine weitere Maassregel, welche
wenigstens indirect wirksam werden könnte, läge darin, dass vielleicht ein
Procentsatz, etwa der inventarisierten Activen als Maximalbetrag der Ver-
handlungs- insbesondere aber der Verwaltungskosten festgestellt werde;
freilich müsste eine derartige Maassregel so gestaltet sein, dass die Möglichkeit
offen bliebe, je nach Lage der Verhältnisse diesen percentuellen Maximalsatz
zu reducieren, in besonders berücksichtigungswerten Fällen aber auch zu
erhöhen.-)
Abgesehen von diesen Maassnahmen ist es dem oben ausgesprochenen
Principe zufolge Sache des praktischen Juristen und der Gesetzgebung alle
jene kostenbegründenden Momente aus dem Concursverfahren zu tilgen,
welche unnothwendig, das heisst für den Erfolg des Verfahrens nicht ent-
scheidend sind.
Wir haben nun aber oben gesehen, dass gerade bei kleinen Concursen
die Kosten den höchsten Procentsatz aufweisen; an solchen sind nun auch
als Gläubiger häufig Leute von nur geringem Vermögen interessiert und
andererseits ist die Verwaltung und insbesondere die Kealisierung des
Massavermögens in solchen Fällen meist einfach und rasch zu vollziehen.
Leiden nun diese kleinen Leute durch die Kosten schon percentuell mehr als
die grossen Gläubiger bei grossen Concursen, so ist ihr Schaden deswegen
noch höher zu veranschlagen, weil infolge ihrer allgemeinen ökonomischen
Lage sie jeder Verlust empfindlicher trifft, als ein percentuell gleich grosser
einen wohlhabenderen treffen würde. Wenn einem solchen Gläubiger 807o
seiner Forderung um der Kosten willen verloren gehen, dem reichen
Gläubiger in einem anderen Concurse dagegen nur 20^y, so leidet der erstere
darunter nicht nur viermal, sondern vielleicht zehnmal so sehr daran.
Daneben sind dem oben Gesagten zufolge gewisse Kostenaufwände,
welche bei grossen Concursen vielleicht notliwendig erscheinen, so z. B. die
mit Aufstellung eines rechtsgelehrten Massaverwalters verbundenen, in
kleinen und meist einfachen Fällen überflüssig.
^) S. hiezu das östen-eichische Gebürengesetz vom 9. Februar 1850, T. P. 103
und daneben das Gerichtskostengesetz für das Deutsche Reich vom 18. Juni 1878; S.
Endemann S. 646 ff., Bankr. Act CXXII 4.
2) Bankr. Act CXXII. 8.
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Voikswirtschaft. 465
Dass diesen Umständen Keclinung getragen werde, ergibt sich schon
deswegen als nothwendig, weil die Volkswirtschaft gerade daran ein ausser-
ordentliches Interesse hat, dass der Stand der Bedürfnisbefriedigung, bei
den ärmeren Volksclassen nicht noch tiefer sinke. Daraus ergibt sich das
Postulat, dass die Formalitäten und damit die Kosten des Verfahrens und
der Verwaltung überhaupt unbeschadet der Genauigkeit und pflichtmässigen
Vorsorglichkeit bei Durchführung der Concursverhandlung möglichst reduciert
und insbesondere bei Concursen mit niedrigem Activstande alle zulässigen
Vereinfachungen durchgeführt werden.
Als Beweis dafür, dass derartige Vereinfachungen durchführbar sind,
diene die neue englische Gesetzgebung, welche trotzdem eine erhebliche
Besserung in den Ergebnissen der Concurse zutage gefördert hat.^)
. Das englische Gesetz kennt für Concurse mit einem Activstande von
wenig-er als 300 Pfund Sterling ein summarisches Verfahren und in Fällen,
in welchen der Gesammtschuldenstand eines Zahlungsunfähigen 50 Pfund
Sterling nicht übersteigt, einen ganz eigenthümlichen Vorgan^^ welcher hier
nicht näher zu erörtern ist, und der uns nur deswegen interessiert, weil er
für die klare Erkenntnis jener Sachlage auf Seite der englischen Gesetz-
gebung zeugt, welche wir eben erörtert haben.
Insbesondere ist der Umstand wichtig, dass in England eine ganze
Anzahl von Concursen, hauptsächlich aber die summarischen (Bankr. Act
CXXI. 1.), nicht von den Tiustees (Massaver waltern), sondern von den
staatlichen Aufsichtsorganen über Concursangelegenheiten, den Official
Receivers selbst durchgeführt werden; hieraus allein fjchon entspringt eine
ungemein fühlbare Erniedrigung der Concurskosten.
Wir schliessen hiemit auch diese Betrachtung.^)
§. 5. Die Vertheilung der Concursmassa und die darin gelegenen
Schädigungsursachen.
A. Vorrechte im Concurse.
In dieser Richtung enthält schon §. 3 des I. Capitels das Wesentliche,
so dass wir nur in Betreff der Stellung von Faustpfändern einige Momente
noch hervorzuheben beabsichtigen.
Das Hauptbedenken gegen die Zulassung des Absonderungsrechtes zu
Gunsten der Faustpfandgläubiger liegt in der häufig mangelnden Notorietät
des Bestandes solcher Rechte^^Das italienische Gesetz hat in den bereits citierten
Artikeln 454 und 456 des Codice di Commercio diese Bedenken dadurch
behoben, dass es den Fortbestand des Faustpfandrechtes von der Fortdauer
der Verfügungsgewalt des Gläubigers oder eines von beiden 'Theilen ge-
wählten Dritten über das Pfandgut abhängig macht; in gewissem Maasse auch
\) Wirminghaus S. 23.
-) Die ferneren Wirkungen der Kealisierung des Concursvermügens lassen wir hier
ganz ausser Betracht, kommen daher auch auf das nicht zurück, was wir im ersten
Capitel hierüber angedeutet haben.
^-
4()6 Schullern.
noch dadurch, dass es für bestimmte Pfandrechte (und zwar nach Maass-
gabe der Höhe der Forderung) die schriftliche Bestellung als Bedingung
für ihre Giltigkeit festsetzt.
Neben diesen Maassnahmen, deren Bedeutung auf der Hand liegt,
könnten nun aber auch noch andere in ähnlichem Sinne wirksam sein, so
z. B. eine Bestimmung, wonach der Bestand eines Faustpfandes in den
Geschäftsbüchern des schuldenden Kaufmannes oder der schuldenden
Handelsgesellschaft verzeichnet zu werden hätte. Alles was irgend die
Notorietät eines solchen juristischen Verhältnisses fördert, wirkt an der
Beseitigung jenes Conflictes mit, der zwischen den Anforderungen der
Volkwirtschaft und der Gerechtigkeit unter Umständen zutage treten kann.^)
Aus dem Gesagten ergibt sich folgendes Postulat: es ist möglichst Sorge
zu tragen, dass der Bestand von Faustpfandrechten am Vermögen des
Creditnehmers dem Creditgeber erkennbar sei, damit ihn nicht aus der
Berücksichtigung ihm ohne A^erschulden unbekannter Mobiliarpfandrechte im
Theilungsverfahren des Concursvermögens ein unverdienter Xachtheil treffe.^)
Indem wir auf dasjenige verweisen, was wir im I. Capitel über die
weitern bevorrechteten Forderungen, insbesondere über jene Arten derselben,
welchen keine Pfandrechte zur Seite stehen, ausgeführt haben, scheint uns
nur noch bemerkenswert, dass ein Theil dieser Vorrechte von dem Momente
an an volkswirtschaftlicher Bedeutung verlieren würde, in welchem eine volks-
wirtschaftlich richtige Vertheilungsart des dafür erübrigten Concursvermögens
an die nicht bevorrechteten Forderungen gefunden wäre. Anhaltspunkte zur
Erreichung dieses Zieles zu bieten, ist der Zweck der folgenden Ausführungen.
B. Die Vertheilung des erübrigten Concursvermögens an die
Forderungen ohne Vorrecht.
Die theoretischen Grundlagen für die folgende, kurze Erörterung haben
wir bereits an anderer Stelle geboten, an welcher auch das theoretische
Postulat formuliert worden ist. Für uns handelt es sich nun darum, Anhalts-
punkte für eine Schätzung der Wichtigkeit unseres Problemes zu bieten und
wenigstens den Weg zu bezeichnen, auf welchem man unseres Erachtens
dem idealen Ziele näher kommen könnte. Vorher sei noch bemerkt, dass
die Volkswirtschaft nicht daran interessieii ist, dass formelle Gerechtigkeit
geübt werde, wohl aber daran, dass materielle Gerechtigkeit herrsche und
diese liegt unseres Erachtens nur dann vor, wenn der von uns aufgestellten
volkswirtschaftlichen Forderung genüge geschieht.^)
^) Wir verweisen hier, ohne übrigens näher darauf eingehen zu wollen auf S. 115 ff.
in S. V. Stein's Werk: „Der Wucher und sein Recht«, Wien, Holder 1880. Es Avird
damit die Frage der Berücksichtigung der Entstehungszeit bei kaufmännischen Schulden
angeregt, die uns im hohen Grade erwägenswert scheint.
2) Wenn das Faustpfand sich gar nicht in den Händen des Schuldners befindet,
ist ein Irrthum über den Vermögensstand des letzteren um des Bestandes jenes Eeclites
willen ohnehin fast ausgeschlossen.
s; Mataja S. 165.
Gesetzgebung über d. Gläubiger- Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 467
Die Ansprüche der materiellen Gerechtigkeit und der Volkswirtschaft
stimmen überein; jene der formellen Grerechtigkeit einerseits, der materiellen
und der Volkswirtschaft andererseits können in Widerspruch stehen.
Die Bedeutung des Problemes ergibt sich nun schon aus der That-
sache, dass bei der heute üblichen Art der Vertheilung der nun einmal
unvermeidliche Schaden unwirtschaftlich repartiert wird, dass also die Ver-
theilung, wie sie überall durchgeführt wird, von vornherein eine irrige,
daher ungerechte und schädliche ist. Noch mehr aber manifestiert sich jene
Bedeutung, wenn man bedenkt, dass gerade die ärmern Volksclassen am
meisten darunter leiden. Wenn dann aber weiter erwogen wird, dass kleine
Leute vor allem bei Concursen, die einen geringen Activstand aufweisen,
als Gläubiger betheiligt sind und dass z. B. in Oesterreich im Jahre 1886
23'42^;o sämmtlicher Concurse einen inventierten Activstand von weniger
als 1000 fl. (bis zu 1000 fl.) aufwiesen und 73-09^o einen solchen bis zu
10.000 fl., während nur 6*02% der Concurse mehr als 50.000 fl. Activen
hatten;^) wenn man ferner berücksichtiget, dass die Dividenden bei nicht
bevorrechteten Forderungen, z. B. in Oesterreich im Jahre 1886 bei 717,,
der durch Vertheilung beendeten Concurse bis zu 25^ ^ und nur in 10%
der Fälle von 50'Vo an aufwärts betrugen, dass endlich im Jahre 1880 in
18'087o sämmtlicher Concurse die Beendigung wegen mangelnden Ver-
mögens erfolgen musste, so liegt die Grösse der Verluste bei den Con-
cursen überhaupt und insbesondere deren ausserordentliche Empflndlichkeit
für kleine Gläubiger, die Wichtigkeit des Problemes also, eine Ver-
ringerung dieser Verluste zu erzielen, wohl auf der Hand.^) Wenn d.uia
neben der oben nachgewiesenen Erfahrungsthatsache, dass gerade „unter-
geordnete, wirtschaftliche Existenzen das weitaus grösste Contingent der
Concursfälle stellen" auch noch jene zutrifft, dass bei kleinen Fällen die
Deckungs Verhältnisse ungünstiger und die Verfahrenskosten bedeutender sind,
als bei grossen,-') so bedarf es wohl gewiss keiner weitern Ausführungen
mehr, um die überragende Wichtigkeit unseres Problems darzuthun.
Wie aber kann diesen Verhältnissen, die sich für die kleinen Leute
so ungünstig gestaltet haben, abgeholfen w^erden? — Wir haben gesagt,
es müsse der alle Gläubiger zusammen treftende Verlust so vertheilt werden,
dass derselbe jedem einzelnen nur im Verhältnis der Grösse seiner For-
derung fühlbar wird.
Wenn F, F', F" . . . die ihrer Grösse nach bekannten Forderungen
der Gläubiger bedeuten, und N, N', N", ... die subjectiven Nachtheile.
^) W i r m 1 n g li a u s S. 35.
2) In England warfen in der Periode von 1870—82, 5489^0 der eigentlichen Con-
curse gar keine Dividende ab und nur 3-917.) ^^^^^r als 50 Vq, in der Periode 1885—9
blieben von den durch Trustees verwalteten Concursen 13-1 5'Vo und von den durch Off,
Pveceivers verwalteten 40'34"/ö ohne Dividende, von den erstem ergaben 6-43o/o, von den
letztem 2-007o mehr als 50'Vo (von SO^/o aufwärts). In Frankreich betrug 1887 die Divi-
dende in 96-02'' 0 der Fälle nur bis zu 507o der Forderungen,
3) Wirminghaus S. 21, 23,
458 Schullern.
das heisst die Intensität der siibjectiven Empfindung, welche für jeden jener
objective Verlust erzeugt, der ihn trifft (treffen muss), so hat die Vertheilung
nach der Proportion N : F' ^ N' : F' = N'' : F" . . . . zu geschehen. Die sub-
jectiveu Nach th eile sind durch die obige Proportion relativ bestimmt. Subjective
und objective Nachtheile sind natürlich nicht identisch, die erstem (die
subjectiven Nachiheile) sind vielmehr Functionen der objectiven Verluste
und der gesammten, ökonomischen Lage der betreffenden Gläubiger. Das
Verhältnis zwischen objectivem und subjectivem Verluste kann als ein
gerades, das zwischen dem letztern und der ökonomischen Gesammtlage des
Schadenträgers als ein umgekehrtes bezeichnet werden. Da nun das Problem
dahin geht, einen bekannten, objectiven Gesammtverlust in materiell ge-
rechter Weise an Gläubiger aufzutheilen, welche wegen ihrer verschiedenen
ökonomischen Lage ziffermässig gleichen objectiven Verlusten eine ver-
schiedene Empfindlichkeit entgegenbringen, so handelt es sich für uns
darum, zu constatieren, welche objectiven Verluste den einzelnen Gläubigern
aufgebürdet werden müssen, damit die daraus für jeden resultierenden sub-
jectiven Xachtheile der gegebenen Proportion entsprechen.
Mit Rücksicht auf den eben erörterten functionellen Zusammenhang
nun muss, damit die Lösung gefunden werden könne, zunächst der all-
gemeine ökonomische Zustand der einzelnen Gläubiger bestimmt werden,
der uns das Verhältnis im Grade ihrer Empfindlichkeit für gleiche objective
(ziffermässige) Verluste erkennen lassen soll.
Dieser ergibt sich uns mit einer für unsere Bedürfnisse genügenden
Genauigkeit der Hauptsache nach aus dem Betrage der Jahreseinkommen.
Die Bestimmung derselben bietet nun allerdings grosse technische Schwierig-
keit; die Mittel hiezu werden aber doch früher oder später gefunden
werden müssen, da sonst das Problem einer einheitlichen, insbesondere
einer progressiven Einkommensteuer nicht gelöst werden könnte.
Die Lösung unseres Problemes ist also praktisch nicht schwieriger,
als die des Problemes einer einheitlichen (progressiven) Einkommensteuer, ja
die Daten, welche für die Auferlegung der letzteren ermittelt werden würden,
könnten auch bei Vertheilungen von Concursmassen herangezogen werden.
Damit werden wir folgende Momente als bekannte Grössen für unsere
Rechnung gewonnen haben, u. zw.: Grösse der Activmasse und Passivmasse
(hieraus ergibt sich die Grösse des zu vertheilenden objectiven Verlustes,
wenn die Absonderungs-, Vorzugsrechte und die Kosten bereits berücksichtiget
sind), die Grösse der Forderungen der einzelnen Gläubiger (hiemit das eine
Glied unserer Proportion und infolge dessen die relative Grösse der zu-
theilbaren, subjectiven Nachtheile) und in letzter Reihe den Vermögensstand
der einzelnen Gläubiger. Als Unbekannte in unserer Rechnung erübrigen
dann nur noch jene objectiven Verlustziffern, deren Summe dem objectiven
Gesammtverluste gleich ist und die, wie gesagt, den Forderungsbeträgen
proportionale subjective Verluste constituieren müssen. Die Technik in genauer
Ermittelung der sämmtlichen ausschlaggebenden Daten, die Mathematik in
Verwendung derselben für unseren Zweck haben nun die exacte Berechnung
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d Volkswirtschaft. 4(39
dieser Unbekannten zu ermöglichen und zu vereinfachen. Auch die blosse
Schätzung kann bei genügender Genauigkeit und Vorsicht ein entsprechendes
Kesultat ergeben.
Die richtige Yertheilung lässt sich also als Postulat dahin charakteri-
sieren, dass der subjective Xachtheil. welcher jeden Gläubiger in ihrem
Gefolge zu treifen hat, als Function des objectiven Verlustes und der ge-
sammten ökonomischen Lage des ersteren (dieselbe ist wenigstens beiläufig
durch den Betrag des Jahreseinkommens, freilich unter Berücksichtigung
auch der Anzahl der Familienglieder und noch anderer Momente zu be-
stimmen) der Grösse seiner Forderung proportional zugetheilt werden muss.
Es wird hiedurch der Proportionalität der objectiven Verluste jene der
subjectiven substituiert.
Damit scheint uns auch in Betreff dieser Seite des Concursproblems
vom volkswirtschaftlichen Standpunkte aus, u. zw. soweit unsere Aufgabe
geht, die Möglichkeit und im grossen und ganzen die Art der Lösung an-
gedeutet.
Die obigen Ausführungen gründen sich in allem Wesentlichen auf die
von K. Menger begründete Wertlehre: wenn es uns gelungen sein sollte,
damit einen neuerlichen Beweis für ihre volkswirtschaftliche Be-
deutung und für ihre Wichtigkeit bei Lösung von Problemen der ange-
wandten Nationalökonomie erbracht zu haben, würde unser Ziel zum guten
Theile erreicht sein.
S c h 1 u s s.
Wenn wir kurz auf unsere Betrachtung zurückblicken, so finden wir
zwei Momente vor, welche gewissermaassen die Grundlagen derselben dar-
stellen. Abgesehen von der Vermögensschädigung, welche die Gläubiger
und unter Umständen, ja in der Regel auch die Schuldner, endlich die
Volkswirtschaft durch die blosse Thatsache der Zahlungsunfähigkeit, resp.
Ueberschuldung eines einzelnen Wirtschaftssubjectes erleiden, bringen die
heutigen gesetzlichen Normen für die Abwickelung des Concurs Verfahrens
noch eine ganze Reihe von Ursachen weitereu Schadens mit sich, die wohl
vielfach auf die rein juristische Betrachtungsweise des Problems zurückzu-
führen sind. Durch Einführung des volkswirtschaftlichen Gesichtspunktes in
die Ordnung des Verfahrens ist es nun möglich, eine Reihe dieser Schadens-
ursachen in ihrer Wirksamkeit zu schwächen. Wir haben versacht, allerdings
meist nur andeutungsweise, für die allerwichtigsten Fälle jenen Gesichts-
punkt einzunehmen, zu zeigen, wie er zur Geltung gebracht werden könnte
und die Wirkung, welche unseres Erachtens zu erwarten stände, zu skizzieren.
Wir haben hiebei alle weniger wichtigen Momente ganz beiseite ge-
lassen^), sind uns daher bewusst, dass wir das Problem nicht vollständig
'^j An anderer Stelle haben wir eine Reihe von Schadensursachen hervorgehoben,
welche wir aus diesem oder jenem Grunde nicht in den Kreis der Untersuchung ziehen
wollten; die meisten derselben sind entweder nicht dem Concursverfahren eigenthümlich,
oder haben doch nicht eine allgemeine, umfassende Bedeutung.
470 Schullern.
erschöpft haben; andererseits haben wir aber getrachtet, den von uns auf-
gestellten Thesen und Postulaten gegenüber möglichst das Terrain frei zu
machen, indem wir aus gegentheiligen Interessen entstehenden Einwendungen
die Spitzen abzubrechen gesucht haben.
Hier scheint es uns nun noch am Platze, einige Mittel anzudeuten,
welche im allgemeinen mehr oder weniger jeder Schadensursache entgegen-
wirken könnten.
Vor allem Anderen handelt es sich darum, in möglichst weitgehendem
Maasse eine ungesunde Entwickelung des Creditwesens zu hemmen; damit
würde dem massenhaften Ausbrechen von Concursen überhaupt vorgebeugt;
in dieser Kichtung scheinen uns Maassregeln wünschenswert, welche eine
gewisse Notorietät der Vermögenszustände herbeiführen könnten oder doch
ein annähernd richtiges ürtheil über dieselben erleichtern würden. Wir
verweisen in dieser Eichtung nur auf den» Art. 689 des Codice di Commercio,
welcher die Zusammenstellung aller Wechselproteste in Monatsverzeichnissen
zum Zwecke der allgemeinen Einsichtnahme verfügt."
In zweiter Keihe stünden dann Maassregeln, welche der Verschleude-
rung des Concursvermögens überhaupt vorbeugen würden. Wir haben mit
Bezug auf einzelne Schädigungsursachen bereits an anderir Stelle hierauf
Bezug genommen; hier wäre von einem allgemeineren Standpunkte aus nur
noch die Frage aufzuwerfen, ob eine Bestimmung Erfolg verspräche, wor-
nach eine Veräusserung von Concursgegenständen um einen Betrag, der unter
einer bestimmten Quote des Schätzungswertes stünde, überhaupt oder doch
für einen bestimmten längeren Zeitraum, vom Tage der ersten Feilbietung an
gerechnet, ausgeschlossen wäre.
Ein weiteres Mittel endlich, welches uns würdig schiene, in Erwägung
gezogen zu werden, resp. weite Anwendung zu finden, läge in einer gegen-
seitigen Versicherung insbesondere der Kaufleute gegen die Schäden, welche
sie aus Concursen zu befürchten haben; damit wäre eine Art Unfallversiche-
rung (wir verstehen hier das Wort im weitesten Sinne) gegeben, deren
Technik allerdings vielleicht ungewöhnlich grosse Schwierigkeiten bieten
würde. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, diesen Gedanken und seine
') Wh' dürfen nicht unterlassen, einen Vorschlag Lorenz v. Stein' s zu erwähnen,
demzufolge in Fällen unverschuldeter Zahlungsunfähigkeit der Gemeinschuldner sein
gesammtes Vemiögen gewissermaassen von sich abstossen, eine Cessio bonorum vor-
nehmen und sich dadurch ohne weiteres von all jenen Schulden befreien könnte, welche
durch seine bona nicht gedeckt würden, unter dem Vorbehalte jedoch, dass dieselben
nicht für die Person des Gemein Schuldners, sondern für sein Geschäft gemacht worden
waren; dieser Vorschlag würde für den Schuldner ohne Zweifel von ausserordentlichem
Werte sein und mit Rücksicht auf das Interesse, welches die Gesammtheit an der wirt-
schaftlichen Fortexistenz des Schuldners, resp, seinem Wiederaufleben hat, auch für diese
vielleicht nicht ohne günstige Wirkungen bleiben ; ob diese Vortheile aber durch die
Schäden, welche die Gläubiger hieraus erleiden können und durch die voraussichtlich
sehr starke Reduction des Creditverkehres, welche jene Maassregel mit sich bringen
dürfte und deren Bedeutung für die Volkswirtschaft erwogen werden müsste, nicht wieder
ausgeglichen, vielleicht sogar von ihnen übertroffen würden, müssen wir hier dahingestellt
sein lassen. Stein: Der Wucher und sein Recht, S. 82—86.
Gesetzgebung über d. Gläubiger-Concurs v. Standpunkte d. Volkswirtschaft. 471
Durchführbarkeit hier näher zu untersuchen; wir sind aber der Meinung,
dass eine derartige Institution privat- und volkswirtschaftlich von erheblichem
Werte wäre, insbesondere dann, wenn alle aus der Thatsache des Con-
curses und aus dem Concursverfahren entspringenden Nachtheile in die
Versicherung einbezogen würden.
Von der strafrechtlichen Behandlung der Concurse wollen wir in dieser
Arbeit ganz absehen, daher auch die Frage nicht beantworten, inwieferne
dieselbe die Zahl der Concurse und ihre finanziellen Ergebnisse beein-
flussen kann.
Wir kommen daher zum Schlüsse.
Die Erscheinung des Concurses greift tief in das wirtschaftliche Leben
der Völker ein, und grosse Gefahren für den Gesammtwohlstand sind damit
verbunden. An der Kegelung des Concurswesens ist die Volkswirtschaft
daher im höchsten Grade interessiert, sie muss also auch berechtigt sein,
daran theilzunehmen und ihre Anforderungen zur Geltung zu bringen;
bisher wurde dieses ihr Recht nicht genügend berücksichtigt; möge die
Zukunft ihm die Bahn öffnen, möge der vorliegende Versuch in irgend einer
Weise, sei es auch nur dadurch, dass er dieses Problem als üeberschrift
träQjt, diesem Ziele dienen!
VEKHANDLUNGEN DER GESELLSCHAFT
ÖSTERKEICHISCHER VOLKSWIRTE.
XXXI. Plenapvepsammlung vom 25. April 1892.
JJer Vorsitzende, Herr Sectionsclief v. Inama-Stern egg, eröffnet die Ver-
sammlung, gedenkt des Abends, den die Gesellschaft am 14. März der Valuta-
Enquete gegeben und an dem auch Se. Excellenz der Herr Finanzminister
Dr. Steinbach theilgenommen hat, theilt mit, dass der Vorstand der Gesellschaft
beschlossen habe, für eine Laveleye-Stiftung 100 fl. zu widmen und dass die
eventuelle Absicht einer Theilnahme an dem für den August d. J. in Antwerpen
in Aussicht genommenen Congres economique dem Präsidenten der Gesellschaft
angezeigt werden möge. Hierauf ertheilt der Herr Vorsitzende dem Herrn Univ.-
Prof. A. Menzel das Wort zu seinem Vortrage über: „Die Fortbildung unserer
Arbeiterversicherung", dessen wesentlichster Inhalt sich folgendermaassen zusammen-
fassen lässt. Nicht principielle Aenderungen des bestehenden Gesetzes, sondern
vielfach rein administrative Maassnahmen seien erforderlich, um jene Uebelstände
zu beseitigen, welche sich in der kurzen Zeit der Wirksamkeit des Gesetzes
gezeigt haben. Die Principien unserer Gesetzgebung seien gesund; sowohl die
dem deutschen Gesetze gegenüber kürzere Carenzzeit, als die territoriale Organi-
sation — Eigenthümlichkeiten unseres dem deutschen Gesetze gegenüber —
haben sich bisher bewährt; das Princip der Capitaldeckung werde sich noch zu
erproben haben, obwohl der Vorzug der Stabilität ihm zweifellos eigen und bei
richtiger Berechnungsweise es auch versicherungstechnisch dem Umlageverfahren
vorzuziehen sei. Die Uebelstände der österreichischen Arbeiterversicherung seien
die folgenden: 1. der privatwirtschaftliche Zug, 2. der bureaukratische Zug,
3. die nicht ganz zufriedenstellende Ordnung der obersten Aufsicht, 4. die un-
befriedigende Gestaltung des Rechtsschutzes in Betreff der Unterstützungsansprüche.
Ad 1. sei es auffallend, dass die Regierung sich besonders darüber freue, erhebliche
Ueberschüsse erzielt zu haben, die bei den Krankencassen im Durchschnitte
197o ^^^ Einnahmen, bei den Unfallversicherungs-Anstalten 500.000 11. betragen;
bei der Krankenversicherung lasse sich dieses Streben nach Ueberschüssen
daraus erklären, dass das Gesetz wohl ein Minimum der jährlich anzusammelnden
Reserven, ^/^^ aller Einnahmen, aber kein Maximum feststelle; die jährlichen Bei-
träge zum Reservefonde sollten höchstens lO^'o der Einnahmen, der Reservefond
selbst höchstens die Summe des einmaligen Jahreserfordernisses betragen, in
XXXI. Plenarversammlung vom 25. April 1892. 473
ausserordentlichen Fällen hätte der Staat helfend einzugreifen; in diesem Falle
würde es möglich, das kärglich bemessene Krankengeld zu erhöhen. Beim Unfall-
versicherungsgesetz sollen nicht die tarifmässigen Prämien herabgesetzt werden,
— dies wäre zu compliciert — sondern es sollen die Leistungen entsprechend
erhöht werden, u. z. durch die gutsituirten ^Anstalten selbst aus eigener Macht-
befugnis. — Ad 2. sei es wünschenswert, dass die politischen Behörden entlastet
und die Anstalten in Betreff der Feststellung ihrer Statuten freier gestellt
werden; auch solle der Eechtszug an das Ministerium des Innern und nicht an
die politische Landesbehörde gehen. — Ad 3. habe sich das Eeichsversicherungsamt
in Deutschland trefflich bewährt; bei uns könnte man etwas ähnliches schaffen,
wenn man in den Yersicherungsbeirath auch Arbeiter und Unternehmer aufnähme,
wenn derselbe in bestimmten Zeiträumen zusammentreten müsste, selbständig
Gegenstände in Berathung ziehen dürfte und seine Protokolle amtlich veröffentlicht
würden. — Ad 4. müssen die Schiedsgerichte ausgestaltet werden, insbesondere
sei für die Einheitlichkeit der Jurisdiction zu sorgen, was bei unseren Verhältnissen
nur möglich sei, wenn die letzte Entscheidung einem unserer Centralgerichtshöfe
überantwortet werde.
Im übrigen sei es ungerechtfertigt, dass eine Doppelversicherung bei uns
verboten sei; dieselbe solle vielmehr bis zur Höhe des wirklichen Arbeits-
verdienstes, eventuell unter Verpflichtung des Doppelversicherten zur Anzeige
dieses Verhätnisses gestattet werden.
Endlich solle bei einer Gesetzrevision es als Aufgabe der Cassenverbände
erklärt werden, durch besondere Institute für die Eeconvalescenten Vorsorge zu
treffen, damit diese nicht genöthiget seien, sofort wieder die Arbeit aufzunehmen.
Am wichtigsten sei es, dass die Eücksicht auf die finanzielle Prosperität
der Versicherungsinstitute vor der auf ihre reellen Leistungen und socialpolitischen
Aufgaben mehr, als bisher, zurücktrete.
Nach diesen mit grossem Beifall aufgenommenen Ausführungen eröffnet der
Herr Vorsitzende die Discussion, welche Herr Stross einleitet, indem er die Lang-
samkeit der Gebarung bei den Unfallversicherungs-Anstalten rügt; Ueberschüsse
sollten dazu verwendet werden, um ein beschleunigtes Verfahren herbeizuführen.
Herr Kaan, Secretär der Unfallversicherungs-Anstalt sagt, dass die bei
uns geltende kurze Carenzzeit die Verwaltungskosten sehr erhöhe, weil um der
kleinen Differenz zwischen Krankengeld und Unfallsrente willen bedeutende
Erhebungen nothwendig werden und weil bei kurzer Carenz viel mehr Unfälle
den Unfallversicherungs-Anstalten zur Last fallen, als sonst der Fall wäre. Das
Capitaldeckungsverfahren sei allein kaufmännisch rationell; eine Centralinstanz sei
unab weislich nothwendig, dieselbe müsse aber wie die unteren Instanzen organisiert
sein und aus richterlichen, dann aus technisch gebildeten Personen und aus
Vertretern der Industriellen und Arbeiterbeisitzern bestehen.
Dr. Eauchberg hält die Erhöhung der Unfallsrenten ohne Gefährdung
des Capitaldeckungsprincipes nicht für durchführbar, eine Doppelversicherung aber
für gefährlich; dagegen solle Object der Versicherung nicht der bezirksübliche
Lohn für gemeine Arbeit, sondern das factische Arbeitsverdienst des einzelnen
Arbeiters sein.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. III. Heft. 31
^7^ Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
Generaldirector Frey bemerkt, dass schon heute oft Doppelversiclierung
vorkomme und dass die Bezirkshauptmannschaften den Taglohn schon jetzt ohne
Anstand nach Kategorien bemessen.
Secretär Kaan glaubt, man solle sich nicht über die Verwendung der
üeberschüsse den Kopf zerbrechen, denn die Schwierigkeiten, welche der richtigen
Einschätzung der Entschädigungsreserven und jener der erst halbjährig im
nachhinein fällig werdenden Prämien im Wege stehen, hätten schon bisher es
mit sich gebracht, dass die ausgewiesenen üeberschüsse sich bedeutend reducierten
oder ganz verschwanden: so w^erde es auch in Zukunft sein.
Prof. Dr. Menzel bemerkt im Schlusswort, dass man auch in Deutschland
vielfach strebe, die Carenzzeit bei der Unfallversicherung abzukürzen oder ganz
zu beseitigen; dass die Deckungscapitalien einmal zu hoch angesetzt seien und
daher üeberschüsse sich ergeben müssen, endlich dass in Deutschland unter
Umständen die Versicherung mit Rücksicht auf den grösseren Bedarf des kranken
Arbeiters sogar über den Betrag des wirklichen Arbeitslohnes zulässig ist. —
Nach diesen Ausführungen schliesst der Herr Vorsitzende die Versammlung. —
General- und XXXII. Plenarversammlung vom 2. Mai 1892.
Der Herr Vorsitzende, Sectionschef v. Inama-Sternegg, eröffnet die stark
besuchte Versammlung mit einem Berichte über die Thätigkeit der Gesellschaft
im abgelaufenen Vereinsjahr; der Mitgliederstand habe sich von 203 auf 225
erhoben. Die im Laufe des Jahres veranstalteten Bankette zu Ehren des inter-
nationalen, statistischen Institutes und der Valuta-Enquete haben schöne Erfolge
nachzuweisen, die neugegründete Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und
Verwaltung habe freundliche Aufnahme gefunden; die Gesellschaft habe stets
den grossen Aufgaben, welche Oesterreich in der letzten Zeit kühn in Angriff
genommen habe, ihre Aufmerksamkeit gewidmet und vielfach wie das Zünglein
an der Waage gewirkt, oder wie das Oel, welches angewendet werde, w'o die
Wogen zu hoch gehen; bei all diesen Discussionen sei nie die wissenschaftliche
Buhe und Objectivität, selbst angesichts des Gegensatzes materieller Interessen
und auch den extremen Programmen schwacher Minoritäten gegenüber verletzt
worden, auch habe sich nie Theilnahmslosigkeit gezeigt. Der Herr Vorsitzende
spricht sodann dem Generalrathe der österreichisch-ungarischen Bank für die
kostenlose üeberlassung des Sitzungssaales, Herrn Dr. v. Dorn für die Ver-
öffentlichung der Verhandlungen der Gesellschaft in der „Volkswirtschaftlichen
Wochenschrift" und Herrn Adolf Weiss für die Beistellung der Kräfte zur
Erledigung der technischen Agenden den Dank der Gesellschaft aus. — Herr
Adolf Weiss erstattet sodann den Bericht über die Cassegebarung, wonach die
Einnahmen der Gesellschaft 2226*29 fl. betrugen und der Vermögensstand
pro 31. December 1891 sich auf 5872*31 fl. belief. Nach Genehmigung dieses
Berichtes über Antrag der Herren Eevisoren spricht die Versammlung durch den
Herrn Abgeordneten Pernerstorfer dem Herrn Vorsitzenden den Dank für
seine ausgezeichnete Leitung aus. Die hierauf vorgenommenen Neuwahlen ergaben
als Präsidenten: Herrn Sectionschef v. Inama-Sternegg, als 1. Vicepräsidenten
Herrn Abg. Dr. Peez, als 2. den Herrn Sectionschef v. Böhm-Bawerk, als
General- und XXXII. Plenarversammlung vom 2. Mai 1892. 475
Vorstandsmitglieder die Herren Dr. v. Dorn, Dr. Max Menger, Giistav v.
Pacher, Dr. t. Plener, Adolf Weiss und Vicedirector Witteishöfe r, als
Eevisoren die Herren Dr. Tab er, Videky und Wiesenburg.
Während des Scrutiniums wurde von Herrn Adolf Weiss in der nun eröffneten
Plenarversammlung ein Eeferat erstattet über die Lebensmittelpreise und die
Approvisionierung von Wien u. zw. auf Grund der Ergebnisse der wegen einer
einschlägigen Anfrage des Wiener Magistrates von der Gesellschaft veranstalteten
schriftlichen Enquete. Der Tortragende führt aus, das Ergebnis der Enquete zeige,
dass die Approvisionierung Wiens im ganzen regelmässig sei, abgesehen jedoch von
den Artikeln: Butter, Eier und Gemüse. — In Betreff des Fleisches sei eine
Preissteigerung unstreitig, aber nicht nur in Wien, sondern auch in der Provinz
vorhanden; dieselbe werde voraussichtlich dauernd sein. Als Ursachen dieser
Erscheinung werden verschiedene Momente angeführt, so angeblich ungenügende
Approvisionierung, die Handelsverträge vom Jahre 1891, der Umstand, dass sich
der Markt angeblich in den Händen weniger Händler befinde; einer der wichtigsten
Mängel, welcher namhaft gemacht wird, beziehe sich darauf, dass laut einer
Verfügung vom Jahre 1892 das Vieh exclusive der Steuer zu handeln sei; eine
der wichtigsten Forderungen, welche gestellt werden, richte sich, wie schon hier
angedeutet werden mag, auf Einrichtung der Märkte nach französischem Muster
und auf Decentralisation des Marktwesens; Vereinbarungen und Cartelle, welche
auf den Fleischpreis Einfluss üben würden, seien vorhanden gewesen, jetzt aber
nicht mehr nachweisbar.
Der Wein werde zu 25 — SO^'^ im Grosshandel, zu 70 — 75^^o ^'on den
Gastwirten, in unbestimmter Quantität von den Producenten veräussert. Der Wein
habe jetzt die Tendenz, im Preise zu sinken; die Verschiedenheit der gehandelten
Qualitäten schliesse Cartelle aus. Diesen Hauptgesichtspunkten gegenüber sei im
einzelnen hervorzuheben, dass die Weinpreise zunächst bei den Producenten
erheblich gestiegen seien, dass diese Preiserhöhung sich aber durch den Handel
bedeutend abgeschwächt habe; seit dem letzten Herbste mache sich die angedeutete
Tendenz zur Preissenkung geltend, wobei die Ausdehnung des Approvisionferungs-
kreises z. B. auch auf Tirol eine Eolle spiele, ebenso wie die Erniedrigung der
Verzehrungsst'^.uer; die Kellerwirtschaft wirke allerdings der neuen Tendenz ent-
gegen, weil sie seit Einbeziehung der Vororte etwas theuerer geworden sei. — Das
Bier, welches in Wien consumiert wird, stamme aus 18 Brauereien; die Abzugbiere
steigen bei wachsendem Consum im Preise, die Lagerbiere seien gleich geblieben,
die Luxusbiere sinken; das Flaschenbier mache starke Concurrenz; man verlange
eine Umwandlung der Biersteuer in eine Malzsteuer als Voraussetzung einer
Preiserniedrigung ; ein Cartell bestehe unter den Wiener Brauereien nur in Betreff
des zu erzeugenden Quantums. Weitere Daten biete der Ausweis des Brauherren-
Vereines, wonach die gesammte Biererzeugung im Jahre 1880 in Wien
2,451.000 Hektl., im Jahre 1890 2,450.000 HektL und 1891 2,439.548 Hektl.
betragen habe, so dass ersichtlich sei, dass diese Industrie eher ab- als zunehme.
— Das Petroleum sinke stark im Preise, es komme nur durch den Klein-
handel in den Verkehr, seitdem die inländischen Eaffinerien mehr Bedeutung
gewonnen haben.
31*
476 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
Der Zucker steige im Preise, allerdings nur in der letzten Zeit; diese
Steigerung sei wahrscheinlich nur vorübergehend trotz des Bestandes eines Cartelles.
Der Zucker w^erde in Wien durch die Niederlagen der grossen Raffinerien, durch
den Gross- und den Kleinhandel dem Consume zugeführt, das bezeichnete Cartell
bestehe zwischen den Fabrikanten und beziehe sich auf Preis und Quantität; es
soll aber w^enig Einfiuss haben, w^eil der Londoner Marktpreis fast allein entscheide.
Um die Preisgestaltung klar zu machen, möge folgende Tabelle mitgetheilt werden ;
der Preis betrug
1880 . . . 46 fl. 1886 . . . 34 fl.
1881 ... 47 fl. 1887 . . . 32 fl.
1882 ... 47 fl. 1888 . . . 37 fl.
1883 . . . 44 fl. 1889 . . . 36 fl.
1884 . . . 38 fl. 1890 ... 32 fl.
1885 . . . 36 fl.
Die Kohle wird von den Grosshändlern, die angeblich durch Cartelle
verbunden sind, durch 1300 Kleinhändler und durch die Producenten verkauft;
der Preis ist für Alt-Wien gefallen; seine allgemeine Höhe wird auf den theuern
Grubenbetrieb zurückgeführt. Dabei wäre zu bemerken, dass die Kohlenpreise vom
Sommer zum Winter regelmässig um 4 kr. steigen, was angeblich mit den im
Winter erschwerten Zufuhren zusammenhängen soll. — Brod ist theurer geworden,
hat aber jetzt die Tendenz zur Preissenkung. Gewisse Artikel seien schon im
verflossenen Jahre im Preise gesunken u. z. Mehl- und Hülsenfrüchte um je 1 kr.,
Reis um 6 kr., Kohle um 3 kr., Holz per Klafter um 1 fl., Kerzen um 2 kr. per
Paket; in neuester Zeit haben die Preise abgenommen bei Brod, Wein, Kerzen,
Mehl. Petroleum, Seife, Spiritus und Candis, während Zucker theuerer gew^orden sei.
Im grossen und ganzen ist die Höhe der Preise auf Erhöhung der Pro-
ductionskosten und auf die hohen Steuern zurückzuführen. Damit die Preise
zurückgehen, w^erde eine Aenderung gewisser Marktverhältnisse, die Errichtung
von Mai'kthallen an Stelle der offenen Märkte, die Decentralisation des Fleisch-
marktes verlangt; überdies wäre es dringend nothwendig, dass neue Transport-
mittel insbesondere Canäle hergestellt würden und dass die Wohnungen
entsprechende Vorrathsräume erhalten, was einen Ankauf von Lebensmitteln, Holz
und Kohle in grösseren Mengen ermöglichen würde. Die Nachweisungen des
I. Wiener Consumvereines zeigen, in w^elcher Weise der Kleinverschleiss die
Waren vertheuert; die Wiener Handels- und Gewerbekammer hat üben Befragen
des Magistrates die Detailpreise der Kohlen als gerechtfertigt erklärt; in Betreff
der Fleischpreise veranstaltet sie eine Enquete.
Was die Frage der Ringe und Cartelle angeht, so hat die Handels- und
Gewerbekammer die Schädlichkeit derselben anerkannt; man muss aber zwischen
Ringen und Cartellen unterscheiden; die ersteren kaufen grosse Warenquantitäten
auf, um die Preise zu schwindelhafter Höhe emporzutreiben, die letzteren trachten
bei starker Preisdepression und Geschäftsstockung die Preise auf einer Höhe zu
halten, bei der eine Existenz noch möglich ist; Ringe sind nicht vorhanden, die
Cartelle, welche bestehen, liegen ganz offen und bilden keine Gefahr; zu einem
General- und XXXII. Plenarversammlung vom 2. Mai 1892. 477
Einschreiten der Eegierung ist also keine Yeranlassnng gegeben und ist es
nicht zu vergessen, dass sich der Standard of life im allgemeinen zu heben
strebt, so dass die Theuerung doppelt empfunden wird. Wir wollen jetzt manche
Wünsche befriedigt sehen, welche eigentlich nicht sosehr mit den Lebensmitteln
zusammenhängen, die wir aber leichter decken könnten, wenn die Lebensmittel
billiger wären.
Nach diesen beifälligst aufgenommenen Ausführungen verweist Herr Zucker
auf die ausgezeichnete und wohlfeile Approvisionierung von Paris, welche Stadt
vorzügliche Markteinrichtungen ohne Zwischenhandel und Nachtverkauf unter
Leitung von Commissionären besitze und ihre Zufuhr auch aus weiter Ferne
beschaffe; infolge dessen leben die Pariser billig und gut. Das ganze Problem
schliesse ein gutes Stück Socialpolitik in sich.
Herr Regierungsrath E. v. Jura seh ek vergleicht die heutigen Preise mit
denen weiter zurückliegender Zeiten und jene Oesterreichs mit denen von Deutsch-
land und England; die grösste Preissteigerung weist das Fleisch auf u. z. bis
zum Jahre 1883, seither sind die Preise infolge der Fleischeinfuhr aus Amerika
in London und Berlin, soweit diese Einfuhr möglich war, zurückgegangen. Bei
anderen Waren nehmen die Preise schon seit längerer Zeit ab, und sind nie so
hoch gestiegen, wie die des Fleisches, weil sich ihre Production rascher ent-
wickelt, der Transport leichter ist und eine Eeihe neuer Hilfsquellen entdeckt
worden sind, die beim Fleische fehlen. Die in Frage stehende Preissteigerung
gilt also nicht nur für Wien, und kann nur durch Vergrösserung der Production,
Erleichterung des Transportes und Erweiterung der Zufuhr bekämpft werden; weit
w^eniger wirken auf die Warenpreise die Preisverschiebungen von Gold und Silber ein.
Diesen allgemeinen Gesichtspunkten gegenüber seien folgende Einzelnheiten
besonders hervorgehoben, wobei freilich nicht auf eine erschöpfende Wiedergabe
des vom Herrn Eedner gebrachten, reichen Daten- und Thatsachen-Materiales
reflectiert wird. In den 20er Jahren unseres Jahrhundertes haben in fast allen
Staaten Europas die Fleisch- und Getreidepreise, nachdem vorher dieselben
ziemlich stätig gestiegen vraren, wieder abzunehmen begonnen, was auf die voraus-
gegangenen Kriegs-, Noth- und Hungerjahre zurückzuführen sein mag; während
bis dahin z. B. in einer Eeihe . deutscher Städte die Fleischpreise auf 77 Pf.
per Klg. gestiegen waren, sind sie in der Zeit von 1821 — 1830 auf 57 Pf.
gesunken; bei Schweinefleisch war der Eückgang noch stärker. Seit 1830 sind
die Fleischpreise wieder gestiegen, wie schon gesagt, bis zum Jahre 1883 u, z.
in sehr bedeutendem Maasse, wie folgende Tabellen zeigen:
Berlin London
Eindfleisch Schweinefleisch Eindfleisch Schweinefleisch
1821—30 61 Pf. 56 Pf. 1841 — 50 87 Pf. 113 Pf.
1871 — 80 125 „ 127 „ 1871—80 131 „ 121 „
Nur in den Vereinigten Staaten von Nordamerika sanken in jener Zeit die
Preise und diese Senkung hat sich in den 80er Jahren, als der Fleischimport
aus Amerika im grossen Maasstabe möglich wurde, auch in Europa fühlbar
gemacht, hauptsächlich weil dadurch das Absatzgebiet für europäische Fleisch-
478 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.
producte eingeschränkt worden ist. Die neue Gestaltung der Fleischpreise zeigt
folgende Tabelle
für Berlin für London
Eindfleisch Schweinefleisch
Eindfleisch
Schweinefleisch
1881—85 119 Pf. 121 Pf.
124 Pf.
115 Pf.
1886—90 115 „ 126 ,.,
101 „
100 „
In Betreff der Steigerung des Preises für Schweinefleisch in Berlin ist auf
das bezügliche Einfuhrverbot zu verweisen. In den allerletzten Jahren steigt in
Deutschland der Fleischpreis neuerdings; Grund dafür sind die Zölle und das
Anwachsen des Fleischverbrauches. Bei anderen Artikeln tritt der Preisfall
schon im Jahre 1875 ein und geht weiter, als bei Fleisch; Grund dafür ist,
wie oben bemerkt, die bei den anderen Waren viel raschere Ausdehnung der
Production, die Erleichterung des Transportes und die Auffindung neuer Hilfs-
quellen; das letztere Moment ist speciell beim Getreidehandel von Bedeutung.
Beim Getreide begann die Preissteigerung schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts;
in England hob sich der Preis des Quarters Weizen von jener Zeit bis in die
erste Hälfte unseres Jahrhunderts von 41 Sh. auf 64 Sh., in Berlin galt in der
Zeit von 1650—1700 die Tonne 74V2 Mark, 1851—1880 dagegen 211 Mark;
Hand in Hand damit gieng eine Preisausgleichung resp. Annäherung zwischen
Weizen, Eoggen, Gerste und Hafer vor sich u. z. w^ohl wegen des Eingreifens
des Handels; dieselbe Ausgleichung tritt auch in den Preisen derselben Getreide-
sorte auf verschiedenen Märkten ein. Die Preisgestaltung wurde seither durch
Handel und Zölle beeinflusst; das Jahr 1890 gestaltete seine Getreidepreise auf
Grund schlechter Ernten, der Preis betrug für Weizen in England 148, in
Preussen 190 Mark; im Jahre 1891 stieg in London der Preis ganz bedeutend,
ebenso in Berlin; dies gilt allgemein für vegetabilische Nahrungsmittel; bei den
animalischen liegt theils eine Steigerung, theils eine Senkung vor; der Weizen
notierte 1890 in Berlin per Tonne 195 und 1891 224 Mark, der Eoggen
1890 170 und 1891 211, der Hafer stieg von 158 auf 165, die Kartoffel
von 24 auf 42; in London stieg der Weizen von 1890 — 91 von 31 Sh. per
Quarter auf 37 Sh.; der Hafer stieg von 18 auf 20, Mais von 20 auf 28,
Kartoffel von 70 auf 92. Das Eindfleisch ist in England gestiegen, das Hammel-
fleisch gesunken, in Berlin ist das Eindfleisch gestiegen, das Schweinefleisch
gefallen. Von anderen Waren ist in England von 1890 auf 1891 Zucker etwas
gestiegen, Kaffee im Preise gesunken; Waren, die nicht zu den Lebensmitteln
gehören, sind auffallend gesunken, z. B. Eisen und Baumwolle; ganz ähnliches
gilt für Deutschland.
Herr Wetzler sagt, es sei nicht richtig, dass die Cartelle weniger ge-
fährlich seien, als die Einge; letztere schaden auf die Dauer den Unternehmern
und nützen den Producenten und Consumenten; das Cartell kann den Preis
der industriellen Producte zum Schaden der Consumenten durch Beschränkung
der Production hoch emportreiben, der Eing in Landproducten ist der Witterung
gegenüber machtlos. Die Höhe der Fleischpreise habe ihren Grund in der Kündigung
des Handelsvertrages mit Eumänien und darin, dass wir zu wenig mageres Vieh nach
General- und XXXII. Plenarversammlung vom 2. Mai 1892. 479
Oesterreich beziehen; die Kohlenpreise seien hoch, weil die Transportmittel,
insbesondere Wasserwege fehlen.
Herr Adolf Weiss verficht dem gegenüber neuerdings seine Anschauung
über die Yerderblichkeit der Ringe uud die Unschädlichkeit der Cartelle. Die
Einge mögen allerdings in ihren letzten Consequenzen billigere Preise herbei-
führen, das sei ja natürlich; bis sie aber zusammenbrechen, können sie eine ganze
Production zugrunde richten; ein Beispiel hiefür biete der bekannte Kupferring.
Etwas derartiges ist besonders bei öffentlichen Cartellen mcht möglich.
Der Vorsitzende, Herr Sectionschef v. Inama-Sternegg, dankt nach Ver-
kündigung des Wahlresultates der Versammlung im Xamen der Gewählten für
die Wahl und dem Referenten für seine trefflichen Darlegungen, schliesst die
Discussion, die Versammlung und die gegenwärtige Vortragssaison.
AUS DEM WIENER VEREINSLEBEN.
Uie französische Revolution hat die Yernichtung des alten Staates, den
man den „feudalen Staat" nennt, aber vielleicht richtiger den „Staat der
Corporationen" nennen sollte, am gründlichsten vollzogen, und die schöpferischen
Geister unter den Männern der Revolution, an ihrer Spitze Napoleon Bonaparte,
haben den neuen Staat am einheitlichsten und folgerichtigsten aufgebaut. Ganz
begreiflich daher, dass ein französischer Staatsmann es war, welcher das tiefe
Wort sprach: der Staat der Neuzeit ist mit Entwirrung der Concursmasse der
Corporationen beschnftigt.
Ein solches Stück Arbeit ist beispielsweise die sociale Gesetzgebung. Mit den
mächtigen Markgenossenschaften, Berggenossenschaften, Zünften und Kaufmanns-
gilden brach die innere sociale Organisation der Arbeit zusammen. Mühsam sucht jetzt
der Staat aus den Trümmern wieder ein haltbares Gebäude zu errichten. Wiefern
ihm dies gelingen wird, muss eine nahe Zukunft beweisen. Die Schwierigkeiten
sind jedenfalls gross, da der Staat dabei eine ihm bis dahin fremde Arbeit auf
sich nahm, die einzelnen Theile in der Zeit des Individualismus und Manchester-
thums den organischen Zusammenhang verloren haben, und starke, an dem
Fortbestande des gegenwärtigen lockern Zustandes betheiligte Elemente ent-
standen sind, welche sich gegen die Einfügung in eine feste Gliederung sträuben.
Eine Art Vorarbeit bei dieser staatlichen Aufgabe leisten unter diesen
Umständen die Vereine.
Die organische Kraft, die in den alten Körperschaften keinen Raum mehr
fand, hat sich theilweise in die Vereine geflüchtet, und sie wird voraussichtlich
hier solange wirksam sein und auch viel Gutes leisten können, bis der Staat die
Ziele und Zwecke dieser Vereine als seine eigene Aufgabe erkennt und an sich nimmt.
Vereine sind am wenigsten wirksam in centralisierten, von einer sehr
thätigen und starken Beamtenschaft geleiteten Staaten wie Frankreich. Hier bleibt
für Vereine nur ein geringer Spielraum übrig, während sie zu einer bedeutenden
Rolle gelangen in Staaten, wo noch das Alte mit dem Neuen kämpft und der
noch junge und fast um sein Leben ringende Centralstaat noch nicht zur
feineren Ausarbeitung aller seiner Pflichten und Organe gelangt ist.
Die starke Entwicklung des Vereinswesens in Oesterreich ist daher kein
blosser Zufall. In der That kommt unserem Vereinswesen eine höhere Bedeutung
zu, als anderswo, und wir haben alle Ursache diesem Theile des öffentlichen
Lebens eine gewisse Beachtung zu schenken.
Aus dem Wiener Vereiiisleben. 481
Von dieser Ueberzeugung geleitet, wollen wir auf einige unserer Vereine,
die im öffentlichen Leben eine gewisse Wichtigkeit erlangt haben, in freier Folge
einen Blick werfen. —
I.
Frauen- Er werbverein.
Die Entstehung dieses Vereines fällt in das Jahr 1866, also in eine Zeit wo
Krieg, Eückgang von Gewerbe und Industrie und, daraus entspringend, Noth
und Bedrängnis aller Art die Wiener Bevölkerung heimsuchten. Damals erwuchs
die Erkenntnis, dass nicht der Mann allein berufen sei, die Früchte geistiger und
gewerblicher Ausbildung zu pflücken, sondern dass auch den Mädchen und Frauen
hei ihrem Streben nach redlichem Erwerbe hilfreich beizustehen, eine Pflicht
der besser gestellten und glücklicheren Classen sei.
Die bisherigen Frauenvereine waren der Armen- und Krankenpflege gewidmet.
Mit der zunehmenden Schwierigkeit der Erwerbsverhältnisse und dem Seltener-
werden der Ehen galt es, den Mädchen und Frauen durch besseren Unterricht
und insbesondere durch fachliche Anleitung neue, selbständige Berufswege zu
eröffnen.
Dies Ziel hat der Frauen-Erwerbverein mit nie erlahmender Ausdauer und
mit ungemein richtiger, kaum jemals abirrender Erkenntnis des Nothwendigen
verfolgt und unzweifelhaft bedeutende Ergebnisse erreicht. Er ist das W^erk von
Frauen für Frauen. Nur in Einzelfällen griffen männliche Berather ein, und auch
dies Eingreifen ward im Laufe der Jahre immer seltener nothwendig. Heute sind
Leitung und Ausführung des Unternehmens, das schon zu einer grossen, umfassenden
Anstalt im eigenen Hause herausgewachsen ist, ganz in der Hand von Frauen.
Der Zweck des Vereines ist: Stärkung der Erwerbsfähigkeit durch
Erziehung und Unterricht. Die Erfahrung hat den Verein immer wieder auf
diesen enger begrenzten Wirkungskreis zurückgeführt. Die Versuche, unmittelbar
in das Erwerbsleben einzugreifen (durch Errichtung von Geschäften, Bildung von
Genossenschaften, Verkauf von aussen übernommener Handarbeiten) mussten auf-
gegeben werden.
Das Unterrichtswesen des Vereines gliedert sich nach fünf Richtungen.
1. Höhere Arbeitsschule. Sie hat den Zweck, die Mädchen in geschickter
Handarbeit, als der Grundlage aller weiblichen Thätigkeit, zu unterweisen und
ihnen zugleich ein genügendes Maass allgemeiner Bildung zu vermitteln.
Nach Durchschreiten der Volks- und Bürgerschule finden hier die Mädchen,
welche das 14. Lebensjahr zurückgelegt haben müssen, eine Schule von zwei
Jahrgängen, wo inshesondere Handnähen, Märken, Schlingen, Maschinennähen,
Ausbessern, Stopfen, Zuschneiden der W^äsche und Initialsticken, Feinwäscher-i
und Frisieren sowie daneben als allgemeine Lehrfächer noch Zeichnen, deutsche
Sprache, Rechnen, Geographie und Schönschreiben gelehrt wird.
Man darf dabei nicht an flüchtige Lehrmethode denken. Der Unterricht ist
durchaus ernst und begreift in der W^oche 34 Unterrichtsstunden, wovon 23 auf
Handarbeiten fallen.
482 P^ez.
In den Arbeitsschulen wird alles, was Gegenstand der weiblichen Arbeit
bildet, auf Bestellung gearbeitet, muss also kaufgerecht hergestellt werden.
Nachdem sie die Arbeitsschule zurückgelegt, können die Schülerinnen je
nach Befähigung und Neigung in die Fachschulen des Vereines eintreten, nämlich
in die Handelsschule, in das Atelier für Musterzeichnen und Stick-
schule oder in die Schneidereischule.
2. Handelsschule mit Nebencursen. Der Zweck dieser Schule von
zwei Jahrgängen besteht darin, den Schülerinnen jene kaufmännischen und
comptoiristischen Kenntnisse zu vermitteln, deren sie als Buchführerinnen,
Cassierinnen u. s. w. bedürfen. Ausser den allgemeinen Fächern bestehen Curse
für die französische, englische, und italienische Sprache, ferner Curse für Steno-
graphie, sowie ein praktisches üebungscomptoir.
3. Kunstgewerbliche Schule, bestehend aus einer Zeichenschule mit
dem Atelier für Maltechniken sowde dem Atelier für Musterzeichnen mit Stickschule.
Der Besuch der Zeichenschule bereitet für den Eintritt in eines der beiden
Ateliers vor.
Im Atelier für Maltechniken wird unterrichtet: Oelfarbentechnik, Aquarell-
malen, Malen mit Deckfarben auf Atlas, Seide u. s. w., endlich Schmelzfarben-
technik (Porzellan, Steingut u. s. w.).
Die Schule für Musterzeichnen und die Stickschule haben das selbständige
Erfinden zum Ziel und erheben dadurch bei begabten Schülerinnen die Fertigkeit
zum wirklichen Kunstgewerbe.
4. Die Schneiderschule nebst Modistencurs lehrt Maassnehmen, Schnitt-
zeichnen und Kleidermachen nebst den entsprechenden Putzarbeiten.
Zu diesen rein praktischen Schulen tritt dann noch
f). Das Lyceum, welches man als eine w^ohleingerichtete, sechsclassige
Mittelschule für Mädchen bezeichnen kann.
Es ist dies die einzige derartige Anstalt in Wien, ja in Oesterreich
überhaupt, und als solche füllt sie unzweifelhaft eine starke Lücke aus. Von der
ünterrichtsbehörde wird dies auch vollkommen aneikannt. Das Lyceura steht
unter Patronanz des Unterrichtsministeriums und erhält von demselben eine
ansehnliche Unterstützung, so dass es fast den Charakter einer öffentlichen, nur
vom Frauen-Erwerbverein geleiteten und verw'alteten Anstalt trägt.
Alle diese fünf Schulen sind selbständig; jede bildet in sich ein Ganzes,
wo nur Eines gelehrt wird. Besonders gilt dies von den Fachschulen oder Lehr-
werkstätten. Gerade dadurch sind aber wieder verschiedene Combinationen möglich,
so zwar, dass die Schülerin der Handelsschule zugleich den Curs für Maschinen-
nähen oder die Schülerin der Arbeitsschule den Curs für Stenographie besuchen
kann, — alles nach dem Bedarfe der einzelnen Schülerin.
Wie sich schon aus dem Angeführten ergibt, kommen die Mädchen sehr
verschiedener Volksclassen in dem allgemein beliebten und geschätzten Hause (Eahl-
gasse Nr. 4) zusammen. Während das Lyceum von den Mädchen der gebildeten
Classe besucht wird, stellen sich in den Nähschulen auch Mädchen der ärmsten
Classen ein, welche aus den entlegentsten Bezirken der Grosstadt, wie Zwischen-
brücken und St. Yeit, in den Verein eilen.
Aus dem Wiener Vereinsleben. 483
Dem entsprechend sind auch die Preise gestellt. In dem Lyceum kostet
das Schulgeld im Jahre 90 Gulden ; dagegen ist der Unterricht im Handnähen
(ünterrichtsdauer 11 Monate, täglich mehrstündig) unentgeltlich. Ebenso im
Maschinennähen und Wäschezuschneiden (6 Monate, täglich mehrstündig). Nicht
minder können im Maschinenstricken, Feinwäscherei und Sticken die Mädchen der
ärmeren Classe sich unentgeltlich die nöthigste Fertigkeit erwerben.
In der höheren Arbeitsschule beträgt das Schulgeld jährlich 50 Gulden,
in der Handelsschule 60 Gulden, in der Zeichenschule je nach dem Curse
27 — 80 Gulden.
Mancherlei Stipendien, überwiegend von Damen des Vorstandes selbst
gestiftet, erleichtern noch den Aermeren den Zutritt zu den höheren Cursen oder
eine gründlichere Durchbildung.
Da das Schulgeld möglichst nieder gehalten wird, sind, mit Ausnahme des
(reichlich von der Unterrichtsbehörde subventionierten) Lyceums, alle einzelnen
Schulen passiv. So hatten im Jahre 1891 die Arbeitsschule und Handelsschule
einen Ausfall von rund 3700 Gulden, die Zeichenschule von 400 Gulden, die
Nähstube von 3000 Gulden, die Feinwäschereischule von 1100 Gulden, die
Schneiderschule von 530 Gulden, die Maschinenstrickschule von 580 Gulden
und der Friseurcurs von 2.2 Gulden. Zur Deckung dieser Zuschüsse an die
Schulen dienen die Mitgliederbeiträge (3600), Spenden (1500) und Subventionen
(1000) sowie Zinsen vom Eeservefonde (1900). Dass der Verein in guter Zeit sich
ein eigenes Haus zu erwerben wusste, erleichtert ihm seine Thätigkeit ungemein.
Ausgaben und Einahmen halten sich mit je 23.000 Gulden das Gleichgewicht.
In der Zeit seines Bestehens (25 Jahre) hat der Verein eine grosse Zahl
von Schülerinnen ausgebildet. Das Nähere darüber ergibt nachfolgende Zusammen-
stellung :
Nähstuben 5.595 I Mädchen-Lyceum 1.417
Zeichenschule 627 ; Höhere Arbeitsschele (2 Classen) . 798
Handschuhnähen 172 Atelier für Musterzeichnen .... 25
Handelsschule 1.300
Wiederholungsschule 289
Französische Sprachschule (4 Classen
und Conversationscurse) .... 2.608
Telegraphie-Curse 287
Englische Sprachschule (3 Classen
und Conversationscurse) .... 1.066
Frequentantinnen einzelner Fächer
der höheren Bildungs- und höheren
Arbeitsschule 221
Vorbereitungsschule 130
Schneidereischule 876
Spitzencurs 143
Stenographische Lehrcurse .... 328
Feinwäschereischule 1.024
Atelier für kunstgewerbliche Maltech-
niken' 96
Lehrcurse für Stickerei 322
Modistencurs 168
Italienische Sprachschule 43
Frisiercurse 35
Zusammen .... 17.520
Insgesammt haben demnach 17.520 Mädchen in den Schulen des Frauen-
Erwerbvereines ihre Ausbildung erlangt, und sowohl die Mädchen selbst, als auch
ihre Eltern, die Stadt Wien, der österreichische Gewerbfleiss und alle an der
Blüte des letzteren betheiligten Mächte müssen dem Vereine dafür Dank wissen.
In runder Summe treten jährlich 800 Mädchen aus dem Vereine, gestärkt
und gekräftigt zum Kampfe um's Dasein.
484 Pe^z-
Obwohl der Verein bisher keine eigentliche Stellenvermittlung übt, fanden
doch bisher schon durch Empfehlung des Vorstandes zahlreiche Mädchen und
Frauen ein Unterkommen. In dieser Hinsicht besteht noch eine Lücke; von jenen
Vereinen für Arbeitsvermittlung, in welchen männliche Arbeiter den entscheidenden
Einfluss haben, werden Mädchen und Frauen grundsätzlich abgewiesen. So wird der
Frauen-EiTN^erbverein wahrscheinlich mit der Zeit genüthigt sein, auch die Stellen-
vermittlung ausdrücklich in den Bericht seiner Pflichten einzubcziehen.
Jede Erweiterung seiner Thätigkeit wird aber jetzt in hohem Grade dadurch
erschwert, dass das eigene Haus des Vereines bereits für seine ausgedehnten
Zwecke zu klein wird.
Dies ist auch ein mitwirkender Grund, dass der Verein Kochen und Führung
des Haushaltes noch nicht selbständig pflegte, sondern dem Wiener Hausfrauen-
Verein und (soweit Arbeiterinnen ins Spiel kommen) dem Volksbildungs verein,
Zweig Wien, überlassen hat.
Zur Erschliessung neuer Erwerbszweige für Frauen und Mädchen ist der
Verein wiederholt wirksam gewesen. Die Verwendung von Mädchen in der Telegraphie
ward durch ihn ermöglicht. Er hat drei Jahre lang die Ausbildung der Telegra-
phistinnen übernommen, solange bis der Staat selbst in diese Aufgabe eintrat.
Dagegen ist es jetzt — nach manchen ernstlich und liebevoll unternommenen,
aber stets missglückten Versuchen — ein fester Grundsatz des Vereines, von Geschäfts-
gründungen oder Bildung von Genossenschaften abzusehen. Eine bloss theoretische
Auffassung unterschätzt regelmässig die Bedingungen, die zur Pflanzung eines
solchen Keimes erforderlich sind. Dazu gehört eine Berücksichtigung der indivi-
duellen Verhältnisse, ein Anpassen an Gegebenes, und eine Erkenntnis aller
Gefahren und zugleich eine Festigkeit des Willens, die nur im Gefühle der
persönlichsten Verantwortlichkeit wurzeln können. Daher hat der Verein sich mehr
und mehr darauf beschränkt, die Kräfte der Einzelnen durch Errichtung und
Ausbildung zu stärken, das Eingreifen in's praktische Leben selbst jedoch diesen
Einzelnen anheimzustellen. — eine Lehre, die nicht bloss bei der Frauenbildung,
wenn auch vielleicht bei dieser in besonderem Grad, Beachtung verdient.
In dem Wiener Frauen-Erwerb-Vereine wirken zahlreiche männliche Lehr-
kräfte, allein stets unter Controle der Damen des Vorstandes. Die letzteren leiten
den Verein, führen die Bücher, schreiben die Veröffentlichungen des Vereines,
halten die Vollversammlungen ganz selbständig ab; kurz, die Mitwirkung von
Männern, anfangs sehr erwünscht, ist fast ganz überflüssig geworden. Damen
aller gebildeten Classen gehören dem Vorstande an, wobei allerdings Glück und
eigene Einsicht der Damen den Verein mit trefflichen Präsidentinnen ver-
sorgte. Eine grosse Summe von Arbeit liegt im Vereine, bis er, mit bescheidenen
Mitteln, endlich seine jetzige Blüte erreichte, und noch grösser ist die Summe
segensreicher Arbeit, die von dem Vereine durch Lehre und Beispiel gepflanzt,
erzogen und zur Bethätigung im praktischen Leben geführt ward.
Dr. A. P.
EINE ALTE WIENER HAüSINDUSTKIE.
VON
DH- EUGEN SCHWIEDLAND.
JJer nachfolgende Auszug aus dem Actenmaterial verschiedener Wiener
Archive und Kegistraturen bildet einen Nachtrag und eine Exemplification
zu meiner Darstellung der „Entstehung der Hausindustrie" in Heft I. dieser
Zeitschrift. Durch seine Veröffentlichung ist indes nicht bloss beabsich-
tigt, eine actenmässige Bestätigung zu manchen dort aufgestellten Behaup-
tungen zu erbringen; er besitzt auch sonst Interesse, u. zw. in dreifacher
Hinsicht.
Zunächst finden sich darin einige Mittheilungen über die Verbreitung
der Hausindustrie in Wien zu Ende des vorigen Jahrhunderts; sodann
zeigt sich zur Klarheit, dass die Ursachen der Entstehung des Sitzgesellen-
wesens in der Zunftzeit die nämlichen waren, welche auch heutzutage die
Heimarbeit neben dem Werkstättenbetriebe befördern; endlich erhellt aus unserem
Material die behördliche Auffassung dieser Entwicklung; es ist die gleiche
doctrinäre Beurtheilung der Dinge, welche in so vielen anderen Fällen aus
dem Mangel der natürlichen Anschauung entspringt, aber von den Vorurtheilen
der Zeit getragen wird und anderseits den Schlagworten dieser weittragende
Unterstützung leiht.
Die wenigen in den zahlreichen Wiener Archiven noch erhaltenen ein-
schlägigen Acten geben am reichlichsten über die jg^imarbeit der Wiener
Strumpfwirker zu Ende des vorigen Jahrhunderts Auskunft. Die ledigen Wirker-
gesellen — man unterschied Woll- und Seidenwirker — wohnten damals, wenn
nach den Verhältnissen zu Beginn unseres Jahrhunderts geurtheilt werden kann,
bei den Meistern, wo sie auch die Verpflegung fanden. Die Heimarbeit entwickelte
sich nun, indem einzelne Meister Gesellen, die eigene Wohnungen hatten,
einen Stuhl dort aufstellten; die Gehilfen erhielten nach wie vor vom Meister
das gespulte Garn und lieferten ihm das gewirkte Zeug, wie es vom Stuhle
kam, in nicht zusammengenähtem Zustande ab; sie führten also bloss Gesellen-
4 g (5 Schwiedlaiid,
arbeit aus, jedoch tliaten sie das bei sich daheim. Ein solcher bei sich mit
Arbeit verlegter Greselle war kein Stöhrer, denn er war befugt, für einen Meister
zu arbeiten und dieser, ihn zu beschäftigen.^)
Da fasste nun die Innung der Wiener bürgerlichen Strumpfwirkermeister im
Jahre 1792 den Beschluss. es dürfe künftig kein Meister einem Gesellen einen
Arbeitsstuhl „ausser Haus", d. i. in dessen Wohnung aufstellen, jeder Meister
sei vielmehr verhalten, alle Stühle in seiner Werkstätte zu betreiben, mithin
Stühle, die er bei Gesellen hätte, zurückzunehmen.
Diese üebung, Gesellen als Heimarbeiter anzusetzen, war damals in Wien
sehr verbreitet. Sie fand bei den Wirkorn beider Arten statt (deren Erzeugnisse
Geldbeutel, ferner Handschuhe, Schlafmützen und Strümpfe, Westen und Säcke,
d. i. gewirkte Stoffe waren, aus welchen die Schneider — z. B. für die verschieden-
farbige ungarische Magnatentracht — Beinkleider anfertigten), sie bestand bei
den Strickern, den Posamentierern, den Seidenzeugmachern, den Baum- und
Schafwoll-, sowie bei den Leinenwebern, ja sogar bei den Uhrmachern,^) und die
Drechsler stellten ebenfalls bereits Drehbänke in den Wohnungen verheirateter
Gesellen — die also weder beim Meister, noch bei einem Eettgeber wohnten — auf.
Im Jahre 1792 erliess sogar der Magistrat mit Beziehung auf die ühren-
und L'hrgehäusearbeiter eine Verordnung, welche jene Gesellen, die in ihrer
Wohnung für ihre eigene Rechnung oder für andere als für bürgerliche oder
befugte ^) Uhrmacher arbeiten, mit der Strafe der Stöhrer, nämlich mit der
Confiscation des Werkzeuges, bedroht;^) vielmehr habe sich ein Geselle, der zu
Hause thätig ist, mit einer förmlichen von dem beschäftigenden Meister unter-
zeichneten Bestellung auszuweisen, sonst werde ihm im wiederholten Falle das
Werkzeug genommen und alle fernere Arbeit zu Hause unnachsichtlich einge-
stellt,^) und spätere Verordnungen wiederholten diese Forderung der Ausweis-
leistung des daheim arbeitenden Gesellen.
Trotz dieser Anerkennung des Eechtes der Meister, sich in der örtlichen
Verwendung der Gesellen keiner Beschränkung zu fügen, sah sich — durch welche
Ursache ist aus den allenthalben in Massen und ohne Urtheil scartierten Acten
nicht zu ersehen — der bürgerliche Drechslermeister Jos. Dreyer in den ersten
Jahren des letzten Decenniums veranlasst, durch ein Hofgesuch das Recht für
') Die gewerberechtliche Stellung der Stöhrer ist genau die jener heutigen
Gesellen, welche bei sich daheim (anstatt für Meister) für Händler oder gewerbsmässig
unmittelbar für Consumenten arbeiten.
2) Diese wurden in „grosse" und „kleine" unterschieden; während die letzteren
aus der Schweiz bezoge^^Bestandtheile zu Taschenuhren zusammenstellten, auch fertige
Taschenuhren repassierten und beschädigte reparierten, erzeugten jene die Pendel-,
Stand- und Thurm-Uhren. Das im Text Gesagte bezieht sich auf die Klein Uhrmacher
allein. — Noch heute bestimmen die Statuten der Genossenschaft der Uhrmacher in
Wien (§. 7), der Meister habe die Aufnahme und Entlassung seiner Gehilfen oder Lehr-
linge, „ohne Unterschied, ob er sie in seiner Werkstätte oder ausserhalb derselben mit
Arbeit versieht," bei der Genossenschaft zu melden.
3) Befugte = Schutzverwandte, S. S. 5.
*) Repertorium der Registratur des Wiener Magistrates, 1792, Band II.
^) Eingetragen im Repertorium der Wiener Ulirmacher-Genossenschaft im Jahre 1792.
Eine alte Wiener Hausindustrie. 437
sich zu erbitten, seinen Gesellen Arnold Scliopper „bei Hause mit geringer
Arbeit verlegen zu dürfen". Dieses Begehren wurde indes am 23. December 1795
nach vorhergegangenen Erhebungen, von denen die Spur ebenfalls nur mehr in
späteren Acten zu finden ist, mit dem nachfolgenden normativen Decrete der
Hofkanzlei abschlägig beschieden: ^)
-Bei den zunftmässigen Innungen ist es der Ordnung und ihrer Verfassung
gemäss, dass die Gesellen in den Werkstätten der Meister, und nicht
in ihren Wohnungen arbeiten sollen, weil im entgegengesetzten Palle die
Gelegenheit zu Stöhrerey gegeben werden würde, und mehrere Gesellen mit armen
Meistern sich verstehen, sich mit ihnen abfinden, und unter dem Yorwande für
dieselben zu arbeiten, solches für eigene Eechnung auf eine unbefugte Weise
thun könnten." ^) Hiemit war die Hausindustrie rechtlich abgeschafft.
Eben im Jahre 1795 hatten aber auch, mit dem Zwange unzufrieden,
welchen der eingangs erwähnte Innungsschluss bei den Strumpfwirkern
begründete, die drei Meister Johann Bull, Anton Wittich und Benedict
Schropp bei der Landesbehörde um dessen Aufliebung und um die Erlaubnis
gebeten, auch künftighin Stühle für ihre Eechnung in die Wohnungen der
Gesellen stellen zu dürfen.
lieber dieses Begehren untersuchten die Wiener Stadthauptmannschaft
gemeinschaftlich mit der nieder-österreichischen Fabrikeix-Inspection ^) die Verhält-
nisse und auf Grund ihres Berichtes wies die Landesregierung die Meister aus
dem Grunde ab, weil der grössere Theil der Meisterschaft jene Anordnung
nützlich befunden und vor der Commission erinnert habe, dass die «Ausserhaus-
gebung der Arbeitsstühle Missbräuche und Stöhrereyen nach sich ziehe'', ja, ein
Meister sich sogar habe „beigehen lassen", ein falsches Zeugnis seinem Gesellen
auszustellen, als ob er für ihn arbeite, da der Gesell in Wirklichkeit doch auf
') Eegistratur der k. k. n.-ö. Statthalterei.
''■^) Li demselben Sinne beschloss eine Verordnung der n.-ö. Landesregierung vom
1. Aug. 1802: „Da bei den Kleinuhrmachern der Gebrauch besteht, dass der Gesell
seinen Werkzeug besitzen muss, und da der vorzüglichste Erwerb der Uhrmachermeister
in der Keparatur der Uhren besteht, welcher ihnen von den zu Hause arbeitenden
Gesellen ganz genommen würde,, weil hierüber keine Aufsicht und keine Controle
bestehen kann, sobald sie zu Hause arbeiten, und ihre Werkzeuge bei sich zu haben
berechtigt sind, so könne demnach bei dem Uhrmachergewerbe das Verlegen der Gesellen
mit Arbeit in ihrer eigenen Wohnung, ohne besonderer obrigkeitlicher Bewilligung, bei
der gegenwärtigen Zunftverfassung nicht gestattet werden. Wornach daher der Magistrat
die Hofbittsteller zu verständigen und das weiters Nöthige zu verfügen hat." (S. 302 des
Xormalienbuches in Politicis 1795— 1801 des Wiener Magistrates. Die bezüglichen Acten
wurden bei allen Instanzen, gleich so vielen anderen, vernichtet.)
3) Die k. k. Fabriken-Inspection wurde in Nieder- 0 esterreich i. J. 1772 errichtet
und i. J. 1810 neu organisiert, wobei ein Inspector und zwei Inspections-Commissarien
dem nöthigen Kanzleipersonale vorstanden. Aehnlich dem deutschen Fabriksinspectorate
des vorigen Jahrhunderts (vgL Schanz, Zur Geschichte der Colonisation und Industrie
in Franken, S. 106) bildete diese Institution ein Organ der „Gewerbepolizei'' (im höheren
Sinn), war aber keineswegs von socialpolitischem Charakter. Vrgl. Kopetz, Allg. üsterr.
Gewerbs-Gesetzkunde, Wien 1829, I. S. 109, Mataja, Die österr. Gewerbe -Inspection
(in Conrads Jahrbüchern, März 1889) und den Aufsatz von Steinbach „Arbeiterschutz-
gesetzgebung in Oesterreich" in Conrads StaatswOrterbuch.
488
Scliwiedland.
eigene Kechnung stöhrte. — Zugleich wurde jedoch dem Magistrate erinnert,
dass, da ihm nicht unbevrusst sein könne, dass derlei Innungsschlüsse vermöge
mehrerer Verordnungen unstatthaft sind, er auch diesen Schluss nicht hätte
bestätigen sollen.
Infolge dieser Regierungs-Yerordnung vom 27. October 1795, welche dem
normativen Hofdecrete über das Gesuch des genannten Drechslermeisters noch
vorangieng, ersuchte nun die Meisterschaft im Jahre 1796, es möge auch der mit
einem Fabriksbefugnisse betheilte Wirker Karl Danopp verhalten werden, seine
Stühle nach Hause zu nehmen. Dem Vorlageberichte des Magistrates entsprechend
wies aber die Landesregierung dieses Begehren unter Hinweis auf das vorcitierte
Hofdecret vom 23. December 1795 ab, da das letztere bloss das Arbeiten der
Gesellen zunftmässiger Innungen bei sich zu Hause verboten habe; wo eine
fabriksmässige Befugnis eintritt, sei es unräthlich, solchen Zwang einzuführen,
weil dergleichen Fabrikanten ihre Gesellen oft nicht zu Hause unterbringen
können, diese folglich, wenn sie täglich zur Arbeit kommen müssten, mit dem
Hin- und Hergehen viel Zeit verlören und weil endlich der Stöhrerei durch Vor-
sichten — dass nämlich der Stuhl dem Fabrikanten eingenthümlich gehören
und dieser dem Gesellen ein Zeugnis ausstellen müsse, dass er für ihn arbeite,
— hinlänglich vorgebeugt werde.
Hier ist in der gewerberechtlichen Construction die erste gewerbepolitische
Verkehrtheit vorhanden, indem übersehen wird, dass was da dem „Fabrikanten"
zugesprochen, dem „Meister" aber versagt wird, jenem ein entschiedenes ökono-
misches Uebergewicht auf Kosten des letzteren gewährt; es macht sich zum
erstenmal eine doctrinäre Auffassung der Dinge aus Mangel an Anschauung geltend.
Es sollte aber für die dem Sitzgesellenthum feindliche Meisterschaft noch
schlechter kommen; allerdings nicht fürs erste; vor ihrer endgiltigen Niederlage
war ihr noch ein Sieg beschieden. Mit dem Hofdecret vom 3. November 1796
wurde nämlich der Eecurs des Bull gegen die ihm ungünstige Verordnung der
Nieder-österreichen Regierung abgewiesen und bei dieser Gelegenheit angeordnet,
auch dem Meister Danopp, dem die Regierung solches erlaubt, die Ausserhaus-
gebung der Arbeitsstühle einzustellen, (lieber die Motive dieser zunftfreundlichen
EntSchliessung fehlt bedauerlicherweise jede Aufklärung; die sämmtlichen bezüg-
lichen .Verhandlungsacten sind gleichfalls verschwunden und das Decret selbst
ist bloss aus einem Citate in späteren Acten bekannt.)
Hierauf folgt (1797) ein Revisionsbegehren, eine „Vorstellung bei Hofe" seitens
Danopps, über die nach eingeholtem Berichte der Landesregierung (2. März 1799)
der Entscheid ergeht, dass Danopp als Besitzer eines Fabriksbefugnisses an den
Innungsschluss der Meisterschaft, zu der er nicht gehöre, nicht gebunden werden
könne, es folglich von der Hofverordnung vom 3. November 1796 wieder abzu-
kommen habe und ihm ferner unbenommen bleibe, Stühle ausser Hause zu haben.
Damit war endgiltig zweifaches Recht geschaffen, zunächst ein anderes für
Meister und für Fabrikanten, sodann ein verschiedenes innerhalb des Handwerkes
selbst, indem ja das Verbot des Hausgesellenthums vom 23. December 1795 seinem
Wortlaute nach auf Gewerbe, die nicht in eine Zunft gegliedert waren, ebenfalls
keine Anwendung fand.
Eine alte Wiener Hausindustrie. 439
Allein auch soweit es Geltung behielt, wurde es von einem Theile der
Meisterschaft bekämpft.
Der Strumpfwirkermeister Bull hatte nämlich gegen seine Abweisung vom
3. November 1796 gleichfalls eine wiederholte „Yorstellung bei Hofe" eingebracht.
Hierauf forderte die Hof kanzlei (1797) für den Fall, wenn neue rücksichts-
würdige Behelfe vorkämen, ein weiteres Gutachten von der Landesstelle. Diese
ordnete die nöthigen Erhebungen an.
Von den hiermit beauftragten Behörden beantragte der Wiener Magistrat,
nach nochmaliger Anhörung der Meisterschaft, gleich wie früher die Abweisung
des Bull.
Anders der nieder-österreichische Fabriken -Inspector. Dieser weicht am
11. März 1801 von seiner im Jahre 1795 abgegebenen Meinung ganz ab und
räth nunmehr, unter gewissen Vorsichten — dass der Meister einem Gesellen
nur einen Stuhl anzuvertrauen, dieser Stuhl stets Eigenthum des Meisters zu
bleiben und der Meister dem Gesellen zugleich ein schriftliches Zeugnis, dass er
für ihn arbeite, auszustellen habe — auf die Grewährung des Gesuches und
demgemäss auf die Aufhebung des bestehenden Innungszwanges ein. Der Innungs-
schluss, worauf der Zwang beruht, sei nach der Auffassung mehrerer Meister
von dem seinerzeitigen Innungsvorsteher bloss durch die listige Vorspiegelung
bewirkt worden, dass auch die Schutzverwandten (=i Schutzbefugten, die mit einer
Befugnis zu selbständiger Arbeit ohne Hilfskräfte versehenen Gewerbegenossen),
die fabriksmässig und Landes-Befugten, dann diejenigen Strickermeister, welche
auch W'irkergesellen halten durften, gleichfalls zur Zurücknahme ihrer Stühle
nach Hause würden verhalten werden — wovon aber die Erfahrung das Gegen-
theil gelehrt habe; bei mehreren anderen Innungen (den Seidenzeugmachern,
Posamentierern, Baum- und Schafwoll- und Leinenwebern) sei der Zwang abge-
schafft worden und alle diese geben bereits seit langer Zeit ihren vertrauens-
würdigen Gesellen Stühle in ihre W^ohnnng, wie diese Uebung auch bei den
fabriksmässig Befugten, dann Landesfabrikanten und den bürgerlichen
Strickermeistern, die alle mit den Wirkern eine gleiche Beschäftigung treiben,
gleichfalls fortbestehe; bei Fortdauer des Zwanges würden die verheirateten
besten Gesellen die Wirkmeister verlassen und zu den Fabrikanten und Stricker-
meistern übergehen, bei denen dieser auf Innungsschluss beruhende Zwang nicht
bestehe; die Gesellen verlieren mit dem Hin- und Hergehen in die Werkstätte
der Meister viel Zeit und nützen dadurch ihre Kleidungstücke mehr
ab, wo sie hingegen, wenn sie zu Hause arbeiten dürften, auch Gelegenheit
hätten, bei Krankheitsfällen und sonst ihrer Familie mehrfach Hilfe zu leisten
und die hierauf verwendete Zeit leicht hereinbringen könnten; ferner sei
der Zwang der Erweiterung der Beschäftigung und Fabrikation höchst
hinderlich; die Unterbringung mehrerer Stühle beisammen erfordere grössere
Wohnungen, die, ausserdem dass der höhere Zins die Waren noch mehr
vertheuert, auch nur sehr schwer aufzufinden seien, da die meisten Hauseigen-
thümer viele Stühle zusammen wegen ihrer Schwere und des durch sie verur-
sachten Getöses nicht gern in ihre Häuser nehmen, wogegen die verheirateten
Gesellen jeder leicht einen Stuhl in ihren Wohnungen unterbringen können;
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. III. Heft. 32
490 Schwiedland.
endlich sei der Stöhrerei durch die vorgeschlagenen Yorsichtsmaassregeln und
dadurch, dass der Stuhl einem unordentlichen Gesellen sogleich wieder abge-
nommen werden kann, hinlänglich vorgebeugt.^)
r'nter diesen Gründen sind jene Umstände zutreffend angegeben, vermöge
welcher die hausindustrielle Erzeugung eine ökonomischere Betriebsform darstellt,
als das Handwerk und die Fabrik. Der Meister erspart durch sie Anlagecapital
und kann den Betrieb mit geringen Mitteln ins Ungemessene erweitern ; er bedarf
hiezu nicht mehr festes Capital, als die Arbeitsmittel darstellen, welche er dem Heim-
arbeiter übergibt, und nicht mehr umlaufendes, als die Anschaffung des Eohstoffes
und die jeweilige Löhnung am Zahltag erfordern. Freilich gelangt er, wenn
er im Vergleich zu seinen Mitteln zu viele Heimarbeiter beschäftigt, leicht bei
der ersten Stockung des Absatzes in eine Abhängigkeit vom Händler, welche ihn
des Profites enteignet, den er vom hausindustriellen Betriebe erhofft.
Der Gesell seinerseits ist allerdings bei Weib und Kind daheim und kann
dann beliebig lang arbeiten, allein die prekäre Lage des Meisters drückt sich
naturgemäss auch in seinen Verhältnissen deutlich aus : sobald jener (materiell)
zum blossen Factor des Händlers wird, in dessen Händen der Absatz ausschliesslich
ruht, übt der „Meister" infolge des Druckes, der auf ihm lastet, gleich jedem
anderen Einkäufer oder Fergger, die Function einer lebenden Lohnschraube
gegenüber seinen Gesellen. Nun wird der aus Erwerbssinn freiwillig verlängerte
Arbeitstag zur normalen Einrichtung, ohne dass aber die Löhne eine aus-
kömmliche Existenz gewährleisten würden.
Doch, abgesehen davon, dass sich die Lage des Hausgesellen mit der
Abhängigkeit des Meisters verschlechtert, wird sie anderseits auch durch die
Lage seiner Arbeitsgenossen nachtheilig beeinflusst: bei steigender Conjunctur
wird der Lohn vermöge der risicolosen Ausdehnung des Betriebes seitens der
Unternehmer niedrig gehalten — bei Krisen hingegen erreicht die Concurrenz
der durch die Leichtigkeit der Betriebserweiterung vermehrten Schar von Hilfs-
kräften ihren Höhepunkt, und die Löhne fallen bis zum Existenzminimum der
mindestbedürftigen unter den frei gewordenen Kräften I-)
Das sind die wahren Segnungen der Hausindustrie,^) sie stellen sich
auch dort ein, wo es sich, wie bei den Strumpfwirkern, um ein in hohem Maasse
') Das Spulen des Garnes und Zusammennähen des gewirkten Stoffes wurde da-
mals von den Frauen und Dienstmädchen der Meister in den Abendstunden besorgt;
zum Spulen wurden auch Lehrjungen verwendet; die hausind astriell beschäftigten Gesellen
erhielten nach der Mittheilung alter Meister auch in den dreissiger Jahren vom Meister
das Garn gespult und lieferten den Stoff ungenäht ab, so dass ihrerseits keine Heran-
ziehung ihrer Angehörigen zur gewerblichen Arbeit erfolgte.
-) Zu dem gegenseitigen Unterbieten der Arbeiter tritt in manchen Branchen auch
der Lohndrack infolge der Concurrenz der Gewissenlosigkeit, den jene
Unternehmer veranlassen, deren Hauptgeschäft, wie ein Autor sagt, „im Plaitemachen
besteht" (siehe die Schilderung A. L e h rs, Die Hausindustrie in der Stadt Leipzig,
Leipzig 1891, S. 68), ferner der Einfluss der Concurrenz der Nebenarbeit,
d. i. die Concurrenz solcher, die eine erwerbsmässige Arbeit um jeden Preis übernehmen,
weil sie nur zur Vermehrung des Taschengeldes dienen soll.
3) Wie sich aus der vorletzten Note ergibt, nahm bei den Strumpfwirkern die
Familie des Heimarbeiters in Wien an den jrewerblichen Arbeiten nicht tlieil. Oft theilt
Eine alte Wiener Hausindustrie. 491
gelerntes Gewerbe handelt. Freilich hemmt der Umstand, dass ein Lehrling nach
drei- bis vierjähriger Verwendung noch kein tüchtiger Geselle wird, die Entwicklung;
in der alten Zunft betrug die statutenmässige Lehrzeit 5 Jahre, wenn der Lehr-
junge beim Meister verpflegt, von ihm gekleidet wurde, und 4 Jahre, wenn er
die Kosten der AYohnung, Beköstigung nnd Bekleidung selbst trug^); allein wenn
auch die technische Schwierigkeit eines Gewerbes den Process seiner haus-
industriellen Zersetzung verlangsamt, sind gleichwohl die Folgen des Systems
für die Lage der Meister und der Gesellen allenthalben mit erschreckender
Klarheit zu sehen. Entsprechend der Beförderung, welche die Entwicklung der
Hausindustrie aus der Freiheit in Handel und Gewerbe und der Erleichterung
des Verkehrs im letzten halben Jahrhundert zog, treten heute auch die, aus
der Eegellosigkeit und Anarchie der hausindustriellen Production sich ergebenden
Krisen häufiger und heftiger ein als jemals. Vom Druck der Concurrenz zwischen
den Händlern, wie zwischen den Heimarbeiter beschäftigenden Gewerbegenossen
abgesehen, ist trotzdem für den einzelnen Meister die unmittelbare Verlockung,
zu jenem verhängnisvollen Betriebssystem zu greifen, das nur Wenigen zum Wohl-
stand verhalf, grösser als vor einem Jahrhundert, Der Hausgesellen verlegende
Meister vermindert heute seine Productionskosten in noch namhafterer Weise,
als zuvor in den Acten geschildert wurde; neben den genannten „Vor-
theilen", ferner ausser der Ersparnis an Beleuchtung und Heizung, und ausser
der geringen Widerstandsfähigkeit einer isolierten, von jeder Krise äusserst
empfindlich getroffenen Arbeiterschaft gegen Lohndruck, kommen für den Meister
noch in Betracht : die Ersparnis bei Abnützung von Werkzeugen (deren Be-
schaffungskosten vielfach auf den Arbeiter abgewälzt werden), oftmals ein Ersparen
der Kranken- und insbesondere der Unfall -Versicherungsbeiträge-) und endlich
stets namhafte Vortheile in Hinsicht der Besteuerung. Es sind uns Verleger
bekannt, die siebzig und mehr Hausgesellen unterhalten und die gleiche Erwerb-
steuer entrichten, wie Meister mit bloss drei bis fünf Hilfskräften in der
W^erkstatt — ohne dass übrigens diese Fälle das krasseste Beispiel der heutigen
ungerechten Besteuerungsverhältnisse im Gewerbe wären !
Doch, um nach diesem Blick auf die Gegenwart in die behandelte Epoche
zurückzukehren, unser Beispiel ist auch in Bezug auf die Vorstellung lehrreich,
jedoch der ganze Hausstand des Hausindustriellen dessen Beschäftigung und drückt da-
durch den Lohn. Die Kinder insbesondere, deren Hinzuziehung zur Arbeit so oft damit
vertheidigt wurde, dass sie die Einnahmen des Arbeiters in toto vermehrt, werden
dadurch, dass sie, anstatt sich in der freien Luft zu tummeln, bei Tage in den Arbeits-
zimmern sich aufhalten, bei Xacht darin schlafen und gewerblich arbeiten müssen, in
Wahrheit nur frühzeitig ausgebeutet und für alle Zukunft ruiniert.
1) Bei der Wiener Genossenschaft der Wirkwaren -Erzeuger beträgt die Lehrzeit
heute zwischen zwei und vier Jahren.
2) In der Praxis hängt es vielfach von der Zahl der Arbeiter eines Betriebes ab, ob dieser
zur L'nfallversicherung herangezogen wird (vgl. meine Bemerkungen über die Bedeutung der
Arbeiterzahl für den rechtlichen Begriff der gewerblichen Betriebe inOesterreich in Schmollers
„Jahrbuch", 1891, S. 1252, und §. 1 des Unfallversicherungsgesetzes vom 28, Dezember 1887»
R.-G.-Bl. Nr. 1 ex 1888, sowie die Erläuterungen hiezu, E.-G.-Bl, Nr. 35 ex 1888), während
die Krankenversicherungspflicht jeden Meister schon im Sinne der Gewerbe-Ordnung trifft
(§§. 106 und 107, sowie 121 des Gesetzes vom 15. März, E.-G.-Bl. Nr. 39).
32*
492 Schwiedland.
welche die damalige Zeit von einer Fabrik hatte. Die Vereinigung der Werk-
stühle und Arbeiter in einem besonders dazu eingerichteten Gebäude oder Wohn-
raum gehörte gar nicht zu ihrem Begriff, und während man einerseits die Haus-
industrie nur aus dem Gesichtspunkte beurtheilt, ob sie der gesetzlich untersagten
Stöhrerei Vorschub leisten könnte, erblickt man anderseits in der Beschäftigung
der zerstreut wohnenden Arbeiter sogar in manchen Beziehungen einen Vorzug
gegenüber ihrer Vereinigung. Da wird der Ausspruch des Prager Professors
der politischen Wissenschaften und Gesetzkunde, Kopetz, klar, der da sagt:
„Wenn daher Jemand sein Vermögen dazu verwendet, den rohen Stoff
einzukaufen, damit ärmere Meister zu verlegen, und die von denselben
verfertigten Waaren weiter abzusetzen, so verdient ein solches Ver-
fahren wirklich schon die Benennung eines fabriksmässigen Betriebes,
auf welchen, im Falle grösserer Bedeutenheit selbst das Landes-
Fabriksbefugnis mit den zuständigen Eechten und Vorzügen (1!) ver-
liehen werden kann." ^)
Doch eilen wir der sich allmählich entwickelnden Erkenntnis nicht so rasch
voraus und kehren wir zu unserem administrativen Process zurück.
Während der Fabriken-Inspector für Nieder-Oesterreich noch seine der Haus-
industrie günstigen Erwägungen in sich reifen liess, hatte, im Jahre 1798, auch
der Geselle Johann Dröbinger durch einen Kanzlisten der Fabrikeninspection
ein Gesuch im Kamen der verehelichten Strumpfwirkergesellen verfassen lassen,
worin sie die Nieder-österreichische Regierung um die Erlaubnis bitten, in ihren
Wohnungen für die Meister arbeiten zu dürfen.
Die Gründe, die hiefür geltend gemacht werden und zum Theile in dem
späteren Gutachten des Fabriken-Inspectorates, das vorstehend mitgetheilt wurde,
wiederkehren, sind, dass die verheirateten Gesellen mit dem Hin- und
Hergehen viel Zeit verlieren, in ihrer Wirtschaft wegen der Abwesenheit von
ihrer Familie zurückgesetzt (gleichsam nicht als sorgsame Familienhäupter
geachtet) werden und die Meister endlich, falls sie die Stühle ausser Hause
geben dürften, dadurch etwas am Zins ersparen könnten.
Das über diese Eingabe vom Magistrate einvernommene Mittel der Strumpf-
wirker äusserte dem gegenüber, dass die verheirateten Strumpfwirker- Gesellen
nicht übler daran seien, als unzählige andere Handwerksgesellen, z. B. Zimmer-
leute, Ziegeidecker, Maurer u. s. w., die ebenfalls weit von ihren Weibern-
und Kindern sich in Arbeit begeben müssten, welcher Fall in Rücksicht der
geltend gemachten Beschwerlichkeit die minderen Staatsbeamten gleicherweise
betreffe, die ebenfalls keine Dienstboten halten können und dennoch ihre Amts-
stunden genau beobachten müssen. Was die gewerbliche Seite der Sache betrifft,
so bleiben die Stühle bei den Seidenzeugmachern und den Webern mit dem
') AUg. üstr. Gewerbs-Gesetzkunde, Wien, 1829, I. S. 403. Hiezu werden die
Hofdecrete für Böhmen vom 13. April 1813 und 14. December 1814 citiert. Deren Text
war weder im Archiv der Vereinigten österreichisch-böhmischen Hofkanzlei, noch in jenem
der k. u. kk. Hofkammer, Finanz- und Commerz-Hofstelle mehr zu finden; möglicher-
weise könnte ein glücklicher Forscher noch bei der böhmischen Landesregierung seiner
habhaft werden I
Eine alte Wiener Hausindustrie, 493
nämlichen Stück Arbeit längere Zeit hindurch belegt und seien daher, wenn die
Gesellen ausser Hause arbeiten, leicht zu controlieren, nicht so bei den Strumpf-
wirkern, wo der Arbeitsstuhl die Woche hindurch sehr oft leer werde, was die
Möglichkeit einer Controle über die verübte Stuhrerei benehme.
Der Magistrat bezog sich in seiner Aeusserung über diese Frage auf seinen
über das Gesuch des Bull erstatteten Bericht; ebenso der Fabriken-Inspector,
dessen Conclusionen jedoch, wie wir sahen, jenen des Magistrates entgegen-
gesetzt sind.
IS'un wurde über die in Zusammenhang stehenden Gesuche (des Bull wie
des Gesellen Dröbinger) seitens der Landesregierung noch die Wiener Stadt-
hauptmannschaft einvernommen. Diese hielt eine Commission — eine mündliche
Enquete — ab über die Sachlage und die Wünsche wie Bedenken der Be-
theiligten, zu welcher sie den Referenten des Magistrates, den Fabriken-Inspector,
die Vorsteher der- bürgerlichen Strumpfwirkermeister, den Bull und mehrere
Gesellen beizog.
Der Vertreter des Magistrates verharrte auf seinem Standpunkte und
besorgte, dass durch Aufhebung des Innungsschlusses Gelegenheit zu Stöhrerei
geschaffen und die ganze Innung und ihr durch neue vorzügliche Arbeiten selbst
im Ausland erworbener Credit ganz zu Grunde gerichtet würde. Die Meisterschaft
selbst trennte sich in ihrer Erklärung, Bull nebst drei anderen Meistern bestanden
auf der Aufhebung des durch den Innungsschluss herbeigeführten Zwanges, die
beiden Vorsteher und zwei andere Meister hingegen baten um seine „Handhabung".
Der Vorsitzende Stadthauptmann -Stellvertreter beschloss demnach, sämmtliche
ihm von den Vorstehern namhaft gemachten Meister des Mittels insbesondere
über diesen Gegenstand zu befragen. Die in seinem Berichte beigebrachte Tabelle,
die das Resultat dieser Vernehmung liefert, zeigt, dass mit Joh. Bull noch
41 Meister aus* den im Berichte des Fabriken-Inspectors auseinander gesetzten
Gründen um die Aufhebung des Zwanges baten, die beiden Vorsteher hingegen
nebst 58 Meistern dessen Handhabung forderten. Ihre Gründe waren in der
Hauptsache, dass die Hausgesellen der nöthigen Zucht und Aufsicht entzogen
seien und in Ansehung des ihnen vorgegebenen Materiales nicht so genau
controlirt werden könnten als jene, die in der Werkstätte des Meisters arbeiten,
zumal das Erzeugnis nur kurze Zeit auf dem Stuhl bleibe. Dadurch würde zur
Stöhrerei Anlass gegeben, hiedurch schlechte W^are in Umlauf gesetzt, was den
guten Ruf der Wiener Erzeugnisse herabsetzen würde. Es müsste auch, dadurch
dass die älteren und geschickteren Gesellen zu Hause arbeiten würden, der
Unterricht der Lehrlinge leiden, denn der Meister selbst habe so viel ausser
Hause zu thun. Ferner könnten die Gesellen bei sich zu Haus ebenfalls nicht
mehr Ware erzeugen, da sie durch ihre Familien gehindert werden, und die
vorgebliche Ersparung an Zins für den Meister gienge gleichfalls verloren, da
die Hausgesellen eines grösseren Quartiers bedürfen um einen Stuhl aufzustellen
und man ihnen dazu einen Zinsbeitrag oder höheren Lohn geben müsste. Endlich sei
im allgemeinen verboten, ausser der W^erkstätte des Meisters zu arbeiten und
dieses Verbot sei in Rücksicht der Strumpfwirker insbesondere durch wiederholte.
Verordnungen bestätigt worden.
494 Schwiedland.
Mit diesen Argumenten kämpften die Meister. Doch der Bericht der
Stadthauptmannschaft bemerkt, dass unter den Vertretern dieser Anschauung eine
beträchtliche Anzahl Seidenarbeiter (solche Wirkermeister, die Seide verarbeiten
liessen, eine schwerere Arbeit, die feinere Maschinen erheischte und deren
Producte keine Massenartikel bildeten), sowie Hausinhaber waren, die in ihren
Häusern zur Aufstellung mehrerer Stühle leicht Platz fanden; die meisten übrigen
besassen aber sehr wenige Stühle. Deshalb habe in der Gruppe der Anhänger
des Zwanges keiner das Interesse, Stühle den Gesellen in ihre Wohnungen zu
stellen. Anders die Gegenpartei. In dieser waren die wenigsten Hauseigenthümer,
sie verarbeiteten ferner grossentheils W^olle, so dass sie bei einiger Ausdehnung
ihrer Betriebe .Quartiere von grösserer Eaumhältigkeit" suchen mussten, die
sich angeblich nur «sehr schwer" oder doch nur .,um überspannte Zinsungen*^
fanden. Ueberdies scheine, fügte die Stadthauptmannschaft hinzu, der ganze
Innungsschluss selbst nicht so viel aus einer guten Absidit und Liebe zur
Ordnung, sondern vielmehr aus dem Handwerksneide der Meisterschaft gegen
die Fabrikanten und die Strickermeister entstanden zu sein, denn mehrere
Meister hätten bekannt, dass der verstorbene Vorsteher sie nur unter dem
Vorwand, dass auch die Stricker und Fabrikanten ihre Stühle würden nach
Hause nehmen müssen, zu der bekämpften Bestimmung vermocht habe. Auch
liege bei vielen Meistern dem Festhalten am Zwang mitunter ein offenbarer
Gewerbsneid gegen ihre vermöglicheren oder mehr unternehmenden Mitmeister
zu Grunde, da sie sonst unmöglich hätten verlangen und vor der Commission
laut wiederholen können, dass .kein Meister mehr als sechs Stühle haben soll,
wodurch der Vortheil geschafft würde, dass nicht ein Meister alles, der andere
aber nichts zu thun hätte". Der Stadthauptmann-Stellvertreter von Wien findet
dies „allen Grundsätzen widersprechend", übersieht aber dabei, dass wenn
das Verlagsystem thatsächlich eine ökonomischere Productionsform ist , der
billigere Erzeuger den theureren, also der Verlag treibende Meister die übrigen
bei vollkommener Freiheit mit der Zeit ruinieren muss und der Vorschlag der
Meister auf ähnlichen Erwägungen beruht haben konnte.
Jene Bemerkungen vorausgeschickt, erachtet der Stadthauptmann, wenn er die
Beweggründe der Meister, des Magistrates und der Fabriken-Inspection für und
wider gegeneinander hält, die Gründe für die Aufhebung des Zwanges an sich
für vollkommen überwiegend. Der vorzüglichste Grund der Vertheidiger des
Innungsschlusses sei ja die Besorgnis der Stöhrerei, weil es schon vormals einen
Meister gab, der mit einem Gesellen darüber einverstanden war und weil,
besonders bei der Seidenwirkerei, Unterschleife leicht möglich sind. Allein der
angeführte Fall könne schon einmal im allgemeinen nichts beweisen, und wenn
es auch nun ähnliche Meister gäbe, die sich mit ihren Gesellen in ein sträfliches
Einvernehmen setzten, würden sie solches ungehindert des Innungsschlusses noch
immer thun und die Gesellen in ihren Werkstätten auf eigene Eechnung
arbeiten lassen können.
Sollte ferner ein oder der andere Hausgesell in seiner Wohnung auf der
Spur einer Stöhrerei betreten werden, stände ja jedem Meister frei, ihm sogleich
den Stuhl abzunehmen. Ueberhaupt erscheine die Besorgnis der Stöhrerei viel zu
Eine alte Wiener Hausindustrie. 495
sehr übertrieben, da doch Fabrikanten unter den Wirkern, sowie die Stricker
ihren Gresellen Stühle in die Wohnungen geben und man dadurch bei ihnen nicht
mehr Klagen über die Stöhrerei hört als bei anderen Innungen, die ihre Gesellen
bloss in den Werkstätten beschäftigen. Endlich wäre es ein sonderbarer Wider-
spruch der öffentlichen Verwaltung, wenn man den Strickern und Fabrikanten
ungeachtet der grösseren Besorgnis der Stöhrerei das Ausserhausgeben der Stühle
auch ferner erlaubte, den Strumpfwirkermeistern aber, die doch eine gleiche Be-
schäftigung treiben, das nämliche verböte.
Die Stadthauptmann Schaft stimmt daher der Fabriken-Inspection zu, den
so vielen Meistern lästigen und der Vertretung der Industrie hinderlichen Zwang
aufzuheben und künftig bloss dem Gutbefindeji eines jeden Meisters zu überlassen,
ob er unter den von der Fabriken-Inspection angetragenen Vorsichten einem
„vertrauten" Gesellen, also Einem, von dem nicht anzunehmen sei, dass er
auf dem Stuhl für eigene Rechnung arbeiten werde, einen solchen in seiner
Wohnung anvertrauen wolle. Dies werden jene, die dabei ihre Rechnung nicht
finden, unterlassen können, und sohin geschehe denen, die sich so sehr
dagegen sträuben, kein Unrecht, — eine im bemerkenswerten Maasse indivi-
dualistische Verdrehung — wobei die übrigen hingegen, die ihre Fabrikatur auf
mehrere Stühle erweitern wollen, in ihren Speculationen durch die Theuerung der
Quartiere künftig nicht gehindert werden. Nur glaubt der Stadthauptmann-
Stellvertreter, dass den von der Fabriken-Inspection vorgeschlagenen Vorsichten
noch beizusetzen wäre, dass jedesmal, wenn ein Meister einen Stuhl ausser Haus
gibt, solches dem Vorsteher nebst dem Namen des Gesellen gemeldet werde,
und dass man sich versehe, dass die Meister ihre Stühle nur älteren Gesellen
anvertrauen, auf deren Redlichkeit sie sich verlassen können ; habe ja auch der
über das Gesuch des Dröbinger vorgerufene Gesellenausschuss selbst keine
weitere Forderung gestellt, als dass alten gebrechlichen, oder solchen Gesellen,
deren häusliche Umstände ihre Gegenwart bei Hause nothwendig machen dürften,
die Wohlthat zu Hause arbeiten zu können, verschafft werde.
Auf Grund dieser Actenlage erstattete nunmehr die Nie der- öster-
reichische Regierung (2. September 1801) über das wiederholte Hofgesuch
des Bull nachstehendes Gutachten an die k. u. k. k. böhmisch -österreichische
Hof kanzlei :
Es sei einleuchtend, dass die Gründe, die der Bittsteller, die grosse Anzahl
der mit ihm einverstandenen Meister, die Fabriken-Inspection und die Stadt-
hauptmannschaft für die Aufhebung des Zwanges anführten, ein offenbares
Uebergewicht haben, und dass das Hofdecret vom 23. December 1795, das
überhaupt das Arbeiten der Gesellen zünftiger Innung ausser der Werkstätte des
Meisters verbietet, nur auf zunftmässige Innungen gemeiner Art, nicht aber
auch auf solche, wo fabriksmässige Behandlung eintritt, sich erstrecke. Aus
diesem Grunde bestehe fast bei allen Innungen, wo die Gesellen auf Stühlen
arbeiten und daher die Aufstellung mehrerer eine grössere Raumhältigkeit
erfordert, z. B. bei Posamentierern, Baumwoll- und Leinenwebern und Seiden-
zeugmachern die Uebung, dass sie vertrauten Gesellen Stühle in ihre Wohnungen
überlassen.
496 Scliwiedland.
Dies sei auch, vorzüglich in dem gegebenen Zeitpunkte, umso nothwendiger,
als nicht nur die Wohnungszinse ausserordentlich gestiegen seien, sondern auch
einleuchtend sei, dass es bei der vermehrten Anzahl der Fabrikanten aller Art
und der so sehr zugenommenen Volksmenge ') den Meistern und Fabrikanten, die
nicht selbst eigene Häuser und Fabriksgebäude besitzen, beinahe ganz unmöglich
werden muss, in Wien so grosse Wohnungen zu finden, dass sie zur Aufstellung
aller ihrer Werkstühle hinreichten. All das Gresagtc trete zu Gunsten des Bitt-
stellers und der Strumpfwirkermeister überhaupt ein und es liege kein Grund
vor, diese nicht anderen ähnlichen Innungen gleich zu behandeln und zwischen
der Meisterschaft und den befugten Wirkwarenfabrikanten, Landesfabiiken und
bürgerlichen Strickermeistern, die sämmtlich Stühle ausser Haus geben, einen
Unterschied zu machen. Hatten doch die letzteren schon bislang den Yortheil voraus,
auf jene Art nicht nur leichter, sondern auch geschultere Gesellen zu erhalten,
und da sie kleinerer Wohnungen bedürfen, dem Preis ihrer Erzeugnisse keinen
so hohen Zins zuschlagen zu müssen, indem die Gesellen, denen sie einzelne
Stühle anvertrauten, zu deren Aufstellung bei sich zu Hause leicht hinlänglichen
Eaum fanden. Zwar besorgen die Meister, welche auf der ferneren Handhabung
des eingeführten Zwanges bestehen, dass durch die Ausserhausgebung der Stühle
die Stöhrerei von Seite der sogenannten Hausgesellen, befördert und erleichtert
werde, und zwar umsomehr, als bei diesem Erwerbszweige der Stuhl oft mehreremal
des Tages leer wird. Allein dieses Besorgnis trete ja auch bei den Fabrikanten
und Strickermeistern, die ähnliche Ware anfertigen, in gleichem Grade ein. und
dennoch haben diese die Hebung, Stühle ausser Haus zu geben, beibehalten, ein
offenbarer Beweis, dass sie deshalb dem Nachtheile der Stöhrerei nicht mehr
ausgesetzt sind, oder dass sie wenigstens den Yortheil, der ihnen hiedurch an
Zinsersparung und der Leichtigkeit, ihren Betrieb zu erweitern, zugeht,
für überwiegender ansehen. Ferner lasse sich bei Hausgesellen dem Besorgniss,
dass sie auf eigene Hand arbeiten werden, durch Einführung einer guten Controle
vorbeugen, denn ausser dem, dass die Meister ihres eigenen Yortheiles wegen
ihre Stühle nur .^von Seite ihrer Eedlichkeit" geprüften Gesellen anvertrauen und
bei sich zeigenden Spuren von Yermietung* oder Stöhrerei ihnen dieselben sogleich
selbst abnehmen werden, können sie ihnen auch das Material vor- und die Arbeit
nachwägen; da sich ferner genau bestimmen lässt, wie viel ein Geselle täglich und
wöchentlich zu arbeiten im Stande ist, wird die richtige Ablieferung der Arbeit zur
bestimmten Zeit auch diesfalls die Meister gegen Stöhrerei ziemlich sicherstellen.
') In den ersten Jahren unseres Jahrhunderts beschäftigte sich die Regierung
eingehend mit der Möglichkeit, die Arbeiterbevülkerimg Wiens zu vermindern. Mochte
die Fabriksindustrie Arbeitskräfte nach "Wien gelockt haben, deren Zunahme unverhältnis-
mässig rasch vor sich zu gehen schien, oder mochten politische Bedenken die Vermin-
derung der Bevölkerung der Hauptstadt haben anstreben lassen, da kurz vorher die
Schrecken der französischen Eevolution gezeigt hatten, dass das städtische Proletariat
unter Umständen ein gefährliches Element bilden könne, Thatsache ist, dass die Regie-
rungsstellen wiederholt bei den unteren Behörden die Frage anregten, „wie der hiesigen
übermässig anwachsenden Bevölkerung vorgebogen werden könnte" und dass diese Ver-
handlungen die Fernhaltung der Fabriken zwei Meilen ausserhalb Wiens zur Folge hatten.
(Hofkammer- Archiv, Fase. 63 Commerz N.-Oe. 1801—1813.;
Eine alte Wiener Hausindustrie. 497
Daher möge es in Zukunft bloss von dem Gutbefinden eines jeden Meisters
abhängen, ob er vertrauten Gesellen Stühle in ihre Wohnungen unter folgenden
auch für die anderen Innungen eingeführten Bedingungen überlassen wolle: dass
einem Gesellen jedesmal nur Ein Stuhl anvertraut werde, dieser sammt Einrichtung
immer Eigentimm des Meisters verbleibe, jeder Meister einen dergleichen Haus-
gesellen mit einem schriftlichen Zeugnisse, dass er für ihn arbeite, versehe,
endlich die Ausserhausgebung eines jeden Stuhles sammt dem Namen des Gesellen
den Mittelvorstehern angezeigt werde.
Vermöge der Interpretation, nach welcher das Hofdecret vom 23. December
1795 bloss auf Polizei -Gewerbe') anzuwenden sei, gelangte der Streitfall von der
k. und k. k. böhmisch-österreichischen Hofkanzlei an die für Commerzangelegen-
heiten zuständige k. und k. k. Hofkammer, Finanz- und Commorz-Hofstelle zur
Entscheidung.
Der Keferent, Hofrath Graf von Herberstein-Moltke, begründete in der
Sitzung der Commerzstelle am 8. October 1801 folgendermaässen seine Ansicht:
Die seitens der Nieder-österreichischen Eegierung ausgesprochenen Grundsätze
seien umso mehr vollkommen gegründet, als jeder nicht höchst nöthige Zwang
und jede ähnliche Vorschrift die Fortschritte des Erwerbfleisses nur hemmt und
die zweckmässigste Unterstützung und Beförderung dieses in der Hinwegräumung
der noch bestehenden Hindernisse zu finden sei, worunter jede Vermehrung
der Kosten, jeder Zeitverlust, jede Erschwerung des so wohlfeilen, gegen
alle Umstände geschmeidigen Hauserwerbes vorzüglich gerechnet werden
müsse. Daher sei das Verlegen der Gesellen mit Arbeit allen Meistern und
befugten Fabrikanten ohne Anstand bei allen Com merzial-Ge weben und
-Beschäftigungen gegen dem, dass die Werkstühle dem Verleger gehören und
die Verlegten ein ordentliche« Zeugnis hierüber von dem Verleger erhalten, nicht
allein zu gestatten, sondern durchaus zu begünstigen. Hiernach habe die Eegierung
die vorliegende Angelegenheit zu erledigen, die betlieiligten Behörden zu ver-
ständigen, sich selbst in Zukunft zu benehmen.
Dieses Votum T\iirde genehmigt und dem entsprechend ergieng nun der
nachstehende Erlass der Hofstelle an die Eegierung, welcher die Angelegenheit
erledigte und der Freiheit Geltung schaffte:
,.Die Gründe, welche die Eegierung in ihrem .... Berichte über das
Gesuch des .... , dass den Meistern bewilligt werden möchte, ihren Gesellen
Arbeitsstühle ausser Haus zu geben, anführt, sind den ächten Commerzialgrund-
sätzen um so mehr angemessen, als jeder nicht höchst nöthige Zwang und jede
Beschränkung die Fortschritte des Erwerbfleisses nur hemmt und die zweck-
mässigste Unterstützung und Beförderung desselben in der Beseitigung der annoch
vorhandenen Hindernisse bestehet, worunter jede Vermehrung der Kosten, jeder
Zeitverlust, und jede Erschwerung des so wohlfeilen und vortheilhaften Haus-
erwerbs vorzüglich gerechnet werden muss."
^) Das waren jene Gewerbe, die nur dem localen Bedarfe dienten, während die
Exportgewerbe Commerzial- Gewerbe Messen. Es liegt im Wesen der gewerblichen und
commerziellen Entwicklung, dass die Eintheilung der einzelnen Gewerbe in diese beiden
Kategorien mehnnals abgeändert Avurdc.
498 Schwiedland.
„Die Verlegung der Gesellen mit Arbeit ausser dem Hause, ist daher allen
Meistern und befugten Fabrikanten ohne Anstand bei allen Commerzialgewerben
und Beschäftigungen gegen dem, dass die Werkstühle im Eigenthum des Verlegers
sein, und die Gesellen ein ordentliches Zeugnis hierüber von dem Verleger erhalten
müssen, nicht allein zu gestatten, sondern auch durchaus zu begünstigen."
Damit war die Hausindustrie in allen Commerzialgewerben legitimiert —
eine Auffassung, die sich bis auf das derzeit geltende österreichische Gewerbe-
recht vererbt hat, das keinerlei Beschränkung rücksichtlich der localen Verwendung
von Hilfskräften seitens befugter Gewerbsunternehmer enthält. Nur das selbständige
Arbeiten von Personen, die den Betrieb nicht angemeldet haben bezw. die erfor-
derliche Qualification (den „Befähigungsnachweis") nicht besitzen, sowie das
Herstellenlassen von gewerblichen Erzeugnissen seitens Händlern — übrigens
eine jener gesetzlichen Bestimmungen, deren Durchführung fast für eine Takt-
losigkeit gelten würde — ist untersagt.
Es sei zum Schlüsse, auf die Gefahr die formelle Einheit dieses Aufsatzes
zu schädigen, noch bemerkt, dass auch die alten Strumpfwirkermeister, trotz
der „Vortheile", welche ihnen die Gesetzgeber zuwendeten, auf keinen grünen
Zweig kamen.
Bis gegen Mitte dieses Jahrhunderts verkauften die Meister ihr Erzeugnisse,
— soweit sie dieselben nicht selbst auf die Jahrmärkte, nach Brunn und in andere
Städte, brachten, — was den insbesondere nach Ungarn namhaften Export betrifft,
an Wiener Grosshändler, ^) während sie den localen Absatz selbst beherrschten.
Abgesehen von einigen Krämern, die auch Wirkw:aren verkauften, hatten die
kleineren Meister in den Vorstädten, vor ihren Werkstätten, gleichfalls einen
geringen Gassenladen, an welchem sie einen einfachen Schaukasten anbrachten,
und dort verkehrten sie auch mit Detailkunden; ausserdem mieteten einige
grössere besondere Gewölbe in der (inneren) Stadt und diese hatten einen nam-
haften Einzelabsatz; sie waren die „Wirkwarenhändler'' der Zeit. Allein allgemach
entwickelte sich eine schärfere Arbeitstheilung und in ihrem Verfolge wurden die
Meister von dem sich rasch entwickelnden Zwischenhändlerstand expropriiert, so
dass heute an Stelle des Erzeugers der seine Ware selbst verschleisst, in
aller Kegel der Händler getreten ist, der auf eigene Eechnung erzeugen lässt.
Als gegen die Mitte des Jahrhunderts die Gewerbefreiheit in Wahrheit
nahezu vollständig verwirklicht war, entstanden mit dem wachsenden Verkehre
zuerst mehr .und mehr Zwischenhändler, und während die alten kaufmännisch
wenig betriebsamen Meister zurückgiengen, brachten die findigsten unter den
Wirkwarenhändlern, die sich nun aus anderen Kreisen recrutierten , nach der
gesetzlichen Einführung der Gewerbefreiheit Betriebe der alten Meister käuflich
^) Diese waren zum Theil polnische Juden (auch der Knopfexport der damaligen
Zeit wurde durch sie vermittelt, vgl. meine Rede „Die Wiener Perlmutter-Industrie und
ihre Krisis", Wien 1891, N.-ö. Gewerbeverein, S. 7). Vom Süden kamen italienische
Aufkäufer her. aus den westlichen Provinzen dort ansässige Kaufleute.
Eine alte Wiener Hausindustrie. 499
an sich, oder gründeten, insbesondere in den neu aufgekommenen Arbeiten der
Phantasiewirkerei (Erzeugung von Tüchern, Tuchfransen, Vorhängen u. dgl.) Fabriken,
wobei sie jüngere Meister als Werkführer, frühere Gesellen wie Hausindustrielle als
Arbeiter anstellten, und die alten W^alzen- und Eösselstühle, welche mit der Hand
und dem Euss bewegt wurden, durch die sog. mechanischen Stühle ersetzten, die
nur mit einer Hand getrieben und aus dem Auslande bezogen wurden.
Aber auch dem also reformierten Gewerbe blieb die Blüte nicht treu, die
vor der rasch erwachsenden internationalen Fabriks- und unbeschränkten Handels-
concurrenz dahinschwand. AYährend in W^ien vor etwa dreissig Jahren nur fünf
bis sechs Grosshändler den Export von Wirkwaren besorgten und ungefähr fünfmal
so viele Detailisten deren Absatz im Einzelnen vermittelten, werden Wirkwaren
heute von etlichen zwanzig Wiener Grossisten (Fabrikanten wie Zwischenhändlern)
und mehreren Tausend Pfaidlern, Mode- und Vermischtwarenhändlern, Handschuh-
machern, Schneiderzubehörverkäufern und anderen Geschäftsleuten geführt.
Ihre Concurrenz drückt die Preise schon deshalb, weil sie die Wirkwaren
zum Theil bloss nebenbei, d. i. in einem der Hauptsache nach auf den Vertrieb
anderer Artikel gerichteten Betriebe führen und sich demnach auch mit einem
minimalen Nutzen an ihnen begnügen. Anderseits beziehen sie ihre Wirkwaren
zum grössten Theil aus Sachsen, wo die grossen Cottonstühle, mit Dampf betrieben,
sog. „Marktware", ohne Sorgfalt der Ausführung, aber zu äusserst billigen Preisen,
im grössten Stile erzeugen, so dass auf Einer Maschine alle halbe Stunde ein
Dutzend Strümpfe fertiggewirkt wird oder Eundstühle den Stoff zu ein bis zwei
Dutzenden auf einmal herstellen. Mit diesen Erzeugnissen wird 0 esterreich,
seit ihnen die Mac Kinley-Bill die Vereinigten Staaten von Nordamerika verschluss,
durch die Thätigkeit von Agenten überschwemmt. Sie drängen sich hier auf
dem Markte mit den Erzeugnissen der österreichischen Fabrikation sowie der
ländlichen hausindustriellen Wirker, die in der Lage sind, schlechtere Garne zu
verwenden, als eine dampfgetriebene Maschine verträgt. Diese beiden ärgsten
Feinde des Handwerks, die Fabrik und die Hausindustrie, haben die Wiener
W^erkstättenerzeugung erdrückt, welche gleich anderen Gewerben in der Hauptstadt
verschwindet.
In der Provinz, so in der Umgebung von Asch, Eger, Teplitz, Kamnitz,
Fleissen oder Schünlinde in Schlesien, gedeiht ausserdem ein eigenthümliches
Factorei- oder Gruppen-System. In einer sog. Fabrik werden die Wirk-
waren adjustiert und gepresst, während die Stühle bei Factoren im Umkreis bis
zu mehreren Stunden aufgestellt sind. Beim Factor, der den Namen „Meister"
führt, versammelt sich die (ländliche) Bevölkerung zur Arbeit und er liefert die
Erzeugnisse dem Unternehmer, dem „Fabrikanten" ab.^)
In Wien selbst werden die gewöhnlichen (alten) Wirkwaren 2), unter denen
jetzt auch die Xünstlertricots, ferner Euder- und Turnhemden eine namhafte
Eolle spielen — nur auf Handstühlen hergestellt, doch ist das Gewerbe voll-
^) Aehnliche Betriebsformen weist u. a. auch die maschinenmässige Herstellung
von Handschuhen auf. Wir werden hierauf in einem anderen Zusammenhange des
Näheren zurückkommen.
2; Für P h a n t a s i e Av a r e n bestehen auch in Wien grosse Fabriken mit Dampfbetrieb.
5()() Schwiedland.
ständig verfallen^), namentlich in den letzten zwölf Jahren, da betriebsame Unter-
nehmer die Strickmaschinen in Strafhäusern, ferner in Nieder-Oesterreich, Mähren
lind Böhmen auf Dörfern, welche ganz der Hausindustrie anheimfallen, eingebürgert
haben. Die Hungerlöhne dieser Dorfstricker-) machen ihre Erzeugnisse, welche
die besseren Wirkwaren zum Theil verdrängen, überaus concurrenzfähig.
So kommt es, dass in Wien (auf den sog. mechanischen Stühlen) nur mehr
feine Arbeit erzeugt wird, für namhaftere Detailisten, welche die wohlhabenderen
Gesellschaftsclassen versorgen und noch auf die Qualität ihrer Waren halten.
Die Betriebe gehören zum Theil grossen Detailisten selbst, zum Theil alten
Meistern, die ihre Producte direct an Kundengeschäfte oder an Grosshändler
abgeben, von denen sie abhängig werden und die ihre Erzeugnisse sowohl durch
die Vermittlung von Eeisenden in der Provinz absetzen, als auch an hauptstädtische
Detailhändler verkaufen. Mancher Meister, der noch nicht ,,von der Hand in den
Mund leben muss", das heisst nicht bei jeglicher Stockung in Gefahr ist, den
Betrieb einstellen zu müssen, lässt auch selbst Agenten in die Landesstädte
reisen — eigene Commis oder solche anderer Branchen, welche seine Ware nur
nebenbei absetzen.
Immer sind es aber nur feine, einer Reparatur werte und den Einflüssen
der Mode unterworfene Waren, welche noch in der Hauptstadt erzeugt werden;
trotzdem haben auch die für dieses begrenzte Absatzgebiet producierenden Betriebe,
wie dies aus der angedeuteten Concurrenz zu erkläreit ist ^), durch Absatzstockungen
zu leiden. Dem entspricht, dass, parallel mit der äusseren grossartigen Entwick-
lung der Industrie, auch die Löhne zurückgegangen sind.-*) Manche der
') Nach dem Genosseiischaftsschema erzeugen nur etwa 3j Mitglieder der Ge-
nossenschaft der Wirkwaren-Erzeuger in Wien jene Stoffe; sie specialisieren sich und
melden Vermerke an wie: C. B, (Strumpfreparaturen) — B. D. (Theatertricots und feine
Strumpfware) — E. C. (Seidenwirkwaren) — F. F. (Tricottaillen) — E. W. (diverse
Wollwaren) — A. P. (Tricotstoffe) u. s. w. — Die Zahl der Meister hat sich seit Ver-
wirklichung der gewerblichen Freiheit vermehrt, doch ist ihr Wohlstand verschwunden.
-) „Sehr fleissige" ländliche Stricker verdienen, wie ein Fachmann vorrechnete,
bis zu 50 kr. täglich, davon nmss aber ein solcher 5 kr. für die Ausfertigung der von ihm
erzeugten Strickwaren bezahlen, für 3 kr. verbraucht er Oel und 2 kr. muss er für die
Amortisation oder Bezahlung der ihm gegen ratenweise Begleichung übergebenen
Maschine rechnen, so dass er bei 16stündiger Arbeit 40 kr. im Tag verdient. Von einer
ländlichen Nebenbeschäftigung solcher Art ausgeschweisster Hilfskräfte ist natürlich bald
keine Bede mehr; sie werden dazu ganz unfähig und damit vollständig vom Factor oder
Verleger abhängig.
3) Die Preise der gemeineren Wirkwaren, welche Verbreitung finden, sind heute:
für ein Dutzend Paare gestreifter Kinderstrümpfe, seitens des Provinz-Fabrikanten kosten-
frei nach Wien gestellt, von 40 kr. aufwärts, — für ein Dutzend Paar Frauenstrümpfe
von 90 kr. aufwärts, für die gleiche Menge Socken von 45 kr. an.
*) Ein Vergleich der Wirkerlöhne früher und jetzt ist infolge der geänderten
Qualität der Producte, was die der Wolle angeht, unthunlich und es kann nur
gesagt werden, dass Wollwirker in den dreissiger Jajiren in Wien im Durchschnitt
wöchentlich 7 fl. W.-W., Seidenwirker etwa 9 fl. verdienten, während diese heute bei
derselben Arbeit auf 7 — 8 fl. Oe. W. kommen. Damals erhielt der Gesell noch Nacht-
quartier und Mittagessen beim Meister, Emolumente, deren Preis und Ablösungswert
übereinstimmend mit 272—3 fl. W.-W. pro Woche angegeben Avird, so dass dem Arbeiter
Eine alte Wiener Hausindustrie. 501
Arbeiterinnen, welche neuestens zur Erzeugung von Pliantasieartikeln verwendet
werden, sind als Nebenerwerb buchstäblich auf die Prostitution angewiesen^),
die sie mitunter mit der Werkstattarbeit alternierend ausüben.^)
Das Zusammen-Nähen, -Häkeln und -Knüpfen der gewirkten Stoffe lassen
die Meister heute zum Theil ausser Haus, durch Heimarbeiterinnen besorgen^)
(die ländlichen „Fabrikanten" senden, der Wohlfeilheit halber, die Erzeugnisse
manchmal in Ballen durch die Bahnen in andere Gegenden, wo das Nähen, gleichfalls
hausindustriell, besorgt wird); die hausindustrielle Erzeugung des gewirkten Stoffes
selbst kommt hingegen in Wien kaum mehr vor; soweit ein Sweating-Sj-^stem
herrscht, unterliegt ihm der Meister mit seinen Werkstattgesellen. -*) Nur hier
und da findet sich ein Wirker als Hausgeselle in Wien, der die intermittierende
Beschäftigung mit einer Nebenbeschäftigung als Hausmeister, kleiner Geschäfts-
mann u. dgl. glücklich verbindet.
In diesem Gewerbe ist sonach die alte Hausindustrie neben dem
Werkstattbetriebe zugleich mit dem letzteren nahezu verschwunden.
Allein der Geist der durch die alten Strumpfwirker veranlassten Kechts-
vorschriften drückt gleichwohl noch verhängnisvoll auf allen Gewerben.
für Frühstück, Abendmahl, Bekleidung und sonstige Bedürfnisse zum mindesten 3— S'/g A-
W.-W. verblieben, ein bei der damaligen Kaufkraft des Geldes und Einfachheit des
Lebens nicht geringer Betrag und jedenfalls erheblich mehr, als dem Wirker, der
heute in Wien 7 — 8 fl. Oe. W. verdient, nach Bestreitung der damals vom Meister prä-
stierten Verpflegung zur Verfügung übrig bleibt.
^) Das ist beileibe keine besondere Wiener Eigenthümlichkeit; man lese z. B. den
Aufsatz von Franken stein, „Die Lage der Arbeiterinnen in den deutschen Grossstädten"
(Schmollers „Jahrbuch" 1888, S. 183, 188, u. s. w.) oder den Bericht der Leipziger
Gewerbekammer von 1888, S. 29. Auch A. Lehr (Die Hausindustrie in der Stadt Leipzig,
S. 15 ff.), der den Unternehmerstandpunkt theilt, kann schliesslich diese Verhältnisse
nicht in Abrede stellen. So tritt zu dem Kampfe zwischen Stadt und Land um den niedrigsten
Lohn, zur Satire herausfordernd der „Wettstreit der Staaten um den industriellen
Vorrang" vermöge und um den Preis der grösseren Verelendung der Massen.
2) Von den mit Einem Manne lebenden Angehörigen der (auch die Strickwaren-
Erzeuger umfassenden) Genossenschaft der „Wirkwaren -Erzeuger" in Wien, welche in
den letzten Jahren entbunden wurden, waren an die 40^0 verehelicht und volle 60"/o
lebten im Concubinat, was angeführt werden mag, da in sehr vielen Fällen vollständiger
Geldmangel die Ursache ist, dass vom priesterlichen Segen abgesehen wird.
3) Die meisten Spinnereien liefern heute das Garn bereits gespult auf sog. Cops,
das ist auf Papierhülsen von länglicher Form, so dass das Spulen oft wegfällt.
*) Vgl. meine Bemerkungen auf S. 162 — 8 des Aufsatzes über die „Entstehung der
Hausindustrie" in Heft I. dieser „Zeitschrift", sowie die Aeusserungen des Pariser
Privatdocenten Dr. du Maroussem in der „Kevue d'Economie Politique" (Mai 1892),
welcher dazu ein französisches Beispiel erbringt.
LITERATÜRBERICHT.
G. K. Autoii, Geschichte der preussischen Fabrikgesetzgebung bis zu ihrer
Aufnahme durch die Eeichsgewerbeordnung. Leipzig, 1891. (Schmollers Forschungen,
Band XI, Heft 2), 202 S. in S».
Die preussische Arbeiterschutzgesetzgebung, deren Geschichte bis 1869 im vor-
liegenden Bande geschildert werden sollte, umfasst einmal Schutzmaassregeln zu Gunsten
der jugendlichen Hilfsarbeiter in den Fabriken, sowie Vorschriften gegen Missbräuche bei
der Lohnzahlung, d. i. gegen das Trucksystem. Auf diese beiden Zweige der gewerblichen
Gesetzgebung allein erstreckt sich die Archivforschung Dr. Antons; das gesammte
übrige Gebiet der preussisch-deutschen Socialpolitik im berührten Zeiträume, die Be-
strebungen zur Schaffung eines einheitlichen Gewerberechts für das ganze preussische
Territorium und im Zusammenhange damit die Regelung des Unterstützungswesens für
die gewerblichen Hilfskräfte, sowie die bis auf die ersten Jahre nach der Schlacht von
Jena zurückreichenden Anfänge einer gewerblichen Socialpolitik und ihre spätere Ent-
wicklung bleiben in ihrer Gesammtheit ausser Betracht.
Die Anlässe, den Missbräuchen bei der Kinderarbeit in Fabriken Einhalt zu thun,
lagen, wie das genügend bekannt ist, auf dem Gebiete der staatlichen Einrichtungen der
allgemeinen Schul- und Wehrpflicht. Das Hauptverdienst der Anton'schen Schrift liegt in
ihren ersten Abschnitten darin, die damaligen Verhältnisse in den preussischen Fabriken
rücksichtlich der Kinderarbeit sowie den Gang der bureaukratischen Vorkehrungen gegen
dieselbe im einzelnen an das Licht gebracht zu haben. Die Geschichte der Fabrikkinder
in England ist in Deutschland durch Karl Marx (Capital, I, Cap. XXIV., 6.), Brentano
(Das Arbeitsverhältnis etc., S. 79 fg.) und neuestens durch Schulze-Gaevernitz (Zum
socialen Frieden, Band H, VII Cap.) zur genüge bekannt geworden; es kann nun gesagt
werden, dass die Schilderung der Leiden der preussischen Fabrikkinder gleichfalls eines
der schmachvollsten Blätter der Cultur- und Wirtschaftsgeschichte füllt, wiewohl sich
darüber streiten lässt, ob sie nicht etwas minder grässlich waren, als jene der Engländer:
zumindest scheint es, dass die festländischen Fabrikkinder nicht gepeitscht zu werden
pflegten.
Im Gegensatze zu England ist es aber in Preussen im wesentlichen ein Factor,
dem die Anfänge der Arbeiterschutzgesetzgebung zu verdanken sind: die Regierung.
Der äusserst behutsame und überaus langsame Fortschritt der Gesetzgebung jedoch
gestattet unseres Erachtens bei aller Anerkennung der Verdienste der preussischen
Bureaukratie nicht, ihre Thätigkeit, selbst wenn man sich in die Verhältnisse der Zeit
zurückversetzt denkt, so hoch zu veranschlagen, als der Verfasser.
Nach mannigfachen Gegenströmungen innerhalb der obersten Centralbehörden
und trotz der durch die schlechten Aushebungsresultate des General-Lieutenant von Hörn
bereits am 12. Mai 1828 veranlassten Ordre Friedrich Wilhelm's III. an die Minister für
Unterricht und für Handel, entstand erst im Jahre 1835. ausserhalb der Ministerien, ein
Verordnungs-Entwurf des Oberpräsidenten der Rheinprovinz v. Bodelschwingh, welcher
die Grundlage für das Regulativ vom 9. März 1839 bildet. Dank einer vom Barmener
Fabrikanten J. Schuchard ausgehenden Agitation richtet später, im Jahre 1837, der
rheinische Provincial-Landtag eine Adresse an den König, in welcher um den Erlass eines
Fabrikgesetzes zum Schutze der Kinderarbeit gebeten wird. Nach manchen neuerlichen
Bemühungen v. Bodelschwingh's kommt endlich 1839 — etwa 15 Jahre nach den ersten
anregenden Maassnahmen des Unterrichtsministers v. Altenstein in diesem Gegenstande
— das „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken" zustande,
das in die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund v. J 1869 (mithin für das
Literaturbericht. 503
Deutsche Reich) übergeht. Die Arbeit der Kinder zwischen 9 und 16 Jahren wurde auf
10 Stunden bei Tag beschränkt, mit einstündiger Pause mittags und zwei je einviertel-
stündigen Pausen vor- und nachmittags, unter Gewährung jedesmaliger Bewegung in freier
Luft. Sonn- und Feiertagsarbeit wurde untersagt. Wer noch nicht einen dreijährigen regel-
mässigen Schulunterricht genossen hatte oder nicht nachwies, dass er seine Muttersprache
geläufig lesen könne und einen Anfang im Schreiben gemacht habe, sollte vor vollendetem
16. Lebensjahr überhaupt nicht in Fabriken (bezw. bei Berg-, Hütten- und Pochwerken)
beschäftigt werden, es sei denn, dass für solche eine Fabrikschule bestand, die der Controle
der Regierungen unterlag. Ein Confirmanden-Ünterricht wurde eingeführt und die Anlage
von Listen angeordnet, aus welchen sich die Behörden über die Durchführung ihrer
Vorschriften unterrichten sollten. Den Ministern der Medicinalangelegenheiten, der Polizei
und Finanzen blieb endlich vorbehalten, „diejenigen besonderen sanitäts-, bau- und
sictenpolizeilichen Anordnungen zu erlassen, welche sie zur Erhaltung der Gesundheit
und Moralität der Fabriksarbeiter für erforderlich" halten würden. (§ 10.)
Die Durchführung des Gesetzes war jedoch der Ortspolizei übertragen, wodurch
Ausführung und Wirksamkeit der Vorschriften wesentlich leiden mussten; waren ja die
Fabrikherren die social angesehensten Personen der Gegend und hieng von ihrem Verhalten
im Gemeinderathe in vielen Fällen auch die Höhe der Besoldung des Bürgermeisters ab.
Das Anton'sche Buch enthält denn auch das entsprechende Material, aus dem die Unzuläng-
lichkeit des Regulativs und der umfang der fortbestehenden üebelstände ersichtlich wird.
Den Erwägungen, wie Abhilfe getroffen werden sollte, setzten die politischen
Ereignisse des Jahres 1848 ein Ende — nicht ohne auch auf anderen Gebieten der ge-
werblichen Socialpolitik einen stärkeren Impuls zu geben.
Abgesehen von anderen Vorschriften verboten alsbald die §§ 50 — 55 der im
Jahre 1849 zustande gekommenen Gewerbenovelle (königl. Verordnung vom 9. Februar,
nachträglich von den Kammern genehmigt) da» in der Rheinprovinz so vielfach bestandene
Bezahlen der Arbeiter in Waren. Dr. Anton, welcher die Geschichte der preussischen
Truckverbote im zweiten Theile seines Werkes (S. 135—163) gesondert behandelt und
dabei die für ihn in Frage kommenden Wirkungen, wie Arten des Truckunwesens präg-
nant darstellt, führt die ersten Anregungen zu einem gesetzgeberischen Acte dieser
Richtung bis zum Jahre 1831 zurück. Aus doctrinären Bedenken wurde der bereits damals
ausgearbeitete Gesetzentwurf des Handelsministers zur Steuerung der Warenlöhnung
fallen gelassen und nach mannigfachen neuen Anregungen brachten erst die Unruhen
am 17. und 18. März 1848 zu Solingen, wo das System in der schamlosesten Weise
gedieh, die Angelegenheit rasch zu einem Ende. — Die Truckverbote giengen nach
zwei Decennien in nur wenig veränderter Fassung in die spätere Reichs-Gewerbeordnung
vom Jahre 1869 über, ohne dass in der Zwischenzeit Anträge oder Vorschläge auf ihre
Aenderung bezw. Erweiterung gestellt werden mussten.
Nach 1848 verschluss man sich auch der Unzulänglichkeit des Regulativs
von 1839 nicht länger. Man beschloss, nicht lediglich Anordnungen der in § 10 vorge-
sehenen Art zu erlassen, sondern erweiternde Abänderungen an dem Gesetze vorzunehmen.
Der neue Entwurf des Handelsministers von der Hey dt gelangte am 9. und
10. Mai 1853 zur Verhandlung in der zweiten, am 12. Mai in der ersten Kammer. Die
fortschrittlichen Bestimmungen der Novelle — Verbot der regehnässigen Kinderarbeit
unter 12 Jahren, Beschränkung jener der 12— 14jährigen auf 7, der 14— 16jährigen auf
10 Stunden bei Tag und Controle für alle 12— 16jährigen durch Arbeitsbücher, im beson-
deren Erweiterung der Pause vor- und nachmittags auf eine halbe Stunde — wurden
seitens des Abgeordneten Degenkolb, eines Grossindustriellen aus Eilenburg, heftig
bekämpft. Er machte der Regierung den Vorwurf, dass sie leichtsinnigerweise mit
wenigen Federstrichen das Gesetz entworfen habe, ohne vorgängige gründliche Unter-
suchung aller in Frage kommenden Verhältnisse. Das Gesetz, führt er aus, wird die
Armut vermehren und den Kindern schaden. Zu den Härten und dem Elend, die in den
bestehenden Arbeitsverhältnissen für Tausende ohnehin liegen, füge es willkürlich einen
neuen Druck hinzu, weil der Gesetzgeber die Tragweite seiner Vorschläge nicht wohl
504
Literaturbericht.
erwogen und nicht gewusst habe, die Eücksichteu, die er auf die Kinder nehmen
müsse, mit denen zu vereinigen, welche er den Eltern schuldet. Oder würde es nicht
hart sein, den Tausenden von Eltern, die nicht ausreichende Arbeitskraft besitzen oder
nicht ausreichende Arbeit finden, zu verweigern, die Arbeitskraft der Kinder zu benützen,
welche einen Theil des Lebensunterhaltes mit erwerben helfen? Der Witwe vollends,
welcher der Ernährer fehlt, werde verboten, die zurückgelassenen Kinder in die Fabrik
zu schicken, obzwar sie diese allein zu ernähren nicht vermag, — Allein trotz dieser
Angriffe stimmten die Kammern der Noth wendigkeit zu, welche im allgemeinen zum
Erlass dieser Bestimmungen zwang, und Keichensperger wies die Meinung
zurück, dass man eine verstärkte Production um den Preis der Gesundheit und der
Moralität von Kindern von 12 Jahren erkaufen dürfe; an einer solchen Production
hafte kein Segen, wohl aber das Herzblut der Kinder'). — So wurde denn sogar an
Stelle der siebenstündigen Maximal-Arbeitszeit für 12 — 14jährige eine sechsstündige fest-
gesetzt, und in dieser Gestalt erfolgte die Genehmigung des Gesetzes am IQ. Mai 1853
seitens des Königs.
Dieses Ergänzungsgesetz zum Eegulativ berührte die Interessenten viel nachhaltiger,
als die ersten gesetzlichen Verfügungen. War aber • bereits die Ausführung jener
ungenügend, so lässt sich vom zweiten Gesetz ein verhältnismässig noch geringerer
Erfolg melden. In Voraussicht dieser Gefahr hatte auch das Handelsministerium eine
Ausführungs-Instruction ausgearbeitet, welche unter dem 18. August 1853 als Circular-
verfügung der Minister des Unterrichts, des Handels und des Innern erlassen wurde, in
ihrem II. Abschnitte die in § 10 des Regulativs vorbehaltenen Anordnungen traf, im
III. auf den allgemeinen Schulunterricht der jugendlichen Arbeiter Bezug nahm und im
IV. im Zusammenhange mit den neu eingeführten Arbeitsbüchern den Erlass von
Fabrikordnungen anregte.
Die Anstellung von Fabrikinspectoren wurde nur seitens der Regierungen zu Aachen,
Düsseldorf und Arnsberg als Bedürfnis erkannt. Während die Bestrebungen des zweiten
Fabrikinspectors in Aachen an der Bezirksregierung einen Rückhalt fanden, so dass dort
nach 1857 mit der Durchführung des Gesetzes endlich Ernst wurde, war das gleiche im
Düsseldorfer Bezirke nicht der Fall. Die Regierung zu Düsseldorf fand sogar, dass die
Kinder in ihrem Bezirke schon nach 11 Jahren das erforderliche Maass von Kenntnissen
zur Beendigung der Schulpflicht besässen, so dass „für die aus der Schule entlassenen
und in der Fabrik gemäss der mangelhaften Gesetzbestimmung nur sechs Stunden täglich
beschäftigten Kinder eine zu lange, beim Mangel häuslicher Aufsicht und Unterweisung
nur zu Müssiggang und Verwilderung führende Mussezeit" eintrete. Demgemäss war sie
auch weit davon entfernt, das Gesetz mit Nachdruck zur Geltung zu bringen und nicht
viel anders scheint es in Arnsberg ausgesehen zu haben. Wo keine Fabrikinspectiou
bestand, war es mit der Durchführung des Gesetzes entsprechend bestellt.
Gemäss § 1 des Gesetzes sollte dieses erst vom 1. Juli 1855 an im vollen
Umfange zur Geltung kommen und im Sinne des § 4 konnte der Minister für Handel
im Einvernehmen mit dem Minister für Unterricht eine Ausnahme vom Gesetze für
bestimmte Zeit zugestehen. Vom 1. Juli 1855 ab schenkten die Minister den in statt-
licher Reihe einlaufenden Anträgen der Fabrikanten auf diese Bevorzugung kein Gehör,
allein trotzdem stand es, wie wir bereits sagten, um die Durchführung des Gesetzes
überall und dauernd schlecht. Die Controle scheint thatsächlich sehr bald eingeschlafen
zu sein.
Mit dem Zurücktreten der Reaction schlug auch die Stimmung bei den Ccntral-
behörden um. „Während von der Heydt 1853 im Herrenhause verkündet hatte, dass
») In ähnlicher Weise sagte O 1 f e r s in der ersten Kammer, dass es ein fressendes Capital wäre,
ein Capital, welches vom Marke des Staates zehrt, das man auf Kosten der Kinder ersparen wollte, „Wir
sind," rief er aus, „nicht darauf hingewiesen, die Kinder der Armen wie Maschinen zu behandeln. Wir
sind menschlich, bürgerlich und christlich verpflichtet, sie zu leiten in die gesollige Ordnung, damit sie
auch ihren Theil haben von den Früchten derselben. Wenn wir sie in der Kindheit verkümmern lassen,
80 iällt eine grosse Schuld auf uns, die gebildete Classe."
Literaturbericht. 505
die Regierung die Fabrikgesetzgebung mit dem Gesetze vom 16. Mai noch keineswegs
als abgeschlossen betrachte, vielmehr nicht zurückstehen werde, nach Maassgabe weiterer
Erfahrungen dasjenige vorzukehren, was im Interesse der jugendlichen Arbeiter sich als
nothwendig ergeben werde" — hielt man es unter seinem Nachfolger im Handelsmini-
sterium schon für sehr viel, wenn man zugestand, „dass die Arbeiter den Arbeitgebern
gegenüber nicht durchaus rechtlos seien," und war der Meinung, dass „der Staat durch
irgendwelche gesetzliche Bestimmungen oder durch Verwaltungsanordnungen den Noth-
ständen nicht abhelfen könne, welche mit den Bedingungen der Arbeit über-
haupt und mit dem in der Weltordnung begründeten Unterschiede von
Arm und Eeich zusammenhiengen. Die Regierung würde eine schwere Schuld auf
sich laden, wenn sie in dieser Beziehung durch ihr Vorgehen den Arbeiterstand zu
unbegründeten Hoffnungen verleite,"
Auf die ehemaligen Fürstenthümer HohenzoUern, sowie auf die im Jahre 1866
annectierten Gebiete wurde in Bezug auf die behandelte Materie ein mit den übrigen
Theilen der Monarchie übereinstimmender gesetzlicher Zustand allmählich herbeigeführt.
Eine erhebliche Ausdehnung ihres örtlichen Wirkungskreises sollten jedoch die auf die
jugendlichen Fabriksarbeiter bezüglichen Bestimmungen dadurch erfahren, dass Preussen
im August 1866 den Bundes vertrag mit den norddeutschen Staaten schloss und dass auf
dem ersten Reichstage des Bundes der Erlass übereinstimmender Vorschriften für das
Bundesgebiet betr. die Berechtigung zum Gewerbebetriebe angeregt wurde. So entstand
die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869, in welche die preussischen Bestimmungen des
Regulativs und seiner Novelle vom 16. Mai 1853 — mit geringen Abschwächungen —
eingereiht wurden.
Die vorliegende Schrift, welche die Ereignisse nicht weiter verfolgt und auch in
der Hauptsache keine neuen Thatsachen ergibt, muss gleichwohl als eine recht ver-
dienstliche und sorgfältige Arbeit bezeichnet werden. Die Forschungen Dr. Antons
erwecken endlich die Hoffnung, dass auch Oesterreich eine pragmatische Geschichte seines
Arbeiterschutzes nicht mehr lang entbehren werde! Eugen Schwiedland.
Politische Oekonomie iu gedrängter Fassung (Volkswirtschaftslehre, Finanz-
wissenschaft, Statistik etc.) Von Br. Julius Lehr, Professor an der Universität zu
München. 2. vermehrte Auflage, München 1892, 144 SS.
Vorliegende Schrift ist, wie der Verfasser im Vorworte berichtet, aus dem soge-
nannten „Heft" hervorgegangen, welches er nach deutscher Universitätssitte an die
Hörer seiner an der Universität München über Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und
Statistik gehaltenen Vorlesungen vertheilen Hess. Diesem Ursprung ist die Einrichtung
der Schrift angepasst. Sie bietet einen gedrängten Auszug aus dem gesammten Lehrstoff
der politischen Oekonomie. Die Darstellung ist übersichtlich, klar und präcis. Das ge-
botene Material ist insbesondere in den praktischen Theilen im Verhältnis zum geringen
Umfange des Ganzen sehr reichhaltig, während die Behandlung der theoretischen Stoffe
verhältnismässig knapp gerathen ist, wahrscheinlich weil hier dem lebendigen Worte die
Hauptrolle zugedacht war. Dass schon zu Beginn dieses Jahres die vorliegende „zweite
vermehrte Auflage" nothwendig wurde, nachdem die Schrift kaum erst im Herbste 1891
der erweiterten Oeffentlichkeit übergeben worden war, ist ein sprechendes Zeugnis für
die Tüchtigkeit und praktische Verwendbarkeit der Arbeit. E. B.
The tlieory of Dynamic Economics. Von Simon N. Patten, Professor der poL
Oekonomie an der Universität von Pennsjlvanien. Philadelphia 1892, 153 SS.
Simon N. Patten ist eine der fesselndsten Individualitäten aus dem zahlreichen
Kreise von Gelehrten, welche im Begriffe sind, der nationalökonomischen Wissenschaft in
Nordamerika einen Aufschwung zu bereiten, dessen Extensität fast ohne Beispiel, und
dessen Intensität schon heute zum mindesten sehr ehrenwert ist. Patten hat einen
Kopf, der voll von originellen und geistreichen Einfällen steckt. Dieselben sprühen in
rascher Folge nach den verschiedensten Theilgebieten der ökonomischen und auch ver-
wandter anderer Wissenschaften aus. Patten schreibt binnen wenigen Jahren bald über
die -Stabilität der Preise", bald über die „ökonomische Grundlage des Schutzzolls," bald
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. III. Heft. 33
506 Literaturbericht.
über „Malthus und Eicardo." bald über die Theorie der „Güterconsumtion," bald über
die „Grundidee des Capitales;" ein anderesmal setzt er die „Grundsätze der rationellen
Besteuerung," wieder ein anderesmal seine Ansichten über die „Ethik des Grundbesitzes",
oder über den „pädagogischen Wert der politischen Oekonomie" oder über das Erziehungs-
problem überhaupt auseinander. Und in jeder dieser zahlreichen Schriften weiss er uns
irgend etwas Eigenartiges, Neues, Anregendes mitzutheilen, dessen Wirkung auf den
Leser noch gehoben wird durch einen höchst wohlthuenden idealen Zug, der durch
Patten' s Wesen und Schriften geht. Er ist ein höchst sympathischer und anregender
Schriftsteller.
Ich möchte das Wort „anregend" mit besonderem Nachdruck betonen. Wie über-
haupt bei temperamentvollen, impulsiven Naturen, so liegt auch P a 1 1 e n 's Stärke
mehr im Anregen als im Ausbauen. Er liebt es, auch über die umfassendsten Themen
einen kurzen Aufsatz zu schreiben, in dessen Mittelpunkt er irgend einen neuen, geist-
vollen Gedanken stellt. Natürlich kann er ihn innerhalb eines so knappen Rahmens nicht
in alle seine Consequenzen verfolgen, und ebenso natürlich gelangt er nicht dazu, an
ihm diejenige letzte und unerbittliche Controle zu üben, die sich eben nur aus dem
widerspruchslosen Zusammenstimmen einer bis in die letzten Details ausgebauten Theorie
ergibt. So kommt es, dass P a 1 1 e n' s Leser stets reich angeregt, aber auch stets zur
üebung eines doppelten Amtes herausgefordert werden: kritisch nachzuprüfen und aus-
zubauen.
Auch in seiner jüngsten Schrift, die den unmittelbaren Anlass dieser Zeilen bildet,
streut Patten Anregungen aus, welche diesmal einem besonders weiten und wichtigen
Thema gelten. Unter dem Titel „Theorie der dj'namischen Oekonomie" gibt er uns ein
Programm, wie man — und zwar anders als bisher — Nationalökonomie treiben solle,
und zugleich auch schon eine Art Skelet oder Abriss des ganzen nationalökonomischen
Systems, wie Patten es sich denkt. Dieses neue System hat zwei besonders hervor-
stechende Züge. Der eine wird durch den Titel des Patten'schen Werkes ausgedrückt:
es soll eine „dynamische" Oekonomie geschildert werden im Gegensatze zu einer
„statischen." Das will in der Meinung Patten' s beiläufig Folgendes sagen. Im Laufe
der Culturentwicklung verändern sich immerfort sowohl die Menschen selbst, als auch
die äussere natürliche Umgebung, iu welcher sie ihre wirtschaftliche Thätigkeit zu voll-
bringen haben. Es ändert sich sowohl die „subjective" als die „objective Welt," und
zwar ruft in endloser Wechselwirkung jede Aenderung in den Menschen auch eine
Aenderung in der durch sie beeinflussten Umgebung, und jede Aenderung in der Um-
gebung — durch eine Beeinflussung der Lebensführung hindurch — wieder eine Aen-
derung in der Volks-Psychologie hervor. Diese nie rastende Bewegung müsse nun auch
von der Theorie in ihren Calcul einbezogen werden.
Die wahre Grundlage für die gesammte ökonomische Theorie bilde aber ferner —
und das ist der zweite hervorstechende Charakterzug — die bis jetzt so arg vernach-
lässigte Theorie der Güterconsumtion. Alle anderen volkswirtschaftlichen
Erscheinungen, Production, Wert und Preis, Vertheilung u. s. w. empfangen ihre Impulse
und ihre Bestimmung von der Consumtion der Güter, welche auch das Mittelglied bildet,
durch welches hindurch die oben angedeuteten Einflüsse der „objectiven Welt" auf die
„subjective" wirksam werden: Art, Richtung, Umfang der Güterconsumtion entscheidet
über die Lebensführung, und diese wieder prägt tiefe Spuren dem ganzen geistigen und
sittlichen Leben des Individuums und der Gesellschaft ein.
In der Lehre von der Consumtion, die seit jeher ein Lieblingsthema Patten' s
bildet, findet er aber wieder ein Gesetz besonders hervortretend, dem er die hervor-
ragendste wissenschaftliche und praktische Bedeutung zuschreibt: das ist das Gesetz der
„Vermannigfaltigung" der Bedürfnisse und Gütergenüsse (law of variety). Von einer
Gütergattung können wir immer nur verhältnismässig Avenig und mit rasch abnehmendem
Genüsse consumieren. Indem wir aber mit zunehmender Culturentwicklung immer mehr
Arten von Genüssen kennen und begehren lernen, entfernen wir uns trotz unseres wach-
senden Wohlstandes eher von der Grenze der Sättigung, statt dass wir uns ihr annähern.
Literaturbericht, 507
und in weiterer Folge zeigt auch der (subjective) Wert der Güter, der sich dem Gesetze
des „Grenznutzens" zufolge jeweils nach der Bedeutung des mindest wichtigen noch zur
Befriedigung gelangenden Bedürfnisses bemisst, mit zunehmender wirtschaftlicher Ent-
wicklung eher eine Tendenz zu steigen als zu sinken.
Wie der Verfasser diese Grundgedanken weiterhin in die Details seines Systems
verwebt, kann ich hier nicht mehr verfolgen. Ich will nur mit ein paar Worten den
Gesammteindruck schildern, den P a 1 1 e n' s Lehre mir erweckt hat. Ich halte die wich-
tigsten seiner Thesen für richtig, glaube aber, dass Patten den Einfluss, der ihnen
in Leben und Lehre zukommt, erheblich überschätzt hat. Er ist, wie ich glaube, ein
weni-g derselben Sorte von Gefahr unterlegen, von welcher alle Verfasser von mono-
graphischen Essays bedroht werden, und welche z. B. unter Anderem die historischen
Biographen im Gegensatze zu den systematischen Welthistorikern unwillkürlich dazu zu
verführen pflegt, die speciellen Helden ihrer Muse etwas stärker in den Vordergrund zu
rücken und ihi^en einen etwas grösseren Antheil an den Weltbegebenheiten zuzuschreiben
als es den nüchternen Thatsachen entspricht. Patten hat ganz Recht: die Wissen-
schaft erfüllt ihre Aufgabe nicht voll, wenn sie nicht auch die unausgesetzte Entwicklung,
die in der „subjectiven und objectiven Welt" vor sich geht, registriert und in ihren
Calcul zieht. Aber er scheint mir in zweifacher Hinsicht über das Ziel zu schiessen,
wenn er die Mangelhaftigkeit aller älteren Theorien, die der Physiokraten, von Adam
Smith, von Ricardo, hauptsächlich auf den Mangel des „dynamischen" Elementes
in diesen Theorien zurückführen zu können meint. Denn erstens, glaube ich, haben auch
die Aeltern und zumal A. Smith es an einer Berücksichtigung des Entwicklungsmo-
mentes keineswegs völlig fehlen lassen; und zweitens, auch angenommen, dass sie nur
eine „statische" Oekonomie statt einer „dynamischen" beschrieben und erklärt hätten,
so stammen ihre folgenschweren Erklärungsfehler, z. B. ihre Grundirrthümer über Wesen
und Gesetze des Güterwerts, des Arbeitslohnes u. dgl. gewiss nicht daher, dass sie nur
ein bestimmtes Stadium der Wirtschaftsentwicklung erklärt haben: sondern ihre Erklä-
rung war eben auch für dieses eine Stadium falsch. Sie blieben hinter ihrer Erklärungs-
aufgabe nicht bloss deshalb zurück, weil sie der „Statik" eine „Dynamik" hinzuzufügen
uuterliessen, sondern in ungleich höherem Maasse deshalb, weil ihre Statik eben schon
als Statik falsch war.
Patten scheint mir mit seiner Kritik der classischen Theorie einen Uebertrei-
bungsfehler variirend zu wiederholen, den sonst die Vertreter der historischen Methode
zu begehen pflegen. Nach der Meinung der letzteren bildet die Einführung der historischen
Methode die grosse Peripetie des nationalökonomischen Denkens, und Alles, was die
classischen Nationalökonomen verfehlt und verbrochen haben, sollen sie deshalb verfehlt
und verbrochen haben, Aveil sie sich einer falschen Methode bedient, und nicht „histo-
risch", sondern „abstract" operiert haben. Nun, die historische Methode ist eine ebenso
schöne und an ihrem Orte fruchtbare Sache, als die dynamische Natinalökonomie ; allein
ihr Besitz ist ebenso wenig die einzige Pforte zur Wahrheit als ihr Nichtbesitz die
einzige oder auch nur die hauptsächliche Quelle des Irrthums war. Sondern man irrte,
wenn und weil man bisweilen — wenn auch natürlich in sehr verfeinerter Form —
rechnete, dass zweimal zwei fünf macht, oder wenn und weil man aus eirier unvollkom-
menen oder lückenhaften empirischen Beobachtung voreilige oder unrichtige Generalisa-
tionen ableitete : kurz man irrte, nicht weil man statt zu inducieren deducierte oder
umgekehrt, sondern weil man falsch deducierte oder inducierte. Wirkliche Irrthümer
stammen nie daher, dass man irgend etwas — sei es eine zweckmässige Methode, sei
es die dynamische Nationalökonomie — nicht treibt, sondern immer nur daher, dass
man dasjenige, was man treibt, falsch treibt. Richtige Anwendung einer unzweckmässi-
gen Methode kann schlimmstenfalls zur Resultatlosigkeit einer Untersuchung führen,
aber für sich allein noch nie zu einem positiven Irrthum. Wenn man einem Problem
rein inductiv zu Leibe geht, das sich nicht ohne Mithilfe einer Dosis von Deduction
lösen lässlf, so wird man eben einen Haufen unnützen Materials aufstapeln ; oder wenn
man umgekehrt einem Problem, das zweckmässig empirisch zu behandeln wäre, auf rein
33*
508 Literaturbericlit
deductivem Weg zusetzt, so wird man entweder nichts, oder allenfalls etliche Sätze heraus-
bringen, die mit so vielen Einschränkungen und hypothetischen Annahmen verclausuliert
sind, dass mit ihnen für die reale Erkenntnis nichts geholfen wird. Aber wohlgemerkt:
einen positiven Irrthum auszusprechen, dazu gelangt man auf jedem der beiden unzweck-
mässigen Wege doch erst dann, wenn man noch einen specifischen Fehler oder Trug-
schluss hinzufügt; wenn man z. B. aus einem inducti^en Materiale, das noch keinen
generalisierenden Schluss gestattet, dennoch einen solchen zieht, oder wenn man eine
beschränkte abstracto Wahrheit, die nur unter gewissen hj^pothetischen Prämissen gilt,
als allgemein giltig enuncieren würde. Das sind aber nicht Fehler in der Wahl der
Methode, sondern Fehler in der Handhabung der gewählten Methode.
Alles das, glaube ich nun, gilt mutatis mutandis auch in der Frage der „statischen"
oder „dynamischen" Behandlungsweise des Stoifes. Ganz gewiss wird eine rein „statische"
Nationalökonomie immer in gewisser Beziehung unvollständig sein — gerade so wie
z. B. ein System der Mechanik unvollständig wäre, in dem das Capitel über Statik
nicht durch ein Capitel über Dynamik ergänzt würde — ; wenn dieselbe aber positiv
falsch gerathen ist, so ist sie aus specifischen, in ihr selbst gelegenen Gründen oder
Versehen falsch gerathen, und muss durch ebenso specifische und in ihr selbst vorzu-
nehmende Verbesserungen saniert werden. Die Einführung des dynamischen Elementes
aber kann eine solche Sanierung aus sich nicht bringen. Im Gegentheil wird wahrscheinlich
eine Dynamik, die auf eine falsche Statik aufgebaut wird, selbst falsch gerathen. und
darum kann ich in der Berücksichtigung des dynan-ischen Elementes, die ich im übrigen
durcliaus billige und auch meinerseits so warm als müglich befürworten möchte, zwar
eine höchst schätzbare Bereicherung der Wissenschaft, aber keinen ihr System revolutio-
nierenden Fortschritt, und insbesondere nicht den entscheidenden Wendepunkt zwischen
der Nationalökonomie der Vergangenheit und jener der Zukunft erblicken.
Vollkommen einverstanden bin ich mit Patten, wenn er für die Theorie der
Consumtion eine wichtige Stelle im gesammten System der nationalökonomischen
Theorie in Anspruch nimmt. Ebenso hat er unzweifelhaft im Princip Piecht, wenn er
das Gesetz der Vermannigfaltigung der Bedürfnisse aufstellt und seiner Wirksamkeit einen
Einfluss zuschreibt, der sich in der Richtung auf eine Erhöhung des Güterwerts äussern
muss. Aber das Maass dieses Einflusses scheint er mir wieder sehr zu überschätzen. Wenn
ich ihn recht verstanden habe, ist er geneigt als crfahrungsmässige Norm anzunehmen,
dass die Vermehrung der Bedürfnisse, die sich als secundäre Folge der Vermehrung unseres
Güterbesitzes einzustellen pflegt, einen so starken Einfluss in der Richtung auf die Er-
höhung des Güterwertes ausübt, dass dadurch der unmittelbare, primäre Einfluss, den
die Vermehrung der Gütervorräthe selbst nach bekannten Gesetzen jederzeit in gerade
entgegengesetzter Richtung, im Sinne einer Verminderung des Güterwertes, äussert,
noch überboten wird und als Resultante der sich durchkreuzenden Einflüsse eine Erhö-
hung des (subjectiven) Güterwertes zum Vorschein kommt. Diese Meinung scheint mir
auf einer mangelhaften Beobachtung der Thatsachen zu beruhen. Das thatsächliche
Stärkeverhältnis der beiden einander entgegenwirkenden Factoren ist erfahrungsgemäss
in aller Regel das entgegengesetzte. Mit zunehmendem Besitze sinkt der Grenznutzen
und subjectivö Wert der Gütereinheit, und die der Erweiterung des Güterbesitzes „dynamisch"
sich zugesellende Vermehrung der Bedürfnisse hat in alier Regel nur die Kraft, dieses
Sinken zu verlangsamen, keineswegs aber dasselbe aufzuheben oder gar in das Gegentheil
zu verkehren. Letzteres mag vielleicht ausnahmsweise unter gewissen amerikanischen
Verhältnissen der Fall sein; z. B. bei Colonisten in sehr fruchtbaren und dünn bevöl-
kerten Districtcn, bei denen die anfängliche Armut nur als eine Armut an Güter arten
auftritt, während an den gemeinen Lebensbedürfnissen, Nahrungsmitteln und dgl. voller
Uebei-fluss herrscht. Hier mag allerdings Anfangs der Grenznutzen und subjective Wert
der Gütereinheit ein kleinerer, und später, nach eingetretener Häufung der Güter-
arten und Bedürfnisse ein grösserer sein. Aber für unsere europäischen Verhältnisse,
denen ohne Zweifel auch die Verhältnisse in den dichter bevölkerten Gegenden Amerikas
in diesem Stücke gleichen, ist der Gang sicher der umgekehrte. Unsere Armen leiden
Literaturbericht. 509
schon an den gemeinsten Gütern Mangel oder Knappheit. Infolge davon ist für sie der
Grenznutzen und subjective Wert der Gütereinheit ein hoher (ich will hier einschalten»
dass ich Patten' s eigenthümlicher Unterscheidung von „absoluter" und „positiver Nütz-
lichkeit'', die ihn zur Consequenz leitet, dass der Wert gerade der unabweisbarsten
Lebensbedürfnisse ein niedriger sei, nicht zustimmen kann), um später bei zunehmender
Wohlhabenheit zu sinken. Der schlagendste Beweis dafür liegt darin, dass wohl ohne
Ausnahme der Verlust einer gleichen Gütersumme, z. B. von 100 Gulden, dem Armen
eine ungleich härtere Entbehrung auferlegt und auch subjectiv von ihm ungleich härter
empfunden wird als vom Reichen, obwohl der letztere mit seinem grösseren Einkommen
auch vermehrte Bedürfnisse zu versorgen hat !
Ich habe in den vorstehenden Zeilen Veranlassung gehabt hauptsächlich solche
Punkte zu berühren, in denen meine Ansichten von denen Patten's sich trennen.
Sie können daher dem Leser kaum eine richtige Vorstellung von dem Grade des
Vergnügens und der Belehrung geben, womit ich in vielen anderen Punkten den geist-
vollen Ausführungen Patten's gefolgt bin. Ich will das Versäumte mit zwei Worten
nachholen : seine neue Schrift ist von der ersten bis zur letzten Zeile ein „echter Patten !"
E. Böhm-Bawerk,
Herkuer Heinrich, Dr., a. o, Professor der Nationalökonomie an der Universität
Freiburg i. B. Die sociale Keforiii als Gebot des wirtscliaftliclieii Fortschrittes.
112 S. Leipzig 1891. Duncker & Humblot.
Das mit dem Motto: „Protegez le pauvre, si vous voulez que l'industrie fleurisse,
car le pauvre est le plus important des consonmiateurs" in die Welt gesandte Büchlein,
die Grundlage einer akademischen Rede, hat sich zum Ziel gesetzt, die Bedenken mit
zerstreuen zu helfen, welche weniger in der Wissenschaft als in der öffentlichen Meinung
so oft gegen die sociale Reform vom wirtschaftlichen Standpunkte aus erhoben werden.
Auch soll darin dargethan werden, wie eine sociale Reform im Sinne einer grösseren
Antheilnahme der arbeitendon Classen am Reinertrage der nationalen Production die
wirtschaftliche Entwicklung nicht nur nicht schädigen könne, sondern vom Standpunkte
der wissenschaftlichen Nationalökonomie geradezu als ein Gebot des wirtschaftlichen Fort-
schrittes zu gelten habe.
Zunächst betont der Verfasser, der sich durch seine Schriften in der volkswirt-
schaftlichen Literatur schon vortheilhaft bekannt gemacht hat, dass so mangelhaft die
exacte Erforschung unserer socialen Zustände auch sein möge, so könne die betrübende
Thatsache doch nicht mehr angezweifelt werden, dass die grosse Mehrheit des Volkes in
äusserst dürftigen Verhältnissen, vielfach sogar in dem Zustande bitterster Armut lebe.
Diese Behauptung wird durch Beispiele aus statistischen Untersuchungen der Einkoaimens-
vertheilung, der Wohnungszustände zu stützen gesucht. Um hier eines derselben heraus-
zugreifen, so befanden sich in Berlin 1880 159639 Personen in sogenannten über-
völkerten Wohnungen. Eine solche Uebervölkerung beginne aber erst nach dem Sprach-
gebrauch der Statistiker, wenn in einer ein zimmrigen Wohnung 6 und mehr, in einer
zweizimmrigen Wohnung 10 und mehr Personen sich aufhalten. In solch grauenhaften
Verhältnissen lebten 159639 Berliner oder 14 Procent der hauptstädtischen Bevölkerung
Solche Misstände bestünden aber auch in anderen Gross- und Fabrikstädten.
Welchen Einfluss aber die kümmerlichen Einkommensverhältnisse und solche ent-
setzliche Wohnungszustände auf die Sterblichkeit der Menschen ausübten, sei in erschüt-
ternder Weise von G. F. Knapp für Leipzig dargethan worden. Während der Tod dort
in den wohlhabenden Schichten der Gesellschaft mit einem Tribute von 26 aus 100
Kindern im ersten Lebensjahre sich begnügte, forderte er von den Armen 50. Die Sterb-
lichkeit von Arm und Reich überhaupt verhielt sich wie 30 : 18.
Sodann wird die Frage erörtert, welchen Einfluss die Lohnsteigerungen auf die
wirtschaftliche Entwicklung ausüben. Lohnsteigerungen könnten erfolgen: erstens auf
Kosten der Consumenten der Ware, und zweitens auf Kosten der Gewinne der Unternehmer
Der erstere Fall, die Abwälzung der um die Lohnsteigerung erhöhten Productions-
kosten auf die Consumenten durch Erhöhung der Warenpreise, werde in Gewerben die
510 Literaturbericht.
Kegel bilden, die ihrer Natur nach ein locales oder nationales Monopol besitzen oder
ein bedeutendes Ueb ergewicht über die Gewerbe des Auslandes behaupten. Freilich
würden die Consuraenten der vertheuerten Ware dann für andere Waren eine geringere
Kaufkraft entfalten können. Allein für diesen möglichen Ausfall trete die durch den
höheren Lohn gestiegene Kaufkraft des Arbeiters ein. Nicht der Umfang der Production
werde sich also durch die Lohnsteigerung verändern, sondern nur die Art und Richtung der
Production. An die Stelle der Production von entbehrlichen Gütern trete eine grössere
Production von unentbehrlichen Verbrauchsgütern.
Die Lohnsteigerung könne zweitens aber auch erfolgen auf Kosten des Unter-
nehmers. Dem Unternehmer könne die Abwälzung auf die Consumenten verschlossen sein,
weil eine Preiserhöhung die wirksame Nachfrage zu sehr beschränken würde; oder weil
er mit Unternehmern im Wettbewerbe steht, die unter wesentlich günstigeren Bedingungen
producieren und deshalb auch keine Preiserhöhung anzustreben brauchen, vielmehr die
Gelegenheit benützen würden, um den ganzen Absatz an sich zu reissen. Diese Lohn-
steigerung auf Kosten des Gewinnes der Unternehmer werde um so leichter durchzu-
führen sein, je grösser die Gewinne an sich sind, und je schwerer es sei, das in dem
betreffenden Gewerbe angelegte Capital zurückzuziehen. Lohnsteigerungen auf Kosten dej:
Gewinne der Unternehmer würden daher leichter im Grossbetriebe als in der Haus-
industrie und in mittleren und kleineren Betrieben erfolgen können.
Diese Annahme aber, dass die Warenpreise infolge von Lohnsteigerungen im Ver-
hältnis der Lohnerhöhung aufschlagen, treffe mehr in der Theorie zu. Betrachte man die
thatsächliche Entwicklung der Dinge, so komme man zu der Ueberzeugung, dass dieselbe
wenig Wahrscheinlichkeit besitze. Wie die Erfahrung lehre, würden die Lohnsteigerungen
vielfach wettgemacht durch Verbesserungen in der Technik des Gewerbebetriebes. Somit
müsse man niedrige Löhne geradezu als fortschrittsfeindlich bezeichnen. Wenn nun in
Deutschland die rückständigen Betriebsformen der Hausindustrie und des Kleingewerbes
noch in so grosser Ausdehnung sich vorfänden, so sei diese Erscheinung hauptsächlich
als eine Folge der niedrigen Löhne und der niedrigen Lebenshaltung der arbeitenden
Classen in Deutschland aufzufassen.
Der Unternehmer habe bei der gegenwärtigen Organisation des Wirtschaftslebens ja
kein unmittelbares Interesse an der Vervollkommung der technisch -ökonomischen Organi-
sation des Betriebes. Er habe nur ein Interesse an der Höhe des Unternehmergewinnes.
Vom Standpunkt des technisch-ökonomischen Fortschrittes müsste also eine Lohn-
erhöhung nur als ein erfreulicher Autrieb zu technischen Verbesserungen warm begrüsst
werden, wenn auch nicht behauptet werden solle, dass jede Lohnsteigerung durch Ver-
besserung wettgemacht werden könnte. Im allgemeinen würden hier die schönen Worte
von Adara Smith zutreffen, w^elcher auf die Frage, ob die Verbesserung in der äusseren
Lage der niederen Volksclassen als Vortheil oder Nachtheil für die Gesellschaft betrachtet
werden müsse, die Antwort gebe: ,.Diener, Arbeiter und Handwerker aller Art machen
den weitaus grössten Theil jeder bedeutenderen Staatsgemeinschaft aus. Was aber die
Lebensverhältnisse des grössten Theiles verbessert, kann
niemals als ein Nachtheil für das Ganze betrachtet werden. Es
ist gewiss, dass kein Staat blühend und glücklich sein kann,
wenn der weitaus grössteTheil seiner Bürger arm undelend ist."
Im VIII. Abschnitt wird die Frage zu beantworten gesucht, inwieweit die heutige
alle früheren Zeiten übertreffende Productivität der Arbeit auch das Los der arbeitenden
Classen verbessert habe. Allerdings müsse zugegeben werden, dass eine Pteihe von Waren
durch die technischen Fortschritte erheblich im Preise gesunken und somit den Arbeitern
selbst bei gleichbleibender Höhe des Einkommens zugänglicher geworden sei. Allein
gerade diejenigen Bedürfnisse, deren Befriedigung den weitaus grössten Theil des Ein-
kommens der besitzlosen Schichten verschlinge, das Nahrungs- und W o h n u n g s-
*) Adam Smith, „Natur und Ursachen des Volkswohlstandes.^ Uebersetzt von L'jweuthal. Berlin
1882. I. S. 84.
Literaturbericht. 511
"bedürfnis, könnten heute kaum wesentlich besser gedeckt werden, als in früheren
Zeiten. Gerade auf diesem Gebiete sei die Produetivität der Arbeit bis jetzt in verhält-
nismässig geringerem Maasse gewachsen als auf industriellem Gebiete. Da aber die Aus-
gaben für Ernährung und Wohnung bei gleichbleibendem oder wenig wachsendem Ein-
kommen nur einen kleinen Theil der Einnahmen des Arbeiters zum Ankaufe industrieller
Erzeugnisse übrig Hessen, so sei die ungeheuere Zunahme der Produetivität der industriellen
Arbeit den Arbeitern auch nur in äusserst beschränktem Maasse zu statten gekommen.
Die Kaufkraft der Arbeiter für Erzeugnisse der Industrie habe mit dem Wachsthum der
industriellen Productivkraft durchaus nicht gleichen Schritt zu halten vermocht. Am
höchsten dürfte noch die Verbesserung in Bezug auf Kleidung, Wäsche und Schuhwerk
zu veranschlagen sein. Herkner unternimmt es, seine Behauptung durch ein ziemlich
umfangreiches, concretes Material aus den zahlreichen und eingehenden Untersuchungen
die namentlich in den letzten Jahren über die Lebensweise der arbeitenden Classen ange-
stellt worden sind, zu unterstützen. »
So würden Beobachtungen, die über die Lage der Berliner Metall-Arbeiter vor
kurzem aufgezeichnet wurden, ergeben, dass eine Familie mit drei Kindern bei einer
Gesammtjahresausgabe von 1665 Mark nur 360 Mark auf Kleidung, Beschuhung, Wäsche,
Ergänzung des Hausrathes und Diversa verwenden konnte.
Aus dem Minimalhaushaltungsbudget einer Leipziger Buchdruckerfamilie mit zwei
Kindern erhelle, dass bei einem Einkommen von 1362 Mark, in welches jedoch der Ver-
dienst der Frau schon einbezogen ist, für Bekleidung, Schuhwerk und Wäsche nur
174,40 Mark verfügbar waren. „Um das Schuhwerk zu sparen, laufen die Kinder in der
wärmeren Jahreszeit barfuss."
Eine Arbeiterfamilie in Frankfurt am Main mit 4 Kindern mit einem Einkommen
von 1145,19 Mark gab für Kleidung, Wäsche, Haushaitun gsgegenstäude und deren
Eeparatur sogar nur 100,78 Mark aus. Vom Familienvorstand heisse es: (Frankfurter
Arbeiterbudgets. Schriften des Freien Deutschen Hochstiftes). „Er kauft sich wohl
einmal eine Arbeitshose oder ein derart unentbehrliches Kleidungsstück, hat aber seit
15 Jahren keinen neuen vollständigen Anzug mehr sich angeschafft."
Um die Consumkraft der Arbeiterfamilie einer F a b r i k s t a d t*) in Bezug auf
Kleidung kennen zu lernen, gibt der Verfasser folgende Angaben, welche den Budgets
Mnlhauser Arbeiter entnommen sind.
>) Auch die treffliche Schrift „Die sociale Lage der Fabrikarbeiter in Mannheim
und dessen nächster Umgebung" von Dr. F. W ö r i s h o f f e r, Oberregierun gsrath und Vorstand
der grossh. badischen Fabrikinspection, enthält hierzu einiges ^faterial. Eine Familie — das Haupt ist iMaschinen-
former in einer Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen — bestehend aus Mann, Frau und drei Kindern im
Alter von 1 bis 3 Jahren mit einem Einkommen von 1940 Mark konnte nur ausgeben für
Kleider a) neue 105 Mk.
b) Reparaturen (besorgt die Frau) — „
Schuhwerk a) neu^s i^" n
b) Reperaturen 17 ,,
Anschaffung und Reparatur von Wäsche 21 „
Anschaffung und Erneuerung von Haushaltuugsgegenständen 13 „
(S. 245). ■
A^on einer besseren Arbeiterfamilie ebenfalls mit drei Kindern — Das Haupt ist Eisendreher in
einer :Maschinenfabrik — wird berichtet, dass sie bei einem Einkommen von 2030 Mk. nur verausgaben
konnte, für:
Schuhwerk a) neues 50 Mk.
b) Reparaturen 28 „
Anschaffung und Reparatur von "Wäsche .... - 22 „
Kleider a) neue 55 „
b) Reparaturen 20 ,,
Anschaffung und Erzeugung von Haushaltungsgegenständen 30 „
(S. 250/51).
Dr. Wo ris hoffer fasst seine aus den dargelegten Arbeiterbudgets geschöpfte Betrachtung über die
.,thatsächliche geringe Kaufkraft der Arbeiter für Industrieproducte" dahin zusammen :
^Jedenfalls ist es von grosser Bedeutung, dass der für die nationale Volkswirtschaft täglich wichtiger
werdende Stand der Arbeiter nur in sehr bescheidenem Maasse zur Beschäftigung der
Industrie b e i t r ü g t." — (S. 291.) D. Ref.
512
Literaturbericlit.
Einkommen
in Mark
Zahl
der Kinder
Ausgaben
für Kleidung
in Mark
813
1
40
1103
1
' 80
IUI
4
80
.
1123
2
128
1310 1
3
222
1462
2
160
1652
6
84
1770
4
208
2472
6
360
2680
2
240
1
1
i
Auch über die Consumkraft der Hausindustrielleii, denen in unserem
Erwerbsleben eine grosse Bedeutung zukommt, werden in Bezug auf industrielle Erzeug-
nisse einige Mittheilungen gemacht, von denen wir nur eine anführen wollen:
Die vom königlichen Amtshauptmann V 0 n Schlieben im Bezirke der Amts -
hauptmannschaft Zittau in Sachsen augestellten Beobachtungen über die Lebenshaltung
verheirateter Handweber, ergaben folgende Ergebnisse:
Gesammte Jahres-
ausgabe in Mk.
!
j Zahl der Kinder
Ausgaben
für Kleidung und
1 Mobilien in Mk.
305
0
26
341
2
47
385
4
14
424 '
3
21
464
4
10
506
3
43
520
3
18
546
2
32
651
4
39
779
4
56
Mit Recht betont H e r k n e r, würden alle diese Mittheilungen nicht von so unbe-
dingt zuverlässiger und sachkundiger Seite herrühren, man müsste in der That Bedenken
tragen, sie für richtig zu halten. Aus den angegebenen Thatsachen erhelle wohl zur
Genüge wie wenig unsere industriellen und hausindustriellen Arbeiter als Abnehmer für
Industrie in Betracht kommen könnten, wie wenig die Vermehrung unserer productiven
Kräfte ihre Consumfähigkeit gesteigert habe.
Hiemach wird die Frage erörtert, ob die obersten Einkommensclassen — die
kleine Zahl der Reichen — einen vollkommenen Ersatz für die mangelnde Kaufkraft der
arbeitenden Classe zu bieten im Stande seien.
Der Reiche könne nicht unendlich viel mehr consumieren als der Angehörige einer
niedrigen Einkommensciasse, er müsse Luxus treiben, wenn er sein ganzes Einkommen
der Consumtion widmen will. Insofern werde der gegenwärtige Vertheilungsprocess des
Einkommens die Entwicklung von Luxus- und Modeindustrieen fördern. Das sei bis zu
einem gewissen Grade durchaus kein Schaden. Allein die von der höheren Con^mkraft
der Reichen entwickelten Luxusindustrieen seien keineswegs im Stande, unsere ganze
productive Kraft zu absorbieren. Dazu trete aber noch ein weiterer Umstand. Nur ein
geringer Bruchtheil werde das ganze Einkommen, das er bezieht, der Consumtion widmen
Literatlirbericht. 513
wollen. Dazu veranlasse einmal die Fürsorge für die Zukunft und ferner die Abneigung
gegen einen so grossen Luxus, wie er entfaltet werden raüsste, falls das ganze Einkommen
der Consumtion zugeführt werden sollte. Nicht immer sei es die Eücksicht auf einen
höheren Consum, auf eine noch höhere Lebenshaltung, welche die Eeichen zum weiteren
Reichthumserwerbe ansporne. Sie strebten nach demselben wegen des Ansehens, wegen
der grossen socialen, wirtschaftlichen und politischen Macht, die er verschaffe. So würden
denn von diesen Schichten der Bevölkerung jährlich ungeheuere Beträge des Einkommens
der Consumtion entzogen und capitalisiert, d. h. zur Verwandelung in Productionsmittel
bestimmt, mögen auch für die bereits bestehenden Anlagen die Absatzgebiete fehlen.
So führe also die gegenwärtige Einkommensvertheilung unausbleiblich zu einer Störung
des Gleichgewichtes zAvischen Production und Consumtion. Die Folge davon sei eine
Hemmung des Fortschrittes in unserem Wirtschaftsleben. Es werde ohne Zweifel unsere
technisch-öconomische Entwicklung auf das empfindlichste geschädigt, so dass wir gerade
wegen der ungenügenden Einkommensvertheilung bei weitem nicht denjenigen Zustand
der technisch-ökonomischen Organisation erreicht haben, den der Stand der technischen
Wissenschaften und unser Capitalreichthum an sich schon längst möglich gemacht hätten .
Das geringe Einkommen, das unsere Arbeiterbevölkerung beziehe, sei eine der wesent-
lichsten Ursachen für die gerade in Deutschland noch so grosse Ausdehnung rückstän-
diger Betriebsformen. Hausindustrieen, Kleingewerbe, Unternehmungen, die mit einer
unvollkommenen maschinellen Ausrüstung und einer ungenügend entwickelten Arbeits-
theilung arbeiten, würden sich noch weit über die Zeit hinaus behaupten, für welche
sie eine absolute Berechtigung besassen.
Und zwar wirke hier das geringe Einkommen der Arbeiter in zwiefacher Weise
schädlich. Einerseits gestatteten die niedrigen Löhne auch bei zurückgebliebener Technik
noch dem Unternehmer den Wettbewerb, und andererseits schrecke man vor Verbesse-
rungen, welche die Productivität der Arbeit erhöhen, schon aus dem Grunde zurück, weil
dieselben ja die Menge der Producte ungemein steigern würden. Nun wisse man aber
schon jetzt bei der unentwickelten Consumkraft der Massen für die geringeren Quanti-
täten kaum Absatz zu finden. So könne man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass
unser Wirtschaftskörper an einer furchtbaren Kreislaufstörung leide, dass sich eine be-
drohliche Hypertrophie einzelner Theile ausgebildet habe, die wir vergebens mit Ader-
lässen zu curieren trachten. „Wann wird", fragt Herkner „endlich den Deutschen ein
Carlyle erstehen, der ihnen mit gewaltigen, wuchtigen, alle Kreise der Gesellschaft
erfassenden Worten klar macht, dass die sociale Frage nicht eine der verschiedenen
Fragen unserer Zeit, sondern dass sie die Frage ist, das A und ii von allen, dass die
Lage der grossen Masse des Volkes in einem Lande die Lage des Landes selbst ist." —
In der That herrsche eine erschreckende Gleichgültigkeit in den gebildeten und besser
situirten Classen gegenüber offenbaren Missständen in der Lage der Arbeiter.
So erscheine denn die sociale Reform im Sinne einer gleichmässigeren Vertheilung
des Volkseinkommens nicht nur als Gebot der Humanität, der Gerechtigkeit, der staats-
erhaltenden Politik, sie habe nicht zum wenigsten auch zu gelten als Gebot des wirt-
schaftlichen Fortschrittes.
Der Verfasser bezeichnet nun auch die wichtigsten Reformen, welche auf die Verthei-
lung des Reinertrags der nationalen Production einen Einfluss auszuüben vermögen. Er
scheidet dabei solche, als deren Träger der Staat erscheint und solche, welche aus der
Initiative der arbeitenden Classen selbst hervorgehen. Zu jenen rechnet er zunächst die
Arbeiter Schutzgesetzgebung. Diese komme hier nur insoweit in Betracht
als sie die Handhabe biete, den arbeitenden Classen einen höheren Antheil am Rein-
gewinn der nationalen Production zu verschaffen. Durch den Arbeiterschutz würden
Kinder vor einem bestimmten Lebensalter von der Verwendung zur Arbeit ausgeschlossen.
Die Arbeit der jugendlichen und weiblichen Personen werde auf gewisse Tagesstunden
beschränkt.
Die A r b e i t e r v e r s i c h e r u n g, besonders die reichsgesetzliche dürfe, vom
Standpunkt der Einkommensvertheilung aus nicht als gleichgiltig betrachtet werden.
514 Literaturbericht.
Das Finanzwesen. Dieses biete wohl neben der Ordnung des Erbrechtes
dem Staate die mächtigsten Handhaben dar, um die Vertheilung des Volkseinkommens
zu beeinflussen. Hier werden stark progressive Ertrags-, Einkommens-, Vermögens- und
Erbschaftssteuern vorgeschlagen, deren Erträge zur Entlastung der ärmeren Schichten
der Bevölkerung verwenden werden müssten, wenn eine socialpolitische Wirkung erzielt
werden solle.
Wenn der Verfasser die Verstaatlichung und C o m m u n a 1 i s i e r u n g
gewisser Betriebe, wie das Verkehrs-Versicherungs- und Creditwesen vorschlägt, da die
Ueberfiihrung dieser Zweige des Wirtschaftslebens in den öffentlichen Betrieb die M ö g-
lichkeit biete, bei der Verwaltung, das fiscalische Interesse zurücksetzend, lediglich
volkswirtschaftliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, so müssen wir dies entschieden
bezweifeln.
Mit Recht betont dagegen Herkner, was uns vor allem noth thue, das
sei eine ganz energische Bekämpfung der immer bedrohlicher werdenden Latifundien-
bildung.
Mit der Aufhebung der PV^eicommisse sei die Frage freilich noch
nicht gelöst. Hand in Hand damit müssten auch Bestrebungen zur Ausstattung der
ländlichen Arbeiter mit Grundbesitz gehen.
Dies seien im allgemeinen nur die Mittel, welche dem Staate zu Gebote stehen,
um eine Besserung der Einkommensvertheilung zu erzielen. Als aus der Initiative der
arbeitenden Classen selbst hervorgehende Einwirkungen werden genannt:
Die Organisation der Arbeiter in Berufs verbänden (Gewerk-,
Fachvereinen). In ihnen biete sich den Arbeitern die Gelegenheit dar, selbst an der
Erhöhung ihres Antheils am Reinertrag der nationalen Production mitzuarbeiten. Und
diese Art der Steigerung ihres Lohnes gewähre auch die beste Garantie dafür, dass der
Lohn, dessen Erhöhung von den Arbeitern selbst durch die Organisation oft unter ausser-
ordentlichen Mühen, Opfern und Entbehrungen errungen worden sei, von ihnen in ange-
messener Weise zu einer vernünftigen Steigerung ihrer Lebenshaltung und nicht zu
sinnloser Vergeudung benutzt werde.
Der Staat sollte alle Hindernisse, welche der Entwicklung derartiger Verbände
entgegenstehen, aus dem Wege räumen. Deutschland werde dieser Forderung leider
immer nicht in ausreichendem Maasse gerecht, trotzdem völlige gewerbliche Organisations-
freiheit gerade den besten Schutz gegen das Aufkommen social-revolutionärer Gewalt-
parteien biete.
Ausser den Berufsverbänden kämen für die arbeitenden Classen noch die Consum-
und Productiv-Genossenschaften in Betracht.
Dies sind nach dem Verfasser die vornehmsten Maassnahmen, welche uns auf dem
Boden der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung zu einer gleichmässigeren Einkommens-
vertheilung und damit zu einer Förderung des wirtschaftlichen Fortschrittes führen
würden.
Nachdem noch versucht wird, die gegen die sociale Reform erhobenen Einwände
zu widerlegen, schliesst die kleine, aber recht bemerkenswerte Schrift unter dem Hin-
weise, dass, wenn grosser Wert darauf gelegt werde eine wirksame sociale Reform auf dem
Boden der heutigen ökonomischen Verfassung herbeizuführen, so geschehe dies nicht aus
dem Grunde, weil diese Ordnung als eine ewige, in ihren vornehmsten Einrichtungen durch-
aus unabänderliche erscheine.
Wie unsere Wirtschaftsordnung im Laufe der Zeiten sich allmählich gestaltet habe,
so werde sie auch einst in andere Formen des Daseins übergehen. Könne man auch
nicht im voraus, sagen, wie die zukünftige Organisation beschaffen sei, so viel stehe aber
fest, die Zukunft gehöre derjenigen Nation, welche die besten socialen Beziehungen
zwischen ihren Bürgern besitze.
F r a n k f u r t a. M. Dr. E u g c n E 1 k a n.
Literaturbericht. 525
Adolf Jäger. Die sociale Frage, Xeu-Euppin, Petrenz 1891. 2 Bände X, 274 u. 295.
Das vorliegende Werk zerfällt in zwei Bände, deren erster den Titel trägt: Ein
Schlüssel zur Prophetie* des Neuen wie des Alten Testaments, der zweite: Die 3ociale
Frage im Licht der Offenbarung, in der Geschichte der Völker und im Irrlicht der Zeit.
Der erste Band behandelt der Hauptsache nach die Offenbarung des heiligen Johannes
unter Deutung derselben auf die deutsche und jüdische Reichsgeschichte von streng
evangelischem Standpunkte; für den Nichttheologen ist es schwer, den eingehenden,
und weit ausgreifenden Auseinandersetzungen und Analogien, welche der gelehrte
Autor bietet, zu folgen; auch dürfte es nicht Jedermanns Sache sein, den scharf-
polemischen Zug gutzuheissen, der speciell der katholischen Kirche gegenüber überall zu
Tage tritt; nichts desto weniger mag dem Scharfsinne und der Ausdauer des Autors bei
seinem mühsamen, mit FeuerCifer durchgeführten Deutungswerke 'die gebürende Aner-
kennung gezollt werden.
Der zweite Band bietet fiir den Laien grösseres Interesse; er untersucht die
Geschichte der wichtigsten europäischen Völker u. z. insbesondere ihre socialen und
Währungs -Verhältnisse im Geiste des gelehrten Theologen und vom Standpunkte
desselben, wobei allerdings von vornherein vielfach auf wissenschaftliche Objectivität
verzichtet wird. Dieser zweite Theil ist reich an historischen Einzelnheiten und zeit't
von grosser Belesenheit und bedeutendem Scharfsinne. Das ganze Werk dürfte, wie zu
fürchten ist, schon seiner Anlage und seinem Geiste nach bei einem vielleicht grossen
Theile des Publicums wenig Verständnis finden, wenngleich gar viel des Beherzigens-
werten darin enthalten ist und manche von den vorgetragenen Ideen weitere Verbreituno-
verdienen würden. Schullern.
Coniglianl C. A. Note storiche sulla questione giuridica dei pagamenti monetarii
Modena, Namias 1891. (34 S.)
Der durch sein Buch: „Teoria generale degli effetti economici delle imposte", Milano,
Hoepli 1890, in weiten Kreisen bekannte Autor hat sich durch einige kleinere Arbeiten
auch auf dogmengeschichtlichem Gebiete als literaturkundiger und scharfsinniger Forscher
erwiesen; eine derselben ist betitelt: „Le basi subjettive dello scambio nella storia
letteraria della Economia", Pavia, Fusi, 1890, die zweite betrifft das Problem des Geldes
und führt den Titel: „Le dottrine monetarie in Francia durante il medio evo", Modena,
Namias 1890. Der letzteren reiht sich nun dem Gegenstande nach die in der Ueberschrift
genannte Abhandlung an, welche dogmengeschichtlich die Frage behandelt, wie Zahlungen
zu leisten seien, welche in einer Münze vorgenommen werden können oder müssen,
die seit dem Zeitpunkte des Vertragsabschlusses Wertveränderungen erlitten hat. Die
Lehre vom gesetzlichen, die vom Innern und die vom laufenden Werte der Münzen werden
in ihrem Ursprünge, und ihrer Entwicklung untersucht, auf ihre historische Berechtigung
und ihre historischen Ursachen geprüft. Diese interessanten, klaren und eingehenden
Darlegungen führen den Autor zur Erkenntnis, dass die modernen Münzverhältnisse
juristisch nur noch jener Lehre Daseinsberechtigung zugestehen können, welche den
entgegengesetzten Interessen der Parteien gegenüber der gesetzlichen Münzbewertung
im Momente der Zahlung allein Berücksichtigung zugesteht. Schullern.
Euiilio Cossa. La diminuzione delle ore di lavoro nei suoi rapporti con la soluzione
del problema sociale, Milano, Vallardi 1892. 35 pag. Die italienischen Gelehrten haben
sich bisher gegen die socialistischen Bestrebungen und gegen die Einmengung des Staates
in die wirtschaftlichen Verhältnisse vielfach ziemlich ablehnend verhalten, ja man hat
den Staatssocialismus manchmal sogar als eine unwissenschaftliche Richtung betrachtet.
Der Autor der „Forme naturali della economia sociale" hat nun, abweichend von dieser
herrschenden Richtung, den Versuch gemacht, die von den Arbeitern verlangte Abkürzung
der Arbeitszeit auf ihre Durchführbarkeit und ihre Wirkungen zu prüfen und über die
Zulässigkeit der Einflussnahme des Staates auf die Befriedigung dieser Forderung Klar-
heit zu gewinnen. — Der grösste Theil der Schrift ist der Darstellung und Kritik der
bezüglichen Auffassungen der Socialisten und der Oekonomisten gewidmet; die Irrthümer
beider sind hervorgehoben und schliesslich die Meinung verfochten, dass die Verkürzung
51(3 Literaturbericht.
der Arbeitszeit auch im Interesse der Arbeitgeber liege, insbesondere weil sich die
Production immer mehr dem inländischen Consume anpasse und weil infolge dessen die
heute beschäftigungslosen Arbeiter in Arbeit gezogen werden müssen, um sie zu Nach-
fragern auf dem Productenmarkte zu machen; dies aber könne nur dann geschehen, wenn
die Arbeitszeit beschränkt werde u. z. wegen der beschränkten Menge des Complementär-
gutes Capital. Auch ohne Abschaffung des Privateigenthums müsse also die normale
Entwickelung diesem Ziele entgegenführen. Der Umstand^ dass die Beschränkung der
Arbeitszeit nicht nur wirtschaftlich wichtig, sondern auch in andern, erhabeneren
Richtungen bedeutungsvoll sei, rechtfertige es, wenn der Staat auf die Entwickelung
der Dinge in dieser Richtung Einfluss nehme. — Die vorliegende Schrift ist höchst
anregend und nur vielleicht von etwas zu grossem Optimismus durchweht.
Im Wesentlichen dasselbe Thema, wie die vorliegende Schrift, behandelt Riccardo
Dalla Yolta in seiner zuerst im „Economista" und nun als selbstständige Publication
erschienenen Abhandlung: „La riduzione delle ore di lavoro e i suoi effetti economici"'
auf die wir zurückzukommen gedenken. Scliullern.
Carlo Francesco Ferraris: Priiicipii di Scienza bancaria, Milano, Ulrico
Hoepli 1892, 4-45 S. 6. L. 50.
Unter den ersten Vertretern der in Italien mächtig aufstrebenden Volkswirtschafts-
lehre ist C. F. Ferraris zu nennen. Schon im Jahre 1879 hat er seine wichtige Schrift:
„Moneta e corso forzoso" und im Jahre 1880 seine „Saggi di economia, statistica e scienza
deir amministrazione" veröffentlicht. Eine weitere, besonders hervorragende Publication
ist das in zweiter Auflage 1890 erschienene Werk: „L'assicurazione obbligatoria e la
responsabilitä dei padroni ed imprenditori per gli infortuni sul lavoro." Es ist hier nicht
der Platz, die Vorzüge dieser und anderer Schriften unseres Autors, deren genaues Ver-
zeichnis das „Handwörterbuch der Staatswissenschaften" enthält, zu erörtern ; es mag
genügen, die obigen genannt und auf seine hervorragende Thätigkeit auf dem Gebiete der
Verwaltungslehre und Statistik verwiesen zu haben. Unermüdlich im Forschen hat er nun
ein neues Werk geschaffen, das mit kurzen Worten anzuzeigen, die Aufgabe dieser Zeilen ist.
Wir haben ein Compendium der Creditlehre vor uns, in dessen Rahmen auch die
Institution der Banken eingehende Besprechung findet; auf dem letzteren Gebiete ins-
besondere ist uns Ferraris kein Fremder, stammt doch auch der Artikel: „Die Banken
in Italien'-* im Conrad'schen „Handwörterbuch der Staatswissenschaften" aus seiner Feder.
In Betreff der Lehre vom Credite im allgemeinen sei auf die Begriffsbestimmungen ver-
wiesen, welche auf S. 10 zusammenfassend geboten sind und die uns sehr glücklich
scheinen; je mehr ein Terminus dem Sprachgebrauche gemäss verwendet wird und ver-
wendet werden kann, umso verständlicher ist die auf ihn bezügliche Lehre, umso weniger
Gefahr, in Unklarheiten und Widersprüche zu gcrathen, läuft der Autor selbst. Ferraris
führt bei Besprechung der ökonomischen Wirksamkeit des Creditwesens aus, dass es nicht
richtig sei, wenn man behaupte, der Credit erspare Geld; die ungeheuere Masse von
Tauschacten sauge dasselbe in verschiedener Weise bis zum letzten Stückchen auf; der
Credit aber trete dort und deswegen ein, wo und weil das Geld, dessen Menge der ungeheuer
angewachsenen Zahl von Tauschacten gegenüber eine zu geringe sei, fehle (S. 35); hieraus
leitet der Autor Schlüsse ab, die uns von grossem Interesse für die Lehre vom Werte
des Geldes und vom Bedarf an Geld scheinen (S. 37); das Creditwesen verhindert, dass
der Wert des Geldes wegen Mangels an Umlaufsmitteln steige und dass der Wert des
Geldes wegen Aenderungen in der Nachfrage nach Umlaufsmitteln schwanke; nichts-
destoweniger muss, da die Bargeldmenge immer in einem gewissen Verhältnisse zur
Gesammtmasse der Tauschacte und der Creditpapiere stehen muss, der Geldbedarf
beständig wachsen, und wird er jedenfalls nicht geringer.
Dass diese Auffassung von Bedeutung ist, liegt auf der Hand; die Klarheit des
Denkens und des Gedankenausdruckes, deren sich der Autor mit Meisterschaft überall
befleissigt, hat hier einen namhaften Erfolg erzielt. Die besondere Stellung der Banknoten
zu dem eben ansredeuteten Probleme erörtert der Autor in origineller Weise auf S. 40 ff.
Literaturbericlit. 517
Bei der reichen Fülle an Stoff, welche das vorliegende Werk aufweist, müssen wir
uns darauf besshränken, einzelne Lehren u. zw. diejenigen, -welche uns am wichtigsten
und charakteristischesten scheinen, hervorzuheben; hieher gehört aber besonders auch
seine Auffassung über die Bedeutung des Consumtivcredites (S. 47 f.); er fordert eine
genaue und richtige Feststellung dieses Begriifes, bevor ein Urtheil über ihn abgegeben
wird. In vielen Fällen sei der Consumtivcredit von segensreichster Wirksamkeit, so z. B.
insbesondere der consumtive Staatscredit. Auf die Preise der Waren im allgemeinen übt
nach Ferraris der Credit nur einen indirecten Einfiuss, indem er nämlich eine xienderung
an den Verhältnissen vornehmen kann, unter denen sich die Preise bilden (S. 52). Die
einzelnen laufenden Preise kann er in dem Sinne beeinflussen, dass er ihnen eine grössere,
zeitliche Dauer und eine weitere räumliche Aasgleichung beschafft. Die Wirkungen des
Credites in Betreff der Krisen bilden den Gegenstand eingehender Erörterungen, wir
müssen es uns aber der Kürze halber genügen lassen, nur darauf zu verweisen (S. 53 ff.).
Damit sind einige dürftige Mittheilungen aus dem I. Theile des Werkes gemacht; der II.
und der III. Theil behandeln die Creditinstitute, treten also an jenes Thema heran,
welches im Titel genannt ist; der IL Theil betrachtet das Problem im allgemeinen.
Capitel 1 des II. Theiles behandelt der Hauptsache nach Begriff und Wesen der Credit-
institute, Capitel 2 deren Operationen, Capitel 3 die Gesetze und die technischen und
ökonomischen Cautelen in Betreff ihrer Geschäftsgebarung, Capitel 4 insbesondere den
Einfl.uss des Staates auf dieselben.
Der III. Theil handelt von den Creditsystemen und Credit instituten im besondern;
das 1. Capitel handelt vorzüglich von der Stellung des Productivcredites den verschiedenen
Productionsarten gegenüber und dassificirt dann die Systeme des Credites und der
Creditinstitute. Die Capitel 2. — 5. behandeln in eingehender und wohl mustergiltiger Weise
den Handels- Credit, Capitel 6. betrifft den Mobiliar- Credit, die beiden letzten Capitel
untersuchen das so wichtige Problem des Agrar- Credites. In wenigen Zeilen lässt sich
von dem Inhalte dieser Capitel ein klares Bild nicht geben; wir müssen uns daher
darauf beschränken, das vorliegende Buch, dem wohl um seines reichen Inhaltes, seiner
Gedankenfülle und der wirklich mustergiltigen Darstellung wegen nur die allerersten
Werke über das Creditproblem an die Seite gestellt werden dürfen, auf das w^ärmste zu
empfehlen. Die reichen bibliographischen Angaben erhöhen noch seinen Wert. Die
äussere Form des Buches ist eine besonders gefällige und macht dem weitbekannten
Verlagsgeschäfte Hoepli alle Ehre.
Mit einigen Worten sei, bevor wir diese Anzeige abschliessen, um, wie uns
scheint, einer Pflicht der Gerechtigkeit zu entsprechen, auch noch eines andern Autors
Erwähnung gethan, der einschlägige Probleme gleichfalls in sehr anerkennenswerter
Weise behandelt hat, ohne aber — wenigstens im Auslande — dadurch so bekannt
geworden zu sein, wie er es wohl verdient hätte. Es handelt sich um den unermüdlichen
Chefredacteur des „L'Economista" in Florenz, Prof. Dr. Arthur Jehan de Johaiinis.
Von seinen Schriften seien hier lobend erwähnt: „Le Banche di Emissione ed il Credito
in Italia'', Firenze, Bocca, 1888, pag. 163, „II credito agrario ed i banchi di Napoli e di
Sicilia", Firenze, Bocca, pag. 77, aus welcher besonders das 3. und 4. Capitel allgemeineres
Interesse besitzen, obgleich auch sie hauptsächlich italienische Fragen behandeln, und
die in der „Passegna nazionale" vom 1. Sept. 1890 erschienene Abhandlung: „II riordi-
namento degli Istituti di Emissione", Firenze 1890; auch im „Giornale degli Economisti"
hat Johannis kürzlich (Dicembre 1891) einen sehr anregenden Aufsatz über den Agrar-
Credit in Italien veröffentlicht, der auch interessantes Ziffemmateriale bietet.
Schullern.
Bianchi Dr. Giulio : La proprietä fondiaria e le classi rurali nel medio evo
€ nella etä moderna. Pisa, Spoerri 1891, 278 pag. Preis 4 Lire.
Das vorliegende Büchlein behandelt ein Thema, dessen Bedeutung immer mehr
hervortritt und anerkannt wird. Wie der Verfasser richtig bemerkt, fordert die Lage
der ackerbautreibenden Classen speciell in Agriculturstaaten die grösste Aufmerksamkeit
518 Literaturbericht.
der Staatsgewalt; dies ist aber um so mehr der Fall, wenn diese Lage eine so ungünstige
ist, wie dies im Agriculturstaate Italien zutrifft.
Für die Lage der Arbeiterclasse sind nun die verschiedensten Verhältnisse ent-
scheidend, der Kernpunkt liegt aber in der Gestaltung des Grundeigenthums und im
Verhältnis zwischen Landbesitzer und Landbebauer. Der kleine, selbstbebauende Grund-
besitz bedarf dringend S.chutz, die Arbeit soll mit dem Besitze verbunden, oder doch
verhindert werden, dass die schon bestehende Trennung eine immer allgemeinere werde.
Die italienische Regierung hat in richtiger Erkenntnis dieses Bedürfnisses ein System
inländischer Colonisation vorgeschlagen und zwar auf dem Wege der Expropriirung
unbebauter Grundstücke; hiemit wäre ein Schritt gethan; damit aber das begonnene
Werk gedeihe, muss der Zersplitterung des neugeschaffenen Kleinbesitzes im Erbgange
vorgebeugt und der Verkauf erschwert werden. Bianchi schlägt deshalb vor, der
expropriirte Boden sei nicht zum Eigenthume, sondern emphiteutisch zuzutheilen u. z.
ähnlich wie dies bei den Römern und im Mittelalter geschah. Aber auch damit sei noch
nicht Alles gethan, es müsse auch der noch bestehende Kleinbesitz gerettet werden.
Der Autor zieht in dieser Richtung jn sehr dankenswerter Weise die in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika, in Deutschland und Oesterreich eingeführten Reformen in
eingehende Betrachtung ; leider hat er den für Tirol bestimmten Entwurf der öster-
reichischen Regierung in Betreff Einführung von Höfebüchern noch nicht gekannt, sonst
würde er gewiss auch diesen als einen" zum mindesten der Idee nach höchst lobens-
werten und heilsamen Act auf dem Reformwege erkannt haben.
Es ist nicht zu leugnen, dass alle Maassnahmen dieser Art eine gewisse Reaction
gegen das Mittelalter zu in sich schliessen; daran allein aber kann sich wohl nur das
Vorurtheil stossen; man muss das Gute nehmen, wo es liegt und wo Hilfe nothwendig
ist, kann sie am besten mit jenen Mitteln geboten werden, welche eine vielhundertjährige
Erfahrung als heilsam erkennen lässt. Da der Bauernstand aus derartigen Reformen
voraussichtlich Kraft und Wohlstand schöpfen würde, ohne dadurch die Errungenschaften
der neuesten Zeit, persönliche und politische Freiheit einzubüssen, muss man die als
wirksam erkannten, natürlich nach genauer Erwägung aller Umstände und unter An-
passung an die localen und culturellen Verhältnisse durchführen^ ohne . Doctrinarismus
und Engherzigkeit.
Die vorliegende, auf eingehenden historischen Betrachtungen aufgebaute Schrift
tritt kräftig für die allgemeine Idee der Rettung des Bauernstandes ein, sie macht
positive Vorschläge (vielfach anschliessend an die österreichischen Reformen^ natürlich
unter dem Gesichtswinkel der italienischen Verhältnisse und muss im ganzen als eine
wertvolle und dankenswerte Gabe betrachtet werden, welche auch ausserhalb Italiens
Aufmerksamkeit verdient und vielleicht geeignet sein wird, manches Vorurtheil zu
beseiticjen. Schullern.
ZEITSCHRIFTEN-ÜBEESICHT.
Jahrbücher für Natioualokonomie und Statistik, hgg. v. y. Conrad, L. Elster, E. Loenlng,
W. Lexis: III. F. III. B. IV. Heft.
Conrad: Agrarstatist. Untersuchungen. — C. Metic^er: Die Valutaregulierung in Oesterreich. —
Heckel: Budget Frankreichs im Jahre 1891, Das Niveau der Warenpreise in den Jahren 1886—1890. —
Stesloivicz : Die Statistik des Tabulargrundbesitzes in Galizien. — Literatur, Gesetzgebung, Recensionen. —
V. Heft: C. Menger: Die Valutaregulierung in Oesterreich. — Varges -. Stadtrecht und Marktrecht.
— Fiild: Entwicklung des Reichsversicherungsamtes. — Zuckerkandl; Stenogr. Protokolle über die Sitzungen
der nach Wien einberuf. Währungsenquete-Commission. — Literatur, Gesetzgebung, Recensionen.
VI. Heft: Fir'eman: Kritik der Marx'schen Werttheorie. — Ehrenberc : Die Amsterdamer Actien-
speculation im 17. Jahrhundert. — Sachs: Die italienische Valutaregulierung. — Nationalök. Gesetzgebung.
— Eheberg: Finanzverhältnisse europ. Grosstädte. — Besprechungen.
IV. Bd. I, Heft: Tobisch: Der Check- u. Clearingverkehr des k. k. österr. Postsparcassenamtes. —
Menger C: Die Valutaregulierung in Oesterreich-Ungarn (Schluss.) — Nationalök. Gesetzgebung. —
Soinbart: Ein Beitrag zur Lohnstatistik. — Lindsay. Die elfte Volkszählung der Vereinigten Staaten Nord-
Amerikas. — Besprechungen.
Vierteljfthresschrift für Tolksvrirtschaft, Politik und Cultnrgeschichte, hgg. v. C. Braun,
XXIX. Jgg. II. Bd. I. Heft.
Siegel: Zur Reform des preussischen Herrenhauses. — Lehr: Die Durchsehnittprofitrate auf Grund-
lage des Marxischen Wertgesetzes II. — Correspondenz, Bücherschau.
2. Heft: Philippson: Der Congress der engl. Gewerkvereine zu New-Castle und die Socialisten. —
Le-Minstein: Die wirtschaftl. Unzufriedenheit der arbeitenden Classen und ihre Berechtigung. — Branm
Zur ungarischen Comitats frage. — Blau: Volkswirtschaftl. Correspondenz aus Wien. — Bücherschau.
III. Bd. 1. Heft: IVeiss: Der fränkische Bauer in der „guten, alten Zeit." — Asnmssen: Die
Arbeiterfrage auf dem Lande. — C. Meyer: Die schlesische Leinenindustrie und ihr Nothstand. — Volks-
wirtsch. Correspondenz. Bücherschau.
Irchiv für sociale Gesetzgebung «nd Statistik, hgg. v. H. Braten, V. B. 1.
Schulze- Gaeverfdtz: Der wirtschaftl. Fortschritt, die Voraussetzung der socialen Reform. —
Philippovlch: Die staatl. unterstützte Auswanderung im Grossherzogthum Baden. — Schüler x Studien zur
Frage des Zündholz-Monopols. — Cohen : Die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Münchner Kellnerinnen
Cheyney: Der Farmerbund in den Vereinigten Staaten, Gesetzgebung, Miscellen. — Mlschler: Die österr.
Gewerbeinspection in den Jahren 1889 und 1890. — Naef\ Die Berichte der Schweizerischen Kantons-
reglerungen über die Ausführung des Fabriksgesetzes für 1889 und 1890. — Literatur.
A'. Bd. 2.: Herkner\ Die Reform der deutschen Arbeiterschutzgesetzgebung. — Lux: Die Sittlich-
keitsverbrechen in Deutschland in criminalstatistischer Beleuchtung. — Gesetzgebung. Miscellen. Literatur.
Journal des Economistes. Redacteur en chef: M. G. de Mollnarl. Librairie Guillaumin et Cie,
rue Richelieu, 14. Paris, öle annee.
Sommaire du numero de mai 1892; Esquisse d'un cours de commerce, par M Courcelle-SeneuU,
membre de Tlnstitut. — Le mouvement agricole, par M. G. Fouquet. — Revue critique des publications
en langue fran^aise, par M. Rouxel. — Souvenirs de France, par M. G. Tricoche. — Le credit agricole et
populaire, par M. Ed. Cohen. — Le pavillon commercial franoais dans les lies loniennes, par M. Daniel
Bellet. — Les tarifs par zones deä chemins de fer de l'Etat en Hongrie, par M. D. Korda. — Le paupörisme
anglais en 1890, par M. Castelot. — Le protectionnisme medical en Italic, par M. V. Pareto. — Societe
d'economie politique: Discussion sur le remplacement des concessions de bureaux de tabac en subventions
ou pensions inscrites au budget. — Comptes rendus. — Chronique, par M. G. de Molinari.
Sommaire du numero de juin 1892: Le budget de 1893. — Esquisse d'un cours de commerce
fsuite et fin). — La Banque agricole de Turquie. — Le mouvement scientifique et industriel. — Revue de
TAcademie des sciences morales et politiques (du 15 fevrier au 1er juin 1892). — Souvenirs de Slam. —
Une victoire. — Lettre d'Autriche-Hongrie. — Henri Pigeonneau. — Bulletin. — Societe d'economie politique
(Reunion du 4 juin 1892). — Discussion: De la productivit^ des capitaux nouveaux et du taux de Tinteret
dans les vieilles societes. — Comptes rendus. — Notices bibliographiques. — Chronique economique.
Sommaire du numero de juillet 1892: L'association libre contre le socialisme d'Etat. — Une
experience de tarifs differentiels en Russie. — Revue des principales publications dconomiques de Tetranger.
— Les banques populaires en Italie. — Souvenirs de France. Lettres inedites d'un magistrat etranger. —
L'arbitrage international. — Propos parlementaires. — Necrologie. Courcelle Seneuil. — Bulletin. — Societe
d'economie politique (Reunion du 5 juillet 1892). — Comptes rendus et Notices bibliographiques. — Chronique
economique.
^20 Zeitschriften-Uebersicht.
Bcyue (rEconomie politique, hgg.y.P. Cauiuh, Ch. Gide, E. Sc/tzvied/and und E. l'illej. MonStlich
7 bis 8 Bogen. Preis jährlich 21 Francs. Paris, VI. Jahrgang 1802.
April 1892: M. Saiizet: Essai historique sur la legislation industrielle de la France. — E. VlUey.
Le socialisme contemporain. — H. St. Marc: jfitude sur Tenseignement de Teconomie politique dans les
universit^s d'Allemagne et d'Autriche. — yohn Rae: L'enquete de la commission du travail en Angleterre,
— Villey: Chronique legislative. — Bücheranzeigen von Gide und Mataja.
Mai 18S2: *** La rc^forme mon^taire de l'Autriche. — W. Sombart: Essai critique sur la politique
commerciale de Tltalie depuis 1861. — Maroussem: L'industrie du meuble et le Svveating System ä Paris.
— Gide: Chronique. — Villey: Chronique legislative. — Bücheranzeigen von Gide, Villey, Schwiedlaud,
Oczapowskiy Dr Anton, Despuch, St. Marc.
Juni 1892: E. Bücher: Les formes d'industrie dans leur developpement historique. — F. Nitti:
La legislation sociale en Italie; difficultes que rencontre son Etablissement. — Jules Wolf: Coup d'oeil
sur l'evolution des idöes sociales. — Aciiille Loria: La terre et le Systeme social. — Eugen Schwiedlaud:
H. Figeonneau (Nekrolog). — Villey: Chronique legislative. — Bücheranzeigen von Schwiedlaud, Crüger
und St. Marc.
The economic Journal, edited by F. Y. Edgeworth, Vol. II., No. June 1892.
Giffen: On Internat. Statistical coraparisons. — Menger: On the origin of money. — Harrison:
An attempt to estimate the circulation of the rupee. — Williams: A „fixed value of bullion" Standard. —
Hamilton: Thriff in Great Britain. — Graham Brooks: A Weakness in the German „Imperial Socialism." —
Eeviews, Notes and Memoranda.
Annais uf tlie American Academy of pol. and soc. science, ed. by James, Falkner, Rol>insor,Yo\. II. No. 6.
Dana; Practical working of the Australian System of voting in Massachussetts. — Binney: Merits
and defects of the Pennsylvania Bailot Law of 1891. — Cheyney: A third revolution. — Johnson: River
and Harbor Bills. — Blackmar: Indian Education. — Graziani: Diseussion: Econ. Theory of Machines,
Pers. Notes, Books, Notes.
Vol. III. No. 1: Snow: Cabinet Government in the United States. — Oberholtzer: School savings
banks. — Clark: Pattens Dynamic Economics. — Walras: Geometrical theory of the detorimation of prices.
— Diseussion. Miscellany. Personal Notes, Books.
Political Science Quarterly, Columbia College-, Vol. VII. No. 2, June 1892.
Moore: Asylum in legations and in vessels IL — Noble: The Imraigra'Jon question. — Brown:
Tithes in England and Wales. — Rabben: Loria's Social System. — Cletnent: Local Self-Gove:nment in
Japan. — Hart: The exercise of the suffrage. — Reviews, record of pol. events.
The Quarterly Journal of Economics, Vol. VI. 4.
Walker: Dr. Boehm-Bawerk's Theory of interest. — Brooks: Old age pensions in England. —
Higgs: Cantillon's place in Economics. — Notes and memoranda.
Quarterly Publicatlons of the American Statistical Association II. Vol. X. S. No. 17, March 1892.
Pettii^rove: Statistics of crime in Massachusetts. — Fonmier de Flaix: Development of Statistics
of Religions. — Hawley: Net profits of Manufacturing Industries in the State of Massachusetts. — Hicks:
Classification of trade Statistics. — Fa.kner: Proposed Statistical legislation. — Reviews, notices.
The Tale ßevieir, Vol. L, No. 1, May 1892.
Comment: Villard and Farman: German tarifi" policy, past and present. — Bmirne: The demarcation
line of pope Alexander VI. — Hadley: Legal theories of price regulation. — Walker: Massachusetts and
the saybrook platform. — Woollen: Labor troubles between 1834: and 1837, Books.
Giornale degli Economisti. Direzione: Viti de Marco, Mazzola, Pantaleoni, Zorli. 1892.
Maggio: X, La situazione del mercato monetario. — Pareto: Considerazioni sui prineipü fonda-
mentali dell' econ. pol. pura. — L. Cossa : L'economia politica negli Statt Uniti nell' America settentr. —
Viti de Marco : II riordinamento della circolazione fiduziaria. — Nota, Bibliografia, Cronaca, Supplement© :
allmonatlich: Giornale delle camere di commer<;io.
Giugno: X.: Situazione del mercato monetario. — Pareto: Considerazioni sui prineipü fond.
dell' economia pol. pura. — BertoUni: II sistema sociologico ed economico di Giov. Pinna-Ferrä. — Coletti:
Un extraprofitto consequente all' introduzione di machine e la sua elisione". — Note, Previdenza, Bibliografia,
Cronaca, Append. — Bilanci delle banche popolari, Supplemente.
Luglio : X, la situazione del mercato monetario. — La dichiarazione del corso forzoso per .sentenza
del tribunale. — Virgili: II problema della popolazione e il socialismo. — Zdekauer: SuU' organizzazione
pubblica del giuoco in Italia nol medio ovo. — Bibliografia, Cronaca, Supplemento: Saggi di Bibliografia:
L. Cossa, A. BertoUni.
L'Econom!8ta, red. Prof. Dr. Art. J. de Johannis, Firenze Nr. 935— S'äl.
ÜBER DIE
ANFÄNGE DES DEUTSCHEN STÄDTEWESENS.
SOCIALGESCHICHTLICHE BETEACHTÜNGEN
VON
KARL THEODOR VON INAMA-STERNEGG.
1.
otadt und Land stellen den schärfsten Gegensatz dar, welcher das
ganze gesellschaftliche Leben eines Staates durchzieht. Haushalt und
Geselligkeit, Eiwerb und Verkehr, Bildung und Sitte nehmen verschiedene
Formen in der Stadt, verschiedene am Lande an, und nicht minder bedeutsam
sind die AVirkungen, welche von dieser Verschiedenartigkeit der Daseins-
formen auf die Interessen und Bestrebungen, auf die politische und sociale
Haltung dieser beiden gi'ossen Gruppen der Bevölkerung ausgehen.
Nicht immer ist dieser Unterschied gleicli verstanden worden. Die
Mercantilisten gaben mit dem Ausdrucke der „Stadtwiiischaft" dem Gedanken
Ausdruck, dass es sich vornehmlich um einen Unterschied des Erwerbslebens
handle und bis in unsere Tage herein herrscht die Vorstellung vor, dass
gerade die Verschiedenheit der Nahrungszweige den Unterschied von Stadt
und Land begründe. Gewerbe und Handel sind darnach die specifischcn
Erwerbszweige der städtischen Bevölkerung; von ihrer wirtschaftlichen
Besonderheit gehen auch die wirtschaftlichen Eigenthümlichkeiten aus, welche
das Stadtleben vom Landleben unterscheiden.
Wie wenig diese einseitige Berücksichtigung der städtischen Gewerbe
für eine zutreffende Charakteristik des städtischen Wesens in unseren modernen
Verhältnissen ausreicht, braucht kaum besonders ausgeführt zu werden. Gerade
die gewerblichen Grossbetriebe haben ihren Standort fast ebenso häufig am
Lande wie in der Stadt; handwerksmässiges Kleingewerbe und Hausindustrie
findet sich nicht minder verbreitet auf dem Lande, und in der Stadt lebt
neben den Gewebe- und Handeltreibenden eine zahlreiche Bevölkerungsciasse
von den verschiedenartigsten Beschäftigungen, deren wirtschaftlicher Unter-
grund auf den mannigfachen Bedürfnissen des ganzen öffentliclien und privaten
Lebens dieser Bevölkerungscentren beruht.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung IV. Heft. 34
522
Inaraa-Sternegc
Nach den Ergebnissen der letzten bereits bearbeiteten Volkszählungen
entfielen von der Gesammtbevölkerung der Städte auf
liberale Berufe
in
Land-
wirtschaft
Gewerbe
Handel und
Tiansport
anderweitige
Erwerbszweige
iiueraif r>eruie
und sonstige
Bewohner
Wien . .
6
450
213
84
247 per
mille
Prag . .
. 9
408
213
71
299
„
Lemberg
24
289
200
142
345
„
Graz . . .
23
378
112
107
370
_
Brunn . . .
14
471
141
100
274
ff
Triest . . .
4
378
348
47
223
n
Krakau . . .
19
282
213
131
355
n
Berlin . .
8
543
246
38
165
y>
Hamburg
2
440
382
67
109
n
Breslau . .
. 11
440
263
9:)
191
n
München
20
446
219
42
273
V
Dresden . .
10
452
238
32
267
•n
Leipzig . . .
5
449
316
23
208
y,
Köln . . .
8
478
281
37
195
yi
Frankfurt a/M.
35
370
349
40
206
n
Königsberg
9
331
214
200
245
»
Hannover .
21
455
265
19
239
rt
Stuttgart
47
458
228
15
250
j)
Bremen . . .
21
495
306
21
156
i>
Ist die Statistik in dieser Weise geeignet, die üblichen Vorstellungen
von den Besonderheiten des städtis-chen Erwerbslebens zu ergänzen und zu
berichtigen, so hat sie durch ein näheres Eingehen auf die Grössen-
Kategorien der Ortschaften auch wesentlich dazu beigetragen, neue
Gesichtspunkte für die Beurtheilung des grossen Unterschiedes zu gewinnen,
welcher das ganze gesellschaftliche Leben von Stadt und Land durchzieht. In
dem Hinweise auf den differenten Altersaufbau, auf die Verschiedenheit des
Verhältnisses der Civilstandskategorien, auf die Besonderheiten der Gebürtigkeit
und Wanderbewegung, auf die Structur der Haushaltungen und die Wohn-
verhältnisse und so manche andere Momente des socialen Zustandes hat
sie viel durchgreifendere Unterschied zwischen Stadt und Land aufgezeigt,
als solche in der Verschiedenartigkeit der Erwerbszweige allein begründet
sein könnten. Vielmehr führen alle statistischen Untersuchungen dieser Art
in letzter Linie darauf, diese Unterschiede in dem gesammten gesellschaft-
lichen Zustande und in den wesentlichsten Bewegungsvorgängen der städtischen
Bevölkerung gegenüber der ländlichen zu sehen und auf die Eigenthümlich-
keiten der Ansiedlungsform und der damit gegebenen Anhäufung der Bevöl-
kerung in den Städten zurückzuführen.
Von diesem Standpunkte aus ist es denn auch berechtigt die Abgrenzung
dieser beiden Bevölkerungsmassen und damit die Unterscheidung von Stadt
und Land allein nach der Volkszahl der in geschlossenen Ortschaften lebenden
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 523
Bevölkerung vorzunehmen, volkreiche Orte also im allgemeinen als städtische
Ansiedlungen aufzufassen, so sehr sie sich auch vielleicht unter einander
in Bezug auf die Vertretung der einzelnen Nahrungszweige unterscheiden.
Es mag dabei eine offene Frage bleiben, ob für diese statistische Unter-
scheidung von Stadt und Land eine mechanische Zahlengrenze, wie etwa
2000 oder 5000 Einwohner, oder, etwa unter Festhaltung einer Minimal-
grenze der absoluten Bevölkerung, eine Dichtigkeitsziffer entsprechend ist;
das steht fest, dass sich im allgemeinen die Zustände und Vorgäno-e der
Gesellschaft gerade nach den Grössenverhältnissen der Ortschaften am
allerschärfsten differenzieren und dass daher der Begriff der Stadt in erster
Linie auf einer quantitativen Vorstellung der Bevölkerung beruht. Ja es ist
diese Vorstellung im Bereiche statistischer Forschung schon so sehr vor-
herrschend geworden, dass darunter der verwaltungsrechtliche Begriff der
Stadt, welcher auf einem Unterschiede des Gemeinderechtes gegenüber dem
Kechte der Landgemeinde beruht, gänzlich vernachlässigt wird. In der That
erweist sich auch dieser, zumeist historisch begründete Unterschied von
Stadt und Land so wenig bedeutsam für das gesellschaftliche Leben, dass
weder die allgemeinen Bevölkerungsverhältnisse noch die speciellen Erwerbs-
verhältnisse der Bevölkerung einen specifischen Einfluss des differenten
Gemeinderechtes erkennen lassen; kleine Landstädte haben in der Regel
viel mehr Aehnlichkeit' mit dem gesellschaftlichen Zustande des flachen
Landes, als mit den besonderen Lebensverhältnissen einer grossen Stadt, '
selbst dann, wenn sie eine verhältnismässig starke Vertretung des GcAverbe-
betriebes besitzen.
Diese flüchtige statistische Betrachtung ist vielleicht nicht ungeeignet,
einer Untersuchung vorangeschickt zu werden, welche sich mit der Gliederung
der Gesellschaft in den Anfängen des deutschen Städtewesens
beschäftigen soll. Die rechtsgeschichtliche und die wirtschaftsgeschichliche
Forschung haben sich in unseren Tagen der ältesten Periode deutscher Städte-
geschichte mit erneutem Eifer zugewendet und unter den vielen Fragen,
Avelclie ihr zur Lösung gestellt sind, ist die Frage nach der Zusammen-
setzung der städtischen Gesellschaft vielleicht die wichtigste, jedenfalls aber
diejenige, deren Beantwortung bisher am wenigsten befriedigt. Freilich sind
auch die Schwierigkeiten, welche es hier zu überwinden gilt, auf keinem
Punkte so gross. Die Stadtrechte, diese Hauptquelle für die Verfassungs-
geschichte der Städte, versagen hier nahezu gänzlich : andere Rechtsurkunden
sind, wenigstens für die älteste Zeit, nur von sehr wenigen Städten in
genügender Zahl und mit genügendem Inhalte vorhanden. Ueberhaupt aber
sind die Rechtssatzungen für sich allein keineswegs ausreichend, um auch
nur über den factischen Rechtszustand und die Uebung des Rechtes hin-
reichend unterrichtet zu werden. Wie dürftig war selbst die Rechtsgeschichte,
so lange sie nur aus den Volksrechten und den Rechtsbtichern schöpfte!
Um so weniger können die Stadtrechte und städtischen Satzungen ausreichen,
wo es sich darum handelt, den factischen Zustand des städtischen Lebens,
seine Kräfte und seine Wirkungen mit voller realistischer Deutlichkeit zu
34^
524 Inama-Sternegg.
erkennen. Statistische Quellen über die Bevölkerung und die Gliederung
der städtischen Gesellschaft fehlen natürlich für jene Zeit vollständig. So
bleibt nichts übrig als aus den gelegentlichen Mittheilungen der Chronisten,
aus den zwar zahlreichen aber immer ganz fragmentarischen Angaben der
Urkunden und aus sonstigen vereinzelten Aufzeichnungen das Bild der
Gesellschaft zu ergänzen, welche in den deutschen Städten des Mittelalters
wirksam gewesen ist und jenes wunderbare Leben erzeugt hat, dessen
Erforschung einen so besonderen Keiz, dessen Kenntnis einen so unver-
gleichlichen Genuss gewährt.
Die nachfolgenden Ausführungen über die socialen und volkswirt-
schaftlichen Grundlagen des deutschen Städtewesens verfolgen eine doppelte
Aufgabe. Sie sollen einerseits über den gegenwärtigen Stand der Forschung
orientieren und anderseits in selbständiger Weise ein Gesammtbild des
städtischen Lebens in seinen Anfängen entwerfen. In erster Beziehung wird
es genügen nur jener Forschungsergebnisse ausdrücklich zu gedenken, welche
für die Beurtheilung der städtischen Gesellschaft von wesentlichem Belange
sind, während Irrthümer und Missverständnisse, sowie die für unsere Aufgabe
unwesentlichen Fragen mit Stillschweigen übergangen werden mögen; denn
nicht eine Kritik der neuesten Literatur über das deutsche Städtewesen,
sondern eine Darstellung seines socialen Inhaltes haben wir im Auge. In
dieser, zweiten, Beziehung aber geht die Absicht der nachfolgenden Betrach-
tungen dahin, die Ergebnisse quellenmässiger Forschung, ohne die Mittheilung
des Apparates, in einheitlicher übersichtlicher Darstellung vorzuführen, um
das Interesse für diese socialpolitischen Studien auch in jenen Kreisen
anzuregen, welche weder Neigung noch Beruf auf eine Mitarbeit an wirt-
schaftsgeschichtlicher Forschung hinweist, welche aber doch diesen Wegen
der Wissenschaft volle Berechtigung, ihren Zielen hervorragende Bedeutung
beimessen und auch den einzelnen Etappen auf dem Wege zu diesem Ziele
ein lebhaftes Interesse entgegenbringen.
Im Anhange ist ein kurzes Verzeichnis der neuesten Schriften zur
Entstehungsgeschichte der deutschen Städte beigegeben. Auf die in diesen
Schriften lebhaft geführten Controversen ist, soweit dabei die socialen
Factoren des deutschen Städtewesens in Frage stehen, besonders Kücksicht
genommen, ohne dass es doch nothwendig schien, der verschiedenen hiebei
aufgetretenen Ansichten immer ausdrücklich und unter Nennung ihrer haupt-
sächlichen Vertreter zu gedenken. Die reiche Specialliteratur über die Ent-
wickelung einzelner Städte in dieses Verzeichnis aufzunehmen schien eben
sowenig geboten, wie die Erwähnung der allgemeinen rechtsgeschichtlichen
Werke, in denen auch die Fragen des deutschen Städtewesens behandelt sind.
IL
üeber die Volkszahl der deutschen Städte im Mittelalter sind
wir erst in der letzten Zeit etwas genauer unterrichtet worden, seit man an-
gefangen hat einerseits die in den städtischen Archiven vorhandenen Ein
wohner-, Bürger- und Steuerlisten einer statistischen Bearbeitung zu unterziehen
Ueber die AnfäDg'e des deutschen Städtewesens.
DI^O
und anderseits die historische Topographie der Städte auch für dieses Problem zu
verwerten. Die ältere Forschung war nur allzu geneigt, sich übertriebenen
Vorstellungen von den Grössen Verhältnissen der Städte hinzugeben, wozu
nicht nur die gewiss grosse politische und wirtschaftliche Bedeutung der
Städte in der zweiten Hälfte des Mittelalters, sondern aucli die sehr vagen
zu üeberschätzungen stets bereiten Angaben der Chronisten reichlich Ver-
anlassung gaben. Erst seit von einigen deutschen Städten wirklich ältere
Volkszählungen, d. h. vollständige Aufzeiclmungen über die Einwohner
bekannt geworden sind, ist auch für diese Vorstellung ein einigermaassen
fester Boden gewonnen worden. So konnte für Nürnberg (Hegel) bereits in
seiner Blütezeit (1450) eine Bevölkerung A'on 25.982 Einwohnern constatiert
werden; in Strassburg (Eheberg) ergab um das Jahr 1475 eine Auszählung
der Bevölkerung 26.198 Einwohner, unter denen gegen 6000 ohne ständige
Wohnung in der Stadt waren. Mit diesen Ergebnissen der historischen
Bevölkerungsstatistik lässt es sich dann auch in Uebereinstimmung bringen,
wenn Bücher für Frankfurt a. M. im Jahre 1387 eine Einwohnerzahl von
ca. 10.000 aus den städtischen Eidregistern berechnet, Schönberg für Basel
um das Jahr 1446 10.200, Paasche für Rostock im Jahre 1387 10.785,
Richter für Dresden im Jahre 1491 5000 Einwohner aus den Steuerregistern
ermittelt haben. ^)
Diese Volkszahlen sind für unsere modernen Vorstellungen von städtischem
Wesen zwar auffallend klein, aber sie werden doch durch die noch vor-
handenen Bürgerverzeichnisse und Steuerlisten hinlänglich beglaubigt; wenn-
gleich die unvermeidliche Anwendung von Reductionsfactoren, für welche
liistorische Gewissheit nicht zu erlangen ist (Stärke der Haushaltung, Quote
der weiblichen, der jugendlichen Bevölkerung u. a.) die Endergebnisse nicht
vollkommen gesichert erscheinen lässt. Sie werden überdies noch weiter
gestützt durch die genauere Kenntnis des baulichen Zustandes, in welchem
sich die Städte in der Zeit befanden, für welche ihre Volkszahl berechnet
ist. Ganz vorwiegend handelt es sich bei den mittelalterlichen Städten noch
um jenen engern Kern, der in der Folge als Altstadt oder innere Stadt
gegenüber einer in späterer Zeit durch Erw^eiterung des Stadtgebietes erst
entstandenen oder einbezogenen Neustadt und einer Reihe von Vorstädten
charakterisiert wird. Ja selbst diese innere Stadt ist, wie das Beispiel von
Wien lehrt, erst allmählich durch verschiedene Erweiterungen des ältesten
Stadtgebietes zu seiner nachmaligen Ausdehnung gekommen.
Wenn wir nun von den Ergebnissen der Bevölkerungsstatistik des
14. oder 15. Jahrhunderts zurückschliessen wollen auf die Volkszahl deutscher
Städte im 13. oder gar 12. Jahrhunderte, so ist hiebei doch grosse Vorsicht
anzuempfehlen. In der zweiten Hälfte des Mittelalters ist der Begriff der
Stadt schon ungleich bestimmter als in jenen früheren Jahrhunderten. In
den Anfängen des städtischen Lebens wird noch manches Gebiet und w^erden
^) Im allgememen sei auf meine zusammenfassende Darstellung im Handwörter-
buch der Staatswissenschaften II. Band verwiesen, wo auch die ganze Literatur über
die Bevölkerungsstatistik des Mittelalters zusammengestellt ist.
526 Inama-Sternegg.
manche Bevölkerungskreise recbtlicli nicht zur Stadt gerechnet werden
können, die doch wirtschaftlich und social zweifellosen Bestandtheile des
städtischen Wesens und der Stadtwirtschaft ausmachen. Fassen wir daher
die Stadt im statistischen Sinne als volkreiche Ansiedlung auf, so werden
wir ihre Grösse nicht nach der Ausdehnung ihres Kechtgebietes und nicht
nach der Zahl ihrer „Bürger" bemessen dürfen, sondern wir werden auch
die ausserhalb der Stadt, aber im engsten Zusammenhang mit ihr lebenden
und wirkenden Volkskreise und auch das Gebiet, welches sie bewohnen, mit
als Elemente der städtischen Gesellschaft zu betrachten haben. In späterer
Zeit verscliwindet dieser Unterschied immer mehr; die sich erweiternde
Stadt zieht Vororte, Frohnhöfe etc. in ihr Weichbild ein, wie sie Handwerker,
Pfahlbürger, Eitter und Knechte in ihre Bürgerschaft aufgenommen hat.
Ja die Stadterweiterungen sind vielfach gar nicht Erweiterungen der Stadt
im wirtschaftlichen oder socialen Sinne, sondern nur Ausdehnung des Eechts-
ki-eises der Stadt auf Elemente, welche bislang nach anderem Rechte in
der Stadt gelebt. Und wenn trotz alledem die Städte des 12. und selbst
noch des 13. Jahrhunderts im allgemeinen gewiss eine viel geringere Bevöl-
kerung gehabt haben als in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, bevor
der schwarze Tod auch sie decimierte, und auch eine viel geringere als in
der Mitte des 15. Jahrhunderts, als sie diese Verluste wieder gänzlich ver-
wunden hatten, so wäre es doch gefehlt, die numerischen Abstände der
Bevölkerung nach den numerischen Abständen der „Bürgerschaft" oder
nach den räumlichen Unterschieden des Stadtrechtsgebietes zu messen.
Obgleich es dermalen unmöglich ist und vielleicht auch nie möglich
sein wird, über die Volkszahl der deutschen Städte in der ersten Zeit ihrer
Entwickelung mit hinreichender Genauigkeit einen ziffermässigen Ausdruck
aufzustellen, so bleibt doch die Gewinnung concreter Vorstellungen von
der Grösse der Städte ein nothwendiges Postulat der Forschung. Nur wenn
und insoweit dasselbe erfüllt ist, wird die Möglichkeit gegeben sein, sich
ein Urtheil über die Bolle zu bilden, welche die einzelnen Städte in der
Volkswirtschaft gespielt haben; aber auch die Vorstellung von der Bedeutung,
welche den einzelnen Bevölkerungsclassen im Leben der Städte beigemessen
werden kann, wird zum guten Theile davon abhängig sein, in welchen
Dimensionen sich das gesellschaftliche Leben dieser Städte überhaupt bewegt
hat. Für die Kenntnis der städtischen Kechtsentwickelung in den ältesten
Zeiten mag dieser Unterschied der Grösse immerhin in seiner Bedeutung zurück-
treten; es hängt das vielfach mit der bekannten Thatsache zusammen, dass
ein vorhandenes Stadtrecht, gleichsam unbesehen, neubegründeten Städten
verliehen worden ist, um so dem fühlbaren Mangel eines geschriebenen
Rechts mit einem Schlage abzuhelfen, ist aber auch mit der ausserordentlichen
Dürftigkeit der älteren Stadtrechte zu erklären, welche die vorhandenen
Unterschiede der wirtschaftlichen und socialen Zustände keineswegs in ihren
Satzungen zum Ausdrucke gebracht haben. Wenn Avir z. B. sehen, wie
überaus ühnlidi die ältesten Stadtrechte von Enns (1212), Wien (1221)
und Hainburg (1244) sind, so mag allerdings jedes von ihnen für die Beur-
Ceber die Anfänge des deutsc"hen Städtewesens. 527
tlieiluiig der EeclitsA'erhältnisse jener Zeit in den österreichischen Städten
ziemlich, gleichwertig sein. Eine Gleichwertigkeit dieser Städte für das Wirt-
schaftsleben wird daraus nicht abgeleitet werden können; aber auch die
sehr verschiedene Bedeutung, welche diesen Städten für die Entwickelung
der Stadtverfassung in Oesterreich zugekommen ist, findet in diesen Stadt-
rechten keinen Ausdruck. Dass nichtsdestoweniger schon in der Zeit dieser
ältesten Stadtrechte solche Unterschiede der Grösse und des Wohlstandes
vorhanden waren, ist sogar aus einzelnen Bestimmungen dieser Stadtrechte
zu ersehen, ohne dass sie auf den Charakter derselben irgend einen Einfluss
gehabt hätten. In Enns befreit ein städtischer Grundbesitz von 30 Tal.,
in Wien erst von 50 Tal. von der Nothwendigkeit im Falle eines Todtschlages
einen Bürgen zu stellen; aber auch in Hainburg sind 50 Tal. verlangt.
Dagegen sind für Wien 100, für Hainburg nur 20 Gewährsmänner aus der
Bürgerschaft, welche bei verschiedenen Kechtsgeschäften intervenieren sollen,
vorgeschrieben, und die Zahl der Marktgeschworenen ist in Enns auf 6, in
Wien auf 24, in Hainburg auf 4 festgestzt, womit vielleicht schon einiger-
maassen der Unterschied der Bevölkerung oder doch der Bedeutung des
Marktes zum Ausdruck kommt,' ohne dass doch die Normen über den Markt-
verkehr in diesen Städten verschieden wären.
Wollen wir nun aber zu einigermaassen bestimmten Vorstellungen von
der Grösse und der volkswirtschaftlichen Bedeutung jener Städte kommen,
deren Anfänge wir aus den noch vorhandenen Quellen ihrer Geschichte ver-
folgen können, so müssen wir vor allem zu einer schärferen Formulierung
des Stadtbegriffes gelangen; die Schriften zur Geschichte des deutschen
Städtewesens, auch die neuesten, leiden hier noch immer an einer bedenk-
lichen Unsicherheit.
Die engste Fassung, welche besonders in der jüngsten Zeit von Rechts-
historikern (Sohm) mit grossem Nachdrucke vertreten worden ist, erfährt
der Begriff der Stadt im Rechtsinne dadurch, dass man Stadtrecht und
Marktrecht identificiert, das älteste Gebiet der Stadt also auf das mit
besonderem Eechte ausgestattete Marktgebiet einschränkt. Es ist dieser
Auffassung sofort zuzugeben, dass bei Städtegründungen in der Regel sofort
ein bestimmtes Gebiet als Marktgebiet abgegrenzt und mit dem besonderen
Rechte beliehen wurde, welches als Marktrecht aus der Urkunde entgegentritt.
Bei den alten Römerstädten und anderen Städten, welche einer bestimmten
Gründung im Sinne des deutschen Stadtrechts entbehren, hat sich durch
bloss thatsächliche Uebung ein Marktgebiet herausgebildet, das zunächst
allein der Träger jener besonderen Rechte war, welche dem Markte ver-
liehen oder zugestanden wurden. Bei diesen Städten haben wir uns, wenigstens
für die frühere Zeit, den Marktplatz regelmässig klein zu denken. Der
Markt lag in der Regel neben der schon bestehenden Ansiedlung und um-
fasste zunächst nur das Gebiet, welches thatsächich der Entfaltung von
Handel und Wandel diente, etwa mit Einschluss der Ansiedelung der Kauf-
leute, welche auf und an diesem Marktplatze entstanden war. So lag in
Köln, Strassburg, Regensburg und Augsburg, vermuthlich auch in Konstanz,
528 Inama-Sternegg.
der Markt ausserhalb der alten Kömerstadt. Schon gegen Ende des 10. Jahr-
hunderts aber bildet die Verschanzung dieses Marktgebietes mit dem Gebiete
der älteren Ansiedelung (Altstadt, Eömerstadt) und sogar die Erweiterung
derselben auf umliegendes Gebiet die Regel. Doch wurden z. B. in Köln
noch im Jahre 1154 die Bewohner von St. Pantaleon nicht zur Stadt in
diesem Eechtssinne gerechnet, obwohl dieser Ort gewiss schon städtischen
Charakter hatte, und das Stadtgebiet von Worms hat erst 1220 eine merk-
liche Erweiterung erfahren.
Aber auch bei eigentlichen Städtegründungen kommen sehr enge
Marktgebietsgrenzen vor; für die Stadt Radolfszell wurde 1100 nur ein
kleines Stück innerhalb der Feldmark von Radolfszell als Markt aus-
gesondert und mit Marktrecht bewidmet.
Dieser Begriff der Stadt ist also für die Wirtschaftsgeschichte nicht
brauchbar. Er ist im allgemeinen viel zu enge gefasst, um die Bedeutung
zum Ausdruck zu bringen, welche den Städten als wirtschaftlichen und
socialen Centren auch schon in der ersten Periode ihrer Geschichte zukommt.
Ja in dieser Begrenzung wäre in der Regel eine Stadt im volkswirtschaft-
lichen Sinne überhaupt gar nicht möglich gewesen. Wie wir uns eine Stadt
nicht vorstellen können, die nur von Kaufleuten bewohnt wäre, so ist es
auch ausgeschlossen, dass im Mittelalter eine solche Stadtgründucg versucht
worden wäre. Das locale Kaufmannsgeschäft konnte doch zunächst ohne
einen entsprechenden Consumentenkreis, welcher natürlich ausserhalb der,
Kaufmannschaft bestehen musste, nicht gedeihen; der tägliche Markt, der
im Gegensatze zu dem vorübergehenden Jahrmarkt, geradezu der Stadt
charakteristisch sein soll (Sohm), ist nur unter dieser Voraussetzung eine
mögliche wirtschaftliche Einrichtung. Innerhalb des Marktgebietes aber
konnten diese Consumentenkreise nicht wohnen; denn das war das Gebiet
der Kaufleute (vicus mercatorum z. B. in Regensburg). Wollen wir daher
die Stadt als einen Markt im volkswirtschaftlichen Sinne auffassen, womit
doch ihr wahres Wesen zum Ausdrucke gelangt, so dürfen wir den Begriff
der Stadt nicht auf ihr eigentliches Marktgebiet (im rechtichen Sinne)
begrenzen.
Aber nicht nur die eigentlichen Consumentenkreise kommen hier in
Betracht, sondern auch die Kreise der Producenten, deren Producte der
Handel zum weiteren Vertriebe an sich zog. Die Erzeugnisse der Land-
wirtschaft allerdings, soweit dieselben als Marktware zur Stadt kamen,
wurden theils von den Kaufleuten selbst auf dem Lande aufgekauft, theils
von den Landieuten auf dem Wochenmarkte feilgeboten: grosse Grundherrn
hielten überdies in den Städten ihre eigene Fruchtspeicher und verkauften
von hier aus im directen Geschäfte an die Kaufleute oder auch an die
Consumenten. Landwirtschaftliche Producenten mögen also immerhin nicht
als nothwendige Elemente der städtischen Gesellschaft gelten, obwohl sie
thatsächlich in derselben nicht fehlen.
Aber die Summe der Gewerbserzeugnisse, welche der Handel vertrieb,
und welche er zum Theile sebst bedurfte, konnte doch von Anfang an nicht
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 529
Wühl ausschliesslich oder auch nur überwiegend eingeführt werden, sondern
setzt eine rege Handwerksthätigkeit in der Stadt voraus. Nun ist ja im
Jahrmarkt wie im Woclienmarkt auch Gewerbsproduct gewiss immer um-
gesetzt worden ; auch begreifen die mittelalterlichen Ausdrücke für Kaufmann
und Handel oft (nicht unter allen Umständen) auch den Gewerbsmann, der
seine eigene Ware feilbietet. Aber dennoch ist die Classe der Handwerker
in der Kegel nicht in dem Begriff der Stadt eingeschlossen, wenn man
diesen auf das eigentliche Marktgebiet beschränkt. Denn das Handwerk hat,
besonders in den Anfängen des deutschen Städtewesens, seinen regelmässigen
Standort ausserhalb dieses Gebietes, in den Vorstädten, im Gebiete von
Frohnhöfen oder selbst in benachbarten Vororten. Mit der Einschränkung
des Stadtbegriffes auf das Marktgebiet würde also eines der am meisten
charakteristischen Merkmale der städtischen Wirtschaft in vielen Fällen
ausser Betracht bleiben.
Uebrigens fehlt sogar der bestimmt abgegrenzte Marktbezirk in manchen
Städten, die erst später Marktrechte erhielten (Meersburg nach Gothein),
so dass der Begriff der Stadt überhaupt nicht ausnahmslos nach der Aus-
dehnung des Marktbezirkes bestimmt werden kann.
Anders freilich ist diese Auffassung zu beurtheilen, wenn als Stadt
nicht einfach das bestimmt abgegrenzte Marktgebiet, sondern auch noch ein
weiteres umliegendes Gebiet (z. B. die alte Römeransiedlung, die Burg, der
Frohnliof u. dgl.) verstanden, als Stadt demnach eine Ansiedelung mit
einem Marktgebiete bezeichnet wird (Sohm). Für diese erweiterte Vor-
stellung insbesondere hat sich der Ausdruck Weichbild eingebürgert, der.
von einem Marktzeichen abgeleitet, eben das unter Marktrecht stehende
Gebiet andeutet. (Schröder). Diese Vorstellung kommt jedenfalls dem volks-
wirtschaftlichen und socialen Begriff der Stadt schon wesentlich näher als
jene aus ältesten Rechtszuständen einzelner Städte abgeleitete allzu enge
Begrenzung des Stadtbegriffes. Aber dennoch entspricht sie nich der that-
sächlichen Verhältnissen, und ist auch inhaltlich noch viel zu unbestimmt,
denn auch das Weichbild ist keineswegs immer identisch mit der ganzen
geschlossenen Ansiedelung, welche im volksAvirtschaftlichen und socialen
Sinne eine Einheit darstellt, und im einzelnen besteht auch keinerlei üeber-
einstimmung in Bezug auf die Einbeziehung oder Ausschliessung der Vor-
städte, sowie der Frohnhöfe, Burgen, Klöster u. dgl., an welche sich die
Stadt (das Weichbild) im Laufe der Zeit angeschlossen hat.
Eine andere Vorstellung der Grösse der Städte wird dadurch erzeugt,
dass das ummauerte Gebiet als die eigentliche Stadt angesehen wird.
Diese Vorstellung trifft für eine Reihe von Städten gewiss zu; insbesondere
im Colonisationsgebiete des östlichen Deutschlands sind die kleinen be-
festigten Orte, welche schon seit König Heinrich I. Zeiten dort entstanden
waren, Burgen oder Burgstädte in diesem Sinne; aber auch in Alt-
Deutschland ist die Anzahl solcher Burgstädte eine keineswegs unbedeutende,
wie u. a. die Beispiele aus dem Schwarzwaldgebiete (Fürstenberg, Gei-
singen, y/aldshut) zeigen. Aber doch eben auch nur für solche Burgstädte
530 Inama- Stern egg.
deckt sich das ummauerte Gebiet mit dem socialen Begriffe der Stadt.
In allen anderen Fällen aber ist die Stadtmauer zwar als ein sehr wichtiges
Attribut der Stadt anzusehen; die Bedeutung der Stadt beruht jedoch
keineswegs auf ihren Mauern, nicht einmal ihre politische, noch viel weniger
ihre wirtschaftliche Bedeutung. Sind auch die Fälle sehr selten, in welchen
die städtischen Festungsanlagen ausgedehnter sind als das eigentliche Stadt-
gebiet (so in Eadolfszell nach Sohm). so stellt umgekehrt das ummauerte
Gebiet oft nur einen Theil des Gebietes dar, welches der Träger städtischen
Wesens und städtischer Wirtschaft gewesen ist. Schon bei so wichtigen
Festungsstädten wie Altbreisach ist das der Fall (Gothein); der besonders
ummauerte Breisacher Berg, der Sitz der Kaufmannschaft, und der gleich-
falls eigens befestigte Eckartsberg, der Sitz der Ministerialen, bilden
zusammen das alte Breisach, das nicht nur als Festung, sondern auch als
Wirtschaftscentrum schon frühzeitig grosse Bedeutung für die ganze
Gegend, ja theilweise für das ganze Reich, hatte. Aber auch in all den
zahlreichen Fallen, in welchen die königliche Pfalz, der Bischofshof oder
Frohnhof, von welchem aus die Gründung der Stadt, vorwiegend sogar auf
ihrem eigenen Gebiete erfolgte, ausserhalb der Stadtmauern lag (Worms,
Freiburg, Göttingen, Corvej^-Höxter), werden wir annehmen müssen, dass
die wirtschaftlichen und socialen Beziehungen zwischen beiden so innig
waren, dass sie alle zusammen eine Stadt gebildet haben.
In der Mehrzahl der Fälle wird immerhin durch die Begrenzung des
Stadtbegriffs auf das ummauerte Gebiet die Avirkliche Grösse der Stadt im
wirtschaftlichen Sinne eher als bei ausschliessender Berücksichtigung des
eigentlichen Marktgebietes getroffen. Denn gerade die kaufkräftigen Kreise
der consumierenden Bevölkerung, die ganze Hofhaltung des Stadtherrn, die
Ministerialen und ihr Gefolge, aber auch die freien und unfreien Handwerker,
soweit sie ausserhalb des Marktes angesiedelt sind, werden doch in der
zumeist innerhalb der Stadtmauern zu suchen sein, oder sie sind
wenigstens alsbald bei der Errichtung der Stadtmauern in dieselben ein-
bezogen worden.
Aber vollständig zutreffend ist diese Vorstellung doch keineswegs,
auch wenn wir von den erwähnten Divergenzen absehen. Schon der im
Mittelalter weit verbreitete Begriff der Pfahlbürger, d. h. der ausserhalb
der Mauern angesiedelten aber den Bürgern gleichgestellten Bevölkerung
weist darauf hin, dass das wirtschaftliche Bedürfnis zu einer Regelung der
Rechtsverhältnisse der Bevölkerung gedrängt hat, welche an den Mauern
der Stadt nicht halt machen konnte. Umso weniger reicht dieses Moment
für die Darstellung des Wirtschaftscharakters der Stadt immer aus, da ja
auch landwirtschaftliche Betriebe und sonstige Beschäftigung ausserhalb der
Mauern aber doch im ausschliesslichen Dienste der städtischen Interessen
stehen konnten und thatsächlich auch gestanden sind. Dagegen nöthigt der
Umstand, dass innerhalb der Stadtmauern, z. B. in Worms, auch land-
wirtschaftlich benützte Grundstücke liegen (Köhne) keineswegs dazu, eine
factische Divergenz von Stadtgebiet und ummauertem Gebiete anzunehmen;
üeber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 531
denn auch solche Grundstücke stehen doch zweifellos im ausschliesslichen
Dienst des städtischen Wirtschaftslebens. Dass es freilich auch Städte gibt,
welche bei ihrer Gründung überhaupt nicht ummauert wurden und auch
noch lange Zeit der Mauern entbehrten — das führt nur noch weiter
darauf, dass in den Stadtmauern weder ein wesentliches Erfordernis der
Stadt im Eechtssinne, noch unter allen Umständen die Grenze des
städtischen Wesens im Sinne der Volkswirtschaft erblickt werden darf.
Besonders charakteristisch hiefür sind die Verhältnisse der von der eigens
ummauerten Abtei Corvey im 10. Jahrhundert auf dem Boden der ihr
gehörigen alten königlichen Villa Höxter angelegten Stadt. Hier wohnten
die zugezogenen Handwerker und die Ministerialen von Corvey, hier wurde
auch der Markt abgehalten. Dieses Gebiet wurde dann erst unter König
Konrad HI. mit Einschluss des Königshofes mit einer eigenen Mauer
umgeben, während der Landbezirk der Villa mit mehreren Nebenhöfen nicht
in die Stadt einbezogen wurden (Hegel). Den Burgbann hatte jedoch der
Abt von Corvey gleicherweise über die Leute in Corvey wie in Höxter, und
zweifellos standen auch beide in dem innigsten Wechselverkehre mit einander,
so dass es sich leicht begreift, dass die Stadt selbst in den alten Quellen
bald den Namen Corvey, bald den Namen Höxter führt.
Auch die Vorstellung, als sei das Stadtgebiet identisch mit dem
Frohnhofsgebiete des Stadtherrn, trifft nur in wenigen Fällen that-
sächlich zu. Wohl sind die Städtegründungen zumeist von grossen Grund-
herrn ausgegangen, und in der Kegel ist die Stadt unmittelbar bei einem
Frohnhofe, gewöhnlich dem Hauptsitze der grundherrlichen Verwaltung, auf
grundherrlichem Gebiete angelegt. Zuweilen mag sich auch das Gebiet
dieser neugegriindeteu Städte mit dem arrondierten Gebiete eines solchen
Frobnhofes decken. Aber weder besteht dafür eine innere Nothwendigkeit,
noch ist es in der Kegel thatsächlich der Fall gewesen. Kechtlich ist die
Stadt vielmehr in der Kegel ausserhalb des Frohnhofes, wenn auch auf
grundherrlichem Gebiete, entstanden; volkswirtschaftlich schliesst das Stadt-
gebiet zwar in der Kegel diesen Frohnhof ein, aber ebensowohl auch häufig
einen oder mehrere andere Frohnhofe, wie ja deren mehrere sehr wohl
neben einander innerhalb einer und derselben grösseren Ansiedelung bestehen
konnten. Das Frohnhofsgebiet des Stadtherrn erstreckte sich aber ebenso
häufig auch über die Grenzen der städtischen Ansiedelung hinaus, wenn
auch keineswegs als geschlossenes Gebiet, sondern in zerstreut liegenden
Stücken, wie es eben der vielfach zersplitterte grundherrliche Besitz mit
sich brachte; alle diese zerstreuten Güter gehörten rechtlich wie wirt-
schaftlich zum Frohnhofe, sofern sie nicht einem andern Verwaltungs-
Centrum zugewiesen waren.
Trifft also diese Vorstellung von der Identität des Stadtgebietes mit
dem Frohnhofsgebiete schon nicht zu für Städte, welche von den Grund-
herren auf ihrem eigenen Gebiete angelegt wurden, so kann davon noch
weniger die Kede sein in den althergebrachten volkreichen Wohnplätzen,
die in der Folge zu Städten im Sinne des mittelalterlichen Verfassungs-
532 Inama- Sternegg.
rechtes geworden sind: denn hier war schon längst, vielleicht überhaupt,
keine Rede davon, dass das ganze Gebiet dieser Wohnplätze ein Frohnhofs-
gebiet bilde. Hier konnten sich vielmehr Grundstücke der verschiedensten
rechtlichen Lage nebeneinander finden, neben einem oder mehreren Frohn-
höfen zu Lehen oder zu Zins ausgethane Güter, die selbst wieder ver-
schiedener Grundherrlichkeit unterworfen sein konnten, neben ganz freiem
landrechtlichen Grund- und Hausbesitz. Die Erwerbung der Grafschafts-
rechte für die grossen Grundherren, besonders für die Bischöfe (ottonische
Privilegien), machte zwar den Herrn des einen, in der Regel wichtigsten,
Frohnhofes in der Stadt zum Herrn der Stadt selbst, insoferne er die Fülle
der obrigkeitlichen Gewalt über ihr Gebiet nun in seiner Hand vereinigte,
aber sie machte damit noch nicht das Stadtgebiet zu einem einheitlichen
Frohnhofsgebiete, ebensowenig wie die städtische Bevölkerung dadurch zu
einer hof hörigen Bevölkerung geworden ist.
Endlich wird unter Hinweis darauf, dass die Stadtgemeinde aus der
Landgemeinde hervorgegangen sei, das Stadtgebiet als das Gebiet einer
Dorfmarkgenossenschaft erklärt (v. Maurer, v. Below). Diese Auffassung
kann zunächst selbstverständlich in allen jenen Fällen überhaupt nicht
zutreffen, in welchen die Städte vollkommene Neugründungen von Ort-
schaften sind. Hier tritt von Anfang an die städtische Ortschaft in be-
stimmten Gegensatz zu der Landgemeinde, innerhalb deren Gemarkung sie
gegründet ist, ohne dass dadurch die Landgemeinde wirtschaftlich oder
social zur Stadt gezogen werden könnte. Die neugegründete Stadt mag mit
der alten Landgemeinde eine gemeinsame Allmende haben, die Städter
mögen innerhalb der Dorfgemarkung Güter und Höfe besitzen. — das
Stadtgebiet wird trotzdem viel kleiner sein als die Gemarkung der Land-
gemeinde, auf deren Gebiet sie gegründet ist. Ganz ähnlich verhalten sich
die Dinge da, wo das Dorf, als der gesellschaftliche Mittelpunkt der Ge-
markung der Landgemeinde, selbst zur Stadt wird. Die Stadt mag hier
immerhin in einzelnen Fällen das ganze Gemeindegebiet ausfüllen, aber
nothwendig ist dies keineswegs. Nicht nach der Grösse des Gemeinde-
gebietes, sondern nach der Grösse der Ortschaft richtet sich ihre wirt-
schaftliche und ihre sociale Bedeutung. Insbesondere ist es hiefür und für
die Entwickelung der Stadt ganz unwesentlich, ob sie im Besitze einer mehr
oder weniger grossen Allmende sich befand. Konstanz und Freiburg haben
in ihrer älteren Zeit nahezu keine solche besessen (Gothein); anderseits
finden sich ebensowohl Beispiele von grossen wie von kleinen Städten mit
einem stattlichen Allmendebesitz, ohne dass dieser einen sichtlichen Ein-
fiuss auf das Gedeihen und die Grösse der Stadt ausgeübt hätte. Auch in
unserer Zeit steht die Grösse des Gemeindegebietes der Städte keineswegs
in einem inneren, nothwendigen Zusammenhange mit der Grösse ihrer
Bevölkerungszahl. Wir müssten sonst eine Anzahl winziger Städte als
Grosstädte charakterisieren. Dasselbe gilt aber auch für die wirtschafts-
geschichtliche Betrachtung der mittelalterlichen Städte, welche in Bezug
auf ihren Allmendebesitz sowie auf den Grundbesitz der städtischen Be-
Ueber die Anfäno:e des deutschen Städtewesens. 533
völkerung die allergrössten Unterschiede aufweisen, ohne dass diese zugleich
Unterschiede der wirtschaftlichen und socialen Bedeutung der Städte be-
deuten würden.
Ueberdies sind aber auch die Fälle gar nicht selten, in welchen eine
Stadt aus mehreren Landgemeinden hervorgegangen oder im Laufe der Zeit
gebildet worden ist. Hier müsste nach derselben Auffassung das Stadtgebiet
gleich sein der Summe aller Landgemeindegebiete, wie sie selbst eine
Vereinigung mehrerer, Aerschiedenen Landgemeinden angehöriger Ortschaften
darstellt. Und endlich sind auch noch die Fälle zu berücksichtigren. in
Avelchen ein zur Stadt gewordenes Dorf einen Antheil einer grösseren Markt-
genossenschaft bildet; mit dem gleichen Rechte, mit welchem die Dorf-
allmende als Theil des Stadtgebietes angesprochen wird, müsste denn
wolü auch noch eine weitere Ausdehnung dieser Vorstellung eintreten,
damit aber wird sie vollkommen als unmöglich gekennzeichnet.
Wie Avenig geeignet für wirtschaftsgeschichtliche Betrachtung die
Beschränkung auf das eigentliche Rechtsgebiet der Stadt ist, wird schliess-
lich besonders deutlich an den nicht eben seltenen Fällen, in welchen zwei
oder mehrere ganz selbständig organisierte Städte doch im engsten räum-
lichen und Avirtschaftlichen Zusammenhange stehen und daher von Anfang
an nur als eine Stadt im volkswirtschaftlichen Sinne aufzufassen sind.
Beispiele solcher Doppelstädte sind Breisach, Salzwedel, Halle a. d. S.;
das bekannteste und bemerkenswerteste vielleicht ist Braunschweig, das aus
fünf ganz abgesondert organisierten Stadtgemeinden mit besonderem Stadt-
gebiete einer jeden bestand und lange Zeit hindurch nur durch das herzog-
liche Gericht oder die Vogtei. welche gleichmässig über ihnen stand, zu
einem Ganzen vereinigt Avar (Hegel).
Keine von den üblichen Vorstellungen, Avelche den Begriff" der Stadt
aus der Begrenzung ihres Gebietes klar machen sollen, scheint demnacli
auszureichen, um das zu veranschaulichen, Avas die deutschen Städte auch
schon in der ersten Zeit ihres bedeutsamen Hervortretens in der Volkswirt-
schaft waren.
Marktgebiet und ummauertes Gebiet, Frohnhofs- und Gemeindegebiet
bezeichnen die territoriale Basis von Rechtskörpern, aber nicht als solche
auch der Wirtschaftsgemeinschaft, wie sie in der Stadt in eigenthümlicher
Weise entstanden ist. Viel weniger die jeweilige Abgrenzung dieser beson-
deren Rechtssphären ist für die Bedeutung der Städte massgebend geAvesen,
als vielmelir die Menge der Menschen, Avelche, auf engem Gebiete zusammen-
gedrängt, sich Avechselseitig förderten und alle zugleich, als Producenten
oder Consumenten auf die specifisch städtischen Wirtschaftseinrichtungen,
auf den Wochenmarkt und den Jahrmarkt, auf die ständigen Warenlager
der Kaufleute und auf die regelmässig functionierenden W^erkstätten der
Handwerker, auf Gewerbeordnung und Marktpolizei, auf den Geld- und
Credit verkehr angeAA'iesen waren. Darin Avar auch von Anfang an das Ziel
der Städtegründung, Avie der Ausbildung der städtischen Ordnung gesehen:
nicht um Schöpfungen der Selbstverwaltung, niclit um eine Neuordnung des
534 Inama-Sternegg.
Gerichtswesens, nicht um die Freiheit der Stadtbürger oder sonstige
socialpolitische Massregeln war es den Städtegründern in erster Linie zu
thun, sondern um die Schaffung eines geregelten Absatzes für landwirt-
schaftliche und gewerMiche Producte, um die sichere Versorgung des
Bedarfes an solchen Gütern und um die Sicherheit für Menschen und
Güter, die in diesen Verkehr einbezogen werden sollten. Zum Vortheile
des Klosters Corvey Hess schon Ludwig der Fromme im Jahre 833 eine
Münzstätte daselbst errichten, weil -jene Gegend noch keinen Marktort hatte"
und hundert Jahre später verlieh König Otto L dem Abte den Burgbann
„über alle Leute, welche in dem Kloster und der bei demselben errichteten
Stadt Zuflucht und Arbeit suchen." Die Organisation des Verkehrs also,
eines Marktes, an welchem Angebot und Nachfrage sich regelmässig treffen,
war der nächste Zweck der Städtegrilndung bei der Pfalz, bei dem Frohnhof
oder Kloster; einsichtige Städtegründer haben wohl alsbald eingesehen, dass
dieser Zweck durch Gewährung einer gewissen Selbstverwaltung wesentlich
gefördert werden könne: aber dass die Städte dann zu wirklichen Burgen
der bürgerlichen und politischen Freiheit wurden, das war nicht das plan-
mässig verfolgte Ziel ihrer Gründer, sondern das Werk einer in Arbeit
gestählten und in Selbstzucht gereiften Bürgerschaft.
IlT.
Nicht minder gi'oss, als wie bezüglich der Umgrenzung des Stadt-
gebietes, ist die Unsicherheit der gangbaren Vorstellungen über die Stadt-
bevölkerung und ihre Zusammensetzung. Die Beantwortung dieser
Frage ist aber nicht minder wichtig, um ein richtiges Urtheil über die
Grösse der mittelalterlichen Städte zu gewinnen ; zum Theil allerdings liegt
sie schon in der Abgrenzung des Stadtgebietes. Es gilt aber doch, die
Bevölkerungsclassen noch genauer zu bestimmen, welche innerhalb dieses
Gebietes zusammenwohnten und schon durch diesen räumlichen Zusammen-
hang wirtschaftlich und social auf einander einwirkten und auf einander
angewiesen waren.
Die ganz überwiegende Mehrzahl der Städte, von deren Gründung
wir Kunde haben, ist im engsten Anschlüsse an einen Herrensitz begründet,
in dessen Interesse die Stadtgründung zunächst gelegen war. Auch die alten
Pfalzstädte und Bischofsstädte, deren allmähliche Entstehung unserer Kunde
entzogen ist, lassen einen gleichen Vorgang wenigstens vermuthen, nur
dass bald mehr, bald weniger von einer schöpferischen oder organisierenden
Thätigkeit des Stadtherrn die Rede ist. Es wird daher im allgemeinen ange-
nommen werden dürfen, dass die Pfalzen und Frohnhöfe mit ihrer
ganzen In wohn er schaff von Anfang an ein Bevölkerungselement der
Städte gebildet haben und zwar neben einer etwa vorhandenen Bevölkerung
der zu Städten erhobenen Dörfer das älteste, das schon vor der Begründung
der Stadt vorhanden war. Dass die Bischofssitze, Abteien und Frohnhöfe
vielfach nicht in den Stadtrechtskreis einbezogen sind, hat für die Frage
nach der Grösse der Stadt und ihrer Gesammtbevölkerung zunächst keine
lieber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 585
Bedeutung; ein lebhaftes Interesse an der Begründung und Entfaltung
städtischen Verkehrs hat in diesen Kreisen jedenfalls bestanden und in der
neugegründeten oder geordneten Stadt sollte es befriedigt werden. Und
ebenso war doch die wirtschaftliche Entwickelung der Stadt ganz wesentlich
mit auf diese wirtschaftlichen und socialen Beziehungen zu der Bevölkerung
der Pfalz, des Bischofs- oder Frohnhofs begründet, ohne sie vielfach
wenigstens gar nicht zu denken. Gribt es doch auch heute noch Städte, für
welche eine Hofhaltung, eine zahlreiche Garnison oder Biireaukratie wesent-
liche Elemente ihrer Blüte sind: um wie viel mehr müssen diese Factoren
in den Anfängen des Städtewesens von Bedeutung gewesen sein, wo noch
überdies eine Menge wirtschaftlich bedeutender Anforderungen und Leistungen
von den Herrensitzen ausgegangen sind.
Denn ein reichbewegtes Leben hatte sich in den Lieblingspfalzen der
Könige wie an den bedeutenderen Biscliofssitzen schon längst entwickelt,
bevor die specifischen Formen des städtischen Lebens gefunden waren, und
eine zahlreiche Bevölkerung, bedürfnisreich und kaufkräftig, war durch die
Vortheile des Lebens an diesen Sitzen der politischen und der wirtschaft-
lichen Macht angezogen worden. Die Schilderungen, welche Hinkmar im
9. Jahrhundert von dem Leben in der Pfalz zu Aachen entwirft, passen in
der Hauptsaclie gewiss auch noch auf die Ottonenzeit; ausser einem reichen
persönlichen Gefolge des Königs, der Königin und der übrigen Glieder der
königlichen Familie ist gewiss eine stattliche Schar von Dienern aller Art,
zu persönlichen Dienstleistungen wie zu Verrichtungen in Haus und Hof,
in Stall und Vorrathshäusern, zu Jagd und Reisen vorhanden gewesen;
dann der ganze Bearatenorganismus der königlichen Centralverwaltung. die
bewaffnete Garde, die Geistlichen am Hofe, Lehrer, Aerzte, Kaufleute
und ständige Boten: dazu Grosse des^ Reiches, welche sich freiwillig am
Hofe aufhielten, Vasallen und Schmarozer des Hofes, mit ihren Familien;
alle überdies mehr oder weniger selbst wieder umgeben von Gefolge und
Dienerschaft: und auch sonst hat sich manches Volk zweifelhafter Herkunft
und oft dunkler Beschäftigung in diesen Brennpunkten des Lebens einge-
funden. Von der Grösse der königlichen Hofhaltung erhalten wir eine Vor-
stellung, wenn der Annalist Saxo zum Jahre 965 berichtet, dass an der könig-
lichen Tafel täglich 1000 Schweine und Schafe, 10 Fuder Wein, 10 Fuder
Bier, 1000 Malter Getreide, 8 Ochsen gebraucht wurden, nicht gerechnet die
Hühner und Ferkel, Fische. Eier, Gemüse und vieles andere. Allerdings haben
die deutschen Könige nicht mehr so sehr wie die Karolinger an bestimmten
Pfalzen regelmässig Hof gehalten; gerade ein Ort wie Aachen, dessen Pfalz
schon im 9. Jahrhundert das Gepräge städtischen Lebens an sich trägt, mochte
dadurch an seiner vollen Entwickelung zu einer grossen Stadt gehindert
worden sein. Aber auch andere berühmte Pfalzen (Ingellieim, Tribur) haben es
zu keiner städtischen Entwickelung gebracht, während benachbarte Bischofs-
sitze wie Mainz und Worms emporblühten. Doch haben auch die deutschen
Könige eine Reihe von Pfalzen vor anderen bevorzugt und ihnen damit
wesentliche Bedingungen eines regen Lebens verschafft. (Dortmund, Goslar).
536 Inama-Sternegg.
Mehr als die Pfalzen aber kommen in der Periode der deutschen
Kaiserzeit die reichen Bischofssitze auch als Verkehrscentren und kräftige
Anziehungspunkte der Bevölkerung zur Geltung. Alle die Bevölkerungs
elemente, welche das Leben auf der Pfalz charakterisieren, finden sich auch
hier und die Hofhaltung manchen Bischofes wird der königlichen nicht viel
nachgegeben haben. Vom Erzbischof von Köln erfahren wir aus dem
12. Jahrhundert, dass er an täglichem Dienste bezogen habe: über 60 Malter
Getreide, 32 Schweine, V2 Kuh, 25 Stück Geflügel, 230 Eier, 24 Käse.
6 Eimer Bier, 5 Malter Brod, 1 Malter Salz und vieles andere, nicht
gerechnet, was aus seinem eigenen Vorrath für die Mahlzeiten zur Ver-
fügung stand. An den Bischofssitzen ist aber ausser der Hofhaltung des
Bischofes selbst regelmässig noch ein eigenes Domcapitel, meistens auch
noch das eine oder andere CoUegialstift und Kloster vorhanden, wieder mit
allerhand abhängiger .Bevölkerung: auch die kriegerische Dienstmannschaft
fehlte nicht, welche um den Bischofssitz angesiedelt war. Dass auch diese
Kreise zur Stadtbevölkerung zählten, zeigt beispielsweise das Augsburger
Stadtrecht, das für alle galt, die in der Stadt wohnen, Bürger, Pfaften und
Laien, wie denn auch Dienstmannen, Chorherren und Bürger in Bezug auf
den Brückenzoll gleich behandelt wurden. Auch Kaufleute, Handwerker und
Ackersleute zur Bewirtschaftung des herrschaftlichen Sallands werden vielfach
in engstem räumlichen Verband mit dem Bischofshofe selbst ihre Wohnstätte
gehabt haben, wie das z. B. in sehr anschaulicher Weise in dem grossen
erz stiftischen Urbare von Trier aus dem Anfange des 13. Jahrhunderts zu
ersehen ist. Man wird nicht weit fehl gehen, wenn man die Gesammtbevölkerung
solcher grossen Bischofshöfe und der mit ihnen im Zusammenhang stehenden
geistlichen Anstalten allein auf einige tausend Personen annimmt. Aber
freilich, nicht alle Bischofssitze haben eine gleich ausgebildete Hofhaltung
gehabt; und noch weniger kann das von den Frohnhöfen weltlicher Grund-
herren gelten, selbst wenn sie, was ja durchaus nicht immer der Fall gewesen
ist, dort ihren ständigen Wohnsitz gehabt haben. Kleinere Frohnhöfe, die
in Meierverwaltung standen, sind auch dann, wenn sie innerhalb eines
städtischen Weichbildes lagen, doch in der Regel für die Charakteristik der
städtischen Bevölkerung ohne weiteren Belang; höchstens dass sie dazu bei-
tragen konnten, den agrarischen Einschlag zu verstärken, welchen die Stadt-
bevölkerung dort hatte, wo sie aus alten Dorfschaften sich zu städtischer
Ordnung emporgeschwungen hat.
lieber der eigentlichen Frohnhofsbevölkerung kommt die kriegeriscJie
Dienstmannschaft als ein selbständiger Bestandtheil der städtischen
Bevölkerung in Betracht. Natürlich nicht die ganze Dienstmannschaft, denn
diese wohnte im Lande zerstreut auf ihren Burgen. Edelsitzen oder ein-
fachen Höfen, die sie zu Eigen, zu Lehen oder als Dienstgut hatten. Seit
aber Heinrich I. angefangen hatte, in den östlichen Marken planmässig
Burgen zur Landesvertheidigung zu baii^n und sich hiezu, sowie zur Ver-
theidigung des Landes von diesen Burgen aus seiner kriegerischen Dienst-
mannschaft bediente, vollzieht sich ununterbrochen ein Zuzug derselben in
Ueber die Anlange des deutschen Städtewesens. 537
die Städte auch im Inneren Deutsclilands, und wird um so bedeutsamer,
je mehr eine Stadt auch als befestigter Ort für die Landesvertheidigung
von Wichtigkeit war. Am wichtigsten Avar dieses Bevölkerungselement der
Natur der Sache nach immer in den Burgstädten, wo die Milites den
Kern der städtischen Bevölkerung gebildet haben. Aber auch da, wo sie
wie z. B. in Breisach, in eigenthümlicher Trennung von der eigentlichen
Bürgerschaft stehen, indem den Dienstmannen der eine Theil (das Castell)
zur Wohnung angewiesen ist, während die Bürger den anderen Theil (die
Stadt im engeren Sinne) bewohnen, auch da ist die Existenz einer zahl-
reichen und wohlorganisierten Dienstmannschaft natürlich für die Schicksale
der Stadt von weitreichendem Einflüsse geworden. Weniger zahlreich und
wichtig ist die kriegerische Dienstmannschaft schon in den meisten Bischofs-
städten, obgleich in einigen unter ihnen, wie in Strassburg, Augsburg und
Basel, doch auch durch dieses Bevölkerungselement die Geschicke der
Stadt wesentlich beeinflusst worden sind.
Am wenigsten kommen die Dienstmannen in den eigentlichen Kauf-
mannsstädten in Betracht, welche als Neugründungen ohne militärische
Bedeutung keine besondere Anziehungskraft auf sie übten und auch, wie
es scheint, keine Neigung zeigten, dieses, den specifisch mercantilen
Interessen fremde Element bei sich aufzunehmen. Hier sind sie denn auch
unter Umständen (wie z. B. in Freiburg im Br.) geradezu von der Stadt
ausgeschlossen und nur in einzelnen Ausnahmen wurden Ministerialen mit
Zustimmung der gesammten Bürgerschaft in die Stadt aufgenommen.
Es ist daher doch nur ein Missverständnis, wenn vielfach behauptet
wird, die Dienstmannen seien überhaupt kein oder wenigstens kein irgend
belangreiches Element der städtischen Bevölkerung gewesen. Im Gegentheil
sehen wir überall, wo nicht die erwähnten exceptionellen Verhältnisse
bestanden haben, die Dienstmannen in der Stadt und auch mit den
Interessen der Stadt sehr nahe verknüpft. Schon dass die städtischen
Aemter in der ältesten Zeit durchwegs mit Ministerialen besetzt sind, weist
darauf hin. Es geht aber doch nicht an, diejenigen Elemente, aus denen
die Besetzung der Aemter erfolgte, und welche demnach mit dem Wohl
und Wehe der Stadt aufs innigste verknüpft sind, als nicht zur Stadt-
bevölkerung gehörig anzusehen. Nun gab es aber nicht nur die wenigen
Stadtbeamten, sondern zahlreiche andere Ministerialen (Skarmannen u. a.) in den
Städten; die ganze Burgbesatzung und andere Kitter, welche in der Stadt
Avohnten; sie stehen allerdings in vielen Städten ausserhalb des Stadtrechtes,
aber sie gehören doch social und wirtschaftlich ebensowohl zur städtischen
Bevölkerung wie die ganze Bewohnerschaft der Frohnhöfe, wenn diese auch
als Enclaven innerhalb des Weichbildes der Städte von der Wirksamkeit
des Stadtrechtes ausgeschlossen waren.
Die Bedeutung nun, welche diese ministerialische Classe der städtischen
Bevölkerung für das ganze Leben der Stadt hatte, war eine sehr vielseitige.
Die kriegerische Ministerialität, mochte sie ihr Verhältnis zunächst nur
zum Keiche oder zu Bischöfen und Aebten oder zu weitlichen Grossen in
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. IV. Heft. 35
538 Inama-Sternegg.
Abhängigkeit stellen, war doch schon frühzeitig ziemlich selbständig, ins-
besondere der Frohnhofsverwaltung gegenüber und auch keineswegs geneigt,
sich ihr unterzuordnen. Ihre Einkünfte zogen sie aus den Dienstgütern.
Lelien und Allodien, an deren Erwerbung und Bewirtschaftung sie durch
ihre Stellung keineswegs verhindert waren, ausserdem aber aus den Gefällen
ihrer dienstlichen Stellung, über die ja bald auch wie über einen sonstigen
Besitz verfügt wurde. Bei ihrer angesehenen Stellung, die sie wohl auch
bedürfnisreicher und zahlungsfälliger machte als die überwiegende Melir-
zahl der sonstigen Stadtbewohner, bildeten sie eine Classe von sehr wich-
tigen Consumenten, von denen die städtische Wirtschaft vielfach angeregt
wurde. Handelschaft und Handwerk fand in den Beziehungen zur Mini-
sterialität seine Rechnung. Gerade auf diese Bevölkerungkreise sind gewisse
Handwerker, welche in der Regel sogar zu den ältesten der Stadt gehörten,
besonders berechnet: die Bogner und Harnischmacher, die Lederarbeiter und
Schwertfeger, zum Theile auch die Wirte und Futterer. Social wurden
die Kriegsdienstmannen in den Städten alsbald tonangebend wegen ihrer
an Bildung, Ansehen, Einfluss und Standesbewusstsein hervorragenden
Stellung. Und ihr politischer Einfluss ist ebenso in der Organisation der
Stadtverwaltung zu bemerken wie in der ganzen Haltung der Städte,
welche König und Reich zugeneigt war nicht bloss wegen der bürger-
freundlichen Haltung einzelner Herrscher, sondern auch wegen des einheit-
lichen politischen Geistes, der die kriegerische Dienstmannschaft durchzog
und ihre Opposition gegen die localen Gewalten ebenso begreiflich macht.
wie ihr Streben nach Reichsunmittelbarkeit.
Freilich ergaben sich im Laufe der Zeit viele Misshelligkeiten und
Conflicte zwischen der Dienstmannschaft und den Bürgern, welche eben auf
die Verschiedenheit der Lebensanschauungen und Gewohnheiten, auf den
Gegensatz der Allgemeinbildung wie der Interessen zurückzuführen sind.
Aber zunächst bewiesen doch auch diese Vorkommnisse das Vorhandensein
einer bedeutenden Anzahl von Ministerialen in den Städten. Daneben aber
stehen die nicht minder zahlreichen Aeusserungen aus dem Stadtleben,
welche uns zeigen, wie Dienstmannen und Bürger Hand in Hand gegen die-
Bedrückungen der Vögte oder gegen den Stadtherrn selbst sich wenden,
gemeinschaftlich für städtische Angelegenheiten und Interessen sich ein-
setzen (Augsburg 1004, Mainz 1105, Höxter 1148). Auch ist es für die
Angewöhnung städtischen Lebens in den Kreisen der Dienstmannschaft
gewiss charakteristisch, dass dieselben regelmässig in eine Stadt einreiten,
wenn es gilt für ihren HeiTn oder für einen Genossen Einlager zu halten,
sowie dass sie anfangen städtische Steuern und Lasten (Schatz und Schuld)
mitzutragen, wogegen sie dann von specifischen ministerialischen Leistungen
(Hergewette und Gerade) befreit wurden (Lüneburg 1247). Endlich ist
auch nicht zu übersehen, wie mächtig gerade unter dem Einflüsse der
ritterlichen Gewohnheiten der Dienstmannen selbst die vermögenderen
Kreise der eigentlichen Bürgerschaft angezogen wurden und alsbald mit ihnen
zu einem einheitlichen Patriciat verschmolzen, bei dem schwer zu entscheidea
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 539
ist, ob die alten Traditionen der Erwerbsstände oder der Dienstmannen den
Ausschlag für seine aristokratische Haltung gegeben haben.
Vielleicht am schwierigsten ist die Entscheidung über die Bedeutung,
welche der rein agrarischen Bevölkerung in den Anfängen des städti-
schen Lebens zukommt. Dass dieses Element gänzlich gefehlt habe, ist
doch nur in den allerseltensten Fällen anzunehmen. Selbst die reinen
Burgstädte, in denen neben dem Stadtherrn oder dessen Vertreter die
kriegerische Besatzung den Ton angab, Handwerk und Kaufmannschaft
vorwiegend im Dienste der militärischen Interessen und ihrer Träger stand,
haben doch daneben eine mit der unmittelbaren Nutzung der in der
städtischen Gemarkung liegenden Grundstücke beschäftigte Einwohnerciasse,
in der Kegel wohl unfreien Standes , besessen , mag sie auch nicht
zahlreich und social wie wirtschaftlich w^enig belangreich gewesen sein. Für
die zunächst zur Förderung des Marktverkehrs angelegten eigentlichejj
Kaufmannsstädte anderseits ist doch in der Kegel ein Standort gewählt,
welcher auch vorher schon durch seine natürliche Lage oder durch seine
Beziehungen zur Grundwirtschaft und die dadurch hervorgerufenen Ansiede-
lungen belangreich geworden war. Die Bevölkerung solcher Orte in ihrer
vorstädtischen Periode muss aber zum Theile wenigstens eine agrarische
gewesen sein, denn aller andere nationale Erwerb war ja doch immer auf
die Bodenbewirtschaftung angewiesen und nur in den nächsten Beziehungen
zu ihr denkbar, solange nicht eben durch die Organisation städtischer
Gemeinwesen die wichtigsten Bedingungen für eine in der Gliederung der
Ansiedelungen und ihrer Bevölkerung zum Ausdruck kommende Arbeits-
theilung und Concentration des gewerblichen und kaufmännischen Betriebes
geschaffen waren. Ein sehr gutes Beispiel ist hier die Städtegründung von
Stendal, welche Albrecht der Bär auf seiner eigenen Villa im Jahre 1151
unternommen hat. Obwohl diese Gründung zunächst nur im Interesse des
Marktverkehrs erfolgte, wurde doch bestimmt, dass alle Einwanderer gleichen
Antheil an Wasser, Weide und Wald mit den ersten Einwohnern erhalten
sollen. Es handelt sich hiebei offenbar um eine agrarische Bevölkerung der
Villa, welche nun auch zu einem Theile der städtischen Bevölkerung wird.
Es war das aber die gewöhnliche Form, wie nachmals die deutschen Städte-
gründungen in den slavischen Ländern ausgeführt wurden (Hegel). Immerhin
mögen auch in solchen Kaufmannsstädten die agrarischen Elemente des
Wohnplatzes verhältnismässig wenig zahlreich und zunächst von dem
besonderen Kechte der Stadtgemeinde oder wenigstens des Marktverkehres
ausgeschlossen gewesen sein. So ist der alte Weiler bei Freiburg eine
Ansiedlung der niederen landwirtschaftlichen Bevölkerung und nicht mit
Stadtrecht versehen (Gothein).
Doch findet sich anderseits in der Neustadt Salzwedel, welche
seit 1247 die gleichen Kechte wie die Altstadt hat, freier Einzug
gestattet jedem, der Bürger werden will und Erbrecht demjenigen zuer-
kannt, der dort Erbe kauft und Jahr und Tag darin gesessen ist. Dass
sich daselbst auch in der That deutsche und slavische Bauern ange-
35*
540 Inama-Sternegg.
siedelt haben, ist schon aus der CTründungsurkmide der Neustadt
ersichtlich (Hegel).
Im directen Gegensatze hiezu hat es aber auch eine, obgleich wenig
liäufige Stadtbildung in der Weise gegeben, dass bestehenden Dörfern
einfach ein Stadtrecht verliehen wurde und unter seinem Schutze nun die
Gewerbetreibenden und Kaufleute erst allmählich ihren Einzug hielten in
ein vorhandenes, zunächst rein agrarisches Gemeinwesen. Hier geboren dann
natürlich die Bauern nebst der etwa vorhandenen Frohuhofsbevölkerung
nicht nur zu dem ursprünglichen Bevölkerungselemente der Stadt, sondern
sie geben solchen Ackerstädten auch zunächst ihr Gepräge; regelmässig
bleiben sie weit zurück in ihrer Entwickelung gegenüber den Städten,
welche unter anderen Bedingungen entstanden und eine anders geartete
Zusammensetzung ihrer Bevölkerung aufweisen.
Entscheidend für die Würdigung der Kolle, welche den rein agra-
rischen Elementen in der Entwickelung des deutschen Städtewesens zugefallen
ist, wird, was die personale Seite der Frage betrifft, immer ihr Auftreten
in den grösseren, alten Städten sein, deren Aufblühen in der Zeit des
12. Jahrhunderts überhaupt der volkswirtschaftlichen Entwickelung ihre
charakteristische Signatur verleiht. In den rheinischen und süddeutschen
Bischofs- und Pfalzstädten, sowie in den norddeutschen Handelsstädten ist
das agrarische Element, das innerhalb und ausserhalb der Mauern ange-
siedelt war, nicht zu übersehen und nicht zu unterschätzen. Das ergibt
sich schon aus der Thatsache der häufigen Stadterweiterungen und der
vielfach lang erhaltenen bauerschaftlichen Einrichtungen in diesen Städten.
Aber auch die Stadtrechte selbst sprechen hier eine ziemlich deutliche
Sprache. Wie diese Städte überwiegend eine Allmende haben, welche
zweifellos aus der Zeit vor der Schaffung der städtischen Verwaltung
stammt, so sind auch die Dienste und Abgaben, welche die städtische
Bevölkerung dem Stadtherrn zu leisten hat, nur unter der Voraussetzung
eines reichen landwirtschaftliche;! Betriebes verständlich. Dabei liandelt es
sich allerdings um Personen der verschiedensten socialen und wirtschaft-
lichen Lage. Neben grösseren Grundherren und freien Hofbesitzern, die
nur den Standort ihrer Verwaltung in der Stadt, ihren Besitz aber vor-
wiegend am flachen Lande hatten (die lleichsleute in Dortmund!), kommen
Zinsleute und Unfi-eie, neben Erbpächtern reine Grundholden in Betracht;
Kleinhäusler (Söldner), welche gerade in der Stadt eher die Bedingungen
einer Ergänzung ihres bescheidenen Landwirtschaftsbetriebes durch städti-
schen Nebenerwerb oder landwirtschaftlichen Specialbetrieb (Gärtner in
den Vorstädten von Konstanz!) finden konnten, traten neben den landwirt-
schaftlichen Tagelöhnern, die jedes Besitzes bar waren, zu den verschiedenen
Classen grundbesitzender und landwirtschaftlicher Elemente hinzu — eine
Bevölkerung, ebenso gemischt, wie sie auf jedem grösseren Dorfe sich
finden konnte. Numerisch wird diese agrarische Classe der Einwohner in
den alten grossen Städten nicht gering angeschlagen werden dürfen; in der
aus dem 10. Jahrhundert stammenden Mauerbauordnung von Worms
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 541
erscheinen sie noch in entschiedenem Uebergewichte (Köhne), Für die
Entwickelung der Stadt und für ihre volkswirtschaftliche Bedeutung allerdings
hat sie wenig ausgetragen: nicht von ihr sind die Impulse zur Ausbildung
der Stadtfreiheit und städtischen Verwaltung ausgegangen und an Markt
und gewerblicher Production hatte sie doch allerwege nur ein sehr
beschränktes Interesse und einen sehr geringen Antheil. Soferne sie später
nicht als grössere Grundbesitzer in das Patriciat übergiengen, haben sie
sich wohl rasch auch gewerbsmässigen Beschäftigungen zugewendet und die
Bewirtschaftung des Grundbesitzes zur Nebensache gemacht.
IV.
Grundherren und Frohnhofsbevölkerung, Ministerialen und Bauern
bilden zwar wichtige Bevölkerungselemente auch in den aufkeimenden
Städten, und sind in denselben bald mehr bald weniger zahlreich vertreten;
als specifische Stadtbevölkerung können sie trotzdem nicht angesehen
werden. Sie waren zum grossen Theile schon vor der Stadtgründung am
Orte vorhanden, haben auch wohl an der Stadtgründung wesentlichen An-
theil, sind an dem Gedeihen der Stadt und an der Ordnung der städtischen
Verhältnisse wesentlich mitinteressiert, ja zum Theile haben sie sogar den
Schwerpunkt ihrer socialen Interessen in der Stadt gefunden. Für das Leben
am Frohnhofe war der Anschluss an eine Stadt eine erhebliche Verbesse-
rung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse, zunächst in dem einen, wenngleich
immerhin wichtigen Punkte, dass damit der Absatz der eigenen Producte
und der Naturaleinkünfte erleichtert, der eigene Bedarf besser und sicherer
zu decken ^var; für den Grund- und Stadtherrn insbesondere ergab sich aus
der Stadt ausserdem eine Bereicherung seiner Einkünfte aus Zoll, Markt
und Münze, aus Gerichtsgefällen und Zinsen, eine Wertsteigerung seines
Grundbesitzes und eine bessere Nutzung desselben in der Erbleihe; auch
die fruchtbringende Anlage beweglichen Capitals im Hausbau, sowie anderseits
die Vortheile erleichterten Creditverkehrs mögen vor allem ihm zugekommen
sein. Für die Ministerialität eröffnete sich ein neues Feld der Wirksamkeit,
eine Erweiterung ihrer Machtbefugnisse und ihrer Einkünfte, eine Stärkung
ihrer ganzen Position auch ihrem Herrn gegenüber. Für den Bauern bot
der Wochenmarkt eine Steigerung der Productenpreise und einen sicheren
Absatz, der ihn in seiner Wirtschalt selbständig machte und ihm, indirect
wenigstens, auch eine Wertsteigerung seines Gutes brachte; dazu im An-
schlüsse an die gewerbliche Production und an die Handelsthätigkeit eine
erwünschte Gelegenheit zu Nebenerwerb, wo die wirtschaftliche Basis seines
Hauptbetriebes etwa zu schmal zu werden drohte.
Aber doch hatte jede dieser Classen ihre eigentliche Existenzbasis
ausserhalb der Stadtwirtschaft und hätte im Nothfalle auch ohne die Städte
weiter bestehen können, wie sie früher bestanden hatte und wie sie vielfach
auch fernerhin ohne Verbindung mit einer Stadt wirklich weiter bestanden
hat. Eben deshalb wird sich auch nicht behaupten lassen, dass in diesen
Classen der Stadtbevölkeruno: die Elemente zu erblicken sind, welche
542 Inama-Sternegg.
zunächst die städtische Entwickelung herbeigeführt und sich als treibende
Elemente in dem wunderbar raschen Aufschwünge der Städte bewiesen
haben. Sie bildeten vielmehr den Nährboden, auf dem sich anders geartete
wirtschaftliche Bestrebungen günstig entwickeln, neue Gedanken heranreifen
und Gestalt gewinnen konnten. Es lässt sich ohne sie wohl kein städtisches
Gemeinwesen denken, aber doch hätten sie für sich allein ein solches nicht
zu schaffen vermocht.
Mit dieser Auffassung steht die herrschende Städtegeschichtsschreibung
keineswegs in TJeberein Stimmung. Man hat sich fast schon daran gewöhnt
in den Kaufleuten und Gewerbetreibenden nicht nur die specifische
Städtebevölkeriing, sondern die Städtebevölkerung überhaupt zu erblicken,
aber freilich wieder in sehr verschiedenem Sinne und mit grossen Unter-
schieden der Auffassung im Einzelnen. Insbesondere die Kaufleute sind in
neuester Zeit für die Würdigung der Stadtbevölkerung in das hellste Licht
gerückt worden; die Kaufleute gelten als die eigentliche Stadtbevölkerung,
durch sie und für sie sind, so scheint es, die Städte gegründet; es gewinnt
den Anschein als hätte es Städte gegeben, in denen überhaupt nur Kauf-
leute gelebt hätten.
Allerdings erfährt diese Anschauung sofort eine erhebliche Modification
dadurch, dass das Wort Kaufmann in einem sehr weiten Sinne gebraucht
wird: alle, die auf dem Markte verkaufen, sollen Kaufleute sein, gleichviel
ob sie eigene oder fremde Producte zu Markte bringen. Damit sind denn auch
die Gewerbetreibenden zumeist, ja selbst die Verkäufer von Bodenproducten.
die Bauern auf den Wochenmärkten, die Beamten an den Eruchtspeichern
der Grundherren als Kaufleute verstanden. Und anderseits werden sogar die
Grundbesitzer in den Städten mit den Kaufleuten identificirt; sie sind ja nach
den Stadtrechten zweifellos Bürger und eben die Stadtrechte gebrauchen
nicht selten die Ausdrücke Bürger und Kaufleute als gleichbedeutend.
In dieser Unbestimmtheit ist also mit der Bezeichnung der Stadt-
bevölkerung als einer Kaufmannsbevölkerung nicht viel anzufangen. Wir
müssen genauer zusehen, wie es in der beginnenden Stadtwirtschaft mit den
Kaufleuten im eigentlichen Sinne des Wortes und mit den Gewerbetreibenden
bestellt ist.
Kaufleute hat es natürlich längst gegeben, bevor von Städten in dem
specifischen Sinne der späteren Zeit die ßede ist. Sowohl an den Pfalzen,
wie in anderen Frohnhöfen der geistlichen und weltlichen Grossen haben
sich auch Kaufleute aufgehalten, welche theils im unmittelbaren Herren-
dienste standen, theils von der Frohnhofsverwaltung in ihrem Interesse benutzt
wurden, daneben aber selbständig Handelschaft tiieben. Dass sie es ver-
einzelt zu Ansehen und Eeichthum brachten, ist bezeugt. Daneben gab es
kleine Händler, die meist wohl im Umherziehen Waren einkauften und
absetzten, eine bescheidene Existenz führten und auch eine engbegrenzte
Wirksamkeit hatten. Von einer zahlreichen Klasse der Kaufleute wird dennoch
im Ganzen nicht geredet werden können; der Warenverkehr war in der
städtearmen Zeit doch ein geringfügiger, die Technik und Oekonomik des
üeber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 543
Handels gering ausgebildet, was schon daraus hervorgeht, dass auch die
grossen Kaufleute beständig auf Reisen sein raussten. Selten nur erscheinen
Kaufleute am Lande in den Urkunden erwähnt und auch die eigene Handels-
thätigkeit, welche z. B. die Klöster durch ihre Mönche und Laienbrüder
entfalten mussten, spricht dafür, dass sich die Kaufmannschaft zu einem
erheblichen Zweig des nationalen Erwerbslebens noch nicht entwickelt hatte.
Mit dem Aufkommen des Städtewesens haben sich die Verhältnisse
der deutschen Kaufmannschaft dann allerdings sehr rasch und entschieden
zu ihrem Yortheile verändert. Schon aus den Kaiserurkunden der Ottonen-
zeit ist zu ersehen, wie die begünstigte Stellung, welcher die Kaufleute sich
am königlichen Hofe zu erfreuen hatten, ihnen auch anderwärts verliehen
wird. Es ist den Kaufleuten damit zunächst die Ansiedelung in verschiedenen
Städten unter königlicher Autorität erleichtert, ihnen und ihren Geschäften
der Königsfrieden in der Stadt gesichert und, wenigstens in der Folge, auch
das Genossengericht als privilegierter Gerichtsstand in Handelssachen zuge-
standen worden. Aber auch überall, wo nun im Verlaufe dieser Entwickelung
ein Ort mit dem besonderen Rechte des Marktes beliehen wird, kommen
dieselben Gesichtspunkte zur Geltung. Allenthalben sind die Begünstigungen,
welche den in die neue Stadt Einwandernden gewährt oder in Aussicht
gestellt werden, in erster Linie auf die Kaufleute berechnet. Ja man kann
in der That von Städtegründungen sprechen, welche zunächst für Kaufleute
bestimmt waren; es handelt sich in der That vielfach im Anfange des
Städtewesens um eine Lokalisierung des Handelsverkehrs. Den Schwierig-
keiten der Beschaffung von fremder Ware und des Absatzes der Eigen -
production sollte begegnet, dazu die natürliche Eignung eines Ortes als
Verkehrsmittelpunkt ausgenutzt werden. Zu diesem Ende kam man den
Kaufleuten entgegen, welche Productenüberschusse aufkauften, Warenvor-
räthe anlegten und Käufer wie Verkäufer anlockten.
In ganz neugegründeten Städten wie Freiburg i/B. wurde den Kauf-
leuten der Boden zum Häuserbau gegen bescheidenen Jahreszins vom Stadt-
herrn reichlich zugemessen und ihnen bewilligt, dass sie sich derselben
Vorrechte erfreuen sollen wie die Kaufleute in Köln, die wahrscheinlich die
gleichen waren, wie sie auch für andere Reichs- und angesehene Bischofs-
städte bereits seit längerer Zeit in üebung waren. Neben der gesicherten
Niederlassung, der geschützten Freiheit des Marktverkehrs und dem privi-
legierten Gerichtsstand in Handelssachen war aber überall die Befreiung
von den zahlreichen und lästigen Abgaben zu Wasser und zu Lande ein
von der Kaufmannschaft besonders erstrebtes Ziel; die Bischöfe von Strass-
burg haben schon in der Karolingerzeit das Privilegium des zollfreien Handels
im ganzen Reiche für ihre Kaufleute erworben und es war begreiflicherweise
ein mächtiger Magnet für die Einwanderung der Kaufleute, wenn sie in
einer Stadt besonderer Vergünstigungen dieser Art sich erfreuen konnten.
So sind denn auch die deutschen Kaufleute alsbald viel umworben von den
in rascher Folge begründeten Städten; frühzeitig entsteht eine lebhafte
Bewegung aus- und einwandernder Kaufleute, welche sich den vortheil-
544 In am a- Sternegg.
haftesten Standort für ihre Handelschaft aufsuchten; nicht wenige von den
neuen Stadtbürgern kamen aus weiterer Entfernung und trugen auch die
Traditionen der Stadt mit sich, welche sie verlassen haben. So sind Friesen
in Worms, Lombarden in Konstanz, Kegensburger und Flandrer in Wien
durch besondere Privilegien angelockt, in grösserer Zahl Bürger dieser
Städte geworden; gar nicht zu gedenken der Juden, welche frühzeitig in
allen Kaufmannsstädten Eingang fanden und von denen der Bischof von
Speier in der Grründungsurkunde von 1084 sagt: da er aus dem Orte eine
Stadt machen wollte, habe er geglaubt, die Ehre desselben tausendfach zu
mehren, wenn er daselbst auch Juden versammle. Auch eine absolute Ver-
mehrung des Kaufmannsstandes konnte nicht ausbleiben, wo so viele Vor-
theile gerade diesem Erwerbszweige entgegenwinkten ; es begreift sich leicht,
dass gleichsam mit einem Schlage die Stellung des Kaufmanns und seine
Bedeutung für die ganze Volkswirtschaft quantitativ und qualitativ ausser-
ordentlich gehoben worden ist.
Unter den Kaufleuten, um deren Gewinnung die städtegründenden
Land- und Burgherren sich besonders bemühten, werden wir uns im Wesent-
lichen eigentliche Grosskaufleute zu denken haben^ wie sie die spätere
Terminologie als Kaufherren oder Gewölbherren von den Repräsentanten der
verschiedenen Zweige des Kleinhandels unterscheidet. Diese Kaufleute
allein waren die echten Träger des Handels, wie ihn die StädtegTünder im
Auge hatten als besonders begehrenswerten Zweig der nationalen Betrieb-
samkeit; erfahren in den Zuständen fremder Städte und Länder, ihrer Pro
ducte und Bedürfnisse, vertraut mit den weiten Wegen, den Mitteln und
Gefahren der Handelsfahrt, mit Recht und Gewohnheit der Gebiete, welche
sie durchzogen, gerieben in der Geschäftspraxis des Handels und unter-
nehmend im Abschlüsse grosser, weitaussehender Geschäfte mussten diese
Grosskaufleute für jede auf Belebung des Verkehrs und auf Erringung
einer mercantilen Machtstellung bedachte Wirtschaftspolitik als ein unent-
behrliches und in der Regel nur zu sehr vermisstes Element der städtischen
Bevölkerung erscheinen. Als Träger des mobilen Capitals, das sie im
Warenverkehr wie im Geldverkehr rasch und gewinnbringend umsetzten,
galten sie zugleich als reiche Leute, welche den Wohlstand einer Stadt
unmittelbar durch ihre grossen Warenvorräthe wie durch ihre grossen
Einkünfte erhöhten und zugleich durch ihren persönlichen und geschäftlichen
Credit im Stande waren, dem städtischen Wesen jederzeit noch grössere
Mittel zur V^erfügung zu stellen.
Die Stadtherren konnten wohl auch sicher darauf rechnen, dass von
dieser Quelle des Reichthums etwas in ihre eigene Gasse abfliessen werde,
und hatten anderseits gewiss schon hinlängliche Einsicht in den inneren
Zusammenhang aller wirtschaftlichen Vorgänge, um die belebende Wirkung
einigermassen ermessen zu können, welche von einer regen Handelschaft
auf alle Kreise der nationalen Production ausgehen musste. Gründe genug.
um solche Kaufleute durch eine Reihe wertvoller Privilegien anzulocken,
aber auch Erklärungsgründe genug für die Erscheinung, dass sich die
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 545
Kaiifleiite im jungen städtischen Leben alsbald allen anderen Classen der
Bevölkerung überlegen, alle mehr oder weniger von sich abhängig fühlten
und demgemäss mit einer die Befestigung ihrer eigenen Position vor allem
anstrebenden Politik die weitere Entwickelung des städtischen Gemeinw^esens
zu beeinflussen suchten. Insbesondere ist die Strenge bemerkenswert, mit
welcher sich die Kaufmannsgilde von den übrigen erwerbtreibenden
Classen der Stadtbevölkeruug abschloss. Es ist ein häutig wiederkehrender
Satz der Gildestatuten, dass, wer Gilderecht erwerben wolle, zuerst das
Handwerk abgeschworen haben musö (Stendal); es wird daraus weiterhin
deutlich ersichtlich, wie wenig vom Standpunkte der Kaufleute selbst an
eine Identificierung von Kaufmann und Handwerker zu denken ist, während
der Eintritt von Angehörigen anderer Berufsstände (Geistliche, Ritter) in
die Gilde durchaus nicht zu den Seltenheiten gehört. Gerade dadurch wird
de: durchgreifende aristokratische Zug in der Entwickelung der Kaufmanns-
gilde vollkommen erklärt, dass sie sozusagen nach oben hin offen, nach
unten zu aber geschlossen war. Spätere Erscheinungen des Gildewesens,
wie die Richerzechheit in Köln, die Reinoldsgilde in Dortmund lassen sich
vielleicht in dieser Weise am besten erklären, dass sie aus Kaufmannsgrilden
hervorgegangene aristokratische Bruderschaften waren.
In älterer Zeit war. soweit wir sehen, der deutsche Kaufmann noch
kein Specialist. Er handelt mit den Droguen und Seidenstoffen des Orients
ebenso wie mit den Hauptproducten des Nordens, dem Pelzwerk und dem
Häring. mit Metallen und Geweben aus den verschiedenen Theilen von
Europa. Aber zum Theil gerade deshalb konnten auch nur Wenige sich
solcher Kaufmannschaft widmen; Fähigkeiten und Mittel hiezu Avaren
beschränkt, und beschränkt docl\ auch noch immer der Bedarf. Eine
wesentliche Vermehrung in der Zahl der Kaufleute haben wir erst mit dem
Eintreten einer gewissen Specialisierung der Zweige des Handels anzu-
nehmen; diese aber war doch zunächst bedingt von einer Zunahme der
gewerblichen Production, auf die sich der Handel dann im Einzelnen
stützen konnte. Eine solche Vermehrung der Production aber trat zunächst
ein in der Weberei und in der Metallgewinnung und daher treten
aucli als die ersten und für lange Zeit wichtigsten Specialzweige des
Grosshandels die Gewaudschneiderei (Tuchhandel) und der Metall- beson-
ders Edelmetallhandel auf. Während aber der letztere durch die mono-
polisierte Münze vielfach in seiner Entwickelung behindert war, blühte
der Tuchhandel um so rascher auf und hat zur absoluten Vermehrung
der Kaiifleute in den Städten bald das Wesentlichste beigetragen. In
grossen Städten steht er bald achtunggebietend, ja gleichwertig der
ganzen übrigen Kaufmannschaft an der Seite, in kleinen Städten sind die
Gewandschneider nicht selten die einzigen Repräsentanten des Grosshandels.
Vereinzelt und insbesondere im deutschen Norden scheint auch der Victualien-
handel einen besonderen Zweig des Grosshandels gebildet zu haben;
auf ihn speciell sind alte kaiserliche Privilegien bezogen, welche einen
eigenen Gerichtsstand der Kaufleute begründen (Magdeburg, Goslar, Quedlin-
546 Inama- Sternegg.
bürg 1024). Aber anderwärts ist speciell der Vieh- und Kornbandel schon
frühzeitig in Misscredit gekommen und ist damit dem Kleinhandel fast
gewaltsam in die Arme gedrängt worden (Gothein).
Dieser Kleinhandel in Landesproducten und Gewerbserzeugnissen ist
die zweite, kaum minder alte Form, in welcher sich in den Städten eine
Handelslhätigkeit regte. Aber er stand doch in jeder Beziehung weit ab
von der wirtschaftlichen und socialen Stellung, welche der Grosshandel
alsbald einnahm; ja es ist kaum anzunehmen, dass die Krämer, Höcker,
Fragner u. dgl. überhaupt den Kaufleuten als ebenbürtig angesehen worden
seien. Sie waren und blieben kleine Leute, deren wirtschaftliches Interesse,
deren Geschäftskreis und geschäftliche Bedeutung sie viel mehr an die
Seite der Handwerker als der Kaufleute stellte. Vereinzelt sind auch solche
Händler, denen man nach der Natur ihres Geschäftsbetriebes eine Stellung in
der Gruppe der Kleinhändler anwies, zu grösserer Geltung gekommen, wie das
frühe Beispiel der Fischhändlerinnung in Worms (1106) bezeugt; aber die breite
Kegel ist doch das Gegentheil; die Krämer halten sich selbst vorwiegend
zu den Handwerkern, wie sie auch in ihrer späteren Entwickelung die
Schicksale der Zünfte theilen. Keine Spur des aristokratischen Zuges, welcher
die Kaufleute so frühzeitig auszeichnet, ist bei ihnen wahrnehmbar; es wäre
auch nicht wohl zu verstehen, woher er hätte kommen sollen.
Krämer sind daher wohl nie, am allerwenigsten aber in den Anfängen
der städtischen Entwickelung mit den Kaufleuten zu identificie:en. Um
ihretwillen ist keine Stadt gegründet, kein Stadtprivilegium verliehen
worden. Krämer hätten nie das Zeug gehabt, eine städtische autonome
Verwaltung zu organisieren und eine thatkräftige, selbstbewusste Bürger-
schaft zu erziehen. Sie nahmen natürlich theil an den Vortheilen und
Segnungen des städtischen Wesens und des Marktverkehrs, ja auf dem
Wochenmarkte sind sie sogar wichtige Personen; aber sowenig „in seinem
Wochenmarkte der Ursprung von Kölns Grösse liegt" (v. Below), sowenig
ist die Bedeutung der Kaufmannschaft für die Stadtentwickelung nach der
Zahl der Krämer zu messen, die sich daselbst niedergelassen hat.
Schon daraus ergibt sich, wie wenig Berechtigung die Vermengung
der verschiedenen Classen von Handeltreibenden und die Zusammenfassung
aller unter der gemeinsamen Quellenbezeichnung der Kaufleute habe. Es
liegt eine ungeheure üebertreibung des eigentlich kaufmännischen Elementes
der Stadtbevölkerung darin. In Wahrheit waren die Kaufleute in allen
Städten in mehr oder weniger starker Minorität, was natürlich keineswegs
hinderte, dass diese Minorität in der Stadt herrschte und dem ganzen
städtischen Wesen den Stempel ihres eigenen Wesens aufzudrücken suchte-
Aber ebenso unberechtigt ist es, die gewiss viel zahlreichere Classe der
Krämer und anderer Kleinhandeltreibenden deshalb, weil sie nicht voll-
berechtigte Bürger, ja vielleicht in der ältesten Zeit überhaupt nicht
Bürger im Rechtssinne waren, auch gar nicht zur Stadtbevölkerung zu
rechnen. Auch sie lebten in der Stadt oder knapp vor ihren Thoren, aucli
sie wirkten und schafi'ten mit an der städtischen Wirtschaft, auch sie
Ueber die Anfänge des deutschen Städte wesens. 547
waren nützliclie Glieder des Gemeinwesens durch das, was sie leisteten, wie
durch das, was sie bedurften. Nicht nach den Kategorien der rechtlichen
Stellung, sondern nach den Grössenkategoiien der Berufs- und Erwerbs-
classen und nach der qualitativen Bedeutung ihres Antheils an den Gesammt-
leistungen der Stadtwirtschaft wird die Wirtschaftsgeschichte die Zusammen-
setzung der städtischen Bevölkerung zu beurtheilen haben. Und unter diesem
Gesichtspunkte kommt sie zu dem Schlüsse, dass in den aufkeimenden
Städten des Mittelalters den Eepräsentanten der Handelschaft eine aller-
dings sehr verschieden abgestufte, im ganzen aber doch sehr erhebliche
Bedeutung beizumessen ist.
Im Vergleiche zu den Kaufleuten ist in den Stadtrechtsprivilegien
auffallend wenig von den Gewerbetreibenden die Eede. und doch sind
auch sie zweifellos schon in der ersten Zeit der Stadtentwickelung eine
zahlreiche Einwohnerciasse und haben an dem wirtschaftlichen Fortschritte
der Städte kaum einen geringeren Antheil als die Kaufleute. Aber die Um-
stände, welche in der Stadt das Handwerk grosszogen, waren ganz anders
gelagert als diejenigen, unter denen der Handel heranwuchs.
Man hat früher gerne die Handwerker als hofhörige Leute aufgefasst.
welche sich allmälich erst aus dem Verbände des Frohnhofs emancipierten.
Damit wäre allerdings eine sehr einfache Erklärung jener Erscheinung
gegeben, dass die Gründungsurkunden und ältesten Privilegien der Städte
das Vorhandensein der Handwerker oft ganz übersahen. Aber so einfach sind die
Verhältnisse doch in den seltensten Fällen gelegen. In den grossen Frohn-
höfen waren allerdings gewisse Zweige des Gewerbebetriebes regelmässig
vertreten; die bei diesen Gewerben beschäftigten Personen arbeiteten für
den laufenden Bedarf des Frohnhofs, unter Umständen auch für den Markt,
aber doch immer unter Aufsicht der Beamten der einzelnen Hofämter und
für deren Hechnuns: als unfreie Knechte. Daneben entwickelte sich dann mit
der allgemeinen Milderung der Unfreiheitsverhältnisse allmählich auch eine
gewisse Vertretung der gewerblichen Production in den Classen der Cen-
sualen und Vogteileute, welche, nicht mehr an den Frohnhof gebunden,
zerstreut am Lande umher oder compacter in der Nähe grosser Herren-
höfe Sassen und nur zu bestimmten gewerblichen Verrichtnngen oder zur
Lieferung von Gewerb sproducten an den Herrenhof verpflichtet, im übrigen
aber selbständig in der Ausübung ihres Betriebes waren. Mit der Abnahme
der Frohnhofswirtschaft und der Auflösung grosser herrschaftlicher Betriebe
in kleine Meierwirtschaften ergab sich naturgemäss eine grössere Selb-
ständigkeit auch des gewerblichen Betriebes; die Classe der zins- und
dienstpflichtigen Gewerbetreibenden vermehrte sich, wie sich die Keihen
der hofhörigen Handwerker an den Herrenhöfen selbst lichteten und dieser
Process hat in der Zeit des ersten Aufblühens der Städte schon grosse
Dimensionen angenommen, ia er steht mit den raschen Fortschritten des
städtischen Lebens selbst in einem unverkennbaren, inneren Zusammenhange.
Zunächst freilich erzeugte die Auflösung der grossen herrschaftlichen Betriebe
eine grössere Atomisierung der gewerblichen Kreise, eine Vereinsamung
548
und einen Mangel an wirtschaftlichem Halt, wie ihn seinerzeit der Frolin.
liofsverband geboten hatte. Die nationale Arbeitstheilung nahm zweifellos
zu, aber die Gliederung der arbeitstheiligen Production machte eher
Rückschritte. Der Vermehrung der absoluten Zahl der Gewerbetreibenden
entsprach keineswegs eine absolute Vermehrung der nationalen Production
von Gewerbswaren; und selbst die Zunahme der Gewerbetreibenden musste
eine nahe Grenze finden, so lange die Bedingungen der Productivität gewerb-
licher Arbeit so ungünstig lagen und insbesondere eine nationale Orga-
nisation der gewerblichen Arbeit und des regelmässigen Marktes für ihre
Producte mangelte.
Es ist daher mindestens eine schiefe Vorstellung, wenn die Entstehung
der Stadt in der Weise aus dem Hofrechte abgeleitet wird, dass der
Frohnhof mit seiner ganzen abhängigen Bevölkerung ursprünglich selbst die
Stadt dargestellt hätte und diese erst allmählich zu grösserer persönlicher
und wirtschaftlicher Freiheit, schliesslich zur Autonomie ihrer Verwaltung
gekommen sei. Speciell w^as die Kaufleute und Handwerker anbetrifft, so
sind diese specifisch wirtschaftlichen Classen der Stadtbevölkerung nur
zum kleinen Theile als ursprünglich in deren Hofverbande stehend zu
denken. Ihre Hauptmasse ist vielmehr eingewandert; der Markt, die Haus-
leihe, die Stadtprivilegien und die besonderen Verfügungen der Stadtherren
selbst haben dazu Veranlassung geboten. Die Handwerker aus den Classen
der Zinsleute, welche nicht glebae adscripti waren, konnten verhältnismässig
leicht in die Städte wandern, auch unter Aufrechterhaltung des Verbandes
mit ihrem Zinsherrn; wir wissen, dass das unter Umständen zunächst nur
vorübergehend geschah, aus Anlass von Jahrmärkten oder grösseren Festen,
wie das z. B. aus Koblenz (1104) von Bäckern und Schustern berichtet ist,
wo dann diese Handwerker mit Producten des eigenen Gewerbefleisses
Feilschaft trieben oder solche Producte auf kurze Bestellung lieferten. Auch
die vielen Unfreien, welche die Grundherren selbst in die Städte entliessen,
dürfen wir wohl vorzugsweise als Handwerker ansprechen; die Auflösung
von Frohnhofsämtern, in welchen solche bisher bedienstet waren, gab dazu
jedenfalls ungleich häufiger Anlass als der Wechsel in den Einrichtungen
des landwirtschaftlichen Betriebes, der ja ohnehin schon zumeist nicht
mehr in eigener Regie der Grundherren geführt wurde.
Diese Classen unfreier und halbfreier Gewerbetreibender werden wohl
allenthalben die Hauptmasse der städtischen Handwerker in der ersten
Zeit des städtischen Lebens ausgemacht haben; ihnen mögen sich immer-
hin auch aus den sonstigen Kreisen der nicht grundbesitzenden Bevölkerung
gar manche Elemente angeschlossen haben, ein gewisser Zuzug auch aus
der grundbesitzenden Bevölkerung gekommen sein, besonders seit die freie
Erbtheilung immer mehr, im abhängigen wie im freien Grundbesitz, einer
Primogenitur oder sonstigen Individualsuccession Platz machen musste.
Im grossen und ganzen waren diese Handwerker gewiss arme Leute,, auf
ihre Handarbeit angewiesen, ohne viel geschäftliche Bildung und Erfahrung;
ihre gewerblichen Anlagen höchst bescheiden, ihr Betriebscapital ver-
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 549
schwindend. Wohl haben auch die Handwerker vereinzelt schon frühzeiti«-
Grundbesitz in den Städten erworben, aber als Kegel kann das nicht gelten.
Die Handwerker lebten zumeist ärmlich in den Vorstädten (Basel, Freiburg),
wohnten zur Miete oder hatten doch ausser dem in Erbleihe genommenen
Hause keinen unbeweglichen Besitz (Gothein). Eine Bevölkerungsciasse
dieses Ursprungs, dieser Lebensverhältnisse konnte keinen besonderen
Ansprach auf Beachtung erheben; ihr war die Verbesserung des Loses in
der Stadt zunächst Fortschritt genug; die Machthaber in der Stadt aber
schenkten ihnen wenig Beachtung bei der Kechtsbildung der neuen Gemein-
wesen; vom Standpunkte der alten socialen Ordnung erschienen sie als
Landlose und Unfreie doch kaum höher als ihre Standesgenossen auf dem
flachen Lande; wirtschaftspolitisch waren sie anfänglich gewiss unterschätzt:
im Kaufmann allein erblickte man den reichen und geschäftsgewandten
Mann, der den Markt und den städtischen Verkehr allein zu beleben
im Stande sei. Der Handwerker ist daher keineswegs vollberechtigt in der
Stadt; er ist nicht Genosse des Stadtgerichts und der Stadtverwaltung,
nicht Bürger im engeren Sinn des Wortes. Aber er participiert doch an
den Vortheilen des Marktes; seine eigene Ware dort zu verkaufen, Kohstoff
und Hilfsstoff dort einzukaufen, mag ihm niemand wehren. Und ebenso
steht er mit den specifisch kaufmännischen Interessen in naher Beziehung,
wohl aber nicht, wie man gemeint liat (Sohm), in einem Verhältnis der
Hörigkeit zum Kaufherrn, sondern in durchaus freiem Vertragsverhältnisse.
Frühzeitig ist das Handwerk in der Stadt der wichtigste Lieferant von
Gevverbswaren für den Kaufmann geworden; der Handel blüht besonders
da. wo er auf dem breiten Boden einheimischer Production steht, und mit
ihm beruht das Gedeihen der städtischen Wirtschaft überhaupt wesentlich
auf der rasch steigenden und tüchtigen Arbeit des städtischen Handwerks.
Und da gewiss ein Kaufmann genügt, um die Producte vieler Gewerbs-
leute, besonders bei dem extensiven Handwerksbetriebe älterer Zeit, umzu-
setzen, so werden wir auch im allgemeinen eine viel grössere Zahl von
Handwerkern als von Kaufleuten in den Städten annehmen müssen.
In einzelnen Städten kommen überdies in charakteristischer Weise
und schon frühzeitig die an Bergbau und Salinenbetrieb beschäftigten
Personen zur Geltung. Li Goslar am Harz, in Halle a. d. Saale, Lüneburg,
aber auch in Friesach in Kärnten wird wohl die Entstehung der Stadt
zunächst auf diese Interessenkreise zurückzuführen sein. Hier spielen sie
auch alsbald die hervorragendste Rolle; um der Interessen dieser Betriebe
willen ist da vorzugsweise der Markt angelegt, der ein reiches geschäft-
liches Leben sclion vorfand, während er es anderwärts erst erzeugen sollte.
Darum steht auch der kaufmännische und der Handwerksbetrieb hier in
zweiter Linie; die Bergwerksinteressenten geben den Ton an, sowohl gemäss
ihrer numerischen Ueberlegenheit wie auch wegen des Reichthums, den sie
sich bei der Selbständigkeit ihrer Betriebsführung zu bilden vermochten;
die genossenschaftliche Organisation, welche sich die Bergleute und Salz-
sieder (Pfänner) frühzeitig zu schaffen verstanden, gab ihren auf die
550 Inama- Sternegg.
Herrschaft in der Stadt gerichteten Bestrebungen auch alsbald den nöthigen
Nachdruck und einen sicheren Kückhalt.
Wie die Entstehung der deutschen Städte im Wesentlichen ein
Product der nationalen Arbeitstheilung ist, so gebürt auch dem Handwerke
ein hervorragender Antheil an dieser Entwickelung. Denn erst durch die
Verselbständigung der gewerblichen Arbeit und durch ihre Organisation in
der Stadt (Arbeitstheilung und Arbeitsgiiederung) ist die städtische Wirt-
schaft überhaupt zu einem Factor von so specifischer Wichtigkeit für die
ganze Volkswirtschaft geworden und nichts wäre unberechtigter, als wegen
der rechtlichen und socialen Vorzugsstellung, welche den Kaufleuten im
Anfange des städtischen Wesens eingeräumt und von ihnen mit grösster
Schärfe geltend gemacht worden ist, die volkswirtschaftliche Kolle zu
unterschätzen, welche das Handwerk auch schon in einer Zeit spielte, in
welcher es noch nicht mit dem Weltruhme geschmückt war, der ihm in
den deutschen Städten in späteren Jahrhunderten zugefallen ist.
V.
Die Bevölkerung der Städte setzt sich demnach in den Anfängen ihrer
Entwickelung zusammen aus einer eigentlichen Frohnhofsbevölkerung und
aus den ausserhalb des Frohnhofsverbandes stehenden ministerialischen,
rein agrarischen, kaufmännischen und gewerblichen Elementen. Dazu kann
man noch eine rein dienende Classe rechnen, welche wenigstens bei
Ministerialen und Kaufleuten nicht unerheblich gewesen ist, wie sie natürlich
aucli innerhalb des Frohnhofes numerisch ins Gewicht fällt. Unter dem
Gesichtspunkte einer rein wirtschaftlichen Berufsgliederung sind natürlich
Theile der Frohnhofsbevölkerung auch dem Beamtenthum, den agrarischen,
gewerblichen und kaufmännischen Interessenkreisen zuzutheilen, wie anderseits
die herrschenden Kreise des Frohnhofes mit selbständigen Grundbesitzern
zusammen eine Classe von Rentnern, die Dienenden aller dieser Kreise
zusammen eine besondere Berufsclasse ausmachen.
Das numerische Verhältnis, in welchem diese einzelnen Bevölkerungs-
kreise zu einander und zum Ganzen stehen, ist natürlich in den einzelnen
Städten verschieden, wenn wir auch im Einzelnen in keiner Weise in der Lage
sind, es mit annähernder statistischer Genauigkeit zu bestimmen. Es ist
auch gewiss durchaus nicht ohne Einfluss auf die besondere Entwickelung
geblieben, welche die Stadtverfassung und die ganze Ordnung des gemeinen
Wesens in den einzelnen Städten genommen hat.
Wenn wir sehen, dass Städte, deren Verfassungsgrundlagen im Wesent-
lichen ganz übereinstimmende Züge aufweisen, im Verlaufe der Zeit eine so
ganz verschiedenartige Entwickelung genommen haben, die einen rasch zu
wichtigen Centren des Gewerbefleisses und Handelsverkehrs werden, die
anderen in rein agrarischen Verhältnissen verharren oder sogar in solche
zurückfallen, wenn wir den Einfluss des Beamtenelements bald verschwinden,
bald sich behaupten sehen, so ist der Grund dieser Verschiedenheit gewiss
zum guten Theile auch in dem numerischen Verhältnisse zu erblicken, in
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 551
welchem die einzelnen Classen der städtischen Bevölkerung gleich bei der
Begründung der Stadt oder in der ersten Zeit ihrer Entwickelung zu einander
gestanden sind.
Aber mindestens ebenso wichtig für die Ausgestaltung der Stadtver-
fassung und Stadtverwaltung sind die Verbände gewesen, in denen sich
die einzelnen Volkskreise des städtischen Lebens schon von Anfang an
befanden und in deren Formen sie auch nach der Aufrichtung eines beson-
deren städtischen Gemeinwesens noch lange Zeit verharrten. Dabei handelt
es sich nicht so sehr um die rechtliche Ordnung, welche diese einzelnen
Vo^kskreise gegen einander abgrenzte, und ihnen in verschiedener Weise
ihre subjectiven Rechte zumaass: viel entscheidender sind die socialen
Effecte, welche diese öffentlichen Ordnungen und Verbände hervorbrachten.
Wenn wir daher nunmehr die Frage zu beantworten haben, was die ein-
zelnen Bevölkerungselemente der Städte zu deren Organisation, zu ihrer
specifischen Verfassung beigetragen haben, so wird das Augemerk vornehmlich
darauf zu richten sein, in wie weit bestehende Organisationsformen der
Bevölkerung schon vor der Aufrichtung der städtischen Autonomie ein
sociales Gemeinbewusstsein, ein Classen- oder Standesinteresse erzeugt
hatten, das in den Bestrebungen nach Ausgestaltung der besonderen Art
städtischen Wesens zur Geltung gebracht oder wenigstens zur Geltung zu
bringen versucht wurde.
In der karolingischen Zeit begegnet auf deutschem Boden eine einzige
sociale Organisation, welche unter Umständen für die Ausbildung der Stadt-
verfassung bedeutsam werden konnte: das ist die Hofverfassung. König-
liche Pfalzen wie sonstige Residenzen geistlicher und weltlicher Grossen
waren von Landvecht und Grafengewalt eximiert und bildeten einen eigenen
Immunitätsbezirk, der allerdings ausser dem eigentlichen Frohnhof mit
seiner unmittelbaren Umgebung eine Reihe von mehr oder weniger zerstreut
liegenden Exclaven begreifen konnte. In den Mittelpunkten eines solchen
Frohnhofsgebietes, wo zugleich die Residenz des Grundherrn war, umschlang
das Hofrecht eine vielfach gegliederte Menschenmenge; Diener zu den
täglichen Verrichtungen des Hofhaltes wie zu den Leistungen der Gutsver-
waltung, höhere Bedienstete zum Schutze des Herrn, zur Aufrechterhaltung
der Ordnung am Hof, zu Reisen und Botendienst; Bauern sodann zur
Bearbeitung der Hofländereien, w^elche auf Rechnung der Herrschaft bewirt-
schaftet wurde; Handwerker, die für den Herrenhof arbeiteten, auch wohl
Kaufleute, wo der Verkehr besonders lebhaft war. Ueber die einzelnen
Gruppen dieser unfreien Leute waren eigene Vorsteher gesetzt, welche in
grossen Frohnhöfen selbst wieder eine stattliche Schar ausmachen
konnten.
In der Begrenzung auf den gemeinsamen Wohnplatz musste die
Gemeinschaft des Rechtes, welche alle diese Bevölkerungselemente umschlang,
unzweifelhaft auch einen gewissen Gemeinsinn, ein gleichmässiges Gefühl
der Anhänglichkeit an den Ort erzeugen, an dem alle diese Leute zusammen
lebten und wirkten, gemeinsam gute und schlechte Tage ertrugen. Und
552 Inama-Sternegg.
gerade die Angelegenheiten des öffentlichen Lebens, die ja immer in eigen-
thümlicher Projection zu Angelegenheiten der Gemeinde werden, haben, wie zu
aller Zeit, ihre Behandlung zunächst aus dem Gesichtswinkel dieser örtlichen
Gemeinschaft gefunden.
Aber nicht nur diese durch den Hofverband erzeugte örtliche Gemein-
schaft war dem Aufkommen eines Gefühls und eines Bedürfnisses der
Zusammengehörigkeit förderlich; auch das Hofrecht selbst hat mit seiner
den gesammten Rechtskreis dieser Bevölkerung umfassenden Wirksamkeit
tiefe Linien in die Volksseele eingegraben, welche zu festen Geleisen für
die Weiterführung der Gedanken einer öffentlichen Ordnung volkreicher
Orte werden konnten. In dem Bauding des Hofrechts, auf welchem die
kleinen Händel des geschäftlichen Verkehrs wie die Ordnung der täglichen
Angelegenheiten, der persönlichen Sicherheit und des Familienrechtes, des
Grundbesitzes und der Allmendebenutzung verhandelt wurden, standen die
Genossen des Hofrechtes als Rechtsweiser und ürtheilsfinder gleichwertig
bei einander; in den Hofämtern des Kämmerers, Marschalls, Schenken und
Truchsess. oder wie sonst die Gliederung der Ministerien beschaffen war,
fand sich die hofhörige Bevölkerung eingegliedert und zum täglichen Dienst
verbunden und es wird der Einfluss nicht leicht überschätzt werden können,
der von der Gewöhnung an diese Organisationsformen des täglichen Lebens
auf die ganze Denkweise und Anschauung der Bevölkerung ausgieng. Auch
ist es fast selbstverständlich, dass die Lösung neuer Aufgaben, welche
mit den Anfängen städtischen Lebens gerade auch an den Sitzen solcher
Frohnhofsverwaltungen gestellt wurde, zunächst im Rahmen und in den
Formen schon bestehender Institutionen versucht wurde und neue Organisations-
formen erst dann aufgesucht wurden, wenn die vorhandenen sich hiefür als
ganz ungeeignet erwiesen oder von der Bevölkerung im Geiste zielbewusster
Reformen zurückgewiesen wurden.
In dieser doppelten Hinsicht also, durch die Gemeinsamseit des
Aufenthaltes wie durch die Theilnahme an gemeinschaftlichen Institutionen,
welche schon auf eine Ordnung des öffentlichen Lebens an volkreichen
Orten berechnet waren, ist in der Hof Verfassung ein socialer Kitt vorhanden
gewesen, der für die Bildung städtischer Gemeinwesen von Bedeutung
werden konnte. Eine Ableitung der städtischen Verfassungsformen aus der
Hofverfassung wird sich niclit behaupten lassen, höchstens dass in Städten,
welche einem starken Einflüsse des grundherrlichen Elementes ausgesetzt
waren, von einer ursprünglichen Anlehnung die Rede sein kann. Eine Ent-
wickelurg der socialen Ordnung der Stadt aus den ständischen Verhältnissen
des Frohnhofs ist ebenso wenig vorhanden, denn immer ist die Frohnhofs-
bevölkerung nur ein Lheil, und wohl alsbald nur ein kleiner Theil der
städtischen Bevölkerung.
Wenn wir nichtsdestoweniger an der Ansicht festhalten, dass der
Hofverfassung eine wichtige Stelle in der Entwickelungsgescliiclite der Städte
zufällt, so ist das nur eine Anerkennung der unleugbaren Tliatsache, dass
an demselben Wohnplatze, an densell)en socialen und Avirtschaftlichen
Ueber die Anfänge des deutschen Stiidteweseiis. 553
Interessen, uie sie eben eine Stadt darstellte, in der Reo-el eine hofhörige
Bevölkerung in festgefügten Formen des öffentlichen Lebens mit anderen
Bevölkerungselementen theilnalim und dass überall eine bestehende, alt-
eingelebte Ordnung der Dinge sich einer werdenden Ordnung der Ver-
liältnisse gegenüber in einem gewissen Vortheil befindet; umsomehr natürlich
dann, wenn, was doch in den Anfängen des deutschen Städtewesens die
Regel bildet, ein Frohnhofsherr zugleich Stadtherr ist und daher mit dem
Willen auch die Macht verbindet, an den gewohnten Formen der Organisation
festzuhalten.
Die Position des Frohnhofsherrn, welcher als Herr des Stadtgrundes
zugleich Stadtherr wurde, ist nun überdies noch durch die Verleihung
der Grafschaftsrechte an diesem Territorium mittelst der sogenannten
Ottonischen Privilegien in einer Weise gestärkt worden, welche es wohl recht-
fertigt, auch hierin ein für die Verfassungsentwickelung der deutschen Städte
wichtiges Element zu erblicken. Auch dieser Auffassung ist zuweilen eine
missverständliche Deutung gegeben worden; um so wichtiger scheint es,
diejenigen Gesichtspunkte kurz hervorzukehren, unter welchen der Zu-
sammenhang dieser beiden Dinge im richtigen Lichte erscheinen kann.
Auf dem Boden des Grundherrn, der bestimmt war das Stadtgebiet
zu bilden, umsomehr natürlich in Städten, die nicht auf solch grundherr-
schaftlichem Gebiete angelegt waren, hatte sich im Laufe der Zeit eine
Reihe von Bevölkerungselementen angesiedelt, welche nicht hofhörig oder
grundhörig waren, sondern ihren persönlichen Gerichtsstand vor dem Grafen
hatten und nicht unter dem Hofrechte sondern unter dem Landrechte lebten;
freie Grundbesitzer, welche da den Standort ihrer Gutsverwaltung hatten,
Handwerker, Kaufleute, Censiten der verschiedensten Art, aber auch Beamte
fremder Grundherren, Geistliche und Laien und manch lediges Volk.
Schon frühzeitig ist nun zu Gunsten der Bischöfe der Anfang einer
Ausdehnung der in der Immunität liegenden Gewalt über die eigenen
Besitzungen und die auf ihnen sesshaften oder sonst abhängigen Leute
hinaus gemacht (Waitz); durch die sogenannten ottonischen Privilegien ist
dann in der That in vielen Bischofsstädten die volle Gerichtsbarkeit über
alle Bewohner auf die geistlichen Stifter übergegangen. Zwar ist damit
allein keineswegs eine Verschmelzung von Hofgericht und Landgericht ein-
getreten, der Gerichtsstand der verschiedenen Personenclassen zunächst
nicht geändert. Nur dass in derselben Hand die grundherrlichen und die
Grafschaftsrechte vereinigt, die hofhörigen und die sonstigen Einwohner
eines solchen erweiterten Herrschaftsgebietes demselben Herrn unterworfen
wurden. Insbesondere in den der bischöflichen Herrschaft unterliegenden
Städten war dieser Process der Consolidierung der öffentlichen Gewalt doch
nicht ohne tiefere Bedeutung; ward hier einmal der Bischof Gerichtsherr
auch über diejenigen, welche nicht zu seinem Hofrechte gehörten, so konnte
dieses Verhältnis doch leicht auch ein einheitliches socialpolitisches Bewusst-
sein erzeugen, umsomehr als diese Einheit in allen Zweigen der öffentlichen
Verwaltung auch die wirtschaftlichen Beziehungen der Städter ungleich inniger
Zeitschrift für Volkswirtschaft. Socialpolitik und Verwaltung. IV. Hfft. gß
554 Inama-Sternegg.
ZU gestalten geeignet war. Gieng ja doch die ganze sociale Entwictelung der
Stadt dahin, die Unterschiede des alten Personenstandes mehr und melir
zu vernachlässigen und dagegen die Gleichartigkeit der socialen und ökono-
mischen Existenzbedingungen, wie sie die Stadt bot, zum Ausgangspunkte
eines einheitlichen Stadtbürgerthums zu nehmen.
Die ottonischen Privilegien waren weit davon entfernt, einen directen
organisatorischen Einfluss auf die Stadtverfassung auszuüben oder gar diese
selbst zu schaffen; aber mittelbar ist die neue Gestaltung, welche sie der
öffentlichen Gewalt in den Bischofsstädten gaben, doch auch für die Ent-
wickelung der Stadtverfassung und des Stadtbürgerthums besonders in ihren
Anfängen belangreich geworden.
Auch die Ministerialen, welche innerhalb des Bereiches städtischer
Wirtschaft wohnten und wirkten, hatten ihre eigene Organisation und damit
einen gemeinsamen Kechtsboden, von dem aus sie auf die Gestaltung der
öffentlichen Ordnung in den Städten einen gewissen Einfluss nehmen konnten.
Theils war das in ihrem ständischen Sonderrechte, dem Dienstmannsrecht
begi'ündet, das sie genossenschaftlich verband und ihnen das Genossen-
gericht unter dem Vorsitze ihres Herrn sicherte; theils war die Dienst-
kriegsverfassung, welclie die zum Heeresdienste verpflichtete Dienstmann-
schaft militärisch organisierte, der Kitt, der auch für die übrigen Lebens-
verhältnisse den Dienstmannen ein wirksames Bindemittel wurde; theils
endlich ist in den besonderen Kechtsverhältnissen der Burghut eine engere
Verbindung der Ministerialen in den Burgstädten geschaffen w^orden. Ein
solcher standesmässiger Zusammenschluss der Ministerialität musste aller-
dings erheblich zur Stärkung der socialen Position der Ministerialen beitragen,
und, insoferne sie überhaupt in der Stadt in grösserer Zahl vorhanden
waren, konnte daraus auch für die Organisation des öffentlichen Lebens in
den Städten ein wirksamer Einfluss erwachsen. Speciell in den Städten, in
welchen die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten im Auftrage des
Stadtherrn von den Ministerialen geübt wurde, lag es nahe, dass die specielle
Organisation der Ministerialen auch auf die Ausbildung der Organe der
städtischen Verwaltung und auf deren Wirksamkeit zurückwirkte. Waren doch
die Burggrafen, die obersten Verwaltungsbeamten der Stadt, immer, selbst
die Schultheissen sehr oft aus den Ministerialen genommen und ebenso
bildet es in der älteren Zeit die Kegel, dass die Vorsteher der Zünfte, gleich
den Meistern der hofhörigen Handwerker, dem Kreise des ministerialen
Beamtenthums entnommen waren. Auch die sonstigen Aemter der städtischen
Verwaltung waren in den Händen der Ministerialen: der Zöllner, der Münzer,
so dass es kaum anders möglich war, als dass auch in den Stadtrechten und
in der Verwaltungsordnung der Stadt den Interessen und Bestrebungen der
Ministerialität weithin Kechnung getragen wurde.
Freilich gab es daneben auch eine Reihe von Städtegründungen, bei
welchen die Ministerialen ihre Hand nicht im Spiele hatten, und Stadtrechte,
welche gewiss nicht unter ihrem Einflüsse concipiert sind. Auch in den
alten Heichs- und Bischofsstädten ist der Einfluss der Ministerialität auf
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 555
die Stadtverfassung ein sehr verschiedener; in Strassburg und Basel ist
unter ihrer Obhut die Selbstverwaltung der Stadt erwachsen, hier haben
sie bei der Zusammensetzung des Käthes ihre Stellung gewahrt, hier haben
sie sogar dem ganzen herrschenden Patriciat seine Farbe gegeben (Gotheim);
anderseits lässt sich in Konstanz und Köln ein Einfluss der Ministerialität
auf die Ausgestaltung der städtischen Verwaltung nicht nachweisen.
Auch die kirchlichen Institutionen enthalten schon frühzeitig
Ansätze zu einer Organisation des städtischen Lebens, welche keineswegs
ganz bedeutungslos für die wirkliche Ausgestaltung der städtischen Ver-
fassungen geblieben sind. Vor allem sind schon die Beziehungen, in welche
frühzeitig die Kirchspiele (Parochien) mit den Dorfgemeinden gesetzt
wurden, vielfach Veranlassung zu einer Vermischung dieser beiden Arten
von Gemeinden geworden. Die Vertretung der Marktgemeinde ist zugleich
die Vertretung des Laienelementes in der Pfan-gemeinde ; die Genossen der
einen fühlen sich zugleich als Genossen der anderen, und die wenn auch
aus ganz verschiedenem Boden erwachsenen Competenzen gehen leicht in
einander über. So entwickelt sich gleichsam aus doppelter Wurzel ein ein-
heitliches Gemeindebürgerthum, das um so bedeutsamer wurde, je mehr in
der Parochie das persönliche Moment gegenüber dem in der Marktgemeinde
vorwiegend geltenden Momente des Realbesitzes betont wurde. xAllerdings
fielen die Grenzen der Pfarrsprengel keineswegs immer mit den Grenzen der
Marktgemeinde zusammen; aber soferne diese Uebereinstimmung bestand,
ist sie doch zugleich eine kräftig wirkende Ursache der Verstärkung des
Gemeindebewusstseins und des Gemeindezusammenhaltes für die ganze
Bevölkerung geworden.
Auch innerhalb der Städte spielen die Pfarrsprengel nicht selten eine be-
deutsame Bolle für die Ordnung des öffentlichen Lebens. In Köln ist die älteste
Stadteinth eilung geradezu durch die 7 Parochien gebildet. In Hamburg sind
die 4 Kirchspiele lange Zeit hindurch wenigstens bei allen wichtigen
Rathsverhandlungen besonders vertreten. In Mainz haben sich die Pfarr-
sprengel noch im 15. Jahrhundert auch für das städtische Regiment als
massgebend erhalten. In Worms ist die alte Eintheilung der Stadt in
4 Parochien auch für weltliche Zwecke benutzt. Auch in Speier, Basel,
Augsburg und anderen Städten sind Symptome vorhanden, dass die Pfarreien
weltlichen Gemeinden (Specialgemeinden in der Stadt) entsprochen haben.
Hatte doch in Augsburg jede Pfarre ihren eigenen Hirten; zog aber ein
Bürger aus zwingender Noth in einen anderen Pfarrsprengel, so durfte er
den bereits entrichteten Hirtenlohn dem neuen Hirten in Abrechnung
bringen, was doch nur bei einheitlicher Ordnung des Weidewesens möglich
war. Zuweilen hat auch der Umstand, dass die Marktgemeinde zugleich
Stifter und Patron der Pfarrkirche gewesen ist, darauf eingewirkt, die
Beziehungen zwischen der weltlichen und der kirchlichen Gemeinde besonders
innig zu gestalten.
Das wichtigste Beispiel von der Bedeutung der Kirchspiele für das öffent-
liche Leben in der Stadt bleibt aber immerhin Köln. Jede ihrer Parochien hatte
36*
^^(5 Inania -Sternegg.
eine eigene verwaltende Behörde, ein eigenes Gemeindereclit, einen besondern
Erwerbsact für die Mitglieder des Kirchspiels, ein eigenes Ding- und Yer-
sammlungshans und eine eigene Schatz- und Urkundenlade (Schrein), in
welcher die auf Immobilienerwerb sich beziehenden Urkunden hinterlegt
wurden (Gengier). Die noch unvollendete Ausgabe der Kölner Schreinsacteu
von Höniger ist ein überzeugender Beweis von der grossen Tragweite dieser
Institution für die ganze Ordnung der freiwilligen Gerichtsbarkeit in dieser Stadt.
Von besonderem Belange für die Gestaltung des Verkehrsrechtes und der
Wirtschaftsordnung in den Städten wurde die Straf- und Rügegerichtsbarkeit
der Kirche. Schon frühzeitig hatten die Bussordnungen (Pönitentialbücher)
der Kirche Handel und Wandel unter dem Gesichtspunkte der Sündhaftigkeit
in den Bereich ihrer Anordnungen gezogen und auf den Senclgerichten
(Synoden) wurde über Meinkauf (Unredlichkeit im Verkehr) im weitesten
Sinne abgeurtheilt. Die Sendschöffen, welche das Laienelement bei diesen
Gerichten bildeten und die Heimburgen (Orts Vorsteher), welche den Send
regelmässig als Rüger besuchten, waren naturgemäss Vermittler der
kirchlichen und der weltlichen Anschauungen über die Zulässigkeit der ein-
zelnen Verkehrsformen und Einrichtungen. In den Städten zogen die Send-
gerichte insbesondere auch Fabrication und Handel vor ihr Forum. Es gibt
Sendweisthümer, welche sich mit der Ordnung der Tuchbereitung, der
Maass- und Gewichtscontrole, mit den Preisen der Kaufmannsgüter sehr
eingehend befassen; ja bei der ConcuiTenz der weltlichen und der geistlichen
Gerichte auf diesem Gebiete der Jurisdiction darf es gar nicht Wunder
nehmen, wenn die Wirksamkeit der Sendgerichte zuweilen geradezu
bestimmend für die Gestaltung der Verkehrsfomen und der Gewerbepolizei
wurde, ohne dass man jedoch wird sagen können, dass ein grosser Theil
des späteren Gewerbe- und Zunftrechtes geradezu aus den Bussordnungen
hervorgegangen sei (Schmoller). Mithin bedeutete diese kirchliche Gerichts-
barkeit viel für die Ausbildung gleichmässiger Anschauungen über das
Verkehrsleben wie der kirchliche Gemeindeverband überhaupt für die Aus-
bildung eines Gemeinbewusstseins und einer gemeinnützigen Wirksamkeit
im Geiste der Selbstverwaltung öffentlicher Angelegenheiten.
Mit besonderem Nachdrucke ist neuestens wieder die Ansicht, welche
schon vor mehr als einem Menschenalter Maurer vertreten hatte, wenn auch
in modificierter Form vertlieidigt worden, dass der Ursprung der Stadtge-
meindeverfassung in der Landgemein de Verfassung zu sehen sei, welche
nur unter dem besonderen Einflüsse städtischer Lebensverhältnisse eine
Umbildung erfahren habe (v. Below).
Insoferne damit nichts anderes gesagt sein soll, als dass die Grund-
linien der jungen städtischen Verfassung an die bereits vorhandenen realen
Verhältnisse der Landgemeinden anschlössen, aus denen die Städte hervor-
giengen, trifft diese Ansicht auch gewiss in der Melirzahl der Fälle zu. Auch
die Landgemeinden hatten in der Zeit der Entstehung des deutschen Städte-
wesens in der Regel einen Gemeindeherrn, der für die Verwaltung der
öffentlichen Ano-elegenheiten durcli seine Beamten, den Sclmltheiss oder den
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 557
Meier, Vorsorge getroffen hatte, wie anderseits die Vogteireclite über die
Landbevölkerung zunächst auch in den jungen Städten in unverändeter
Form weiter bestanden. Audi in den Landgemeinden sind die Herrschafts-
rechte schon beschränkt durch die Mitwirkung der Gemeindegenossen im
Bauding, ebenso wie ja auch im Land- und Hofgericht die Schöffen aus
ihrer Mitte genommen sind. Die Competenz freilich der autonomen Gemeinde
ist ausserordentlich verschieden je nach der concreten Gestaltung der
Herrschafts- und Grundbesitzverhältnisse. Wie es gewiss in jener Zeit
Gemeinden gegeben hat, welche sich einer sehr weitgehenden Selbständig-
keit in Bezug auf die Verwaltung ihrer Allmende, Aufnahme in die Gemeinde,
Polizei und Gericht zu erfreuen hatten, so waren doch anderseits auch
weithin Verhältnisse ausgebildet, welche von alledem kaum schwache
Spuren aufzuweisen hatten. Wie aber von einer einheitlichen Gestaltung
der landgemeindlichen Autonomie keine Eede ist, ebenso wenig kann an
einen überall in gleicher Weise wirksamen Einfluss der bestehenden land-
gemeindlichen Institutionen auf die Gestaltung der städtischen Verfassung
und der socialen Ordnung in den Städten die Eede sein. Dazu kommt ins-
besondere noch in sehr maassgebender Weise der Umstand in Betracht,
dass bei der Doppelstellung, welche der Grundherr zugleich als Gemeinde-
herr einnahm, die Functionen des Gemeindevorstehers und des grundherr-
lichen Verwalters (Meier) ebenso wie das Bauding mit dem Hofgericht leicht
mit einander verschmolzen und damit die selbständige Existenz der Gemeinde
in den wichtigsten Angelegenheiten äusserlich wenigstens ganz aufliören konnte.
Gerade diejenigen Factoren aber, welche die Städte zu dem gemacht
liaben, was sie in verhältnismässig kurzer Zeit geworden sind, die Ordnung
des Gewerbewesens und des Markt Verkehrs, lagen gänzlich ausserhalb des
Bereichs der althergebrachten communalen Wirksamkeit auf dem platten
Lande. Die Frage, aus welchen Ursachen das deutsche Städtewesen ent-
standen ist, kann überhaupt mit dem Hinweis auf die Landgemeinde, als
organisatorisches Vorbild der Stadt, nicht beantwortet werden. Aber auch
die enger begrenzte Frage nach den Ursachen, aus welchen die Stadtver-
fassung ihre charakteristischen Formen im Gegensatze zur Landgemeinde-
Verfassung angenommen habe, findet in dem Hinweis auf diese selbst-
verständlich keine Antwort. Dass aber in der Landgemeinde eine Form
der localen Selbstverwaltung bestand, welche unter den besonders gün-
stigen Umständen, wie sie das rasch aufblühende wirtschaftliche Leben der
Städte und die wesentlich fördernde sociale Gliederung der Bevölkerung
erzeugte, geeignet war, sich auch grösseren Aufgaben entsprechend auszu-
weiten und umzubilden, daran mag nicht gezweifelt werden. Auch die sehr
beschränkte autonome Verwaltung, welche die Landgemeinde im allgemeinen
im 12. .Jahrhunderte aufzuweisen hat, mag in gewissem Sinne als eine
brauchbare Vorschule angesehen werden, welche die Bevölkerung zur Hand-
liabuiig der erweiterten Competenz ihrer Selbstverwaltung erzogen hat, und der
Allmendebesitz übte auch in der zur Stadt herangewachsenen Landgemeinde
nach wie vor seine bindende und verbindende Wirksamkeit aus und erhöhte
558
das Gemeindebewusstsein wie er die materielle Existenz der Gemeinde zu
kräftigen bestimmt war.
Besonders beachtenswert für diese Frage ist der Umstand, dass sehr
viele Städte durch Vereinigung mehrerer Landgemeinden gebildet sind, welche
auch noch innerhalb der Stadt eine selbständige communale Existenz weiter-
geführt haben (Köln, Dortmund, Soest).
Die Einheit der städtischen Verwaltung beruht hier durchaus auf der
Stadtherrschaft, welche Kichter und Schöffen einsetzt, die städtische Verwaltung
leitet und die Finanzen der Stadt als ihre eigene Angelegenheit betrachtet.
Mit der Erweiterung des Stadtgebietes durch Einbeziehung von Bauer-
schaften erweitert sich zugleich die Befugnis dieser Centralgewalt, während
die kleinen communalen Verbände mit der Ausdehnung und Vervielfältigung
der öffentlichen Angelegenheiten keineswegs eine Erweiterung ihrer Com-
petenz erfahren, sich vielmehr auf einen immer unbedeutenderen Wirkungs-
kreis zurückgedrängt sehen. Nur durch ihre Vorsteher hatten sie muth-
maasslich eine gewisse Vertretung in dem Rathe der Stadtverwaltung,
womit für solche Städte ein föderalistisches Element gegeben war, ohne
jedoch auf die einheitliche Fortbildung der städtischen Verfassung einzu-
wirken. Auch durch die allmälige erwachsende städtische Autonomie sind
diese Verhältnisse nicht geändert worden; der Stadtrath, die Gilden, oder
wer immer das Stadtregiment in die Hand bekam, verhielt sich den Sonder-
gemeinden in der Stadt gegenüber ebenso wie es früher der Stadtherr
gethan und mit der Vollendung des Baues einer autonomen Bürger-
gemeinde endet in der Regel auch die Existenz der Sondergemeinden.
VI.
Eigenthümliche Schwierigkeiten stellen sich der Beantwortung der Frage
entgegen, was die handel- und gewerbetreibenden Classen der
Stadtbevölkerung zur Ausbildung der städtischen Organisation, zur Ent-
wickelung der specifischen Elemente der Stadtverfassung beigetragen haben.
Nicht um das handelt es sich hiebei, was diese für das Erwerbsleben der
Stadt hervorragend wichtigen Classen an wirtschaftlichen Leistungen auf-
zuweisen haben; für das Problem der Entstehung des deutschen Städte-
wesens kommt an dieser Stelle vielmehr der Antheil in Betracht, welchen
diese Erwerbsclassen vermöge der eigenen Organisation ihrer Berufsinteressen
an der Entwickelung des städtischen Gemeinwesens im ganzen genommen
haben. Die Städtegeschichte hat auf diesem Punkte lange Zeit und in
besonders nachdrücklicher Weise mit der Vorstellung eines weitverbreiteten
tiefgi'eifenden Gildeverbandes gearbeitet, welcher bald die Kaufleute oder
die Gewerbetreibenden für sich, bald beide gemeinsam zu einem Schutz-
und Trutzbündnis gegen den Stadtherrn verbunden haben soll. In diesen
Gilden soll ein Gemeingeist, ein specifisches Stadtbürgerbewusstsein
grossgezogen worden sein, die sich ebenso gegen die bestehende ständische
Ordnung, wie gegen die Machtstellung des Stadtherrn und seine Einmischung
n die inneren Angelegenheiten der städtischen Verwaltung kehrten; in den
lieber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 559
Formen der Autonomie, welche sich diese Gilden selbst gegeben, seien die
Grundlinien der späteren Stadtverfassung zu erblicken; mit ihnen sei es
den Gilden gelungen, ihre eigene Verfassung an die Stelle der anfäng-
lichen herrschaftlichen Ordnung der Dinge zu setzen, ja bei neugegründeten
Städten sogar gleich anfangs das Stadtregiment zu übernehmen.
Die wohlbegründeten Nachrichten über das Gildenwesen sind aus der
älteren Zeit sehr spärlich; besonders seit man mit Recht die verschiedenen
Andeutungen der Quellen einer sorgfältigen kritischen Würdigung unterzogen
hat, ist mancher Anhaltspunkt wieder hinweggefallen, den die ältere Forschung
unbedenklich für ihre Anschauung verwenden zu dürfen geglaubt hat.
Trotzdem ist an der Thatsache nicht zu zweifeln, dass insbesondere im
12. Jahrhundert eine mächtige gährende Bewegung durch die Städte gieng,
Avelche ihren Ausdruck in Schwurgenossenschaften und ähnlichen Verbin-
dungen der Bürger, ihren Zielpunkt in der Emancipation von der Gewalt
des Stadtherrn gehabt hat. lieber die Formen und organisatorischen Ein-
richtungen allgemeiner Schwurgenossenschaften, welche etwa die ganze
Bürgerschaft verbunden haben, sind wir aus deutschen Städten gar nicht
unterrichtet; dass sie der öffentlichen Gewalt durchaus nicht unbedenklich
erschienen, ist besonders aus dem strengen und nachdrücklich festgehaltenen
Verhalten der Reiohsregierung gegen sie zu ersehen; nachdem im 12. Jahr-
hunderte bereits mehrere Verbote der Kaiser gegen die coniurationes
ergangen waren, wurde unter Friedrich 1. sogar ein Spruch des allgemeinen
Fürstengerichts provociert, der sie neuerdings verbot und in Trier das
bürgerfreundliche Verhalten des Pfalzgrafen, der zugleich Obervogt der
Kirche war, desavouiert. Lässt sich daraus auch vielleicht entnehmen, dass
die durch solche Schwurgenossenschaften erzeugte und genährte Bewegung
doch nicht rein revulutionäre, sondern nur reformatorische, wenngleich den
Interessen der herrschenden Kreise widerstrebende Tendenzen verfolgte, so
sind wir gleichwohl, bei dem Mangel einer genaueren Einsicht in diese
Verhältnisse ausser Stande, in diesen allgemeinen Schwurgenossenschaften
Ansätze zum Aufbau der Stadtverfassung zu erblicken.
Ungleich deutlicher erkennbar sind schon die Grundzüge der eigent-
lichen Gilden, welche insbesondere die Kaufleute in verschiedenen Städten
verbanden, wobei es allerdings eine offene Frage bleibt, ob sie nicht selbst
mit den nur in unbestimmten Umrissen geschilderten Schwurgenossenschaften
in einer inneren Beziehung stehen. Dass sich unter den Kaufleuten schon
frühzeitig nicht bloss geschäftliche, sondern geradezu Schutzverbindungen
entwickelten, darf bei der Art des Grosshandelsbetriebes im früheren Mittel-
alter nicht Wunder nehmen. Die weiten Handelsfahrten, welche die Haupt-
form des grossen Handelsbetriebes ausmachten, der höchst mangelhafte
Landfriede, die Nothwendigkeit eines geschlossenen corporativen Auftretens
in der Fremde musste wie von selbst den Gedanken einer festen Verbindung
der Kaufleute erzeugen, der ja auch in den Geschäften der handeltreibenden
Völker allenthalben hervortritt. Die Art und Weise, wie den Kaufleuten in
den Stadtrechtsprivilegien ihre Rechte umschrieben, in den fremden Märkten,
560 In am a- Stern egg.
die sie besuchten, Privilegien eingeräumt wurden, weist auf einen bestehenden
Verband derselben auch dann hin, wenn davon nicht ausdrücklich die Rede
ist. Wenn der Hansgraf von Regensburg im 12. Jahrhunderte an der Zoll-
stätte zu Enns die Schiffsladungen untersucht und sonstige obrigkeitliche
Befugnisse ausübt, so macht solche Anerkennung seiner Stellung im
fremden Lande ebenso das Vorhandensein einer corporativen Einigung der
Regensburger Kaufleute nothwendig, als wie die Thatsache, dass die Kauf-
leute aus Köln in London ein eigenes Kaufhaus hatten, nicht wohl anders
als auf eine auch in der Heimat bestehende kaufmännische Genossenschaft
gedeutet werden kann. Von der Kölner Kaufmannsgilde ist aber auch
sonst die Rede; in Magdeburg ist die Gilde der Gewandschneider, welche
wohl die bedeutendste Classe der Kaufleute gebildet haben, zugleich eine
der frühesten Institutionen dieser Art. In Stendal ist die Gilde der Gewand-
schneider und Kaufleute ebenfalls die älteste, wahrscheinlich bald nach der
Gründung der Stadt und nach dem Muster von Magdeburg eingerichtet und
ebenso wird in Bremen die Gewandschneidergilde früher als andere Innungen
und unter Umständen erwähnt, welche eine sociale Vorzugsstellung ihrer
Mitglieder erkennen lässt. In dem Privilegium Herzog Leopolds für die
Flandrenser in Wien (1208) ist ihre Genossenschaft ausdrücklich anerkannt,
ihr ein eximierter Gerichtsstand und eine ausschliessliche Befugnis zur
Ausübung ihrer besonderen Handelsgeschäfte zugesprochen, so dass Niemand
solche betreiben durfte, der nicht in ihre Gemeinschaft (consortium) auf-
genommen war und mit ihnen die öffentlichen Lasten trug.
Die als Gilden organisierten Vereinigungen der Kaufleute hatten nun
wohl überall eine gewisse Selbständigkeit in der Ordnung ihrer inneren
Angelegenheiten gegenüber dem Stadtherrn: das Recht ihre Vorsteher selbst
zu wählen, Satzungen für sich zu machen, Vermögen zu erwerben; ausser-
dem räumten ihnen aber die Privilegien, welche den Kaufleuten schon
frühzeitig gegeben wurden, das Recht ein, Nichtmitglieder von der Kauf-
mannschaft auszuschliessen und in Handelssachen selbst Recht zu finden.
Damit aber war die Gilde nicht nur eine sociale Institution, welche ihren
Mitgliedern eine wertvolle Stütze ihrer wirtschaftlichen Bestrebungen bot
und einen auch für die Geltendmachung politischer Interessen wichtigen
Verband darstellte, sondern sie griff auch unmittelbar in das öffentliche
Leben der Stadt ein; für die Ordnung von Recht und Verwaltung konnte
sie maassgebend werden, indem sie einen Theil der öffentlichen Gewalt in
ihre Hände bekam. Inwieweit das wirklich geschah, lässt sich bei der
Wichtigkeit der Nachrichten über die Kaufmannsgilde allerdings nicht
angeben; wohl aber sind wir berechtigt anzunehmen, dass überall, wo eine
Kaufmannsgilde bestand, sie in der That zu einem wichtigen Factor für
die Gestaltung des Stadtrechtes wurde.
Die privilegierte Stellung, welche den Kaufleuten allenthalben in dem
jungen städtischen Gemeinwesen eingeräumt wurde und die Exemtion des
Marktes, seiner Jurisdiction und Verwaltung von den ordentlichen Obrig-
keiten, sind die beiden Hauptursachen, durch welche die Genossenschaft der
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 561
Kaiifleiite zu einer über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus wirksamen
Stellung in der Stadt gelangen konnte. Von jener war bereits früher die
Rede. Der Inhalt des Marktrechtes muss noch in seinen hauptsächlichen
Zügen dargestellt werden, nicht nur weil die neueste Literatur über die
Entstehung des deutschen Städtewesens dessen Wurzeln geradezu nur im
Marktrechte erblicken will, sondern auch, weil in der That mit dem Markt-
rechte neue Gedanken und neue Einrichtungen in die Entwickelung des
städtischen Wesens gekommen sind. Die Organisation eines Marktes ist
überall für die Bildung einer Stadt ein wesentlicher Factor. Wenn es
Märkte gegeben hat in Orten, welche nicht zu Städten geworden sind.
(Badenweiler), so ändert das an dem Zusammenhang zwischen Markt und
Stadt im grossen und ganzen ebenso wenig, als wenn vereinzelt eine
Stadt nachzuweisen ist, welche erst später zu einem Markt gekommen
(Meersburg): in beiden Fällen handelt es sich eben um unfertige Bildungen.
Das besondere Marktrecht, mit dessen Verleihung vielfach geradezu die
Stadtgründung inauguriert wird, ist nun zunächst nichts anderes als die
erweiterte Anwendung des Königsschutzes, welchei- den Kaufleuten im
deutschen Reiche schon längst als wertvolles Privilegium verliehen war. Dieser
Schutz, der nun dem ganzen Marktverkehr zutheil und von ihm auf den
Marktplatz übertragen wurde, bedeutete in seiner erweiterten Anwendung
die theilweise Exemtion von den localen Obrigkeiten und die Begründung
eines eigenen Gerichts und einer eigenen Verwaltung in Sachen des Marktes ,
bald auch des Marktplatzes. Es ist leicht begreiflich, dass die Kaufleute
für die weitere Entwickelung dieser besonderen Institutionen des Marktes
bald von durchgreifendem Einfluss werden mussten. Waren sie ja doch
eigens gerufen, um den Markt zu bilden und seinen Verkehr zu beleben,
als Käufer wie als Verkäufer, Kls VoiTathhalter und Capitalisten der wich-
tigste Factor des Marktes, an einem gesicherten Verkehr, guter Markt-
polizei, rascher und fachlicher Rechtsprechung im höchsten Maasse
interessiert, und dazu in der Regel wohl unter sich genossenschaftlich ver-
bunden zur gemeinsamen Verfolgung ihrer Zwecke wie zu gemeinsamer
Abwehr fremder Einmischung in ihre Angelegenheiten. Wohl kamen die
Institutionen des Marktes allen zugute, die daran theilnahmen; auch die
Handwerker, welche ihre Waren feilboten, wie die vom flachen Lande
kommenden Landleute, welche den Wochenmarkt belebten, hatten denselben
Marktfrieden und dieselbe Freiheit. Aber an der Verwaltung des Marktes
und seines Gerichts hatten sie ebenso wenig theil wie an seiner Rechtsbildung;
dazu waren allein die Kaufleute berufen, deren Kreis allerdings bald enger
bald weiter gezogen sein mag, je nachdem in einer Stadt die aristokratisch
abschliessenden Tendenzen der eigentlichen Grosshändler mehr oder weniger
zur Geltung kamen. Auch die übrigen Kreise der städtischen Bevölkerung,
die Bewohner der Frohnhöfe, die Ministerialen, die agrarischen Elemente,
nahmen ja gewiss Antheil an dem Marktverkehre der Stadt: aber doch
waren seine Institutionen weder auf sie besonders berechnet, noch von
ihnen getragen. Der Stadtherr setzte wohl gewöhnlich die Marktbehörden
5(52 Inama- Sternegg.
ein. den Burggrafen wie den Stadtschultheissen, den Münzer und den Zöllner;
die Schöffen des Marktgerichts wie die Eäthe des Schultheissen. die Markt-
geschwornen und die Gewährsmänner (Wien) giengen aus der Mitte der
haushäbig auf dem Markte angesessene Bevölkerung hervor. So enthält die
Organisation des Marktes allerdings wesentliche Elemente der Stadtverfassung
in sich, welche, in einfach erweiterter Form auf das ganze Stadtgebiet und
die ganze Stadtbevölkerung übertragen, ohne Zweifel einen wichtigen Einschlag
in das Gewebe der städtischen Verwaltung bedeuteten. Vieles andere freilich,
was in der Verfassung und Verwaltung der Stadt zur Geltung kommt, hängt
so wenig mit der Organisation des Marktes zusammen, dass aus ihr allein die
Entstehung des deutschen Städtewesens bei weitem nicht hinlänglich erklärt
werden kann. Und eben deshalb ist die Kolle der Kaufmannschaft, selbst in
dem günstigsten Falle einer geschlossenen kaufmännischen Körperschaft,
keineswegs für die städtische Entwickelung allein entscheidend gewesen.
Theilweise in anderer Art hat sich die ältere Städtegeschichtsschreibung
die Stellung zurecht gelegt, av eiche die Verbände der Handwerker in
der Stadt eingenommen haben; aber auch ihnen ist ein ziemlich weit-
reichender Einfluss auf die Verfassung und die Verwaltung der Stadt zuge-
schrieben. Man ist dabei in der Kegel davon ausgegangen, dass schon in
der Frohnhofverfassung die Handwerker gewöhnlich in eigenen Verbänden
den hofrechtlichen Innungen, organisiert gewesen seien; mit der allmäh.
liehen Abschüttelung der Hörigkeitsfesseln und mit der Emancipation des
gewerblichen Betriebes zur Freiheit seiner Ausübung sei' dann auch die
Innung selbständig und damit gleich zu einem wichtigen Factor der
Stadt Verfassung geworden, da sie eben einen wichtigen Bestandtheil der
städtischen Bevölkerung in einer festgefügten und von Alters her anerkannten
Organisation repräsentiert habe. Die Auffassung beruhte auf verschiedenen
Voraussetzungen, welche sich im Verlaufe der Städteforschung keineswegs
als zutreffend erwiesen haben. Schon das Vorhandensein gewerblicher
Innungen im Frohnhofverbande ist in der Allgemeinheit, wie sie behauptet
wurde, nicht erweislich. Allerdings hatte die Verwaltung der grossen Frohn-
höfe schon frühzeitig eine gewisse Gliederung der dienenden Arbeit, wie auch
der dienenden Hufen nothwendig gemacht; und auch die gewerbliche Arbeit
innerhalb des Frohnhofs war durchaus dieser Gliederung in Aemter (officia,
ministeria) eingefügt. Diese nach den Hauptrichtungen der Verwaltungs-
interessen abgegrenzten Ministerien konnten aber begreiflicherweise Leute
der verschiedensten Beschäftigungen in sich begreifen. Zunächst kommen
dabei die vier alten Hofämter in Betracht. Die Pferdeknechte, Schmiede und
Wagner gehörten zum Amte des Marschalk, die Bierbrauer und Küfer zum
Schenkenamte; dem Truchsessen waren die Köche, Bäcker, Fleischer und
Fischer, dem Kämmerer die Zimmerleute und Maurer, wohl auch die Weber
und liichterzieher zugetheilt. Aber auch für eine weitere Specialisierung
der Verwaltungszweige waren doch immer nur administrative, nicht technische
Gesichtspunkte entscheidend. Alle zu einem solchen Officium gehörenden
dienenden Leute bildeten unter sich eine Geraeinschaft, über deren Leistungen
lieber die Anfänge des deutschen Städteweseus. 563
der Vorsteher verfügt; und selbst da, wo eine grössere Anzahl von Arbeitern
desselben Gewerbszweiges unter einen eigenen Meister gestellt und das Amt
desselben selber zu einem Officium wurde, bleibt nichtsdestoweniger die
Einordnung unter die Yerwaltungszweige bestehen und bildet nach wie vor
die Grundlage für die hörigen Verbände der Handwerker.
Von hofhörigen Innungen im Sinne von Handwerkerverbänden ist also
in keiner Weise zu reden; weder bieten die Quellen einen directen Anhaltspunkt
hiefür, noch sind sie mit der ganzen Structur der Frohnhofsverwaltung vereinbar.
Dagegen erscheinen allerdings in einigen der ältesten Stadtrechte solche Hand-
werksinnungen unter Umständen, welche eine ziemlich weitgehende Einfluss-
nahme des Stadtherrn ersehen lassen und den Gedanken an Beziehungen der-
selben zu der Frohnhofsverwaltung des Stadtherrn nahe legen. Der Stadtherr
ernennt da die Vorsteher der Innungen und zwar aus der Reihe seiner
Ministerialen: er schreibt ihnen gewisse Abgaben und Leistungen vor, welche
zum mindesten einen hofrechtlichen Beigeschmack liaben; er verleiht und
verweigert unter Umständen das Innungsrecht. In Strassburg insbesondere hat
die öffentliche Gewalt schon vor dem ersten Stadtrecht (Anfang des 12. Jahrh.)
eine ziemlich ausgebildete Eintheilung der Handwerker in Zünfte durchgeführt,
für welche gleichzeitig militärische und gewerbepolitische Rücksichten
maassgebend waren. Gerade daraus hat man vielfach den hofrechtlichen
Ursprung der Handwerkerzünfte abgeleitet; in Wahrlieit ist aber die älteste
Zunftverfassung selbst in solchen Städten nur eine gewisse Analogie der
hofrechtlichen Ordnung, keineswegs ein Product derselben. Die Handwerker
in diesen Städten waren ja in der That zum grossen Theile erst aus der
Hofhörigkeit entlassen und auch überhaupt in keiner irgend angesehenen
oder einflussreichen Stellung. Da lag es wohl nahe, ihnen eine Ordnung
vorzuschreiben, welche vielfach Elemente der hergebrachten Frohnhofsver-
waltung in sich aufnahm. Auch war mit der Entlassung aus der Hofhörig-
keit keineswegs jedes Band zum Frohnhof gelöst; auch als Censuale konnte
der Handwerker noch Dienste und Abgaben an seinen Herrn zu leisten
haben, und überdies ist ja auch dem Eintritte hofhöriger Handwerker in
die Genossenschaft vieler Orten nichts im Wege gestanden. Damit hängt
es denn auch zusammen, dass die Dienstpflicht der Handwerker gegenüber
dem Grundherrn in solchen städtischen Innungen keineswegs eine gleiche
aller Genossen ist, sondern vorwiegend auf den Hofhandwerkern lastet. Und
dementsprechend sind auch die Gegenleistungen der Herrschaft nicht für
alle gleich bestimmt, sondern gebüren in erster Linie eben jenen Handwerkeni,
welche in einem besonderen Dienstverhältnisse zur Herrschaft stehen. Die
dem Herrenhofe nicht speciell verpflichteten Handwerker helfen jenen subsidiär
diese Verpflichtungen erfüllen; darin liegt aber nur eine allgemeine dem Stadt-
herrn gegenüber übernommene Verpflichtung ohne hofrechtlichen Ursprung
und eine Aeusserung des genossenschaftlichen Geistes überhaupt, der ja
überall auf wechselseitige Unterstützung in allen Lebenslagen berechnet war.
Im allgemeinen sind die Handwerkerinnungen in den Städten gewiss
als ein Product des selbständig wirkenden genossenschaftlichen Geistes
5ßj. Inama-Sternegg.
anzusehen, der, für das ganze Mittelalter cliarakteristiscli, gerade in den
Städten den besten Nährboden fand. Wie er sich in Schwurgenossenschaften
und allgemeinen Einungen Luft gemacht, in den Kaufmannsgilden Gestalt
und Wirksamkeit gefunden hat, so ist er auch in den Handwerksverbänden
wieder zutage getreten, sobald dem Handwerk nur erst so viel Raum geschaffen
war, um sich tüchtig regen zu können. Dass das vielfach in Opposition gegen
den Stadtherrn geschah, beweist nur die gegensätzliche Stellung des Hand-
werks zur Grundherrschaft; den Kampf gegen den Stadtherrn führten die
Handwerker gleichsam im Namen der städtischen Freiheit, wie sie einen
gleichen in der Folge nachmals gegen das herrschende Patriciat in den
Städten zu führen hatten. Aber was die Handwerker in jenem ersten Kampfe
errangen, war doch im günstigsten Falle nur die Anerkennung ihrer Genossen-
schaft als Innung, d. h. als Körperschaft mit selbständiger Wahl ihrer
Vorstände, mit ausschliessendem Rechte auf die Ausübung ihres Gewerbs-
zweiges, mit Autonomie ihrer inneren Angelegenheiten; einen bestimmten
Einfluss auf die Stadtverwaltung, eine Theilnahme am Rathe, ja selbst ein
volles Bürgerrecht liaben sie vielfach erst später sicli erstritten. Die Kauf-
mannsgilde schloss sich in aristokratischer Weise gegen das Handwerk ab;
und wenn auch die Innungen des Handwerks vieler Orten ebenso früh wie
die Kaufmannsgilden entstanden sind, so haben sie doch nicht ebenso früh
wie diese eine führende Rolle in der Stadt gespielt. Es gab eben auch nur
eine Kaufmannsgilde in der Stadt, welche alle reichen Elemente und oft
auch noch dazu die einflussreiche Beamtenschaft der Stadt in sich vereinigte,
während die Handwerker sich immer in einer grösseren Anzahl von Innungen
vereinigten, deren Interessen und Bestrebungen keineswegs immer identisch
waren, deren gesammter Einfluss daher auch der einer grossen Kaufmanns-
vereinigung nicht leicht die Wage zu halten vermochte. Und damit ist
docli auch im allgemeinen die Annahme ausgeschlossen, dass von den
Innungen der Handw^erker ein bestimmter Einfluss auf die Anfänge der
Stadt Verfassung ausgegangen sei; wohl aber lässt sich behaupten, dass es
zum grossen Theile gerade die Handwerker waren, welche, wie sie das
arbeitstüchtigste Element der Stadtwirtschaft waren, so auch das treibende
Element in der Stadtbevölkerung bildeten. Die Zunft verband die besitzenden
und die nichtbesitzenden Handwerker, die Handwerker in der Stadt und in
der Vorstadt, die nicht zur Bürgerschaft gehörten (Gothein). So von Haus
aus demokratisch veranlagt, drängten sie zunächst auf eine Erweiterung des
Kreises der rechtlichen Stadtbevölkerung hin, um dann in unaufhaltsamem
Fortschritte gleiche Freiheit für alle Classen der bürgerlichen Gesellschaft
und eine vollkommene Emancipation aus der Grundherrschaft und ihren
Consequenzen für die Stadt zu erobern.
vn.
Ueberschauen wir diese ganze Fülle der Erscheinungen, w^elche das
städtische Leben schon an der Schwelle seiner so bedeutsamen Entwickelung
In den deutschen Landen zeigt, kann es wohl keinem weiteren Zweifel
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 565
unterliegen, class der Ursprung der deutschen Stadtverfassung nicht in einer
einzigen Ursache gesucht, und noch viel weniger die Entwickelung der wirt-
schaftlichen Bedeutung der Städte aus einer einzigen Quelle erklärt werden
kann. Viele im Volke rege Kräfte mussten zusammenwirken, um das herr-
liche Ergebnis herbeizuführen, das wir in den deutschen Städten des Mittel-
alters bewundern. Aber auch eine Eeihe von Zuständen mussten entwickelt
sein. Avelche mit innerer Nothwendigkeit auf diese Neugestaltung der wirt-
schaftliclien und socialen Verhältnisse hindrängten; nimmermehr hätte eine
wenm auch noch so einsichtsvoll und noch so thatkräftige Leitung der
öffentlichen Angelegenheiten, nimmermehr eine wenn auch noch so energische
Strömung aus einzelnen Volkskreisen heraus dieses Ergebnis herbeiführen
können, wenn nicht tief greifende Wandlungen in den allgemeinen Existenz-
bedingungen des Volkes den Boden hiefür wirksam vorbereitet hätten. Bei den
grossen Landherren vor allem, die schon in einer vorausgegangenen Zeit
in so wirksamer Weise Erzieher des Volkes geworden waren, fand sich nicht mü-
der klare Blick für den grossen Nutzen, der von der Schaffung eines geordneten
Marktes, von dem Emporblühen von Handel und Gewerbe für alle Kreise
des Volkslebens zu erhoffen war, sondern auch der gute Wille diese Vor-
theile ihrem Land und ihren Leuten zu sichern; sie sind die Städtegründer
und die ersten Organisatoren städtischen Wesens; und wenn dabei auch
egoistische Motive mit unterliefen, der materielle Gewinn für den Stadtherrn
vielleicht nicht an letzter Stelle in dem Bereiche ihrer Erwägungen stand,
so ist doch die Thatsache ausser Frage, dass der Anstoss zu der über-
raschend schnellen Vermehrung der Städte fast ausnahmslos von ihnen aus-
gegangen ist. Die Ministerialen sodann, die in aller Art von Verwaltungs-
geschäften grossgewordene Classe der höher stehenden Unfreien, leisteten
auch bei der Gründung und ersten Entwickelung der Städte ihr Bestes und
vermittelten mit Meisterschaft den Uebergang zu den neueren Zuständen
und Lebensformen, mit denen sie sich alsbald zum guten Theile selbst
identilicierten. Auch die mit der Abschwächung älterer Unfreiheitsverhältnisse
wieder zu selbständigem Leben gekommene Landgemeinde hat ihren Theil an
der Erziehung des Volkes zur Behandlung öffentlicher Angelegenheiten, zur
Gewöhnung an die Formen, wie an die Kechte und Pflichten einer auto-
nomen localen Verwaltung. Die grosse Kaufmannschaft brachte mit ihrem
Reichthum und ihrem Selbstbewusstsein auch ihre Erfahrung und geschäftliche
Schulung, ihren weiten Horizont und ihre genossenschaftlichen Einrichtungen
als neu belebende Elemente von ganz eigener Art in die Städte; und das
fleissige Handwerk, in der harten Schule wirtschaftlicher Vereinsamung oder
aber strenger Zucht unfreier Verhältnisse erzogen, lernte sich hier alsbald
als das wichtigste Glied des städtischen Nährstandes begreifen und fühlen
und bikbte so den nie versiegenden Born für den Markt und den Handel, wie
für eine wachsende und zunehmend leistungsfähigere Bevölkerung der Städte.
Das Alles aber vollzog sich in einer Zeit, welche längst an den her-
gebrachten Formen der Production und des Verkehrs nicht mehr ein
Genügen fand, sie zum guten Theil schon zerbrochen hatte, ohne doch mit
5ß(3 Inama-Steroegg.
Erfolg neue Schöpfungen an die Stelle gesetzt zu haben. Die alte Orga-
nisation der grundherrscbaftlichen Wirtschaft war in voller Auflösung, die
Elemente, welche sie früher vereinigt hatte, mehr oder weniger sich selbst
überlassen, freier als früher aber auch hilfsloser, selbständiger aber ohne
festen Halt. Die Naturalwirtschaft mit ihrer Selbstgenügsamkeit im engen
Kreise fühlte ihre eigene Dürftigkeit, seit ein regerer Verkehr, die Kreuz-
züge, die raschere Entwickelung der westlichen und südlichen Nachbarn die
Deutschen mit einer Reihe von Gütern bekannt gemacht und damit in ihnen
eine Eeihe von Bedürfnissen geweckt hatten. Der Geldverkehr fing an sich
einzubürgern, seit eine nationale Arbeitstheilung, zunächst als das schmerzliche
Ergebnis der allgemeinen Auflösung der alten Wirtschaftsverbände, bald
als die grösste nationale Wohlthat, immer weitere Kreise zog. Kirche und
Staat, so weit von einem solchen die Rede sein konnte, wirkten anderseits
zusammen, um gegenüber der allgemeinen Unsicherheit wenigstens wieder
die Ansätze zu einem allgemeinen Landfrieden zu schaffen, welche dann
als fruchtbares Princip einer höheren Friedebewahrung ihren Einzug in die
Städte hielten. Und die Herren am Lande, welche solchem Landfrieden
doch nicht immer trauten, bauten sich um die Wette ihre festen Burgen
und ummauerten die offenen Flecken wie die Klöster und Abteien, damit
sich hinter ihnen die friedliche Arbeit zu schützen vermöchte. Alles das
waren Impulse, welche für die Städteentwickelung wirksam werden konnten,
wenn einmal das organisatorische Princip dafür gefunden war, so wenig sie
auch für sich, einzeln oder zusammen imstande gewesen wären, gerade die
specifischen Formen städtischen Lebens zu erzeugen.
Was aber bedeutete, gegenüber all diesen wirksamen Kräften der
städtischen Entwickelung die königliche Gewalt, auf welche ja doch im
letzten Grunde die Städteprivilegien und Stadtrechte zurückAveisen ? Auch
diese Frage verlangt noch zum Schlüsse eine Antwort; die Macht des
deutschen Königthums, so ist neuestens mit grossem Nachdrucke geltend
gemacht worden, ist es, welche die Entwickelung der deutschen Städte zur
Ausgestaltung und zum Siege führte; das Amtsrecht des germanischen
Königthums hat machtvoll, als sein lebenskräftigstes, noch heute blühendes
Erzeugnis der deutschen und der ganzen abendländischen Entwickelung das
deutsche Bürgerthum geschenkt (Sohm). Diese Auffassung beruht im
Wesentlichen darauf, dass nach fränkischem Amtsrecht die Stadt eine dem
Könige gehörige Burg und demnach der Stadtfriede dem Königsfrieden
gleich zu achten sei, welche nicht nur allen Bewohnern, sondern auch den zu
und von der Stadt, d. h. dem Könige Reisenden, mit der Verfronung der
Stadt (missio in bannum) zutheil geworden sei. Die königliche Gewalt
habe in der Verleihung des Marktrechtes und der Bannlegung der Märkte
in der That die wesentlichsten Voraussetzungen für die Entwickelung des
besonderen Stadtrechtes geschaffen und habe damit eine zielbewusste und
überaus wirksame wirtschaftliche und sociale Politik entfaltet, welche die
Städte ihrerseits durch ihre Königstreue auch in schwerer Zeit reichlich
gelohnt haben.
Ueber die Anfänge des deutschen Städtewesens. 567
Auch wenn wir den immerhin controversen, rein juristischen Inhalt
dieses ganzen Gedankenganges beiseite lassen, wird doch der Ausgangs-
punkt dieser Anschauung als zutreffend bezeichnet werden müssen. In dem
königlichen Marktrechte wurde der Königschutz, dessen sich die Kaufleute
im Eeiche von Alters her zu erfreuen hatten, auf die Stätte ihres Wirkens
übertragen. Aus gleichen Wurzeln giengen die Privilegien der Kaufleute
und die Marktprivilegien hervor, beide enthielten schon bedeutsame Ansätze
der späteren Stadt Verfassung, und beide leiten sich in ihren Anfängen
zweifellos von der königlichen Gewalt her. Aber auch von anderer Seite
her wurde die Ausbildung eines besonderen Marktrechtes unter königlichem
Einflüsse gefördert. Das alte königliche Kecht auf Erhebung von Zöllen
vom Handelsverkehr und Transport erlangte natürlich an festen Märkten
eine besondere Wichtigkeit. Für den königlichen Fiscus war damit ein
starker Impuls zur Begründung von Märkten gegeben. Aber auch da, wo die
königliche Gewalt solche Einkünfte an geistliche und weltliche Grosse verlieh,
wirkte die Aussicht auf Gewinn in der gleichen Richtung und die Reichsgewalt
hatte darin zugleich ein Mittel, auf die Ausgestaltung der Märkte einen
bestimmenden Einfluss zu nehmen, die Grundsätze des Reichszollrechtes und
die Anerkennung des Königsbannes an den Marktorten zu verbreiten.
Neben dem Marktbanne und den Marktabgaben war dann die Münze
das dritte regelmässige Attribut des Marktes, ebenfalls ein Ausfluss der
königlichen Gewalt. Die Verleihung des Münzrechtes geht mit der Ver-
leihung des Marktrechtes durchaus Hand in Hand; so lange überhaupt die
Verwaltung des Reiches noch zielbewusst in die wirtschaftlichen Angelegen-
heiten eingriff, hat sie auch immer auf Einheitlichkeit wie auf Verbrei-
tung des Markt- und Münzverkehrs hingewirkt. Für die deutsche Volks-
wirtschaft ward so das Marktrecht mit seinen Attributen eine unschätzbare
öffentliche Einrichtung, in welcher sich der Beginn einer Reichseentral-
gewalt noch lange Zeit hindurch fruchtbar erwies. Aber freilich gieng diese
selbst nur allzu früh in die Brüche; die kleinen Gewalten im Reiche absor-
bierten die Hoheitsrechte der Krone eines um das andere; Marktrecht, Zoll
und Münze ward zu eigenem Rechte geübt, die königlichen Städteprivilegien
werden verdrängt durch autonome Bestimmungen der Land- und StadtherrenJ;
an die Stelle einheitlicher, nach grossen Gesichtspunkten concipierter Ein-
richtungen tritt immermehr die locale Besonderheit und schwächt zum
mindesten die günstigen Wirkungen ab, welche der deutsche Handel unter
dem Schutze eines einheitlichen deutschen Marktrechtes genossen hatte.
Für die Zeit der regsten städtischen Entwickelung, um die Wende des 12.
und 18. Jahrhunderts ist von einer zielbewussten Städtepolitik des Reiches
nicht mehr die Rede; aber trotzdem sind die Grundlinien, welche schon
die Ottonenzeit der beginnenden Entwickelung des Marktes gezogen hat,
auch in dieser späteren Zeit noch für die Gestaltung der Verfassungs-
zustände der deutschen Städte nicht ganz verwischt.
Es wäre auch in der That höchlich zu verwundern, wenn ein so tief
greifender und folgenschwerer Process, wie es die Entwickelung des deutschen
568
Städtewesens ist, sich ganz ohne Einfluss und Mitwirkung der Staatsgewalt
hätte vollziehen können. Nicht dass er bestand, sondern dass er nicht in
viel stärkerem Masse vorhanden war, ist für die mittelalterlichen Staats-
zustände im deutschen Eeiche charakteristisch. Aber auch in dem be-
schränkten Umfange, in welchem die Reich sgewalt sich bei der Bildung
der Stadtverfassung bethätigte, zeigt sich doch in überzeugender Weise,
wie innig schliesslich alle öffentlichen Institutionen zusammenhängen und wie
sehr gerade die Lösung grosser socialer Probleme auf den festen Boden
der allgemeinen Reichsverfassung angewiesen ist. Und ein grosses sociales
Problem ist in der That mit dem deutschen Städtewesen auf Jahrhunderte
hinaus glücklich gelöst worden: die Verbindung grosser technischer Fort-
schritte im arbeitsth eiligen Process der nationalen Production mit einer
durchgreifenden Besserung der persönlichen Lebensstellung der arbeitenden
Classen in der deutschen Bürgerschaft.
Neueste Literatur über die Anfänge des deutschen Städtewesens.
Georg V. Below. Die Entstehung der deutschen Stadtgemeinde. Düssel-
dorf 1889.
Richard Schröder in der Festschrift: Die Rolande Deutschlands.
Berlin 1890.
Rudolf Sohm. Die Entstehung des deutschen Städtewesens. Leipzig 1890.
Carl Köhne. Der Ursprung der Stadtverfassung in Worms, Speier und
Mainz. Breslau 1890.
Alois Schulte. Ueber Reichenauer Städtegrüngungen im 10. und 11. Jahrh.
(Zeitsch. f. Geschichte des Oberrheins. N. F. Bd. 5. 1890).
Ch. Gross. The Gild Merchant. 2 Bde. Oxford 1890. (Berücksichtigt auch
die deutschen Verhältnisse.)
J. E. Kuntze. Die deutschen Städtegründungen oder Römerstädte und
deutsche Städte im Mittelalter. 1891.
Karl Hegel. Städte und Gilden der germanischen Völker im Mittelalter.
2 Bände. Leipzig 1891.
Georg Kaufmann. Zur Entstehung des Städte wesens (Münsterer Pro-
gramm) 1891.
Karl Theodor von Inama-Sternegg. Deutsche Wirtschaftsgeschichte IL
Leipzig 1891.
Eberhard Gothein. Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der
angrenzenden Landschaften. 1. Band. Städte- und Gewerbegeschichte.
Strassburg 1892.
Georg von Below. Der Ursprung der deutschen Stadtverfassung. Düssel-
dorf 1892.
Karl Wilhelm Nitzsch. Die niederdeutsche Kaufgilde. Eine nachgelassene
Arbeit (Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschiclite. XIII. Grm.
Abth.) 1892.
DIE ABGABE DER WEHRDIENSTFßEIEN
MIT
BESONDERER RÜCKSICHT AUF ÖSTERREICH-UNGARN.
VON
DR. HEINRICH GUSTAV THIEEL IN WIEN.
Einleitung.
(Zur G-eschichte der Abgabe.)
Was von den ältesten Spuren einer Abgabe der Wehrdienstfreien
berichtet wird, lässt einen inneren Zusammenhang mit den modernen Ein-
richtungen dieser Art nirgends erkennen. Das Aes hordearium des alten
Eom, das Adjutorium und der Heerbann der karolingischen Monarchie ^),
das französische Wehrgeld des XIV. Jahrhundertes ^) sind isolierte Phäno-
mene. Adjutorium (conjectus) und Heerbann (heriscilling) haben in der
Gesetzgebung ihrer Zeit eine ziemliche Ausbildung erlangt. Anfänglich
bezeichnen sie zwei wesentlich verschiedene Abgaben: einen Beitrag der
zum persönlichen Dienste Unvermögenden und eine Taxe jener, welche der
König, obgleich sie dienstfähig waren, über ihre Bitte vom Dienste befreite.
Späterhin verschmolzen wohl beide in eine der Loskauftaxe ähnliche
Leistung. ^)
Die erste französische Kevolution schuf die allgemeine Wehrpflicht
und mit ihr die Grundlage der heutigen Wehrverfassung des continentalen
Europa. Innig mit dem Wiesen der allgemeinen Wehrpflicht verknüpft, hat
auch die moderne Wehrsteuer in jener bewegten Zeit ihren Ursprung.
Schrittweise, durch die Gesetze vom 19. Fructidor VII (8. September 1798),
17. Ventose VIII (8. März 1800), 28. Floreal X (18. Mai 1802) und
1) Vgl. F. J. Neu mann, Die Wehrsteuer. (Schanz'sches Finanz - Archiv IV.,
SS. 119 fg.) — J. Marcino wski, Die Wehrsteuer im deutschen Eeich. Berlin 1881.
S. 1. — Preuss. Jahrbücher, 1880, 4 H., S. 383
2) A. Borst orff, Die Wehrsteuer, Tüb. Zeitsch. f. d. g. St. W., 1886, 2 H.
SS. 227 fg.
^) N e u m a n n, a. a. 0., S, 124
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. IV. Heft. 37
570 Thierl.
6. Fructiclor XIII (26. August 1805^) erhob sie sich dort über das Aus-
maass der ordentlichen Steiierleistung, wobei indes als Maximum 1200 Frcs.
7Ai gelten hatte. Das Erträgnis blieb wegen der ungeheueren Aushebungen
schwach. Mit der Kestauration fiel sowohl die allgemeine Wehrpflicht als
die Wehrsteuer.
Von den zahlreichen Schweizer Cantonsgesetzen ^) über die Abgabe
der Wehrdienstfreien fallen die ältesten in die nämliche Epoche. Hieher
gehören die Züricher Gesetze über die Montierungs-Abgabe vom 23. De-
cember 1803 und 20. December 1804. daselbst fortgesetzt in den Jahren
1816, 1831, 1834, 1848 und 1862. Im Jahre 1831, bezw. 1834 wird die
Köpfsteuer in eine Classensteuer verwandelt, die Abgabe „Militärpflichtersatz"
genannt. Diese Bezeichnung hat sich bei sehr namhaften essentiellen Ver-
besserungen der Abgabe bis heute erhalten, wohl hauptsächlich deshalb,
weil die Bevölkerung daran gewöhnt war und das unbeliebte Wort „Steuer"*
gerne vermieden wurde. Durch das Bundesgesetz vom 28. Brachmonat
1878*^') sind die zahlreichen Cantonsgesetze über den Militärpflichtersatz
ausser Wirksamkeit getreten; letzterer ist seither einheitlich für die gesammte
Eidgenossenschaft geordnet. Gegenüber den jüngsten Cantonsgesetzen zeigt
das Bundesgesetz nur in der Vereinfachung der Steuergrundlage und der
Principien für die Bestimmung des steuerpflichtigen Vermögens, bezw. Ein-
kommens einigen Fortschritt. Den Vollzug überwies es den Cantonen unter
Anordnung der Aufsicht des Bundesrathes.
Deutschlands erste Versuche mit einer Abgabe der Wehrdienst-
freien bilden die preussische Mennonitensteuer ^), welche als Kopfsteuer
seit 1772 bestand und 1830 in eine Einkommensteuer umgewandelt wurde,
übrigens in den Beiträgen der Quäker, Separatisten und militärbefreiten
Juden ein Analogen besass; dann die bayrische Bürgerwehr-Eeluition für
die Befreiung von der Landwehrpflicht aus den Jahren 1826, 1837 und
1854. Bayern und Württemberg hoben für die Militär -Entlass- und
Freischeine seit 1828, bezw. 1868 fixe Stempelgebüren von 6 fl. (10 fl.),
bezw. 20 fl. ein; Sachsen legte den wegen Dienstesunwürdigkeit Aus-
geschlossenen einen Beitrag von 300 Thalern zum Dienstalters-Zulagen-Fonde
auf (1866.^) Die Bemühungen, eine gemeinsame Wehrsteuer zustande zu
bringen, äusserten sich im norddeutschen Reichstage anlässlich der Wehr-
gesetz-Berathung (1867), im deutschen Reichstage anlässlich der Verhand-
lung über das Reich s-Stempelgesetz (1877). Diese Anregungen veranlassten
den Gesetzentwurf über die Wehrsteuer, welcher am 17. März 1881 dem
*) Ausser den Genannten : Engel, Resultate des Ersatzaushebungsgeschäftes im
preussischen Staate. Zeitsch. d. preuss. Statist. Bur. 1864. S. S. 80 fg., 181 fg. — G. Cohn,
Die Mihtärsteuer, Tüb. Zeitsch. f. d. g. St. W. 1879. S. S. 508 fg., 679 fg. — M. Block,
Dictionnaire de TAdniinistration fran^aise („Recrutement").
^) Insbesondere Engel, a. a. 0. (mit Gesetzes- Abdrücken); Cohn, a. a. 0.
6) Cohn, a. a. 0. SS. 535 fg. (Gesetzes-Abdruck).
'') Neumann, a. a. 0. S. 129.
®) M a r c i n 0 w s k i, a, a. 0. S. 2; .1 o 1 1 y, Die Militärsteuer oder das Wehrgeld.
Zeitsch. d. preuss. Statist. Bur. 1869. SS. 321 fg.
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Rücksicht auf Oesterreich-Ungarn. 571
Reichstage unterbreitet wurde. Daselbst fand die nach dem damaligen
Stande der Dinge recht glücklich verfasste Vorlage vielfache Anerkennung,
scheiterte jedoch schliesslich (7. Mai 1881) an der Zerfahrenheit der Mei-
nungen und wohl auch an der durch eine starr fiscalische Erklärung des
Reichsschatz-Secretärs Scholz hervorgerufenen Misstimmung.^)
Belgien und Italien sind über das Stadium der Anregungen und
Entwürfe nicht hinausgekommen: in Italien ist übrigens die Einführung der
Abgabe, auf welche sich die Regierungsvorlage vom 17. (25.) November
1882 bezog, vielfach erörtert worden. ^^)
Frankreich besizt die jüngsten Wehrsteuernormen; sie finden sich
im Recrutierungsgesetze vom 15. Juli 1889 und in dem hiezu erflossenen
Reglement des Präsidenten der Republik vom 30. December 1890.^^) Die
Vorbereitung derselben war eine langwierige; sie reicht bis zu den bereits
besprochenen Bestrebungen der ersten Revolutionsepoche zurück. Unter der
Herrschaft Ludwig Philipp's begegnete der Gedanke einer Wiedereinfüh-
rung der von seinen Vorgängern abgeschafften Wehrsteuer dem öftentlichen
Interesse. Hieran, zumal an die vielgenannten Studien Joffres' (1843 und
1845 ^^) knüpften die Versuche der zweiten Republik, die Erträgnisse des
Loskaufes durch eine Abgabe der nicht losgekauften Dienstbefreiten zu
erhöhen. ^^) Zur Zeit der dritten Republik kam die Frage mit dem Antrage
des Abgeordneten Gaze (1880) neuerlich in Fluss. Indes wurde erst am
25. Mai 1886 dem Abgeordneten-Hause eine bezügliche Vorlage der
Regierung zugemittelt. Drei weitere Jahre vergiengen, bis sie zu einem end-
giltigen Beschlüsse, viereinhalb Jahre, bis sie zur wirklichen Ausführung gedieh.
Ausser der Schweiz und Frankreich steht nur in Gesterreich-
üngarn und in Serbien^'*), das sich dem Beispiel seines grossen Nachbars
völlig anschloss, die Wehrsteuer in Geltung; in Oesterreich-Ungarn schon
seit dem 13. Juni 1880, von welchem Tage in den im Reichsrathe vertre-
tenen Ländern das Gesetz, betreffend die Militärtaxe, den Militärtaxfond
und die Unterstützung der hilfsbedürftigen Familien von Mobilisierten, in
den Ländern der unofarischen Krone das Gesetz, betreffend die Militär-
9j Marcinowski, a. a. 0. SS. 13 fg., 50.
^^) Neumann, a. a. 0. S. 116. — C. Ferraris, L'iraposta militare. (Nuova
Antologia. 1883. SS. 321 fg.)
") Bulletin de Statistique e-t de Legislation comparee
(Ministere des Finances) 13 Jhrg., Juli 1889; 15. Jhrg. Jänner 1891. SS. 32 fg.
12) Etudes sur le recrutement de Tarmee. Nouvelles etudes sur die recrutement
de Tarmee.
13) Insbesondere Engel, a. a. 0. S. 185.
1^) Neumann, a. a. 0. S. 131. Ausführlicher im Berichte des norwegischen
Premierlieutenants Jens Bratlie über seine amtliche Studienreise in die Schweiz,
Oesterreich, Ungarn. Serbien, Italien, Frankreich und Deutschland (Rapport fra Premier-
lieutenant Bratlie til den Kongelige norske Regjerings Forsvarsdepartement i Anledning
af en i Maanederne Mai til og med Oktober 1888 foretagen Stipendiereise til Schweitz,
i^sterrig, Ungarn, Serbien, Italien, Frankrig og Tyskland for at studere Sp^^rgsmaalet om
Vsernepligtsskat og dens mulige Hensigtsmsessighed for Norge. Kristiania, 28. Februar 1889
SS. 22 fg.
37*
572 Thierl.
befreiungstaxe, datiert. Mehrfache, zumal parlamentarische Anregungen sind
den einschlägigen Kegierungsentwürfen zugrunde gelegen, so in der west-
lichen Eeichshäfte die Eesolutionen, welche das Herrenhaus am 19. December
1874, das Abgeordnetenhaus am 15. Mai 1879 beschlossen.^^)
Erster Theil.
Die bisherige Literatur und Gesetzgebung.
I. Der Charakter der Abgabe.
Zur Feststellung des Charakters der Abgabe bedarf es vor allem der
strengen Scheidung derselben von jenen Leistungen, durch welche der
Loskauf vom Dienste, bezw. die Beschaffung eines Stellvertreters erlangt
wird. Diese strenge Scheidung wird nicht durch die Rückwirkung der
Dienstesbefreiung auf das Individuum geboten, denn diese Rückwirkung ist
naturgemäss in militärischer, privat- und staatswirtschaftlicher Hinsicht
dieselbe, mag es sich um einen Loskauf oder um eine Dienstesbefreiung
von amtswegen handeln. Sie stellt sich indes zufolge des Grundgedankens
der allgemeinen Wehrpflicht, welcher den Loskauf gänzlich ausschliesst.
als unumgänglich nothwendig dar. Es kennzeichnet die Wehrsteuer, dass
ihre Entrichtung nicht in die Wahl des wehrpflichtigen Individuums gestellt
ist. Die Behörde fällt, lediglich durch öffentliche Rücksichten bestimmt,
die Entscheidung, ob ein Individuum dienstpflichtig, ob es dienstfrei sei.
Hierbei steht völlig ausser Betracht, welcher Betrag an Wehrsteuer dem
Staatsschatze zufliessen solle. Dann kommt ein anderes Forum in die Lage,
diese Frage bezüglich der Dienstfreien zu verhandeln und zu entscheiden.
Demnach ist die Abgabenpflicht der Wehrdienstfreien eine obligato-
rische, keine facultative. Es liegt nur insofern e bei dem Individuum, sich
von dieser Pflicht zu lösen, als dasselbe seine Dienstesbefreiung nachträg-
lich aufzugeben und sich der Dienstpflicht zu unterziehen vermag. Ob und
wann dies zulässig ist, bestimmt das Wehrgesetz.
In dem weiten Rahmen, welchen diese erste Kennzeichnung der
Abgabe umgrenzt, sind verschiedene Auffassungen über das Wesen des
letzteren nicht zu vermeiden gewesen. Die ursprünglichste derselben geht
von der ziemlich einfachen Erwägung aus, dass dem Staate bei den Dienst-
freien etwas — die persönliche Wehrdienstleistung — entgehe und dass
er daher statt der Leistung in natura die Leistung des Geldwertes als
Aequivalent verlangen dürfe. Eine Wehrsteuer, geformt nach der Theorie
des Aequivalentes, ist vom . Loskaufschilling grundsätzlich durch ihren
obligatorischen Charakter geschieden. Aber die mechanische Gleichstellung
der Erfüllung einer höheren Pflicht mit einer gewissen Geldleistung, die
durch diese Gleichstellung bedingte Einheit der Geldleistung für alle Fälle
^^) )X. Session des Keichsrathes. Beilagen z. d. stenogr. Protok. des Abg. H. Nr. 44,
142, 203, 213; Stenogr. Protok. d. Abg. H. vom 6. Novemb. 1879 bis 12. Mai 1880. — Beilagen
z. d. stenogr. Protok. d. Herr. H. Nr. 68, 84; Stenogr. Protok. des Herr. H. vom 25. Mai 1880.
Die Abgabe d. Wehrdieiistfreien mit besond. Rücksicht auf Oesterreich-Üngarn. 573
sind kräftige äusseiiiclie Momente, welche in den Augen der Menge jenen
grundsätzlichen Unterschied leicht verlöschen. Die Entartung der Aequiva-
lentsteuer führt möglicherweise auf einem Umwege zum Loskaufe zurück.
Aeltere Gesetzgebungen, welche sich an die Epoche des Loskaufes
anlehnen, haben die Aequivalentsteuer — als Kopfsteuer ■ — normiert. ^^)
In der Theorie hat sie eine exclusiv ausgeprägte Vertretung nicht gefunden;
doch lassen einzelne Schriftsteller, zumal aus der ersten Zeit der theoreti-
schen Behandlung der Abgabe (z. B. C. E. Pönitz^'), eine schärfere Stel-
lungnahme gegen dieselbe vermissen, nicht selten sogar eine verdeckte
xlnnäherung an ihre Grundlagen erkennen.
Viel ausgesprochener für das Verhältnis der Abgabe zur Finanzwissen-
schaft zeigt sich die Anschauung derjenigen, welche' die Abgabe eine Geühr
nennen. Also einen Beitrag zu den allgemeinen Staatslasten^ welchen der
Staat aus Anlass des Befreiungserkenntnisses, einer das Privatinteresse des
einzelnen Bürgers berührenden Amtshandlung, von diesem einhebt. Die
Anhänger des Gebürenprincips, Schäffle^^) und SchalP^), haben diesen
Gedanken im Sinne L. v. Stein's ausgeweitet, indem sie den wirtschaftlichen
Wert der zugestandenen Befreiung für das Vermögen, bezw. das Einkommen
des Befreiten als Abgabenbasis annahmen.
Erst hiedurch wurde die Möglichkeit geschaffen, bei der Anlage der
Abgabe über den Rahmen einer niedrigen Fixsteuer hinauszugehen. Durch
den einfachen ßegiiff der Gebür, welcher in dieser lediglich eine Vergütung
der durch den einzelnen Bürger veranlassten Verwaltungskosten sieht, wäre
dies ausgeschlossen, weil die Kosten des Befreiungserkenntnisses bei Reich
und Arm ungefähr die gleichen, und stets unbedeutend sind. Letztere Auf-
fassung haben die bayrischen und württembergischen Gesetze, welche Stempel
auf die Militärbefreiungs- und Entlass- Scheine einführten, verwirklicht.^*^)
Am deutlichsten wird das Verhältnis der Abgabe zur Finanzwissen-
schaft von jenen gekennzeichnet, welche dieselbe einer Steuer gleichstellten.
Abgesehen von Jolly^^), sind dies insbesondere Ad. Wagner^^) und F. J.
Neumann. ^^) Ad. Wagner anerkennt die Gleichstellung nur in formeller
Beziehung, hinsichtlich der Gestaltung der Abgabe, für welche er den
Typus des Einkommens, resp. Vermögenssteuern verlangt. Das Wesen der
Abgabe erfährt durch ihn keine wirkliche Klärung. Ob die Abgabe einzu-
führen sei oder nicht, verweist er aus dem Gebiete der Finanzwissenschaft
hinaus in jenes der Politik. Dagegen hat F. J. Neumann ^ie Abgabe
16) Z. B. das Züricher Cantonsgesetz vom 20. December 1804 (Ergänzung zum
dortigen Ges. v. 23. Decemb. 1803) s. Cohn, a. a. 0.
i^j Engel, a. a. 0. S. 182.
18; Steuerpolitik 1880. S. 502.
19) Schünberg'sches Handbuch der politischen Oekonomie 1891. S. 97 fg. III. Bd.
2«) Marcinowski F.. a. a. 0. SS. 138 fg.
21) „Die Militärsteuer oder das Wehrgeld". (Zeitsch. d. preuss. statist. Bur. 1869.
S. 319 fg.)
22; Schönberg'sches Handbuch der politischen Oekonomie 1891. S. S. 327 fg. III. Bd.
23) „Die Wehrsteuer." (Schanz'sches Finanz- Archiv, 1887 (I.) S. 109 fg.
574 Thierl.
völlig nach dem von ihm ausgearbeiteten Schema einer directen Sonder-
s teil er aufgebaut. Directe Sondersteuern sind für ihn solche, welche „einen
Theil der zu den directen Steuern im allgemeinen herangezogenen Bevöl-
kerung belasten, weil ihnen entweder Befreiungen dieses Theiles der
Bevölkerung von anderen Lasten oder aber Bevorzugungen desselben anderer
Art entsprechen." Hierbei versteht F. J. Neumann unter Steuern alle
Öffentlich-wirtschaftlichen Einnahmen, soAveit sie nicht Gebüren sind, unter
directen Steuern jene, w^elche im Anschlüsse an dauernde Dinge, zuständ-
liche Verhältnisse (Einkonmien, Vermögen, Ertrag, Leben der Personen etc.)
veranlagt werden.
Schon die Anschauungen Ad. Wagner's und F. J. Neumann's und
in gewissem Sinne auch diejenige SchalFs^^) berühren das weite Gebiet der
Ausgleichsbelastung. Sie scheiden sich indes dadurch von den Lehren
der Theoretiker letzterer Kichtung, dass sie eine Einreihung der Abgabe in
bestehende finanzwissenschaftliche Kategorien vornehmen. Ohne diese Eigen-
thümlichkeit, an die Theorie der Ausgleichsbelastung angelehnt, und doch
von ihr — durch die vorzugsweise Betonung fremder Momente — getrennt,
zeigen sich die geistvollen Sondermeinungen Knies'^^) und G. Cohn's.^^)
Knies formt die persönliche Dienstpflicht und ihre Geltendmachung nach
dem Muster der Expropriation. Der Staat bedarf der persönlichen Dienste
der Soldaten; werden sie ihm nicht freiwillig geboten, so schreitet er zur
Zwangsaushebung. Diese verpflichtet ihn aber zur „Bezahlung dieses vom
Einzelnen erzwungenen persönlichen Dienstes durch das volle Entgelt seines
allgemeinen Verkehrswertes an jeden Ausgehobenen aus den Beiträgen Aller.'"
Die Uebertragung eines sachenrechtlichen Institutes auf das öffentliche
Personenrecht, der Unterschied, dass es sich bei der Enteignung noth-
wendigerweise um das speciell bestimmte Eigenthumsobject handelt, wäh-
rend die Aushebung nur eine bestimmte Anzahl „Soldaten" überhaupt zu
beschaffen hat, dass daher hier der Loskauf des Einzelnen von der Leistung
möglich, dort widersinnig ist, erregen Bedenken. Knies bewegt sich in
einem Zirkel, indem er beweisen will, dass die Geltendmachung der Wehr-
pflicht eine Expropriation sei, und vorschlägt, sie so auszugestalten, dass
sie zur Expropriation werde.
Der Standpunkt G. Cohn's beruht auf der Anwendung des Gesetzes
der Arbeitsth eilung. Gewisse Staatsaufgaben werden nur von hiezu
besonders Vorgebildeten gut besorgt; diese empfangen hiefür eine staatliche
Entlohnung aus den Beiträgen Aller. Die allgemeine Wehrpflicht durch-
bricht grundsätzlich diese staatliche Arbeitsmaxime: die Gemeinwehr ist
Sache aller Staatsbürger. Und doch kommt auch in diesem ausgesonderten
Kreise von Staatsaufgaben das Princip der Arbeitstheilung vollständig zur
Geltung; den persönlich Dienenden sollen daher ihre Dienste von den
2^) S. Anmkg. 19.
^'^) „Die Dienstleistung des Soldaten und die Mängel der Conscriptions-Praxis".
Freiburg i. B., 1860.
Anmkg. 4.
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mitbesond. Kücksicht auf Oesterreicli-Uni
0/0
Übrigen wehrdienstpflichtigen, aber nicht wehrdienstleistenden Bürgern ver-
gütet werden. Nun steht allerdings zweierlei dieser Anwendung der Theorie
der Arbeitsleistung auf das Wehrwesen im Wege. Erstens w^erden im allge-
meinen die staatlichen Functionen durch die freie Berufswahl, also unter der
Einwirkung von Angebot und Nachfrage, übernommen: so die entgeltlichen
öffentlichen Dienstesposten. Für die Recrutierung der heutigen Welirmacht
kommen aber Momente, wie Berufswahl, Angebot und Nachfrage, nur höchst
secundär in Betracht. Und zweitens: die Angestellten des Staates sind
bezahlt, aber nicht abgabenfrei; analogerweise müssten die vollbezahlten
Soldaten des idealen Wehrstaates Cohn's auch die Wehrsteuer tragen. Eine
Wehrsteuerpflicht der Wehrdienste Leistenden ist nun mit der heutigen
Vorstellung von der Abgabe der Wehrdienstfreien nicht in Einklang zu bringen.
Den realen Verhältnissen weitaus näher stehen die Theoretiker der
Ausgleichsbelastung. Ihre Ideen sind die Frucht der Abklärung des
Aequivalentsgedankens, von dem sie sich jedoch völlig getrennt haben. Es
handelt sich hier nicht um die anstössige Gleichung zwischen der persön-
lichen Dienstleistung des Individuums nach der allgemeinen Wehrpflicht
und einem bestimmten Geldbetrage. Schon Engel (1864) stellt den Aus-
gangspunkt der Theorie dahin fest, „dass diejenigen, welche wegen ihrer
körperlichen Beschaffenheit oder wegen ihrer durch's Los bestimmten Ueber-
zähligkeit von der persönlichen Ableistung der Wehrpflicht befreit sind,
mit einer Steuer zu belegen seien, die äquivalent dem Vortheile ist, der
ihnen aus dieser Befreiung erwächst. " '^^)
Nach Engel und den Aelteren (z. B. Eotteck) erscheinen — voil Jolly's
anlehnenden Bemerkungen abgesehen — Lesigang'^^) und Borstorff^^) als
die entschiedensten Vertreter der Theorie. Ersterer bedient sich gleichfalls,
noch des nicht unbedenklichen Ausdruckes „Aequivalent" und neigt sich
sehr wenig zu einer idealen Auffassung der Wehrpflicht, welche er für
nichts anderes, als eine ungeheure persönliche und wirtschaftliche Benach-
theiligung der zum Dienste Herangezogenen erklärt. Durch das „Wehrgeld'*
strebt er eine Ausgleichung der wirtschaftlichen Nachtheile und anderwei-
tigen Opfer an. Viele Mülie verursacht dem Autor die Ausmittlung der
den einzelnen Nachtheilen, bezw. Opfern entsprechenden Ausgleichungs-
beträge; nachdem er einen sehr grossen Theil seiner Arbeit diesem Zwecke*
gewidmet, schliesst er mit dem Geständnisse, dass die Praxis dazu drängen
werde, von solch' umständlichen Nachforschungen abzusehen und das Wehr-
geld schlechtweg als Vermögenssteuer einzuführen.
Weniger schroff, frei von der gelegentlich überschwängiichen Aus-
drucksweise Lesigang's und im ganzen vorsichtig, gibt sich Borstorffs
Essay. Kennzeichnend erscheint die Voranstellung des Gedankens der justitia
distributiva, die Anerkennung des staatlichen Forderungsrechtes auf ein
sächliches „Aequivalent" für die nicht zu erreichende persönliche Leistung,
2^) S. Annikg. 4.
28) S. Anmkg. 1.
29) „Die Wehrsteuer.'' Tüb. Zeitsch. f. d. g. St. W. 1886, 2 H. SS. 223 fg.
, 76 Thierl.
die Widmung des Wehrsteu erertrage s zu Gunsten der Dienenden, bezw.
deren Angehörigen. Warum die Ausgleichung des persönlichen Wehr-
dienstes nach Maassgabe der wirtschaftlichen Kraft des Dienstfreien
geschehen solle, entbehrt auch hier der Begründung. Dass die Besteuerung
nach der Leistungsfähigkeit überhaupt ein Stück ausgleichender Gerechtig-
keit ist^ genügt hiezu nicht. Zwischen den Anschauungen Cohn's und
Borstorff's liegt die Kundgebung des Italieners Carlo Ferraris^*^), welche
den Theorien der Arbeitstheilung und der Ausgleichsbelastung leitende
Momente ohne sonderlich günstige Verknüpfung entlehnt und sich der-
gestalt den gegen diese beiden Theorien erhobenen Einwänden aussetzt.
Haben die erwähnten Anhänger der Ausgleichsbelastung die sociale
und finanzielle Ausgleichung der Nachtheile des persönlichen Dienstes in
erste Linie gestellt, so war es einem österreichischen Officiere vorbehalten,
die militärischen Gesichtspunkte zu Gunsten der Abgabe der Wehrdienst-
freien hervorzuheben. Katzenhofer's Buch^^) erhebt Forderungen, welche
die Gegenwart weder erfüllen will, noch auch kann: so die Deckung des
gesammten ordentlichen Heereserfordernisses durch die Wehrsteuer. Aber
neben diesen Vorahnungen einer fernen Zukunft findet sich der schon jetzt
vollgiltige Hinweis auf die militärische Ausgleichung zwischen persönlich
Dienenden und Dienstfreien, bestimmter als bei anderen Schriftstellern,
bestimmter auch als bei General v. Hartmann. ^^) An einer folgerichtigen
Entwicklung der Idee der militärischen Ausgleichung, an einer Verbindung
derselben mit den Ideen der socialen und finanziellen Ausgleichung gebricht es.
Teleologisch bedeutsam ist die Bemerkung Katzenhofer's, dass die Wehr-
steuer die Fähigkeit besitze, „den Wehrdienst und hiermit die körperliche
Vollendung wertvoll zu machen."
Die meisten der bisherigen Gesetze oder Gesetzesentwürfe lassen eine
klare Stellungnahme zu einer der besprochenen Theorien nicht erkennen;
doch finden sich nahezu in allen Anknüpfungen an die Idee der Ausgleichs-
belastung im w^eiteren Sinne. Dies gilt insbesonder von dem deutschen
und dem italienischen Entwürfe- Das französische Gesetz vom 15. Juli
1889 (Art. 35) erklärt sich ausdrücklich für diese Idee: «... Seront assu-
jettis au payement d'une taxe militaire annuelle ceux qui, par suite d'exemp-
tion . . . . ou pour tout autre motif, beneficieront de l'exoneration du service
dans Farmee active."
Undeutlicher erscheint der theoretischen Beurtheilung der Charakter
des schweizerischen Militärpflichtersatzes, dann der österreichischen, bezw.
ungarischen Militär-, bezw. Militär-Befreiungs-Taxe. Die ältesten Schweizer
Montierungsabgaben sind nicht unwahrscheinlich erweise als Aequivalent des
persönlichen Dienstes gedacht gewesen. ^^) Allmählich vollzog sich mit der
^0) S. Anmkg. 10.
31) ^x)ie Staats wehr." Stuttgart, 1881.
32) „Die allgemeine Wehrpflicht" in den Zeitfragen des christlichen Volkslebens."
I. Jhrg. 4H.; 2. Aug. 1879.
33j S. insbes. bei G. Cohn (ob. Anmkg. 4).
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Rücksicht auf 0 esterreich- Ungarn. 577
Einführung des Typus der Gl assensteuer, bezw. classificierten oder percen-
tuierten Einkommensteuer der Uebergang zur Ausgieichsbelastung: die in-
zwischen angenommene Bezeichnung „ Militärpflichtersatz " erhielt sich trotz
wesentlicher Veränderungen der Abgabe bis heute, wohl vermöge der
Gewohnheit, hergebrachte tN'amen zu bewahren, zumal wenn sich durch
sie wenig beliebte Ausdrücke, wie „Steuer", .,Taxe" vermeiden lassen.
Für die österreichische Militärtaxe kommt vorab der Gegensatz
zwischen dem Motivenberichte der Kegierungsvorlage^*) und dem ersten
Ausschussberichte des Abgeordnetenhauses^^) in Betracht. Ersterer spricht
von der Allgemeinheit der Wehrpflicht und meint, dass „daher jeder Staats-
bürger dieser Pflicht in irgend einer Form, und zwar entweder durch die
persönliche Dienstleistung, oder, wenn er zu einer solchen Dienstleistung
nicht herangezogen werden kann, durch ein Aequivalent entsprechen
müsse. Der Eechtsanspruch des Staates auf die Einhebung einer Militärtaxe
als Aequivalent für den Entgang der persönlichen Militärdienstleistung ist
auch bereits durch den §. 55 des Wehrgesetzes begründet."
Diese Auffassung wurde in dem vom Abg. Grafen Eichard Clam-
Martinic verfassten Ausschussbericht entschieden bekämpft:
„Es muss aber hierbei principiell an dem Gedanken festgehalten werden,
dass es sich unter keinen Umständen um ein Aequivalent für die persön-
liche Erfüllung der Wehrpflicht handeln darf, wie dies bei dem unter anderen
Verhältnissen früher bestandenen Loskaufe vom Militärdienste der Fall
war Die Bedeutung der Militärtaxe soll also die sein, dass sie jenem,
welcher die ihm obliegende Wehrpflicht nicht persönlich ausüben kann, die
Verpflichtung auferlegt, insolange diese Verhinderung besteht, für den Vor-
theil, welchen ihm dieser zufällige Umstand im Vergleiche zu seinen Alters-
genossen bietet, ein gewisses, seiner Leistungsfähigkeit angemessenes Opfer
zum allgemeinen Besten zu bringen."
Es liegt übrigens keine weitere Aeusserung der Eegierung vor. welche
den Charakter der Abgabe im Sinne der Aequivalents -Theorie festhalten
würde. Sie hatte sich auf den §. 55 des Wehrgesetzes vom 5. December
1868 berufen, welcher lautet:
„Die Wehi-pflicht ist eine allgemeine und muss die allgemeine Pflicht
von jedem wehrfähigen Staatsbürger persönlich erfüllt werden."
Hieraus schloss sie a contrario: von jedem Nichtwehrfähigen, durch
eine Ersatzleistung in Geld, also eine Art Aequivalent. Die Debatte im
Hause ^^) förderte dann die historisch begründete, von der Eegierung nicht
widersprochene Deutung des §. 55 cit. zu Tage: „persönlich", d. h. es gibt
keinen Loskauf mehr. Späterhin bedienten sich die Eegierungsorgane bald
des Ausdruckes „Steuer", bald des allgemeineren „Abgabe". Unter den
Abgeordneten fand sich keiner bereit, die Theorie des Aequivalents, welche
mit ihrer Gleichung gegen das Wehrpflichtideal verstiess und den Verdacht
^*) Beilg. 44 d. IX, Sess. d. Abg. Hauses.
35) Beilg. 142 d. IX. Sess, d. Abg. Hauses.
'^) S. Anmkg. 15.
578 ' Thierl.
der Neubelebuiig des Loskaufes erweckte, zu bekennen. Einzelne erklärten
die Abgabe als , Steuer", um Grund zu haben, sie als eine iiscalische Maass-
regel zu bekämpfen, andere als „Taxe*, entweder weil sie den odiosen
Ausdruck Steuer vermeiden w^ollten oder aber hiedurch den abnormen
Charakter der Abgabe und ihrer Verrechnung zu kennzeichnen glaubten.
Eben diese letztere, wie sie von der Kegierung vorgeschlagen worden,
spricht gegen die Annahme einer Steuer, ohne dass deshalb ihre Aenderung
im fertiggestellten Gesetze für diese Annahme zeugen würde. Die verhältnis-
mässig stärksten Momente, so jener Ausschussbericht des Abgeordneten-
hauses, mehrfache Aeusserungen während der Debatte in diesem Hause,
endlich der Bericht des Herrenhaus -Ausschusses vom 19. Mai 1880^'),
welcher übrigens auch den endlichen Anschluss der Eegierung an diesen
Standpunkt erklärt, rechtfertigen die Auffassung der Militärtaxe als Aus-
gleichs-Belastung.
Noch schwieriger gestaltet sich die Erkenntnis des Wesens der unga-
rischen Militärbefreiungstaxe aus den parlamentarischen Verhandlungen.
Diese fanden bereits im November, bezw. December 1879 statt und nahmen
viel weniger Zeit in Anspruch als westlich der Leitha. Der Ausschuss-
Eeferent (Abg. Geoig Molnär) sah, gleich dem Verfasser des österreichi-
schen Motivenberichtes, in der Abgabe ein Aequivalent des persönlichen
Dienstes; andere verwarfen sie als neue Steuer oder schlechtweg als fisca-
lische Erfindung oder als Ausfluss der von ihnen gehassten gemeinsamen
Wehrverfassung. Die äusseren Stützen für die Auffassung der Taxe als
Ausgleichsbelastung sind hier geringer als in der westlichen Keichshälfte;
aber der im ganzen und grossen gleichartige Aufbau der Abgabe in beiden
Reichshälften bildet ein starkes, inneres Motiv, diese Auffassung auch für
Ungarn zur Geltung zu bringen. ^
IL Die Subjecte der Abgabe.
A. Naturgemäss sind dies die Wehrdienstfreien. Für den Fall,
als diese kein ausreichendes selbständiges Einkommen haben und von ihren
bürgerlich -rechtlich verpflichteten Ascendenten ganz oder theilweise
erhalten werden, haben die meisten Gesetze letztere zur Abgabenleistung
herangezogen.
a) Im allgemeinen umfasst die Classe der Wehr dienstfreien fünf
Kategorien :
1. Die Ausgeschlossenen (Wehrdienst-Unwürdige);
2. die Ausgemusterten (Wehrdienst-Untaugliche);
3. die zeitlich Befreiten;
4. die Auswanderer;
5. die Ueberzähligen oder Freigelosten (Wehrdienst -Entbehrliche).
1. Dem österreichischen und ungarischen Wehrrechte ist die Aus-
schliessung vom persönlichen Dienste wegen ünwürdigkeit eigentlich fremd. Die
^■^j Beilg. 84 d. IX. Sess. d. Herrenhauses.
Die Abgabe d. Welirdienstfreien mit besoiid. Eücksicht auf Oesterreich-Ungarn. 579
strafgerichtliche Untersuchung, bezw. Aburtheilung bewirkt Aufschub der
Stellung, bezw. des Antrittes der Dienstpflicht, Unterbrechung und Verlän-
gerung der Dienstleistung.^^) Es entfällt daher auch die Militärtaxpflicht
solcher Personen.
Wohl unter dem Einflüsse besonderer Bedachtnahme auf die ideale
Aufgabe des Wehrstandes, auf Disciplin und Kameradschaft haben auswär-
tige Gesetze die Ausschliessung der wegen grober Delicte Verurtheilten für
nöthig erkannt. ^-^j So das sächsische Gesetz vom 24. December 1866
(§. 17), w^elches dafür die Unwürdigen mit einem Zuschüsse von 300 Thalern
zum Dienstalters - Zulagenfonde belegt: die bayrischen Gesetze vom
30. Jänner 1868 (Art. 16) und vom 29. April 1868 (Art. 1 lit. d) und
Art. 2 Schlussalinea); der deutsche Entwurf v. J. 1881 (§. 1 Z. 1). Das
bayrische Eecht schliesst von der Ehre der Waffen aus, wer wegen Ver-
brechens oder eines Vergehens des Betruges, der Unterschlagung, der
Fälschung, des Diebstahls oder der Hehlerei verurtheilt und nicht rehabili-
tiert w^orden ist, und verwendet solche Ausgeschlossene nach Thunlichkeit
zu anderen militärischen Arbeiten.^^) Sehr beachtenswerte Dispositionen hat
in Hinsicht auf die Waffenunwürdigen das französische Wehrgesetz vom
15. Juli 1889^^) getroffen. Es stellt gewisse von sehr schweren, insbesonders
infamierenden Strafen Betrofl:ene, ebenso wie die collectiv Verbannten zur
Verfügung des Marineministers, welcher ihre Verwendung bestimmt. Die
mit individueller Verbannung Belegten bilden die zweite Gruppe; sie werden
in die Truppenkörper der Colonial-Sträflinge eingereiht. Die dritte Gruppe
besteht aus den blos zu Gefängnis verurtheilten Verbrechern (Art. 463,
cod. pen.) und solchen, welche wegen gewisser Sittlichkeitsdelicte zu min-
destens drei Monaten oder überhaupt zweimal abgestraft wurden; sie werden
der leichten afrikanischen Reiterei incorporiert, können indes bei guter
Aufführung nach Jahresfrist zu anderen Truppenkörpern versetzt werden.
Die wegen politischer Delicte Verurtheilten werden hiedurch nicht walfen-
unwürdig (Art. 6). Gegenüber dieser relativen Waffenunwürdigkeit fehlt es
aber im Art. 35 W^.-G. an einer ausdrücklichen Unterwerfung der genannten
Gruppen unter die Militärtaxpflicht. — Die Vorfrage, ob Waffenunwürdig-
keit bestehen solle und in welchem Umfange, gehört nicht hieher, sondern
in das Gebiet des Wehrrechtes.
2. Die Ausgemusterten (Wehrdienst-Untauglichen) bilden durchwegs
den Hauptstock der Abgabenpflichtigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn
38} §. 90 I. Theil und §. 56 II. Theil der Wehrvorschriften, enthaltend die Durch-
führungsbestimmungen zum österr, Wehrgesetze. (Normal -Vdg.- Blatt f. d. k. k. Heer
28. Stück.) Ausstossung nur bei einzelnen schwersten Fällen militärischer Verbrechen
(§§, 45 u. 47 des öst. Mil.-Straf-Ges. v. 15. Jänner 1855).
39j S. bei Jolly (ob. Anmkg 8).
^^) S. bei Marcinowski (ob. Anmkg. 2), S. 147. S. übgs. §. 18 d. dtsch. Keichs-
Mil.-Ges. V. 2. Mai 1874, §§. 28 u. 35 d. Ersatzordnung v. 28. September, bezw. f. Baiern
V. 21. November 1875; §. 31 Reichs-Straf-Ges.-B.; §. 31 Milit.-Straf-Ges.-B. (bei Mar-
cinowski S. 72) betr. d. Waffenun Würdigkeit nach deutsch. Wehrrechte.
41) S. Anmkg. 11.
580 Thierl.
man hiezu noch die aus gewissen meist familiären Gründen zeitlich Be-
freiten und die Auswanderer rechnet.
Zu den Ausgemusterten gehören gemäss §. 1 des österreichischen
Militärtax- Gesetzes*^): die wegen üntauglichkeit Gelöschten oder Zurück-
gestellten, die wegen üntauglichkeit vorzeitig Entlassenen, wenn das
Gebrechen nicht durch die active Militärdienstleistung herbeigeführt wurde.
Die Kegierungsvorlage Hess die Deutung zu, dass auch die durch ein
w^ährend der Dienstzeit entstandenes Gebrechen eingetretene Erwerbsunfähig-
keit (ohne Kücksicht auf den dienstlichen Ursprung des Gebrechens) von
der Taxpflicht frei machc^^); später flel dies, insbesondere wegen der Begün-
stigung der vermöglichen Erwerbsunfähigen weg. Im ungarischen Gesetze**)
ist diese etwas sonderbare Einschaltung eines Befreiungsgrundes inmitten
der Aufzählung der Taxpflichtfälle beibehalten worden. Grundsätzlich erscheint
es völlig correct, alle Untauglichen als abgabenpflichtig zu erklären; will
der Gesetzgeber einzelnen durch ihr Gebrechen besonders schwer Getrofi'enen
Schonung angedeihen lassen, so sind solche Ausnahmen unter den Befreiungs-
fällen anzuführen. Naturgemäss ist die Üntauglichkeit — sowohl die voran-
gehende, als die nachfolgende — in allen Gesetzen, bezw. Entwürfen als
ein Hauptfall der Abgabenpflicht behandelt.
3. Die aus familiären Gründen zeitlich Befreiten unterliegen der
Abgabenpflicht für die D^uer ihrer Befreiung. Diesen werden die aus einem
solchen Grunde vorzeitig Entlassenen gleichgehalten. Hieher gehören z. B.
nach österreichischem und ungarischem Kechte*^) der einzige Sohn
eines erwerbsunfähigen Vaters oder einer verwitweten Mutter, ein ehelicher
Bruder, welcher seine ganz verwaisten Geschwister erhält, Eigenthümer
ererbter Landwirtschaften, welche daselbst wohnen und die Bewirtschaftung
selbst besorgen, bei einer gewissen Höhe des Wirtschaftsertrages. Auch
das deutsche Eeichs-Militärgesetz (§§. 20 und 22, 52 — 55) berücksichtigt
ähnliche bürgerliche Verhältnisse und ausnahmsweise Billigkeitsgründe *^),
ebenso wie, wenigstens theilweise, das frühere bayerische Wehrverfassungs-
Gesetz vom 30. Jänner 1868 (Art. 11.*^) Weitergehend sind in mehrfacher
Hinsicht die einschlägigen Normen des Art. 21 des französischen Wehr-
gesetzes vom 15. Juli 1889.
4. Von den Auswanderern verlangt das österreichische und das
ungarische Gesetz f§. 9, bezw. §. 12) die Bezahlung der Abgabe für die
ganze restliche Dauer der Abgabenpflicht auf einmal.
5. Der Zahl nach wohl nicht überwiegend, aber von namhafter Bedeu-
tung sind die Ueberzähligen oder Entbehrlichen. In erster Linie
-»2) Vom 13. Juni 1880, Reichs-Gesetz-Blatt Nr. 70.
^3) Big. 44 d. IX. Sess. d. Abg.-Hauses; §. 1, Z. 3.
'') Vom '3. Juni 1880, Ges.-Artik. XXVIL v. J. 1880, §. 1, Z. 3.
•'^) S. Durchfiihrungs-Bestimmungen, I. Theil, §. 60 (s. ob. Anmkg. 38) z. d. Wehr-
gesetzen.
^«) S. Marcinowski, SS. 72, 73 und 85 (ob. Anmkg 2).
4^) S. Marcinowski, S. 146 (ob. Anmkg. 2).
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Rücksicht auf Oesterreich-Ungarn. 581
gehören hielier die unbedingt Tauglichen, welche ihrer hohen Losnummer
halber nicht zur normalen Dienstleistung berufen werden. Sodann dürften
auch die bedingt Tauglichen, welche an einem die Leistungsfähigkeit
beeinträchtigenden Fehler leiden, dieser Gruppe zuzuzählen sein. Alle diese
werden der Ersatz-Reserve, bezw. nach deutschem Wehrrechte der Ersatz-
Reserve I. oder IL Classe zugewiesen ; letzteres verfügt übrigens auch
bezüglich der zeitig untauglichen ebenso."*^) Diese Ersatz-Reservisten
sind grundsätzlich abgabenpflichtig, doch kann Umfang und Dauer ihrer
Abgabenpflicht durch eine vorübergehende Heranziehung zum Dienste beein-
flusst werden. (Z. B. §. 3 des deutschen Entwurfes.*^)
b) Ausser den Wehrdienstfreien können noch andere Personen zur
Abgabenleistung herangezogen werden. Es sind dies, abgesehen von dem
Dienstgeber (§§. 10 und 11 des ungar. Ges.) und dem Vormunde (§. 15
des Züricher Ges. vom 16. Christmonat 1862^^), welche doch nur als
Cassiere des Staates aufgefasst werden sollen, die As ceu deuten, bezw. die
alimentationspflichtigen Verwandten (Art. 13 des baye. Ges. vom 29. April
1868).^^) Die Abgabenpfliclit der Ascendenten ist mannigfachen theoretischen,
wie praktischen Bedenken unterworfen, und zwar sowohl in subjectiver, als
auch in objectiver Beziehung. In subjectiver Beziehung, weil sie eine Ver-
schiebung in der Person des Leistungspflichtigen bewirkt und dadurch den
Parallelismus zwischen persönlicher Dienstpflicht und Abgabenpflicht zerstört,
zumal dann, wenn der Ascendent nicht als subsidiär Haftender, sondern als
primär Verpflichteter einzutreten hat. In objectiver Beziehung, weil sie die
gerechte Festsetzung der Bemessungsgrundlage sehr erschwert.
Bei dem gegenwärtigen Stande der Wehrsteuer- Gesetzgebung, bezw.
der zugehörigen Gesetzentwürfe stellt sich die Abgabenpflicht der Ascen-
denten lediglich als eine nach dem Gesichtspunkte der Zweckmässigkeit
getroffene Einrichtung dar. Fraglich bleibt dabei, ob sie diesem Gesichts-
punkte auch wirklich entspricht.
Die Stellungspflicht tritt an die jungen Leute zu einer Zeit heran, in
welcher ein beträchtlicher Bruchtheil derselben noch nicht in der Lage ist,
sich zu erhalten. Insbesondere gilt dies von den Söhnen der höheren Stände,
deren Ausbildung in diesem Alter meistens nicht abgeschlossen ist. Lässt
das Gesetz den Beginn der Wehrsteuei-pflicht mit der ersten Zurückstellung
zusammenfallen und anerkennt dasselbe nur die Steuerpflicht der Dienst-
freien selbst, so gehen die Dienstfreien aus dem berührten Kreise einige
Jahre hindurch steuerfrei aus. Abgesehen von der Minderung des allge-
meinen Steuererträgnisses, liegt darin eine Verletzung der ausgleichenden
Gerechtigkeit zu Gunsten der ohnedies wirtschaftlich in besserer Lage Befind-
lichen. Zudem wird es für sehr natürlich gehalten, dass die zum Unterhalte
der Dienstfreien verpflichteten und denselben auch thatsächlich bestreitenden
^8) S. bei Marcin owski SS. 72 n. 73. (ob. Anmkg. 2.)
^^) S. bei Marcin owski SS. 75 fg. (ob. Anmkg. 2.)
50) S. bei E n g e 1 (ob. Anmkg. 4), S. 192.
51) S. bei M a r c i n 0 w s k i (ob. Anmkg. 2). SS. 143 u. 144.
582 '^hierl.
Verwandten, insbesondere die Ascendenten auch für die Wehrsteuer auf-
kommen.
In dreifacher Weise kann sich die Verpflichtung der Ascendenten geltend
machen, entweder als ausschliessliche oder als concurrierende (im Sinne
einer Solidar-Obligatio) oder als subsidiäre (im Sinne einer Intercessio).
Die ausschliessliche Verpflichtung der Ascendenten abstrahiert gänzlich von
dem persönlichen Parallelismus zwischen Dienstpflicht und Wehrsteuerpflicht;
in dieser besonders dem militärischen Momente der Abgabe wenig genügenden,
extremen Position vermag nur das Regressrecht der Ascendenten und die
Collationspflicht der dienstfreien Descendenten eine Milderung zu schaffen.
Das österreichische Militärtaxrecht erklärt die Taxpflicht der
Ascendenten, wo es dieselbe eintreten lässt, für eine ausschliessliche
(§§. 1 und 4). Obwohl es nebstbei die Dienstfreien als ideell taxpflichtig
ansieht (§. 4 cit.: .ausser den im §. 1 bezeichneten Wehrpflichtigen"),
nimmt es factisch doch die strengste Form der Ascendentenpflicht an, da
es weder Regressrecht noch Collationspflicht kennt. In Ungarn entrichtet
für die der Taxe unterworfenen Dienstfreien das Familienhaupt die Taxe,
und zwar auch dann, wenn der Descendent unabhängig steuerpflichtiges
Vermögen besitzt, falls die Steuer des Ascendenten grösser ist als diejenige
des Descendenten (§. 2 Ges. -Art. IX v. J. 1883.^2^.
Wenig klar ist die Fassung des deutschen Entwurfs, der schwei-
zerischen Gesetze und des ehemaligen bayerischen Gesetzes. Im deut-
schen Entwürfe sind die Ascendenten bezüglich der Fixsteuer „ Selbst-
schuldner" (§. 7, Alin. 2). Bezüglich der Classen-, resp. Percentsteuer fällt
eine sichere Auslegung der §§. 8 und 9 in Verbindung mit §§. 1 und 6
schwer; man mag zwei Schuldverhältnisse, jedes mit selbständigem Inhalte,
vermuthen, zwischen denen dem Reichsschatze die Wahl zustünde (also eine
Abart der concurrierenden Verpflichtung) — oder eine ausschliessliche Ver-
pflichtung der Ascendenten annehmen. Eine merkwürdige Deutung weist
auf die Absicht einer Cumulativ -Besteuerung.^^)
Bei den Schweizer Gesetzen, welche sich grossentheils^*) des Aus-
druckes -haftbar" (responsable) bedienen, ist est zumeist zweifelhaft, ob
diese Haftbarkeit über die Personaltaxe hinausgeht. Art. 9 in Verbindung
mit Art. 3 und 5 des Bundesgesetzes scheint dies zu verneinen. Vielleicht
gestattet die Veranschlagung der Hälfte des Vermögens der Eltern, getheilt
durch die Zahl der Kinder (Art. 5 A, Z. 2), einen gegentheiligen Schluss.
Durch das bayerische Gesetz werden die Rentämter ermächtigt, die
rückständigen Wehrgelder „von den Pflichtigen, deren Eltern oder alimen-
tätionspflichtigen Verwandten beizutreiben" (Art. 13.^-'')
52) Sanction v. 2. Februar 1883.
5') S. Marcinowski S. 105, Bemerkungen zu §. 8 (ob. Anmkg. 2).
5-') Art. 9 des Bundesgesetzes (1878), §. 8 d. Berner Gesetzes (1863), Art. 8 d,
VVaadtländ. Ges. (1846); s. bei Marcinowski, S. 153; bei Engel SS. HO u. 192 (ob.
Annikgn. 2 u. 4).
55) S. ob. Anmkg. 51.
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Rücksicht auf Oesterreich-Ungarn. 583
Das französische Gesetz (Art. 35, §§. 3 und 6), welches die Aseen-
dentenpflicht als subsidiäre anordnet^*''), lässt dieselbe trotz eigener Per-
sonalsteuer des Descendenten, bei gemeinsamem Domicile, bezw. noch nicht
erreichtem 30. Lebensjahre des Descendenten, zu; hier wie dort, wo der
dienstfreie Descendent nicht selbst personalsteuerpflichtig ist, entscheidet
der Ascendenten- Quotient: sonst die Personalsteuer- Quote.
Zumeist hängt die Ascendentenpflicht von der factischen Gewährung
des gesetzlichen Unterhaltes ab; der italienische Entwurf verpflichtet die
Ascendenten für jeden Fall.^^)
B. Die Befreiung von der Abgabe ist entweder eine dauernde
oder vorübergehende. Zu den dauernd Befreiten zählen nach öster-
reichischem Rechte (§. 5) die Vermögens- und Einkommenslosen, wegen
geistiger und körperlicher Gebrechen Erwerbsunfähigen, sowie die in Armen-
versorgung Befindlichen, dann die vor dem Jahre 1875 wehrpflichtig
Gewordenen. — Der deutsche (§. 5, Z. 3) und italienische Entwurf,
das Waadtländer (Art. 3, lit. b), württembergische (Art. 2) und
französische (Art. 35, §. 4, Alin. 2) Gesetz begnügen sich mit der Er-
werbsunfähigkeit; das ungarische (§. 4), bayerische (Art. 4), Berner
(§. 4, lit. b) Gesetz und das schweizer Bundesgesetz (Art. 2, lit. a) verlangen
den Zutritt der Vermögenslosigkeit. Der entscheidende Grund ist weniger die
allgemeine Benachtheiligung, welche gebrechliche Personen aus ihrem
Defecte für das Leben erfahren ^^), als die üneinbringlichkeit der Abgabe,
welche bei vermögenslosen Erwerbsunfähigen nicht zweifelhaft sein kann.
Keine Rückwirkung des Gesetzes bildet die Befreiung jener, welche
vor einem gewissen Jahre wehrpflichtig geworden. Als Grenztermin bezeichnet
das österreichische Gesetz vom Jahre 1880 (§. 5, Z. 3) den 1. Jänner
1875, der deutsche Entwurf vom Jahre 1881 (§. 5, Z. 1) den 1. Jänner
1872. Die Wehrcommission des österr. Herrenhauses stützte die Annahme
einer Rückwirkung darauf, dass die Verpflichtung zur Militärtaxe bereits
durch den §. 55 des Wehrgesetzes vom Jahre 1868 geschaffen wurde. ^^)
Aber diese Gesetzesstelle enthält von den drei wesentlichen Momenten
einer Obligatio: Rechtsgrund, Bezeichnung der Person des Berechtigten
und des Verpflichteten, Bestimmtheit des Gegenstandes, höchstens das
erste. Die beiden übrigen wurden erst durch das Gesetz vom 13. Juni 1880
geschaffen.
Eine vorübergehende Befreiung von der Abgabe wird den Pflich-
tigen auf Grund einer theilweisen Leistung des Waffendienstes schon im
56) S. ob. Anmkg. 11.
5"^) „II progetto italiano obbliga gli ascendenti in qualsiasi caso," Ferraris, S 340
(s. ob. Anmkg. 10). Den Begriif „Unterhalt" bestimmt Marcinowski S. 87 (s. ob.
Anmkg. 2); er umfasst hiernach „Wohnung, Kleidung, Nahrung, Bedienung, Unterricht
u. a. ähnliche siandesmässig gebotene Aufwendungen." Für die Gesetzgebung kommen
wohl die civilrechtlichen Normen des einzelnen Staates zunächst in Betracht.
58) C 0 h n (bei Marcinowski S. 85, s. ob. Anmkg. 2).
59) Big. 81 d. IX. Sess. d. H.-H.
584 Thierl.
alten Waadtländer (1846'''^) und in den meisten Cantons-Gesetzen der
Schweiz gewährt. Nicht so im Bundesgesetze, welches indes — wie das
Waadtländer Gesetz nebstbei — eine Erleichterung, Milderung der Abgabe
dort eintreten lässt, wo der Abgabenpflichtige schon vor Eintritt der Ab-
gabenpflicht eine Zeit lang gedient hat.''^) Aehnliches hat der deutsche
Entwurf bezüglich der Ersatz-Keservisten I. Classe nach beendigter erster
Waffenübung angeordnet; er anerkennt jedoch, nach waadtländischem Muster,
ausserdem die vorübergehende Befreiung während der Einziehung zum
activen Dienste (§. 3). Der italienische Entwurf und das französische
Gesetz (Art. 35, §. 4) normieren nur die vorübergehende Befreiung nach
Maassgabe der theilweisen activen Dienstleistung; ersterer rechnet den
begonnenen Doppelmonat für vollendet, letzteres schlägt Theile eines Monats
nicht an. Waftenübungen berücksichtigt das französische Gesetz gar nicht.^^)
Die vorübergehende Abgabenbefreiung nach Maassgabe einer theil-
weisen Dienstleistung entspricht dem Parallelismus zwischen Abgabenpflicht
und Dienstfreiheit; die Unterbrechung der letzteren bewirkt auch eine Unter-
brechung der ersteren. Schwieriger fällt die Rechtfertigung des Nachlasses
an der Steuer-Quote für den waffendienstfreien Rest der Wehrperiode bei
jenen, welche vordem gedient haben. Ist deren Waffendienstfreiheit nunmehr
eine gänzliche, so bedeutet dieser Nachlass eine Ungleichheit gegenüber
den anderen Abgabenpflichtigen. Die eigenthümlichen, noch schwankenden
wehrrechtlichen Verhältnisse der Ersatz-Reservisten mögen * allerdings eine
Ausnahme von dieser Auffassung gestatten.
III. Das Ausmaass der Abgabe.
A. Nach österreichischem Rechte ist der Gegenstand der Abgaben-
Forderung des Staates wohl eine gesetzlich bestimmte Summe Geldes. Die
Terminologie des Gesetzes selbst weist auf eine classenmässige Abgabe ;
nach § 3 bewegen sich die Sätze für die 1. bis 14. Classe zwischen 100 fl.
und 1 fl. Ein Antrag (Abg. Fax) auf Creierung höherer Classen (150 fl.,
200 fl., 300 fl., 400 fl. und 500 fl.) wurde abgelehnt. Im einzelnen
Falle erscheint jedoch der Umfang der Steuer- Obligatio des betreffenden
Wehrdienstfreien nicht zum Voraus bestimmt, sondern nach den gesetzlichen
Merkmalen innerhalb der gesetzlichen Classensätze bestimmbar. Mehrere
wirtschaftliche Momente in ihrem Zusammenhalte ersetzen die Steuerbasis:
Vermögens- und Erwerbs-Verhältnisse des Taxpflichtigen, dessen reines
Einkommen, dessen directe Steuerleistung. Steuereinheit und Steuer-
fuss sind nicht gesetzlich bestimmt. Nur eine beiläufige Richtschnur für
das Arbitrium der Bemessungsbehörde ist es, wenn jener Ciassensatz in der
Regel genommen werden soll, welchem das Zehntel an directen Steueru
^^) Art. 5, alin. 2, s. bei Engel S. 192 (ob. Anmkg. 4).
^^) Art. 6 d. Bund.-Ges., Art. 4 d. Waadtländ. Ges.; beidesmal nur die Hälfte bei
8-; resp. 3-jähriger Dienstzeit. (S. Marcin owski; SS. 152 u. 153, Engel S. 192
ob. Anmkg. 2 u. 4.)
62^ S. ob. Anmkgn. 10 u. 11.
Die Abgabe d. Wehrdienstfreieii mit besoud. Riicksidit auf Oesterreich-Ungarn. 585
sammt Staatszusclilägen zunächst entspricht. Hiedurch wird die Einreihung
in eine höhere oder niedrigere Classe nach Maassgabe der übrigen, vorhin
als. relevant bezeichneten Momente nicht ausgeschlossen. Elementar-Ereignisse
berechtigen zur Herabsetzung, eventuell gänzlichen Nachsicht der Steuer.
Die Kegierungsvorlage war in jeder Beziehung strenger gewesen.
Wesentlich anders zeigt sich das Classensystem des ungarischen
Gesetzes. Es theilt sich nach fünf Gruppen, im grossen und ganzen
Erwerbs-Kategorien. Bei den drei ersten entscheidet der Beruf, bei den zwei
letzten die Steuerleistung. Die Berufsgruppen sind: I. niederes Gesinde,
Tagiöhner (3 fl.), IL Hausgesinde, Gehilfen, Diurnisten, Hausierer etc. (4 fl.).
ni. selbständige Handwerker (Kleingewerbetreibende) (5 fl.). In die Gruppe
IV fallen die der Erwerbsteuer II. und III. Classe, dann der Bergwerk-
steuer Unterworfenen. Die Taxe steigt nach dem Gesetze v. J. 1880 (§. 10)
von 5 fl. (bei 50—100 fl. Steuer) auf 100 (über 3000 fl. Steuer); nach der
Novelle v. 2. Februar 1883 (§. 2.)^^) von 3 fl. (bei Steuer bis 10 fl.)
auf 120 fl. (über 1200 fl. Steuer). Zur Gruppe V gehören die der Erwerb-
steuer IV. Classe (Lohnsteuer) Unterliegenden (bezw. von derselben nach
Pkt. 3., §. 5. d. Ges.-Art. XXIX. ex 1875 Befreiten). Ihre Taxe beträgt
mindestens 5 fl. (bei 50 — 100 fl. Steuer) und höchstens 100 fl. (bei
800 fl. Steuer).
Gegenüber dem österreichischen Gesetze besitzt das ungarische den
bedeutenden Vorzug, dass der Umfang der Steuer-Obligatio für jeden indi-
viduellen Fall gesetzlich bestimmt ist. Das arbiträre Ermessen der Be-
messungsbehörde entfällt. In gleicher Weise sind schon die classificierten
Einkommensteuern der Wehrsteuergesetze des Canton Waadts (1846) und
Bayerns (1868) voraus. Die Wehrsteuer bewegt sich dort zwischen 3 Frcs.
bis 60 Frcs. für Einkommen von 1—300 Frcs. und über 5000 Frcs. bzw.
zwischen 3 fl. bis 100 fl. für Einkommen von 1—200 fl. und über 1600 fl.«^)
Gänzlich abseits stehen die württembergischen und bayerischen
Gebüren (Fixstempel von 20 fl., bezw. 10 fl.) für Militär-Entlass- und
Freischeine. ^^)
Die schweizer Cantonsgesetze bestimmen vielfach die Abgabe nach
Altersstufen und innerhalb jeder derselben 1. als fixe Personalabgabe,
2. als Percentualabgabe vom eigenen und vom erbsanwartschaftlichen
elterlichen Vermögen, vom Einkommen, von der Handelsclassensteuer und
zwar mit Festsetzung eines Maximums der Percentual- Abgabe, f'^)
Im Bundesgesetze vom 28. Brachmonat 1878 (Art. 3—7) werden diese
Grundsätze in der Hauptsache beibehalten, aber vereinfacht. Die Personaltaxe
beträgt durchwegs 6 Frcs!; das Maximum der jährlichen Steuer 3000 Frcs.
Als Steuerfuss wird IV2 Frcs. für jedes Tausend reinen Vermögens und
03) Ges.-Artikel IX. v. J. 1883.
ö^) Engel S. 192 (ob. Anmkg. 4), MarcinoAvski S. 141 (ob. Anmkg. 2). Waadll.
Ges. Art. 6; bayr. Ges. Art. 3.
•^s) Marcinowski S. 138 u. 189 (ob. Anmkg. 2).
CO) E n g e 1 SS. 190 fg. (ob. Anmkg. 4).
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. IV. Heft. 38
586 Thierl.
jedes Hundert reinen Einkommens normiert. Vermögen unter 1000 Frcs., Ein
kommen unter 100 Eres, bleibt ausser Anschlag. Nach vollendetem 32. Jahre
zahlen die Pflichtigen nur die Hälfte obiger Abgabe: Pflichtige, welche schon
8 Jahre gedient haben, überhaupt nur die Hälfte der sie sonst treftenden Abgabe
(also eventuell ein Viertel). Ausnahmsweise kann die Bundesversammlung für
ausserordentlich in Anspruch genommene Jahrgänge die Abgabe verdoppeln
(Art. 6. und 7.), eine Ermächtigung, die sich analog im §. 22 des Berner
Gesetzes, (1863) findet und der ausgleichenden Gerechtigkeit entspringt.''')
Auch der deutsche Entwurf coordiniert eine „feste Steuer" (§. 7.)
und eine „ Zuschlagsteuer " (§. 8^^). Erstere beträgt für jeden Abgaben-
pflichtigen 4 Mk. jährlich. Letztere richtet sich nach dem Einkommen; sie
ist von 6000 Mk. Einkommen aufwärts eine Percentsteuer (37()) ohne Pro-
gression mit Stufen von je 1000 Mk.: bis zu 6000 Mk. eine classificierte
Einkommensteuer mit beträchtlicher Degression. Der Entwurf kennt kein
Steuermaximum; bei ungünstiger Lage gestattet er die Annahme der nächst
niederen Classenstufe.*^^)
Ebenso unterscheidet der italienische Entwurf zwischen tassa (quota)
fissa (6 Lire) und tassa (quota) proportionale (von IVo — 37o steigend);
letztere erreicht bei einem Einkommen von 100.000 Lire das höchste zu-
lässige Ausmaass.^*-^)
Serbien hebt 10% der Staatssteuer als Militär-Taxe ein.'^)
Das französische Wehrsteuerrecht normiert die fixe Taxe mit 6 Eres.,
die proportionelle gleich dem Hauptbetrage (montant principal) der
Personalsteuern (cote personnelle et mobiliere) des Abgabenpflichtigen.
Besitzt der selbständig steuerpflichtige Wehrdienstfreie noch Ascendenten,
hat er das 30. Lebensjahr noch nicht zurückgelegt und kein von dem
Wohnsitze der Ascendenten getrenntes Domicil, so erhöht sich seine
Proportional-Taxe um den Quotienten, welcher aus der Theilung der Steuercote
des Ascendenten durch die Zahl der Stirpes. resp. Substirpes resultiert. Diese
erhöhte Proportionaltaxe trifft den Dienstfreien selbst, der Ascendent haftet
indess dafür (Art. 35. §. 3.'^)
B. Ausser diesen für den Gegenstand der Steuer- Obligatio des
Dienstfreien bestimmenden Grundsätzen bestehen vielfache besondere
Kegeln zur inhaltlichen Festsetzung der Steuer-Obligatio der Ascendenten.
Würde hier, wie beim Dienstfreien, das gesammte Vermögen, bezw. Ein-
kommen als Steuerbasis angenommen, so ergäbe sich gerade wegen der
Gleichheit des Vorgehens — eine Ungleichheit, da der Ascendent auch
Vermögen, bezw. Einkommen versteuern müsste. welches nicht dem dienst-
''') M arciri 0 w sk i SS. 152 fg. (ob. Aninkg. 2r, Engel S. 191 (ob. Annikg. 4).
''*) Marcinowski SS. 94 fg. Der Ausdruck „Zuschlagsteuer" wird nicht im
Gesetze, sondern in der Begründung gebraucht (S. 101 bei Marcinowski).
'•») Ferraris S. 343 (ob. Anmkg. 10). Der Entwurf nimmt 22 Classen für die
Einkommen von 100 — 6000 Lire und 94 Classen für die höheren Einkommen an.
"•'; Neumann S. 131 (ob. Anmkg. 2).
'') Ob. Anmkg. 11.
Die Abgabe d. Wehrdienstfieien mit besond. Rücksicht auf Oesterreich-üngarn. 587
freien Descendenten, für den er eintritt, zugute kommt, sondern ihm selbst
oder anderen Descendenten. Wären mehrere Descendenten dienstfrei, so
müsste das Vermögen, bezw. Einkommen des Ascendenten sogar mehrmals
versteuert werden. Diese äusserste Consequenz will auch der sonst strenge
italienische Entwurf vermeiden. Er nimmt zwar das ganze Einkommen
des Ascendenten als Steuerbasis: sind aber mehrere Descendenten zugleich
taxpflichtig, so zahlt der Ascendent die Abgabe nur einmal.'^) Den
italienischen Entwurf übertrifft an Schärfe das ungarische Gesetz, bezw.
die Novelle vom J. 1883 (Ges.-Art. IX, §. 2). womach das Familienhaupt,
falls- mehrere Descendenten taxpflichtig sind, für einen die volle, für die
übrigen je die halbe Taxe leisten muss.
Eij^en milderen Standpunkt nehmen jene Gesetze, bezw. Entwürfe ein,
welche zur Gewinnung der Steuerbasis das Vermögen, bezw. Einkommen
des x^scendenten theilen. Mittelbar strebt das österreichische Gesetz eben
dasselbe an, indem es das Steuerzehntel durch die Zahl der Kinder (Wahl-
kinder, Enkel), für deren Unterhalt der Ascendent ausschliesslich oder zum
grössten Theil zu sorgen hat, dividiert (§. 4 Schlussatz). In der Schweiz
haben schon die Cantonsgesetze die Theilung des Vermögens, bezw. Ein-
kommens des Ascendenten durch die Zahl der unterhaltenen Kinder (Bern.
§. 6) oder die Theilung des erbanwartschaftlichen Vermögens (Zürich,
§§. 3 und 4) angeordnet; das Bundesgesetz veranschlagt nur das halbe
Vermögen der Ascendenten und dies bloss nach Verhältnis der Kinderzahl;
es lässt den Descendenten ganz frei, wenn der Ascendent selbst Wehrdienst
leistet oder Taxe zahlt "^) (Art. 5). — Verwandt zeigt sich der deutsche
Entwurf, welcher (§. 9 Schlussatz) das Einkommen des Ascendenten vorerst
halbiert und dann noch durch die Kopfzahl der Descendenten dividiert. ^^)
Das französische Gesetz (Art. 35, §. 3) hinwiederum hält sich mehr an
den in Oesterreich beobachteten Vorgang, insbesondere was das System der
Stirpestheilung anlangt; die Personalsteuer-Quote wird zuerst durch die
Zahl der Stirpes, der sohin sich ergebende Quotient durch die Zahl der
Abstämmlinge jener Stirps, welcher der betreffende Dienstfreie zugehört,
getheilt."'')
Das Widerspruchsvolle aller dieser Versuche liegt darin, dass man
einerseits die Besteuerung des dienstfreien Descendenten für unmöglich
erachtet, da dieser kein selbständiges Einkommen, bezw. Vermögen, somit
keine selbständige Steuerbasis aufweist und dass man andererseits mit
vieler Mühe aus dem Vermögen, bezw. Einkommen des Ascendenten jenen
'-) Art. 3. „Allorquando due o piü fratelK consaiiguinei fossero soggetti per ragione
dietä, in osservanza della presente legge, alla contemporanea corresponsione della tassa,
non sarä percetto che l'importare di quella dovuta dal primo dei detti fratelH "
(Ferraris S. 342.)
'^j Bei Steuerleistungen über 500 fl. (directe Staatssteuer s. Grundentlastungs-
Zuschlag) fällt selbst diese Erleichterung weg (§. 2 Schlussatz).
"') Engel SS. 190 fg. (ob. Anmkg. 4) ; M a r c i n o w s k i S. 152 (ob. Anmkg. 2).
''") M a r c i n 0 w s k i S. 108.
"'') S. Aninkg. 71.
38*
588 Tlii.-rl.
Theil abzuscheiden sucht, welcher gleichsam das abgeleitete Vermögen,
bezw. Einkommen des Wehrdienstfreien bildet. Folgerichtig sollte man
sich für einen der beiden Grundsätze entscheiden; entweder wird nur selb-
ständiges, nicht abgeleitetes Einkommen (Vermögen) besteuert oder es wird
nur von demjenigen die Abgabe eingehoben, w^as den Dienstfreien selbst —
mittelbar oder unmittelbar zukommt. Ersteren Falles würde die Theilung,
welche nur eine Art Ausmittelung des den Dienstfreien mittelbar zu-
kommenden, also abgeleiteten Einkommens (Vermögens) bedeutet, letzteren
Falles die Hauptverpflichtung des Ascendenten zu beanständen sein. Theilung
des Einkommens (Vermögen) und Hauptverpflichtung des Ascendenten
dürfen daher, wo sie zusammen vorkommen, lediglich durch Erwägungen
der Opportunität begründet werden: diese bestehen nur insolange, als an dem
zeitlichen Parallelismus zwischen Dienstpflicht und Abgabenpflicht, welcher den
Ausweg der Ascendenten-Verpflichtung nöthig erscheinen lässt, festgehalten wird.
C. Bei dem nicht eben häufigen Vorkommen des Typus der classifi-
cierten und percentuierten Einkommensteuer ist den Gesichtspunkten des
steuerfreien Minimums und der Progression, bezw. Degression des
Steuerfusses nur wenig Geltung verschafft worden. Nach dem Bern er
Gesetze vom 9. Mai 1863 bleibt Einkommen oder Erwerb bis einschliesslich
300 Frcs. steuerfrei,"') das Bundesgesetz (Art. 4) lässt Vermögen von weniger
als 1000 Frcs. ausser Berechnung und bringt vom reinen Einkommen 600 Frcs.
nicht in Anschlag. Die Classensätze des deutschen Entwurfes (§. 8) beginnen
erst bei 1000 Mk. Einkommen und zeigen, wie schon erwähnt, eine beträchtliche
Degression des Steuerfusses (von ca. 3^ („ [148 Mk. für 5000 Mk.] bis ca.
0*8% [12 Mk. für 1500 Mk.J). Weder bei dem österreichischen, noch bei dem
ungarischen Gesetze treten die fraglichen Gesichtspunkte selbständig zu-
tage: die Classensätze dieser Gesetze schliessen sich eben nicht au das
Einkommen, sondern an die Steuerleistungen. Bei der IV. Gruppe des
ungarischen Gesetzes erscheinen die höher Besteuerten bei der Militär-
Befreiungs-Taxe sogar percentuell begünstigt (z. B. Taxe 3 fl. bezw. 5 fl. bei
Steuer bis 10 fl. bezw. 25 fl.. Taxe 80 fl. bei Steuer von 1000— 1200 fl."^)
IV. Die Dauer der Abgabenpflicht.
In der Gesetzgebung, wie in den Entwürfen, welche die Abgabe der
Wehrdienstfreien behandeln, hat der zeitliche Parallelismus zwischen per-
sönlicher Dienstpflicht und Abgabenpflicht volle Anerkennung gefunden.
Hiernach beginnt die Abgabenpflicht mit dem Zeitpunkte, in welchem die
persönliche Dienstpflicht beginnen würde, wenn nicht ein Befreiungs- Er-
kenntnis gefällt worden wäre. Sie endigt, bei fortdauernder Befreiung, mit
'^') §. 5, Ht. c. Eigenes Vermögen von 8000 Frcs., bezw. erbanwartschaftliclies
(v. Seite d. Eltern) von 3000 Frcs., dann reines Einkommen von 400 Frcs. bei den
Erwerbsunfähigen (§. 4, lit. b). Bei den Descendenten erbanwartschaftliclies Vermögen von
3000 Frcs., berechneter Einkommens-Antheil von 300 Frcs. (§. 6) s. bei p] n g e ] S. 190
(ob. Anmlig. 4).
'^; Marcinowski SS. 100 fg., 152 (ob. Anmkg. 2) und s. Anmkg. 63.
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Eücksicht auf Oesterreich-Ungarn. 589
dem Zeitpunkte, in welchem die persönliche Dienstpflicht im stehenden
Heere, in der Eeserve und Landwehr geendet hätte.
Ziemlich ausführlich entwickelt diesen Grundsatz das österreichische
Gesetz (§. 2) und zwar im Besonderen für jede Kategorie der Wehrdienst-
freien. Die Taxpflicht der Zurückgestellten dauert solange, als ihre Dienst-
pflicht gedauert hätte, wenn sie assentiert w^orden wären. Bei den zeitlieh
Befreiten und Entlassenen hängt sie von der Dauer ihres Befreiungs- bezw.
Entlassungs-Titels ab. Ein ähnlicher ist der Gedanke des Gesetzgebers bezüg-
lich der Auswanderer; soviel lässt sich trotz der unvortheilhaften Textierung
der einschlägigen Stelle (§. 2, lit. c) erkennen.
Die Normen des ungarischen Gesetzes weichen von denen des öster-
reichischen im Wesentlichen nicht ab. — Nach dem italienischen Ent-
würfe entspricht die Dauer der Abgabenpflicht jener des Militärbandes. —
Das französische Gesetz stellt die Taxe mit dem 1. Jänner ein. welcher
der Versetzung der Altersclasse des Taxpflichtigen in die Eeserve der Land-
wehr (armee territoriale) folgt (Art. 35, §. 5, alin. 3). Eine diesem Gesetze
eigenthümliche Endigungsart der Taxpflicht, jene infolge dreijähriger Präsenz -
dienstzeit oder Eintragung in die Matrikel-Register der Marine-Inscription,
schliesst. strenge genommen, einen Befreiungstitel in sich. Ausdrücklich
erwähnt das französische Recht die Suspendierung der Taxpflicht durch den
freiwilligen Eintritt des Taxpflichtigen in den Wehrdienst (Art. 31 des
Reglements v. 30. Dec. 1890. '•')
Der deutsche Entwurf (§. 2) setzt die längste Dauer der Wehr-
steuerpflicht mit zwölf Jahren fest und bezeichnet als ihren Anfangspunkt
den 1. April, welcher der endlichen Feststellung der Wehrdienstfreiheit
(Ausschliessung, Ausmusterung, Ueberweisung in die Ersatz-Reserve I. und
IL Classe, bezw. Seewehr IL Classe) zunächst folgt. Gemäss §§. 6, 50 und
62 des Reichsgesetzes vom 2. Mai 1874, §. 7 des Reichsgesetzes vom
9. November 1»67 und §§. 6, 7, 12 und 13 der Ersatz-Ordnung währt die
Dienstpflicht im stehenden Heere, bezw. in der Marine sieben Jahre, in der
Landwehr fünf Jahre, zusammen zwölf Jahre. *^'^)
Für den zeitlichen Parallelismus zwischen persönlicher Dienstpflicht
und Abgabenpflicht spricht ein moralisches, der Verwirklichung des Belastungs-
ausgleiches wichtiges Moment: es wird hiedurch in der Bevölkerung das
Gefühl geweckt, dass die Dienstfreien die Abgabe leisten müssen, damit
sie die Belastung der Wehrpflicht in etwas mittragen helfen, und nicht
etwa nur deshalb, damit die Einzüge des Staatsschatzes auf eine neue Art
vermehrt würden. Auch schlägt zu Gunsten des Parallelismus die Erwägung
aus, dass die Abgabenpflichtigen in späteren Jahren gesteigerte ökonomische
Anforderung seitens des Gemeinwesens und der Familie treffen.
Sobald aber die Bevölkerung durch die Gewöhnung an die correct
eingerichtete Abgabe die richtige Auffassung über die Ziele dieser letzteren
o-ewonnen hat, entfällt die Nothwendigkeit eines solchen moralischen Factor?.
'») S. ob. Anmkg. 11 (S. 38 d. Bulletin).
8'J) S. bei Marcin 0 WS ki SS. 09 u. 70 (ob. Anmkg. 2).
590 Tbierl.
Der Hinweis, auf die stärkeren Lasten, welche das Individuum in späteren
Jahren auf sich nehmen muss, wird durch die Einwendung abgeschwächt,
dass die Leistungsfähigkeit des Individuums zumeist erst in diesen Jahren
zum wirtschaftlichen Erfolge gelangt. Weiters erfährt das Ausmaass der
Abgabe eine vielleicht durch staatliche Bedürfnisse gebotene Steigerung, so
kann diese unter Umständen eine üeberanstrengung der Steuerkraft des
Individuums bewirken, wenn nicht der Ausweg, die Gesammtleistung an
Wehrsteuer auf einen längeren Zeitraum als die Dauer der Wehrpflicht zu
vertheilen, offen steht.
Endlich ist der zeitliche Parallelismus zwischen persönlicher Dienst-
pflicht und Abgabenpflicht die Ursache einer mit den leitenden Momenten
der Abgabe schwer vereinbaren Einrichtung, der Abgabenpflicht der Ascen-
denten. Zur Zeit des Beginnes der Wehii)flicht sind die zur Stellung
kommenden jungen Leute vielfach noch wirtschaftlich unselbständig, von
ihren Eltern etc. ganz oder zum Theile abhängig. Erst einige Jahre später
treten sie als Wirtschafts-Subjecte auf, in dem Sinne wenigstens, dass sie
ihren Unterhalt aus ihrem Erwerbe, bezw. Einkommen bestreiten. Würde die
Abgabenpflicht in dieser späteren Lebensperiode beginnen, so vermöchte
jeder Wehrdienstfreie derselben persönlich genügen und es fiele damit jene
seltsame Incongruenz weg, dass wohl die persönliche Dienstpflicht stets dem
Wehrpflichtigen selbst, nicht aber die Abgabenpflicht stets dem Wehr-
dienstfreien selbst fühlbar wird. Die Zeit der militärischen Eignung und der
wirtschaftlichen Entwicklung des Mannes decken sich eben nicht. Am
besten ist es offenbar, für jedes von beiden, Waffendienst und Abgaben-
leistung jene Zeit auszuwählen, wo der Mann sie bestens erfüllen kann.
Dann ist es aber auch am besten, den Beginn der Abgabenpflicht etwa bis
zum vollendeten 24. Lebensjahre oder noch weiter hinauszuschreiben. Ebenso
dürfte es unter gewissen Verhältnissen rathsani sein, die Abgabenpflicht
durch eine längere Reihe von Jahren aufrecht zu erhalten, um die einzelnen,
insbesondere die ersten Jahresquoten niedriger ansetzen zu können.
Der zeitliche Parallelismus zwischen persönlicher Dienstpflicht und
Abgabenpflicht besitzt somit für die erste Einführung der Abgabe einen
gewissen moralischen Wert ; er ist indes weder eine durch das Wesen der
Abgabe geschaffene Nothwendigkeit. noch auch nur für die weiteren Stadien
der Abgabe mit Vortheil in Wirksamkeit zu belassen.
V. Die Veranlagung der Abgabe.
Für die zahlreichen Mängel, welche der formelle Theil überhaupt und
speciell die Veranlagung der Abgabe in den meisten Abgaben-Gesetzen
aufweisen, bestehen drei Ursachen. Vorerst der Wunsch der Regierungen,
in ihrer discretionären Gewalt nicht durch positive Bestimmungen eingeengt
zu sein, dann die Schwierigkeit, ein dem Wesen der Abgabe entsprechendes
Verfahren bis ins Detail festzustellen, endlich der grosse Widerstreit der
Meinungen über grundlegende Fragen des Steuerprocesses. insbesondere
desjenigen der Personal-Einkommensteuer.
Die Abgabe d. WehrJieiistfreien mit besoiul. Rücksicht auf 0 esterreich == Ungarn. 591
Auch die Gesetze, bezw. Entwürfe, betreffend die Abgabe der Wehr-
dienstfreien, weisen selbst nur den Versuch eines Ausbaues des formellen
Theiles nicht auf.
Von den älteren schweizer Gesetzen wird die Feststellung der
Abgabe — ohne Theilnahme der Abgabenpflichtigen — einer aus Cantons-
und Gemeindebeamten, dann Officieren bestehenden Commission (§. 12
Berner Ges., Art. 10 Waadtl. Ges.) oder den Gemeinderäthen, bei Vor-
behalt der Prüfung durch die Bezirkscommanden (Zürich, Ges. §§. 10 fg.),
zugewiesen. '^^) Das Bundesgesetz iiberlässt die Ordnung des Anlage Ver-
fahrens den Cantonen unter Genehmigung des Bundesrathes (Art. 12 und 17).
Des letzteren Vollzugsverordnungen ^-) gehen über dürftige Verfügungen
hinsichtlich Ersatzregister. Rechtszug, Execution, Bundescontrole, dann
einige Erläuterungen hinsichtlich der Taxation nicht hinaus. Die Cantons-
Reglements (z. B. Wallis vom 11. Juli 1879. Solothurn v. 5. August 1879)
bestimmen nach dem Muster der älteren Cantonsgesetze: Taxation durch
den Gemeinderath. Ueberprüfung durch die Taxations-Commission. öffentliche
Auflegung der Tabellen behufs Reclamation. Die Steuerpflichtigen sind nur
bei Aenderung der Taxe zu befragen. Ihre Rechte im Zuge des Anlage-
Verfahrens sind sonst nirgends ausgedrückt: es fehlt Selbstverwaltung der
Abgabenpflichtigen und richterliche Controle. Angesichts der überaus
volksthümlichen Amtsverfassung der schweizer Cantone mag dies, zumal
in der praktischen Durchführung, weniger beschwerlich erscheinen.^^)
Im bayerischen Gesetze handelte ein eigener Abschnitt über das
Verfahren bei Festsetzung des Wehrgeldes (Art. 7—11). Der Ausschuss,
bestehend aus Staats- und Gemeindebeamten, dann bürgerlichen Mitgliedern,
hatte sich in der Geschäftsordnung nach den Normen des Einkommen-
steuer-Gesetzes vom 31. Mai 1856 (Art. 22) zu richten. Weitere Bestimmungen
betreffen die Anlegung, Veröffentlichung und Anfechtung der Listen. ^^)
Der deutsche Entwurf verweist die Regelung des Verfahrens in die
Competenz des Bundesrathes (§. 18). Es wurde dies mit der grossen Ver-
schiedenheit des formellen Personalsteuerrechtes in den einzelnen deutschen
Bundesstaaten begründet, über welche man sich nicht hinaussetzen zu
dürfen vermeinte.^^)
Da das österreichische Gesetz eine unabhängige Feststellung der
Bemessungs-Grundlagen abweist, legt es auf genaue Normen über das
Einsteuerungs- Verfahren keinen Wert. Es steht im grossen und ganzen
auf dem Standpunkte der schweizer Gesetze. Die Bemessungs-Commission
SM S. bei Engel SS. 190 fg. (ob. Anmkg. 4).
^2) Bundesordnung v. 1. Juli 1879 (Bund.-Ges.- Sammig., IV. Bd. Neue Folge,
SS. 188—192.) — Kreisschreiben des eidgenöss. Finanz -Depart. an sämmtl. Cantons-
Regierungen v. 5. Juli 1879 (Bund.-Bl. III. Bd., S. 30—32); s. bei Marcinowski
SS. 153, 154 u. 159 fg. (ob. Anmkg 2).
S3) S. bei M a r c i n 0 w s k i SS. 161 fg. (ob. Anmkg. 2).
s^) S. bei Marcinowski SS. 142 fg. (ob. Anmkg. 2).
^•') S. bei Marcinowski S. 123 (ob. Anmkg. 2).
592 Thierl.
(g. 8) bestellt aus drei Staatsbeamten und zwei von den Gemeindevorstehern,
bezw. Bezirksvertretungen oder Gemeinderäthen gewählten Laien; sie ent-
scheidet über die Taxpflicht und Höhe der Taxe nach den Erhebungen der
Bezirksbehörde, bezw; nach Einvernahme der Gemeindevorsteher. Die Ver-
zeichnisse über die Taxpflichtigen und ihre Schuldigkeit liegen gemeinde-
weise durch vierzehn Tage zur öffentlichen Einsicht auf. Auch die Yollzugs-
Verordnung vom 20. März 1891, K.-G.-B. Nr. 26, sichert nicht die Mit-
wirkung des Abgabenpflichtigen bei Feststellung der Steuergrundlagen.
Kaum wesentlich weiter geht das ungarische Gesetz: nur die Evidenz
der Taxpflichtigen durch Gemeindeorgane, Bezirksstuhlrichter und kgl.
Steuer-Inspectoren , statt welch letzterer jetzt (ausserhalb Budapest) die
kgl. Finanz-Directionen fungieren, ist hier ausführlicher behandelt.
Das französische Gesetz gibt die Eegelung des Anlage Verfahrens
der Yerordnungsgewalt der öffentlichen Verwaltung anheim (Art. 35, §. 8);
es normiert nur den Zuschlag von 5, bezw. 3 Cent, per Frc. für die Kosten
der Veranlagung, bezw. Einhebung (Art. 35, §. 7). Dem durch das Eeglement
vom 30. December 1890 geschaffenen Anlageverfahren ist ein bureaukra-
tischer Charakter aufgeprägt; es fällt in die Competenz der Organe der
directen Besteuerung (agents des contributions directes), welche sich der
Mitwirkung der Gemeindevorstände (maires) zu bedienen haben. Bei
Differenzen holt der Director des directen Steuerdienstes die Entscheidung
des Präfecten ein, muss sich aber nicht mit ihr begnügen, sondern kann
an den Finanzminister berufen. Der Präfect verleiht den Steuerrollen die
Kraft eines Erkenntnisses (^arret) und damit die Executionsfähigkeit
(Art. 9—13 d. Regl.s«)
VI. Die Einbringung der Abgabe.
Die Einbringung der x\bgabe ist entweder eine freiwillige oder zwangs-
weise, ersteren Falles entweder eine rechtzeitige oder verspätete.
Zur rechtzeitigen Abstattung der Schuldigkeit bestimmt das Gesetz
einen oder, wenn es die Theilung der Schuldigkeit gestattet, mehrere
Termine. Das österreichische Gesetz verpflichtet zur Zahlung der Abgabe
bis Ende April des nächsten Jahres (§. 9); Kegierungs vorläge und erster
Ausschussbericht des Abg.-H. hatten die Frist mit Ende Jänner des Nachjahres
beantragt.^') — JnUngarn wurde dieserVorschlag im Jahre 1880 Gesetz(§.18):
aber die Novelle vom Jahre 1883 (§. 5) erweiterte den Termin bis Ende
October. Im deutschen Entwürfe gilt die quartalweise Entrichtung der
Abgabe als Regel; die Abstattung eines Jahresbetrages auf Einmal ist
hiedurch nicht ausgeschlossen (§. 12.^^) Frankreich begnügt sich mit
der Einhebung nach Zwölfteln; das Reglement richtet sich in der Haupt-
sache nach den Grundsätzen für die Einbringung der personnelle-mobiliere
80) S. ob. Anmkg. 11; SS. 34 u. 35 d. Bulletin.
s'j S. ob. Anmkg. 34 u. 35.
85) M a r c i n 0 w s k 1 S. 1 13 (ob. Anmkg. 2).
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Eiicksicht auf Oesterreicli-Ungarn. 593
(Art. 26 — 33). Andere Gesetze, so das schweizer Bundesgesetz (Art. 17) und
das bayerische i'Art. 12). überlassen die einschläsfio-en Anordnungen der
Yerordnungsgewalt.^^)
Wenig ausgebildet erscheint die Ahndung der zwar freiwilligen, aber
verspäteten Entrichtung. Das österreichische Militärtax-Eecht kennt
weder Ordnungsstrafe noch Verzugszinsen : das ungarische (§. 18) beo-ehrt
6% Verzugszinsen. Im französischen Gesetze (Art. 35, §. 6, Schlussalin.)
erwächst die Taxe, sobald der Eückstand drei aufeinander folgende Zwölftel
erreicht, zum Doppelten.
Für die zwangsweise Einbringung geben die allgemeinen Normen
über die Execution in Sachen öffentlicher Abgaben fast überall das Vorbild.
Diese geschieht entweder durch die Verwaltungsbehörde selbst oder mittelst
richterlicher Intervention; in Oesterreich speciell auf dem ersteren Wege,
demjenigen der sog. politischen Execution.
Theilweise wird bei Uneinbringlichkeit der Abgabe eine Um-
wandlung der Taxe in Arbeit ausgesprochen. So in Bern (§. 20; 1 Arbeits-
tag =172 Eres.), in Zürich (§.17: 1 Arbeitstag zz: 2 Eres.). Das Berner
Gesetz unterstützt übrigens die Einbringung durch die Anordnung der
richterlichen Verhängung des Wirtschaftsverbotes im Nichtzahlungsfalle.
Vor der Eheschliessung muss der Bräutigam dem Priester ausweisen, dass
er seinen Pflichtersatz bezahlt habe. (§§. 20 und 21.^^)
Bei den kleineren Beträgen bietet die ratenweise Abstattung eine un-
nöthige Erschwernis. Die Einforderung von Verzugszinsen genügt einem
doppelten Zwecke. Sie hält den Gläubiger für den Zwischengewinn schadlos
und stellt eine gewisse Sühne für die strafbare mora debitoris, besonders
dann, wenn das Ausmaass den normalen Zinsfuss überschreitet. Bedenklich
bleibt indes, dass die Verzugszinsen den Zahlungsfähigen und den Zahlungs-
unwilligen gleich treffen. Durch Ordnungsstrafe würde dieser Anstand zu
vermeiden sein. Die Zulassung der politischen Execution bedeutet die
Fortsetzung einer den Gläubiger ungewöhnlich begünstigenden Ausnahme,
für deren Nothwendigkeit ein Beweis noch nicht erbracht wurde.
VII. Die Rechtsmittel.
Rechtsmittel im eigentlichen Sinne sind Abhilfen gegen eine Ver-
letzung oder Verkennung eines Rechtes. Im uneigentlichen Sinne gehören
auch die zu Gunsten von Ansprüchen der Billigkeit, des jus aequum, offen-
stehenden Schritte zu den Rechtsmitteln.
Diese betreffen entweder eine das Ergebnis des Anlage Verfahrens
enthaltende Schlussfassung oder eine Verfügung im Zuge des Verfahrens.
Oft sind Beschwerden gegen Zwischenverfügungen mit der Beschwerde in
der Hauptsache zu verbinden.
8^) Marcin owski SS. 154 u. 143 (ob. Anmkg. 2)
9^^j Engel SS. 191 u. 192 (ob. Anmkg. 4).
594 Thieil.
Generelle Rechtshilfen, z. B. die Eeclamation (im zumeist üblichen
Verstande^^), kommen jedem Interessierten, nicht bloss dem Betroffenen zu;
individuelle, z. B. der Recurs, sind zumeist auf diejenige Person ein-
geschränkt, gegen welche sich die anzufechtende Maassregel unmittelbar kehrt.
Rechtsmittel-Instanzen sind theilweise unter Mitwirkung der Abgaben-
pflichtigen gebildete Commissionen, theilweise Staatsbehörden, selten
richterlichen Charakters.
Oesterreich lässt die Berufung *an die politische Landesstelle binnen
30 Tage ab intimato zu. Gegen deren abänderndes Erkenntnis besteht die
weitere Berufung an das Landesvertheidigungs-Ministerium (§. 8 d, Ges.).
Nach Erschöpfung dieses administrativen Rechtszuges erübrigt noch die
Beschwerde an den mit cassatorischer Competenz ausgestatteten Ver-
waltungs-Gerichtshof. Weder Berufung, noch Beschwerde hemmen die Ein-
bringung der Abgabe.
Im ungarischen Gesetze (§. 14) entspricht das Rechtsmittelver-
fahren den Eigenthümlichkeiten der bisher dort bestandenen Verwaltung.
Acht Tage liegen die Bemessungslisten zur öffentlichen Einsicht auf; binnen
weiteren 15 Tagen kann gegen dieselben an den Verwaltungsausschuss
der Jurisdiction (Comitat, selbständiges städtisches Municipium) appelliert
werden. Beschliesst dieser theilweise abweichend, so läuft eine neuerliche,
15tägige Frist zur weiteren Appellation. Hierüber entscheidet das Finanz-
Ministerium im Einvernehmen mit dem Landesvertheidigungs-Ministerium.
Der Vertreter des Staatsschatzes im Verwaltungsausschusse (Steuer-Inspector.
jetzt Mitglied der Finanz-Direction) hat die Pflicht, gegen Beschlüsse
dieses Ausschusses, welche das Gesetz oder das Interesse des Fiscus ver-
letzen, an das Finanz-Ministerium zu appellieren.
Nach der Theilüberschrift „Reclamation und Recurs'' vor §.13 des
deutschen Entwurfes wäre ein doppeltes Rechtsmittel anzunehmen; that-
sächlich spricht §. 13 selbst nur von Beschwerden schlechtweg. Sie
sind binnen 4 Wochen nach Kundmachung der Heberolle, bezw. nach
individueller Verständigung des Pflichtigen bei der Veranlagungs- Instanz
einzubringen und werden von der Bezirkssteuerbehörde des betreffenden
Bundesstaates entschieden. Binnen weiteren 4 Wochen steht eine zweite
Beschwerde an die, oberste Landes-Finanzbehörde offen. Deren Entscheidung
ist endgiltig. Die Beschwerden sind ohne aufschiebende Wirkung.
Dagegen laufen in den älteren schweizer Cantons- Gesetzen Recla-
mation und Recurs nebeneinander. Erstere ist eine Einsprache gegen die
Bemessungs-Erkenntnisse vor der Zahlung; letztere eine Beschwerde gegen
eine bezahlte Abgabe. Ueber jene entscheidet öfters eine Central-Commission.
über diese entweder der Staatsrath oder der Regierungsrath oder die Finanz-
Direction.^2) Das Bundesgesetz überlässt die Einrichtung der Rechtsmittel-
^^) Abweichende Anwendung des Ausdruckes, z. B. in schweizer Cantons-Gesetzen
und im französischen Reglement.
^'-) AVaadt ^rt. 10), Bern (§§. 13, 15 u. IG), Zürich (§§. 12—14), s. bei E n g e
SS. 190 fg. (ob. Annikg. 4).
Die Abgabe d. Welirdienstfreien mit besond. Rücksicht auf Oesterreich-Ungarn. 595
Instanzen den Cantonen nnter Oberaufsicht des Bundesrathes. welchem
zudem das Revisionsrecht gewahrt bleibt (Art. 12). Recurs-Instanzen sind
bald der Regierungsrath (z. B. Solothurn), bald der Staatsrath (z. B. Wallis).
Die Recursfrist beträgt 10, bezw. 14 Tage; die Frist für die eventuelle
weitere Appellation an den Bundesrath, z. B. in Wallis: 10 Tage (Art. 14
des Cantonal-Reglements).
Das französische Rechtsmittelverfahren folgt den einschlägigen für
die personnelle-mobiliere geltenden Normen. Der Einspruch (reclaraation )
des Taxpflichtigen, bezw. verantwortlichen Ascendenten geht an den
Präfecturrath; es ist auch die Anrufung (pourvoi) des Staatsrathes, der
obersten administrativen Rechtsmittel-Instanz zulässig (Art. 34 u. 39 d. RegL).
Die Wirkung des Rechtsmittels ist bis zu drei Zwölftel der Taxe auf-
schiebend. Dem Obsiegenden wird der zuviel gezahlte Betrag und ausserdem
soviel vergütet, als er im Falle des Unterliegens an Busse (Doppeltaxe) hätte
zahlen müssen (Art. 35, §. 6 des Gesetzes).
Bezeichnend erscheint im Allgemeinen die Anlehnung an die Rechts-
mittel des directen Steuerwesens, die Vermengung commissioneller und
rein bureaukratischer Rechtsmittel-Instanzen, der Ausschluss einer richter-
lichen Intervention, welche nicht einmal in reinen Rechtsfragen und auch
nicht für andere, vom ordentlichen Civilrißhter verschiedene, unabhängige
judicielle Factoren zugelassen wurde, der Mangel eines mündlichen und
öffentlichen Rechtsmittelverfahrens, mehrfach selbst der Mangel irgend
einer Ordnung der Rechtsmittel im Gesetze bei üeberweisung dieser
Ordnung an die vollziehende Gewalt.
VIII. Die Verjährung der Abgabe.
Das österreichische Gesetz (§. 10, AI. 3) wendet die Normen vom
18. März 1878, R.-G.-B. Nr. 31, betreffend die Verjährung der öffentlichen
Abgaben, auf die Militärtaxe an, eine Ergänzung, die auf Antrag des Abg.
Dr. Russ der Regierungsvorlage beigefügt wurde. Im ungarischen
Gesetze und im französischen Reglement fehlt eine besondere Aeusserung
über die Verjährung der Taxe, beide (§. 19, bezw. Art. 26) beziehen
jedoch die für die directen Steuern, bezw. Personalsteuern geltenden Ein-
bringungs -Normen im allgemeinen. Ausdrückliche Specialbestimmungen
über die Verjährung enthalten das schweizerische ßundesgesetz und der
deutsche Entwurf. Ersteres setzt die Frist für Landesanwesende auf 5,
für Landesabwesende auf 10 Jahre, vom Ablaufe des Fälligkeitsjahres an
gerechnet, fest (Art. 11). Letzterer bestimmt eine vierjährige Verjährung, vom
selben Termine an gerechnet, d. h. nach Ablauf des Steuerjahres, in welchem
die jüngste Aufforderung dem Steuerpflichtigen zugestellt, die Zwangsvoll-
streckung verfügt worden oder die bewilligte Frist abgelaufen war (§. 16.^^)
Es ist aber eine Verjährung des Einforderungsrechtes, nicht des Bemessungs-
rechtes darin bekundet; eine Nachforderung (Nachtragsvorschreibung) findet
3) S. bei Marcin owski, SS. 120 u. 153 (ob. Anmkg. 2).
596 Thierl.
nur für das Steuerjahr statt, in welchem dieselbe geltend gemacht wurde.
Diese Aufnahme einer sehr kurzen Präclusivfrist — an Stelle einer Ver-
jährungsfrist — , sowie das Verbot einer Reformatio in peius schützen den
deutschen Entwurf vor dem Verdachte fiscalischer Begünstigung des
Staatsschatzes.
In dem berufenen österreichischen Verjährungsgesetze vom 18. März 1878
herrscht die Unterscheidung zwischen Verjährung des Einforderungs- und
des Bemessungsrechtes. Die Fristen betragen 6 Jahre, bezw. 4 Jahre (für Stempel
und unmittelbare Gebüren 6. bezw. 5 Jahre). Eine Verjährung des Bemessungs-
rechtes ist natürlich dem bürgerlichen Eechte fremd; die civile Präscription
zielt nur auf die Einforderung ab. Begründet wird die Besonderheit durch den
Unterschied, welcher bezüglich der Nascenz der finanzrechtlichen und der
bürgerlich rechtlichen Obligatio obwaltet. Diese empfängt zumeist aus dem
Vertrage u. s. w. ihre für beide Theile abschliessende Bestimmung, während
jene gewöhnlich einer speciellen Constatierung ihrer Nascenz durch eine
Aeusserung der Staatsbehörde (als Vertreterin des Gläubigers) über Fällig-
keit und Umfang der Belastung, d. i. durch einen Zahlungsauftrag, bedarf.
Erst hiedurch wird der Steuerträger verbunden, zu zahlen, obwohl seine
Leistungspflicht bereits vordem durch das Gesetz und den Eintritt der
subjectiven, wie objectiven Voraussetzungen des Gesetzes gegeben war.
Das österreichische Gesetz lässt hemmenden und unterbrechenden
Einflüssen Raum. — Hieher zählt die Heranziehung des Abgabenpflichtigen
zur persönlichen Dienstleistung, aus dem praktischen Grunde, weil solche
Individuen aus der Evidenz der für die Beitreibung der Abgabe bestimmten
Behörden gerathen und bei ihnen eine rückständige oder noch vorschreib-
bare Wehrsteuer schwierig einzubringen ist. Bei dem Mangel dringender
Nothwendigkeit auf Seiten des Staatsschatzes, sowie eines Verschuldens auf
Seiten des Abgabenpflichtigen genügt für die Regel die schwächere Wirkung
der Hemmung (Analogie des §. 1496 des österr. allgem. bürgl. Ges. B.).
IX. Verrechnung und Verwendung d e r A b g a b e.
Verrechnung und Verwendung der Abgabe stehen in einem inneren
Zusammenhange. Die Verwendung der Abgabe für genau umschriebene
Zwecke der öffentlichen Fürsorge hat dazu geführt, dass eine besondere
Verrechnung der Abgabe ausserhalb des Rahmens des Budgets in Erwägung
gezogen wurde. Es war beabsichtigt, aus den Eingängen der Abgabe einen
Fond zu bilden; die Gebarung der sonstigen öffentlichen Fondsbeiträge
geschieht in gewissen Staaten ohne budgetäre Controle; folglich analoger-
weise auch die Gebarung der Abgabe der Wehrdienstfreien.
Hieran knüpfen sich mehrere Fragen von Belang. Erstens, ob die
fondsmässige Aufspeicherung der Abgabe nothwendig oder auch nur zweck-
dienlich ist, eventuell zweitens ob die Ausscheidung der öffentlichen Fonds-
beiträge überhaupt aus dem Budget mehr als hergebracht, nämlich durch
das Wesen derselben begründet erscheint, endlich drittens, ob die analoge
Beliandlung der Abgabe sich rechtfertigen lässt.
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Rücksicht auf Oesterreich-Ungarn. 597
Die Gründe für die fondsmässige Aufspeicherung der Abgabe ergeben
sich aus der Verwendung der letzteren. Wird die Abgabe für gewisse,
derzeit noch nicht vorhandene, aber zu irgend einer künftigen Zeit unab-
Aveisliche Bedürfnisse der Verwaltung, wie z. B. die Unterstützung der
Familien der Mobilisierten, gewidmet, so gewährt die Ansammlung der Ein-
gänge die Bürgschaft, dass bei dem Eintritte des Bedürfnisses die Mittel
zur Befriedigung bereit sein werden.
In der österreichischen Kegierungsvorlage (§. 5) waren als Ver-
wendungsziele der Militärtaxe angeführt: 1. die Aufbesserung der Invaliden-
Versorgung. 2. die Versorgung der hilfsbedürftigen Witwen und Waisen
der vor dem Feinde Gefallenen, bezw. den Kriegsstrapazen Erlegenen, 3. die
Unterstützung der hilfsbedürftigen Familien der Mobilisierten. Diese sind
es auch im Gesetze geblieben. Der Unterschied liegt nur darin, dass nach
der Vorlage (§. 6) der ganze Ertrag der Taxe in einen Fond fliesst, welcher
vom Finanzminister ohne budgetäre Controle verwaltet wird und von welchem
ein specieller Theil — mit einem Jahreszuschusse von 1,142.530 fl. — für
die sub 1. und 2. bezeichneten Zwecke vorbehalten wird, während das
Gesetz (§. 11) die ganzen Abgabeneingänge in den Staatsvoranschlag ein-
stellen lässt, hieven den obigen Betrag für die sub 1. und 2. bezeichneten
Zwecke einem Fonde zuführt, dessen Kechnungsabschluss dem Reichsrathe
jährlich zur Genehmigung vorzulegen ist (§. 14), und den Rest als allge-
meine Staatseinnahme behandelt. Dafür übernimmt der Staat die Verpflich-
tuno- hinsichtlich des sub 3. bezeichneten Zweckes aus den laufenden
Staatseinnahmen vorzusorgen.
Letztere Unterstützungen finden ebenso, wie die Aufbesserung der
Invalidengenüsse im Gesetze (§§. 15, 17—23) ihre ausführliche Regelung;
die Versorgung der Witwen und Waisen der Gefallenen etc. bleibt einer
besonderen gesetzlichen Regelung anheimgestellt (§. 16).
Das ungarische Gesetz weicht von dem österreichischen darin ab,
dass es auch die Unterstützung der hilfsbedürftigen Familien von Mobili-
sierten erst durch ein künftiges Gesetz regeln lässt (§. 9 d. Ges.
V. J. 1880).
Für beide Reichshälften werden die Ruhegenüsse der Invaliden percen-
tuell erhöht, soferne sie aus der Zeit vor dem Pensionsgesetze vom 27. De-
cember 1875, R.-G.-Bl. Nr. 158, bezw. Ges.-Art. LI ex. 1875, stammen:
die nach diesen Gesetzen Versorgten können nur die gnadenweise Ver-
leihung von Zulagen erwirken. Nach den diesseitigen Normen bezieht die
Familie der Mobilisierten eine Un t erh altsgeb ür, welche für den Kopf
der Höhe der Militär-Durchzugsverpflegung gleichkommt und eine Unter-
kunft sgeb ür, gleich der halben Unterhaltsgebür ; für Kinder unter
8 Jahren erhält sie nur die Hälfte: insgesammt nicht mehr als den durch-
schnittlichen Tagesverdienst des Einberufenen.
Nach dem W a a d 1 1 ä n d e r Cantonsgesetze dient der Ertrag des Militär-
pflichtersatzes der Ausrüstung der Truppe (Art. 9), nach dem schweizer
Bundesgesetze (Art. 14, AI. 3)in einer vom Bundesrathe zu bestimmenden
598 Thierl.
Quote des halben Brutto-Ertrages, welcher der Bundescasse zufliesst,^^)
zur „Aeufimiig- des Militär-Pensionsfondes.
Dem deutschen Entwürfe ist eine Weisung über die Verwendung
der xlbgabe fremd. Im Laufe .der Debatte, welche die mannigfachsten
Gesichtspunkte bot, w^urde seitens des Keichs-Schatzsecretärs Scholz der
Vorsorge gedacht, welche für die bedürftigen Familien zum Dienste ein-
berufener Keserve- und Landwehr- Männer in Preussen durch das Gesetz
vom 27. Februar 1850. im norddeutschen Bundesgebiete seit 7. November
1867, für die der Ersatzreservisten seit 8. April 1868 getroffen ist.
Frankreichs Gesetz und Italiens Entw^urf bestimmen die Ab-
gabeneingänge zur Bestreitung der Dienstesprämien für die freiwillige
Verlängerung der activen Dienstzeit.
Erschöpfend sind die erwähnten Verwendungsarten keineswegs. Von
ihnen bis zu dem Ziele, welches Knies und G. Cohn durch ihre theore-
tischen Ausführungen in den Gesichtskreis der Mitzeit gerückt, bis zur
Entschädigung der persönlich Dienenden für ihre Dienstleistung oder doch
für die daraus entstandene wirtschaftliche Einbusse. ist ein weiter Weg.
Welchen praktischen Schwierigkeiten man auf demselben begegnet, dafür
geben Lesigang's Versuche, Kegeln für die Ausmittlung der Entschädigung
aufzustellen, Zeugnis.
Eine fondsmässige Aufspeicherung der Abgabe hat bloss in dem
Sinne eine Berechtigung, dass hiedurch ein Nothpfennig für den Fall des
Krieges und des damit gegebenen plötzlichen und ungeheueren Anschwellens
der Entschädigungsansprüche geschaffen wird. Freilich dürfte dieser Noth-
pfennig nur für den ersten Anprall zureichen: das Uebrige müssen doch
die allgemeinen wirtschaftlichen Kräfte des Staates aufbringen. Den ge-
summten. Ertrag der Abgabe zu fondieren, erscheint, soferne nur einiger-
maassen namhafte Entschädigungsansprüche im Frieden zu gewärtigen sind,
unthunlich.
Die Verrechnung der Abgabe in Oesterreich-Ungarn erfolgt grund-
sätzlich in der Weise, dass der ganze Ertrag als Bedeckung unter die
Staatseinnahmen und ein vereinbarter Theilbetrag als Zuschuss zum Militär-
tax Fonde unter die Staatsausgaben eingestellt wird. Letzterer Theilbetrag belief
sich für die Reichshälfte w^estlich der Leitha bis 1882 auf 1,142.330 Gulden,
nachher auf 1,171.465 Gulden ö. W. : die östliche Eeichshälfte leistet den
auf 2 Mill. Gulden fehlenden Rest. Der Ueberschuss über den Fondsbeitrag
wurde in der östlichen Reichshälfte bedeutend (ca. 2V2 Mill. Gulden), in
der westlichen, wenn überhaupt vorhanden, winzig budgetiert; öfters war
eine Ergänzung der Eingänge auf den Fondsbeitrag aus den übrigen Staats-
einnahmen vorgesehen.
Nicht völlig klar ist die staatsreclitliche Stellung des Militärtaxfondes
die abgesonderte Verwaltung durch die Finanzminister beider Reichs-
hälften, das jedem der beiden Landesvertheidigungs- Minister zustehende
^^) Die andere Hälfte den Cantonen: Art. 14 Bund. -Ges.. s. b. M a r c i 11 o w s k i
S. 154 (oh. Anmkcr. 2).
Die Abgabe d. Wehrclienstfreien mit besond. Eücksicbt auf Oesterreich-Ungarn. 5V)9
Verfügimgsrecht. sprechen sehr gegen den Bestand eines gemeinsamen
Fondes. Doch ist durch die Anordnung, wornach beide Eeichshälften jälir-
lich eine Hauptsumme von 2 Mill. Gulden zusammensteuern, wornach die
Verfügungen des Landesvertheidigungs- Ministers im Einverständnisse mit
dem Keichskriegs- Minister getroffen werden sollen, endlich durch die Ein-
beziehung der aus dem gemeinsamen Heeres-Etat versorgten Invaliden eine
engere Verbindung zwischen den Fonden beider Eeichshälften geschaffen.
Eine ausserbudgetäre Behandlung der Abgabeneingänge kann, wie
das Beispiel Oesterreich- Ungarns zeigt, nicht für eine nothwendige Folge
der Fondsbildung angesehen werden; sie verstösst sogar gegen die allge-
meinen Grundsätze über die Verrechnung der öffentlichen Einnahmen. Ob
eine solche Behandlung bei Fondsbeiträgen anderer Art hergebracht ist
oder nicht, bleibt demnach für die Abgabe der Wehrdienstfreien belanglos.
Anderwärts gebricht es an ähnlichen Normen über die Verrechnung
der xibgabe. Der deutsche Entwurf (g. 20) weist den Reinertrag — nach
Abzug der Eückvergütungen, der Erhebungs- und Verwaltungskosten — den
Bundesstaaten zu: nach dem schweizer Bundesgesetze (§. 14, Alin. 2)
liefern die Cantone von dem Brutto -Ertrnge die Hälfte an die Bundes-
casse ab.
X. Strafen.
Solche Vorkehren zum Schutze des Gesetz Vollzuges finden sich in
einfacher Form schon in den älteren Cantonsgesetzen der Schweiz. So
im Berner (§. 18) in Gestalt einer Abgabenverdoppelung bei Steuerentzie-
hungen, im Züricher (§. 20) in Gestalt einer Ahndung nachlässiger Functio-
näre durch Vorenthalt der gesetzlichen Tantiemen (1 — 3 Proc.j.
Die bezüglichen Mängel des Bundesgesetzes werden durch Bestim-
mungen der cantonalen Reglements wenigstens theilweise ersetzt; so belegt
AVallis (Art. 22 und 23) nachlässige oder rechtswidrig zu Gunsten der
Parteien vorgehende Gemeinde-Organe mit einer Busse von 10 — 100 Frcs..
Hinterzieher der Abgabe mit einer solchen von 20 — 50 Frcs.^^)
Seitens des deutschen Entwurfes (g. 19) werden Geldstrafen für
Zuwiderhandlungen bis zu 300 Mk. in Aussicht genommen. Eine Umwand-
lung in suppletorische Freiheitsstrafe findet nicht statt. Die Verjährungs-
frist für die Strafverfolgung beträgt, wie für die Strafvollstreckung, fünf
Jahre. '^") In formeller Beziehung gelten ungefähr die sonstigen Grundsätze
des deutschen Steuerstrafrechtes (§g. 465 — 469 dtsch. Eeichs-Strafprocess) :
es greift die richterliche Entscheidung Platz, soferne sich nicht der Beschul-
digte mit der in der Eegel eintretenden, vorläufigen Festsetzung der Geld-
strafe durch die Bezirkssteuerbehörde zufrieden gibt.
In Ungarn werden Taxpflichtige, welche vorgeschriebene Anzeigen
über ihre Personalverhältnisse unterlassen, abgeforderte Daten nicht recht-
zeitig einliefern, ohne Taxzahlung und ohne Erlaubnis aus ihrer Domicils-
^'^) Marcinowski SS. 161 fg. (ob. Anmkg. 2).
^ö| Nach §^. C)7, bezw. 70, Z. 5 d. dtsch. Rdis.-Straf-Ges.: 3, bezw. 5 Jahre.
600 Thierl.
Gemeinde sich entfernen, mit dem Drei- bis Sechsfachen der Abgabe belegt.
Wegen mangelhafter Evidenzhaltung oder Nachweisung treifen die Gemeinde-
Vorstände und Bezirksstuhlrichter Bussen von 5 — 50 11. Unterlassen Eltern,
Vormünder, Gattinnen die vorgeschriebene Todesanzeige bezüglich des
Taxpflichtigen, so ist dies mit einer Strafe von 1 — 5 fl. zu ahnden. Bei
Uneinbringlichkeit tritt Umwandlung in Arrest ein ; ein Tag wird gleich
zehn Gulden Strafe gerechnet (Maximum: 30 Tage). Die Strafcompetenz
kommt dem Steuer -Inspector, bezw. seit 1889 der Finanz -Direction zu
(§§. 20-22 d. Ges. v. J. 1880).
Das französische Eecht kennt nur die Taxverdoppelung bei
Saumsal, sobald drei Zwölftel rückständig geworden sind (§. 6 des Art. 35
des Wehrgesetzes, Art. 13 und 28 des Eeglements).
Jeder Strafbestimmung entbehrt das österreichische Militärtax-
Gesetz. Es erübrigen hier nur die den politischen Behörden zustehenden
allgemeinen Rechtsmittel zur Erzwingung des Gehorsams gegen amtliche
Weisungen.
Die Nothwendigkeit der Aufnahme von Strafsanctionen in Wehrsteuer-
Gesetze beruht nicht auf der Besonderheit der hier möglichen Zuwider-
handlungen, sondern auf dem Mangel einer gehörig ausgebildeten admini-
strativen Strafgesetzgebung, Avelche für viele im W^esentlichen gleichartige
Fälle von Defrauden, bezw. Ungehorsam durch einige wenige bewegliclie
Strafsätze ausreichend Vorsorgen könnte. Jedenfalls bedürfen die Haupt-
fragen, betreffend die Sicherung der Steuerwilligkeit der Abgabenpflichtigen
und der pflichtgemässen Obsorge der Hilfsorgaue, betreffend die Zulassung
von Freiheitsstrafen, betreffend die richterliche Competenz, insbesondere bei
Freiheitsstrafen, betreffend die Rechtsmittel gegen den Strafentscheid, dann
die Verjährung, eines Austrages.
Zweiter Theil.
Zup Theorie den Abgabe.
Der Gedanke der Ausgleichsbelastung im weitesten Sinne des
Wortes findet sich in allen theoretischen Auffassungen der Abgabe wieder.
Am schwächsten in der Theorie des Aequivalentes und in der Gebüren-
Theorie, deshalb, weil diese vom Standpunkte der öffentlichen Verwaltung
ausgehen und die Frage aufwerfen, was dem Staate bei den Wehrdienst-
freien entgeht, bezw. welche Amtshandlungen derselbe im Interessenkreise
des Letzleren vornimmt. Ueberall sonst steht aber der Standpunkt der
Wehrpflichtigen, bezw. der Wehrdienstfreien im Vordergrunde und mit ihm
die Erwägung, dass diese gegenüber ihren wehrdienstpflichtigen Mitbürgern
leichter belastet erscheinen. Nur die hieraus gezogene Folgerung differenziert
sich: bald wird die Ergänzungsbelastung der Wehrdienstfreien, bald die
Entschädigung der Wehrdienstpflichtigen hauptsächlich betont. Unter den-
jenigen, welche die ersteren fordern, haben manche die durch die Wehr-
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Rücksicht auf Oesterreich-Ungarn. 60 1
dienstleistung bewirkte Beeinträchtigung der privaten — wirtschaftlichen
oder persönlichen — Interessen, manche die Beeinträchtigung der Steuer-
lahigkeit im Auge. Vereinzelt wird der Gedanke gestreift, dass die Abgabe,
auch lediglich wehrpolitisch betrachtet, ein Postulat der Gerechtigkeit sei.
Keines dieser nach einer Kichtung ausblickenden Urtheile erfasst die
Aufgabe der Wehrsteuer vollständig. Die Ausgleichung, welche die letztere
von Gerechtigkeitswegen schaffen soll, muss vielmehr allen diesen Exigenzen
insgesammt genügen: sie muss eine sociale, finanzielle und militärische
zugleich sein.
I. Die militärische Ausgleichung.
In dem Wesen der persönlichen Wehrdienstpflicht liegt der natürliche
Ausgangspunkt für die Theorie der Wehrsteuer. Die allgemeine Wehrpflicht
fordert es, dass ihre Last allen Bürgern gegenüber zur Geltun g gebracht
werde. Wo dies aus irgend welchen Gründen nicht geschieht, entsteht eine
Ungleichheit, welche den Charakter dieser Wehrpflicht verletzt. Zur Aus-
gleichung dieser Ungleichheit ist die Abgabe der Wehrdienstfreien berufen.
Sie bedarf daher einer Einrichtung, welche dem militärischen Momente
Genüge leistet, ohne der socialen und finanziellen Exaequation zii vergessen.
Sowohl aus der historischen Betrachtung, als aus der Einzelbeobachtung
staatlicher Phänomene ergibt sich, dass die natürliche Kraft des Menschen
zuerst in den Dienst der Vertheidigung seiner Güter gestellt wird, die
Einziehung sachlicher Beisteuern in eine spätere Periode fällt. Die per-
sönliche Dienstleistung ist somit das Primäre im Wehrwesen, die Abgaben-
leistung der Wehrdienstfreien das Secundäre, ein Correlat für den Fall der
Nichterfüllung der persönlichen Dienstpflicht.
Die ursprüngliche und zugleich ideale Gestaltung des Wehrdienstes
ist das freiwillige Eintreten Jedes für Jeden, aller Männer einer bestimmten
Altersstufe für die Gesammtheit. Seither ist die völlig freiwillige Leistung
des persönlichen Dienstes die Ausnahme geworden; der Antrieb hiezu hat
durch die Gewöhnung an friedliche Beschäftigung und durch die Zeit der
geworbenen Heere ungemein abgenommen, die Fähigkeit der Bürger, den
physischen Anforderungen des Soldatenstandes zu entsprechen, ist gemin-
dert, ein Bedürfnis des Gemeinwesens, alle Bürger unter Waffen zu haben,
nicht vorhanden.
Dem Mangel des Antriebes zum freiwilligen Einsätze der Persönlich-
keit begegnet das Gemeinwesen durch den Zwang. Wer sich nicht bis zu
einem gewissen Termine freiwillig meldet, kann zur persönlichen Dienst-
leistung genöthigt werden. Bei den physisch Untauglichen und den Ueber-
schüssigen entfällt diese Nöthigung; die Allgemeinheit der Wehrpflicht
erheischt hier ein SuiTOgat. Nämlich ein Opfer, welches 1. durch sie
geleistet werden kann, 2. gleichfalls im Interesse der Staats Avelir liegt,
3. von ihnen, wenigstens annähernd als eben so schwerer Druck empfunden
wird, wie der persönliche Waffendienst von der Mehrzahl der dadurch
Betroffenen.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung, IV. Heft. • ?,r'
602 Thierl.
Das Opfer sollte ein gleichwertiges sein; doch nur der Einsatz der
ganzen Persönlichkeit wäre ein solches. Für gewöhnlich vermag es den
normalen persönlichen Beschränkungen und wirtschaftlichen Nachtheilen des
Waffendienstes nur nahezukommen. Es ist entweder ein persönliches oder
ein sachliches.
Persönliche Dienstleistungen im Interesse der Staatswehr, jedoch
ausserhalb der Waffen, finden oft statt, führen jedoch fast nie zu einer
entsprechenden Benützung der Arbeitskräfte des Individuums und nehmen
dieses auch intensiv viel weniger in Anspruch, als den Waffendienst. Nur
bei sachlichem Unvermögen bilden sie einen passenden Ersatz.
Sachliche Leistungen lassen nur schwer einen Yergleichungs-
I^Iaasstab gegenüber dem Waffendienste entdecken. Vielfach werden die
mit dem letzteren verbundenen Lasten in persönliche und sachliche
zerlegt. Erstere, nämlich die persönliche Willensbeschränkung und die
Ertragung vitaler Gefahren gelten als unschätzbar. Bei den sachlichen
Lasten, den wirtschaftlichen Nachtheilen der Wehrdienstleistenden, fehlt der
logisch begründete Uebergang zum generellen Steuerfusse.
Die gemeinhin angenommene Unschätzbarkeit der persönlichen Lasten
leidet indes eine Anfechtung. Gewiss ist eine Schätzung nach der Formel
einer Gleichung unmöglich. Aber bei einer gewissen Höhe des Geld-
opfers sind die meisten Menschen geneigt, die Alternative zwischen dem
Vermögensnachtheile und einer persönlichen Last ernstlich in Betracht zu
ziehen. Diese Grenze verschiebt sich nach der Härte des persönlichen
Druckes, der Wahrscheinlichkeit des Eintrittes der Gefahr einerseits, der
ökonomischen Kraft des Betroffenen andererseits. Dafür, dass die Aufer-
legung von Geldopfern für Beeinträchtigungen idealer Güter, wie Ehre,
Unverletztheit u. a. der Volksethik nicht widerspricht, liefern viele Poenen
des bürgerlichen Rechtes, im besonderen die Sühnen des alten, deutschen
Rechtes, die Genugthuung für Schimpf und Schaden nach englischem
Rechte, hinlänglichen Beweis. Niemand soll sich unter dem Schilde der
Unschätzbarkeit idealer Güter an diese ungestraft heranwagen dürfen. Nicht
eine verächtliche Gleichstellung der idealen Güter mit einer jDestimmten
Summe Geldes, sondern eine besondere Wertschätzung dieser Güter prägt
sich also in der Verhängung der Geldopfer aus.
Für den Anschlag des Ersatzopfers entscheidet nicht, dass der
Waffendienst eine Ehrenpflicht ist, welche Jedermann mit Begeisterung auf
sich nehmen sollte. Maassgebend sind die thatsächlichen Verhältnisse. Die
grosse Masse des Volkes fühlt den Waffendienst als Zwangsdienst und
würde sich, wenn im Besitze der erforderlichen Mittel, gerne von seinem
Drucke durch eine angemessene Geldleistung befreien. In dieser letzteren
läge wirklich eine Selbstschätzung aller — persönlichen wie sachlichen —
Lasten des Dienstes, ein einheitliches Maass für den gesammten Be-
lastungsdruck. Gelänge es ein Beispiel dieser Selbstschätzung für einen
einzelnen Fall zu finden, so wäre die Feststellung des generellen Füssen
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Rücksieht auf Oesterreieh-Ungarn. (303
der Abgabe angebahnt. Eine Sonderung von persönlichen und sachlichen
Lasten des Waffendienstes würde ganz entbehrlich.
Die theoretische Behandlung der Abgabe hat nun wiederholt auf
ein solches Beispiel einer Selbstschätzung verwiesen, indem sie an die
Stellvertretungskosten erinnerte. Mehrfach wurde in diesen Kosten ein
sehr genaues Maass der durch den persönlichen Dienst bewirkten, auf dem
Wege des Soldes nicht ausgeglichenen Belastung erblickt, ganz nach dem
Ansprüche J. B. Say's „La conscription militaire peut se mesurer par le
prix du remplacement". Eine so weitgehende Auffassung konnte nicht ohne
Widerspruch bleiben. Jelly ^^) entdeckte in ihr eine unzulässige Verwechs-
lung von Gebrauchs- und Tauschwert. Der erstere möge beim Stellvertreter
und bei irgend einem anderen Soldaten der gleiche sein, da der Staat
beiläufig von jedem dasselbe fordere, nicht aber der „Tauschwert", der
Verkehrswert.
Mit dem gebotenen Beispiele würde sich indes das Auslangen linden
lassen, wenn man vorerst annehmen dürfte, dass die Stellvertretungskosten
für eine gewisse, in ihren wirtschaftlichen Verhältnissen annähernd bestimm-
bare Classe von Bürgern einen generellen Maasstab der Vergütung dessen
bilden, was sie an Lasten durch die freiwillige Unterwerfung unter die
Pflicht des Wehrdienstes zu gewärtigen haben. Zu dieser Feststellung kann
man nur durch eine statistische Untersuchung der Stellvertretergruppe nach
den ökonomischen Merkmalen gelangen. Es ist zu vermuthen, dass Per-
sonen auf einer gewissen ökonomischen Stufe im Falle der freien Wahl
zwischen Loszählung vom Dienste und Empfang der Stellvertreterprämie
noch für diese optieren, weil sie bei ihren wirtschaftlichen Verhältnissen
keine Sicherheit besitzen, dass es ihnen gelingen werde, in der nämlichen
Zeit einen gleich hohen Capitalsbetrag zu ersparen. Diese ökonomische
Stufe, deren Vertreter aber nicht vereinzelt vorkommen dürfen, stellt die
obere Grenze und damit zugleich den Vergleichungsfactor dar; es heisst
z. B.: für Einkommen von 300 fl. bildet die Stellvertreterprämie von 450 fl.
noch eine hinreichende Entschädigung.
Nun kann es nicht genügen, zu wissen, dass Leute auf einer gewissen
ökonomischen Stufe in einem bestimmten Capitalsbetrage (der Stellvertreter-
prämie), welche sie sonst kaum zu ersparen vermöchten, eine hin-
reichende Entschädigung für solche persönliche und sachliche Opfer finden.
Man müsste vielmehr feststellen, ob die ökonomisch besser Gestellten im
Falle freier Wahl für eine* derartige — verhältnismässig gesteigerte —
Entschädigung optieren würden. Selbstverständlich sind bei der Einzel-
beobachtung alle abnormen Fälle ausgeschlossen. Die Frage geht dahin:
wenn sich unter denjenigen, welche die Stellvertreterprämie von 450 fl.
annehmen, eine genügende xinzahl mit dem Maximaleinkommen z. B. von
300 fl. ausmitteln lässt, ist es wahrscheinlich, dass auch Personen mit
einem Einkommen von 3000 fl. — u. zw. nicht vereinzelt — den persön-
97) S. ob. Anmkg 21 (S. 325).
39^
604 Thierl.
liehen Wehrdienst gegen irgend eine Entschädigung, bezw. eine solche von
4500 fl. oder 9000 fl. antreten würden? Grundsätzlich hätte die Antwort
bejahend zu lauten.
Gewiss ist, dass, wenn es möglich wäre, sich durch den Erlag eines
gewissen Ersatzgeldes vom persönlichen Dienste zu lösen, diese Personen
einen weit höheren, wahrscheinlich mehr als den zehnfachen Betrag dessen
opfern würden, wozu sich die Personen mit Einkommen von 300 fl. verstehen
wollten. Begreiflicherweise; denn mit dem erübrigenden Beste vermöchten
jene ihre Bedürfnisse noch immer ausgedehnter zu befriedigen als diese.
Es tritt also das Princip der Proportionalität, erweitert durch
Progression, in Wirksamkeit.
Indess nicht ein Maasstab selbst, sondern nur ein Mittel, zu einem
solchen zu gelangen, ein erster, roher Anhaltspunkt sind die Stellvertretungs-
kosten. Sie sind auch nicht das einzige derartige Mittel, sondern höchstens
das bequemste, weil sie bis in die letzten Jahrzehnte hereinreichen, für
welche statistisches Materiale verfügbar ist. Ohne eine mehrfache Umformung
eignen sie sich schwerlich zu irgend welcher Anwendung. Es muss Bedacht
genommen werden auf die Aenderung der Kaufkraft des Geldes, auf die Erhöhung •
der Einkommen gleichstehender ökonomischer Stufen, auf die Verschiebungen
in der Dauer und im Inhalte des Wehrdienstes. Eine Reduction der Prämie
auf das heute angemessene Ausmaass würde einerseits eine Steigerung,
andererseits eine Herabminderung bedingen. Die Aenderung der Kaufkraft des
Geldes und die Erhöhung der Einkommen gleichstehender ökonomischer
Stufen brauchen sich hierbei nicht zu compensieren: für ein als passend
gewähltes Mitteljahr lauten möglicherweise die Verhältniszahlen 2 : 1 und
5 : 8. Bei den Verschiebungen hinsichtlich Intensität und Extensität des
Wehrdienstes kommt die Kürzung der activen und Reserve- bezw. Landwehr-
Dienstzeit überhaupt, dann der activen Dienstzeit (einschliesslich der
Waffen Übungen in der Reserve und Landwehr) speciell in Betracht. Für das
gewählte Mitteljahr erstreckte sich z. B. letztere auf 10 Jahre: heute beträgt
sie 3 Jahre und 4 Waffenübungen zu je 4 Wochen, also beiläufig das
Drittel von früher. Die reducierte Prämie ergibt sich hiernach mit — ^r—
o
. f 300 fl. X 8 I
= 300 fl. für das entsprechende Einkommen von 480 fl. = — —
i ^ )
Auf zwölf Jahre ^^) vertheilt, mit Rücksicht auf Zinsen und Zinseszinsen,
berechnet sich die Leistung im ersten Jahre auf fl. 14*6, in den folgenden
auf 15-2, 16, 16-8, 17-6, 18'o, 19*4, 20-4, 21-5, 22-6, 23-7, 25 fl.. im
Durchschnitte fl. 17-6' d. i. 3-667o von 480 fl. Nach diesem Beispiele,
dessen Unübertrefflichkeit nicht im entferntesten behauptet wird, ist S-Gö*^ „
der normale Steuerfuss für Einkommen von 480 fl., also ca. 500 fl. Zu
einer Ausmittlung der Progression, bezw. Degression des Steuerfusses
fehlt es an besonderen Anhaltspunkten. Es verdient nur hervorgehoben zu
^) 3 Jahre activ, 7 Jahre Reserve, 2 Jahre Landwehr.
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Rücksicht auf Oesterreich-üngani. 605
werden, class die Grundziffern dieser Berechnung das sociale Moment der
Ausgleichung bereits sehr stark berücksichtigen, denn die Stellvertreter-
Prämie ist ihrer Natur nach auch eine Entschädigung für die socialen Nach-
theile, welche die privatwirtschaftliche Entwicklung des Individiums durch
seine Heranziehung zum persönlichen Dienste erfährt. Diese Berücksich-
tigung müsste indess, früher oder später, vom Standpunkte der socialen
Ausgleichung, bei der Wehrsteuer ohnehin erfolgen.
IL Die sociale Ausgleichung.
Kein Moment der Abgabe der Wehrdienstfreien hat in der Literatur
soviel Beachtung gefunden, als die sociale Ausgleichung. Begreiflicherweise.
Es liegt auf der Hand, dass diejenigen, welche der W^ehrpflicht genügen,
gewisse Einbussen an ihrem Vermögen, an ihrem Einkommen erleiden. Um
bei der Gütervertheilung die übrigen nicht zu begünstigen, müssen diesen
Abzüge an ihrem Vermögen, bezw. an ihrem Einkommen gemacht werden,
und zwar unmittelbar oder mittelbar zu Gunsten der Waffendienste Leistenden.
Wenn die Abgabe eine volksthümliche Seite besitzt, so ist es diese.
Die so geschaffene Ausgleichung erscheint nicht als sociale im eigent-
lichen Sinne, denn die Wehrlast berührt nicht die Vertheilung der Güter
unter die verschiedenen Classen der Gesellschaft. Aber indem sie alle
socialen Classen durchschneidet, schafft sie in der grossen Erwerbsgesell-
schaft des Gemeinwesens einen Gegensatz von wirtschaftlich Begünstigten
und wirtschaftlich Benachtheiligten, dessen Behebung zum Mindesten ein
quasi sociales Werk darstellt.
in. Die finanzielle Ausgleichung.
In der Theorie, zumal durch die schematischen Ausführungen
F. J. Neumann's ziemlich vollständig erfasst, ist dieses Moment in der
praktischen Ausgestaltung missverstanden worden. Weniger vorsichtige
Erklärungen, wie z. B. jene des Reichs-Schatzsecretärs v. Scholz, ^^) nährten
die Vorstellung, dass schlechtweg nur das Bestreben, die Staatseinnahmen
zu vermehren, obwalte. Gerade für das Moment der finanziellen Ausgleichung
ist diese Einnahmenvermehrung belanglos; denn das berührte Moment
schlägt nur an die Grundsätze der Vertheilung der Abgaben. Zwei
gleiche Reineinkommen, von denen das eine einem Wehrpflichtigen zugehört,
sind nicht gleich steuei kräftig. Wer persönlich gedient hat, erwirbt schwieriger,
als derjenige, welcher, durch keine militärische Dienstleistung gehemmt,
seiner Erwerbsthätigkeit ununterbrochen nachgehen konnte. Entweder müssen
sich die Wehrdienstfreien einen Zuschlag gefallen lassen, oder denen, welche
Wehrdienst geleistet haben, wird an der gewöhnliche Einkommensteuer ein
Abschlag gemacht, bezw. eine Herabsetzung der allgemeinen Steuerbasis
zuerkannt.
Als Correctur der allgemeinen Einkommen-, bezw. Vermögensteuer
läuft die Abgabe den Ergänzungssteuern parallel. Während aber diese
90) Marcinowski S. 50 (ob. Anmkg. 2).
606
Thierl.
eine mangelhafte Erforschung des reinen Einkommens oder Vermögens zur
Voraussetzung haben, kann die Abgabe als singulare, durch besondere Ver-
hältnisse anderer als staatswirtschaftlicher Natur bedingte Sondersteuer
auch bei vollkommener Erforschung des Einkommens wohl bestehen. Sie
ist den Ergänzungssteuern nicht coordiniert, sondern dem Organismus der
Einkommensteuer selbst eingeschaltet. Es wäre möglich, die durch die
Wehrdienstleistung geschehene Beeinträchtigung der Steuerkraft bei denen,
welche Wehrdienst geleistet haben, als Abzugspost anzuerkennen; bequemer
und vom Standpunkte der Steuervertheilung gleichwertig erscheint die
Zusatzsteuer, mit welcher man die übrigen trifft.
IV. Die Stellung der Abgabe zur Finanzwissenschaft.
Eine gegenseitige Kreuzung findet unter den drei Momenten der Abgabe,
dem militärischen, socialen und finanziellen, nicht statt: sie stellen vielmehr
nur drei verschiedene Seiten der Ausgleichung dar. Eine Abgabe, welche
lediglich das eine oder das andere Moment verwirklichen wollte, würde als
unzureichend angefochten werden können. Für das harmonische Verhältnis
der Momente untereinander zeigt der Umstand, dass sie sich, historisch
und pliilosophisch, das eine aus dem anderen entwickeln lassen und dass
sie sämmtlich auf das reine Einkommen des Wehrdienstfreien zurückleiten.
Aus dem Gedanken, dass die Wehrdienstfreiheit einzelner Staatsbürger eine
Verletzung des Grundsatzes der allgemeinen Wehrpflicht in sich schliesse
und eine Ausgleichung nach Maassgabe des Einkommens, bezw. Vermögens
erheische, weil sonst einige den besonderen Anforderungen der Staatswehr
völlig sich entziehen, fliesst naturgemäss die Erwägung, dass jene,
welche zum Dienste herangezogen werden, hinsichtlich der Güterverth eilung
gegenüber den Befreiten im Nachtheile seien. Und hält man an dieser
Auffassung, so findet man es bald auffällig, dass die Besteuerung der
Staatsbürger, welche die Umstände der Erwerbung des steuerpflichtigen
Einkommens in Betracht zieht, auf die Erschwernis, welche viele Staats-
bürger durch ihre Heranziehung zum Waffendienste in ihrem Erwerbe
erfahren, nicht Rücksiclit nehmen sollte. Auf jeder der drei Seiten, welche
die Beurtheilung der Abgabe der Wehrdienstfreien berührt, werden jene
Factoren. nach denen sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Indivi-
duums bestimmt, als Maasstäbe des Ersatzes anerkannt. Das Vermögen,
die eigenen Bedürfnisse möglichst ausgedehnt zu befriedigen, die Güter-
vertheilung im weiteren Sinne, die Steuerfähigkeit sind durchwegs Momente,
welche mit dem reinen Einkommen in causale Verbindung gebracht werden
müssen.
Vorhin wurde festgestellt, dass die militärische Ausgleichung,
welche die Abgabe zu bewirken hat, auf dem Wege einer percentuellen
Besteuerung des reinen Einkommens zu verfolgen sei. Die Proportionalität
dieser Belastung erhält noch ein besonderes Gepräge durch den Hinzutritt
eines Progressions-, bezw. Degi'essions-Coefficienten.
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Rücksicht auf Oesterreich- Ungarn. 607
Da die finanzielle Ausgleichung durch die Abgabe sich wie im
Eahmen der Personal-Einkommensteuer vollziehen soll, so wird von diesem
Standpunkte aus der Abgabe keine andere Gestaltung gegeben Averden
können, also jene der Hauptsteuer. Für die finanzwissenschaftlichen An-
schauungen, w^elche den Typus der progressiven oder degressiven percentuierten
Einkommensteuer als den vollkommensten erachten, ist dessen Annahme
zum Zwecke der durch die Abgabe der Wehrdienstfreien zu bewirkenden
finanziellen Ausgleichung hiernach unvermeidlich. Der Effect erweist sich
hinsichtlich der Steuervertheilung als der nämliche, wie wenn den zum
persönlichen Dienste Herangezogenen bei der Einkommenbesteuerung ein
Abschlag gemacht würde.
Verhältnismässig am schwierigsten gestaltet sich die Wertschätzung
des socialen Momentes der Abgabe. Die Gütervertheilung deckt sich nicht
mit der Vertheiluug des reinen Einkommens, denn die Art des Erwerbes
macht einen bedeutenden socialen Unterschied aus. Aber in der Durch-
führung der progressiven Proportionalbesteuerung können die Provenienzen
des Einkommens in Kücksicht gezogen werden. Hierdurch nähern sich die
Isohypsen der Gütervertheilung und der Percentual-Einkommensteuer, bezw.
der Abgabe der AVehrdienstfreien. Die fixen Steuersätze sind für solche
Unterschiede naturgemäss unempfindlich, Classensteuern werden von ihnen
nur in den gröbsten Punkten beeinflusst, classificierte Einkommensteuern
bedeuten ein niedrigeres Stadium der Entwicklung vor der Percentualsteuer,
und diese selbst bleibt als reine, vom Progi*essions-, bezw. Degressions-
Coefficienten ledige, gegenüber der progressiven, bezw. degresslyen darin
zurück, dass letztere mit der Ausnützung der gesteigerten Leistungsfähig-
keit höherer Einkommen an sich ein Werk socialer Ausgleichung schafft.
Auch für das sociale Moment der Abgabe darf somit der Formentypus der
progressiven, bezw. degressiven percentuierten Einkommensteuer, zum
Mindesten als der relativ angemessenste gelten.
Vermöge dieser Feststellung ist die Grundlage für die Erkenntnis des
Verhältnisses gegeben, in welchem sich die Abgabe der Wehrdienstfreien
zur Finanzwissen schaff befindet. Das finanzielle Moment der Abgabe
begründet die materielle Zugehörigkeit der Abgabe zum Bereiche dieser
Wissenschaft. Es kommt ihr daselbst ein Platz unter den Ergänzungs-
steuern zu. welche die theoretisch erkannten Mängel der Personal-Ein-
kommensteuer mildern. Sie setzt indess nicht, wie z. B. die Objectsteuern,
eine gewisse Unvollständigkeit in der Erhebung des Einkommens voraus,
sondern bedeutet nur eine singulare Berücksichtigung anderer als streng
staatswirtschaftlicher Factoren. Sie ist auch den übrigen Ergänzungssteuern
nicht coordiniert, sondern in den engsten Kreis der Personal-Einkommen-
steuer als Hilfsorgan eingeschaltet.
Die Finanzwissenschaft kann jedoch nicht übersehen, dass das militä-
rische und das sociale Moment der Abgabe die materielle Behandlung der
letzteren auch einem anderen wissenschaftlichen Gebiete, jenem der V e r-
waltuno-slehre. offen hält. Hinsichtlich dieser beiden Momente erscheint
608 ™''^-
die Beziehung der Abgabe zum Bereiche der Finanzwissenschaft nur als
formelle Anlehnung, indem der auch diesen Momenten entsprechende
Formentypus der progressiven, bezw. degressiven percentuierten Einkommen-
steuer von dieser Disciplin geschaffen wurde. Eine innere Verbindung
besteht hier nicht; denn die Grundsätze der Finanzwissenschaft werden
weder durch militärische, noch durch sociale Kücksichten bestimmt oder
auch nur beeinflusst.
Dritter Theil.
Uebep die nächsten Ziele den Reform.
Diese abschliessenden Ausführungen, welche das theoretische Gebiet
verlassen und sich auf den Boden der angewandten Lehre begeben, können
nur die hauptsächlichsten Punkte der Keform streifen. Als solche erscheinen
die Bestimmung der Subjecte und des Ausmaasses der Abgabe, das Anlage-
verfahren, das Kechtsmittelverfahren und die Verwendung der Abgabe.
1. Die Subjecte der Abgabe.
In erster Linie kommt die Abgabenpflicht der theilweise Befreiten,
insbesondere der Ersatzreservisten, dann die besondere Abgabenpflicht der
Landsturmfreien, ferner die Heranziehung der Ascendenten, endlich jene der
Weiber in Betracht.
Der Wechsel der Fälle, welcher hier eintreten kann, hängt mit den
Veränderungen der Wehrgesetzgebung zusammen. Mochte früher die Militär-
Verwaltung bei gewissen Stellungspflichtigen nur die Wahl zwischen gänz-
licher Freilassung und gänzlicher Dienstleistung haben, soferne überhaupt
nicht schon von Gesetzwegen die Freilassung eintrat, so sind allmählich
einzelne Kategorien von Wehrpflichtigen festgestellt worden, von welchen
zum mindesten eine theilweise Erfüllung der persönlichen Dienstpflicht
gefordert wird. Hiezu gehören insbesondere die Ersatzreservisten, welche,
nachdem das Stadium ihrer Enthebung von jeder activen Dienstleistung im
Frieden aufgehört, zuerst zu einer zweimonatlichen Kecruten-Ausbildung.
dann auch zu einzelnen Waffenübungen herangezogen werden. ^^^) Für die Zeit
dieser Stellung in activen Dienst kommt ihnen, falls ihre Wehrsteuerpflicht
im allgemeinen feststeht, ein entsprechender Ausfall an der Abgabe zu
statten. Die Unterschiede zwischen der Dauer der activen Dienstzeit im
stehenden Heer, der Keserve und der Landwehr verdienen gleichfalls Be-
achtung. Ein zum stehenden Heer Assentierter leistet daselbst drei Jahre
in der Reserve drei Waffenübungen zu je vier Wochen, in der Landwehr
eine ebenso lange Waffenübung, zusammen drei Jahre sechzehn Wochen,
falls er ein Jahr früher beurlaubt wird, beiläufig zwei und ein Drittel Jahr
activen Dienst. Dagegen kommt ein zur Landwehr d i r e c t Assentierter
^^^) Marcinowski SS. 71 fg. (ob Anmkg. 2) insbesondere bezüglich der Wehr
steuerpflicht der übungspflichtigen Ersatzreservisten I. Classe.
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Eücksicht auf Oesterreich-üngarn. (309
eventuell uiit- vierundzwanzig Wochen activen Dienstes davon. Auch hier
scheint das Bedürfnis einer Ausgleichung auf dem Wehrsteuerwege zu bestehen.
Bisher wurde von der Lan d stur mp flicht der Abgabenpflichtigen
abgesehen, namentlich deshalb, weil die Abgabe historisch nur als Exae-
quation gegenüber der persönlichen Dienstpflicht im stehenden Heere, in
der Keserve und in der Landwehr betrachtet worden ist. Es entspricht aber
nicht ganz der Billigkeit und auch nicht den Charaktermomenten der
Abgabe, die Landsturmfreien bezüglich letzterer den Landsturmpflichtigen,
die den Territorial-Bataillonen Zugetheilten den in Auszugs-Bataillone Ein-
gereihten gleichzustellen. Umso weniger dann, wenn von den Landsturm-
pflichtigen überhaupt oder doch von einzelnen derselben selbst Dienstlei-
stungen im Frieden verlangt werden.
Jene Einrichtung, welche gestattet, von der Heranziehung der
Ascendenten zur Abgabenleistung Umgang zu nehmen, besitzt, wie
schon vorhin erwähnt, einen unbestrittenen Vorzug. Dort, wo man sich
indessen noch nicht zu derselben entschliesst, weil man — in W'ahrheit
nur aus fiscalischen Gründen — die Mitvei-pflichtung dritter Personen,
welche im persönlichen Dienste nicht unmittelbar betheiligt sind, nicht auf-
geben will, muss doch daran festgehalten werden, dass die Ascendenten
nur ihre wehr- oder abgabenpflichtigen Descendenten vertreten. Völlig selb-
ständig kann die Abgabenpflicht der Ascendenten keinesfalls gedacht werden;
sie würde sonst auch nach dem Tode des Descendenten fortdauern. Daher
wird man sich sowohl bezüglich des Eintrittes, als bezüglich des Umfanges
der Ascendentenpflicht auf das Nothwendigste zu beschränken haben, ins-
besondere soll man dieselbe nicht früher geltend machen dürfen, als bis
feststeht, dass der Descendent die Abgabe nicht leisten kann, und zur
Bemessungsgrundlage keinen höheren Betrag annehmen, als der Descen-
dent für seinen Unterhalt gesetzlich zu fordern hätte.
Die Abgabenpflicht des Weibes setzt eine von unserer heutigen
wesentlich verschiedene Wehrverfassung voraus. Gegenwärtig gilt die Aus-
schliessung des Weibes von allen irgendwie militärischen Dienstverrichtungen
für so selbstverständlich, dass der Gesetzgeber dieselbe nicht einmal aus-
drücklich anordnet. Man will eben das Weib in der militärischen Dienstes-
sphäre so wenig, dass nicht einmal die Frage aufgeworfen wird, ob es
in irgend einer Kichtung hiefür eine Eignung besässe. Das militärische
Moment der Abgabe würde also der Abgabenpflicht des Weibes wider-
streben, das finanzielle wäre in Hinblick auf die geringe Anzahl einkommen-
steuerpflichtiger Frauen und Mädchen ziemlich gegenstandslos, das sociale
bei der anders gearteten Stellung des Weibes in der Güterwelt schwer
durchführbar. In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle müsste
die Intercession eines Ascendenten oder des Ehegatten bei Entrichtung
der Abgabe aus dem Grunde stattfinden, weil das Weib kein ausreichendes
selbständiges Einkommen besitzt. Die Nachtheile, welche der Abgaben-
pflicht der Ascendenten anhaften, würden sich hier im verstärkten Maasse
wiederholen.
610
Thierl.
II. Das A u s m a a s s der Abgabe.
Allem Anscheine nach liegen die grössten Schwierigkeiten für die
Keform der Abgabe hier. Sie betreffen die materiellen Anhaltspunkte für
die Bestimmung der Abgabe im einzelnen Falle, d. i. den Typus der Abgabe
und die Höhe des Abgabenfusses. Hauptsächlich den ersteren.
Dem Typus der progressiven, bezw. degressiven percentuierten
Einkommensteuer treten voraussichtlich lebhafte Einwendungen vom
praktischen Standpunkte entgegen. Wo eine ähnlich eingerichtete Personal-
Einkommensteuer nicht besteht, müssten die zeitraubenden und kostspieligen
Erhebungen, welche dieser Typus erheischt, für die Abgabe der Wehrdienst-
freien selbständig angestellt werden. Freilich würde dies einen wertvollen
Versuch für die künftige Personal-Einkommensteuer abgeben. Aber gegen
solche experimentelle Erfahrungen wird geltend gemacht werden, dass man
die progressive, bezw. degressive Personal-Einkommensteuer gar nicht ein-
führen wolle, oder dass die Ergebnisse des Experimentes für die seiner-
zeitige Einführung der Personal-Einkommensteuer nicht verwertbar seien,
weil man doch, um jetzt verlässlichere Zahlen zu erhalten, einräumen sollte,
dass die derzeitigen Feststellungen nur für die Abgabe der Wehrdienstfreien
benützt werden dürfen. Ein wesentlich theoretisches Bedenken fliesst aus
dem finanziellen Momente der Abgabe; die Hilfs- oder Ergänzungs-
steuer kann nicht auf einer typi^jch höheren Stufe stehen, als die zu ergän-
zende Hauptsteuer.
Von den übrigen Typen ist derjenige der Fix st euer für sämmtliche
drei Abgabenmomente unempfindlich. Derjenige der Classen Steuer
genügt denselben nur oberflächlich; die Classen schliessen nach oben zu
bald ab und eröffnen, wenn das Gesetz nicht sehr sorgfältig bei Bestimmung
der Merkmale für die Einclassierung vorgeht, die Gefahr, dass die Ent-
scheidung, welche Classe, nach dem Gutdünken des Verwaltungsorganes
erfolgt. Letzterer Anstand fällt bei der c 1 a s s i f i c i e r t e n Einkommen-
steuer weg, weil hier der Zusammenhang zwischen Einkommen und
Steuerbetrag gesetzlich sichergestellt ist. Die Erhebungen sind genauer,
umständlicher und auch kostspieliger als bei der Classensteuer, aber geringer
als bei einer Percentualsteuer. Die reine P er centuals teuer verursacht
dieselben Kosten wie, die progressive (degressive), verspricht aber geringeren
Ertrag. Dort wo man grundsätzlich sich gegen jede Progression (Degression)
des Steuerfusses auflehnt, bedeutet sie den Gipfel des Erreichbaren.
Für die nächsten Ziele der Keform kommt die classifi eierte
Einkommensteuer gegenüber der gänzlich unbrauchbaren Fixsteuer
und der hilflosen Classensteuer sehr in Betracht. Die Classensteuer reicht
höchstens für die niederen und mittleren Einkommens-Kategorien aus. Den
obersten Einkommen wird nur eine percentuierte Abgabe die entsprechende
Belastung bringen. Ein solches Uebergangsstadium wäre z. B. :
a) bis 5000 fl. Einkommen .... Classensteuer,
b) von 5 — 50.000 fl. Einkommen . . classificierte Einkommensteuer
c) über 50.000 fl. Einkommen . . . percentuierte ,.
Die Abgabe d. Wehrdienstfreien mit besond. Rücksicht auf Oesterreich-Ungarn. 611
Die classificierten Sätze der zweiten Gruppe sollen, wie der Percent-
fuss bei der dritten Gruppe eine gewisse Progression zeigen. Alle Vor-
schläge, welche an der Classensteuer durchwegs festhalten, aber zum
höchsten Ciassensatz einen fixen Zuschlag für jedes die Grenze überstei-
gende Tausend hinzufügen, sind nur ein Anerkenntnis der Hilflosigkeit jeder
Classensteuer.
Weitere Bedeutung besitzt für die nächste Eeform das System der
Einkommenserhebung, dann die prägnante Festsetzung jener
gesetzlichen Directiven. durch welche das arbiträre Ermessen der Behörde
bei Auswahl des Classensatzes beschränkt wird. Statt der Einkommens-
Erhebung wird eine Quotisierung nach der allgemeinen directen Steuer-
leistung des Individuums, jedoch mit grosser Vorsicht, zulässig sein. Die-
selbe hat eine ziemlich gerechte Verth eilung der allgemeinen directen
Steuerlast zur Voraussetzung, ist daher dort ausgeschlossen, wo, wie z. B.
in 0 esterreich, abnorm hohe Kealsteuern bestehen. Letztere wären zum
mindesten auszuscheiden und zu einem geringeren Bruchtheile zu veran-
schlagen, lieber die Grenze der classificierten Einkommensteuer hinaus
lässt sich dieser Ausweg, die Kosten vollständiger Einkommenerhebungen
zu vermeiden, nicht einhalten; die Gefahr des Abgabenentganges ist in
jedem einzelnen Falle zu gross. Je weniger Erhebungen, desto weniger
Kosten, desto weniger Verletzung der privaten Empfindlichkeit — desto
Aveniger Ertrag.
III. Das An läge verfahren.
Wie bei jeder anderen Einkommenbesteuerung stehen auch hier die
Hauptrichtungen (Einbekennung — Einsteuerung; Theilnahme der Steuer-
träger an der Veranlagung selbst — rein staatliche Veranlagung) einander nur
theilweise vermittelt gegenüber. Abgesehen davon ist der Vortheil erschöpfender
Hilfsvorschriften über Zeugnispflicht. Vereidigung, Anzeigepflicht derAbgaben-
subjecte. bezw. der Localbehörden (Gemeindevorsteher etc.) hinsichtlich
gewisser, die Abgabe beeinflussender Umstände, Strafbefugnis der Veran-
lagungsbehörden im Auge zu behalten. Mit Kücksicht auf das finan-
zielle Moment der Abgabe empfiehlt sich die Zuweisung der Veranlagung
und Einhebung der Abgabe an die Finanzbehörden, zumal letztere ihrer
theoretischen und praktischen Vorbildung nach geeignetere Organe besitzen
als die politischen Behörden.
IV. Das E e c h t s m i 1 1 e 1 V e r f a h r e n.
Eine wirkliche Reform auf diesem Gebiete ist nach dem Grade der
Annäherung zu schätzen, welche dieselbe an den Grundsatz der Entscheidung
streitiger administrativer Rechtsfragen durch unabhängige Verwaltungsrichter
vollzieht. Der Widerstand, welcher hier vorausgesehen werden muss, lässt
eine ausgiebigere Besserung in vielen Ländern so bald nicht erwarten. Dort,
wo Selbstverwaltung im Anlageverfahren zugestanden wird, bezeichnet eine
gemischte, aus Steuerträgern und Staatsorganen zusammengesetzte Rechts-
(■)12 Thierl.
mittel -Instanz wohl das Aeusserste des zunächst Erreichbaren. Auch die
Heranziehung von Bürgern, welche nicht dem Kreise der Abgabenpflichtigen
angehören, zum Anlage- und Eechtsmittelverfahren sollte nicht ohne Erör-
terung von der Hand gewiesen werden, da in diesen ein unbefangeneres
Element gewonnen würde.
V. Die Verwendung der Abgabe.
Liegt in der Verwendung der Abgabe die abschliessende Erfüllung,
insbesondere der militärischen, dann auch der socialen Mission derselben,
so mögen die Fortschritte, welche in dieser Eichtung sich erzielen lassen,
zu den wesentlichsten im Bereiche der Abgabe gezählt werden. Die Ver-
sorgung der Invaliden, der Witwen und Waisen der in Ausübung ihres
Dienstes Verstorbenen, der Eamilienangehörigen der Mobilisierten während
der Mobilisierung, bezw. der zur Waffenübung Einberufenen während der
Waffenübung, die Prämiierung der über die Zeit dienenden Unterofficiere —
alle diese Zwecke sind schon heute in diesem oder jenem Lande für die
Verwendung des Abgabenertrages gesetzlich bestimmt. Andere erscheinen
kaum minderer Berücksichtigung würdig : so die Verbesserung der Mann-
schaftskost, zumal durch Einführung einer, wenngleich dürftigen, Abend-
speise für den gegenwärtig von etwa 11 Uhr vormittags bis 5 Uhr früh
des nächsten Tages ohne andere Nahrung als Brod belassenen Soldaten, die
Ausfolgung eines kleinen Handgeldes an die aus dem activen Dienste in
die Reserve, bezw. den nichtactiven Stand Versetzten, endlich ausnahms-
weise die Unterstützung der Angehörigen activ Dienender ausser dem Falle
der Mobilisierung, bezw. Waftenübung. Auch die Erhöhung des kärglichen
Soldes der untersten Soldclassen darf als eine Aufgabe der künftigen Zeit
betrachtet werden.
In der Verfolgung solcher Absichten, durch welche das Los der per-
sönlich Dienenden erleichtert, die oft nur dem Zufalle verdankte behagliche
Stellung der W^ ehrdienstfreien zu Gunsten ihrer mehr angestrengten Mit-
bürger geschmälert wird, liegt eine Bürgschaft für die Annäherung dieser
beiden Gruppen der staatlichen Gemeinschaft, für die allmähliche Ueber-
windung der Abneigung, welche weite Kreise noch heute gegen die Mühen
und Einschränkungen des persönlichen Dienstes empfinden. Damit scheint
die Brücke zu den idealen Ziele, welches die Erfüllung der allgemeinen
Wehrpflicht als Eins mit dem freiwilligen Einsätze der Persönlichkeit
für die Gesammtwehr erkennt, in ihren ersten Anfängen gegründet.
ABÄNDERE NGS-VOßSCHLÄGE FÜR DIE
UNFALLVERSICHERUNG.
VON
KKEISGERICHTSRATH DR- B. H I L S E.
JDereits in der Reichstagssitziiiig vom 11. Juni 1890 anerkannte der
Staatssetretär des Innern Dr. v. Bötticher die Zweckmässigkeit einer Revision
der Unfall-Versicherungs-Gesetze, welche in einzelnen Punkten der Verbesserung-
fähig, ja sogar bedürftig seien und sagte in der Reichstagssitzung vom 6. Februar
1892 zu, dass dem nächstzusammentretenden Reichstage eine bereits in Aus-
arbeitung begriftene diesbezügliche Vorlage zugehen werde. Inzwischen hat der
Reichstag durch die am 8. Februar 1892 beschlossene üeberweisung der Anträge
Auer und Genossen, sowie Hartmann -Möller und Genossen auf baldige Revision
der Unfall-Versicherung seine Absicht zu erkennen gegeben, von der Reichs-
regierung die diesbezügliche Vorlage möglichst bald entgegennehmen zu wollen.
Es lässt sich deshalb erwarten, dass letzteres geschehen werde. Damit rechtfertigt
sich aber gleichzeitig die Erörterung derjenigen Gesichtspunkte, auf welche die
geplante Revision sich werde zu erstrecken haben, um auf diese Weise beizu-
tragen, das Augenmerk der maassgebenden Kreise darauf zu lenken.
Die Nachweisungen über die gesammten Rochnungsergebnisse der Berufs-
genossenschaften seit Beginn deren Thätigkeit bis zum Abschlüsse des Rechnungs-
jahres 1890. also aus einem fünfjährigen ßeobachtungszeitraum, verschaffen einen
beachtenswerten Einblick über die Wirksamkeit derselben und über die wohl-
thätigen Ziele der Unfall- Versicherung; sie lassen aber auch deutlich erkennen,
in wie hohem Grade die Industrie dadurch belastet, folgeweise gefährdet wird,
durch Steigerung der Herstellungskosten allmählich die Goncurrenzfähigkeit auf
dem Weltmarkte zu verlieren, wenn es nicht gelingen sollte, Wege aufzufinden,
auf welchen dieser eine Erleichterung verschafft werden kann, ohne die Aufgaben
und Zwecke der Unfallfürsorge zu gefährden.
Denn innerhalb dieser Periode wurden insgesammt 21,285.284 Arbeiter
beschäftigt, welche von 93.210 Betriebsunfällen betroffen wurden, von denen
15.278 zu 16-39 Proc. den Tod, 10.459 = 11*22 Proc. völlige, dauernde Erwerbs-
unfähigkeit des Verletzten zur Folge hatten. Zu deren Schadloshaltung waren bisher
614
Hilse.
44,356.521-05 31. erforderlich. Diesen letzteren treten noch 55,838.705-49 M.
Rücklagen zum Reservefonds, sowie die Kosten des Heilverfahrens, der Schadens-
ermittelung, des Schiedsgerichtes und der Verwaltung hinzu, so dass 117,745.048-15M.
aufzubringen waren. Während die Durchschnittsziffer der Betriebsverletzten im
Verhältnisse zu den Beschäftigten 0-44 Proc. erreicht, so ist doch in den einzelnen
Jahren des Beobachtungszeitraumes solche auf 0-28; 0*41; 0*41; 0*47; 0*53 Proc.
ermittelt, welche Steigerung ihren G-rund darin findet, dass erst allmählich die
Beschäftigten die richtige Erkenntnis von dem Umfange der ihnen zugebilligten
Rechte erlangten und deshalb ursprünglich nur die folgeschweren, später aber
auch die ganz leichten Verletzungen zur Anzeige gelangten, sobald nur ein
Zusammenhang zwischen der Betriobsthätigkeit und ihrem Entstehen nachweisbar
wurde. Dies tritt unverkennbar hervor bei einem Gegenüberstellen der Verlaufs-
folge. Denn die Todesgefahr fiel von 24-78 im ersten auf 13'62 Proc. im letzten
Heobachtungsjahre und diese der völligen Erwerbseinbusse von 15*95 auf 7*08 Proc.
In gleichem Verhältnisse stieg die Ziffer derjenigen Fälle, in welchen bloss
theilweise oder gar nur vorübergehende, d. h. längstens in sechs Monaten beendete,
Erwerbsminderung sich zeigte.
Aber auch einander gegenübergehalten, ist das Verhältnis zwischen Be-
schäftigung und Verletzung einerseits, andererseits zwischen letzterer und deren
Verlaufsfolgen in den verschiedenen Gruppen der einzelnen Industriezweige sehr
verschieden. Während z. B. in der Schornsteinfeger-Berufsgenossenschaft die
ünfallsgefahr bloss 0*27 Proc. beträgt, erreicht die Todesgefahr 31 '58 Proc. Die
höchste Unfallgefahrenziffer weist die Brauerei und Mälzerei mit 0*99 Proc, bez w
der Tiefbau mit 0-60 Proc. auf, während bei beiden der Tod in 13-18 Proc. bezw.
13-00 Proc. Fällen eintrat. Die grosse Gruppe der Baugewerbe schliesst sich
mit 0'46 Proc. Unfällen an. Doch vertheilen sowohl diese, als deren Verlauf sich
innerhalb der 12 Baugewerks-Berufsgenossenschaften sehr unterschiedlich, was
deren Zusammenstellen veranschaulicht. Denn es erreichte die Ziffer der:
"^1
Arbeiter
1 Unfallverlaufsgefalir
In der
be-
schäftigte
verletzte
|; Tod
Erwerb
sverlust
abs.
|mO/„
|j abs. 1 in <Vo
abs.
1 in % i
11-81:
Magdeburi^ischen . ...
1
380227
826
0-22
1;
139
16-51
98
Sächsischen
553273
1882
0-34
359
21-01
265
14-09
Hannoverschen
347104
1217
0-35
224
18-36
173
1418
Thüringischen
127820
538
0-42
1 95
17-59
63
11-67
Schlesisch-Posenschen . . .
32G995
1412
0 43
1 363
25-74
145
10-28
Hessen-Nassauischen ....
2300.99
1079
0-47
' 197
18-24
237
21-94
Hamburgischen .
211237
1020
0 48
j 189
18-53
354
34-71
Rheinisch- Westphälischen
422870
2188
051
1 420
1918
285
1301
Südwestlichen
194626
1024
0-52
1 182
17-77
155
15-13
Nordöstlichen
601240
3556
0-59
506
14-21
581
16-32
1 Württembergischen ....
106131
648
0-61
113
17-39
46
708
'' Bayrischen
355470
2358
0-66
395
16-64
250
1059
Beisammen .
1 3857392
17748
0-46'
3182
1793
265-2
1494
Tiefbau
440996
2666
060
347
13 00
46
1-72
Abänderuiigs -Vorschläge für die Unfallversicherung. 615
Hieraus erhellt ein Schwanken der Unfallsziffer zwischen 0*22 bis 0*66 Proc,
welches unwillkürlich dahin führen muss, den Grund hiefür aufzufindeu. Denn
es kann nicht der blosse Zufall hierfür ausschlaggebend sein, muss vielmehr ein
Umstand hinzutreten, welcher in den gewerblichen oder territorialen Verhältnissen
zu suchen ist.
Die Vorstände der Hochbau-Berufsgenossenschaften glauben die Ursachen
dieser Erscheinung in der fehlenden gewerblichen Vorbildung eines erheblichen
Bruchtheiles der Betriebsunternehmer im Baufache erkennen und daraufhin die
Forderung begründen zu sollen, den Befähigungsnachweis für die Baugewerbe
einzuführen. Nun lässt sich nicht in Abrede stellen, dass ein erheblicher
Bruchtheil der Betriebsunfälle darauf zurückzuführen ist, dass untüchtige Gerüste,
unrichtige Constructionen, untaugliches Material bei Ausführung der Bauten zur
Verwendung kamen und dass diese sich in überwiegender Mehrzahl würden
haben vermeiden lassen, w^enn wissenschaftlich und technisch vorgebildete
Baugew^erksmeister die Ausführung der Arbeiten und die Anstellung der Arbeiter
geleitet hätten.
Ebenso ist statistisch nachweisbar ein grosser Bruchtheil aller Schadensfälle
darauf zurückzuführen, dass den Bauunternehmern, bei welchen solche sich
ereigneten, der erforderliche Grad von Zuverlässigkeit, Gewandtheit und Standesehre
fehlte, welche einem geprüften Baugewerksmeister, insonderheit einem Innungs-
mitgliede, w^ohl beizuwohnen pflegt. Allein dies kann nicht ausschlaggebend für
die Unfallsziffer gewesen sein. Zwar beträgt solche für die das Königreich Sachsen
umfassende Bauberufsgenossenschaft 0*34 Proc, aber für diese des Königreichs
Baiern 0*66 Proc, ein Umstand, welcher deshalb schwer in das Gewicht fällt, weil
in Sachsen eine staatlich organisierte Prüfungscommission noch fortbesteht, vor
welcher der bei weitem grösste Theil der dortigen Baugewerksmeister sich der
Prüfung unterzog, so dass thatsächlich der geführte Befähigungsnachweis daselbst
die Regel bildet, während in Bayern ein solcher niemals sich eingebürgert hatte,
woraus sich erklären lässt, dass der Grad der gewerblichen Ausbildung der
Baugewerksmeister hier ein geringerer sein könnte. Allein in Miterwägung ist
zu ziehen, dass in Württemberg die Ausbildungsverhältnisse ähnliche wie in
Sachsen sind und dennoch die Unfallsziffer hier 0*61 Proc. erreicht, während die
niedrigste mit 0*22 Proc. in der Provinz Sachsen anzutreffen ist, woselbst die
Gew.-Ord. vom 17. Jänner 1845 und vom 21. Juni 1869 ihre zerstörenden
Wirkungen gleichfalls hervorzurufen vermochten, wenn solche aus der Gewerbe-
freiheit sich thatsächlich sollten entwickeln können. Dass die durchschnittliche
Todesgefahr in der Gesammtindustrie 16*39, in den Baugewerben 17-93 Proc,
sowie die Gefahr eines völligen Erwerbsverlustes dort 11*22, hier aber 14*94 Proc.
erreichte, kann nicht zum Nachtheile der baugewerblichen Ausbildung heran-
gezogen werden. Denn in dem Schornsteinfegergewerbe beträgt erstere doch
sogar 31*58 Proc, obschon hierin für den selbständigen Gewerbebetrieb der
Befähigungsnachweis gefordert zu werden pflegt. Auch die Erfahrungen in den
mit den Baugew-erks-Berufsgenossenschaften verbundenen Versicherungsanstalten
zur Schadloshaltung der auf Grund des B.-U.-V.-G. vom 11. Juli 1887 im
ßegiebaue beschäftigten Bauarbeiter liefern einen nur schwachen Belag. Denn von
6)6 Hilse.
sämmtlicheii in dem dreijährigen Beobachtungszeitraume ereigneten 1227 Betriebs-
unfällen verliefen bloss 211 ziz 17*19 Proc. tödlich und gar nur 66 ^ 5*38 Proc.
völlig erwerbsmindernd. Während die Verlaufsziffer also hinter ditser der Bau-
betriebe zurückbleibt, so kommt dennoch hier als ein nicht zu unterschätzender
Erwägungsgrund hinzu, dass im Eegiebaue erfahrungsgemäss meist nur geringere
an sich minder gefahrvolle Arbeitsthätigkeit ausgeübt wird, als in den gewerbs-
mässigen Hochbaubetrieben, woraus wohl der Schluss gerechtfertigt und die
Ueberzeugung gewonnen werden kann, dass wegen des geringeren Grades der
Zuverlässigkeit der Regiebau-Unternehmer der Verlauf der Unfälle sich erheblich
ungünstiger gestaltet, als des in ordnungsgemässen Baubetrieben der Fall sein
würde. Dennoch müsste zur Führung eines stricten Beweises die statistische
Erhebung sich mit darauf erstrecken, worin die Ursache des schädigenden
Ereignisses erkannt worden ist. was bisher unterblieb. Deshalb lässt sich
auf Grund der statistischen Erhebungen die Behauptung nicht aufstellen»
dass der eingeführte Befähigungsnachweis auf Abnahme der Unfalls- und der
Verlaufs- Gefahr einflussvoll sein müsse, obschon die Wahrscheinlichkeit hierfür
nahe liegt.
Weit erfolgversprechender, d. h. auf Abnahme der Unfälle und deren
Verlaufsgefahr hinzielend, wird es sein, w^enn der Arbeiter über den Umfang
der ihm aus der öffentlichrechtlichen Versicherung entspringenden Eechte und
Verbindlichkeiten ein richtiges Verständnis erlangt, infolgedessen ihm möglich
wird, der sein Leben und seine Gesundheit, mithin seine Erw^erbsfähigkeit
gefährdenden Zufälle sich zu entziehen. Dies kann auf zweifache W^eise bewirkt
werden; nämlich durch Aufklärung und Belehrung einerseits, andererseits durch
Abschreckung vor den drohenden Folgen.
Was den ersteren Weg anlangt, so ist derselbe derart einfach, dass
es Wunder nehmen muss. ihn bisher noch nicht an maassgebender Stelle
aufgefunden und eingeschlagen zu haben. Die Hebung der wirtschaftlichen
Lage der arbeitenden Bevölkerung ist der leitende Grundgedanke des heutigen
Arbeiterschutzes und der öffentlichrechtlichen Versicherung. Er soll davor
verschont bleiben, dass seine Arbeitskraft, also die Möglichkeit, solche verwerten
und daraus die Mittel zur Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse gewinnen
zu können, schneller abgenutzt und verbraucht werde, als dies naturgemäss
zu erwarten steht, und, sobald diese Erwerbsunfähigkeit dennoch eintritt, der
»iffentlichen Armenpflege mit ihren beschämenden Wirkungen zu verfallen.
Zur Erreichung dieses Zweckes sollen die Schutzvorrichtungen und Sicherungs-
einrichtungen dienen, zu welchen Gew.-Ord. §§ 120 a ff. in der Fassung des
G. vom 1, Juni 1891 den Arbeitgeber verpflichten, sowie die Unfallverhütungs-
Vorschriften, deren Erlass des U.-V.-G. vom 6. Juli 1884 § 78 vorsieht. AVas
nützen diese aber, solange der Arbeiter, für den sie doch bestimmt sind, deren
Zweckmässigkeit verkennt, deren Befolgen nicht, als in seinem Interesse liegend,
sich angelegen sein lässt? Deshalb ist die heranwachsende gewerbliche Jugend
über deren Zweckmässigkeit, sowie über die Art ihres Gebrauches gründlich aufzu-
klären. Die Gelegenheit hierzu bieten die gewerblichen Fachschulen, bezw. die
Fortbildungsschulen, in deren Lehrplan die Unterweisung in den Grundlehren
Abänderungs-Vorschläge für die Unfallversicherung. 617
des Gewerberechtes, des Arbeiterschutzes, der öffentlichrechtlichen Versicherung
deshalb aufzunehmen sein wird. Bei einer gemeinverständlichen Vortragsweise
werden diese Unterrichtsgegenstände den Schüler ansprechen, dessen Aufmerk-
samkeit fesseln und ihm reiche für sein zukünftiges Berufsleben hochwichtige,
Kenntnisse verschaffen, vorausgesetzt, dass der Lehrende den Stoff beherrscht
und darin zu unterrichten versteht. Gleichzeitig wird auf diese Weise vorgebeugt,
dass der Schüler absichtlich über den Wert dieser Einrichtungen deshalb sach-
widrig aufgeklärt werde, um ihn mit den derzeitigen gesellschaftlichen Zuständen
unzufrieden, folgeweise aber auc^ empfänglich zu machon, den die Staatsordnung
zersetzenden Irrlehren sich zuzuneigen und dementsprechenden Parteiinteressen
zu dienen. Deshalb sollte sowohl in Eegierungskreisen, wie in solchen der
Arbeitgeber, darauf Bedacht genommen werden, um noch zu retten, soviel zu
retten ist, und zwar beizeiten, damit nicht zu spät die Eeue über das Versäumte
aber nicht mehr Nachzuholende sich herausstellt.
Eine beachtenswerte Erscheinung der heutigen Arbeiterschutzgesetzgebung
ist darin zu finden, dass nur den Arbeitgeber Strafen und Vermögensnachtheile
treffen, wenn er etwas thut oder verabsäumt, was im Gesetze anders vorgesehen
wurde, stets aber der dagegen fehlende Arbeiter davor verschont bleibt. Dieser
Grundsatz muss aufgegeben, wenigstens doch beschränkt verlassen werden. Die
privatrechtliche Versicherung wird von dem leitenden Grundsatze beherrscht, dass
stets nur ein Schade abgewendet, niemals aber ein Gewinn erlangt werden
soll, weshalb das übernommene Risico bei zutreffendem Verschulden des Ver-
sicherungsnehmers nicht in Kraft tritt. Für die öffentlich rechtliche Unfallver-
sicherung ist derselbe verlassen. Denn nach U.-V.-G. vom 6. Juli 1884 § 5, 7.
wird das Eentenbezugsrecht nur verwirkt, wenn der Verletzte den Betriebsunfall
vorsätzlich herbeigeführt hat. Jede andere, selbst die gröbstfahrlässige Handlung
desselben, vermag nicht, den Entschädigungsanspruch aufzuheben oder abzu-
schwächen. Wenn mit Bewusstsein und mit voller Würdigung der daraus zu
gewärtigenden nachtheiligen Folgen die dargereichten Schutzvorrichtungen nicht
angewendet, die vorhandenen Sicherungseinrichtungen nicht beachtet, die erlassenen
Unfallverhütungsvorschriften nicht befolgt werden, dann hat solches alles keinen
Einfluss auf die Schadloshaltungspflicht der Berufsgenossenschaft. Ein auf diese
Weise selbstverschuldeter Unfall verschafft die Unfallrente. Nicht selten wird die
erforderliche Aufmerksamkeit absichtlich ausserachtgelassen, um solche sich zu
erwerben. Dem muss gesteuert werden, indem das gänzliche oder theilweise
Verwirken der Unfallrente für den Fall gesetzliche Anerkennung findet, dass der
Verletzte infolge absichtlichen Zuwiderhandelns gegen die zu seinem Schutze
dienenden Schutzvorrichtungen, Sicherungseinrichtungen, Unfallverhütungen die
Unfallursache verschuldet hat.
Aber auch nach Eintritt des schädigenden Ereignisses kann durch selbst-
thätiges Eingreifen in das Heilverfahren oder durch passiven Widerstand gegen
dasselbe die Beseitigung der nachtheiligen Folgen vereitelt werden. In dem
Beobachtungszei träume hat sich ein Eückgang in der Verlaufsgefahr feststellen
lassen, was die nachstehende Uebersicht erkenntlich macht.
Zoitscbrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltimg. IV. Heft. 40
618
Hilse.
Erwerbsverlust
Gesammtindustrie
Hochbau . . . .
fJegiebau . . . .
Tiefbau ....
Brauerei . . . .
Schornsteinfeger .
1886
24-78
29-2'6
1887
18-48
20'35
19-94 16-28
50-00; 35-29
1888
1889
1890
1886
15.65 1514! 13-62 15-95
17-39 16-67j 13-62 23-7-2
26-26 17-441 14-40| -
14-36 1404 11-43; —
10-69: 12-83
25-00 27-77
10-62 20-23
27-27
1888
10-03
1887
17-67
26 96 12-21
— 7-26
- 2 33
15-56 10-10
2941'
1889
10-45
13 42
6-05
2-22
21-76
5-55
1890
7-08:
7-45J
4-371
0-98!
11-221
Dass solche als Folge der ünfallverhütungsvorschriften erachtet werden
kann, lässt aus der Thatsache sich ableiten, dass erst von Inkrafttreten dieser
die Abnahme bemerkbar wird und dass diese in gleichem Verhältnisse steigt,
wie jene sich eingebürgert haben. Dieselbe wird unanzweifelbar in erhöhtem G-rade
noch in Erscheinung treten, sobald das Krankenversicherungs-G. v. 10. April 1892
Gesetzeskraft erlangt und die Berufsgenossenschaften auf Grund deren §§ 76 a — c
in den Stand versetzt werden, schon vorher das Heilverfahren zu übernehmen, in
dessen Gang einzugreifen und eine Heilmethode zu wählen, welche zwar kost-
spieliger ist, aber verspricht, die Störung der Unversehrtheit möglichst zu besei-
tigen, damit aber die Erwerbsfähigkeit ganz oder doch auf höherem Grade zu
erhalten. Zur Erreichung dieses Zweckes dürften aber zwei Vorschriften von der
Reichsregierung zu erlassen sein. Die eine richtet sich gegen den Betriebs-
verletzten, die andere gegen die Leiter der Verkehrsanstalten und der Curorte.
Um mit letzterer zu beginnen, so empfiehlt sich, dass den Berufsgenossenschaften
als Trägern der Versicherung eine Erleichterung in ihren Lasten in der Weise
verschafft werde, dass für die ihrerseits in Krankenhäusern und Curanstalten
unterzubringenden Betriebsverletzten eine Herabsetzung der Fahrpreise und der
Curtaxen zugestanden werde. Auf diese Weise wird deren Geneigtheit zur Wahl
einer derarten Cur erheblich vermehrt und manche Arbeitskraft erhalten werden,
welche sonst verloren gehen möchte. Das Gemeinwesen hat aber ebenfalls ein
w^esentliches Interesse an Erhalten der Arbeitskraft, welche das Nationalvermögen
erhöht und Gegenstand der Versteuerung bildet. Das Entgegenkommen, welches
der preuss. Verkehrsminister durch seinen Erlass vom 7. März 1891 den milden
Stiftungen bethätigte, indem er diesen Verkehrserleichterungen zubilligte, ver-
dienen zweifelsohne die Träger der öffentlichrechtlichen Versicherung in gleichem
Maasse. Hinsichtlich der Betriebsverletzten ist die verschiedene Eechtsanschauung
zwischen dem Reichsversicherungsamte und dem Reichsgerichte über die Duldung
der Vornahme eines operativen Eingriffes im Wege der Gesetzgebung zu regeln.
Denn selbst abgesehen davon, dass die Rechtssicherheit nicht erhöht und das
Vertrauen auf eine gerechte Rechtspflege nicht gehobeu wird, wenn in grund-
legenden Fragen die höchsten ürtheilsgerichte zu diametralen Aussprüchen
gelangen, indem ersteres in den Rec.-Entsch. vom 14. Mai 1888 und vom
Abänderungs- Vorschläge für die Unfallversiclierung. Q\g
11. Juni 1888 den Betriebs verletzten für nicht verpflichtet erklärt, sich einer
Operation zu unterwerfen, dieses aber in den Urth. vom 22. December 1890
und vom 30. Jänner 1891 auf Verwirken der Haftpflichtentschädigung erkennt,
weil es eine, den Entschädigungsanspruch aufhebende, Arglist darin findet, dass
Jemand den zur Herstellung seiner Gesundheit geeigneten Maassnahmen sich
grundlos entzieht, vermag der Besitz eines verkrüppelten Gliedes erfahrungs-
gemäss dessen Besitzer mehr Schmerzen zu verursachen, erheblicher zu entstellen
und im Gebrauche der gesunden, also in Verwertung seiner verbliebenen Arbeits-
kraft zu stören, als dessen Verlust. Deshalb erscheint es angezeigt, das Ver-
wirken des Entschädigungsanspruches auch dann gesetzlich anzuerkennen, wenn
grundlos die Vornahme einer Operation verweigert wird, welche nach ärztlichem
Gutachten gefahrlos, aber auch geeignet ist, die Störung der Erwerbsfähigkeit
zu beseitigen.
Ein Ruhen des ßentenbezugsrechtes erkennt das österreichische Ü.-V.-G.
vom 28. December 1887 im § 40 für den Fall an, dass der Rentenempfänger
einen dem früheren Arbeitsverdienste gleichen und diesem der unversehrten Mit-
arbeiter gleich hohen Erwerb zu erzielen vermag, solange dieser Zustand dauert,
ferner das I.-V.-G. vom 22. Juni 1889 in § 34 für die Dauer der einen Monat
übersteigenden Freiheitsentziehung. Das Eeichsversicherungsamt vertritt in seiner
Eec.-Entsch. Nr. 582 vom 30. April 1888 die Eechtsüberzeugung, dass nach
den Grundsätzen der öffentlichrechtlichen Unfallversicherung auch während der
Dauer einer Strafverbüssung die Rentenzahlung nicht eingestellt werden dürfe.
Hierin stellt es sich gleichzeitig wieder in Widerspruch zu den Ausführungen des
Reichsgerichtes in den Urth. vom 23. December 1879 und vom 9. October 1890,
worin ausgeführt wird, dass die Haftpflichtrente nur einen Ausgleich zwischen der
Höhe des Erwerbes eines Versehrten Arbeiters zu diesem eines unversehrten
Fachgenossen zu bilden bestimmt sei, weshalb ein Bezugsrecht darauf nur so
lange und unter der Voraussetzung bestehen könne, dass der Inhaber der Arbeits-
kraft auch in der Lage sich befinde, solche zu verwerten. Deshalb habe Der-
jenige keinen rechtsbegründeten Anspruch darauf, bei welchem diese Voraussetzung
fortfalle, welcher also, wie der Strafthäter, sich selbst ausserstande gesetzt hätte,
über seine Arbeitskraft verfügen und einen Erwerb daraus erzielen zu können,
weil er für diese Zeitdauer ja einen Vermögensnachtheil infolge seiner körperlichen
oder geistigen Versehrtheit nicht erleide. Inwieweit es berechtigt erscheint, hierin
eine Unterscheidung zwischen der öffentlichrechtlichen und der privatrechtlichen
Schadloshaltung zu treffen, d. h. ob der leitende Grundgedanke, welcher die
Unfallversicherung beherrscht, sowie der Wortlaut der maassgebenden Gesetzes-
stellen die Auffassung des Reichsversicherungsamtes zu unterstützen vermöge,
soll hier unerörtert bleiben. Denn solange diesem das höchste Entscheidungsrecht
zusteht, lässt an dessen Rechtsgrundsätzen sich umsoweniger rütteln, als es infolge
seines höchsten Aufsichtsrechtes gleichzeitig die Macht hat, deren strictes Befolgen
seitens der Genossenschaftsvorstände zu erzwingen. Nur darauf darf hingewiesen
werden, dass der Grundsatz des U.-V.-G. vom 6. Juli 1884 § 65 sich im
wesentlichen deckt mit diesem des Hft.-Pfl.-G. vom 7. Juni 1871 § 6, 5., weshalb
der Schluss wohl gerechtfertigt erscheint, dass, weil dieselben gesetzgebenden
40*
620
Hilse.
Körperschaften beiden ihre Zustimmung ertheilten, auch der gleiche Sinn beiden
innewohnen sollte. Noch mehr tritt für die öflfentlichrechtliche Unfallversicherung
dies aus dem Umstände hervor, dass für die Invaliden- oder Alters-Rente das
Ruhen des Rentenbezugsrechtes angeordnet ist. Der Gesetzgeber wurde dabei eben
von der auch seitens des Reichsgerichtes vertretenen Anschauung geleitet, dass
für den, der sich ausserstande gesetzt habe, erwerben zu können, auch von einer
Erwerbseinbusse keine Rede sein könne und wollte Zustände vermeiden, welche
rechtswidersinnige Consequenzen nach sich zu ziehen vermögen, wie solche that-
sächlich infolge des Rechtssatzes Nr. 526 gezeitigt sind, wonach für Strafver-
büssende bisweilen recht hohe Capitalien anzusammeln waren, welche zu dem
Ergebnisse eines Strafgewinnes an Stelle des zuerkannten Strafübels führen mussten.
In der Reichstags-Sitzung vom 17. November 1891 wurde dies auch in so scharfer
Weise gemissbilligt, dass mit Sicherheit zu erwarten steht, es werde eine dem
I.-V.-Gr. § 34 gleiche Vorschrift in der Unfallversicherungsnovelle gewünscht.
Aber auch die Rechtsregel, dass nur insoweit ein Schaden auszugleichen
sei, als er thatsächlich auf die durch die Betriebsverletzung verursachte Störung
der Erwerbsfähigkeit zurückzuführen ist, darf für die öffentlichrechtliche Unfall-
versicherung nicht aufgegeben werden. Auf ihr beruht der Grundsatz des öster-
reichischen Ü.-V.-G. § 40. Derselbe ist mit Rücksicht auf die im U.-V.-G. vom
6. Juli 1884 § 3 gegebenen Berechnungsgrundsätze für die Ermittelung des
Arbeitsverdienstes der noch kein volles Jahr beschäftigten Arbeiter einerseits,
andererseits zur Abwehr der Möglichkeit gerechtfertigt, aus dem Betriebsunfälle
insofern einen bisweilen recht erheblichen Gewinn zu erzielen, als gleichzeitig aus
verschiedenen Berufsgenossenschaften dadurch ein Rentenanspruch sich verschafft
wird, dass infolge Wechsels der Beschäftigung eine Schadloshaltung Versehrter
Gliedmaassen eintritt, welche für die neuaufgenommene gar nicht störend oder
erwerbsmindernd sind. Im Hinblick auf die seitens der Industrie aufzubringenden
Geldmittel für Entschädigungszwecke darf wohl daran gedacht werden, solche
einzuschränken. Der verstümmelte Arbeiter, welcher das gleiche Arbeitsverdienst
seines unversehrten Fachgenossen zu erwerben vermag, wird durch den Bezug
der Unfallrente gegen diesen besser gestellt, was möglichst zu vermeiden ist.
Bei ihm trifft aber auch nicht die Voraussetzung für eine Entschädigungspflicht
zu, weil er den solcher zugrunde liegenden Erwerbsverlust gar nicht hat. Nicht
veränderte Umstände, welche gemäss Ü.-V.-G. § 65 eine Abänderung des Renten-
festsetzungsbeschlusses rechtfertigen, liegen hier vor, vielmehr ein zeitweiser
Wegfall des Entschädigungsgrundes. Deshalb darf die zugebilligte Rente weder
in ihrer Höhe herabgesetzt, nosh weniger gänzlich abgesprochen werden, vielmehr
bleibt der zuerkannte Anspruch in vollem Umfange zu Recht bestehen, nur ruht
das Bezugsrecht darauf zeitweise, um unverändert wieder zu erwachen, sobald
auch bloss vorübergehend die sein Ruhtin bedingende Beschäftigung endet. In
logischer Folge ist dieser Grundsatz auch als anwendbar zu erklären für die Zeit,
während welcher der Bezugsberechtigte seiner Militärpflicht genügt oder in einer
Trinkerheilanstalt untergebracht wurde. Dabei soll nicht verkannt werden, dass
das Bundesamt für das Heimatswesen allerdings in den Erk. vom 4. Februar
1888 und vom 8. November 1890 sich zu dem Rechtssatze bekannte, dass infolg-e
Abänderungs-Vorschläge für die Unfallversicherung. (521
der öffeiitlichrechtlichen Versicherunsr die armen rechtliche Hilfsbedürftigkeit ruht
und danach ein scheinbarer Widerspruch gegen das vorangestellte Verlangen
besteht. Allein dieser findet seine Lösung einfach darin, dass es doch dem
leitenden Grundgedanken der Unfallversicherung widerstreitet, die Industrie als
Trägerin dieser zum Aufbringen von Geldmitteln anzuhalten, welche nicht dem
Betriebsverletzten selbst, vielmehr bloss dem Gemeinwesen zugute kommt.
In der Eeichstags-Sitzung vom 17. November 1891 wurde zum Beschlüsse
erhoben, die mit an sich versicherungspflichtigen Arbeiten beschäftigten Straf-
gefangenen jeder Art in den Kreis der versicherungspflichtigen Personen hinein-
zuziehen, insonderheit aber dann, wenn Pächter ihrer Arbeitskraft sie zur Her-
stellung industrieller Erzeugnisse verwenden. Einer dementsprechenden Vorschrift
darf deshalb in der Vorlage wohl entgegengesehen werden. Desgleichen enthalten
die so cialdemokrati sehen Anträge die Forderungen:
1. Die Unfallfürsorge unmittelbar mit Abschluss des Heilverfahrens beginnen
zu lassen;
2. eine bezogene ünfallrente bei Berechnen der Witwen- und W^aisenrente
eines durch einen neuen Betriebsunfall Getödteten in Mitberücksichtigung zu ziehen;
3. Maassnahmen zu treffen, welche wirksam zu verhindern vermögen, dass
der Betriebsunternehmer seine Verpflichtungen aus der öffentlichrechtlichen Ver-
sicherung auf die beschäftigten Arbeiter abwälzt.
In der Eeichstags-Sitzung vom 8. Februar 1892 wurde die Berechtigung
dieser Forderungen im allgemeinen anerkannt, dagegen die Bedürfnisfrage mehr-
fach in Abrede gestellt. Insonderheit machten Zweifel sich dahin geltend, dass
es denkbar sei, es könne vor Ablauf von 13 Wochen ein Heilverfahren abge-
schlossen, also der Grund für eine fernere Krankenfürsorge fortgefallen und
dennoch eine Erwerbsunfähigkeit, welche den Eintritt der Unfallfürsorge gebiete,
zurückgeblieben sein. Diese Anschauung entspricht nicht den thatsächlichen Ver-
hältnissen. Denn es gibt viele Verletzungen, bei welchen die Krankheitserschei-
nungen in verhältnismässig sehr kurzer Zeit sich beseitigen lassen, obschon als
Folge eine bisweilen sogar völlige Vernichtung der Erwerbsfähigkeit zurückbleibt.
Die Entfernung eines Auges ist eine einfache Operation mit kurzdauerndem Ver-
laufe. Die Entfernung von Gliedmaassen eines in jugendlichem Alter Stehenden
heilt, wenn nicht ungesunde Säfte vorhanden, meist in wenigen Wochen. Und
dennoch lässt sich nicht leugnen, dass der Verlust des Auges dauernde, die
zurückgebliebene Schwäche des ganzen Armes vorübergehende Erwerbsunfähigkeit
bedingt. Die Krankencasse braucht hierfür füglich nicht mehr einzustehen, weil
nicht Krankheitserscheinungen, vielmehr Störungen der körperlichen Unversehrtheit
vorliegen, welche durch ein Heilverfahren nicht mehr zu mildern und zu besei-
tigen sind. Aber auch der vorzeitige Eintritt der Berufsgenossenschaft in das
Heilverfahren gemäss K.-V.-G. v. 10. April 1892 § 76 c) schafft nicht genügende
Abhilfe. Nur ein Recht, nicht aber eine Pflicht, hierzu wird begründet, weshalb
letzterer im Wege der Gesetzgebung einzuführen sein wird, um dem Uebelstande
vorzubeugen, dass die schnelle Heilung eines verstümmelten Betriebs verletzten für
diesen den Erfolg haben kann, eine Zeitlang ohne die ihm zustehende Ent-
schädigungsrente zu bleiben.
622 Hilse.
Das an sich Gute muss stets anerkannt und nachgeahmt werden, sobald
es erkannt und auf seine Zweckmässigkeit geprüft wurde. Dies trifft auch zu,
hinsichtlich des Grundsatzes des österreichischen U.-V.-G. vom 28. December 1887
§ 7, welches den Fall vorsieht, dass in den Arbeiterkreisen die Frau die Erwer-
berin des Unterhaltes für die Familie sein kann. Denn es billigt eine ünfallrente
auch dem Witwer zu, wenn und solange er erwerbsunfähig ist. Desgleichen
unterscheidet es folgeweise nicht dahin, wie Ü.-V.-G. vom 6. Juli 1884 § 6,
dass das Kind vaterlos und mutterlos wird, vielmehr ob bloss ein oder ob beide
Elterntheile ihm entrissen wurden. Während in Deutschland das Kind einer
betriebsgetödteten Arbeiterin bloss dann Anspruch auf Waisenrente erlangt, wenn
es unehelich erzeugt oder seine Mutter Witwe zur Zeit ihres Ablebens war, wird
in Oesterreich dem ausserehelichen Kinde die Hälfte des einem elternlosen zuste-
henden Eentenbetrages zugebilligt und das seiner Mutter beraubte, aber im Besitze
seines Vaters erhaltene, ganz gleich mit dem gestellt, dessen Vater starb und
dessen Mutter lebt. Dem Geiste und leitenden Grundgedanken der Unfallversiche-
rung entspricht dies jedenfalls mehr, als wenn das verloren gegangene Arbeits-
verdienst der Mutter gar keine Berücksichtigung findet. Die gesellschaftlichen
Zustände unter den Arbeitern bedingen einmal, dass die Frau mitthätig und mit-
ei*werbend für Beschaffung des Unterhaltes der Familie sein muss. Mancher
Hausstand beruht mehr auf dem Erwerbe der Frau, als auf diesem des Mannes.
Mit Wegfall jenes tritt eine Lücke ein, welche sich recht fühlbar hei den Familien-
gliedern äussert, d. h. oft genug Entbehrungen fordert, weil die Mittel zum
Beschaffen der Bedürfnisse fehlen. Hier einen Ausgleich zu schaffen, ist eben
Aufgabe der Unfallversicherung. Dagegen fehlt es an jedem vernunftgemässen
Grunde, weshalb der Betriebsunternehmer, welcher Frauen beschäftigt, frei davon
sein soll, auch deren Betriebsunfälle schadlos zu halten, wenn sie Ehefrauen sind.
Darin liegt eine Unbilligkeit, von dem Zufalle abhängig zu machen, ob eine
Waisenrente den Kindern der Betriebsgetödteten zusteht oder nicht. Unbekümmert
um das Leben des Mannes muss den Kindern derjenige Schaden ersetzt werden,
welchen der Tod der Mutter bereitet. Denn dass auch das Kind einer betriebs-
getödteten Witwe ebenso, wie das aussereheliche , Anspruch auf Waisenrente
erlangt, kann rechtlich nicht zweifelhaft sein. Gleich unbillig, wie es ist, dem
unehelichen Kinde von vornherein 20 Proc. zuzubilligen, es also gegen das ehe-
liche günstiger zu stellen, ebenso ungerecht erscheint das Vorenthalten jedes
Entschädigungsanspruches gegen die Mutter bei Lobzeiten des Vaters. Welche
grosse Fülle vom Gesetzgeber nicht gewollter Misstände bei Handhabung der
Unfallversicherung gerade aus der Fassung des ang. § 6 hervorgetreten, lässt
daraus sich ermessen, dass infolge der Freizügigkeit in zahlreichen Fällen Arbeiter
ihre Heimat verliessen, um in entfernten Orten Beschäftigung aufzunehmen, wäh-
rend Frau und Kinder zurückblieben. Nicht selten wurde von dem getrennt
lebenden Ehegatten die eheliche Pflicht vergessen, ein des gesetzlichen Anerkennt-
nisses entbehrendes Zusammenleben eingegangen, aus welcher wilden Ehe Kinder
hervorgiengen, welche gewissenhaft von dem männlichen Arbeiter ernährt wurden,
der die Mittel zur Bestreitung des Unterhaltes erw'arb und hergab. Erst ein
Betriebsunfall mit tödlichem Ausgange schaffte hierin Wandlung. Nicht die der-
Abänderungs -Vorschläge für die Unfallversicherung. 623
zeitige Hausgenossin, nicht die beiderseitigen Kinder, welchen der Verstorbene
so lange sorgsamer Ernährer war, vielmehr die längst vergessene fernlebende
Ehefrau bisweilen "mit im Ehebruche erzeugten, bloss aus gesetzlicher Fiction als
ehelich erkannten Kindern traten in den Genuss der Witwen- und Waisen-Eente.
Dies für die Zukunft unmöglich zu machen und zu verhindern, dass eheliche
Untreue einen Vortheil verschafft, muss in der neuen Vorlage vorgesehen werden,
zumal der heutige Zustand den Aufgaben des Versicherungsrechtes ebenso, wie
denen des Sittengesetzes widerstreitet.
Der Ausbau der Unfallversicherung durch die Gesetze vom 6. Juli 1884,
28. Mai 1885, 5. Mai 1886, 11. und 13. Juli 1887 mag der Grund dafür sein,
dass die Zuständigkeitsfrage nicht selten den Betriebsverletzten in Verlegenheit
bringt. Der Begriff „Eegiebau" oder „Nebenbetrieb des Hauptbetriebes" ist ein
sehr vager. Das Eeichsversicherungsamt nimmt Anstand, ihn genau zu begrenzen.
Daraus entstehen zahlreiche Streitfälle unter den Berufsgenossenschaften über die
Pflicht zur Uebernahme des Schadensfalles, welche stets für den Betriebsverletzten
den Nachtheil erzeugen, dass er bis zur endgiltigen Beilegung desselben unent-
schädigt, mithin ununterstützt auf das Wohlwollen Anderer angewiesen bleibt.
Dies widerstreitet dem gesetzgeberischen Willen. Deshalb wird in der Vorlage
Vorsorge zu treffen sein, dass fernerhin solche Unzuträglichkeiten sich vermeiden
lassen, indem Grundsätze aufgestellt werden, welche einmal die ersatzverpflichtete
Berufsgenossenschaft leichter feststellen lassen, sodann aber anordnen, dass die
zunächst angerufene den Schadensfall regelt, welcher dann in der Lage, in der er
sich gerade befindet, von derjenigen zu übernehmen sein wird, welche endgiltig
von dem Eeichsversicherungsamte als die wirklich verpflichtete erkannt wurde.
Für diese höchste Eeichsbehörde würde, was auch in der Eeichstags-Sitzung vom
17. November 1891 angeregt ist, der Geschäftsgang gesetzlich auch dahin zu
regeln sein, dass die einzelnen Senate nicht unter sich widersprechende Eechts-
grundsätze aufstellen, vielmehr ein Ausweg, vielleicht durch Plenarbeschluss,
gefunden wird, auf dem Fragen von principieller Bedeutung in einem sie alle
gleichmässig bindenden Sinne zur Feststellung gelangen. Vielleicht wird dies sich
leichter bewirken lassen, wenn das höchste Aufsichts- und das höchste Entschei-
dungsrecht, von einander getrennt, entweder verschiedenen Abtheilungen derselben
oder ganz anderen, selbständigen Behörden übertragen werden. Dabei kann
schliesslich auch noch in Erwägung kommen, ob die bisher gemachte Erfahrung
es nicht vielleicht rechtfertigt, den Eecurs des U.-V.-G. vom 6. Juli 1884, § 63,
durch die Eevision des I.-V.-G. vom 22. Juni 1889, § 80, in der neuen Vorlage
zu ersetzen. Wenigstens würde dadurch den vielen Eechtsmitteln gesteuert werden,
deren Ziel nur »dahin geht, über die Höhe des Eentenanspruches zu feilschen,
eine Handlungsweise, welche wenig dazu beiträgt, die Achtung vor der höchsten .
Spruchbehörde und das Vertrauen zu einer gerechten Eechtspflege zu befestigen.
Wird der Anlass zu Streitfällen beseitigt, so muss ferner der Möglichkeit vorgebeugt
werden, durch Unklarheit der Gesetzesstellen dem Betriebsuntemehmer Straffolgen
zuzuziehen. Dies ^'eschieht, wenn der Begriff ,. Beschäftigungsort" im Sinne des
U.-V.-G. vom 6. Juli 1884, § 1, mit B.-U.-V.-G. vom 11. Juli 1887, § 3 bestimmt
dahin gegeben wird, dass, wie im Ausd.-G. vom 28. Mai 1885, § 15, L.-U.-V.-G.
624 Hilse.
vom 5. Mai 1886, § 10, J.-Y.-a. vom 22. Juni 1889, § 41, K.-V.-G. vom
10. April 1892, § 5a er, dem Dienstorte des Ü.-W.-G. vom 6. Juni 1870
§ 29 entsprechend, dahin begrenzt wird, dass alle von demselben Betriebsunter-
nehmer an verschiedenen Arbeitsstätten beschäftigten Personen als bei der für
den Betriebssitz zuständigen Berufsgenossenschaft versichert gelten, gleichviel, ob
sie im Haupt- oder in einem Nebenbetriebe Verwendung finden, was auch im
„Gerichtssaal" (Bd. 46. S. 299) und in der „Zeitschrift für die gesammte Straf-
rechtswissenschaft" (Bd. 12. S. 564) vom strafrechtlichen Standpunkte aus
gefordert wird.
DIE NEUE
WÄHRUNGS- UND MÜNZ-GESETZGEBUNG
VON
ÖSTERREICH UND UNGARN.
EINGELEITET VON
KARL THEODOR v. INAMA-STERNEGG.
Die tiefgreifenden Veränderungen, welche im Laufe der beiden letzten
Decennien auf dem Weltmarkte der Edelmetalle vor sich gegangen sind, haben
auch den Bestand des Geldwesens in der österreichisch-ungarischen Monarchie
nicht unberührt gelassen. Obwohl durch das Ueberwuchern der papierenen Um-
laufsmittel nahezu isoliert, hat sich dennoch die gesetzliche Silberbasis unseres
Geldes immer noch wirksam gezeigt, bis sie durch die fortgesetzte Entwertung
des Silbers schliesslich geradezu zu einer Gefahr für Staats- und Volks-
wirtschaft wurde.
War damit allein schon für die Regierungen beider Reichshälften ein
mächtiger Anstoss gegeben, die Lösung des alten Valutaproblems nicht länger
mehr hinauszuschieben, so bot sich andererseits in der günstigen Finanzlage
beider Staaten, sowie in den momentanen Conjuncturen des Edelmetallmarktes
und der internationalen Zahlungsbilanz ein so ungewöhnlich geeigneter Zeitpunkt
fiir die Inangriffnahme der Aufgabe dar, dass jedes weitere Zögern eine neue
Gefahr und vielleicht ein unwiederbringlicher Verlust gewesen wäre.
In der wissenschaftlichen wie in der Tagesliteratur, in den parlamentarischen
und fachlichen Kreisen der Monarchie hat sich nun in den letzten Jahren so
Wesentliches zur Klärung des schwierigen und verwickelten Problems ergeben,
dass auch die Regierungen eine kräftige Förderung ihrer Bestrebungen darin
erblicken konnten. Die Resultate der in beiden Reichstheilen im Frühjahr 1892
einberufenen Enqueten waren überdies ein Beweis einer schon weitgediehenen
Klärung der Anschauungen über die Grundzüge der Währungs- und Münzreform.
So konnte es endlich gelingen, für das grosse Problem eine Formel zu finden,
welche, wenn auch vielleicht im einzelnen noch Unsicherheit oder Bedenken
belassend, doch in der Hauptsache eine glückliche Lösung zu verbürgen
geeignet ist.
ß26 Inaina-Sternegg.
Es ist daher wohl berechtigt, wenn wir im folgenden unsem Lesern den
Wortlaut des ganzen Gesetzgebungswerkes, auf welchem die künftige Ordnung
unseres Greldwesens beruhen wird, mittheilen. Um aber zugleich eine Art von
Commentar zu demselben zu bieten, möge auch der Bericht eine Stelle finden,
welchen einer der Herausgeber dieser Zeitschrift im Namen der Specialcommission
des Herrenhauses über diese Gesetzentwürfe erstattet hat. Derselbe darf vielleicht
auch zugleich als der abgeklärteste Ausdruck der Anschauungen des österreichischen
Parlamentes dienen, insoferne er nicht nur die Billigung aller Gruppen des
Herrenhauses gefunden, sondern auch dem in den Verhandlungen des Abge-
ordnetenhauses geltend gemachten Standpunkte vollauf Eechnung getragen hat.
Bericht der Specialcomniission des Herrenhauses über die Gesetz-
entwürfe, betreifend die Regelung der Yaluta und die Conyertierung
einiger Kategorien der Staatsschuld.
I. Einleitung.
Seit dem kaiserlichen Patente vom 20. Februar 1811 (J. G. 929), mit
welchem die Periode der Zerrüttung der Geldverhältnisse abgeschlossen und der
Anfang einer Heilung namenloser Uebel gemacht worden ist, hat Oesterreich die
Ordnung seines Geldwesens immer als eine seiner wichtigsten Angelegenheiten
betrachtet.
Zwar haben die erschütternden Ereignisse des Jahres 1848 neuerliche
Störungen in die kaum geregelte Circulation gebracht, aber doch schon wenige
Jahre später gelang es den energischen Anstrengungen der Regierung, durch
die Umwandlung der Staatsnoten in Banknoten die Ordnung der Geldverhältnisse
wenigstens wieder anzubahnen.
Noch einmal hat sich dann im Jahre 1866 die Regierung genöthigt gesehen,
den eingeschlagenen Weg zu verlassen; aber doch schon anderthalb Jahre später,
in dem Ausgleiche mit Ungarn vom Jahre 1867, wurde die Wiederherstellung
einer geregelten Geldcirculation wieder in Aussicht genommen.
Seitdem hat die Regierung wohl keinen Anlass vorüber gehen lassen, ohne
die bestehenden Anomalien im Zustande der Geldverhältnisse anzuerkennen ; und
ebenso haben das Parlament und die verschiedenen Kreise der öffentlichen Ver-
waltung, die Geschäftswelt wie die Wissenschaft nie einen Zweifel darüber auf-
kommen lassen, dass die Entwertung unserer Valuta vielleicht das grösste üebel
sei, an welchem die A^olks- und die Staatswirtschaft unseres Vaterlandes kranke.
Sowohl bei der ersten Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses mit Ungarn
im Jahre 1878 als auch bei der Fortsetzung desselben im Jahre 1887 ist die
Herstellung vollkommen geordneter Geldverhältnisse unter die Programmspunkte
aufgenommen, welche durch das Zusammenwirken der beiderseitigen Regierungen
zu verwirklichen seien.
So wird es keiner weiteren Ausführungen bedürfen, dass die definitive
Regelung der Valuta ein Gebot der staatlichen und volkswirtschaftlichen Noth-
wendigkeit ist. Und wenn bis vor kurzem die ungünstige Finanzlage immer als
das Hindernis einer Regelung der Valuta in diesem Sinne bezeichnet wurde und
Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von Oest erreich und Ungarn. 627
in der That auch dem jederzeit vorhandenen guten Willen hiezu immer wieder
aufs neue unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellte, so fordert doch unsere
Zeit, in welcher das so sehnlichst herbeigewünschte Gleichgewicht im Staatshaushalte
erreicht ist, gebieterisch die Erfüllung dieser alten und schweren Verpflichtung.
Um aber die definitive Eegelung der G-eldverhältnisse mit Aussicht auf
Erfolg in Angriff nehmen zu können, muss bei den gegenwärtigen Verhältnissen
des Geldwesens zunächst eine grosse Aufgabe erfüllt werden, ohne deren
fruchtbare Lösung auch das Ganze nicht gelingen könnte : der Währungswechsel
und die damit zu erzielende Wei-tbeständigkeit unseres Geldes. Die Schicksale,
welche das Silber, die gesetzliche Basis der österreichischen Währung seit 1857,
im Laufe der letzten beiden Decennien erfahren hat, drängen mit unausweichlicher
Nothwendigkeit dazu, diese Aufgabe zu lösen.
Auch diese Nothwendigkeit besteht nicht erst seit gestern; schon seit dem
Anfange der Sechziger-Jahre reifte die Einsicht, dass in einem Culturstaate mit
dem Silber als alleiniger Währungsbasis für die Dauer nicht mehr gerechnet
werden könnte.
Die Regierungen der beiden Staatsgebiete der österreichisch-ungarischen
itonarchie haben schon in dem ersten Zoll- und Handelsbündnisse vom Jahre 1867,
Artikel XII, dieser Ueberzeugung Ausdruck gegeben, vielleicht in einer allzusehr
auf die augenblickliche Constellation der internationalen Verhältnisse zugespitzten
und darum auch in der Folge nicht haltbaren Form, aber mit einem gewiss
berechtigten Grundgedanken. Auch die im Jahre 1870 verfügte Ausprägung von
Goldmünzen, wenn auch ohne Währungseigenschaft, die Emission von Goldrente
in beiden Eeichshälften (1876) waren zweifellos noch Ausflüsse desselben. Dann
aber hörten die Manifestationen der Staatsgewalt zu Gunsten der Goldwährung
auf; schon in der neuen Redaction des österreichisch-ungarischen Zoll- und
Handelsbündnisses vom Jahre 1878 ist nur mehr von der Wiederherstellung
der metallischen Circulation die Rede.
Die Regierungen zogen sich von der Währungsfrage zurück ; die gesetzliche
Silberwährung blieb vorläufig noch unangefochten. Inzwischen hatte sich vom
Jahre 1851 bis 1875 die Jahresausbeute an Gold etwa zehnmal so hoch gestellt,
als sie in den Vierziger-Jahren war, und der Antheil der Goldproduction an
der gesammten Edelmetallproduction war auf 15 bis 18 Procent gQgan 3 Procent
in denVierziger -Jahren gestiegen; die Wertrelation stand 1850 bis 1870 dauernd
unter 1 : 15*5. Man hätte in dieser Zeit nahezu kostenlos zur Goldwährung über-
gehen können ; aber dem Gedanken daran lähmte der Zustand der Finanzen und
die entwertete Papiervaluta die Schwingen ; ein blosser Wechsel des Währungs-
metalles hätte zunächst doch nur eine Goldrechnung, aber keine Goldcirculation»
erzeugen können.
Dennocli ist es nicht unwichtig, darauf hinzuweisen; bis zum Jahre 1866
wurde Silber in London ohne Aufgeld gehandelt und selbst 1873 bis 1874 hatte
es nur 5 Procent Agio gegen Gold zu zahlen. Dann war diese „goldene'^ Zeit
für Oesterreich-Ungarn einstweilen vorüber; bereits im Jahre 1879 war die Durch-
schnittsrelation 1 : 18-3, Silber hatte ein Aufgeld von 20 Procent zu zahlen und
unaufhaltsam vollzog sich das Sinken des Silberwertes.
528 Inama-Sternegg.
Während man aber in dem ersten Decennium des Ausgleiches noch an die
Einführung der Goldwährung allerdings mehr theoretisch dachte, hatten sich
bereits Ereignisse vorbereitet, welche diesen Gedanken, auch bei gebesserter
Finanzlage, als vorläufig unausführbar erscheinen lassen mussten^
Europa w^ar durch die Goldausbeuten von Amerika und Australien, sowie
von Eussland schon hinlänglich mit Gold gesättigt; es war leicht und ohne
Prämie zu erhalten. Aber auch die Silbergewinnung begann nachzuholen, was
die vorausgegangene Periode versäumt hatte; es war an eine Minderbewertung
des Goldes nicht mehr zu denken; der nachhaltige Silberzufluss war gesichert,
aber doch keineswegs so gross, um eine Entwertung des Silbers besorgen zu müssen.
Im Jahre 1865 wurde die lateinische Union gegründet und damit dem
Gedanken der Doppelwährung auf einem w^eiten geld- und verkehrsreichen
Gebiete Geltung verschafft. Im Jahre 1867 wurden von dem damals auch politisch
so mächtigen Frankreich starke Anstrengungen zu Gunsten einer Verallgemeinerung
des Systems der Doppelwährung gemacht; und wenn auch diese Bemühungen
zunächst erfolglos waren, so blieb doch nach wie vor die Constellation des
allgemeinen Edelmetallmarktes diesem Gedanken günstig.
Im Jahre 1873, als das Deutsche Reich sein Goldwährungssystem ausbaute,
die skandinavische Union nach manchen Schwierigkeiten auf der Grundlage der
alleinigen Goldwährung zustande kam, da trübten sich schon die Aspecte der
Doppelwährung.
Im Jahre 1875, als auch Holland zum Golde übergieng, die lateinische
Union (seit 1874) die Silberausprägung auf ein Minimum einschränkte, die
Eelation sich für das Silber um 11 Procent verschlechterte, ja im Sommer 1876
vorübergehend auf 1 : 20 gekommen war, da verschwand auch in Oesterreich-
Ungam die Doppelwährung aus dem Kreise ernsthafter praktischer Ei-wägungen.
Alles, was der spätere Verlauf der Währungsverhältnisse gebracht hat,
war eine ununterbrochene Kette von Erscheinungen, welche den Verfall der Rolle
des Silbers als Währungsmetall bedeuteten: die beständige Erhöhung der Relation,
die vollständige Einstellung der Silberprägungen in der lateinischen Union seit 1878,
die Einstellung der Silberprägungen für private Rechnung in Oesterreich-Ungarn
und die Aufhebung der Pflicht der österreichisch-ungarischen Bank, Silber ein-
zulösen, die Annahme der Goldbasis in den Balkanländern, die Silberpolitik
Hollands. Ja sogar der sichere Abnehmer überschüssiger europäischer Silber-
quantitäten, Indien, versagte, und Japan fieng an, das scharfsinnig herausgefundene
Charakteristikum modern europäischen Verkehres auch als nothw^endiges Attribut
seiner neuen Civilisation anzusehen, indem es 1870 den Gold-Yen schuf.
Die gewaltsamen Eingriffe in diesen natürlichen Verlauf der Dinge, welche
mehrmals die amerikanischen Silberpolitiker versuchten, erwiesen sich, trotz ihrer
relativen Grossartigkeit, dennoch im ganzen als wirkungslos. Auch den amerika-
nischen Verkehr beherrscht das Gold, wie es längst schon in den Ländern der
lateinischen Union die führende Rolle übernommen und selbst in Oesterreich-
Ungarn „für die Totalität unserer Währungsverhältnisse schon unter den gegen-
wärtigen Umständen allerdings nur indirectden Wertmaasstab abgibt." (Regierungs-
motive Seite 6.)
Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von Oesterreich und Ungarn. 629
Verhältnismässig früh haben die Kegierungen von Oesterreich und Ungarn
diese Situation erkannt oder wenigstens geahnt und ein erster energischer Schritt
zur bereits unvermeidlich gewordenen Währungsreform folgte dieser Erkenntnis
auf dem Fusse: zu Anfang des Jahres 1879 wurde auf Grund ministerieller
Weisungen an die Münzstätten in Wien und Kremnitz keine weitere Anmeldung
von Privaten zur Ausprägung von gesetzlicher Landessilbermünze mehr ange-
nommen und fortan nur noch in bescheidenen Grenzen auf Rechnung der
Regierungen Silber geprägt; zugleich wurde die Bank für die Dauer der Sistierung
der freien Silberprägung der Verpflichtung enthoben, Silberbarren währungs-
gemäss anzunehmen.
Das war eine Maassregel von einschneidender Bedeutung für die Währungs-
verhältnisse. Zunächst vielleicht nur bestimmt, um dem unnatürlichen Anschwellen
der Umlaufsmittel ein Halt zu setzen, wirkte sie doch sofort auch in ganz anderer
Weise; sie negierte zunächst eine Wesenseigenschaft jeden Währungsgeldes,
nämlich die, jederzeit von den staatlichen Münzstätten in beliebiger Menge erhältlich
zu sein und beschränkte, ähnlich wie bei der Scheidemünze, den Eintritt von
neuem Silber in den Verkehr, auf die von den Regierungen einseitig fixierten
Beträge der jährlichen Ausprägung; sie hielt aber zugleich den gesetzlichen
Wert des Courantsilbers nach dem Münzfusse aufrecht, obgleich der innere Wert
desselben im freien Verkehre diesem gesetzlichen Werte nicht mehr entsprach;
sie schuf daher, wie bei den Scheidemünzen, einen, wenn gleich sehr beschränkten
Umlauf von Geld mit theilweise fiduciärem Werte und sie bewirkte, wie bei den
Scheidemünzen, dass dieser fiduciäre Wert den Wertbewegungen des eigentlichen
factischen Währungsgeldes, der Note, folgte.
Die Einstellung der Silberprägungen erhielt also nicht dem Silber seinen
Wert — das konnte keine Regierungsmaassregel — sondern sie zwang nur den
internen Verkehr von der bereits eingetretenen Entwertung des Silbers abzusehen
und geringwertige Gulden ebenso wie geringwertige Zwanzig- und Zehnkreuzer-
Stücke für vollwertig anzunehmen. Nur in einem Punkte unterscheidet sich
fortan das Courantsilber von der gesetzlichen Scheidemünze: es kann gesetzlich
zu Zahlungen in unbeschränktem Maasse verwendet werden, während bei der
gesetzlichen Scheidemünze eine beschränkte Annahmepflicht besteht. Das aber
schwächt die Wirkung nicht ab, sondern steigert sie, denn fortan kann mit .
fiduciärem Silber unbegrenzt gezahlt werden, während jedes gut geordnete
Währungswesen solchen Zahlungen ängstlich knappe Grenzen zu ziehen sich ver-
pflichtet fühlt.
Dass dieser Zustand auf die Dauer ebenso unhaltbar ist, als wie der Zustand
einer vollen Preisgebung unserer Währungsbasis an die unberechenbaren Schwan-
kungen des Silberpreises, bedarf wohl keiner weiteren Beweise. Allerdings ist
durch die Einstellung der Silberprägung im Jahre 1879 grosser Schaden verhütet
worden und man wird den Regierungen dankbar dafür sein müssen, dass sie das
bewirkt haben. Aber wir wissen keinen Augenblick, ob nicht ungleich grösserer
Schaden daraus entsteht; denn nun ist unsere Valuta im labilen Gleichgewichte
und jede Verrückung des Schwerpunktes müsste für sie gefährlich werden. Dass
es nicht geschehen ist, verdanken wir den ruhigen Verhältnissen der Achtziger-
(330 Inama-Sternegg.
Jahre, dem besonnenen Verhalten unserer Eegierungen, dem gebesserten Vertrauen
in die politische und finanzielle Position der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Aber es ist trotzdem ein beunruhigender Zustand; der ganzen Bevölkerung wird
ein Stein vom Herzen fallen, wenn die Schicksale unseres Geldwesens nicht mehr
von den täglichen Constellationen des Geldmarktes abhängig sind.
So stellt sich denn die Eegelung der Valuta als eine doppelte Aufgabe dar,
deren nächstgelegene die Aenderung unserer metallischen Währungsbasis, deren
zweite, erst nach erfolgreicher Durchführung der ersten zu lösende, die definitive
Regelung unserer Circulationsmittel ist; beide gleich wichtig für die Wahrung
der volkswirtschaftlichen und staatswirtschaftlichen Interessen, beide aber auch
geboten vom Standpunkte der rechtlichen Ordnung des Geldwesens.
il. Die Goldwährung.
Von den beiden Aufgaben, welche nach dem Vorstehenden auf dem Gebiete
unseres Geldwesens zu erfüllen sind, wird nach den Vorlagen der hohen Regierung
nur die eine, die Reform unserer Währungsverhältnisse, sofort in Angriff
genommen, die zweite aber, die definitive Ordnung unserer Circulation, nur vor-
bereitet. Es ist aber ausdrücklich anerkannt, dass die beiden Gruppen von
Maassregeln in dem innigsten Zusammenhange miteinander stehen und ein ein-
heitliches letztes Ziel, die volle Ordnung unseres Geldwesens im Auge haben.
Dass die Regierang mit der Reform der Währung den Anfang machen
will, kann nur gebilligt werden, ja es ist wohl selbstverständlich. Unser gegen-
wärtiges gesetzliches Metallgeld eignet sich eben in keiner Weise mehr zu Bar-
zahlungen; sein gegenwärtiger gesetzlicher Wert ist zum grossen Theil fiduciär,
und eine Herabsetzung seines gesetzlichen Wertes auf seinen wirklichen inneren
Wert würde unberechenbaren Schaden stiften, abgesehen davon, dass ja auch
das nur durch eine Währungsänderung zu erzielen wäre.
Um also das Geldwesen vollkommen ordnen zu können, müssen wir vorerst
die Währung ändern, darin ist sowohl die Reihenfolge der Operationen, als auch
ihr innerer Zusammenhang ausgedrückt.
Nach der Regierungsvorlage soll an die Stelle der bisherigen österreichischen
Währung die Goldwährung treten. Dass damit die unter den gegenwärtigen
Verhältnissen allein mögliche Grundlage einer rationellen Währungsreform gewählt
ist, geht schon aus den früher gemachten Bemerkungen über die Schicksale
des Silbers und über die Bedingungen der Doppelwährung hervor. Aber auch
der Umstand ist hiefür bestimmend, dass Gold die rechtlich oder wenigstens
factisch alleinige Basis des Geldwesens in allen Ländern ist, mit welchen wir
in directem Handelsverkehre stehen; 90 Procent des Wertes unseres gesammten
auswärtigen Handels betreffen Goldwährungsländer. Der freie geschäftliche Verkehr
der civilisierten Welt kennt überhaupt keine andere Vertragsbasis; wie schon im
14. und 15. Jahrhundert das Gold die Wertbildung des grossen Handelsverkehres
beherrscht hat, obwohl die Silberwährung allenthalben Landeswährung war, so
lehnt auch jetzt trotz einer starken silberfreundlichen Strömung die amerikanische
Geschäftspraxis jeden nicht auf Gold gestellten Vertrag ab. Es gibt eben zu
jeder Zeit ein führendes Metall in der Weltwirtschaft, das mit elementarer
Die neue WähiTings- und Münzgesetzgebung von Oesterreich und Ungarn. 631
Gewalt, allen staatlichen Normen zum Trotz, sich zur Geltung durchdringt; und
in unserer Zeit ist es das Gold.
Mit diesem Princip soll also, nach dem allgemein giltigen Begriff der
Währung wie nach dem Inhalte der vorliegenden Gesetzentwürfe und nach den
ausdrücklichen Erklärungen der Regierung (Motive Seite 7) das Gold der vom
Gesetze allein anerkannte allgemeine Wertmaasstab und das rechtlich allein
anerkannte allgemeine Zahlungsmittel sein. Doch ist dieser Grundsatz nicht sofort
in vollem Umfange zu verwirklichen, sondern nur als Abschluss des ganzen
Processes der Währungsreform in Aussicht genommen. Die in dem Gesetze I
statuierten einstweiligen Ausnahmen von dem Grundsatze der Goldwährung
charakterisieren dasselbe als eine Uebergangsgesetzgebung. Diese Ausnahmen
sind zunächst:
1. Die Belassung der auf Grund des kaiserlichen Patents vom 19. Sep-
tember 1857, R. G. Bl. Nr. 169, ausgeprägten Landessilbermünzen zu 2, 1 und
\ 4 Gulden österreichischer Währung im gesetzlichen Umlauf.
2. Die fernere Ausprägung von Landessilbermünzen der österreichischen
Währung aus jenen Silbermengen, welche sich bereits im Besitze der Finanz-
verwaltung befinden oder von derselben zu Münzzwecken erworben sind (Artikel X).
Diese Ausprägung soll übrigens nach den Erklärungen der Regierung nur nach
deren Ermessen stattfinden (Motive Seite 19).
Diese Ausnahmen werden von der Regierung theils mit finanziellen
Erwägungen (Motive Seite 19), theils mit dem Hinweise auf den fortlaufenden
Bedarf der Monarchie an Zahlungsmitteln und insbesondere an solchen in
klingender Münze motiviert (Motive Seite 20). In ersterer Beziehung kommen
offenbar zumeist Zinsenverluste und Entgang an Münzgewinn in Betracht; in
letzterer Beziehung ist der Umstand maassgebend. dass Silbermünzen des neuen
Währungssystems nicht rasch und reichlich genug in Umlauf gebracht werden
können, um bei dem Uebergange einen, wenn auch nur vorübergehenden Münz-
mangel zu verhüten, und dass wir vorläufig noch Silberverpflichtungen haben,
welchen mit Silbercourant entsprochen werden muss.
Diese Vorsicht der Regierung kann nur gebilligt werden; sie ist auch bei
allen analogen Vorgängen angewendet worden, um dem Verkehre Zeit zu gewähren,
sich den neuen Verhältnissen ohne Störung anzubequemen.
Die weitere Ausprägung von Landessilbermünzen der österreichischen
Währung dagegen ist nur als eine Mögiickeit ins Auge gefasst und wohl nur
für vorübergehenden aussergewöhnlichen Bedarf berechnet; die nothwendige be-
ständige Ergänzung des monetären Bestandes wird durch successive Ausgabe
von Silbermünzen des neuen Währungssystems zu bewirken sein; auch liegt es
im Interesse des Verkehres und gleichsam auch des Prestige der Währungsreform,
mit der Hinausgabe von Silbermünzen des neuen Systemes nicht zu zögern und
die Zeit und den Umfang einer parallelen Verwendung von Silbermünzen beider
Systeme möglichst einzuschränken, demnach auch mit der Neuausprägung von
Silbermünzen alten Stiles nicht ohne zwingende Gründe vorzugehen.
Es handelt sich dabei nach den Erklärungen des Herrn Finanzministers
in der Valutacommission um einen .ungefährten Betrag von 32 Millionen Gulden
(532 Inama-Stemegg.
Silber, gegenüber einer Gesammtsumme von 200 Millionen Kronen (zz 100
Millionen Gulden), welche in Silbermünzen des neuen WJihrungssystems ausgeprägt
^Verden sollen.
Nach den Erklärungen Seiner Excellenz des Herrn Finanzministers im
Ausschusse des Abgeordnetenhauses vom 22. Juni 1. J., wornach diese Silber-
vorräthe zur Ausprägung des im Artikel IX. des ET. Gesetzes bestimmten Betrages
von 200 Millionen Silberkronen mit in Eechnung gezogen worden sind, ist auch
in der That eine Besorgnis in dieser Eichtung nicht zu hegen.
In gleicher Weise aber beruhigt auch die Fassung des Motivenberichtes,
mit welchem die Yalutavorlagen im ungarischen Abgeordnetenhause ausgestattet
wurden, wonach dort die Ausprägung der Silbercourantmünzen alten Stiles voll-
ständig und definitiv eingestellt werden soll; endlich auch noch die Bemerkung
des Herrn Finanzministers in der früher erwähnten Sitzung, dass die Silber-
guldenstücke zunächst in der Hauptsache in der österreichisch-ungarischen Bank
verbleiben werden, da gerade bei den Silbergulden die Gefahr der üeberwertigkeit
näher liege, als bei den Silberkronen, und man jene daher nicht ohneweiters
hinausgeben dürfe, um nicht ihr Abfliessen nach dem Auslande besorgen zu müssen.
Nach diesen Aeusserungen des Herrn Finanzministers werden also die
Silbergulden überhaupt im gewöhnlichen Verkehre keine grosse Rolle spielen,
jedenfalls von der Regierung nicht in Verkehr gesetzt werden, und damit erscheint
jene oben angedeutete Anomalie eines Fortbestandes der alten Währungsform
neben der neuen Währungsform des Silbergeldes zum mindesten in ihrer Bedeutung
so verringert, dass auch die in Artikel X der Finanz Verwaltung zu ertheilende
Ermächtigung, nöthigenfalls selbst nach Einführung der Goldwährung noch
Silbergulden österreichischer Währung zu prägen, unbedenklich ist.
Im übrigen ist durch den Artikel X des ersten Gesetzes der vorläufig
aufrecht erhaltene Umlauf von Silbercourant österreichischer Währung dennoch
sofort seiner Währungseigenschaft im Sinne eines selbständigen Wertmaasstabes
entkleidet und der neuen gesetzlichen Goldwährung eingefügt, indem der legale
Wert des Courantsilbers österreichischer Währung im festen Verhältnisse aus
iler neuen Währungsbasis, dem Golde, abgeleitet wird (Artikel X).
Es wird sich also auch nicht sagen lassen, dass das Gesetz für die Ueber-
gangszeit zwei Währungen nebeneinander bestehen lasse, es erhält vielmehr nur
dem bisherigen Courantsilber, das ja ohnehin schon seit 1879 seine volle
Währungseigenschaft eingebüsst hat, vorläufig noch die eine Function eines
Währungsgeldes aufrecht, volles Zahlungsmittel im inländischen Verkehre zu
sein; aber auch diese Function des Courantsilbers österreichischer Währung wird
fortan nur auf der Grundlage der gesetzlichen Goldwährung ausgeübt.
Eine weitere Ausnahme von dem Principe der Goldwährung, wodurch das
vorliegende Gesetzeswerk gleichfalls als Uebergangsgesetzgebung charakterisiert ist,
liegt in den Bestimmungen der Artikel XXIII und XXIV des I. Gesetzes,
wonach die auf österreichische Währung lautenden Papiergeldzeichen einst-
weilen noch mit voller gesetzlicher Kraft im Umlauf erhalten werden, mag es
sich dabei um Zahlungen handeln, welche gesetzlich in österreichischer Währung
oder in der neuen Kronenwährung zu leisten sind. Doch sind auch diese Papier-
Die neue Währuiigs- und Münzgesetzgebung von Oesterreich und Ungarn. (333
geldzeichen insofern sofort der neuen gesetzlichen Goldwährung eingefügt, als in
denselben Artikeln ihr legaler Wert in festen Verhältnissen aus der neuen
Währungsbasis, dem Golde, abgeleitet wird. (Artikel XXIII.)
Auch bezüglich dieses Umlaufes wird sich nicht von dem Nebeneinander-
bestehen mehrerer Währungen reden lassen. Gold allein wird der Wertmaasstab
sein, Gold allein wird einen unbeschränkten Umlauf haben; die volle Zahlkraft
des Courantsilbers österreichischer Währung wie des Papiergeldes ist schon durch
die Contingentierung ihrer umlaufenden Beträge eine beschränkte.
Aber auch in dieser sehr restringierten Aufrechterhaltung des bisherigen
Geldsystems bedeutet doch das Nebeneinanderbestehen von goldenen, silbernen
und papierenen Umlaufsmitteln verschiedener Systeme, aber doch mit gleicher
voller Zahlkraft, eine Unzukömmlichkeit für den Verkehr und eipe Gefahr für
das Gelingen des ganzen Eeformwerkes. So sehr es daher auch als unvermeidlich
bezeichnet werden muss, in der von dem Gesetzentwurfe angedeuteten Weise
vorzugehen, so liegt doch anderseits in " diesen Erwägungen eine Aufforderung,
sowohl die Ersetzung des Silbercourant österreichischer Währung, als auch die
Fundierung des Staatspapiergeldes derselben durch Courantgeld der Goldwährung
nicht lange zu verzögern und damit wenigstens einen vorläufigen Abschluss der
Währungsreform herbeizuführen.
Die Einführung oder vorläufige Aufrechterhaltung einer sonstigen Aus-
nahme von dem Princip der Goldwährung hat der Gesetzentwurf nicht in Aussicht
genommen; insbesondere ist in den Gesetzesvorlagen keine Rede davon, dass ein
Silbercourantgeld des neuen Systems geschaffen werden solle. Im Gegentheil
bestimmt das Gesetz I, dass die Silbermünzen der Kronenwährung nur bis zum
Betrage von 50 Kronen allgemein gesetzliche Zahlkraft haben (Artikel XIX), mit
geringerem Feingehalt als die Goldmünzen (Artikel XU), und nur auf Eechnung
des Staates in dem contingentierten Betrage von 140 Millionen Kronen (für die
diesseitige Reichshälfte) ausgeprägt werden (Artikel XIV), lauter Bestimmungen,
welche über den Charakter des Silbergeldes des neuen Systems als Scheidemünze
keinen Zweifel bestehen lassen. Dagegen wird demselben allerdings innerhalb
der Scheidemünzen eine bevorzugte Stelle eingeräumt, indem den Silberkronen
bei allen öffentlichen Gassen unbeschränkte Zahlkraft zugestanden ist (Artikel XIX),
bei ihrer Ausprägung auf die Einhaltung des Normalgewichtes und des Normal-
gehaltes gesehen und demnach eine allerdings weiter als bei den Goldmünzen
gezogene Toleranzgrenze bestimmt wird. (Artikel XII.) Diese bevorzugte Behandlung
des Silbergeldes des neuen Systems bedeutet aber keineswegs die Schaffung eines
Silbercourants, sondern ist nur eine allerwärts als nothwendig befundene Rücksicht
auf den Kleinverkehr, welcher sich ganz vorzugsweise dieser Münzen zur Erfüllung
seiner wichtigsten Verbindlichkeiten bedient und daher auch einen begründeten
Anspruch darauf hat, dass ihm der innere Wert und die Zahlkraft dieser
Münzen nicht mehr geschmälert werde, als dies mit den Principien einer gesunden
Münzpolitik unvermeidlich ist.
Dieser in den vorliegenden Gesetzen genau umschriebenen Stellung des
Silbers innerhalb des neuen Währungssystems gegenüber hat sich die hohe
Regierung in wiederholten, während der parlamentarischen Verhandlung abgegebenen
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. IV. Heft. 41
g34 Inama- Sternegg.
Erklärungen die Freiheit der Entschliessung in Bezug auf die mit der Einbe-
rufung der Silbergulden notbwendig werdende definitive Eegelung der Silberfrage
vorbehalten zu müssen geglaubt. Da diese Entscheidung wesentlich von der
künftigen Gestaltung des Edelmetallmarktes abhängt und diese wenigstens in
Bezug auf das Silber in der That im gegenwärtigen Augenblicke unberechenbar
ist, so erschien es nicht angemessen und auch durch nichts geboten, jetzt schon
in dieser Frage Stellung zu nehmen und die von der hohen Eegierung mit Recht
in Anspruch genommene Freiheit der Entschliessung, welche ja doch der Cognition
des Parlaments unterliegt, durch ein vorläufiges Votum in dieser Sache zu
beeinträchtigen.
IM. Das Weptvenhältnis der Goldwährung zur östeppeichischen
Wähpung.
Mit der Annahme des Principes der Goldwährung ist zugleich auch die
Nothwendigkeit gegeben, ihr Wertverhältnis zu der österreichischen Währung
gesetzlich festzustellen. Eine Eelation überhaupt derzeit gesetzlich nicht aufstellen
zu wollen, während doch schon alle Vorbereitungen zur Annahme der Gold-
währung und zur Aufnahme der Barzahlungen getroffen werden sollen, nicht
bloss eine Goldbeschaffung sondern auch schon eine Goldprägung eingeleitet
werden soll — das wäre eine Unmöglichkeit. Die gesetzliche Eelation ist die
Grundbedingung für die Wertbeständigkeit unserer bisherigen Währung und damit
für die sichere Hinüberleitung derselben in die neue Währung, für die gesetzliche
Anordnung und Durchbildung der Goldwährung, für die Gewinnung einer wenigstens
annähernden Sicherheit darüber, dass die Annahme des Principes der Goldwährung
und seine Ausgestaltung nicht bloss theoretisch unanfechtbar, sondern auch in
der That dem Staate und dem Volke zum Nutzen gereichen werde.
Für diese Aufgabe der Feststellung des Wertverhältnisses der Goldwährung
zur österreichischen Währung sind nun die gangbaren Vorstellungen des Wert-
verhältnisses der beiden Edelmetalle zu einander nicht anwendbar. Wenn in
anderen Staaten bei einem Währungswechsel die Frage, ob das althergebrachte
Verhältnis 1 : 15*5 aufrecht erhalten oder modificiert werden solle, die Cardinal-
frage bildete, so handelte es sich dabei immer nur um das Verhältnis zweier voll-
kommener Metallwährungen zueinander. Oesterreich-Üngarn aber hat der Gold-
währung keine vollkommene Metallwährung gegenüber zu stellen.
Das Silber ist wichtiger Währungseigenschaften schon seit langer Zeit ent-
kleidet; es bildet in dem Zustande, in welchem es sich innerhalb unseres Geld-
wesens befindet, kein geeignetes Vergleichsmoment mehr; denn der gegenwärtige
Legalwert unseres Silbergeldes ist ein abgeleiteter, wie der der Scheidemünzen.
Die metallische Grundlage unserer Währung ist seit 1879 imaginär und eine ganz
selbständige Wertbildung des Papiergeldes stellte sich ein, von welcher fortan
das Silbergeld seinen Wert abgeleitet hat. Wir haben in der That nichts als
eine Papierwährung, welche wir mit der Goldwährung in Bezug auf ihren Wert
in Vergleichung setzen können.
Zu diesem Werte der Papierwährung, einer Creditbewertung im vollen
Sinne des Wortes, muss die Goldwährung in gesetzliche Eelation gesetzt werden.
Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von Oesterreich und Ungarn. 635
Die Aufgabe schien sehr einfach zu sein. Täglich setzte ja die Börse diese
Eelation factisch fest und alle Geschäfte, bei welcher sie in Frage kam, regelten
sich nach diesen täglichen Festsetzungen.
Man brauchte nur das factische Verhältnis rechtlich anzuerkennen, und
konnte mit der Ueberzeugung der Unverantwortlichkeit und jener Gerechtigkeit,
welche das stetig fliessende Leben gewährt, vor die Bevölkerung treten. Freilich
stellte sich bei näherer Betrachtung der Verhältnisse alsbald die Wahrnehmung
ein, dass auch hiemit dem natürlichen Verlaufe der Dinge Einhalt geboten,
also ein Eingriff in die freie Bildung der Eelation doch unvermeidlich sei. Denn
da die Eelation die Grundlage aller Berechnungen für die Goldbeschaffung, für
das Münzsystem, für die finanziellen und volkswirtschaftlichen Eücksichten der
verschiedensten Art bildet, so musste doch von einer Tagesrelation schon
bei dem Entwürfe der Gesetzvorlagen ausgegangen werden, welche dann sofort
höchst störend für den weiteren Verlauf der freien Bildung der Eelation, steigernd
oder hemmend, werden musste und überdies doch der Eegierung das Odium der
Wahl eines bestimmten Augenblickes mit dem vollen Maasse der Verantwort-
lichkeit aufbürdete.
Es ist trotzdem begreiflich, wenn der Gedanke, an die Tagesrelation an-
zuknüpfen, insbesondere in kaufmännischen Kreisen gehegt wurde, wo man
gewöhnt ist, rasch zu liquidieren und sich mit den momentanen Ereignissen abzu-
finden. Aber ein anderes ist doch die Eelation, welche nur auf den Tag wirkt
und etwas anderes die Eelation, welche nun bleibend sein soll in ihren Wirkungen.
Von der gesetzlich gewählten Eelation geht eine ganz bestimmende Wirkung
auf alle Geschäfte aus, welche noch der Liquidierung harren und nun nach
dieser Eelation liquidiert werden müssen, mögen sie zu welchem früheren Zeit-
punkte immer abgeschlossen worden sein. Es ist daher nicht minder begreiflich,
wenn das Verlangen derjenigen Kreise, welche Vermögensfragen, die auf längere
Zeit zurückreichen, zu ordnen haben, auf eine Eelation gerichtet war, welche
nicht von den Constellationen des Tages bestimmt ist, sondern mindestens den
Ausdruck eines mittleren Wertes unserer bisherigen Währung, einen Durch-
schnittscours, zur Geltung bringen würden. Dieses Verlangen trat umso bestimmter
hervor, als die Tagescourse gerade in der Zeit, in welcher die Frage der Eelation
in dem Mittelpunkte der öffentlichen Discussion stand, erheblich günstiger für
unsere Papierwährung standen, als je zuvor, seit mit der Einstellung der freien
Silberprägung die Situation unserer Währungsverhältnisse geschaffen worden war.
Ganz anders war von Anfang an jene Gegnerschaft des Tagescourses zu
beurtheilen, welche aus den Kreisen des geschäftsmässigen Exports entstand. Hier
handelte es sich zwar auch nur um kurzfristige Geschäfte, welche sich den
Tagescoursen anpassen mussten, aber man empfand doch weithin ein Unbehagen
über die fortschreitend sinkende Tendenz unseres Goldagios, aus dessen früherem
Steigen diese Kreise einen nicht unerheblichen Vortheil gezogen hatten. Die
Gegnerschaft gegen den Tagescours war hier also eigentlich nur das Verlangen
nach Herbeiführung einer rückläufigen Bewegung, wenigstens bis zu dem Augen-
blicke, in welchem die Eegelung unserer Geldverhältnisse dem schwankenden
Werte unserer Valuta definitiv ein Ende bereiten würde. Dort war also der
41*
^36 Inama-Sternegg.
Standpunkt der Grercchtigkeit angerufen, hier stand man ausschliesslich auf dem
Standpunkte des Interesses, wenn auch immerhin eines volkswirtschaftlichen
Interesses; denn dass es die Gerechtigkeit verlange, dass unsere Währung möglichst
entwertet werde, das konnte doch nicht behauptet werden.
Für das Verhalten der Eegierung in dieser schwierigen Frage bot der
Standpunkt des Durchschnittscourses einen entschiedenen Vortheil dar. Es konnte
zwar auch hier noch zweifelhaft sein, welche Periode von Jahren der Durch-
schnittsberechnung zu Grunde zu legen sei und diese Rechnung musste ein ver-
schiedenes Ergebnis liefern, je nachdem einfach das arithmetische Mittel oder
irgend ein anderes gewählt wurde, welches den späteren Cours als die Function
des früheren Coursstandes auffasst; aber jedenfalls war dem Subjectivismus der
Regierung damit eine viel engere Grenze gezogen und sie konnte mit dem Hinweise
auf das Ergebnis der Berechnung aus lauter ganz abgeschlossenen Thatsachen
selbt den Schein einer willkürlichen Beeinflussung der Relation von sich abweisen.
Vom Standpunkte der Gerechtigkeit aber ist überhaupt kein bestimmter
Cours zu ermitteln, also auch keine feste Norm für das Verhalten der Eegierung
oder der Gesetzgebung in der Frage der Relation aufzustellen; auf dem Boden
der Papierw^ährung gibt es nur ein positives Recht der Relation, das ist das
Recht der täglichen Schwankung. Wäre es anders, so würde bei der gesetzlichen
Fixierung des Tagescourses das Recht der Vergangenheit, bei der gesetzlichen
Fixierung des Durchschnittscourses nicht bloss das Recht der Gegenwart und der
voraussichtlichen Zukunft, sondern auch noch eine unübersehbare Menge indivi-
dueller Rechte aus älterer Zeit verletzt, indem doch die Zahl der Verträge,
welche gerade unter der Herrschaft des nun ermittelten Durchschnittscourses ge-
schlossen wurden, verschwindend gering ist gegenüber denjenigen, welche auf Grund
einer höheren oder einer niedrigeren Relation entstanden.
Die gesetzliche Feststellung der Relation wird also immer von dem Boden
de'r realen Gestaltung des Wertverhältnisses unserer Papierwährung aus, unter
Berücksichtigung der volkswirtschaftlichen Wirkungen desselben vorgenommen
werden müssen; die volkswirtschaftliche Richtigkeit der getroffenen Wahl wird
sich darin äussern müssen, dass die Wertproportionen der Ansprüche und
Leistungen und die Preisverhöltnisse der einzelnen Güter aus dieser Ursache gar
keine Veränderunsr erfahren.
Während nun diese Probe auf die Richtigkeit der getroffenen Wahl selbst-
verständlich erst in der Zukunft angestellt werden kann, beruht das Urtheil
über die voraussichtliche Richtigkeit derselben auf einer eingehenden Würdigung
aller Factoren welche dem Einflüsse der gewählten Relation unterliegen und
möglicherweise auf die künftige Preisgestaltung einwirken können.
Dabei ist nun vor allem die Natur der Relation scharf im Auge zu be-
halten. Diese drückt das Wertverhältnis unserer Papierwährung zur herrschenden
Goldwährung aus; in dem Aufgelde, welches für Papier zu zahlen ist,* um Gold
im gleichen Nominalbetrage zu erhalten, ist die Minderwertigkeit unserer Papier-
währung gegenüber dieser Goldwährung ausgedrückt. Das Goldagio unserer Noten
ist also gleichsam der Distanzmesser unserer Entfernung von der herrschenden
Goldwährung. Bei der allgemeinen Herrschaft des Goldmaasstabes für die
Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von Oesterreich und Ungarn. (337
Messung des Wertes internationaler Verbindlichkeiten ist es begreiflich, dass
auch unser Papiergeld nur mehr mit diesem Maasstabe gemessen wird.
Daraus folgt zunächst, dass der Wert unseres Papiergeldes nicht an dem
Silber gemessen werden kann, dass also auch nicht von einer überwertigen,
sondern nur von einer unterwertigen Valuta die Rede sein kann, und es fallen
damit alle die Besorgnisse hinweg, welche in Bezug auf die allgemeine Wert-
und Preisbildung aus einer angeblichen unnatürlichen W^ertsteigerung unserer
Valuta resultieren sollen. Solche Vergleiche sind Anachronismen, sie setzen noch
immer die Silberwährung bei uns voraus, die factisch nicht mehr besteht.
Es folgt daraus aber auch, dass der Wert unserer Papiervaluta nicht ge-
messen werden darf an dem Verhältnisse zwischen Gold und Silber, welches in
den Ländern der lateinischen Union noch immer wie 1 : 15*5 künstlich aufrecht
erhalten wird, in vielen Staaten bei dem seinerzeitigen Uebergange aus der
Silberwährung zur Goldwährung im gleichen oder ähnlichen Betrage zu Grunde
gelegt war, und auch bei uns bei verschiedenen Gelegenheiten in ähnlichem
Ausmaasse angewendet und von der Gesetzgebung anerkannt worden ist. Nicht
weil wir diese Eelation selbst nie anerkannt hätten, sind wir nicht an sie ge-
bunden, sondern weil gar kein Grund vorliegt, bei der gegenwärtigen Ordnung
unserer Währungsverhältnisse uns an eine Relation gebunden zu erachten, welche
früher einmal, unter ganz anderen Voraussetzungen, angenommen war und weil
diese Relation jetzt überall als antiquiert gilt. Nur insoweit, als wir dem Aus-
lande bestimmte Versprechungen in dieser Relation gemacht haben, müssen wir
sie auch in derselben erfüllen, im übrigen aber ist der Wert unserer Papier-
valuta dem Golde gegenüber durch den Cours der Weltmärkte auch für jedes
Ausland auf das allerbestimmteste bezeichnet.
Nach den Gesetzesvorlagen soll nun der Uebergang zur Goldwährung auf
der Basis von 100 : 119 erfolgen, welches Verhältnis auch ungefähr aus dem
Durchschnittscourse der letzten dreizehn Jahre resultiert; diesem Verhältnisse
haben sich auch schon die Tagescourse angepasst, und es ist schon durch die
vorläufige Festsetzung der Relation eine Stetigkeit unserer Valutacourse erreicht
worden, wie sie früher nie zu verzeichnen war. Um somehr kann füglich erwartet
werden, dass nach der gesetzlichen Fixierung der Relation diese Stetigkeit sich
auch in der Zukunft erhalten werde, so lange nicht ganz ungewöhnliche Ereig-
nisse eintreten. Damit ist aber auch jenen Factoren, welche früher ihren Ein-
fluss auf die täglichen Variationen der Course ausgeübt haben und welche damit
auch die tägliche Preisbildung unsicher und schwankend gemacht haben, ihr
Einfluss auf die normale Preisgestaltung entzogen. Abgesehen von den ganz
vorübergehenden Gewinnen und Verlusten, welche infolge der geringen Abweichung-
der gewählten Relation von den unmittelbar vor dieser Wahl herrschenden Coursen
entstanden sind, wird nicht anzunehmen sein, dass bei stabil gewordenen Coursen
überhaupt eine Verschiebung der Wertproportionen und der Preissätze aus dem
Anlasse der Fixierung der Relation entstehen werde, und damit sind alle die
Vermuthungen über die in den einzelnen Interessenkreisen zu erwartende Bevor-
theilung oder Benachtheiligung zum mindesten als ganz unwahrscheinlich zu be-
zeichnen. Vielmehr ist mit der erlangten Stetigkeit der Course ein erster, schon
ß38 In ama- Sternegg.
jetzt erzielter und nicht zu unterschätzender Gewinn für die ganze Volkswirtschaft
zu verzeichnen.
Sollte sich dazu noch, wie es jetzt schon den Anschein hat, die Hoffnung
yerwirklichen, dass durch die gewählte Relation ein Zufluss von Gold im freien
Verkehre erleichtert werde, so wird darin nur ein weiteres Argument zu ihren
Gunsten erblickt und die Hoffnung gestärkt werden können, dass auch die
ferneren Schwierigkeiten der Währungsreform nicht unüberwindlich sind.
Im übrigen aber wird es die Aufgabe des Münzsystems sein, durch eine
den gangbarsten Preisstufen der Artikel des täglichen Lebensbedarfes angepasste
Stückelung der Münzeinheit zu verhindern, dass der Währungswechsel zum
unberechtigten Anlasse von Preissteigerungen im Kleinverkehre missbraucht werde.
Alle diese Erwägungen führen schliesslich doch zu dem Ergebnisse, dass
die von der Regierung vorgeschlagene und dem Entwürfe des Münzsystems
zu Grunde gelegte Relation die relativ beste, den Verhältnissen und Interessen
der Gesammtheit angemessenste ist. Vorläufig, und auch, wenn diese Vorlage
Gesetzeskraft erlangt haben wird, ist freilich auch mit dieser Relation keine
endgiltige Fixierung des Wertverhältnisses unserer Papierwährung zum Golde
geschaffen, denn noch immer behält ja diese Papierwährung wichtige Functionen
für unser Geldwesen und immerhin können Ereignisse eintreten, welche das
gesetzlich fixierte Wertverhältnis in der Praxis nicht aufrecht erhalten lassen.
Ja, man hat es dieser Art der Wertbestimmung, wie sie das Gesetz vornehmen
will, geradezu zum Vorwurfe gemacht, dass sie zwar eine weitere Besserung des
Wertes unserer gegenwärtigen Valuta ausschliesse, gegen eine Verschlechterung
derselben aber nicht zu schützen vermöge. Eine solche Verschlechterung ist
aber doch nur unter zwei Voraussetzungen denkbar: durch eine allgemeine
Erschwerung der Goldbeschaffung und durch Verschlechterung unseres Credites.
In der letzteren Hinsicht kann und wird eine vorsichtige Finanzgebarung und
eine zielbewusste Friedenspolitik schützen; in der ersteren Hinsicht allerdings
sind die Factoren von uns nicht zu beherrschen, und darum liegt auch hierin
eine energische Aufforderung, die definitive Regelung unserer Geldverhältnisse
consequent im Auge zu behalten; damit allein ist auch diese Gefahr definitiv
zu beseitigen.
IV. Der Münzfuss.
Mit der Wahl der Relation soll der Thatsache, dass der Wert unserer
österreichischen Währung sich zu dem Werte der fremden Goldwährung wie
100 : 119 verhält, auch eine gesetzliche Anerkennung gegeben werden.
Damit ist zwar der Wahl des Münzfusses nicht unbedingt präjudiciert,
aber es ist derselben doch schon die Richtung gewiesen. Es wäre nämlich
principiell immerhin auch bei dieser Relation möglich, zum Münzfusse der
deutschen Reichswährung oder der lateinischen Union überzugehen; nur müssten
in diesem Falle alle bisher auf österreichische Währung gestellten Preise im
Verhältnisse von 100 : 119 in die neue Währung umgerechnet werden.
In einer Zeit, in welcher der Gedanke einer internationalen Münzeinheit
mit einer gewissen Begeisterung gehegt wurde, würde man vielleicht um der
Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von 0 esterreich und Ungarn. 639
Erreichung dieses Vortheiles willen die Uebelstände jener Umrechnung leichteren
Herzens in Kauf genommen haben; unsere Zeit ist in Bezug auf internationale
Münzeinigung überhaupt durch die Erfahrung von mehr als zwanzig Jahren
ziemlich entnüchtert; den Glauben an einen internationalen Münzbund aber,
welcher ^och die Grundbedingung für die volle Fruchtbarmachung einer inter-
nationalen Münzeinheit bilden würde, den hat sie vollends verloren.
Unter diesen Umständen ist die Rücksicht auf den möglichen Anschluss
Oesterreich-Ungarns an eines der bestehenden Münzsysteme begreiflicherweise von
Anfang an sehr in den Hintergrund getreten und die Rücksichtnahme auf die
Bedürfnisse des eigenen inneren Verkehres haben sich in entscheidender Weise
Geltung verschafft. Anstatt dem internationalen Verkehre eine Münze zu schaffen,
welche ohne Umrechnung nach allen Richtungen hin zu Zahlungen verwendet
werden könnte, war die Aufgabe vielmehr die, für den internen Verkehr einen
Münzfuss zu entwickeln, vermittels dessen nun auch wirklich erreicht würde,
was schon mit der Wahl der Relation angestrebt war, nämlich eine Umwandlung
der österreichischen Währung in die Goldwährung, ohne dass überhaupt eine
Umrechnung der Preise aus der alten in die neue Währung erfolgen müsse.
War dieses Ziel zu erreichen, dann konnte auch gehofft werden, dass sich
der Uebergang ohne jede Störung des Verkehres, ohne jede sonst bei Münz-
veränderungen nur allzuleicht sich einstellende Vertheuerung des Lebens voll-
ziehen werde; man konnte erwarten, dass sich unter dieser Voraussetzung auch
die neue Währung rasch einbürgern und keinerlei Misstrauen in dieselbe ent-
stehen werde. Dann war auch jede Gefahr einer Benachtheiligung einzelner Kreise
der Bevölkerung zu Gunsten anderer Kreise beseitigt; ohne krampfhafte Er-
schütterungen, ja ohne jede Störung des Verkehres konnte das grosse Ziel einer
Hinüberleitung unseres Geldwesens auf eine den modernen Ansprüchen ent-
sprechende metallische Basis erreicht werden.
Dabei kamen neben diesem durchschlagenden Gesichtspunkte allerdings
auch noch andere Rücksichten bei der Wahl des Münzfusses zur Geltung. Es
war vor allem darauf Bedacht zu nehmen, dass der gegenwärtige Wert der
österreichischen Währung in dem rechnungsmässig entsprechenden Ausmaasse
von Gold in der neuen Münzeinheit seinen Ausdruck finde und dass auch dieser
AusdrucK keinerlei Umrechnung nöthig mache, sondern unmittelbar ein Ausdruck
der Wertgleichheit der alten und der neuen Hauptmünze sei.
Das hätte nun allerdings streng genommen zu der Consequenz führen
müssen, als die neue Münzeinheit einen Gulden Gold anzunehmen, welcher
einem Gulden österreichischer Währung vollkommen gleichgestellt worden wäre.
Gegen die volle Annahme dieser Consequenz haben sich triftige praktische
Bedenken ergeben: die leichte Verwechslung mit dem seit 1870 vorhandenen,
wenn schon nicht währungsmässigen Goldgulden und das Bedürfnis, gleich den
meisten der vorgeschrittensten europäischen Staaten zu einer kleineren Münz-
einheit überzugehen. So wurde die Hälfte eines Guldens Gold nach dem neuen
System als Münzeinheit gewählt, bei welcher die Umrechnungen ausserordentlich
leicht und ganz unbedenklich erschienen, und dieser neuen Münzeinheit wurde
der Name Krone gegeben, welcher auf den Münzen selbst unter Festhaltung
640 Inania-Sternegg.
bc'^teheudeii alterthümlichen Gebrauches der Müiiztechnik in der lateinischen
Aiisdrucksweise abgekürzt als Cor. erscheint. Da diese Modificationen des oben
entwickelten Principes dasselbe in der Hauptsache nicht alterieren, mag es wohl
zulässig erscheinen, dieselben angesichts der bereits erfolgten Zustimmung der
bereits zum Worte gekommenen legislativen Factoren beider Eeichshälften auch
dem hohen Herrenhause zur unveränderten Annahme zu empfehlen.
Ein Uebelstand musste bei der Entwicklung dieses Münzsystems allerdings
mit in den Kauf genommen werden: Die Hauptgoldmünze des neuen Systems
hat ein ganz irrationelles Gewicht erhalten, sowohl im Eohgewichte als im Fein-
gewichte; es lässt sich daher auch das einzelne Goldstück nur mit besonders
hiefür adjustierten Gewichtsstücken genau nachmessen; aber diesen nur vom
Standpunkte einer ideal ausgestatteten Münztechnik geltend zu machenden Uebel-
stand wird der Verkehr gar nicht empfinden und überdies theilt ihn das neue
österreichisch-ungarische Münzsystem mehr oder weniger mit den Münzsystemen
aller Goldwährungsländer.
Endlich sollte mit der Wahl des Münzfusses doch auch nach Thunlichkeit
auf die Bedürfnisse des ausländischen Verkehres Eücksicht genommen und daher
darauf gesehen werden, dass bis auf nicht vermeidbare kleine Bruchtheile die
Umrechnung der neuen Münzeinheit in die Münzeinheiten jener Staaten, mit
denen wir den intensivsten Verkehr pflegen, also einerseits des Deutschen Eeiches
und Grossbritanniens, anderseits aller Länder mit dem Münzsystem der lateinischen
Union sich in runden Zahlen vollzieht. Das ist denn auch annähernd gelungen,
indem in ganz unbedeutend abgerundeten Beträgen 1 Krone = 85 Pfennige zu
10 Pence i= 1 Francs 5 Centimes gelten wird.
Die weitere Ausbildung des Systems der Goldmünzen, die Stückelung der-
selben zu 20 und zu 10 Kronen, die äussere Gestalt derselben, Toleranz, Passier-
gewicht und Prägegebür schliesst sich theils enge an die bewährte Praxis der
übrigen Staaten mit Goldwährung und ist anderntheils in der Eücksicht auf die
Bedürfnisse unseres Verkehres wohl begründet. Ebenso rechtfertigt sich die Ein-
stellung der Prägungen von Goldgulden (nach dem Gesetze vom 9. März 1870)
und die Aufrechterhaltung der Ducatenprägung, welche vorwiegend in unserem
Handelsinteresse gelegen ist.
Für die weitere Gliederung des Münzsystems kommen, nachdem die Gesetzes-
vorlagen nicht von einer gemischten, sondern nur von der Goldwährung aus-
gehen, nur Scheidemünzen in Betracht. Dass hier vor allem eine ausgiebige
Verwendung von Silber eintreten muss, ist ebensowohl in unseren bisherigen
Währungszuständen und den infolge davon vorhandenen Silberbeständen, als
auch in der allgemeinen Lage begründet, in der sich das Silber auf dem Edel-
metallniarkte befindet; auch wird dieser Vorgang durch die analogen Zustände
des Münzwesens in den übrigen Staaten der Goldwährung gerechtfertigt.
Die Silberkrone wird die wichtigste Münze des Kleinverkehres sein; daher
rechtfertigt sich auch ein relativ hoher Feingehalt (^''^*''/iooo)' ^^^^ ^^^^ ^^^^^ ^i"
gleicher Feingehalt wie bei den Courantsilbermünzen des alten Systems oder bei
den Goldmünzen des neuen Systems gerechtfertigt wäre. Auch die Vorschriften
über die Genauigkeit in der Einhaltung des Eohgewichtes und des Feingewichtes
Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von Oesterreioh und Ung;ini. (341
sind in dieser hervorragenden Function der Silberkrone für den Kleinverkehr
wohl begründet.
Der Höhe des Contingents der Silberkronenprägung (Artikel XIV) kann
nur eine vorläufige Bedeutung beigemessen werden. So lange noch Silbergulden
alten Systems und Staatspapiergeld in Umlauf ist, wird voraussichtlich die
Prägung den gesetzlichen Maximalbetrag nicht zu erreichen brauchen. Ergibt
sich aber, wie wahrscheinlich, nach definitiver Beseitigung dieser älteren Zahl-
mittel das Bedürfnis nach vermehrtem Silberumlaufe im Rahmen der Goldwährung,
so wird diesem Bedürfnisse durch Erhöhung des Contingentes Rechnung getragen
werde können, ohne dass dadurch das Münzsystem oder gar die Währung
irgendwie tangiert würde.
Für die kleinen Theilmünzen sollen an die Stelle des reinen Kupfers zwei
Metalle, reines Nickel und Bronze, in Verwendung kommen. Die hiefür geltend
gemachten technischen und finanziellen Gründe lassen diese Maassregel als voll-
kommen gerechtfertigt erscheinen. Dasselbe gilt von den Bestimmungen über die
Ausstattung, die weiteren Modalitäten und die nach dem Metalle verschieden
abgestufte Zahlkraft der verschiedenen Theilmünzen.
Die Contingente dieser beiden Arten von Scheidemünzen zusammen ent-
sprechen ungefähr den bisher ausgegebenen Beträgen von Scheidemünzen in
Silber und Kupfer, wenigstens dann, wenn angenommen werden darf, dass ein
Theil der Zwanzig-Kreuzerstücke (circa sieben Millionen von etwa 20 Millionen
Gulden) durch Ein-Kronenstücke im Umlaufe ersetzt wird.
Die Aufrechterhaltung der Prägung von sogenannten Levantiner Thalern
ist durch die triftigsten Handelsinteressen der Monarchie noch immer geradezu
gefordert. Ihr Umlauf in der Levante ist ein schöner und wertvoller Beweis des
grossen Ansehens, dessen sich unsere Monarchie auch in fernen Verkehrsgobieten
seit der Regierung der Kaiserin Maria Theresia, glorreichen Angedenkens, zu
erfreuen hat.
Das im Gesetze entwickelte Münzsystem, sowie die mit demselben gegebene
ausschliessliche Rechnung in der Kronenwährung soll übrigens nicht sofort mit
dem Inkrafttreten dieses Gesetzes obligatorisch sein; eine Reihe von legislativen
und administrativen Maassnahmen, welche den geordneten Uebergang in die neuen
Währungsverhältnisse regeln sollen, die Ordnung der Verhältnisse des allgemeinen
Münzverkehres, die Bestimmungen über die Anwendung der neuen Währung auf
die Rechtsverhältnisse, die Verfügungen über die vorläufig noch in Umlauf ver-
bleibenden Landessilbermünzen österreichischer Währung, ferner die Verfügungen
über die Einlösung der Staatsnoten, die Bestimmungen über die Ordnung der
Papiergeldcirculation und endlich die Verfügungen über die Aufnahme der Bar-
zahlungen werden durch besondere Gesetze festgestellt werden müssen, durch
welche dann erst das ganze Werk seinen Abschluss findet.
Dagegen werden alle Münzen des neuen Systems wohl alsbald nach dem
Inkrafttreten dieses Gesetzes successive zur Ausprägung gelangen und können
innerhalb der ihnen von dem Gesetze zuerkannten Zahlkraft auch zu allen Zah-
lungen verwendet werden, welche gesetzlich in österreichischer Währung — sei
es in klingender Münze oder nicht — zu leisten sind. (Artikel XXIV.)
g42 Inama- Sternegg.
V. Den Münz- und Wähpungsventrag mit Ungarn.
Der von dem Ministerium der im Keichsrathe vertretenen Königreiche und
Länder mit dem Ministerium der Länder der ungarischen Krone auf Grund des
staatsrechtlichen Verhältnisses beider Theile der Monarchie abzuschliessende
Münz- und Währungsvertrag soll auf die Dauer von 18 Jahren, das heisst bis
zum Ende des Jahres 1910, abgeschlossen werden, und falls er nicht ein Jahr
vor seinem Ablaufe von einem der vertragschliessenden Theile gekündigt würde,
auf weitere zehn Jahre in Geltung verbleiben.
Damit ist dem neu zu begründenden Vertragsverhältnisse jedenfalls eine
genügend lange Dauer gesichert, um das Work der Währungsreform und die
damit in untrennbarem Zusammenhange stehenden weiteren Schritte zur definitiven
Regelung unserer Geldverhältnisse zum vollständigen Abschlüsse bringen zu
können. Es sind damit auch die Münz- und Währungsverhältnisse losgelöst von
der zehnjährigen Dauer des Zoll- und Handelsbündnisses zwischen den beiden
Reichshälften, und damit für die ungestörte Erhaltung eines der wichtigsten
Fundamente für die höhere wirtschaftliche Einheit der Monarchie neue Garantien
geschaffen.
Die einzelnen Bestimmungen des Vertrages beziehen sich theils auf die
volle Erhaltung der Münz- und Währungseinheit auch auf der neuen Währungs-
basis, theils auf die Wahrung des vollsten Einvernehmens bei allen Schritten,
welche jedes der beiden Staatsgebiete zur Ausgestaltung seines Münzwesens selbst-
ständig zu unternehmen in der Lage ist, theils endlich in der Sicherstellung
eines vollkommen gleichzeitigen und harmonischen Vorgehens in allen weiteren
Angelegenheiten, welche die definitive Ordnung des Geldwesens in beiden Theilen
der Monarchie erfordern werden.
Insoweit bei der Regelung dieser Angelegenheiten eine Auseinandersetzung
über die damit begründeten Rechte und Verbindlichkeiten nach fest bestimmten
Antheilssätzen in Frage kommt, ist allgemein der Quotenschlüssel von 70 Procent
für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, und 30 Procent für
die Länder der ungarischen Krone bestimmt.
Dieses Quotenverhältnis entspricht zwar nicht dem für die Tragung der
Kosten der beiden Theilen der Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten dermalen
staatsrechtlich begründeten Verhältnisse. Aber es muss anerkannt werden, dass
es sich in dem gegenwärtigen Augenblicke, in welchem die Festsetzung dieses
Quotenverhältnisses für die Währungsreform nothwendig ist, um eine von keiner
Seite bestrittene, durch verschiedene specielle Abmachungen in Geldangelegenheiten
der Monarchie begründete Rechtsbasis handelt, und dass der gegenwärtige
Anlass nicht geeignet war, an eine Revision dieser älteren vertragsmässigen Fest-
stellungen zu gehen.
VI. Die sonstigen Correcturen unseres Währungswesens.
Nachdem in Gemässheit des Artikels IX des I. Gesetzes die durch das
Gesetz vom 9. März 1870, R.-G.-Bl. Nr. 22, eingeführten Goldmünzen zu acht
und vier Gulden nicht mehr geprägt werden sollen, ergab sich die Nothwendig-
keit, angesichts der bestehenden in solchen Münzen zu leistenden öffentlichen
Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von Oesterreich und Ungarn. 643
und privaten Verpflichtungen, dafür zu sorgen, dass aus dieser Einstellung der
Prägungen keinerlei Störungen im Eechtsverkehre entstehen. Auf dem Boden
unseres bürgerlichen Gesetzbuches ergibt sich für diesen Fall eine einzige, aber
auch vollkommene Lösung dieser Frage; nach § 989 a. b. G.-B. sind für den
Fall, dass Zahlungen in einer bestimmten Münzsorte verabredet wurden, der-
gleichen Münzsorten aber zur Zeit der Rückzahlung im Staate nicht in Umlauf
sind, zunächst ähnliche Geldstücke in solcher Zahl und Art zur Zahlung zu
verwenden, dass der Gläubiger den zur Zeit des Darleihens bestandenen, inneren
Wert dessen, was er gegeben hat, erhalte.
Als solche ähnliche Geldstücke ergeben sich aber die nach dem I. Gesetze
zu prägenden Landesgoldmünzen der Kronenwährung, da ja ähnliche Goldstücke
einer ausländischen Währung nicht als bei uns im Umlaufe befindlich ange-
nommen werden können. Das dabei angewendete Verhältnis von 42 Goldgulden
zz 100 Kronen, entspricht dem in dem Gesetze vom Jahre 1870 und in dem
neuen Gesetze über die Kronenwährung (Artikel III) normierten Feingehalte
dieser Münzsorten.
Der im IV. Gesetze vorgeschlagene Zusatz zu Artikel 87 der Sta-
tuten der österreichisch-ungarischen Bank ist ebenfalls mit der beab-
sichtigten Währungsreform im engsten Zusammenhange. Wie es zum Wesen des
Währungsgeldes gehört, dass es jedermann jederzeit in gesetzlich unbeschränk-
tem Maasse zugänglich sein muss, so gehört es anderseits zum Wesen einer
Zettelbank, als des grossen Regulators des freien Umlaufes, dass das Währungs-
geld und das Metall desselben jederzeit ungehinderten Zutritt zur Bank haben
und durch dieses Reservoir auch wieder Eingang in den allgemeinen Verkehr
finden können. Die Norm für dieses Verhalten der Bank besteht darin, dass
dieselbe gesetzlich verpflichtet wird, das geprägte und ungeprägte Währungs-
metall jederzeit zum gesetzlichen Mütizfusse gegen ihre Noten einzulösen.
Diese gesetzliche Verpflichtung der Bank besteht dermalen nach § 87 des
Bankstatuts bezüglich der gesetzlichen Silbermünzen der österreichischen Währung.
Bezüglich der Silberbarren ist sie seit 1879 suspendiert. Entsprechend der freien
Goldausprägung, welche mit dem Inslebentreten der vorliegenden Gesetze begonnen
werden soll, ist es wichtig, dass die Bank diese ihre regulierende Function auch
bezüglich des Goldumlaufes sofort aufnehmen könne. Aus diesem Grunde muss
auch die hier vorgeschlagene gesetzliche Bestimmung sofort dem Bankstatute
hinzugefügt werden, während eine Reihe anderer mit der successiven Regelung
unseres Geldwesens nothwendig werdenden Reformen der Bankgesetzgebung erst
in einem späteren Zeitpunkte in Angriff zu nehmen sind.
Es konnte aber doch anderseits nicht daran gedacht werden, dass die Bank
gleichzeitig mit der Uebernahme der Verpflichtung zur Einlösung gesetzlicher
Goldmünzen und Goldbarren von der Verpflichtung freigesprochen werde,
gesetzliche Silbermünzen einzulösen, da dieselben, wenn auch nicht mehr volles
Währungsgeld, so doch vollgiltige Zahlmittel geblieben sind. In einer wohl-
verstandenen Bankpolitik ist es aber allerdings begründet, dass die Bank von
ihrer vorläufig unangetasteten Berechtigung, weiterhin Silberbarren zur Verstärkung
ihres Metallschatzes einzulösen, keinen Gebrauch mehr mache, und der Beschluss
g^^ Inama-Sternegg.
der ausserordentlichen Generalversammlung der Bank vom 23. Mai 1. J., in diesem
Sinne vorzugehen und sich auch den beiden Eegierungen gegenüber zu einem
solchen Verhalten zu verpflichten, zeigte, dass die Bank die gegenwärtige Situation
richtig erfasst und in loyaler Weise ihre Mitwirkung zur Umwandlung unseres
Währungswesens zur Verfügung stellt.
Angesichts dieses Verhaltens der Bank lässt es sich wohl auch mit
Bestimmtheit erwarten, dass die Bank, so viel an ihr liegt, nichts verabsäumen
wird, um die geldersparenden Einrichtungen ihres Geschäftsverkehrs, welche
allerdings erst mit der Aufnahme der Barzahlungen ihre volle Wirksamkeit
äussern können, in einer den weitestgehenden Bedürfnissen des Verkehres
entsprechenden Weise auszugestalten und dass sie auch im Abrechnungsverkehre
mit dem Staate ihre guten Dienste nicht versagen werde.
VII. Die Vorbereitungen zur Fundienung und Einlösung des
Staats Papiergeldes.
Streng genommen bilden zwar alle in Berathung stehenden Gesetzvorlagen
eine Vorbereitung zur Fundierung und Einlösung des Staatspapiergeldes. Ohne
die Beziehung auf dieses Ziel würde die Währungsreform und der damit verbundene
Aufwand mindestens zu einem grossen Theile seiner inneren Berechtigung-
entbehren. Ganz speciell diesem Ziele zugewendet ist jedoch das V. Gesetz,
durch welches die Ermächtigung zu einem Goldanlehen im Betrage von 183,456.000
österreichischen Goldgulden ertheilt werden soll.
Mit dem Erlös aus dieser Anleihe soll die Möglichkeit geschaffen werden.
in grösserem Maasstabe als dies mittels der in Gold vorhandenen Cassenbestände
des Staates möglich wäre, an die Ausprägung von Landesgoldmünzen der Kronen-
währung für Eechnung des Staates zu schreiten.
Schon die Ziffer des in Anspruch zu nehmenden Anleihebetrages lässt mit
vollkommener Deutlichkeit ersehen, dass es sich hiebei nur um die Beschaffung
der Mittel zur Fundierung und Einlösung der Staatsnoten handle. Denn von den
312 Millionen Gulden österreichischer Währung, welche als gesetzliches Contingent
der eine gemeinsame schwebende Schuld bildenden Staatsnoten im Umlauf ist,
entfallen nach dem Quotenschlüssel von 70 : 30 auf die im Eeichsrathe ver-
tretenen Königreiche und Länder 218,400.000 fl. oder 436*8 Millionen Kronen,
welche, mit Beziehung auf das Verhältnis ihres Feingehaltes zu dem Feingehalte
der österreichischen Goldgulden umgerechnet, eben den in Anspruch genommenen
Anlehensbetrag ergeben. Auch ist nach den, dem Gesetze V beigegebenen Motiven
und nach den ausdrücklichen Erklärungen Seiner Excellenz des Herrn Finanz-
ministers jeder Zweifel darüber ausgeschlossen, dass der Erlös der projectierten
Anleihe zu irgend anderen Zwecken als ausschliesslich zum Zwecke der Fundierung
und Einlösung der Staatsnoten verwendet werde. Die in dem Gesetze selbst
aufgestellten Cautelen, welche der Legislative und der von derselben eingesetzten
Staatsschuldencontrolscommission die weitestgehende Ingerenz in Bezug auf die
Verfügung und die Controle über diese Geldbeträge einräumt, entsprechen nicht
nur der ausserordentlich grossen Bedeutung, welche diesem staatlichen Goldschatze
für die glückliche Lösung des Problems der Valutaregelung zukommt, sondern
Die neue Wälirungs- und Münzgesetzgebung von Oesterreich und Ungarn. (545
sind auch speciell im Interesse der Stärkung des vollsten Vertrauens der
Bevölkerung in den Ernst und das zielbewusste Vorgehen der Regierung in
dieser Angelegenheit gewiss von den günstigsten Wirkungen.
Die Wahl der mit dem Gesetze vom 18. März 1876 creierten Goldrente
als Anlehensform wird damit begründet, dass dieses Papier auf dem internationalen
Markte schon beliebt ist und die Einführung einer ganz neuen Anlehensform
zunächst mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen hätte.
In» keinem unmittelbaren Zusammenhange mit der Währungsreform und mit
den weiteren Vorbereitungen zur Aufnahme der Barzahlungen steht die letzte
(VI.) Gesetzvorlage, betreffend die Convertierun g der 5procentigen steuerfreien
Notenrente und zweier Kategorien von Eisenbahnschuldverschreibungen. Doch
bildet die damit intendierte Zinsenersparung immerhin ein wichtiges Glied im
Finanzplan der Valutaregelung und findet sowohl hierin, als auch in den gegen-
wärtigen Cours- und Zinsfussverhältnissen unserer Staatsschuldverschreibungen
genügende Rechtfertigung.
VIII. Die Aufnahme der Barzahlungen als letztes Ziel den
Valutaregelung.
Die sechs Gesetzvorlagen enthalten zwar keine directe Bestimmung über
die Aufnahme der Barzahlungen, und im Laufe der Verhandlungen ist
wiederholt darauf hingewiesen, dass die Lösung dieser Frage der Zukunft vor-
behalten werden müsse, weil sich dermalen die Bedingungen und die voraus-
sichtlichen Wirkungen der Aufnahme der Barzahlungen noch keineswegs mit
genügender Sicherheit überblicken lassen.
Nichtsdestoweniger ist jeder Zweifel darüber ausgeschlossen, dass das in
Angriff genommene Reformwerk dieses letzte Ziel nicht nur überhaupt, sondern
in ganz bestimmter Weise in Aussicht nimmt.
Es wird daher zum Sclilusse wohl auch nothwendig sein, die Vorlagen
auf den Punkt hin zu prüfen, ob durch sie alles geschehen ist, was überhaupt
gegenwärtig schon zur Vorbereitung der Erreichung dieses letzten und höchsten
Zieles der Geldreform der österreichisch -ungarischen Monarchie geschehen konnte.
Wesentliche Voraussetzungen für die Aufnahme der Barzahlungen sind
zweifellos durch die vorliegenden Gesetzentwürfe schon erstellt; die Einführung
der Goldwährung, die Herbeiführung der Wertstetigkeit unserer Valuta, die
vorsichtige Vermeidung aller Umstände, welche eine grössere Geldknappheit
herbeiführen könnten, die Verpflichtung der österreichisch- ungarischen Bank zur
Einlösung von Gold und die Aufnahme einer Goldanleihe zum Zwecke der
Fundierung und seinerzeitig.:'n Einlösung der Staatsnoten sind ebenso deutliche,
wie wirksame Etappen auf diesem Wege. Bezüglich keiner dieser Maassregeln
besteht ein berechtigter Zweifel an der Erreichung des zunächst damit beab-
sichtigten Erfolges; der Boden ist geebnet, auf welchem nun die der österreichisch-
ungarischen Volkswirtschaft günstigen Verhältnisse auch für eine naturgemässe
Verbesserung unserer Geldverhältnisse wirksam werden können. Insbesondere
werden schon durch die nunmehr in Angriff zu nehmenden Reformen die
Bedingungen wesentlich günstiger, unter welchen ein freier Geldzufluss aus
546 Inama-Sternegg.
allgemein volkswirtscliaftliclieii Ursachen sich entfalten kann. War dieser bisher
trotz einer günstigen Handels- und Zahlungsbilanz durch die minderwärtige
Papiervaluta gehemmt, so wird künftig unser internationales Activum auch zu
directen Geldzuflüssen führen ; durch die in diesem Jahre abgeschlossenen Handels-
verträge mit den mitteleuropäischen Staaten sind überdies, soweit das bei der
allgemeinen Eichtung der Handelspolitik überhaupt möglich war, die Bedingungen
für die Erhaltung des Exportes vorläufig wenigstens hinlänglich gesichert. Auch
aus unserer, infolge der Papierwährung chronischen Geldknappheit mid dem
daraus resultierenden höheren Zinsfusse werden wir zunächst eine Förderung
dieser Geldzuflüsse erwarten können, um dann umso sicherer auch auf eine den
allgemeinen Verkehr belebende Ermässigung unseres Zinsfusses rechnen zu können.
Speciell wird auch der zusehends wachsende Capitalreichthum unserer
Volkswirtschaft ein gesunder Nährboden einer steigenden Circulation werden
können, insbesondere wenn er sich mehr in der Eichtung einer harmonischen
Ausbildung der einheimischen Bedarfsdeckung als in der einseitigen Eichtung der
Productionssteigerung entwickelt. Eine zunehmende Emancipation vom auswärtigen
Capitalmarkte bei steigender Befruchtung der einheimischen Arbeit und erhöhter
Consumtionskraft der gesammten Bevölkerung ist das Ziel dieser Entwicklung,
mit welcher auch der Erhaltung der einheimischen Goldbestände und der
dauernden Ordnung unseres Geldwesens die besten Bedingungen zu schaffen sind.
Allerdings liegt es nicht in der Macht der Gesetzgebung und der Eegierung,
diese Gunst der allgemeinen volkswirtschaftlichen Verhältnisse zu erzwingen und
zu erhalten. Aber Wesentliches trägt hiezu immerhin eine zielbewusste Wirtschafts-
politik bei. Ihr fällt die Hauptaufgabe bei den weiteren Schritten zu, welche in
der Eichtung nach vollständiger Ordnung des Geldwesens zu machen sind.
Klugheit und Umsicht, aber auch Ausdauer und lebhaftes Gefühl der Pflicht
werden sie, wie bisher, auch in der Folge leiten müssen ; und alle Kreise der
Bevölkerung werden gewiss in patriotischer Hingabe an ihrem Theile mitarbeiten
in dem Bewusstsein, dass Wohl und Wehe der Monarchie zum grossen Theile
durch eine glückliche Lösung dieser schweren und verantwortungsvollen Aufgabe
bestimmt wird.
I. Gesetz vom 2. August 1892, womit die Kronenwährung
festgestellt wind.
Mit Zustimmung beider Häuser des Eeichsrathes finde ich zu verordnen,
wie folgt:
Artikel I.
An die Stelle der bisherigen österreichischen Währung tritt die Gold-
währung, deren Eechnungseinheit die Krone ist.
Die Krone wird in hundert Heller eingetheilt.
Artikel II.
Das Münzgrundgewicht ist das Kilogramm mit seiner decimalen Abstufung,
wie dasselbe durch das Gesetz vom 23. Juli 1871, E.-G.-Bl. Nr. 16 ex 1872,
als allgemeines Gewicht eingeführt worden ist.
Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von Oeaterreich und Ungarn. 647
Artikel IIL
Die Landesgoldmünzen werden im Mischungsverhältnisse von 900 Tausend-
theilen Gold und 100 Tausendtheilen Kupfer ausgeprägt.
Auf Ein Kilogramm Münzgold gehen 2952 Kronen, demnach auf Ein Kilo-
gramm feinem Goldes 3280 Kronen.
Artikel IV.
Von Landesgoldmünzen werden ausgeprägt:
a) Zwanzig-Kronenstücke,
b) Zehn-Kronenstücke.
Aus Einem Kilogramm Münzgold werden 147*6 Stücke zu zwanzig Kronen,
beziehungsweise 295*2 Stücke zu zehn Kronen, daher aus Einem Kilogramm
feinen Goldes 164 Stücke zu zwanzig Kronen, beziehungsweise 328 Stücke zu
zehn Kronen ausgebracht.
Das Zwanzig-Kronenstück hat sonach das Kohgewicht von 6*775067 und
das Feingewicht von 6*09756 Grammen, das Zehn-Kronenstück das Eohgewicht
von 3-3875338 und das Feingewicht von 3-Ö4878 Grammen.
Artikel V.
Diese Goldmünzen werden auf der Aversseite Mein Brustbild, auf der
Keversseite den kaiserlichen Adler mit der Wertbezeichnung 20, beziehungsweise
10 Cor., sowie die Jahreszahl der Ausmünzung tragen. Die Umschrift hat, in
angemessener Abkürzung, zu lauten: „Franciscus Josephus I. D. G. Imperator
Austriae, Eex Bohemiae, Galiciae, Ulyriae etc. et Apostolicus Eex Hungariae*.
Der Eand wird glatt sein und bei den Zwanzig-Kronenstücken in ver-
tiefter Schrift die Worte : „Viribus Unitis" enthalten. Bei den Zehn-Kronenstücken
wird der Eand eine • vertiefte Verzierung enthalten.
Die innere Einfassung besteht auf beiden Seiten aus einem flachen Stäbchen,
dessen inneren Umfang ein Perlenkreis (Perle an Perle anliegend) berührt.
Die Goldmünzen zu 20 Kronen werden 21 Millimeter, jene zu 10 Kronen
werden 19 Millimeter im Durchmesser betragen.
Artikel VL
Das Verfahren bei der Ausprägang dieser Münzen soll die vollständige
Genauigkeit der Münzen nach Gehalt und Gewicht sicherstellen.
Soweit eine absolute Genauigkeit bei dem einzelnen Stücke nicht einge-
halten werden kann, wird eine äusserste Abweichung in Mehr oder Weniger
gestattet, welche im Eohgewichte 2 Tausendtheile und im Feingehalte 1 Tausend-
theil nicht überschreiten darf.
Artikel Vn.
Das Passiergewicht des Zwanzig-Kronenstückes wird mit 6*74 Grammen,
dasjenige des Zehn-Kronenstückes mit 3*37 Grammen festgestellt.
Goldmünzen, welche durch den gewöhnlichen Umlauf nicht unter dieses
Gewicht verringert sind, sind bei den Staats- und den übrigen öffentlichen Gassen
und im Privatverkehre als vollwichtig bei allen Zahlungen anzunehmen.
648 Inama-Sternesrof.
OO'
Dagegen werden Goldmünzen, welche infolge längerer Circulation und Ab-
nützung am Grewichte so viel eingebüsst haben, dass sie das Passirgewicht nicht
mehr erreichen, für Eechnung des Staates zum Einschmelzen eingezogen. Zu
diesem Zwecke sind derlei abgenützte Goldmünzen bei allen Staats- und den
übrigen öffentlichen Kassen stets voll zu ihrem Nennwerte anzunehmen und im
Wege der k. k. Staats- Centralkasse in Wien an das k. k. Hauptmünzamt in
Wien abzuführen.
Münzen, welche in anderer Art als durch den gewöhnlichen Umlauf am
Gewichte verringert wurden, werden von den Staats- und den übrigen öffentlichen
Kassen im Yorkommensfalle gegen Ersatz des ihnen zukommenden inneren
Wertes eingezogen und, wie oben festgesetzt, der Umprägung zugeführt werden.
Artikel YIII.
Die Ausprägung der Landesgoldmünzen erfolgt auf Eechnung des Staates.
Zwanzig-Kronenstücke werden auch für Eechnung von Privatpersonen und zwar
soweit ausgeprägt werden, als das k. k. Münzamt nicht für den Staat beschäftigt ist.
Die bei der i\.usprägung für Privatrechnung für Prägekosten einzuhebende
Gebür wird im Verordnungswege festgesetzt; sie darf indes bei den Zwanzig-
Kronenstücken das Maximum von 0*3% des Wertes nicht übersteigen.
Artikel IX.
Ausser den bezeichneten Landesgoldmünzen werden die österreichischen
189
Ducaten. wie bisher, 81— — Stücke aus einer Wiener Mark (0*280668 Kilogramm)
355
(9867 \
———^1 als Handels-
münze ausgeprägt.
Die durch das Gesetz vom 9. März 1870, E.-G.-Bl. Nr. 22, eingeführten
Goldmünzen zu Acht und Vier Gulden werden nicht mehr geprägt werden.
Artikel X.
Die auf Grund des kaiserlichen Patentes vom 19. September 1857, E.-G.-Bl.
Nr. 169, ausgeprägten Landessilbermünzen zu 2, 1 und 7^ Gulden österreichischer
Währung haben bis auf weiteres im gesetzlichen Umlaufe zu verbleiben. Landes-
silbermünzen der österreichischen Währung sind nicht mehr auszuprägen, ausser
aus jenen Silbermengen, welche sich bereits im Besitze der Finanzverwaltung
befinden, oder von derselben zu Münzzwecken erworben worden sind.
Insolange die bezeichneten Landessilbermünzen nicht ausser Verkehr gesetzt
werden, sind dieselben bei allen Zahlungen, welche gesetzlich in der Kronen-
währung zu leisten sind, von Staats- und den übrigen öffentlichen Gassen
und von Privatpersonen in Zahlung anzunehmen und zwar dergestalt, dass
gerechnet wird :
das Zwei-Guldenstück z= 4 Kronen.
„ Ein- „ zz: 2 ,,
. Viertel- „ z= 50 Heller.
Die neue Wübrungs- und Münzgesetzgebung von Oesterreich und Ungarn. 649
Artikel XL
Ausser den LandesgoldmÜBzen werden zunächst rolgende Münzen der
Kronenwähmng ausgeprägt :
1. Silbermünzen:
Ein-Kronenstücke.
2. Nickelmünzen:
a) Zwanzig-Hellerstücke,
b) Zehn-Hellerstücke.
3. Bronzemünzen:
a) Zwei-Hellerstücke,
b) Ein-Hellerstücke.
Artikel XH.
Die Ein-Kronenstücke werden im Mischungsverhältnisse von 835 Tausend-
theilen Silber und 165 Tausendtheilen Kupfer ausgeprägt.
Aus dem Kilogramme Münzsilber werden 200 Ein-Kronenstücke ausgebracht.
Es werden demnach die Ein-Kronenstücke das Gewicht von 5 Grammen haben.
Bei der Ausprägung der Ein-Kronenstücke muss das Normalgewicht und
der Normalgehalt eingehalten werden. Soweit eine absolute Genauigkeit bei den
einzelnen Stücken nicht eingehalten werden kann, wird eine Abweichung in Mehr
oder Weniger gestattet, welche im Feingehalte Viooo ^^^ ^^ Gewichte ^Viooo
nicht übersteigen darf.
Artikel XHI.
Die Ein-Kronenstücke werden im Averse Mein Brustbild, im Reverse die
kaiserliche Krone, die Wertbezeichnung, sowie die Jahreszahl der Ausmünzung
tragen. Die Umschrift hat, in angemessener Abkürzung, zu lauten: „Franciscus
Josephus I. D. G, Imperator Austriae, Eex Bohemiae, Galiciae, Hlyriae etc. et
Apostolicus Eex Hungariae."
Der Band der Ein-Kronenstücke wird glatt sein und mit vertieften Buch-
staben den Wahlspruch: „Viribus unitis" enthalten.
Der Durchmesser der Ein-Kronenstücke wird 23 Millimeter betragen.
Artikel XIV.
Die Ausprägung der Ein-Kronenstücke erfolgt nur für Eechnung des Staates.
Es sind für 140 Millionen Kronen Ein-Kronenstücke auszuprägen.
Im Verordnungswege wird bestimmt werden, in welchen Terminen die
Ausprägung und Hinausgabe der Ein-Kronenstücke stattzufinden hat.
Artikel XV.
Die Nickelmünzen werden aus reinem Nickel geprägt. Aus dem Kilogramme
reinen Nickels werden 250 Zwanzig-Hellerstücke, beziehungsweise 333 Zehn-
Hellerstücke ausgebracht.
Der Avers der Nickelmünzen trägt den kaiserlichen Adler, der Eevers
enthält die Wertangabe und die Jahreszahl der Ausmünzung.
Der Eand wird gerippt sein.
Der Durchmesser wird bei den Zwanzig-Hellerstücken 21 Millimeter, bei
don Zehn-Hellerstücken 19 Millimeter betragen.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung, IV. Heft. 42
550 luama-Sternegg.
Artikel XVI.
Die Ausprägung der Nickelmünzen findet nur für Eechnung des Staates statt.
Nickelmünzen sind bis zum Betrage von 42 Millionen Kronen auszuprägen.
Die Ausgabe derselben erfolgt unter Einziehung der Silberscheidemünzen
zu 20, 10 und 5 Kreuzern österreichischer Währung.
Im Verordnungswege wird bestimmt werden, in welchen Terminen die
Ausprägung und Ausgabe dieser Münzen, sowie die Einziehung der Silberscheide-
münzen österreichischer Währung stattfindet.
Artikel XVII.
Die Bronzemünzen werden aus einer Legierung von 95 Theilen Kupfer,
4 Theilen Zinn und 1 Theil Zink geprägt.
Aus dem Kilogramme dieser Legierung sollen:
a) 300 Stücke zu 2 Hellern,
b) 600 Stücke zu 1 Heller ausgebracht werden.
Der Avers der Bronzemünzen trägt den kaiserlichen Adler, der Eevers
enthält die Wertangabe und die Jahreszahl der Ansmünzung.
Der Eand wird glatt sein. »
Der Durchmesser dieser Münzen wird auf 19 und beziehungsweise 17 Milli-
meter festgesetzt.
Artikel XVIIL
Die Ausprägung der Bronzemünzen findet nur für Eechnung des Staates
statt und darf insgesammt den Betrag von 18,200.000 Kronen nicht übersteigen.
Sie dürfen nur unter Einziehung der Kupferscheidemünzen zu 4, 1 und Vio
Kreuzern österreichischer Währung ausgegeben werden.
Im Verordnungswege wird bestimmt werden, in welchen Terminen die
Ausprägung und Ausgabe dieser Münzen, sowie die Einziehung der Kupfermünzen
österreichischer Währung stattzufinden hat.
Artikel XIX.
Die Ein-Kronenstücke, sowie die Nickel- und Bronzemünzen der Kronen-
währung werden bei allen Staats- und den übrigen öffentlichen Gassen nach
ihrem Nennwerte in Zahlung genommen, und zwar die Ein-Kronenstücke unbe-
schränkt, die Nickel- und Bronzemünzen bis zum Betrage von 10 Kronen.
Ausserdem sind dieselben bei den alsVerwechslungscassen fungierenden Gassen
im Wege der Verrvechslung gegen gesetzliche Landesmünzen (Artikel IV und X)
unter den im Verordnungswege festzusetzenden näheren Bedingungen anzunehmen.
Hinsichtlich des Privatverkehres wird festgesetzt, dass niemand verpflichtet
ist, Ein-Kronenstücke im Betrage von mehr als fünfzig Kronen, Nickelmünzen im
Betrage von mehr als zehn Kronen und Bronzemünzen im Betrage von mehr als
einer Krone in Zahlung zu nehmen.
Artikel XX.
Die Bestimmungen des vorstehenden Artikels haben auf durchlöcherte
oder sonst auf andere Weise als durch den gewöhnlichen Umlauf am Gewichte
verringerte, sowie auch auf verfälschte Münzstücke keine Anwendung zu finden
Kommen verfälschte Münzstücke bei den Staats- oder den übrigen öffentlichen
Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von Oesterreich und Ungarn. (551
Gassen vor, so sind dieselben sofort, ohne jeden Ersatz, einzuziehen und an
das k. k. Hauptmünzamt in Wien einzusenden. Münzen, welche durchlöchert
oder sonst auf andere Weise, als durch den gewöhnlichen Umlauf am Gewichte
verringert wurden, sind im Falle ihres Vorkommens bei den Staats- oder den
übrigen öffentlichen Gassen mit einem Merkmale zu kennzeichnen, welches sie
aus dem gesetzlichen Umlaufe ausschliesst.
Silber-, Nickel- und Bronzemünzen, welche infolge längerer Girculation
und Abnützung an Gewicht oder Erkennbarkeit erheblich eingebüsst haben,
werden zwar von den öffentlichen Gassen in Zahlung oder in Verwechslung an-
genommen, sind aber auf Rechnung des Staates zur Umprägung einzuziehen.
Artikel XXI.
Die auf Grund des kaiserlichen Patentes vom 19. September 1857,
ß.-G.-Bl. Nr. 169, der kaiserlichen Verordnung vom 21. October 1860, E.-G.-Bl.
Nr. 230, des Gesetzes vom 1. Juli 1868, R.-G.-Bl. Nr. 84, des Gesetzes vom
30. März 1872, R.-G.-Bl. Nr. 44, des Gesetzes vom 16. April 1878, R.-G.-Bl.
Nr. 55, des Gesetzes vom 26. Februar 1881, R.-G.-Bl. Nr. 20, des Gesetzes
vom 10. März 1885, R.-G.-Bl. Nr. 92, und des Gesetzes vom 10. Juni 1891,
R.-G.-Bl. Nr. 90 geprägten Silber- und Kupferscheidemünzen österreichischer
Währung haben solange im Umlaufe zu verbleiben, bis deren Einziehung verfügt
werden wird.
Diese Verfügung wird im Verordnungswege im Zusammenhange mit der
Durchführung dieses Gesetzes erfolgen. Auch wird im Verordnungswege ein
letzter Termin ausgesprochen werden, bis zu welchem die einberufenen Münzen
von den Staatscassen einzulösen sind. Mit dem Ablaufe dieses Termines ist jede
Verpflichtung des Staates zur Einlösung dieser Münzen erloschen.
Bis dahin sind dieselben, und zwar die Zwanzig Kreuzerstücke mit 40 Hellern,
die Zehn-Kreuzerstücke mit 20 Hellern, die Fünf-Kreuzerstücke mit 10 Hellern,
die Kupfermünzen zu 4 Kreuzer mit 8 Hellern, die Ein-Kreuzerstücke mit 2 Hellern,
die ^/lo-Kreuzerstücke mit 1 Heller zu rechnen und nach Maassgabe des Artikels X
des Gesetzes vom 1. Juli 1868, R.-G.-Bl. Nr. 84, in Zahlung anzunehmen.
Artikel XXII.
Die sogenannten Levantiner -Thaler mit dem Bildnisse der Kaiserin Maria
Theresia glorreichen Andenkens und mit der Jahreszahl 1780 werden im
damaligen Schrot und Korn, wie bisher 12 Thaler aus 1 Wiener Mark
(0*280668 Kilogramm) feinen Silbers in dem Feingehalte von 13 Loth 6 Gran
'1^ \
als Handelsmünze ausgeprägt werden.
/833V3\
\ 1000 /
Artikel XXIII.
Die auf österreichische Währung lautenden Papiergeldzeichen sind bis zu
ihrer Einziehung bei allen Zahlungen, welche gesetzlich in Kronenwährung zu
leisten sind, von allen Staats- und den übrigen öffentlichen Gassen, sowie von
Privatpersonen anzunehmen und zwar dergestalt, dass je ein Gulden öster-
reichischer Währung des Nennwertes der betreffenden Papiergeldzeichen gleich
zwei Kronen gerechnet wird.
42*
ß52 Inama- Sternegg.
Artikel XXIY.
Die allgemeine Einführung der obligatorischen Rechnung in der Kronen-
^Yährung im Zusammenhange mit der Ordnung der Verhältnisse des allgemeinen
Münzverkehres und den Bestimmungen über die Anwendung der neuen Währung
(Artikel I) auf die Eechtsverhältnisse, sowie die Verfügungen in Bezug auf die
nach dem gegenwärtigen Gesetze im umlaufe verbleibenden Landessilbermünzen
zu 2, 1 und Y^ Gulden österreichischer Währung, ferner die Verfügungen über
die Einlösung der Staatsnoten, die Bestimmungen über die Ordnung der Papier-
geldcirculation und die Verfügungen über die Aufnahme der Barzahlungen, werden
durch besondere Gesetze festgestellt werden.
Es können jedoch alle Zahlungen, welche gesetzlich in österreichischer
Währung — sei es in klingender Münze oder nicht — zu leisten sind, schon
von dem Zeitpunkte an, da gegenwärtiges Gesetz in Kraft treten wird, nach
Wahl des Schuldners auch in Landesgoldmünzen der Kronenwährung dergestalt
geleistet werden, dass das Zwanzig -Kronenstück zum Werte von 10 Gulden
österreichischer Währung und das Zehn -Kronenstück zum Werte von 5 Gulden
österreichischer Währung gerechnet wird.
Dasselbe gilt von den Ein - Kronenstücken und den Nickel- und Bronze-
münzen der Kronenwährung nach Maassgabe der denselben im Artikel XIX dieses
Gesetzes eingeräumten Zahlkraft, und zwar dergestalt, dass das Ein -Kronenstück
zum Werte von 50 Kreuzern österreichischer Währung, das Zwanzig - Hellerstück
zum Werte von 10 Kreuzern österreichischer Währung, das Zehn -Hellerstück
zum Werte von 5 Kreuzern österreichischer Währung, das Zwei- Hellerstück zum
Werte von 1 Kreuzer österreichischer Währung und das Ein -Hellerstück zum
Werte von ''^/\^^ Kreuzern österreichischer Währung gerechnet wird.
Artikel XXV.
Dieses Gesetz tritt zugleich mit dem Gesetze, wodurch das Ministerium der im
Eeichsrathe vertretenen Königreiche und Länder zum Abschlüsse eines Münz- und
Währungsvertrages mit dem Ministerium der Länder der ungarischen Krone ermächtigt
wird, in Kraft.
Artikel XXVL
Meine Minister der Finanzen und der Justiz sind mit dem Vollzuge des
gegenwärtigen Gesetzes beauftragt.
II. Gesetz vom 2. August 1892, wodurch das Ministerium der im
Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder zum Abschlüsse
eines Münz- und Währungsvertrages mit dem Ministerium der
Länder der ungarischen Krone ermächtigt wird.
Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrathes finde Ich zu verordnen,
wie folgt:
Das Ministerium der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder wird
ermächtigt, mit dem Ministerium der Länder der ungarischen Krone auf Grund des
§. 2, Z. 3 des Gesetzes vom 21. December 1867, R.-G.-Bl. Nr. 146, betreffend die allen
Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Art
ihrer Behandlung, nachfolgenden Münz- und Währungsvertrag abzuschliessen :
Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von Oesterreicli und Ungarn. 653
Artikel I.
In beiden Staatsgebieten der Monarchie tritt an die Stelle der bisherigen
österreichischen Währung, die Goldwährung, deren Rechnungseinheit die Krone ist.
Die Krone wird in hundert Heller getheilt.
(Die Artikel 11 — III sind nahezu gleichlautend mit den Artikeln 11 — HI
des Gesetzes über die Kronenwährung.)
Artikel IV.
(Nahezu gleichlautend mit Artikel lY des Gesetzes über die Kronenwährung.)
(Sodann:) Der Durchmesser hat zu sein:
Bei den Zwanzig-Kronenstücken 21 Millimeter, bei den Zehn-Kronenstücken
19 Millimeter.
Die Inschrift dieser Münze hat die deutliche Angabe des Wertes 20,
beziehungsweise 10 Kronen und die Jahreszahl der Ausmünzung zu enthalten.
Die sonstige Ausstattung dieser Goldmünzen, sowie der übrigen Münzen der
Kronenwährung hat eine möglichst übereinstimmende zu sein. Es wird hierüber
zwischen dem kaiserlich -königlichen und dem königlich -ungarischen Finanz-
ministerium das Einvernehmen gepflogen werden.
(Folgen nahezu gleichlautend die Bestimmungen des Artikel VI des Gesetzes
über die Kronenwährung.)
Artikel V,
Die Landesgoldmünzen der Kronenwährung werden von den beiden Re-
gierungen in ihren Münzstätten für ihre eigene Rechnung geprägt werden. Diese
Ausprägung unterliegt der Höhe nach keiner Beschränkung.
Ausserdem werden die beiden Regierungen gestatten, dass Zwanzig-Kronen-
stücke auch für Rechnung von Privaten ausgeprägt werden, soweit ihre be-
treffenden Münzämter nicht mit Ausprägungen für Rechnung des Staates in
Anspruch genommen sind.
Für die Ausprägung für Privatrechnung darf keine höhere Prägegebür als
bei Zwanzig-Kronenstücken 0*3 Procent des Wertes in Abzug gebracht werden.
Die Festsetzung der Prägegebür innerhalb dieser Maximalgrenze erfolgt
nach üebereinkommen der beiden Minister der Finanzen im Verordnungswege,
und werden die übrigen Bedingungen der Ausprägung für Privatrechnung nach
zu vereinbarenden einheitlichen Grundsätzen ebenfalls im Verordnungswege
geordnet werden.
Artikel VI.
Die im Sinne der vorstehenden Bestimmungen in beiden Staatsgebieten
ausgegebenen Goldmünzen, welche durch den gewöhnlichen Umlauf nicht unter
das nachstehend noriiiierte Passiergewicht am Gewichte verringert sind, sind iu
beiden Staatsgebieten bei den Staats- und den übrigen öffentlichen Gassen und
im Privatverkehre als vollwichtig bei allen Zahlungen anzunehmen.
(Folgen nahezu gleichlautend die Bestimmungen des Art. VII, al. 1 und 2
des Gesetzes über die Kronenwährung.)
Die Münzen des eigenen Gepräges werden sohin von der betreffenden
Staatscentralcasse zur Umprägung an das Münzamt abgegeben. Die eingezogenen
Münzen, welche das Gepräge des andern Staatsgebietes tragen, werden dagegen
g54 Inama-Sternegg.
an dessen Finanz Verwaltung gegen Ersatz in gleichen umlaufsfähigen Stücken
zur Umprägung übergeben werden.
Ueber die Durchführung dieser Bestimmungen wird zwischen den beiden
Finanzministern ein üebereinkommen geschlossen werden.
(Folgen nahezu gleichlautend die Bestimmungen des Art. VII, al. 3 des
Gresetzes über die Kronenwährung.)
Artikel VII.
Keine der beiden Eegierungen wird andere als die vorbenannten Landes-
goldmünzen der Kronenwährung in ihren Münzstätten prägen lassen.
Die auf Grund des Gesetzes vom 9. März 1870, E.-G.-Bl. Nr. 22,
respective des Gesetzartikels XII ex 1869 eingeführten Goldmünzen zu acht und
vier Gulden werden in den beiden Staatsgebieten nicht mehr geprägt werden.
Es bleibt jedem der den Vertrag schliessenden Theile freigestellt, Ducaten
in der Art, wie sie im Artikel 20 des Gesetzes vom 19. September 1857,
E.-G.-Bl. Nr. 169, respective Gesetzartikel VII ex 1868 zur Prägung zugelassen
sind, auch des w^eiteren auszuprägen.
Artikel VIII.
(Nahezu gleichlautend mit Art. XI, Xn, XIH, al. 3, XV und XVII des
Gesetzes über die Kronen Währung.)
Artikel IX.
(üebereinstimmend mit Art. XIV, XVI und XVIII des Gesetzes über die
Kronen Währung.)
Artikel X.
Die in dem Artikel IX festgesetzten Contingente von Ein-Kronenstücken,
Nickel- und Bronzemünzen werden im Verhältnisse von 70 : 30 auf die im Eeichs-
rathe vertretenen Königreiche und Länder und auf die Länder der ungarischen
Krone aufgetheilt.
In demselben Verhältnisse werden die Kosten der Einlösung der Münzen
der österreichischen Währung jeder Art und Prägung auf die beiden Staats-
gebiete aufgetheilt werden.
Artikel XI.
(Nahezu gleichlautend mit Art. XIX und XX des Gesetzes über die Kronenwährung.)
(Sodann:) Die Münzen des eigenen Gepräges werden sohin von der betreffenden
Staatscentralcasse zur Umprägung an das Münzamt abgegeben. Die eingezogenen
Münzen, welche das Gepräge des anderen Staatsgebietes tragen, werden von
dessen Finanzverwaltung gegen Ersatz des Nennwertes zur Umprägung über-
nommen werden.
Ueber die Durchführung dieser Bestimmung wird zwischen den beiden
Finanzministern ein Üebereinkommen geschlossen werden.
Artikel XIL
(Nahezu gleichlautend mit Art. X, al. 1 des Gesetzes über die Kronenwährung.)
(Sodann:) Die Feststellung dieser Silbermengen wird einverständlich durch
hiezu von den beiden Finanzministerien entsendete Beamte geschehen.
Die neue Wälirungs- und Münzgesetzgebung von Oesterreich und Ungarn. 655
Ueberhaupt wird über die Art jeder Beschaffung von Silber für Münzzwecke
stets ein Einverständnis zwischen den beiden Finanzministerien zu erfolgen haben
(Folgen nahezu gleichlautend die Bestimmungen- des Art. X, al. 2 des
Gesetzes über die Kronenwährung.)
Artikel XIII.
(Nahezu gleichlautend mit Art. XXI des Gesetzes über die Kronenwährung.)
Artikel XIV.
(Nahezu gleichlautend mit Art. XXII des Gesetzes über die Kronenwährung.)
Artikel XV.
Die Ausmünzungen beider Staatsgebiete werden in den beiderseitigen
General-Probier-Aemtern gegenseitig geprüft.
Zur Durchführung dieser Bestimmung wird zwischen den beiden Finanz-
ministern ein üebereinkommen geschlossen werden.
Es werden unter öffentlicher Controle Gewichte justiert, gestempelt und zu dem
Gestehungspreise, welcher über getroffenes Einverständnis der beiden Finanzmiuister
im Verordnungswege festgesetzt werden wird, verkauft werden, welche das Normal-
gewicht und andere, welche das Passiergewicht der Landesgoldmünzen haben werden.
Artikel XVI.
Nach Ablauf jeden Monates hat jede der beiden Eegierungen der anderen
einen Ausweis über die im Laufe desselben vorgenommenen Ausmünzungen neuer
Münzen und über die Einziehung und Einschmelzung alter Münzen mit Angabe
der Münzsorten, des Feingehaltes und des Gewichtes mitzutheilen.
Ebenso werden die beiden Finanzminister alle Gesetze und Verordnungen,
welche zur Regelung des Münzwesens im Sinne des gegenwärtigen Vertrages
ergehen werden, einander mittheilen.
Artikel XVIL
(Nahezu gleichlautend mit Art. XXIII des Gesetzes über die Kronenwährung.)
Artikel XVIIL
(Nahezu gleichlautend mit Art. XXIV des Gesetzes über die Kronenwährung.)
Artikel XIX.
Die Eegierungen der beiden Staatsgebiete werden im geeigneten Zeit-
punkte im gegenseitigen Einvernehmen bei den beiden Legislativen Vorlagen
über die Einlösung der Staatsnoten einbringen.
Die Kosten der Einlösung dieser eine gemeinsame schwebende Schuld bil-
denden Staatsnoten werden nur bis zum Betrage von 312 Millionen Gulden
österreichischer Währung gemeinsam, und zwar von den im Eeichsrathe vertre-
tenen Königreichen und Ländern mit 70 Procent, von den Ländern der unga-
rischen Krone mit 30 Procent getragen werden.
In Betreff des Vorganges bei Einlösung der Staatsnoten wird schon gegen-
wärtig vereinbart, dass seitens der beiden Eegierungen in erster Linie die Ein-
lösung der Staatsnoten zu Einem Gulden und der Ersatz derselben durch andere
gesetzliche Zahlungsmittel, jedoch unter Ausschluss von Staatsnoten, bewirkt
werden soll. Die aus dem Umlaufe gezogenen Staatsnoten sind zu vernichten
556 Inaiiia-Steniegg.
und ist der Betrag derselben von dem Staatsnotenumlauf e von 312 Millionen
Gulden als getilgt abzuschreiben.
Üeber die Ordnung der Papiergeldcirculation, sowie bezüglich der Auf-
nahme der Barzahlungen werden im angemessenen Zeitpunkte von den Regierungen
der beiden Staatsgebiete Vereinbarungen getroffen werden.
Artikel XX.
Die Bestimmungen dieses Vertrages haben bis einschliesslich Ende des
Jahres 1910 zu gelten.
Sollte gegenwärtiger Vertrag ein Jahr vor seinem Ablaufe seitens eines
der beiden vertragschliessenden Theile gekündigt werden, so sind die beiderseits
vertragsmässig geprägten Münzen noch wenigstens durch zwei Jahre entsprechend
den Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages in beiden Staatsgebieten zuzulassen.
Zugleich verpflichten sich die beiden Regierungen, innerhalb dieser Zeit die Kronen-
währung nach dem vertragsmässigen Münzfusse und Münzsysteme beizubehalten.
Nach Ablauf der bezeichneten Frist ist jeder Theil verpflichtet, die inner-
halb des anderen Staatsgebietes befindlichen Ein-Kronenstücke, Mckel- und
Bronzemünzen der Kronenwährung seines Gepräges gegen gesetzliche Landes-
münzen zurückzulösen.
Der Anspruch auf diese Zurücklösung erlischt nach Ablauf eines weiteren
Jahres .
Falls gegenwärtiger Vertrag ein Jahr vor seinem Ablaufe von keinem der
beiden vertragschliessenden Theile gekündigt wird, so hat derselbe in seiner
Gänze auf weitere zehn Jahre in Geltung zu verbleiben.
In diesem Falle treten die obigen Bestimmungen für den Ablauf der ver-
längerten Vertragsperiode in Kraft.
Artikel XXI.
Unmittelbar nach dem Inkrafttreten dieses Vertrages werden die beiden
Regierungen die Verhandlungen fortsetzen, um die über die allgemeine Einfüh-
rung der obligatorischen Rechnung in der Kronenwährung im Zusammenhange
mit der Ordnung des allgemeinen Münzverkehres, ferner die über die Ordnung
der Papiergeldcirculation, sowie die bezüglich der Aufnahme der Barzahlungen
zu erlassenden gesetzlichen Verfügungen zu vereinbaren.
Artikel XXII.
Dieser Vertrag tritt mit dem Tage der Kundmachung, welcher von den beiden
Regierungen zu vereinbaren sein wird, in beiden Staatsgebieten in gesetzliche Kraft.
MI. Gesetz vom 2. August 1892, betreffend die Erfüllung von auf
Goldgulden lautenden Verpflichtungen in Landesgoldmünzen der
Kronenwährung.
Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrathes finde Ich zu verordnen.
wie folgt:
Artikel I.
Zahlungsverbindlichkeiten, welche in österreichischen oder ungarischen Gold-
gulden effectiv zu leisten sind, können nach Wahl des Schuldners und nach dem
Die neue Währungs- und Münzgesetzgebung von Oesterreich und Ungarn. 657
im Artikel II des gegenwärtigen Gesetzes festgesetzten Wertverliältnisse auch in
den gemäss dem Gesetze, wodurch das Ministerium der im Eeichsrathe vertre-
tenen Königreiche und Länder zum Abschlüsse eines Münz- und Währungsver-
trages mit dem Ministerium der Länder der ungarischen Krone ermächtigt wird,
und dem Gesetze, womit die Kronenwährung festgestellt wird, geprägten Landes-
goldmünzen der Kronenwährung beiderlei Gepräges erfüllt werden.
Artikel n.
Bei solchen Zahlungen sind, in Festhaltung des Grundsatzes des § 989
a. b. G.-B., wornach der innere Wert des zu Leistenden ungeändert zu bleiben
hat, je 42 österreichische oder ungarische Goldgulden gleich 100 Kronen in
Landesgoldmünzen der Kronenwährung zu rechnen.
Artikel IIL
Diese Bestimmungen haben insbesondere auch bei Zollzahlungen Anwen-
dung zu finden.
Artikel IV.
Dieses Gesetz tritt zugleich mit dem Gesetze, wodurch das Ministerium
der im Eeichsrathe vertretenen Königreiche und Länder zum Abschlüsse eines
Münz- und Währungsvertrages mit dem Ministerium der Länder der ungarischen
Krone ermächtigt wird, in Kraft.
Artikel V.
Mit dem Vollzuge dieses Gesetzes sind Meine Minister der Finanzen, der
Justiz und des Handels beauftragt.
IV. Gesetz vom 2. August 1892, betreffend einen Zusatz zu Artikel 87
den Statuten den Oesterreichisch-ungarischen Bank.
Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrathes finde Ich anzuordnen,
wie folgt:
I.
Zu dem -Artikel 87 der Statuten der Oesterreichisch-ungarischen Bank, wie
derselbe mit dem Gesetze vom 27. Juni 1878, ß.-G.-Bl. Nr. 66 festgesetzt und
durch das Gesetz vom 21. Mai 1887, E.-G.-Bl. Nr. 51 für die Zeit der Ver-
längerung des Privilegiums vom 1. Jänner 1888 bis 31. December 1897 bei-
behalten worden ist, hat folgender Zusatz zu treten:
„Die Bank ist verpfiichtet, gesetzliche Goldmünzen zum Nennwerte und
Goldbarren gemäss dem gesetzlichen Münzfusse dej Kronenwährung gegen Bank-
noten bei ihren Hauptanstalten in Wien und Budapest auf Verlangen jederzeit
einzulösen.
Die Bank ist berechtigt, hiebei die Goldbarren auf Kosten des Abgebers
durch die von ihr bezeichneten Techniker prüfen und scheiden zu lassen, ferner
die von den Eegierungen diesfalls festgesetzten und verlautbarten Prägegebüren
in Abzug zu bringen."
II.
Mit dem Vollzuge dieses Gesetzes, welches zugleich mit dem Gesetze, wo-
durch das Ministerium der im Eeichsrathe vertretenen Königreiche und Länder
558 Inama- Sternegg.
zum Abschlüsse eines Münz- und Währungsvertrages mit dem Ministerium der
Länder der ungarischen Krone ermächtigt wird, in Kraft tritt, ist Mein Finanz-
minister beauftragt.
V. Gesetz vom 2. August 1892, durch welches der Finanzministep
ermächtigt wind, ein Anlehen zun Beschaffung von effectivem Gold
behufs der Ausprägung von Landesgoldmünzen der Kronenwährung
für Rechnung des Staates aufzunehmen, und womit Bestimmungen
über die Gebarung und Controle hinsichtlich dieser neugeprägten
Landesgoidmünzen erlassen werden.
Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrathes finde Ich zu verordnen,
wie folgt :
Artikel I.
Der Finanzminister wird ermächtigt, ein Anlehen mittels Begebung von
durch das Gesetz vom 18. März 1876, E.-G.-Bl. Nr. 35, geschaffenen, mit
4 Procent in Gold verzinslichen Rente - Obligationen in jenem Gesammtausmaasse
aufzunehmen, welches erforderlich ist, um in effectivem Golde einen Betrag von
Einhundertdreiundachtzig Millionen vierhundertsechsundfünfzig Tausend öster-
reichischer Goldgulden zu erlösen.
Artikel II.
Der erlöste Goldbetrag ist sofort in Landesgoldmünzen der Kronenwährung
auszuprägen.
Artikel III.
Diese Goldmünzen sind in der k. k. Staatscentralcassa, oder im Auftrage
und für Rechnung der Finanzverwaltung in der Oesterreichisch- ungarischen Bank
zur gesonderten Verwahrung zu erlegen.
Artikel IV.
Verfügungen über die nach dem vorstehenden Artikel in Verwahrung
erlegten Goldmünzen können nur durch die Gesetzgebung getroffen werden.
Artikel V.
Zur Controle über die Einhaltung der Bestimmungen der Artikel III und
IV dieses Gesetzes ist die Staatsschulden-Controlcommission des Reichsrathes berufen.
Zu diesem Zwecke übt die Controlcommission die Gegensperre über den
Erlag dieser Goldmünzen.
Die Commission hat über die Ausübung ihrer Controle, so oft sie es
angemessen erachtet, jedoch alljährlich mindestens einmal, einen besonderen
Bericht an den Reichsrath zu erstatten.
Artikel VI.
Der Finanzminister wird angewiesen, über die Ordnung der mit dem
Maximaibetrage von Einhundert Millionen Gulden österreichischer Währung
begrenzten schwebenden Schuld in Partial- Hypothekar- Anweisungen, beziehungs-
weise in den dieselben in der Circulation vertretenden Staatsnoten eine besondere
Gesetzvorlage rechtzeitig einzubringen.
Die neue Währungs- und Älünzgesetzgebung von Oesterreieh und Ungarn. 659
Artikel VII.
Mit dem Vollzuge dieses Gesetzes, welches mit dem Tage seiner Kund-
machung in Wirksamkeit tritt, ist Mein Finanzminister beauftragt.
VI. Gesetz vom 2. .August 1892, betreffend die Conventierung den
Obligationen den fünfppocentigen steuerfreien Notenrente, der
fünfprocentigen Eisenbahn-Staatsschuldverschreibungen der Vorarl-
berger Bahn und der 4%- pf'ocentigen Eisenbahn - Staatsschuld-
verschreibungen der Kronprinz Rudolf-Bahn.
Mit Zustimmung beider Häuser des Eeichsrathes finde Ich anzuordnen,
wie folgt:
Artikel I.
Zum Behuf e der Eückzahlung
a) der Obligationen der auf Grund des Gesetzes vom 11. April 1881, K.-G.-Bl.
Nr. 33, ausgegebenen, mit 5 Procent in Noten steuerfrei verzinslichen Eenten-
schuld der im Eeichsrathe vertretenen Königreiche und Länder,
b) der auf Grund des Gesetzes vom 8. April 1884, E.-G.-Bl. Nr. 51, aus-
gegebenen und noch nicht zur Verlosung gelangten, im Eisenbahnbuche ob
den Linien der Vorarlberger Bahn pfandrechtlich sichergestellten, mit jährlich
5 Procent österreichischer AVährung in Silber verzinslichen und längstens
bis zum Jahre 1962 rückzahlbaren Eisenbahn - Staatsschuldverschreibungen
de dato 12. December 1886,
c) der auf Grund des Gesetzes vom 8. April 1884, E.-G.-Bl. Nr. 51, aus-
gegebenen und noch nicht zur Verlosung gelangten, im Eisenbahnbuche ob
den Linien der Kronprinz Eudolf-Bahn pfandrechtlich sichergestellten, mit
jährlich 4^4 Procent österreichischer Währung in Silber verzinslichen und
längstens bis zum Jahre 1960 rückzahlbaren Eisenbahn -Staatsschuldver-
schreibungen de dato 12. Juli 1888.
wird die Eegierung ermächtigt, mit höchstens vier Procent steuerfrei verzinsliche
Anlehen, und zwar in Ansehung der unter a) bezeichneten Obligationen in Form
einer Eentenschuld der im Eeichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, in
Ansehung der unter b) und c) bezeichneten Titres mittels Ausgabe von Eisenbahn -
Staatsschuldverschreibungen mit der bisherigen Hypothek und den gleichen Eück-
zahlungsfristen in der Art aufzunehmen, dass dadurch eine dauernde Ersparung
für den Staatsschatz gegenüber der gegenwärtigen Annuität erzielt wird. Die
benannten drei Schuldgattungen sind demnach auf einmal oder partienweise zur
Eückzahlung, beziehungsweise Umwandlung mit der Wirkung einzuberufen, dass
mit Ablauf des vom Finanzminister zu bestimmenden Endtermines die Verzinsung
der einberufenen Titres aufhört.
Artikel IL
Mit dem Vollzuge dieses Gesetzes, welches mit dem Tage seiner Kund-
machung in Wirksamkeit tritt, wird Mein Finanzminister betraut.
LITERATURBERICHT.
Luigi Cossa, Professore nella E. Universitä di Pavia. lutrocluzione allo studio
<le]l' economia politica. Dritte vollständig umgearbeitete Auflage des „Guida" desselben
Verfassers. Höpli, Mailand 1892, 594 SS.
Luigi Cossa ist ein Name, der weit über die Grenzen seines Vaterlandes in
der wissenschaftlichen Welt bekannt und geehrt ist. Zur äusseren Verbreitung seiner
Popularität haben wohl am meisten seine „Elementi di Economia Politica" beigetragen,
welche das Muster eines kurzen, klaren und inhaltsreichen Compendiums unserer Wissen-
schaft sind; Vorzüge, welche demselben bereits zur neunten Auflage in der Ursprache,
und zur seltenen Ehre der Uebeisetzung in alle oder fast alle Cultursprachen verholfen
haben. So sehr ich aber die seltene Kunst, die Cossa in seinen „Elementi" bekundet
hat, zu schätzen weiss, so glaube ich doch, dass er durch eine andere Seite seines Wirkens
seinen Namen noch tiefer in die Geschichte unserer Wissenschaft eingezeichnet hat.
Mit seinem Namen ist die Regenerierung der ökonomischen Wissenschaft Italiens und
der ausserordentliche Aufschwung unzertrennlich verbunden, welchen die Pflege derselben
in diesem Lande während der letzten Decennien genommen hat.
Ich glaube mit der Annahme nicht fehl gehen, dass der grössere Theil der Männer,
welche heute in so ehrenvoller Weise die volkswirtschaftliche Literatur Italiens vertreten,
aus der Schule Cossa's hervorgegangen ist, oder ihm doch wissenschaftliche Anleitung
und Anregung verdankt. Pavia ist durch Cossa Centrum und Pflanzstätte der wirt-
schaftswissenschaftlichen Bildung in Italien geworden. Dabei ist eines besonders beachtens-
wert. Sonst kommt es gewöhnlich vor, dass wissenschaftliche Korj^phäen, welchen es
gelingt, „Schule zu machen", diesen ihren Einfluss in einseitiger Ptichtung geltend machen;
sie lenken ihre Schüler in eine bestimmte, durch Vorliebe und Abneigung beeinflusste
Forschungsbahn. Cossa's erzieherisches Wirken ist von solcher Einseitigkeit bemerkens-
wert frei geblieben. Wenn wir einen Schluss ziehen dürfen aus der ausserordentlichen
Vielseitigkeit, mit welcher Cossa's einstige Schüler die verschiedenen Gebiete dieser
weiten Wissenschaft erfolgreich bearbeiten, so scheint es, dass Cossa's Unterweisung von
jeder engherzigen Beschränkung frei und nur auf ein Ziel gerichtet gewesen ist: zur
wahren Wissenschaftlichkeit anzuleiten. Wir erkennen Cossa's Einfluss in der tiefen
und gründlichen Kenntnis der fremden, und zumal der deutschen Literatur, welche wir.
im Unterschiede zu vergangenen Zeiten, in den Werken der neueren Schrifsteller Italiens
anzutreff'en pflegen, wir erkennen ihn in der Pflege gründlicher historischer Studien
wir erkennen ihn aber auch nicht minder in der scharfsinnigen Bearbeitung der theoretischen
Probleme der Wissenschaft und in der Uebung einer geschickten, feinen, oft haarscharfen
Kritik. Kurz, in der Schule Cossa's scheinen, um ein bekanntes Wort aus einem andern
Gebiete zu variiren, alle Genres erlaubt zu sein, mit Ausnahme eines einzigen: des „genre
inscientifique" !
Wer seit Jahrzehenten so erfolgreich der wissenschaftliche Führer seiner Nation
gewesen ist, hat damit in der denkbar beweiskräftigsten Weise seinen Beruf dazu legitimiert,
auch einen „Führer" für seine Wissenschaft zu schreiben. Das hat Cossa schon vorlängst
mit seinem rühmlichst bekannten „Guida allo studio delP economia politica" gethan.
Dieses Werk hat gleichfalls wiederholte Auflagen erlebt und in Uebersetzungen die
Literaturbericlit. 661
Wanderung in fremde Literaturen angetreten. Von ihm liegt soeben unter dem Titel
„Introduzione allo studio delF econoniia politica" eine neue Auflage vor, welche der
Verfasser als eine „gänzlich umgearbeitete" bezeichnet. Sie ist es auch, und sie ist bei
dieser Gelegenheit innerlich und äusserlich so emporgewachsen, dass das Werk in seiner
jetzigen Gestalt weit mehr hält, als was sein bescheidener Titel verspricht. Eine blosse
„Einleitung" nennt es sich; und es bietet in dem ersten der beiden Theile, in die es
zerfällt, eine der reifsten Erörterungen über die so schwierigen Probleme der Methodologie
und Systematik unserer Wissenschaft, während der zweite „historische" Theil nichts
geringeres darstellt als eine wohlausgewachsene Geschichte der Wissenschaft, die trotz
ihres keineswegs übermässigen Umfangs alle bisherigen Geschichtswerke in Bezug auf
Vollständigkeit in den Schatten stellt.
lieber Inhalt und Gliederung des Werkes muss ich mich hier auf wenige orientierende
Worte beschränken. Der erste „theoretische" Theil behandelt in 8 Capiteln auf 130 Seiten
die allgemeinen Verhältnisse der politischen Oekonomie : Begriff, Grenzen, Eintheilung,
Charakter, Bedeutung dieser Wissenschaft, dann in zwei besonders interessanten Capiteln
die Terminologie und Definitionenlehre, sowie die Methodologie unserer Disciplin. Ueber
dieses letztere, in neuerer Zeit bis zum üeberdruss viel erörterte Thema, das sich gleich-
wohl oft und insbesondere in einem Werke vom Charakter des Cossa'schen nicht umgehen
lässt, spricht sich unser Autor mit einer ungemein wohlthuenden Mässigung und
Unparteilichkeit aus. Er bezeichnet, worin ich ihm Wort für Wort nur beistimmen kann,
die politische Oekonomie als eine „Erfahrungswissenschaft" (scienza d'osservaziont), welche
sich sowohl des inductiven als des deductiven Denkprocesses bedienen muss, wobei
jedoch der Gebrauch beider in den verschiedenen Theilen der Wissenschaft abwechselnd,
und zwar in verschiedenen Functionen von verschiedener Wichtigkeit stattzufinden hat.
Der historische Theil (SS. 131 — 564) behandelt der Reihe nach die „fragmentarische
Epoche" unserer Wissenschaft, die der Autor das Alterthum und Mittelalter umfassen
und in der Neuzeit, wenigstens für einen Theil d' r Schriftsteller, noch bis zum Ende
des 17. Jahrhunderts reichen lässt; weiter die Periode der „empirischen Systeme und der
Monographien" (vom 16. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts), sodann die Periode der
„wissenschaftlichen Systeme" (Physiokraten und A. Smith), endlich die „kritische Periode
der Jetztzeit", welche der Verfasser getrennt nach Ländern und Nationen zur Darstellung
bringt. Den Charakter der Darstellung kann ich vielleicht am besten durch die Gegen-
überstellung mit andern 'bekannten Geschichtswerken der Nationalökonomie schildern.
Cossa schreibt seine Geschichte wesentlich anders als Dühring, Eisenhart und
Ingram sie geschrieben haben. So sehr sich die ebengenannten Historiker untereinander
unterscheiden mögen, so stimmen sie doch in einer gewissen Art des Vorgehens überein:
sie heben die Hauptlinie der Entwicklung — oder was sie dafür halten — ungemein
kräftig hervor, und lassen daneben alles übrige im tiefen Schatten oder wenigstens
Halbschatten. Iliebei gewinnen natürlich snbjective Tendenzen des Darstellers einen
unverhältnismässig grossen Einfluss auf die Darstellung; sie entscheiden sowohl darüber,
welche Figuren überhaupt in den Vordergrund gestellt, und welche bei Seite gelassen
werden, als auch darüber, ob ihnen, als Förderer oder Opponenten gegen die vom
Darsteller als die Linie des wahren Fortschritts gepriesene Bewegungsrichtung, Gunst
oder Ungunst zu spenden sei. Cossa ist anders. Er bemüht sich fast bis zum üeberraass
unparteiisch und gleichmässig zu referiren. Er verhimmelt nichts und niemanden, und er
unterdrückt nichts und niemanden. Natürlich lässt er auch seine eigene kritische
Meinung zum Worte kommen, und hält mit Lob und Tadel nicht zurück; aber er lässt
sie nie sich bis zur Leidenschaft steigern. Er zeigt diejenige Art von Toleranz und
Wohlwollen, wie sie Männern eigen zu sein pflegt, die viel gesehen und erfahren haben.
Seine Art der Geschichtschreibung ist infolge von alldem gewiss nicht so pikant oder
dramatisch bewegt als die einiger seiner Vorgänger, aber sie ist dafür musterhaft
objectiv, getreu und vollständig: so vollständig, wie sie von einem Manne erwartet
werden konnte, der wahrscheinlich unter den jetzt lebenden Nationalökonomen der
gründlichste Literaturkenner ist: und so vollständig, dass sie geeignet ist. zugleich auch
QQ2 Literaturbericht.
als Bibliografie unserer Wissenschaft zu dienen. Ich halte das Buch in seiner jetzigen
Gestalt für ein unentbehrliches Requisit für jeden Nationalökonomen; und ich wünsche
ihm dasselbe freundliche Geschick, welches allen früheren Werken Cossa's gelächelt
hat, und unter anderem auch, dass es bald einen deutschen Uebersetzer finden möge.
E. Böhm-Bawerk.
Lesebuch zur Geschichte der deutschen Staatswissenschaft von Engelbert
V. Volkersdorf bis Joh. St. Pütter. Zum akademischen Gebrauche bearbeitet und
herausgegeben von Geor^ MoUat. Tübingen 1891. Verlag der H. Laupp'schen Buch-
handlung. Lex. 80 132 und VIII Seit. — 3 Mk.
Ein Lesebuch, dürften viele von den Lesern der vorliegenden Sammlung von
Ausschnitten staatswissenschaftlicher Arbeiten verwundert ausrufen. Man ist gewohnt
Lesebücher von Materien in die Hand zu bekommen, welche in niederen Schulen gelehrt
werden, nicht jedoch von Wissenschaften, welche wie die Staatswissenschaft doch nur
an Hochschulen vorgetragen werden. Immerhin ist der Gedanke, welcher der Sammlung
zugrunde liegt, ein recht glücklicher. Es ist hier gewissermaassen das Princip des An-
schauungsunterrichtes übertragen auf eine geschichtliche Wissenschaft. Wie man heutzu-
tage Literaturgeschichte vorwiegend an der Hand von Beispielen lehrt, ja so weit geht,
das Ideal der Lehre in der möglichst reichen Ausstattung der Darstellung mit Bildnissen,
Handschriften, Abbildungen der denkwürdigen Wohnstätten u. s. w. zu suchen, so ist
auch hier der Versuch gemacht, die Entwickelung der deutschen Staatswi^senschaft vom
14. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. mit Hilfe von kurzen Abschnitten aus kleineren
und grösseren Werken von 26 bedeutenden Männern, die sich mit staatsrechtlichen
Fragen beschäftigten, zu schildern.
Man lernt dadurch aber nicht bloss, welche staatswissenschaftlichen Fragen die
einzelnen Männer, die verschiedenen Zeiten am meisten beschäftigten, wie diese Fragen
behandelt wurden, wie sich der Kreis derselben zusehends erweiterte und wie sich
daraus eine Staatswissenschaft entwickelte, sondern man lernt auch etwas viel Bedeuten-
deres, man lernt erkennen, wie sich die Sprache, und da doch die Sprache nur die Form
des Denkens ist, wie sich das Denken im Laufe der Jahrhunderte mächtig ausgebildet
hat und anderer-eits welche unverwüstliche, ewige Dauer einzelnen staatswissenschaft-
lichen Fragen zukommt. Oder ist es nicht dasselbe, was Luthern bewegte, als er in
seiner Abhandlung von des christlichen Standes Besserung gegen die Einmischung des
Papstes in weltliche Händel donnerte, und dasjenige was heutzutage die französischen
Royalisten und das katholische Centrura des deutschen Reichstages erregt? Oder werden
je. solange eine Herrschergewalt besteht, solange ein Staat besteht, die Fragen, welche
Zwingli behandelte, nach dem Rechtsgrund des HeiTSchens der Obrigkeit, nach den
Grenzen der Staatsgewalt unerörtert bleiben können? Speciell in dem drohenden socia-
listischen Staat werden sie am allerhäufigsten zu behandeln sein. Und wie werden diese
und andere ewig gleiche Fragen behandelt. Gewiss tiefsinnig und recht verständig, aber
wie mühsam und schwerfällig; man hört das Keuchen der Denkmaschine. Wenn wir
heutzutage solche Fragen erörtern, dann bedarf es nicht gar so vieler Worte, oder wenn
wir weiter ausgreifen, was ziehen wir da alles in unseren Gedankenkreis herein, wie
unendlich weit dehnt sich unser geistiger Horizont. Es darf das nicht verwundern. Ein
einfacher Satz bringt heutzutage nicht bloss den einzelnefft Gedanken, den er enthält, in
unser Bewusstsein, sondern ein unendlich reicher Gedankencomplex steigt gleichzeitig
mit ihm empor. In früheren Jahrhunderten und je weiter zurück desto mehr mussten die
Schriftsteller versuchen den Inhalt dieser Gedankencomplexe aufzuzählen, um sich ver-
ständlich zu machen, und das war mühsam, vollkommen überhaupt nicht durchzuführen.
Damals fielen die Worte wie Steine in einen weichen Lehmboden, heutzutage wie Steine
in tiefes, ruhiges Wasser, in welchem sich die Bewegung fortpflanzt — tief und weit nach
allen Seiten. Dass dies heutzutage der Fall ist, das eben ist das Verdienst der vergan-
genen Gelehrtengeschlechter; und dass man diese Entwickelung an der Hand der Be-
handlung gleicher Fragen, wie in der Handhabung der deutschen oder der lateinischen
Sprache bequem verfolgen, ja förmlich sehen kann, das ist das Verdienst von Sammlungen
Literatlirbericht, gß 3
wie die vorliegende. Freilich sollten sie, um diesem hohen Zweck zu dienen, inhaltlich
reicher, umfassender sein, wie diese.
Gleichwohl ist auch in dieser Beziehung die vorliegende Arbeit nicht ärmlich. Es
sind in derselben mit ein oder mehreren Abschnitten berücksichtigt (und wir nennen nur
besonders hervorragende Namen) Bebenburg, Luther, Zwingli, Limnaeus,
Oonring, Pufendorf, v. Seckendorff, Leibnitz, Thomasius, Coc-
c e j i, W 0 1 f f, Friedrich der Grosse, Moser, P ü 1 1 e r etc. Obwohl beschränkt,
ist diese Auswahl der Männer, wie ihrer Arbeiten eine recht glückliche zu nennen und
wir glauben, dass an der Hand derselben Vorträge über die Entwickelung der Staats-
wissenschaften recht belebt werden können. Was sonst mühsam aus verschiedenen, meist
recht schwer zu beschaffenden Ausgaben der Werke einzelner Schriftsteller beschafft
werden muss, hier ist es im engen Rahmen verbunden dargeboten. Da dies so bequem
der Fall ist, sollte man nicht leicht mehr auf die Unterstützung verzichten , welche ein
derartiger Vortrag durch solch ein „Lesebuch" gewinnen kann und von deren Bedeutung
wir vorhin einiges hervorzuheben versuchten. Abgesehen von der Förderung akademischer
Vorträge dürfte dies „Lesebuch" auch sonst allen denjenigen eine Förderung sein,
welche sich über ein oder die andere Frage aus der älteren Staatswissenschaft oder über
Fragen von allgemeiner Wichtigkeit besser belehren oder aber ihr Bild, dass sie von
einzelnen Gelehrten besitzen, besser auffärben wollen. Freilich dürfen sie dann ihr
Latein nicht ganz vergessen haben. Juraschek.
Oesterreicliisclies Staatsrecht. Bearbeitet von Dr. J. Ulbrich. 2. gänzlich um-
gearbeitete Auflage. Freiburg i. B. 1892. Von J. C. B. Mohr. — Lex. 8^264 und XII Seit.
— 6 Mk. — aus dem 4. Bande von Marquardsen's Handbuch des öffentlichen Rechts. —
Die Sammlung Marquardsen's, welche, ein modernes Seitenstück zur berühmten
Sammlung Elze vir 's, das Staats- und Verwaltungs-Recht der europäischen und vieler
aussereuropäischer Staaten zur Darstellung bringt, ist einem sehr glücklichen Gedanken
entsprungen, gleichwohl legt der Zwang der Sammlung den Verfassern der einzelnen
Staatsrechte Beschränkungen auf, welche nicht gestatten diese Einzelarbeiten ohne Rück-
sichtnahme auf das Ganze zu beurtheilen. Diese Beschränkungen treten besonders stark
bei Staaten hervor, welche wie Österreich-Ungarn ein complicierteres Staatsrecht besitzen
und eingehende allgemein staatsrechtliche Erörterungen verlangen, die aber mit Rück-
sicht auf den ersten Band der Sammlung nur ganz knapp ausfallen können. Ebenso ist
durch die Anlage der Sammlung ein Zusammenwerfen von Staats- und Verwaltungsrecht
o-efordert, was keineswegs von Vortheil ist;
Aus dieser schwierigen Situation hat sich Ulbrich mit besonderem Glücke heraus-
gezogen, wie auch die Thatsache beweist, dass sein Buch bereits in 2. Auflage vorliegt.
Eine 2. Auflage, was kann da ein Recensent noch weiter loben? Gleichwohl möchten
wir Einiges bemerken.
Ulbrich fasst Oesterreich-Ungam als Realunion, die beiden Theile der Monarchie
als selbständige Staaten auf und schrieb von diesem Standpunkte aus ein österreichi-
sches Staatsrecht, wobei freilich auch noch eingewendet werden kann, dass ein „Oester-
reich" als ein Theil der Monarchie gesetzlich nicht existirt, obschon sich diese Bezeich-
nung für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder immer mehr einbürgert,
wie ja auch der Verfasser bald diesen, bald jenen Ausdruck gebraucht. Für die Monarchie
bestehen ferner nach dem Verfasser (S. 19) nur besondere Organe zur Bildung eines
Societätswillens und gemeinsame Angelegenheiten. Trotz dieser Anschauung spricht der
Verfasser von einem „Gesammtstaat" und handelt in abgesonderten Abschnitten von den
Organen 0 esterreich- Ungarns (S. 21—26), von den wirtschaftlichen Beziehungen der beiden
Theilstaaten (S. 26—35) und von der Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten
(S. 246—256), wobei das Merkwürdige passiert, dass das Papier- und Münzwesen, die
Beitragsleistung Ungarns zur Staatsschuld u. s. w. unter und neben den verfassungs-
rechtlichen Fragen, der Aemterorganismus in Bosnien aber unter den gemeinsamen Ver-
waltungsangelegenheiten nebenher besprochen wird. Die Folge dieser geringen Consequenz
ist. dass einzelne Institutionen an zwei und mehr Orten besprochen werden , so der Mon-
554 Literaturbericht.
arch, die Ministerien etc., dass anderes wie das Staatsgebiet, wovon doch auch die
pragmatische Sanction handelt, zwar nur einmal im Verfassungsrechte der Keichsraths-
länder behandelt wird, dass aber gerade durch den Gegensatz zu dem ersteren Vorgange
dadurch eine gewisse Unklarheit hervorgerufen wird und dass überhaupt diese Methode
die richtige und vollständige Erfassung der einzelnen Institution sehr erschwert, wenn
nicht unmöglich macht. Bei der Anschauung des Verfassers gehört eben die Darstellung
des Societätsverhältnisses in das Capitel, welches er mit „der Staat der Gegenwart" über-
schrieb und ist das österreichische Staatsrecht in der Weise darzustellen, dass bei jeder
einzelnen Institution angegeben wird," wodurch sie in das gemeinsame Societätsverhältnis
hineinragt, wie sie durch diese Theilnahme selbst verändert wurde und wie sie mitwirkt
zur Herstellung des Societätswillens. Es ist dies um so nöthiger, als das Zusammensein
mit Ungarn nicht bloss die Organisation und Verwaltung der gemeinsamen Angelegen-
heiten, sondern auch ganz abseits liegende Dinge beeinflusst, bei welchen dann doch
wieder auf die Verbindung mit Ungarn zurückgegangen werden muss : so ist z. B. der
Ungar in Österreich Ausländer, aber er wird doch nicht so behandelt wie ein anderer
Ausländer, eben weil sein Heimatland ein Bestandtheil der Monarchie ist.
Auch im übrigen scheint uns das System nicht ganz zutreffend zu sein. Es ist
schade, dass sich der Verfasser über dasselbe, vielleicht mit Eücksicht auf die allge-
meinen Darstellungen im ersten Bande der Sammlung nicht ausspricht. Es wäre dies
aber schon deshalb nöthig gewesen, weil in die Darstellung des Staatsrechtes auch das
Verwaltungsrecht einbezogen würde und der Verfasser bekanntlich für den selbständigen
Ausbau beider Disciplinen eintrat, ja dies auch in diesem Buche sagt (S. X) und dabei
nur bemerkt, dass die Rücksicht auf einen weiteren Leserkreis die Aufnahme der ver-
waltungsrechtlichen Partien fordert. In dem System sind nun, wie es scheint, ohne
zwingenden Grund beide Disciplinen etwas durcheinander geworfen. Das Buch zerfällt
nämlich in folgende 8 Abschnitte: 1. Geschichtliche Einleitung. 2. die österreichisch-
ungarische Monarchie, 3. das Verfassungsrecht der Reichsrathsländer, 4. die Willens-
functionen des S aates, 5. die Finanzwirtschaft, 6. die Gemeinde- und Provincialverbände,
7. die allgemeine Landesverwaltung, 8. die Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten.
Die geschichtliche Einleitung ist sehr knapp gerathen; auch enthält sie eine
Charakteristik der gegenwärtigen rechtlichen Natur der Monarchie, sowie Oesterreichs,
bei welch letzterer sich der Verfasser vielleicht etwas zu lang mit der Widerlegung der
mehr als sonderbaren Anschauung aufhält, wornach die im Eeichsrathe vertretenen
Länder eine Art Bundesstaat bilden. Der Abschnitt über die östereichisch-ungarische
Monarchie handelt, wie erwähnt, von den gemeinsamen Organen, aber auch von den
wirtschaftlichen Beziehungen der Theilstaaten, worunter das Reichsfinanzwesen, während
doch im 8. Abschnitte die gemeinsame Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten,
des Occupationsgebietes und des Heerwesens dargestellt wird. Das Verfassungsrecht der
Reichsrathsländer gibt auch den Aemterorganismus, jedoch nur den der Ministerien für
Inneres, Cultus !»nd Unterricht, Handel, Ackerbau und Justiz, während die Organe der
Finanzverwaltung bei der Finanzwirtschaft, das Landesvertheidigungsministerium, wie
überhaupt die Landwehr in dem Capitel über das gemeinsame Heerwesen berücksichtigt
werden. Die Behörden der Landesverwaltung werden nur allzu flüchtig erwähnt , dagegen
wird alles, was sich auf die Justizorgane, wie die Justizverwaltung bezieht, hier ziem-
lich eingehend erörtert. Der 4. Abschnitt behandelt unter den Willensfunctionen auch die
Zwangsvollstreckung, die doch mehr ist als bloss Willensäusserung. Der Abschnitt Finanz-
wirtschaft bespricht die Organe und die Gebiete derselben, endlich auch den Staatshaus-
halt. In ähnlicher Weise erörtert der Abschnitt „Gemeinde- und Provincialverbände"
(letzterer ein für Oesterreich ganz unpassender Ausdruck) die Organisation und Verwal-
tung derselben und selbst in dem 7, Abschnitt Landesverwaltung wird die Organisation
eines Verwaltungszweiges, wie auch die ganze Rechtsstellung der Religionsgesellschaften
behandelt. Mit dieser Vertheilung der Materie können wir uns wohl kaum befreunden,
wobei jedoch nicht gesagt sein soll, dass wir eine scharfe Scheidung und Gegenüber-
stellung des Verfassungs- und Verwaltungsrechtes, der Organisation und Bethätigung als
Literafurbericht. (3ß5
das einzig Mögliche erklären; wir wünschen nur, dass ein durchschlagendes Princip ein-
gehalten wird, welches die leichte Orientierung, das rasche Auffinden der einzelnen
Materien auch den minder Kundigen ermöglicht.
Im einzelnen ist die Behandlung der Materie eine recht glückliche. Eegelmässig
wird der Darstellung des geltenden Rechtes eine geschichtliche Einleitung vorausgeschickt,
die besonders belehrend ist, so (S. 226, 227) die Darstellung der Schulverhältnisse unter
Maria Theresia und Kaiser Josef II. (S. 232—233), die der Rechtsverhältnisse zwischen
der katholischen Kirche und dem Staate seit den Reformen des Kaiser Josefs II., bei
welcher Gelegenheit auch das Concordat von 1855 zur Erinnerung vollinhaltlich einge-
schoben wird. Das geltende Recht wird allgemein verständlich, ohne flüchtig zu werden,
eingehend, ohne allzuviel Detail zu geben, ganz dem Zwecke entsprechend behandelt. Die
brennendsten Tagesfragen (so die Nationalitätenfrage in Böhmen, S. 13), die neuesten
legislativen Erscheinungen (so das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der israe-
litischen Religionsgesellschaft von 1890, S. 243), die jüngsten Versuche zur Lösung des
socialen Problemes (so die in Betreff der Arbeiterversicherung, S. 174) kommen hier zur
Darstellung. Aus derselben kann aber nicht bloss die Kenntnis des Bestehenden geschöpft
sondern auch die Anregung zur Reform desselben gefunden werden, indem der Verfasser
sich nicht scheut, die Mängel aufzudecken. So wird (S. 224) darauf aufmerksam gemacht, das-
die Unternehmer gewisser Häuser das Delict des §. 512 des St.-G.-B. begehen, ohne
dafür bestraft zu werden, dass dies nur unter Umständen geschieht, ein Zustand der gewiss
nach Abänderung schreit. Wenn an all diesen Darstellungen etwas auszusetzen wäre.
so scheint es uns dies zu sein, dass der Verfasser fast durchwegs referiert, auch dort,
wo man mit Recht erwartet, dass er entscheidend seine eigene Meinung feststelle.
Dass es bei einem so umfassenden Werke ohne kleine Verstösse und Irrungen
nicht abgeht, wird man wohl nicht erwarten, besonders wenn man bedenkt, dass der
Verfasser keinen Vorgänger hat. Wir möchten hier nur die eine irrige Angabe, wornach
auch Tirol Bezirksvertretungen besitzt (S. 160), zur Correctur stellen. Juraschek.
Die Frage der Zolleinigung mit Oesterreich-Ungarn. Orientierende Darlegung
der Gründe und Gegengründe. Von Dr. K. Walker. — Leipzig, Rossberg'sche Buch-
handlung 1892. 8' 29 und VI Seit. — Pr. 1 Mk.
Mit. Vergnügen begrüssen wir in dem Verfasser des vorgenannten Schriftchens einen
energischen Freund der Zolleinigung des Deutschen Reiches mit Oesterreich- Ungarn,
welcher bereits 1880 für dieselbe Idee eintrat. Diesmal hat derselbe die an den ver
schiedensten Orten verstreuten Erklärungen für die Zolleinigung vom deutschen, wie vom
österreichisch -ungarischen Standpunkte gesammelt und in kurzen Sätzen dargestellt
Allerdings sind auch einige Gegengründe diesen zustimmenden Erklärungen gegenüber-
gestellt, aber dieselben werden sofort durch entsprechende Bemerkungen des Verfassers
niedergemäht. Durch diese Zusammenstellung hat der Verfasser, obschon er in die Tiefe
des Gegenstandes gar nicht eindringt und sich auch von jeder sorgfältigeren Erörterung
des Details fernhält, immerhin der Idee der Zolleinigung einen guten Dienst geleistet.
da hiedurch auch weitere Kreise auf dieses Ziel der kommenden wirtschaftlichen Ent-
wickelung aufmerksam und mit dem Für und Wider des Gegenstandes wenigstens theil-
weise bekannt gemacht werden. Die Gegengründe werden freilich etwas leicht genommen
und leichter abgethan, als das Schwergewicht derselben zulässt, denn man begreift bei
dieser Darlegung des Sachverhaltes kaum, warum nicht schon längst die Zolleinigung
durchgeführt worden ist; aber der Verfasser ist ja selbst weit davon entfernt, die Zoll-
einigung als in nächster Zeit durchführbar zu bezeichnen, er will nur vorbereiten, er
will nur die Sache zur Discussion stellen. Das Einzige, was er unmittelbar in Angriff
genommen wissen will, ist die Gründung eines Vereines, der in Wien seinen Sitz haben,
in den österreichischen Provinzstädten möglichst häufig Wanderversammlungen abhalten
und für die Zolleinigung Propaganda machen soll.
Kann man in diesen Beziehungen dem Verfasser ziemlich ungetheilten Beifall
zollen, so muss man ihm in anderer Richtung um so entschiedener entgegentreten; es ist
eben vollkommen unrichtig, wenn der Verfasser (S. 20) behauptet „die Deutschen hätten
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung. IV. Heft. 43
(366 Literaturbericht.
im Donaureiche eine gefährdete, helotenartige Lage," oder wenn er (S. 17) sagt „slavi-
sierte, besonders aber magyarisifirte Deutsche müssen ihren Familiennamen übersetzen.
Ebenso ist es ganz ungerechtfertigt von einer babylonischen Sprachenverwirrung in unserer
Armee zu reden (S. 17), da die Commandosprache die deutsche Sprache ist, und diese
auch allgemein verstanden wird. Desgleichen dürfte sich der Verfasser ein klein wenig
irren, wenn derselbe meint, „dass die Aufhebung der Fideicommisse, die Einziehung der
Latifundien der todten Hand, die Zerschlagung der Latifundien derselben und der Mag-
naten blosse Fragen der Zeit sind," (S. 8, auch 13); wenn er glaubt, dass „Millionen (!)
der jüngeren Söhne deutscher Eittergutsbesitzer und Bauern im Laufe der Zeit als
Verwalter, Pächter, Käufer von Gütern im Donaureiche gute Versorgung finden werden"
(S. 8); wenn er überhaupt von der Germanisierung der Monarchie als etwas selbstver-
ständlichem und leicht durchführbarem spricht. Wir in Oesterreich dürften von all dem
wohl eine andere und tiefer begründete Meinung haben. Wenig Kenntnis von der Frei-
heit unserer Selbstverwaltung verräth ferner die Forderung einer Vorschrift, welche den
Gebrauch der deutschen Sprache in allen Gemeindevertretungen gestattet (S. 11), und
ganz unklar erscheint die Forderung, dass den Keichsdeutschen das Recht gewährt werde,
deutsche, protestantisch-paritätische Gymnasien und Volksschulen zu begründen (S. 10).
Gegenüber den (S. 20) angeführten Wertangaben der Einfuhr aus Deutschland nach
Oesterreich-Ungarn, resp. der Ausfuhr von da nach Deutschland im Jahre 1889 nach der
österreichischen Statistik muss noch bemerkt werden, dass die österreichische Statistik bis
zum Jahre 1891 die Ursprungs- und Bestimmungsländer der ein- resp. ausgeführten
Waren gar nicht erhob, daher auch keine Angaben über die Einfuhr aus, resp. die Aus-
fuhr nach einem bestimmten Lande machen konnte. Bis 1891 hat die österreichische
Statistik eben nur Menge und Wert der über eine bestimmte Grenzstrecke, so über die
Seegrenze, über die Grenze gegen Deutschland u. s. w. ein- resp. ausgeführten Waren
angegeben, unbekümmert darum woher diese Waren kommen, wohin sie gehen. Es liegt
also da eine Verwechslung vor und diese erklärt auch die grossen Differenzen zwischen
den Angaben der österreichischen und jenen der deutschen Statistik. Höchst charakteri-
stisch für unsere Zeit, wenn auch wenig erfreulich, ist die Häufigkeit, mit welcher der
Verfasser immer wieder das confessionelle Moment in die Discussion zieht; bald ist es
die Confession der Bevölkerung eines Landstriches, bald die eines Staatsmannes oder die
des Vertreters einer bestimmten wirtschaftlichen Anschauung, welche besonders hervor-
zuheben nöthig scheint. Wenn man dies Zusammenwerfen von confessionellen und wirt-
schaftlichen Momenten so oft wiederkehren sieht, dann fragt man sich unwillkürlich, ob
es denn wirklich wahr ist, dass für unsere Zeit ein Josef 11., ein Friedrich 11. mit ihren
Toleranzedicten gar nicht gelebt hat, ein Nathan nicht geschrieben wurde. Juraschek.
Beiträge zur Währungs-Frage in Oesterreich-Ungarn. Von Prof. Karl
Menger. Jena 1892. S. 59.
Der Uebergang zur Groldwährung. Untersuchungen über die Wertproblenie
der öst.-ung. Valutai'eform. Von Prof. Karl Menger. Wien, Leipzig 1892, S. 36.
Die erste der beiden Schriften ward zuerst in den Jahrbüchern für Nationalökonomie
und Statistik III. Folge, Band IIL veröffentlicht. In den ersten Abschnitten ist eine äusserst
exacte Darstellung der Währungszustände der Monarchie seit 1848 gegeben, insbesondere
lässt die Markierung der Anomalien der österr. Währung an instructiver Pointierung
nichts zu wünschen übrig. Der Zustand des internationalen Silbermarktes wird dahin
charakterisiert, dass der heutige Preisstand des Silbers kein künstlich herabgedrückter,
sondeni ein künstlich gehaltener ist. Die de lege ferenda angestellten Erörterungen sind
eine höchst dankenswerte genauere Ausführung der vom Verfasser bei der Währungs-
Enquete ausgesprochenen Ansichten. Dieselben sind in diesen Blättern durch Prof.
V. Mataja (Die öst. Währungs-Enquete) dargelegt worden. Prof. Meng er ist bekanntlich
ein grundsätzlicher Monometallist. Wir lesen diesfalls (S. 25), die Herstellung eines
bestimmten Wertverhältnisses zwischen dem Golde und dem Silber sei ein „an sich nicht
erstreckenswertes Ziel", indem durch eine diesfällige internationale Action die Erhaltung
der Wertbeständigkeit des Geldes bedroht werden würde. Stets bestrebt, die Wertbe-
Literaturbericht. ßß7
ständigkeit des Geldes zu erhalten und zu sichern, findet sich Menger auch nur mit
einer gewissen Einschränkung für die Einführung der Goldwährung in 0 esterreich aus-
zusprechen. Der berühmte Theoretiker der Werttheorie und ihrer Probleme hat sich nun
das grosse Verdienst erworben uns die verschiedene praktische Gestaltung des Währungs-
Problemes unter diesen streng logischen Gesichtspunkten vorzuführen. Immerhin muss es
uns mit Beruhigung erfüllen, dass auch das Eesultat so scharfsinniger und tiefer Unter-
suchung zu Gunsten des Ueberganges Oesterreich-Ungarns zur Goldwährung lautet. Freilich
entspringt auch die Gegnerschaft Mengers gegen die nunmehr zur Durchführung
gelangenden Eeformpläne eben dieser seiner tiefsten wissenschaftlichen Ueberzeugung.
Er nimmt es als zweifellos an, dass die Währungsreform und die damit verbundenen
^oldbeschaffungen der Monarchie nicht unwesentlich zur generellen Steigerung des Gold-
wertes beitragen werden. Er verkennt zwar die Zulässigkeit der Anwendung von Pal-
lativmitteln nicht, welche hauptsächlich auf eine Beschränkung des Goldbedarfes abzielen,
er plaidiert auch in diesem Sinne für die Einführung von Silber- Centificaten, indes
scheint ihm die Eücksicht auf die voraussichtliche Wertsteigeruhg des Goldes so ent-
scheidend wichtig, dass er anräth (S. 42) die Relationsfrage erst nach Effectuierung der
Goldeinkäufe zu entscheiden. Es musste mit Grund dagegen erinnert werden, dass ein
solcher Aufschub der Vertagung der Valuta-Regulierung gleichbedeutend sei, und dass
Menger selbst eine baldige Abhilfe dringend nothwendig findet. Ebenso müsste aber
auch in Betracht gezogen werden, dass durch die erfolgreiche Goldbeschaffung die grössten
Chancen für die Wertsteigerung unseres Währungsgeldes eröffnet würden, welcher wir nur
durch solche Mittel begegnen könnten, welche die Möglichkeit der Reform selbst endlich
gefährden müssten.
Das Kriterium der Wahl der Münzeinheit ist nach Menger Folgendes: Die Münz-
einheit ist in dem Maasse richtiger gewählt, in welchem deren hundertster Theil sich als
die kleinste, für den allgemeinen Verkehr wirklich noch nothwendige Theilmünze darstellt.
Diese Eigenschaft vindiciert nun Menger nur dem Gulden ö. W. Wir müssen gestehen,
dass uns in der Richtung der schlagende Beweis nicht erbracht scheint.
Die weit wichtigere Schrift dürfte indes die zweite sein. Die Darstellung ist kurz
und durch ihre Gemeinverständlichkeit allgemein zugänglich. Wir wollen nur einige
unserer Anschauung widersprechende Behauptungen und Schlussfolgerungen herausheben.
Reine Wilkür scheint bei der Berechnung der von der Regierung beantragten
Relation denn doch nicht gewaltet zu haben. Allerdings entspricht sie nicht einer gewöhn-
lichen Durchschnittsberechnung, sondern entstammt dem methodischen Vorgange der
Ermittlung der mittleren Zahl, welcher die Möglichkeit einer objectiven Correctur in sich
bietet. Es wäre ganz gut, wenn noch zur deutlicheren Erhellung des auch wissenschaftlich
so interessanten Sachverhaltes, dieser methodische Vorgang zu seiner ganzen Consequenz
erweitert, wenn alle Tagescourse der Jahre 1879 bis 1891 berücksichtigt würden. Dass
Menger die Steigerung des Goldwertes in den Jahren 1879 bis 1891 als eine zweifellose
Thatsache hinstellt, wurde schon oben betont. Die Wissenschaft sowie die Praxis sind
aber über die Richtigkeit dieser Thatsache noch im Streite. Eine solche hätte aber mit
unserer Relation principiell nichts zu thun, da Meng er selbst behauptet (S. 10), dass
unsere Valuta gegenüber dem Golde sich in steigender Tendenz befand. Das (auf S. 9)
hervorgehobene statistische Analogen der Geburtsziffer- Steigerung könnte daher auch nicht
in Mengers Sinne angewendet werden. Ob durch die Festsetzung einer höheren Relation
zwischen unserem Papiergelde und dem Golde die Wirkungen einer allgemeinen Wert-
steigerung des Goldes bekämpfbar wären, ist äusserst fraglich, ein principieller Grund
liegt für diese Annahme nicht vor.
Aus dem stets festgehaltenen Axiom einer zu erwartenden absoluten Steigerung
des Goldwertes wird endlich das Wiederauftreten eines Goldagios prognosticiert. Auch
diese Prognose entbehrt des stringenten Schlusses. Um ein solches hervorzurufen,
müssten andere wirtschaftliche Misstände dazutreten; nur eine allgemeine Preis-
depression könnte die directe Folge einer allgemeinen Wei-tsteigerung des
Goldes sein.
43*
ß5§ Literaturbericht.
Trotz solcher abweichender Ansichten finden wir uns dem Verfasser für seine gewohnte,
meisterhafte Untersuchung des Wertproblemes zu grösstem Dank verpflichtet und zweifeln
nicht, dass dieses Gefühl jeder Leser theilen wird. Dr. J. Grub er.
Mataja^ Victor, Dr., a. o. Professor an der Universität Innsbruck. Grossmaarazine
und Kleinhandel. 105 S., Leipzig 1891, Duncker & Humblot.
Mit Recht betont der Verfasser der zeitgemässen Schrift in der Einleitung, dass
unter den Factoren der neuzeitlichen socialen und wirtschaftlichen Entwicklung ins-
besondere die Industrie die Aufmerksamkeit auf sich gezogen habe. Während die Schriften
hierüber Legion bilden, trete uns ein ganz anderes Bild entgegen, wenn wir uns dem
Kaufmannsstand zuwenden : hier seien die Untersuchungen über die Betriebsformen des
Handels, über die Verhältnisse seiner Angehörigen, über Lohn und Arbeitszeit äusserst'
spärlich gesäet. Ueber die Industrie berichten Theoretiker, Arbeitsinspectoren, arbeits-
statistische Aemter, Enqueten und Zeitschriften in ausführlicher Weise, so dass der-
jenige, der Material darüber sammle, mehr mit der Verlegenheit zu kämpfen habe,
dasselbe zu sichten, als solches überhaupt zusammen zu bekommen; die Aufgabe des-
jenigen, welcher sich mit dem Handelsstande und den diesen berührenden Fragen
beschäftigen wolle, sei hingegen eine ganz andere: Materiale zu gewinnen, ist für ihn
die grössere Schwierigkeit, nicht aber sie zu übersehen und zu ordnen.
So erhebt Dr. Mataja die Frage, ob das Zurücktreten der Beachtung vielleicht
in der Annahme zu suchen sei, dass hier alles in Ordnung sei und die Verhältnisse eine
wünschenswerte Stetigkeit — das Zeichen der Gesundheit — besitzen. Gerade das Gegen-
theil sei richtig. Der Handelsbetrieb sei in der nämlichen Umwälzung begriffen wie das
Gewerbe — ein Umstand, der gar nicht befremden könne, wenn man erwäge, wie
abhängig Erzeugung und Absatz voneinander sind, wie wenig es daher zu vermuthen
sei, dass die Kräfte der Entwicklung, welche zu einer Umgestaltung der ersteren geführt,
nicht auch zu einer Umgestaltung des letzteren drängen sollten. Diese zu verfolgen und
die Einflüsse zu zeigen, welche das alte Gefüge des Handels zu zersetzen drohen, ist
die Aufgabe der neuen, dem Grossmagazinswesen gewidmeten Schrift.
Im ersten Capitel wird zuerst der Begriff des Magazins- und Grossmagazins-
systems erörtert. Der Ausdruck Grossmagazin als oberste Stufe des Magazinsystems ist
nur Nachbildung eines Französischen. Die Worte „Grands Magasins" sind in Frank-
reich zu typischer Bedeutung gelangt, und jene kaufmännischen Etablissements, welche
diese Bezeichnung in erster Linie führen und verdienen, wie der Louvre, der Bon Marche,
der Printemps, sind nicht bloss stadt- sondern weltbekannt, ohne dass sich die Eeihe
der in Frankreich vorhandenen Grossmagazine erschöpfen würde. Darunter werden die
auf den Verkehr mit den wirklichen Consumenten berechneten Geschäfte, also Detail-
geschäfte in grösstem Stile bezeichnet, ohne dass es möglich wäre ein bestimmtes
Merkmal anzugeben, wo der Kleinhandel aufhöre und das Grossmagazin anfange. Sodann
gibt der Verfasser ein Bild über die Ausbreitung des Grossmagazinswesens in den ver-
schiedenen Ländern.
Was Europa anbelange, so scheinen sich die Grossmagazine zuerst und am
beträchtlichsten in den Hauptstädten zu entwickeln; Frankreich und England besitzen,
was die Grösse der Etablissements betrifft, den Vorrang.
In Frankreich, speciell Paris, gehe die Entwicklung der Grossmagazine zum
mindesten schon auf die Zeit Louis Philipps zurück. Für ihr Wachsthum scheine ins-
besondere günstig die Zeit des zweiten Kaiserthums gewesen zu sein, als sich das Luxus-
bedürfnis erheblich verbreitete, demokratisierte und immer mehr und mehr auch solche
Kreise ergriff, denen ihre ökonomischen Mittel einige Beschränkung geboten. Heute
bilden die Grands Magasins de Nouveautes ohne Zweifel eine Sehenswürdigkeit von Paris,
Dem Beschauer würden sich jene Magazine als mächtige Hallen darstellen, voll von
Tischen und Küsten, die beladen sind mit allen erdenklichen Gegenständen für die
Bekleidung und sonstige äussere Ausstattung des Menschen, namentlich des weiblichen
Geschlechts, dessen Bedürfnisse daran, zumal in Paris, einige Vielseitigkeit besitzen;
daneben werde noch eine Fülle anderer Sachen und Sächelchen feilgeboten, die zur
Literaturbericht. 669
Ausschmückung des Zimmers oder zu sonstigen Zwecken dienen. Eine nach Hunderten
und oft nach Tausenden zählende Menge woge herum, die^ nervöse Hast des Geschäfts-
lebens scheine hier keine Stätte zu haben, da alle lange betrachten, beschauen, prüfen
mit jener Sorgsamkeit, mit welcher der Mensch die Frage zu behandeln pflege, ob der
Stoff um einen Schatten dunkler oder lichter zu wählen sei. Nichts werde versäumt, um
die Aufmerksamkeit des Publicums zu gewinnen oder der Bequemlichkeit der Kunden zu
dienen. Die Keclame wird im grossen betrieben, Preislisten in der Stärke eines Buches
gelangen zur Ausgabe; einige der grössten Magazine haben sogar in ihren Localitäten
Büffets und Lesesalons errichtet.
An der Spitze dieser Unternehmungen stehen der Bon Marche und der Louvre.
Ersterer habe sich unter Leitung Boucicauts zu seiner grossen Bedeutung empor-
geschwungen und bilde gegenwärtig eine Commandit-Gesellschaft auf Actien (1890: ein-
gezahltes Capital 20 Mill., Reserven 21-8 Mill. Franken). Die von ihm erzielten Geschäfts-
gewimie werden wie folgt angegeben:
1872 kaum 25 Mill. Francs
1877 „ ....... 95 „
1884 ungefähr 100 „
1886 „ 112 „
1887 „ 118 ,
1888 „ 124 „
1889 „ 134 ' „
Die Zahl der Angestellten werde auf rund 4000 geschätzt.
Auch der Louvre bilde seit 1890 eine Actiengesellschaft; sie betreibe die bekannten
Magazine und daneben noch zwei Ilötels — Hotel du Louvre und Hotel Terminus. Das
(Kapital beträgt 22 Mill. Franken (440 Actien ä 50.000 Franken, von denen sich freilich
iiber drei Viertel in zwei Händen befinden sollen.) Der Cassenumsatz der Louvremagazine
wird für 1889 mit 135 Mill. Franken angegeben.
Diesen beiden Häuptern schliesse sich sodann der Printemps an (Actien-Comman-
ditgesellschaft Jules Jaluzot & Co., betreibe auch Zuckerraffinerien, Actiencapital 35 Mill.
Franken) mit 60 Mill. Frcs. Umsatz (1889), sowie eine Reihe anderer Magazine mehr
oder minder bedeutenden Umfangs, welche zum Theil auch den Schwerpunkt ihrer
Thätigkeit nicht in besseren Confections-Modewaren suchen, wie die vorerwähnten, sondern
in minderen Bekleidungsartikeln, Haushaltungs- und Gebrauchsgegenständen.
Das Grossmagazinswesen scheine in Frankreich noch im Aufblühen zu sein,
dagegen zeige sich eine Tendenz zum Verschwinden der Magazine mittleren Ranges.
Dass solche Grossmagazine nicht mehr auf Paris allein beschränkt seien, zeige Lyon,
das schon zwei hervorragende, nach Art der Pariser Etablissements eingerichtete Unter-
nehmungen besitze (Les Deux Passages und Le Grand Bazar zum Verkaufe aller Arten
von Toiletteartikeln, Tapeten, Möbeln etc., letzterer auch von Haushaltungsartikeln).
Durch ein kunstvoll organisiertes Versandtgeschäft würden die Pariser Etablisse-
ments jedoch einen ausgedehnten Absatz sowohl in den Orten der Umgebung von Paris
wie überhaupt in ganz Frankreich und selbst im Auslande finden.
Unermüdlich werde für Reclame und Bekanntmachungen aller Art gesorgt, dem
Publicum durch zeitweilige Ausverkäufe der in der Saison befindlichen Artikel immer
wieder Neues geboten, der Eifer der Verkäufer durch Provisionen auf die gemachten
Verkäufe und Wiederabzug derselben bei retournierten Waren aufs höchste angespornt,
wie überhaupt das Prämiensystem im weitesten Umfang angewendet. So seien denn die
Pariser Grands Magasins, was die Energie beim Vertrieb der Waren betrifft, geradezu
mustergiltig für ähnliche Schöpfungen in anderen Ländern geworden.
Grossbritannien zähle eine beträchtliche Menge Detailgeschäfte grösster Aus-
dehnung, die vor allem in London zu suchen seien. Obenan stehen die verschiedenen
Beamten- und Militär-Consumvereine, die aber fast richtiger als Actiengesellschaften
zum Betriebe des Handels aufzufassen seien und ihren Actionären ganz bedeutende
570 Literaturbericht.
Dividenden abwerfen. Dieselben würden die Pariser Grands Magasins zwar nicht an Grösse
des Umsatzes übertreffen, wohl aber an Vielseitigkeit; sie führen alle erdenklichen
Waren. Man finde bei ihnen Medicinen und chirurgische Instrumente, Equipagen und
Kinderspielzeug, Pianisten und Veranstalter komischer und anderer Soireen zu fixen
Taxen, sie liefern Grabsteine und besorgen Leichenbegängnisse. Man sei also in der
Lage, sich durch sie unterhalten, beköstigen, bekleiden, seine Heiratsausstattung an-
fertigen, sich curieren und, wenn das nicht gelingt, beerdigen zu lassen. Neben diesen
Corporativ-Gesellschaften gäbe es noch Actien- und Pri^atunternehmungen für den
Detailyerkauf in grösstem Stile — das bedeutendste sei das Haus Whiteley mit angeb-
lich 5000 Bediensteten.
Die Londoner Cooperativ-Gesellschaften seien, wenn sie auch die den Continentalen
vielleicht irreführende Bezeichnung einer Cooperative Society tragen, thatsächlich eher
Actiengesellschaften, mit der Beschränkung freilich, dass die Actien nur im Besitze von
Civilbeamten bezw. Officieren sein dürfen. Kaufberechtigt in den Niederlagen sind aber
nicht bloss die Actienbesitzer, welche jedoch allein den Gewinn beziehen und auf die
Verwaltung Einfluss haben, sondern auch andere Personen, die eine Karte auf Lebens-
zeit— solche kommen jedoch nicht bei allen Gesellschaften vor — oder eine Jahreskarte
lösen. Die Kartenbesitzer würden dann auch als Mitglieder bezeichnet. Um aber eine
solche die Kaufberechtigung gewährende Karte erwerben zu können, müsse man ent-
weder selbst dem Kreise angehören, aus welchem die Actienbesitzer stammen, also
Beamter oder Officier sein, oder durch ein Mitglied empfohlen werden ohne weitere
Ptücksicht auf den Beruf. Die Gesellschaften sollen eben den Mitgliedern und ihren
„Friends" dienen. Einzelne Gesellschaften (Army and Navy junior) würden selbst von
dieser im allgemeinen nicht schwer erhältlichen Empfehlung absehen und lassen einfaches
Ansuchen genügen, dem freilich die Verwaltung dann entsprechen könne, aber nicht
müsse. Die Gebür für die Jahreskarte sei ganz gering, sie betrage gewöhnlich 2 Schilling
6 Pence (= 2V2 Mark), wobei selbst noch Beamten eine Begünstigung erfahren.
Als die wichtigsten Gesellschaften werden die folgenden genannt:
1. Civil Service Supply Association.
Actiencapital 353.232 Pf. St.
1889 Zahl der Mitgliedskarten für Beamte . 8.999
1889 „ „ „ „ Empfohlene 27.065
Bruttogewinn 1889 . 231.481 Pf. St.
2. The Army and Navy Cooperation Society.
Actiencapital 60.000 Pf. St.
18^8 1889
Bruttogewinn 284.426 Pf. St. 285.825 Pf. St.
Superdividende (über die 5%ige Verzinsung des Actien-
capitals) 60.000 „ 60.000 „
3. Junior Army and Navy Stores.
Actiencapital 150.000 Pf. St.
Bruttogewinn 600.724 „
Dividende 5%
4. Civil Service Cooperative Society.
Actiencapital 100.000 Pf. St.
Bruttogewinn 75.337 ,.
Pieingewinn 16.647 „
Aus diesen angeführten Zahlen ergibt sich eine zum Theil fabelhafte Eentabilität
der Gesellschaften, gleichwohl aber auch, dass sie nur einen verhältnismässig sehr
niedrigen Zuschlag zu den Gestehungskosten der Waren erheben (rund 10—15%), dies
beweise, dass ihre Verwaltung eine rationelle und ökonomische ist und dass sie dein
Literaturbericht. Q'J\
Publicum eine sehr vortheilhafte Einkaufs quelle bieten. Der Zuschlag sei nirgends ein
sehr erheblicher und lasse sich bei den Ausweisen einzelner Gesellschaften auch für
einzelne Warengruppen sondern, wo er sich dann als ein ziemlich gleichmässiger darstelle.
So betrug 1889 bei der Army and Navy C. S.:
der Zuschlag auf den Einkaufspreis insgesammt . . . . 11'71%
„ „ bei der Gruppe Esswaren etc ll'l «
r V r, „ r Schreibwaren 14-5 „
r „ „ „ „ Luxuswaren 13-7 „
« r r Tuch etc 10-8 „
« « „ „ „ Confection etc 10.7 „
Der Verfasser verfolgt sodann das Grossmagazinswesen in den Vereinigten Staaten,
Italien, Belgien, Dänemark und zuletzt dem Deutschen Eeiche, dessen Handel sich in
einem Zustande grosser Zersplitterung befinde. Hier würden nur drei Unternehmungen
deutlich die Merkmale modernen Grossmagazinswesens an sich tragen: der deutsche
Officiers- Verein, das Warenhaus für deutsche Beamte und der Kaiserbazar in Berlin.
Hiernach dürfte es als feststehend erachtet werden, dass, was Europa anlangt, der
eigentliche Sitz der Grossmagazine in den Hauptstädten ist; Frankreich und England
besitzen hinsichtlich der Ausdehnung der Etablissements den Vorrang. Der Bon Marche
und Louvre seien als die grössten Detailgeschäfte der Welt zu bezeichnen.
Im zweiten Capitel, „Grossmagazin und Handel" betitelt, wird zunächst unter-
sucht, wie überhaupt die neuzeitliche Entwicklung die Stellung des Handels beeinflusst.
Man könne nicht sagen, dass die moderne wirtschaftliche Entwicklung nur in
einer einzigen bestimmten Eichtung auf den Wirkungskreis des Handels Einfluss genom-
men habe. Der Bedarf an kaufmännischer Thätigkeit habe im Laufe der Zeit gewisser-
maassen an umfang gewonnen, dafür aber an Intensität eingebüsst. Oder mit anderen
Worten: Die Warenmenge, um' deren Umsatz es sich handle, hat beträchtlich zuge-
nommen, die Bewerkstelligung dieses Umsatzes kann aber vielfach mit einfacheren,
leichteren Mitteln geschehen.
Während aber auf der einen Seite eine Erweiterung des Umfanges der kauf-
männischen Thätigkeit zu bemerken sei, mache sich auf der anderen Seite, umgekehrt
auf dem beregten Gebiete auch eine Tendenz zur Vereinfachung der dem Verkehre
dienenden Vorkehrungen, geradezu zur Abstossung von Mittelspersonen geltend.
Diese Tendenz sei sogar eine sehr mächtige und gelange vor allem im Kreise der
Producenten, ja des Handels selbst zur Wirksamkeit. Immer mehr suche der Detail-
händler den Grosshändler zu umgehen und begegne bei diesem Bestreben ähnlichen
Wünschen der grossen Fabrikanten, welche vielfach eine directe Verbindung mit den
Detailhändlern suchen. Diese Erscheinung steht in innigstem Zusammenhang mit der
Vervollkommnung der Verkehrsmittel. Hierzu geselle sich ein anderer Factor moralischer
Art, die zunehmende Verkehrsgewandtheit.
Eine nicht unwichtige Rolle in dieser Entwicklung spiele unser Ankündigung s-
und Reclamewesen. Durch dasselbe werden die Kauflustigen auf neue Einkaufs wege
und Einkaufsquellen aufmerksam gemacht, welche sie andernfalls vielleicht nie beachtet,
von deren Existenz sie vielleicht nie etwas erfahren hätten.
Hierauf sucht Dr. Mataja die Stellung zu kennzeichnen, welche die Grossmagazine
in der Entwicklung des Handels einnehmen.
Das Grossmagazinswesen sei nur eine der Formen, in welchen sich die Waren-
austheilung d. i. die Zuführung der Erzeugnisse an den Consumenten der neuzeitlichen
Entwicklung gemäss vollziehe. Diese letztere dränge aber vor allem auf Vereinfachung
der Veranstaltungen, nämlich auf Abstossung unnützer Mittelglieder und auf Aneignung
der Vortheile, die, wie schon auf so vielen arideren Gebieten, auch hier der Grossbetrieb
gewähre.
In beiden Beziehungen komme aber mit dem Grossraagazin auch das Consum-
Vereinswesen in Betracht. Sei letzteres — in seiner reinen Form — direct auf die
(^72 Literaturbericht.
Beseitigung des Zwischenhandels gerichtet, so wirke das Grossmagazin zum mindesten
auf eine Einschränkung desselben hin. Das Magazin sei aber wegen seiner Grösse
imstande, seinen Bedarf unmittelbar aus erster Hand zu decken, und strebe also auch
darnach, die Verbindung zwischen Producent und Consument möglichst aller Umwege
zu entkleiden.-
Somit wirken Consumvereine und Grossmagazine darauf hin, das Gebiet ein-
zuengen, welches bisher der Kleinhandel innehatte.
Doch würden sie sich, trotz der in den obersten Spitzen sich ergebenden An-
näherungen, durchaus nicht auf der ganzen Linie Concurrenz machen, sondern vielmehr
den Angriff von wesentlich verschiedenen Seiten her vornehmen. Die wichtigsten Gegen-
stände für das Consumvereinswesen sind Nahrungs- und Haushaltungs-Artikel, während die
Grossmagazine überall in erster Linie, wo nicht gar ausschliesslich, sich mit Artikeln
der Bekleidungsindustrie befassen, welchen sich freilich häutig genug schon die
Gegenstände für Wohnungseinrichtung und Wohnungsausschmückung, Galanterie- und
Spielwaren, Objecte des Hausbedarfs u. dergl. anschliessen, kurz insgesammt Producte
der Industrie, welche vorwiegend der Luxusconsumtion dienen und nicht Object eines
wohlorganisierten Engroshandels sind.
Diese, wenn auch nicht ganz consequent durchgeführte, so doch in der Haupt-
sache nach unverkennbare Trennung des Wirkungskreises sei kein Zufall.
Dass das Grossmagazin nur schwer dazu gelangen kann, in Nahrungsmitteln und
den diesen verwandten Waren den kleinen Detailgeschäften Concurrenz zu machen, sei
leicht begreiflich. Seine eigenthümlichen Vorzüge, wie beispielsweise die reiche Auswahl,
welche seine grossen Warenvorräthe gestatten, würden hier an sich viel weniger ins
Gewicht fallen, dagegen mache sich namentlich der Nachtheil aus der Entfernung der
Verkaufsstätte geltend. Hier, wo es sich um alltägliche Einkäufe handle, von welchem
jeder einzelne gewöhnlich nur geringen, oft nur ganz geringen Wert hat, sei natürlich
die Nähe der Einkaufsstelle von besonderer Bedeutung, hier seien also die zahllosen
kleinen, über die ganze Stadt zerstreuten Geschäfte fürs Publicum bequemer als das für
die meisten entfernt gelegene centralisierte Verkaufsmagazin. Wenn daher schon zum
Händler gegangen wird, so erhalte regelmässig der nähere den Vorzug.
Hinsichtlich der Industrie-Erzeugnisse, insbesondere der für den Luxusconsum.
liegen die Dinge doch ganz anders. Namentlich was die Bekleidungsgegenstände anbe-
lange, trübt die Mode gewaltig den ruhigen Verlauf des Geschäftes. Hier gelte es
auch, die Kauflust zu reizen, Neues und Originelles zu bieten; ein reich ausgestattetes
Lager bedinge auch ein grosses Risico, bedeutende Warenmengen entwerten sich durch
den Wechsel der Mode und der Jahreszeiten, und sei es dann nöthig, diese rasch abzu-
stossen. Ausserdem eigne sich daher dieser Handelszweig ungleich weniger für die
Abwicklung durch ein beamtenmässig arbeitendes, jedes Wagnis vermeidendes Consum-
vereinswesen. Beiden — Grossmagazinen und Consumvereinen — gemeinsam ist die
im Sinne des modernen Güterverkehrs gelegene Verkürzung der Kette, welche Producent
und Consument verbindet.
Dr. Mataja sucht sodann, ausgehend von der das wirtschaftliche Leben heutzutage
so sehr beherrschenden Tendenz zum Grossbetrieb, von welcher nicht bloss die Industrie,
sondern auch die mannigfachsten anderen Erwerbszweige wie Transportwesen, Bergbau,
Banken etc. ergriffen, die Vorzüge und die Nachtheile der beiden Formen der Handels-
organisation zwischen Kleinhandel und Grossmagazinssystem gegenüberzustellen. Sein
Urtheil fällt zu Gunsten des letzteren aus. Das Grossmagazinssystem gestatte nicht bloss
eine kaufmännisch überlegene Leitung, sondern tendiere auch zu einer höheren Solidität
im Handel und Wandel.
Nachdem der Verfasser im dritten Gapitel den Zusammenhang des Grossmagazins-
wesens mit der Entwicklung des industriellen Grossbetriebes dargelegt, beleuchtet er in
dem folgenden die Bekämpfung, welche die Grossmagazine in den einzelnen Ländern,
besonders in Frankreich erfahren, wo sich wider dieselbe ein eigener Verband —
Literaturbericht. 673
— 33.000 Mitglieder zählend — die „Ligne syndicale pour la Defense des Interets du
Travail, de Tlndustrie et du Commerce" gebildet habe.
Das fünfte und letzte Capitel ist der socialpolitischen Würdigung des Gross-
magazinswesens im Wirtschaftsleben der Völker gewidmet.
Vor allem könne nicht daran gezweifelt werden, dass dem Grcssmagazinssystem
ein weites Gebiet gesichert erscheint und dass dies nicht Zufall, nicht Product eines
Speculationsfiebers des Capitals ist, sondern auf innern ökonomischen Gründen beruhe.
Das Magazinssystem sei vielmehr eine nothwendige Folge der neuzeitlichen industriellen
und commerziellen Verhältnisse und das Grossmagazinswesen wiederum dessen logische
Consequenz, der Punkt, auf den unbestreitbar die Entwicklung des ersteren hintreibe.
Das Magazinssystem ergreife freilich nicht gleichmässig alle Artikel oder Waren, sondern
beschränke sich im wesentlichen auf Industriepro ducte, namentlich solche des feineren
und Luxusconsums. Ihren Sitzen nach werden sich die echten Grossmagazine auf die
grossen Städte concentrieren müssen; ihre Wirksamkeit aber sei für die kleineren Orte
nicht aufgehoben, sondern nur eingedämmt, indem sie auch diese im Wege des Versandt-
geschäftes zu treffen wissen. Mit der steten Verwohlfeilung der Transportmittel und der
wachsenden Verkehrsgewandtheit des Publicums habe dieses Versandtgeschäft günstige
Aussichten für sich. Zweifellos werde damit der Kleinhandel und das Gewerbe in
empfindlicher Weise getroffen. Daneben leiden aber auch Zwischenhändler und selbst
Fabrikanten aller Art, da die Grossmagazine wegen directen Einkaufes an erster Quelle
auch den Engrosshandel umgehen, manche Fabrication selbst in die Hand nehmen.
Somit würden, wie nicht zu verkennen sei, zahlreiche Existenzen geschädigt, Erwerbs-
zweige bedroht, auf deren selbständiger Besorgung der Mittelstand beruhe,
Dies führt den Verfasser auf die Frage, ob man dem Aufkommen des Gross-
magazinswesens künstliche Hindernisse bereiten oder den Dingen freien Lauf lassen solle.
Die Antwort scheine nicht zweifelhaft zu sein. Sofern das Grossmagazinssystem
die überlegene Betriebsform sei, sofern es also die Bedürfnisse der Consumenten besser
oder wohlfeiler befriedige, sich besser einfüge in den Rahmen der heutigen Volkswirtschaft
und die einmal erforderlichen Leistungen mit einem geringeren Kraftaufwand vollziehe,
streite für die Gewährung ruhiger Entwicklung der wichtigste Factor, welcher in solchen
Fragen angerufen werden könne: das allgemeine Interesse.
Die künstliche Behinderung des Grossmagazinswesens sei aber nicht im allgemeinen
Interesse gelegen und auch für die Dauer nicht durchführbar, der Versuch hierzu könne
nicht einmal als dem wahren Interesse der Betheiligten entsprechend erachtet werden.
Es handle sich hier um keinen Kampf von Personen gegeneinander, sondern um
einen Wettstreit von ünternehmungsformen.
Uebrigens dürfe man den Stand der Dinge auch nicht für noch gefährlicher
ansehen, als er ist. Nicht allein die Länge der Uebergangsepoche sei es, die man für
eine etwas freundlichere Auffassung der Lage anrufen könne, sondern namentlich auch
der Umstand, dass schon jetzt sich gewisse Schranken angeben lassen, innerhalb
welcher sich auch in absehbarer Zukunft der Klein- und Mittelbetrieb des Handels werde
behaupten können.
Namentlich gelte dies für kleinere Orte, in welchen das Grossmagazin nur im
Wege des Versandtgeschäftes wirken kann. Aus praktischen Rücksichten sei es aber schon
ausgeschlossen, dass man sich j edes Stück, welches man braucht, aus der Ferne kommen
lasse. Der an Ort und Stelle befindliche, ein Lager haltende Kaufmann werde somit
unter allen Umständen zu thun bekommen. Aber selbst in den Grosstädten werde dem
kleineren Geschäfte, selbst die höchste Entfaltung des Magazinssysteras vorausgesetzt,
noch immer ein weiter Spielraum bleiben. Nicht bei jedem Einkauf kann man der Nähe
der Bezugsquelle entrathen, und dann gibt es auch eine Menge von Artikeln, bei welchen
in manchen Beziehungen die Begünstigung des Grossbetriebes, wie er sie sonst durch
die Ermöglichung reicherer Auswahl oder ähnliche Momente bietet, entfalle. Immer
werde es ferner eine Kundschaft geben, die eine individualisierende Behandlung erfordere.
Hier würden aber die Monstrebetriebe schon in Nachtheil gerathen, gerade so, wie sich
ß74 Literaturbericht.
das einzelne Fuhrwerk nach den Wünschen des Fahrgastes richten kann, dort Aufenthalt
nehme, wo er es wünscht und sich in Bewegung setze, wann er es will, nicht aber die
Eisenbahn oder das Dampfschiff mit ihrer festen Eegelmässigkeit.
Dr. Mataja glaubt daher, dass es sich nicht um Verdrängung, sondern nur um
Zurückdrängung des Klein- und Mittelbetriebes des Detailgeschäftes handeln könne.
Zuletzt wird noch die Frage erörtert, welchen Einfluss die Entwicklung des
Grossmagazinswesens auf die Lage des Personals, speciell der Handlungsgehilfen ausübe,
kurz, ob sie durch dieselbe verlieren oder gewinnen.
Sie verlieren sicherlich, insoweit ihre Aussichten, einmal selbständig zu werden,
dadurch verringert werden. Der selbständige Geschäftsmann habe eben dem Handlungs-
gehilfen Platz gemacht, dem Handlungsgehilfen ohne Aussicht, die dienende Stellung
dereinst verlassen zu können. Dagegen komme als Lichtseite in Betracht, dass in Betreff
der allgemein kärglichen Bezahlung und der oft geradezu unmässigen Arbeitszeit der
Handlungsgehilfen, in beiden Beziehungen das Grossmagazin seinen kleineren Con-
currenten zumeist überlegen sei, wie überhaupt die grösseren Geschäfte häufig günstigere
Arbeitsbedingungen als die kleineren bieten. Was Sicherheit der Stellung, Möglichkeit
des Vorwärtskommens, Wohlfahrtseinrichtungen und Aehnliches betrifft, geniesse der
Dienst im Grossmagazin jedenfalls den Vorrang. Das Lehrlingsunwesen, welches im
kaufmännischen Stande soviel Unheil schaffe und bei den Klein geschäften in so verderb-
licher Weise zur künstlichen Vermehrung und Stellenlosigkeit vieler junger Kaufleute
führe, sei beim Grossmagazin ausgeschlossen, zum mindesten sehr eingedämmt. Aufs
Lehrlingszüchten habe sich noch kein Grossmagazin der Welt verlegt.
Zugegeben müsse freilich werden, dass mit der Ausbreitung des Grossmagazins-
wesens das Selbständigwerden erschwert werde. Dagegen müsse, da ein so grosses
Unternehmen nicht ausschliesslich und durchgreifend von einem Punkte aus geleitet
werden könne, vielen ein mehr selbständiger Wirkungskreis, ein gewisser Antheil an der
Geschäftsführung eingeräumt werden. Der Privatbesitz, welcher beim Selbständigmachen
eine grosse EoUe spielt, trete hier gänzlich zurück, ausschlaggebend werde das persön-
liche Verdienst.
Der Verfasser vertritt auch die Ansicht, dass für die Angestellten der Dienst bei
einer Actienges ellschaft im allgemeinen vortheilhafter sei als der Privatdienst und dass
demnach aus der grossen Eignung des Grossmagazinswesens für den Actienbetrieb eine
Gefahr für die Bediensteten nicht erwachse.
Dagegen werde sich die Organisation der Handlungsgehilfen als nothwendig
erweisen; denn in jenen grossen Magazinen sei der einzelne Angestellte widerstandslos
wie ein Atom, das in der Masse verschwindet. Je mehr in dem Kaufmann sstand sich
die Verhältnisse den grossindustriellen nähern, desto mehr würden auch zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer Beziehungen gleich denen in der Industrie eintreten.
Keime von Organisationstendenzen und vereinter Interessenvertretung seien ja jetzt
schon unter den Handelsangestellten wahrzunehmen; sie werden durch das Umsich-
greifen der Grossmagazine wesentliche Aneiferung erfahren,
Dr. Mataja fasst seine interessanten Ausführungen dahin zusammen, dass man
die Ausdehnung des Grossmagazinswesens nicht in Abrede stellen könne; sei doch
unsere Zeit den Grossmagazinen sehr günstig. Das Grossmagazinswesen werde sich
übrigens im wirtschaftlichen Leben, welches sich vor unseren Augen entwickele, keineswegs
störend oder auffallend ausnehmen ; im Gegentheil, es dürfte dazu wie hineingegossen
passen. Der Grossbetrieb dränge sich eben auf den verschiedenartigsten Gebieten vor
und zwar, wie man nicht vergessen dürfe, wegen seiner technisch ökonomischen Vortheile,
die zugleich eine Minderung des Tributs bedeuten, welchen die Natur dem Menschen
auferlegt habe zum Zwecke der Befriedigung der Lebensnoth dürft und der als Schranke
dastehe für die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit.
Die Betrachtung des Grossmagazinswesens habe ferner Licht- und Schattenseiten
ergeben, es habe sich auch gezeigt, dass das Grossmagazinssystem unter verschiedenen
Formen auftrete, welche Vorzüge und Nachtheile in verschiedenem Grade an sich tragen.
Literaturbericht. 675
es habe sich endlich auch herausgestellt, dass trotz der günstigen Aussichten, welche
die weitere Ausdehnung des Grossmagazinssystems besitze, auch dem Kleinhandel ein
Feld zur Bethätigung übrig bleibe, sowie dass dem durch die Umwandlung des Detail-
handels zunächst berührten Theile der Lohnarbeit, den Handelsangestellten, aus dieser
Veränderung mancherlei Gefahren, aber auch mancherlei Vorthei.le erwachsen. Sei der
Umwandlungsprocess selbst, der sich vor unseren Augen vollziehe, wohl kaum aufzuhalten,
so gelte es umsomehr das Gute, das er bringe, möglichst zu fördern.
Der Verfasser der besprochenen Schrift hat das Verdienst, dass er sich zum
erstenmal der dankenswerten Aufgabe unterzogen, die mit dem Grossmagazinssystem
verknüpften Vorzüge und Nachtheile einander gegenübergestellt und somit über die
in der volkswirtschaftlichen Literatur noch wenig behandelte Materie Klarheit verbreitet
zu haben. Diese Untersuchung dürfte Anregung geben, auch einmal die Bedeutung
anderer Betriebsformen des Handels z. B. das System der vielfach in letzter Zeit in
Aufschwung gekommenen, von einer Centrale aus geleiteten Filial-Detail-Geschäfte sog.
Engros- oder Fabriksniederlagen im Lichte der Volkswirtschaft zu prüfen. E. Elkan.
Karl Bücher, Die gewerblichen Betriebsformen in ihrer historischen Entwicklung.
Karlsruhe, 1892. (Sonderabdruck aus der Festschrift der technischen Hochschule zu
Karlsruhe zum 40jährigen Regierungsjubiläum Sr. K. H. des Grossherzogs Friedrich
von Baden. Französisch: Las formes d'industrie dans leur developpement historique.
Paris, 1892, Extrait de la Revue d'Economie Politique.)
HeiT Prof. Karl Bücher hat sich während seiner Lehrthätigkeit an der Basler
Universität und an der technischen Hochschule zu Karlsruhe wiederholt in eingehender
Weise mit der Frage der gewerblichen Betriebsformen beschäftigt. Die Spuren dieses
Interesses fanden sich nicht allein in den Dissertationen seiner Schüler, es hat auch zu
drei eigenen Arbeiten des Leipziger Gelehrten geführt : zu einer Artikelserie über „Haus-
lieiss und Hausindustrie" im Wiener „Handelsmuseum" (1890, Nro. 31 — 33), zu der oben
bezeichneten Festschrift, welche in der deutschen Ausgabe allerdings nicht in Buchhandel
gekommen ist, und endlich zu dem Aufsatz „Gewerbe" in Conrad's Staatswörterbuch
(Bd. III. S. 922 — 950), welcher mit jener zusammen betrachtet werden muss, da er für
manche dort einfach hingestellte Behauptungen die nähere Begründung bringt. Versuchen
wir hier die historische Reihenfolge der Betriebsformen, die ja alle noch heute neben
einander bestehen, mit der Charakteristik Büchers kurz zu präcisieren.
Bis tief in die geschichtlichen Zeiten hinein bildet allerdings das Ziel jeder
Einzelwirtschaft ausschliesslich, sämmtliche Bedürfnisse ihrer Angehörigen durch Eigen-
production zu befriedigen. Die Bedürfnisbefriedigung wird besser und reicher in dem
Maasse, als die Technik der Stoffumwandlung sich innerhalb der geschlossenen Haus-
wirtschaft weiter entwickelt, als es möglich ist, die erforderliche Arbeit unter den Gliedern
des Hauses zu theilen. Daher werden in den Haushalt nichtverwandte Elemente aufge-
nommen: es entsteht Sclaverei, Hörigkeit, Leibeigenschaft, das Haus entwickelt sich zur
grossen Sclavenwirtschaft der Karthager und Römer, zu den Villen Karls des Grossen, zur
deutchen Fröhnerwirtschaft, zur russischen Grossfamilie, zur südslavischen Hausgemeinschaft
— Wirtschaftsformen, die der Nöthigung entspringen, das Haus mit seiner inneren Arbeits-
gliederung wirtschaftlich autonom zu erhalten. Nur dem eigenen Bedarf angepasst ist
die Arbeit; hingegen produciert das Haus aber alle Brauchbarkeiten, deren es bedarf.
Auch heute noch ist der Bauer in Russland oder Bukowina zu allem geschickt
(wir verweisen hier auf unsere eigene Darstellung im ersten Heft dieser Zeitschrift,
S. 148 fg.). In der Familie der Römer finden wir Sclaven als Müller, Bäcker, Köche,
Schmiede, Zimmerleute, Kalkbrenner, Wollschläger, Weber, Walker, Schneider u. s. w.
Der Grundeigenthümer ist dort der Producent schlechthin; die verkehrsmässige Verbindung
der Einzelwirtschaften ist, wie zwischen den sich selbst erhaltenden Bauernhöfen,
beschränkt.
Noth und Ungleichheit des Grundbesitzes führen zur zweiten Stufe des Haus-
fleisses; er ist da nicht mehr reine Bedarfsproduction, vielmehr kommen seine Ueberschüsse
zu Markte. Nicht allein die heutigen Bauern im Osten Europas (vgl. das erste Heft
676
Literaturbericlit.
dieser „Zeitschrift", S. 152 fg) stehen auf dieser Stufe; die Klosterwirtschaften des
frühen Mittelalters, die für eine bestimmte Fabricationstechnik abgerichteten Sclaven
in Athen erzeugten so Gewerbeproducte für den Markt; die griechische Kunstindustrie,
die Gerberei des Kleon, die Flötenfabrik von Isokrates' Vater und zahlreiche andere
Betriebe, von denen berichtet wird, standen auf der Stufe des einseitig fortgebildeten
Hausfleisses, bei der es sich um eine besondere Art der Vermögensnutzung des Oikos,
die Exploitation seines Menschenmateriales handelt.
Eine weitere Stufe der Entwicklung, in Griechenland und Eom sowie im Mittel-
alter leicht verfolgbar, tritt ein mit der Emancipation des gewerblichen Arbeiters von
dem Hauswesen, dem er bis dahin als unfreies oder doch abhängiges Glied allein seine
Dienste zu widmen hatte. Griechische und römische Herren vermieten ihre Sclaven,
oder gestatten Arbeitern von besonderer Kunstfertigkeit, ihre Geschicklichkeit gegen
Lohn anderen anzubieten. Die Quellen der Juristen sprechen daher von den „servi qui
aliqua parte anni agrum colunt, aliqua parte in mercedem mittuntur" und von dem
„servus arte fabrica peritus, qui annuam mercedem praestat"; dieser, für sich wohnend,
liefert den grössten Theil seines Verdienstes an den Herrn ab; er findet sich vielfach
thatsächlich auf der Vorstufe zur Freilassung. Auf dem Frohnhof des frühen Mittelalters
sind die Industriearbeiter Hörige oder Colonen, d. h. sie sind entweder in der Nähe
des Frohnhofes angesiedelt und leisten ihre Arbeit nach Bedarf auf dem Hofe, oder
aber sie arbeiten daheim und liefern fertige Gewerbeproducte als Zins für die ihnen
zugewiesene Landnutzung. Bei dem freieren Verhältnis, in dem diese hörigen Leute zur
Gutsherrschaft standen, boten sie bald auch anderen ihre Dienste an und gelangen später
in die Stadt.
Die beiden gekennzeichneten Typen von Frohnarbeit enthalten bereits die beiden
Formen des Lohnwerks in sich, bei dem der Arbeiter aus dem Hause tritt und für
fremde Consumenten Rohstoffe und Halbfabrikate umformt. Der Lohn werker tritt
1") als Tag- oder Stücklöhner in die Wirtschaft des Kunden ein, erhält hier Kost, oft auch
das Nachtlager und bleibt so lange, bis dem vorhandenen Bedarfe des Hauses genügt
ist: er ist mit einem Wort Stör er, Arbeiter auf des Bauern Stube — oder er hat
2*^) eine feste Betriebsstätte, in der er den ihm von den Kunden gelieferten Rohstoff
gegen Stücklohn bearbeitet: er ist Heimwerker (Bücher).
Beide Formen treten im römischen Rechte sehr scharf auf; die locatio conductio
operis ist das Heimwerk, sagt Bücher, die „operarum" die Stör; im ersten Fall
nimmt der Arbeiter den Rohstoff mit, im zweiten holt der Hausvater den Arbeiter, dessen
Dienste er zeitweise bedarf, ins Haus. Soll der üebernehmer auch den Stoff zu der zu
verfertigenden Sache liefern, so ist das Geschäft nicht locatio conductio, sondern emtio
venditio: Kauf (Quellenstellen bei Arndts § 315, Anm. 1.).
Bis ins XIV. Jahrhundert sind die städtischen Handwerker in Mitteleuropa zum
allergrössten Theile ebenfalls Lohnwerker. Störer sind nebst den Bauleuten aller Art:
Zimmerern, Maurern, Dachdeckern, . Glasern, Malern etc., jene Gewerbetreibenden, deren
Werkzeug sich leicht transportieren lässt, wie Schneider, Schuhmacher, Sattler, zuweilen
aber auch Weber, •) Schreiner, Fassbinder u. s. w., Heimwerker die, deren Werkzeug
eine feste Betriebsanlage erfordert, wie Müller, Bäcker, Leinenweber, Färber, Wagner.
Die Materiallieferung durch den Besteller herrschte bei den grösseien zünftig geordneten
Handwerken bei weitem vor; der Normalhandwerker der deutschen Stadt des Mittel-
alters war mithin keineswegs ein kleiner Unternehmer. Der Verkehr zwischen dem Lohn-
werker und seinen Kunden ist das Altgewohnte; erst allmählich, mit der Verwirklichung
der Geld- und Verkehrswirtschaft, wird die Stofflieferung durch den Meister häufiger
und wird die Regel. Damit tritt an Stelle des Lohnwerkers der Handwerker.
Das Handwerk ist eine Productionsform, bei welcher der Gewerbetreibende zugleich
Arbeiter und Eigenthümer der Roh- und Hilfsstoffe ist und Tauschwerte für nicht
»j Das letztere ist auch heute noch in gewissen von den Bahnen abseits gelegenen Thälern Nieder-
Oesterreichs der Fall, wo Lohnwerker Hanf- und Sohafwollgarne der Bauern zu Leinen oder Lodenstoffeu
verweben. Ref.
Literaturbericlit. 677
seinem Haushalte angehörende Consumenten erzeugt. „Mochte anfänglich der Consument
aus alter Gewohnheit noch den Eohstoff selbst einkaufen, mochte er später den Handwerker,
weil dieser sich besser auf die Sache verstand, dabei als Vermittler benutzen oder ihm
einen Vorschuss geben, damit er selbst das Nüthige beschafie, schliesslich gelangte der
Lohnwerker bei Fleiss und Sparsamkeit selbst zu den nothwendigsten Mitteln und die
Materialbeschaffung gieng ganz an ihn über." Die Arbeitsmiete verwandelt sich in eine
emtio venditio, das Lohnwerk, nach Büchers Ausdruck, in ein Preisw^erk, wie man in
Niederösterreich sagte, in „Kaufarbeit". Diesem Uebergange von der Gebrauchswert- zur
Tauschwert-Production muss die Ausbildung des Gesellenwesens zugeschrieben werden.
Ursprünglich ein minder glücklicher Arbeitsgenosse, wird der Geselle nun Knecht dessen,
der zum Eigenthümer des Betriebscapitals wurde.
Am frühesten vollzog sich der üebergang vom Lohnwerk zum Preiswerk in den
kleinen nichtzünftigen Gewerben; die grossen zünftigen Gew^erbe folgten nur langsam;
Bäcker, Metzger, Gerber, Schuster betrieben das ganze Mittelalter hindurch nebeneinander
Lohn- und Preiswerk, das eine für die wohlhabenden, das andere für die ärmeren Con-
sumenten.
Mit dem Üebergang zum Preiswerk wird aber das Lohnwerk Gegenstand der
Verfolgung seitens der Meister: besass der Gesell sein eigenes Werkzeug, und das ist
iin Mittelalter Jahrhunderte lang der Fall, so gab es kaum ein sachliches Hindernis für
ihn, auf eigene Hand Kundenarbeit anzunehmen. Die Zunftmeister suchten die Störer
(dieser Name, der nach Schmeller von Stör oder St er =— Mühseligkeit stammt, erhält
nun einen Doppelsinn: Störarbeiter = Pfuscher) in den Häusern ihrer Kunden aufzuspüren
und sie zur Verantwortung zu ziehen (die viel berufene Bönhasenjagd, — Bön oder
Bün = Obergeschoss), ein Brauch, dem die Landeshoheit entgegentritt, ohne jedoch im
grossen ganzen die Verdrängung des Lohnwerkes durch das Preiswerk hindern zu
können. 1)
Mit der Ausbildung des Lohnwerks trat bloss der Arbeiter aus der Wirtschaft
des Grundeigenthümers aus, jetzt folgen die Productionselemente; das directe Verhältnis
zwischen Handwerker und Consumenten, die Kundenproduction, bedingt die Kleinheit
der Betriebe. Die Arbeitstheilung des Mittelalters, sagt Bücher, ist die Specialisation,
die Berufstheilung2), die immer neue Existenzen schafft und später zu jener eifersüchtigen
Abgrenzung der Arbeitsgebiete führte, welche einen guten Theil der Kraft des Zunft-
wesens in inneren Streitigkeiten aufzehrt. Es traten hiebei auch lebensunfähige Gebilde
auf, daher, schon damals, die sehr häufige Verbindung zweier verschiedener Berufsarten,
eines zünftigen und eines nichtzünftigen Gewerbes.
Mit dem Entstehen des centralisierten, modernen Staates und der Beseitigung
der inneren Zunftschranken erweitert sich der enge städtische Markt zum nationalen, ja
zum internationalen: an Stelle der localen Arbeitstheilung tritt die nationale.
Unter der Wirkung des vergrösserten Absatzgebietes entsteht zunächst im 16. — 18.
Jahrhundert das Verlagsystem (die Hausindustrie), Wie Bücher auf Grund von
Quellenstudien nachweist, kommt es in den Seestädten schon im Mittelalter häufiger
vor, dass Kaufleute durch Lohnwerker Waren zum Export anfertigen oder veredeln
lassen; ähnliches beweisen einige von Max Weber (Zur Geschichte der Handelsgesell-
schaften im Mittelalter, Stuttgart 1889) publicierte Urkunden in Bezug auf die Erzeugung
von Exportartikeln in oberitalienischen Städten; allmählich entwickelt sich mehr und
mehr ein gleiches Verhältnis zwischen den kleineren Handwerkern und den grösseren.
») Aus dem Lohnwerke entwickelten sich auch die Wandergewerbe, welche in Russland noch
eine grosse Rolle spielen. Der Arbeiter gliedert sich da zeitweise im fremden Hause ein, oder er schlägt im
Freien seine unstete Werkstatt auf, oder mietet sich für kurze Zeit ein nothdürftiges Betriebslocal; er ist
liOhnwerker und nur wo er mit ganz billigem Material arbeitet (Siebmacher, Korbflechter, Drahtbinder;
nimmt sein Betrieb einen handwerksmässigen Charakter an.
^) Von den Küfern trennen sich die Kühler, von den Wagnern die Pflugmacher, von den Webern
die Kämmer, Wollschläger, Spuler, Zauer, Walker, Färber und Tuchscherer; die Lederer zerfallen in Loh-
und Weissgerber, die Schreiner in Zimmerleute und in Tischler; von den Sattlern splittern sich die Kummeter,
Riemenschneider und Rentier ab, von den Schneidern die Hutmacher und die Seidensticker.
(378 " Literaturbericht.
welche die entfernteren Messen beziehen. Die Möglichkeit des Absatzes im grossen
erzeugt aber bald, im 17. und 18. Jahrhundert noch eine weitere Betriebsform, eine
gewerbliche Unternehmung für einen nur indirect erreichbaren Consumentenkreis : die
Fabrik.
Social leitet sich die Entstehung des Heimarbeiterstandes aus den untersten
Schichten des städtischen Handwerkes und dem Kleinbauerstande ab.
Das Product des Verlagsystems ist ein Weltmarktartikel, Dutzendware. Um dies
zu erreic"hen liefert der Verleger den Eohstoff und die Arbeitsmodelle und übernimmt
oft auch die letzte Zurüstung des Erzeugnisses in einer eigenen Fergstube. Charakteristisch
ist, dass das Product, ehe es in die Hand des Consumenten gelangt, noch ein- oder
mehrmal Warencapital, d. h. Erwerbsmittel für eine oder mehrere nicht an der Production,
sondern an der Circulation betheiligte Personen, wird. Die Charakteristik des Verlag-
systems sind daher: stossweise üeberspannung der Production, schwere Krisen, das
Trucksystem und Abrechnungsmissbräuche ^ wucherische Schuldverhältnisse, niedere
Arbeitslöhne, ungeregelte Arbeitszeit, Frauen- und Kinderarbeit, sociale Hoffnungslosig-
keit der Arbeiter.
Im Gegensatz zur comraerziellen Zusammenfassung von gleichartigen Einzelkräften
im Verlag, bedeutet die Fabrik die technische Zusammenfassung und Discip linierung
verschiedenartiger (qualificierter wie unqualificierter) Kräfte für eine einzige gewerbliche
Productionsaufgabe. Ein kaufmännischer Unternehmer hält hier die verschiedenen Arbeiter
zusammen, deren Hände ein Manufactur- oder Fabriksproduct bis zu seiner Vollendung
zu durchlaufen hat. Er vereinigt die Productionsmittel in seinem Besitz, während sich
zugleich damit für die Arbeiter die Aussichten, zu einem eigenen selbständigen Betriebe zu
gelangen, vermindern. Durch die Arbeitszerlegung, d. i. die Trennung der qualificierten
von der ungelernten, der schweren von der leichten Arbeit, die Auflösung aller Arbeits-
vorgänge in ihre einfachsten Elemente, kann die Fabrik die verschiedenartigsten Kräfte
entsprechend und mit Eücksicht auf die Productivität am vortheilhaftesten beschäftigen.
Wo die Zurückführung der Arbeit auf einfache Bewegungen gelungen ist, tritt die
Maschine in die Arbeitsgliederung ein. Die fortgesetzte Vervollkommnung des mechanisch-
technischen Apparates hat zwar auf manchen Productionsgebieten bereits dahin geführt,
dass der lebendigen Menschenkraft nur noch die Lücken auszufüllen bleiben, allein die
Maschine ist gleichwohl nicht das Wesentliche bei der Fabrik. „Maschinen hat man seit
alter Zeit im Gewerbe beschäftigt, Arbeits- und Kraftmaschinen"; sie wurden erst mit
der Erfindung der Dampfmaschinen, die nie den Dienst verweigerten und sich überall
anwenden Hessen, zu einem wichtigen Element der Erzeugung, das die Ausbreitung des
Fabriksystems gewaltig förderte. Dessen ökonomische Stärke liegt aber in der zweck-
mässigen Arbeitsverwendung; dies erfordert indes nothwendig bedeutende Capitalien,
den Grossbetrieb.
Als Mittelglied zwischen Handwerk und Fabrik tritt der Verlag in der Textil-
industrie, insbesondre der Baumwollspinnerei und -Weberei ein; auf anderen Gebieten
der Production gehen nur einzelne zu fabriksmässiger Massenerzeugung geeignete Artikel
und einzelne dem System der Heimarbeit widerstrebende Warenqualitäten an die Fabrik
über. Wo es sich aber z. B. um Waren rasch wechselnder Nachfrage und grosse Mannig-
faltigkeit der Sorten handelt, bleibt die Hausindustrie bestehen, denn sie gestattet einen
grossen Theil des Betriebsrisicos von dem Unternehmer auf den Arbeiter zu überwälzen
(vgl. das dritte Heft dieser „Zeitschrift", S. 490 — 1). Anderwärts gliedert sich die Fabrik
den Heimarbeiter, sowie Handwerker auch äusserlich an. Hierauf haben wir ebenfalls
bereits in dieser Zeitschrift hingewiesen (Heft I, S. 102 fg.). Sobald jedoch solche Arbeiten
regelmässiger werden, wird es oft vortheilhaft, in den Räumen der Fabrik selbst eineo
Nebenbetrieb dafür einzurichten. Ueberhaupt, sagt Bücher, geht das Streben aller
grossen Etablissements mehr und mehr darauf hinaus, ihren ganzen Bedarf an fremden
Gewerbeproducten selbst zu erzeugen und sich bezüglich des Bezuges von Halbfabrikaten,
Hilfsstoffen und sonstigen Productionsmitteln unabhängig zu stellen. Sie greifen dabei
einerseits bis zur Urproduction zurück, anderseits dehnen sie ihre Thätigkeit bis zum
Literaturbericht. ß79
Kleinverschleiss ihrer Fabrikate aus. Es bildet sich so die gewerbliche Riesenunternehmung
aus, die, zugleich Verlag und Fabrik, auch noch die verwandte ürproduction und den
Handel verschlingt.
Mit grossen Verbänden, die durch die Blutsverwandtschaft, die Autorität des
Familienhauptes zusammengehalten werden, beginnt, mit grossen Verbänden, deren
Organisation auf dem abstracten Rechtsprincip des freien Vertrags beruht, schliesst
heute die gewerbliche Entwicklung ab. Auf der Stufe des Hausfleisses gibt es noch kein
Capital im Sinne der Theorie, sondern nur Gebrauchgüter; beim Lohnwerk ist nur das
Werkzeug Capital in der Hand des Ai-beiters; im Handwerk sind es Werkzeug, Betriebs-
stätte und Rohstoff; im Verlag wird es auch das Product — doch nicht ünternehmungs-
capital des Arbeiters, sondern einer ganz neu auf dem Plane erscheinenden Person, des
kaufmännischen Unternehmers. In der Fabrik hat der Arbeiter alle Productionsmittel
aus der Hand verloren, diese vereinigt der Fabriksuntemehmer für den auch der Antheil
des Arbeiters am Producte Betriebscapital ist.^)
Diese, bis zu einem gewissen Grade bereits im Alterthum vollzogene und dann im
Mittelalter ganz gleichmässig wieder beginnende Entwicklung der Formen des gewerblichen
Betriebes, dann die historische Aufeinanderfolge von Handwerk, Verlag und Fabrik legen
den Gedanken an die äussere Bedingtheit dieser morphologischen Reise nahe, Dass sie
ihre Ursache nicht in den Fortschritten der Technik habe, vielmehr beides, Betriebs-
form wie Technik, von den Absatzverhältnissen abhängig sind, ist bereits behauptet
worden. Auch aus der Bücher'schen Darstellung spricht die Grundanschauung, dass der
Wechsel der Betriebssysteme durch die Veränderung der Absatzkreise (Haus, Stadt-
gebiet, Staat, Welt) bedingt und erzwungen wird — nicht durch die Ausdehnung des
Absatzkreises an sich, sondern die Länge des Weges, Zahl wie Art der Zwischenhände,
welche das Product vom Erzeuger bis zum Verbraucher passieren muss.
E. Schwiedland.
») Von zwei Seiten, sagt Bücher, empfangt das Productionsgebiet des Gewerbes immer neuen
Zuwachs: i. von Seiten der alten Haus- und Landwirtschaft, von denen sich immer noch Theile ablösen
und zu selbständigen Gewerbezweigen werden, und 2. durch „stete Vervollkommnung" und Vermehrung
der Güterwelt, welche zur Befriedigung unserer Bedürfiiisse dient. Wir müssten da gegen die „Vervoll-
kommnung" Einsprache erheben, indem sich die Güter seit geraumer Zeit dank der modernen Productions-
vmd Vertriebsweise, soweit sie Erzeugnisse des Verlages oder der Fabrik sind, unseren Beobachtungen nach
in der Qualität im allgemeinen eher verschlechtem als vervollkommnen, doch ist hier vielleicht vom Autor
nicht die Verbesserung der Qualität bereits vorhandener Spezien verstanden, sondern der stets fortschreitende
Process der Ersetzung unvollkommenerer durch ein Bedürfnis vollkommener befriedigende Güter, wie etwa
die allmähliche Ersetzung und Aufeinanderfolge des Kienspans, Talglichtes, der Oellampe, des Leuchtgases,
des elektrischen Lichtes, u. dgl. m. ! .
ZEITSCHßlFTEX-ÜBERSICHT
Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, hgg. v. Conrad, Elster, Loening u. Lexis-.
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Journal des 'Economistes. Redacteur en chef: M. G. de Molinari. Librairie Guillaumin et Cie,
nie Richelieu, 11. Paris. 51e annee.
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I/agiotage du temps de Calonne. — Le mouvement agricole. — Revue critique des publications economiques
«■u langue francaise. — L'esprit d'initiative en France. Protectionisme et exportation. — La suppression
des bureanx d'enregistrement. — Le quatrieme congri's des banques populaires. — Ralph. -Waldo Emerson
— Bulletin. — Societe d'economie politique (Reunion du 5 aout 1892). — Comptes rendus et Notices
bibliographiques. — Chrouique economique.
Sommaire du niimero de septembre 1892: La reaction protectionniste. — Le bon vieux temps —
De la societe moderne d'apres la derniere publication de Courcelle-Seneuil. — Mouvement scientifique et
industriel. — Revue de TAcademie des sciences morales et politiques. — La loi cooperative et participa
tionniste. — Le meeting annuel du Cobden Club. — Le Congres economique d'Anvers. — La doctrinc
economique de rEncyclique sur la condition des ouvriers. — Lettre d'Italie: Les societös cooperatives. —
Lettre de Suisse : Les syndicats obligatoires. — Le cours d'economie politique de la Chambre de commerce
de Bordeaux. — Bulletin. — Societe d'economie politique (Reunion du 5 septembre 1892). — Discussion:
Ny aurait-t-il pas opportunite ä röduire en France le taux de Finteret legal. — Comptes rendus. — Chronique
rconomique.
Revue d'Econoniie Politique, hgg. v. Camv^s, Gide, Schwiedland u. Villey.
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SuHe dottrine economiche di A. Serra. — Ypsilon: Le intromissioni del governo nelle casse di risparmio
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Ottobre: X.: La situazione del mercato monetario. — Pasolini: Monografie di alcuni operaj
l-raccianti nel Comnne di Ravenna. — Squilletta: La nazione armata. — Nota, rivista del credito popolare,
Cronaca. supplemento.
L'Economlsta, direz.: De Johannis, Anno XIX. Vol. XXIII. 952— 9r,2.
BINDiNG SECT. AUG 21967
Zeitschrift für VoUcswirt-
Schaft und Sozialpolitik
1
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