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Full text of "Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik"

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I 


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ZEITSCHRIFT 


FÜR 


VOLKSWIRTSCHAFTj^SO£IALPOLITIK 

/  UND 

VERWALTUNG.) 


ORGAN  DER  GESELLSCHAFT  ÖSTERREICHISCHER 
VOLKSWIRTE. 


HERAUSGEGEBEN 

VON 


Eugen  v.  Böhm-Bawerk,  Karl  Theodor  v.  Jnama-Sternp:gg, 

Ernst  v.  Plener. 


Erster   Band. 


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PRAG.  WIEN.  LEIPZIG. 

F.  TEMPSKY.  F.  TEMPSKY,  G.  FREYTAG. 

BUCHHÄNDLER  DER  KAIS.  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN   IN  WIEN. 

1892. 


A^: 


620830 

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Druck  von  Rudolf  M.   Uoliror  in  lirünn. 


Inhalt  des  I.  Bandes. 


Seite 

E.  Böhm-Bawerk:  Unsere  Aufgaben ,     .       1 

Dr.  J.  ^L  Baernreither:  Socialreform  in  Oesterreich 11 

Dr.  Emil  Sax:  Die  Progressivsteuer 43 

Dr.  Fr.  v.  Wieser:  Grossbetrieb  und  Produetivgenossenschaften    .......  102 

Dr.    Eug.    Schwiedland:    Die   Entstehung    der  Hausindustrie    mit  Rücksicht  auf 

Oesterreich 146 

J.  Bonar:  Der  Gebrauch  des  Ausdruckes  „Gesetz"  in  der  Nationalökonomie  .     .     .  201 

V.  John:  Zur  Methode  der  heutigen  Social-Wissenschaft 212 

A.  Bräf:  Ueber  Meliorationscredit  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Oesterreich   .     .     .  227 

R.  Zuckerkandl:  Beitrag  zur  Dogmen-Geschichte  der  Schutzzollidee 249 

V.  Mataja:  Die  Reform  der  directen  Personalsteuern  in  Oesterreich 377 

H.  V.  Schullern:  Die  Gesetzgebung  über  den  Gläubiger-Concurs  vom  Standpunkte 

der  Volkswirtschaft 420 

K.  Th.  V,  Inama-Sternegg:    Ueber    die    Anfänge    des    deutschen    Städtewesens; 

socialgeschichtliche  Betrachtungen 521 

H     G.    Thierl:    Die   Abgabe    der  Wehrdienstfreien  mit  besonderer  Rücksicht    auf 

Oesterreich-Ungarn 569. 


Verhandlungen  der  Gesellschaft  österr.  Volkswirte 171,  270,  472 

G.  Gross:   Das    Gesetz,   betreffend  Begünstigungen    für  Neubauten    mit  Arbeiter- 
wohnungen   279 

G.  V.  Mayri  Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891  .     .  288 
.V.  Mataja:  Die  österreichische  Währungs-Enquete 338 

A.  Peez:  Wiener  Vereinsleben 480 

E.  Schwiedland:  Eine  alte  Wiener  Hausindustrie 485 

B.  Hilse:  Abänderungs-Vorschläge  für  die  Unfallversicherung 613 

K.  Th.  V.  Inama-Sternegg:    Die    neue    Währungs-    und   Münzgesetzgebung   von 

Oesterreich  und  Ungarn 625 


Literatur: 

Xordböhmische  Arbeiterstatistik,  H.  Herkner 182 

B  au mb  erger:    Der  Centralverband    der  Stick ereiindustrie    der  Ostschweiz  und  des 

Vorarlbergs,  H.  Herkner .  188 

Jakob  A.  Ries:  Tschechische  Cigarrenarbeiter  in  New- York,  H.  Herkner  .  .  .  191 
Trenkler:    Oesterreichs    Tuch-    und   Modewaarenfabrikation    im    Hinblick  auf  das 

Jahr  18£2,  H.  Herkner  ^ 193 

Mensi    Franz,  Frh.  v.,  Dr.:    Die  Finanzen   Oesterreichs    von    1701 — 1740,    K.   Th. 

V.  Inama-Sternegg 194 

Thor  seh  Otto:  Materialien  zu  einer  Geschichte  der  österreichischen  Staatsschulden 

vor  dem  18.  Jahrhundert,  K.  Th.  v.  Inama-Sternegg 194 


Seite 

Annuario  statistico  Italiano,  1889—90,  H.  v.  Scliulleru  . 195 

H  V.  Schullern:  Die  theor.  Nationalökonomie  Italiens  in  neuester  Zeit,  V.  Mataja  198 
J.  Landesberger:  Währungssj^stem  und  Relation,  Dr.  J.  v.  Milewski  .  .  ,  ,  368 
W.  Smart:  An  introduction  to  the  theory  of  value  on  the  lines  of  Menger,  Wieser, 

and  Bühm-Bawerk,  Robert  Zukerkandl 371 

G.  Valenti:  La  teorie  del  Valore,  Dr.  v.  Scliullern 372 

Le  Idee  economiche  di  G.  D.  Romagnosi,  Dr.  v.  Schullern  .  .  .  374 
E.  Herrmann:  MJniaturbilder  aus  dem  Gebiete  der  Wirtschaft,  Dr.  v.  Schullern  375 
G.  Anton:  Geschichte  der  preussischen  Fabriksgesetzgebung  bis  zu  ihrer  Aufnahme 

durch  die  Reichsgewerbeordnung.  Dr.   E.  Schwiedland 502 

J.  Lehr:  Polit.  Oekonomie  in  gedrängter  Fassung,  Dr.  v.  B  ö  h  m  -  B  a  w  e  r  k  .  505 
S.  N.  Patten:  The  theory  of  Dynamic  Economy,  Dr.  v.  Böhm-Bawerk  .  .  .  505 
H.  Herkner:   Die    sociale    Reform    als    Gebot    des    wirtschaftlichen    Fortschrittes, 

Dr.  E.  Elkan       509 

A.  Jäger:  Die  sociale  Frage,  Dr.  v.  Schullern 515 

C.  A.  Conigliani:  Note  storiche  sulla  questione  giuridica  dei  pagamenti,  monetarii, 

Dr.  V.  Schullern 515 

E.    Cossa:   La    diminuzione  dellc  ore  di  lavoro  nei   suoi  rapporti  con  la  soluzione 

del  problema  sociale,  Dr.  v.  Schullern 515 

0.  Fr.  Ferraris.  Principii  di  Scienza  Bancaria,  Dr.  v.  Schullern         516 

G.  Bianchi:  La  proprietä  fondiaria  e   le   classi  rurali  nel  medio   evo    e  nella  et.i 

moderna,  Dr.  v.  Schullern 517 

L.  Cossa:  Introduzione  allo  studio  dell'  economica  politica,  v.  Böhm-Bawerk  .  660 
Mollat:  Lesebuch  zur  Geschichte  der  deutschen  Staatswissenschaft;  v.  Juraschek  662 

ülbrich:  Oesterreichisches  Staatsrecht,  v.  Juraschek 663 

Walker:  Die  Frage  der  Zolleinigung  mit  Oesterreich- Ungarn,  v.  Juraschek  .  .  665 
C.    Menger:  Beiträge  zur  Währungsfrage  in  Oesterreich-Ungarn,  J.  Grub  er      .     .  666 

Der  üebergang  zur  Goldwährung,  J.  G  r  u  b  e  r 666 

Mataja:  Grossraagazine  une  Kleinhandel,  Elkan 668 

Bücher:  Die  gewerblichen  Betriebsformen,  Schwiedland      ._ 675 

Zeitschriften-Uebcrsicht      . 200,376,520,680 


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UNSEEE  AUFGABEN. 


E.  BOHM-BAWERK. 


Selten  oder  nie  war  das  Interesse  für  Wirtschaftsfragen,  für  Fragen 
der  Volkswirtschaft  und  Socialpolitik,  so  allgemein  und  lebhaft  wie  in  unseren 
Tagen.  Es  lässt  sich  dies  wohl  begreifen,  auch  ohne  dass  man  nöthig  hätte, 
wie  es  so  oft  geschieht,  unserer  Zeit  einen  besonders  materialistichen  Zug 
vorzuwerfen.  Ich  glaube,  mit  dem  Herzen  interessierte  man  sich  für  sein 
wirtschaftliches  Wohlergehen  zu  allen  Zeiten  sehr,  und  wahrscheinlich  auch 
ungefähr  gleich  sehr;  aber  man  hat  noch  selten  oder  nie  so  viel  zwingende 
Veranlassung  und  dabei  so  viel  Befähigung  dazu  gehabt,  sich  auch  mit  dem 
Kopfe  dafür  zu  interessieren,  als  in  unserer  Epoche. 

Noch  niemals  ist  die  Volkswirtschaft  so  sehr  wirkliche  Volks-  oder 
Social  Wirtschaft  gewesen  wie  in  unseren  Tagen;  das  will  bedeuten,  noch 
niemals  ist  die  Wirtschaft  jedes  Einzelnen  so  sehr  abhängiges  Glied  einer 
weitverzweigten  Organisation,  so  sehr  abhängig  niclit  bloss  von  dem  gewesen, 
was  der  Einzelne  selbst  und  die  Natur  für  oder  wider  ihn  thut,  sondern 
auch  von  dem,  was  nah  und  fern  die  Anderen  thun.  Vor  zwei  Jahren  wurden 
die  ungarischen  Landwirte  um  den  besten  Theil  ihres  Gewinnes  von  einer 
guten  Ernte  dadurch  gebracht,  dass  das  Silber  gegenüber  dem  Goldgelde 
der  Länder,  in  die  sie  ihr  Getreide  exportierten,  im  Preise  stieg.  Und  warum 
stieg  das  Silber  im  Preise?  Weil  jenseits  des  Oceans  irgend  ein  Staat  be- 
schlossen hatte,  allmonatlich  eine  gewisse  Anzahl  von  Unzen  Silbers  für 
Rechnung  des  Staates  anzukaufen.  Wenn  vor  100  Jahren  der  Landwirt  die 
Ursachen  seines  Wohl  und  Wehe  überdachte,  so  kam  er  auf  gutes  und 
schlechtes  Wetter,  dann  vielleicht  noch  auf  Steuern  und  Krieg  zu  sinnen; 
heute  drängt  sich  der  Schutzzoll  und  die  Währungsfrage  und  Amerika  in 
seine  Ueberlegung  hinein.  Vor  Alters  wurden  sodann  die  künstlichen  Maass- 
regeln der  Volkswirtschaftspolitik,  an  denen  es  ja  niemals  fehlte,  in  der 
Heimlichkeit  der  Kanzleistuben  von  Wenigen  berathen  und  beschlossen;  in 
unserer  Zeit  der  constitutionellen  Verfassungen  spielt  sich  die  Volks  Wirtschafts- 
politik vor  der  breitesten  Oeffentlichkeit  ab,  wobei  tausend  Gelegenheiten  und 
Anregungen  geboten  werden,  das  Pro  und  Contra,  die  verwickelten  Zusammen- 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  I.  Heft.  1 


2  Bühm-Bawerk. 

häno-e  und  Wirkungen  in  aller  Ausführlichkeit  zu  bedenken  und  zu  erörtern. 
Seit  hundert  Jahren  hat  sich  weiter  auch  die  wirtschafts- wissenschaftliche 
Bildung,  die  vordem  ein  seltener  Besitz  war,  allmählich  breiteren  Schichten 
mitgetheilt.  Freilich  nicht  immer  ganz  rein  und  lauter;  und  zumal  ist  es 
die  socialistische  Lehre,  die  in  unseren  Tagen  für  ihre  zum  Theil  höchst 
fragwürdigen  Ansichten  in  den  breitesten  volksthümlichen  Schichten  theils 
Zustimmung,  theils  Widerspruch  gefunden,  jedenfalls  aber  das  lebhafteste 
Interesse  und  eine  nimmermehr  rastende  Gedankenbewegung  über  die  volks- 
wirtschaftlichen Probleme  hervorgerufen  hat.  Und  endlich  noch  eines:  die 
gewaltigen  Umwälzungen,  welche  während  der  letzten  Menschenalter  die 
Productions-  und  Verkehrsbedingungen  durch  Maschinen  und  Eisenbahnen 
erfuhren,  in  Verbindung  mit  so  vielen  anderen  grossen  und  kleinen  Neue- 
rungen auf  wirtschaftlichem,  auf  culturellem,  auf  politischem  Gebiete,  die 
sich  zufällig  oder  nothwendig  mit  jenen  Umwälzungen  zusammenmischten, 
haben  unsere  alten  wirtschaftlichen  Organisationsformen  zu  altmodischen 
gemacht.  Sie  sind  wie  beengende  Kleider  geworden,  denen  der  mit  einem 
gewaltigen  Euck  sich  entwickelnde  Wirtschaftskörper  entwachsen  ist,  und  die 
an  allen  Nähten  knacken  und  platzen.  Die  neue  Zeit  braucht  neue  Formen, 
und  diese  müssen  wir  mitten  im  Gedränge  der  Tagesgeschäfte  uns  suchen. 
So  thürmen  sich  die  wirtschaftlichen  und  socialpolitischen  Aufgaben 
unserer  Zeit  gleichsam  in  dreifachem  Aufbau.  Da  sind  erstens  die  tausend 
laufenden  Sorgen  und  Schmerzen  des  Tages:  hier  eine  Valutaregulierung, 
dort  ein  Handelsvertrag,  da  wieder  ein  Wuchergesetz  oder  eine  Vorkehrung 
gegen  Kinderpest  oder  Eeblaus,  oder  eine  Flussregulierung:  Angelegenheiten, 
die  alle  für  ihren  Tag  und  für  ihr  Land  hochbedeutend  und  würdig  sind, 
mit  der  besten  Kraft  und  Sorgfalt  besorgt  zu  werden,  die  aber  „sub  specie 
aeternitatis "  betrachtet  doch  nur  die  kleinen  Episoden  im  Schauspiele  der 
wirtschaftlichen  Menschheitsentwicklung  darstellen.  Da  sind  zweitens  die 
Aufgaben  der  neuen  gesellschaftlichen  und  wirtschaftlichen  Organisation, 
oft  als  solche  gar  nicht  erkannt,  oft  an  die  unbedeutendsten  Tagesfragen 
anknüpfend,  aber  jederzeit  von  weitreichender  Dauerwirkung  und  von  um 
so  grösserer  Schwierigkeit,  als  uns  hier  kein  Athemholen  und  kein  phleg- 
matisches Zuwarten  bis  auf  geklärte  ruhige  Zeiten  gegönnt  ist,  sondern 
wir  unsere  Entschliessungen  noch  mitten  im  Drang  derselben  Bewegung 
fassen  müssen,  welche  soeben  die  alten  Formen  gesprengt  hat  und  von 
der  wir  noch  nicht  wissen,  sondern  nur  ahnen  können,  wie  weit  und  in 
welcher  Richtung  sie  uns  führen  wird.  Und  darüber  endlich  stellt  sich  die 
grösste,  andauerndste  und  gleichbleibendste  aller  socialpolitischen  Aufgaben, 
welche  jedes  Jahrhundert  auf  seiner  Tagesordnung  gefunden  hat  und  linden 
wird,  welche  aber,  wie  mir  scheint,  gerade  unsere  Zeit  um  eine  starke  Linie 
vorwärts  zu  rücken  befähigt  und  berufen  ist:  die  Aufgabe,  die  Segnungen  der 
wirtschaftlichen  und  technischen  Fortschritte  der  Emporhebung  des  Daseins 
der  breiten  Massen  der  Bevölkerung  dienstbar  zu  machen.  Die  sprunghafte 
Entwicklung  unserer  Productionstechnik  gibt  uns  die  Befähigung;  die  schönen 
Anläufe,  die  unsere  sociale  Gesetzgebung  mit  Arbeiterschutz,  Normalarbeitstag, 


Unsere  Aufgaben.  3 

ArbeiterversicheruDg  genommen  hat,  zeigen,  dass  wir  unseren  Beruf  dazu 
erkannt  haben.  Aber  die  gesunde  Ausgestaltung,  die  sich  gleich  weit  von 
falschen^  unerreichbaren  Idealen,  wie  von  einer  in  mürrischem  Pessimismus 
wurzelnden  Unthätigkeit  hält,  wird  uns  noch  lange  und  viel  zu  denken  geben. 

So  stellt  das  wirtschaftliche  Bingen  und  Gestalten  in  unseren  Tagen  ein 
ungeheures  Schauspiel  dar,  in  das  wir  alle  in  mehrfacher  Eigenschaft  verflochten 
sind:  wir  alle  sind  mitberührt  mit  unseren  praktischen  Interessen  — res  nostra 
agitur !  —  und  wir  alle  fast  nehmen,  Dank  der  Publicität  der  Erörterung  und  Dank 
der  universell  verbreiteten  Kenntnis  der  Probleme,  unseren  geistigen  Theil  an 
der  Gedankenbewegung;  wir  sind  zugleich  thätige  oder  leidende  Helden  des 
Schauspiels,  beschauendes  Publicum  und  eifrige  und  gestrenge  Kunstrichter. 

Und  unsere  Zeitschrift? 

Die  Aufgaben  unserer  Zeit  sind  auch  die  Aufgaben  unserer  Zeitschrift, 
die  sie -auf  ihre  Weise  befördern  soll.  Auf  ihre  Weise:  ganz  anders  als  ein 
Buch,  und  ganz  anders  als  ein  Staatsmann.  Man  schreibt  ein  Buch  oder 
schreitet  ans  Handeln,  wenn  man  in  einer  Sache  mit  sich  klar  und  fertig 
ist.  Buch  oder  Staatsaction  werden  immer  ein  scharfes  individuelles  Ge- 
präge haben;  in  sich  abgeschlossen,  consequent,  ein  bisschen  einseitig,  wie 
es  jedes  Individuum  ist,  ein  bisschen  unduldsam,  wie  es  jeder  sein  muss, 
der  eine  bestimmte  Meinung  zum  Siege  führen  will.  Eine  Zeitschrift,  die 
ihren  Beruf  versteht,  muss  dagegen  ein  lebendiger  Protest  gegen  alle  Ein- 
seitigkeit und  Unduldsamkeit  sein.  Schon  deshalb,  weil  ja  ihr  Lebens- 
element die  Fragen  der  Zeit,  die  drängenden,  gährenden  Fragen  sind,  für 
die  es  noch  keine  patentierte  Lösung  gibt.  In  dem  Augenblicke,  als  eine 
Frage  reif  wird  für  das  Compendium,  verschwindet  sie  aus  der  Zeitschrift. 
Diese  ist  nichts  weniger  als  eine  Bühne,  von  der  herab  die  fertigen,  ge- 
fundenen Wahrheiten  in  Monologen  verkündigt  werden,  sondern  vor  allem 
eine  Stätte,  an  der  eifrig  gesucht  wird,  und  wo  es  sich  geziemt,  willig 
nach  rechts  und  links  zu  horchen,  was  etwa  die  Mitsuchenden  gesehen  oder 
entdeckt  haben  mögen. 

Unsere  Zeit  steht  unter  dem  Zeichen  der  Arbeithsteilung.  Wir  verein- 
seitigen uns,  um  auf  beschränktem  Feld  Meister  zu  werden.  Wir  verein- 
seitigen uns  überall:  nicht  bloss  in  den  Werkstätten  unserer  Grossindustrie, 
aus  welcher  die  Lehrbücher  der  Nationalökonomie  seit  hundert  Jahren  die 
classischen  und  traditionellen  Beispiele  der  vereinseitigenden  Arbeitsth eilung 
zu  holen  lieben,  sondern  wir  specialisieren  uns  in  jedwedem  Lebensberufe,  und 
nicht  am  wenigsten  in  der  Wissenschaft.  Ist  es  doch  schon  so  weit  gekommen, 
dass  fast  kein  Lebender  mehr  imstande  ist,  ein  Lehrbuch  der  Nationalökonomie 
zu  verfassen,  weil  jeder  einzelne  Nationalökonom  nur  einzelne  Zweige  dieser 
Wissenschaft  beherrscht!  Und  wir  leiden  auch  ohne  Frage  unter  jenerVereinseiti- 
gung.  Es  geht  uns  wie  Kurzsichtigen,  die  ein  gewisses,  beschränktes  und  dem 
Auge  nahegerücktes  Sehfeld  mit  ausgezeichneter  Deutlichkeit,  alles  übrige  aber 
nur  verschwommen  sehen,  und  wenn  sie  einen  Blick  ins  Weite  thun  wollen, 
einer  Brille  bedürfen.  Zum  Glück  gibt  es  auch  geistige  Brillen  für  uns  ein- 
seitige Leute.     Solche  Brillen    sind   z.  B.    die  grossen,  von  vielen  Autoren 

1* 


4  Böhni-Bawerk. 

zusammen  gearbeiteten  Hand-  und  Lehrbücher  unserer  Wissenschaft,  sind 
die  Conversationslexika  und  nicht  am  wenigsten  die  Zeitschriften. 

Es  ist  erstaunlich,  wie  viel  ein  Kind  unserer  Zeit,  wenn  es  als  Staats- 
mann oder  Volksmann  oder  Gelehrter  oder  Interessent  an  den  wirtschaftlichen 
und  socialpolitischen  Problemen  arbeitet,  wissen  und  verstehen  muss.  Das 
Geringste  ist.  dass  er  über  den  jeweiligen  Gegenstand  Sachkenntnis  und 
Erfahrung  besitzen  muss.  Aber  er  muss  weiter,  da  seine  unmittelbare 
Anschauung  nicht  weit  genug  reicht,  sie  verallgemeinern  und  ergänzen  durch 
die  Aufzeichnungen  der  zeitgenössischen  Statistik.  Er  muss,  um  den  ein- 
zuschlagenden Gang  der  Entwicklung  zu  beurtheilen,  die  vergangenen 
Entwicklungsphasen  übersehen  und  verstehen;  er  muss  also  nicht  bloss 
Statistiker,  sondern  auch  Historiker  sein.  Natürlich,  muss  er  auch  gesetzes- 
kundig sein,  und,  da  auch  hier  fast  alles  ,  schon  einmal  dagewesen  ^  so  ist 
eine  umfassende  vergleichende  Gesetzeskenntnis  der  verschiedenen  Staaten 
fast  unerlässlich.  Dass  man  auch  einen  gründlichen  und  tiefen  Einblick  in 
die  Verkettung  von  Ursache  und  Wirkung,  also  ein  theoretisches  Verständnis 
haben  soll,  ist  selbstverständlich.  Und  alles  das,  Theoretiker,  Statistiker, 
Historiker,  Gesetzeskenner  soll  man  heute  für  die  Frage  der  Erfindungspatente, 
morgen  für  die  des  bäuerlichen  Erbrechtes,  übermorgen  für  Geld-  oder  Währungs- 
fragen, oder  für  Versicherungszwang,  oder  für  Einigungsämter,  oder  für  Eisen- 
bahntarife und  Dutzende  oder  Hunderte  von  anderen  heterogenen  Fragen  sein ! 

Nun,  was  kein  Einzelner  allein  weiss,  das  wissen  wir  Alle  zusammen, 
und  das  kann,  wenn  sie  den  richtigen  lebendigen  Contact  mit  dem  geistigen 
Leben  ihrer  Zeit  hat,  zur  richtigen  Stunde  die  ^Zeitschrift"  wissen.  Sie 
soll,  was  unserer  Zeit  und  unserem  Lande  frommt,  aus  dem  Vollen  und 
Unmittelbaren  nehmen  und  geben.  Keine  engherzige  Zunftschranke  soll 
gezogen  werden.  Die  vielseitigen  Interessen,  Kenntnisse,  Anschauungen,  die 
über  die  zeitbewegenden  Probleme  unter  uns  verbreitet  sind,  sollen  sich  in 
der  Zeitschrift  begegnen  und  durchkreuzen;  nicht  um  schiesslich  wie  in 
einer  trockenen  Sammlung,  wie  in  einem  Naturalien-Cabinet  oder  in  einem 
Conversationslexikon  einfach  nebeneinanderzustehen,  sondern  damit  das 
aufeinandertreffende  Vielerlei,  frisch  und  bildsam,  wie  es  soeben  hervor- 
gekommen ist,  sich  sofort  auch  wechselseitig  berichtige,  befördere  und 
befruchte^.  Insbesondere  aber  soll  die  Zeitschrift  eine  Stätte  sein  für  die 
befruchtende  Verbindung  zweier  Elemente,  die  unsere  Arbeitstheilung  immer 
weiter  von  einander  trennt,  während  sie  doch  in  jedem  Betracht  aufeinander 
angewiesen  sind:  die  Theorie  und  die  Praxis. 

Es  hiesse  Eulen  nach  Athen  tragen,  wollte  ich  heute  noch  beweisen 
oder  begründen,  was  eine  erleuchtende  Theorie  für  die  Praxis  bedeutet.  Ich 
könnte  durch  keinen  Beweis  die  einfache  Thatsache  überbieten,  dass  unser 
genialer  Finanzpraktiker  Hock  vor  30  Jahren  seinem  ausgezeichneten  Werke 
über  „die  ööentlichen  Abgaben  und  Schulden"  als  Motto  die  alten  Worte 
ßoyer-Collards  voranstellte:  „Die  Theorie  als  überflüssig  erklären,  heisst 
den  Hochmuth  haben,  man  brauche  nicht  zu  wissen,  was  man  sagt,  wenn  man 
spricht,  und  was  man  thut,  wenn  man  handelt."  Wenn  ich  mir  daher  auch 


Unsere  Aufgaben.  5 

meinerseits  dasselbe  Thema  zu  berühren  gestattete,  so  geschieht  es  nur  um  ein 
paar  aphoristische  Bemerkungen  zu  demselben  vorzubringen,  in  denen  die  Auf- 
merksamkeit auf  einige  wenige  specielle  Momente  gelenkt  werden  soll,  von  denen 
ich  es  für  nützlich  halte,  wenn  sie  heute  und  hier  ans  Licht  gezogen  werden. 

Als  einer  der  glücklichsten  Einfälle  des  einfallreichen  Basti at  ist  mir 
immer  das  Motto  seiner  Schrift  erschienen:  „Ce  qu'on  voit  et  ce  qu'on  ne 
voit  pas."  Es  bezeichnet  in  unübertrefflicher  Weise  einen  der  wichtigsten 
Dienste,  welche  die  Theorie  der  Praxis  zu  leisten  berufen  ist.  Die  Praxis 
hat  gute,  scharfe  Augen,  und  von  dem,  „was  man  sieht,"  lässt  sie  sich 
gewiss  nichts  entgehen.  Aber  man  sieht  eben  nicht  alles.  Und  oft  genug 
birgt  das,  „was  man  nicht  sieht",  die  abgewendete  Kehrseite,  gerade  das 
wahre  und  entscheidende  Wesen  der  Dinge.  Ein  Beispiel  statt  vieler.  Was 
man  sieht,  sind  überall  beschäftigungslose  Arbeiter.  Der  Sinneseindruck  zeigt 
„zu  viel  Arbeitskräfte."  Was  man  nicht  sieht,  aber  sehen  sollte,  ist,  dass 
in  Wahrheit  viel  zu  wenig  Arbeitskraft  verfügbar  ist;  viel  zu  wenig  im 
Verhältnis  zur  Ausdehnung  unserer  Bedürfnisse  und  Wohlfahrtsaufgaben. 
Warum  lässt  man  so  viele  noth wendige  und  nützliche  Werke  ungethan? 
Warum  baut  man  nicht  mit  einem  Schlage  alle  die  Eisenbahnen  und  Schiff- 
fahrtscanäle,  auf  die  seit  Jahren  und  Jahrzehnten  so  viele  berechtigte 
Begehrlichkeit  sich  richtet?  Warum  vervielfältigt  man  die  neu  erfundenen 
vollkommenen  Maschinen  und  W^erkzeuge  nicht  in  solcher  Zahl,  dass  auch 
der  letzte  Handwerker  oder  Bauer  sich  ihrer  bedienen  könnte,  der  jetzt  mit 
altvaterischem,  unvollkommenem  Rüstzeug  sich  behelfen  muss?  Oder  um 
es  ganz  kurz  und  geradeaus  zu  sagen:  warum  erzeugt  man  von  aller 
Lebensnothdurft,  mit  welcher  die  enorme  Mehrheit  unserer  Volksgenossen 
doch  nur  so  unzulänglich  versorgt  ist,  nicht  die  doppelte  und  dreifache 
Menge,  mit  der  alle  Blossen  zu  bedecken,  alle  Noth  zu  stillen  wäre?  Die 
Antwort  auf  alle  diese  Fragen  lautet  ebenso  pinfach  als  bestimmt:  „Weil  in 
letzter  Linie  zu  wenig  Hände  da  sind."  Würden  heute  jedem  von  uns  zwei 
neue  Hände  zuwachsen,  so  könnten  wir  von  morgen  an  uns  mit  allem  doppelt 
so  reichlich  versorgen  als  bisher,  und  müssig  zu  gehen  brauchte  aus  Mangel 
an  nützlichen  Aufgaben  so  wenig  irgend  jemand,  als  er  es  heute  aus  diesem 
Grunde  zu  thun  braucht.  Die  Beschäftigungslosigkeit  stammt  niclit  daher, 
dass  im  ganzen  zu  wenig  Beschäftigungsgelegenheit  und  zu  viel  Arbeit  da 
ist,  sondern  lediglich  daher,  dass  in  jeder  verwickelten  Organisation  —  und 
unsere  arbeitstheilige  Volkswirtschaft  verdient  dieses  Prädicat  gewiss  vollauf 
—  durch  die  nie  fehlenden  Organisationsstörungen  es  immer  Ausgeschlossene 
gibt  und  geben  wird;  geradeso  wie  in  einem  kämpfenden  Heer,  das  numerisch 
gegenüber  dem  überlegenen  Gegner  im  ganzen  viel  zu  wenig  stark  ist,  es 
doch  immer  einzelne  Punkte  und  Augenblicke  geben  wird,  in  denen  ein 
störendes    Gedränge,    ein    „zu  viel"    von  Mannschaft   sich   fühlbar  macht! 

Nun,  „was  man  nicht  sieht,"  das  soll  eben  die  Theorie  der  Praxis 
zeigen.  Nebenbei  bemerkt,  in  der  Erfüllung  dieser  Aufgabe  können  und 
sollen  sich  alle  Methoden  der  Forschung  brüderlich  die  Hand  reichen.  Statt 
streitend  zu  rivalisieren,  wie  es  leider  in  den  Socialwissenschaften   eine  Zeit 


(3  Buhm-Bawerk. 

lang  Mode  geworden  ist,  sollten  sie  vielmehr  fraternisieren.  Die  exclusiv 
gestellte  Frage:  soll  man  inductiv,  oder  deductiv,  soll  man  historisch- 
statistisch  oder  abstract  Theorie  treiben,  kommt  mir  immer  ein  wenig  so 
vor.  als  wenn  in  einer  Druckerei  die  Setzer  und  die  Drucker  in  Streit  ge- 
rathen  und  die  grosse  Principienfrage  aufwerfen  wollten,  ob  in  einer  Druckerei 
gesetzt  oder  gedruckt  werden  solle?  Es  ist  einfach  ein  Phänomen  der 
Arbeitsth eilung,  welche  die  grossen  berechtigten  Methoden  der  Forschung 
in  den  Socialwissenschaften  ebenso  trennt,  aber  auch  wieder  verbinden  soll, 
wie  die  Hantierungen  in  den  Gewerben.  Jede  Methode,  die  überhaupt  ver- 
nünftig gehandhabt  wird,  hat  ihre  eigenthümlichen  Vorzüge  und  Schwächen, 
und  demnach  ein  ihr  besonders  zusagendes  Arbeitsfeld.  Das  zeigt  sich  auch 
an  jener  Thätigkeit,  von  der  wir  eben  reden,  am  Aufweisen  dessen  „was 
man  nicht  sieht."  Wenn  es  mir  gestattet  ist  in  Schlagworten  zu  reden,  die 
freilich  nie  ganz  genau  zutreffen,  so  möchte  ich  sagen:  dem  Praktiker,  der 
das  sieht,  was  um  ihn  her  auf  der  Lebensbühne  sich  zuträgt,  soll  der 
Statistiker  zeigen,  was  man  nicht  hier  sieht;  der  Historiker,  was  man 
nicht  mehr  sieht,  und  der  abstracto  Theoretiker  —  ich  nehme  das  Wort 
abstract  ungern  in  den  Mund,  weil  man  daran  gerne  die  unliebsame  Neben- 
vorstellung von  etwas  Unpraktischem  oder  in  den  Wolken  Schwebendem 
knüpft  —  also  der  sogenannte  abstracto  Theoretiker,  wenn  er  seine  Sache 
richtig  versteht,  soll  das,  was  man  immer  nur  von  der  Theaterseite  zu 
sehen  pflegt,  von  der  Coulissenseite  zeigen,  befreit  von  Blendwerk,  Schminke 
und  täuschendem  Schein.  Er  soll  beileibe  nicht  etwas  sehen  wollen,  was  nicht 
da  ist,  was  nicht  auf  Erden  sondern  im  .Begriffshimmel''  sich  zuträgt;  ganz 
im  Gegentheile,  er  soll  höchlich  realistisch  und  es  soll  seine  Stärke  sein, 
die  Dinge,  wie  sie  sind,  und  zwar  von  seinem  allgemeineren  Standpunkt 
aus  nur  desto  besser,  vollständiger  und  wahrer  zu  sehen.  Freilich  es  gibt 
überall  falsche  Propheten,  und  so  hat  auch  mancher  unter  dem  tönenden 
Titel  eines  wissenschaftlichen  Systems,  statt  bescheiden  Thatsachen  ihr  Ge- 
heimnis abzulauschen,  der  Welt  die  unfruchtbaren  Geheimnisse  seiner  ei- 
genen Denkerphantasie  verkündigt.  Aber  wer  wollte  den  Wert  einer  Kunst 
nach  den  Erzeugnissen  derjenigen  beurtheilen,  die  ihre  Kunst  nicht  verstehen? 
Richtig  sehen  ist  also  eine  Sache,  in  der  die  Praxis  von  der  gesun- 
den Theorie  eine  Unterstützung  empfangen  kann,  und  zwar  eine  Sache,  deren 
Wert  nicht  hoch  genug  anzuschlagen  ist.  Denn  richtig  sehen  bedeutet  in 
Fällen,  wo  uns  irgend  ein  Uebel  bedrückt,  richtig  diagnosticieren,  und  dies 
wieder  bedeutet,  ein  richtiges  Heilverfahren  einschlagen  oder  sich  wenigstens 
eines  falschen  Verfahrens  enthalten.  Um  es  an  dem  obigen  concreten  Beispiel 
zu  illustrieren.  Ich  habe  unlängst  ein  eathusiastischesPlaidoyer  eines  wackeren 
Praktikers  zugunsten  der  Modethorheiten  gelesen.  Sei  die  Mode  thöricht. 
wie  sie  wolle,  w^enn  sie  nur  rasch  wechselt  und  dadurch  die  Erzeugnisse  der 
letzten  Modephase  recht  rasch  wieder  unbrauchbar  macht,  so  hat  sie  sich  schon 
ein  Verdienst  um  die  Volkswirtschaft  erworben;  warum?  weil  desto  mehr 
Hände  in  der  unausgesetzten  Erneuerung  der  Modeartikel  Beschäftigung  finden! 
Das    wäre  vollkommen   richtig,   wenn    das  Uebel   mit  dem   wir  in  unserer 


Unsere  Aufgaben.  7 

Wirtschaft  zu  kämpfen  haben,  Messe:  „Zu  viel  Hände,  zu  viel  Arbeitskraft." 
Es  ist  aber  grundfalsch,  wenn  und  weil  das  Uebel  in  Wahrheit  heisst:  „zu 
wenig  Hände!"  Um  es  recht  zu  verstehen:  wir  besitzen  in  jeder  Volkswirt- 
schaft wirklich  eine  Anzahl  überzähliger  Hände;  das  sind  aber  nur,  wie  schon 
oben  angedeutet,  die  durch  eine  Störung  aus  der  arbeitstheiligen  Organi- 
sation momentan  Ausgeschlossenen,  die  Stellungslosen,  „Vazirenden."  Wer 
diesen  Beschäftigung  gibt,  übt  wirklich  Segen,  selbst  wenn  es  keine  sehr 
nützliche  Beschäftigung  wäre:  denn  sie  werden  dadurch  wenigstens  keiner 
nützlicheren  entzogen,  xiber  die  Modearbeiter  sind  keine  zusammengerafften 
Marodeure,  sondern  ein  Theil  der  wohlorganisierten  Kerntruppen  unserer  Pro- 
ductionsarmee;  und  diesen  Theil  nutzlos  vermehren,  nur  damit  die  Modethor- 
heiten  in  einem  rascheren  Wechsel  sich  folgen  können,  bedeutet  nichts  anderes 
als  wenn  man  von  einem  ohnedies  schwachen  Heere  in  der  Stunde  des  Kampfes 
ein  paar  Kegimenter  zu  müssigen  Paradeübungen  abcommandieren  wollte ! 

Nebenbei  bemerkt:  Stoff  zu  ähnlichen  Berichtigungen,  täuschender 
Eindrücke  gibt  es  in  Hülle  und  Fülle.  Es  ist  eigentlich  erstaunlich,  wie 
wenig  lebenswahr  wir  trotz  einer  hundertjährigen  Entwickelung  unserer 
Wirtschaftswissenschaft  die  alltäglichsten  wirtschaftlichen  Begebenheiten  an- 
zusehen und  aufzufassen  gelernt  haben.  Hundert  Jahre  nachdem  unsere 
Wissenschaft  den  Mercantilismus  und  die  Geldverhimmelung  abgeschworen 
hat,  sind  wir  unbewnsst  noch  immer  vollgepfropft  mit  Anschauungen,  die 
in  gerader  Linie  vom  Mercantilismus  abstammen.  Die  Geldform  des  Verkehres 
bildet,  wenn  wir  nur  aufrichtig  unser  Gewissen  erforschen  wollen,  noch 
immer  für  die  meisten  von  uns  —  nicht  bloss  Praktiker,  sondern  auch  Theore- 
tiker —  einen  Schleier,  der  uns  verhindert  die  Dinge  genau  so  zu  sehen,  wie  sie 
sind.  Mit  den  Lippen  bekennen  wir  allerhand  correcte  Lehrsatzformeln,  aber 
die  ihnen  zugehörige  Vorstellungswelt  baut  sich  nicht  so  klar  und  plastisch  vor 
unserem  geistigen  Auge  auf,  als  dass  sie  im  Stande  wäre,  die  aus  einer  fi-üheren 
Auffassungsweise  stammenden  Vorstellungen  aus  unserer  Seele  gänzlich  und 
endgiltig  zu  verdrängen,  und  so  hängen  und  geben  wir  in  unbewachten  Augen 
blicken  unzähligemale  Eindrücken  nach,  die  aus  einer  fehlerhaften  und  veral- 
teten Auffassungsweise  herstammen.  Hier  ist  noch  ausserordentlich  viel  in 
Theorie  und  Praxis  zu  thun.  und  vielleicht  wird  gerade  der  innige  Wechsel- 
verkehr von  Theorie  und  Praxis,-  dessen  Stätte  diese  Zeitschrift  werden 
soll,  Bedürfnis  und  Gelegenheit  zu  Fortschritten  in  einer  wahrhaft  reali- 
stischen Auffassung  der  Wirtschaftsphänomene  bieten. 

Lenken  wir  unsere  Aufmerksamkeit  auf  ein  anderes  Bild.  Wenn  wir 
die  ungeheuere  und  vielgestaltige  Menge  redlicher  Bemühungen  überblicken, 
die  sich  in  unserer  Zeit  die  Hebung  der  Lage  der  armen  und  nothleidenden 
Classen  zum  Ziele  setzen,  so  kann  sich  uns  keine  wichtigere  aber  auch 
keine  bangere  Frage  auf  die  Lippen  drängen  als  die  Frage :  ist  es  nicht 
eine  Danaidenarbeit,  die  wir  thun?  Freilich,  wir  versorgen  die  Armen  von 
heute  und  verschaffen,  wenn  es  gut  geht,  den  Arbeitern  von  heute  einen 
höheren  Lohn.  Aber  denken  wir  an  Malthus  und  sein  vielberufenes  Gesetz! 
Kann  nicht  und  wird  nicht  morgen  oder  Ober  50  oder  über  100  Jahre  die 


<^  Böhm-Bawerk. 

Zunahme  der  arbeitenden  Bevölkerung  alle  Errungenschaften  der  Humanität 
wieder  zu  nichte  machen  ?  Wird  nicht  eine  etwas  stärkere  Welle  des  Arbeiter- 
angebotes alle  Lohnerhöhungen  wieder  hinwegspülen  und  damit  eine  künf- 
tige Arbeitergeneration  wieder  so  elend  werden,  als  ob  wir  Leute  vom  „fin 
de  siecle**  uns  um  das  Arbeiterwohl  gar  nie  bekümmert  hätten? 

Die  Theorie  wird  uns  auf  diese  Frage  nicht  bloss  eine  Antwort,  son- 
dern auch  einen  Fingerzeig  geben.  Sie  wird  uns,  glaube  ich,  auch  wenn  sie 
nicht  blind  malthusianistisch  ist,  zunächst  sagen  müssen,  dass  von  unseren 
nützlichen  und  humanen  Werken  viele  wirklich  in  den  Sand  gebaut  sind. 
Alles  z.  B.,  was  nur  auf  den  Lohnvertrag  gebaut  ist,  ist  in  den  Sand 
gebaut.  Hier  gilt  das  Wort  von  der  erhöhten  Angebotswelle,  die  mit  dem 
höheren  Lohn  auch  den  Wohlstand  der  Ai'beiterclassen  wieder  hinwegspülen 
kann.  Wohl  gemerkt:  nicht  gerade  hinwegspülen  muss,  aber  in  jedem 
Augenblick  hinwegspülen  kann.  Ungeänderte  Erhaltung  wäre  Zufallsgunst, 
auf  die  zu  rechnen  nicht  erlaubt  ist.  Auch  alles  das,  was  nur  auf  Yerwohl- 
feilung  der  Lebensbedingungen  gerichtet  ist  —  so  segensreich  diese  Be- 
strebungen für  die  lebende  Generation  auch  sein  mögen  —  ist  in  den 
Sand  gebaut.  Die  Wellen  von  Angebot  und  Nachfrage  werden,  eines  fernen 
Tages  vielleicht,  aber  doch  irgend  eines  Tages  auch  damit  ihr  Spiel  treiben. 
Damit  will  nicht  im  mindesten  gesagt  sein,  als  ob  jene  Bestrebungen,  die 
nur  einen  ephemeren  Nutzen  stiften,  wertlos  oder  entbehrlich  wären.  Das 
Leben  einer  Generation  emporgehoben,  die  Entwicklung  der  Kräfte,  die  in 
einer  Generation  ruhen,  befördert  zu  haben,  ist  fürwahr  ein  Ziel,  edel  und 
lockend  genug.  Aber  unstreitig  wäre  es  ein  noch  erhebenderer  Gedanke, 
Segenskeime  zu  pflanzen,  welche  die  Generationen  überdauern.  Und  auch 
das  ist  uns  beschieden.  Wir  müssen  nur  eine  Art  social-politisches  Kunst- 
stück treffen:  wir  müssen  bei  unseren  Verbesserungen  irgend  einen  geschickten 
Anker  auswerfen,  durch  den  wir  sie  an  einem  Punkte  festzuklammern  wissen, 
der  nicht  dem  Wellenspiele  von  Angebot  und  Nachfrage  unterworfen  ist. 
Ich  will  dieses  Thema,  über  das  noch  wenig  gesagt  und  viel  zu  sagen  ist, 
nicht  weit  ausspinnen.  Genug,  es  gibt  solche  Punkte,  und  was  das  erfreu- 
lichste ist,  gerade  die  social -reformatorischen  Bestrebungen  der  jüngsten 
Zeit  haben  si^  mit  glücklichem  Wurfe  zu  treffen  verstanden.  Was  unsere 
Ai'beiterversicherung,  die  Kranken-,  Unfalls-  und  namentlich  die  Alters- 
Versicherung  der  Arbeiter  bezweckt,  ist  im  Grunde  genommen  nichts  anderes 
als  eine  Lohnerhöhung,  als  eine  Erhöhung  der  Gesammtsumme,  mit  welcher 
die  Dienste  eines  Arbeiterlebens  von  der  Gesellschaft  vergolten  werden. 
Aber  indem  man  diese  Lohnerhöhung  aus  der  Lohnform  aus-  und  in  die 
Versiciierungsform  einkleidete,  hat  man  sie  in  ebenso  geschickter  als  glück- 
licher Weise  allen  Fährlichkeiten  des  Lohnkampfes  entrückt  und  gleichsam 
auf  ein  festes  Eiland  gerettet,  auf  welchem  sie  auch  in  den  schwersten 
Stürmen,  die  die  Zukunft  bringen  mag,  nach  menschlicher  Voraussicht  dem 
arbeitenden  Volke  geborgen  bleiben.  Oder:  gesunde  Wohn-  und  Arbeits- 
stätten, ausreichende  Müsse  für  die  eigene  Erholung  und  Bildung,  tüchtiger 
Unterricht  für  die  Kinder  sind  Vortheile,  die  durch  Wohlhabenheit  erlangt. 


Unsere  Aufgaben.  9 

durch  Armut  und  Noth  verloren  zu  werden  pflegen.  Ewige  Wohlhabenheit 
können  wir  künftigen  Arbeitergenerationen  leider  nicht  garantieren,  aber  wir 
können  versuchen  und  haben  versucht,  jene  Vortheile  von  der  Vorbedingung 
der  Wohlhabenheit  loszulösen  und  auf  diese  Weise  gegen  alle  Wechselfälle 
sicherzustellen  durch  Fabrikshygiene  und  Arbeiterhäuser,  durch  Gesetze  über 
Normalarbeitstag  und  Sonntagsruhe,  allgemeine  Schulpflicht  und  unentgelt- 
lichen Unterricht.  Noch  stehen  wir  am  Anfange  solchen  Beginnens;  noch 
lässt  sich  gar  nicht  absehen,  wie  viel  sich  auf  diesem  Felde  wirken  lässt. 
So  viel  aber  ist  gewiss :  wenn  irgend  etwas  wirklich  wichtig  ist,  so  ist  es, 
dass  wir  dem  Guten,  das  wir  etwa  stiften  können,  gesicherte  Dauer  yer- 
leihen.  Und  darum  dürfen  wir  auf  diesem  Felde  nichts  dem  Zufall  über- 
lassen, sondern  wir  sollen  uns  bei  Zeiten  daran  gewöhnen,  neben  den  vielen 
anderen  Fragen,  die  wir  an  die  Theorie  zu  stellen  haben,  bei  unseren  social- 
politischen  Verbesserungen  mit  bewusstester  Ueberlegung  jedesmal  auch  die 
Frage  der  Dauer  zu  stellen,  um  dann,  ohne  im  mindesten  das  gering  zu 
schätzen  oder  zu  vernachlässigen,  was  die  Noth  oder  der  Vortheil  des 
Augenblickes  erheischt,  in  unsere  Verbesserungen  nach  Möglichkeit  jedesmal 
einen  Einschlag  einzuweben,  der  ihnen  bleibende  Dauer  verheisst. 

Die  abgesagteste  Feindin  der  Dauer  ist  die  Mode.  Frivol  wie  sie  ist 
sucht  sie  auch  die  ernsthaftesten  und  wichtigsten  Angelegenheiten  unter 
ihr  flatterhaftes  Scepter  zu  beugen,  und  so  sind  auch  die  inhaltsschweren 
Aufgaben  der  Socialpolitik  gegen  ihr  berückendes  Spiel  nicht  gefeit.  Sie  sind 
es  umsoweniger,  als  Mode  und  ernsthafte  Neuerung  gewöhnlich  zu  Beginn  im 
gleichen  Gewände  aufzutreten,  und  wir  meist  erst  hinterher,  wenn  sie  rascli 
vorübereilend  uns  schon  wieder  den  Kücken  gekehrt  hat,  zu  erkennen  pflegen, 
dass  es  der  Kobold  Mode  war,  der  uns  wieder  einmal  geneckt  hat.  Sowie  in  der 
Medicin  bald  das  Cocain  und  bald  das  Kochin,  bald  das  Antipyrin  und  bald 
das  Salicyl,  bald  die  Elektricität  und  bald  das  kalte  Wasser  eine  Zeit  lang 
als  wunderwirkende  Panacce  gepriesen  werden,  um  bald  in  die  Reihe  und  den 
Kang  gewöhnlicher  Heilmittel  von  bestimmt  begrenzter  Anwendbarkeit  zurück- 
zutreten, so  geht  es  auch  mit  mancher  vielgepriesenen  wirtschaftlichen  Panacee; 
und  wenn  irgend  ein  Decennium  alles  Heil  nur  von  wirtschaftlicher  Freiheit 
auf  allen  Gebieten,  von  Handelsfreiheit,  Gewerbefreiheit,  Verkehrsfreiheit, 
Wucherfreiheit,  ein  folgendes  Decennium  dasselbe  Heil  aber  ebenso  ein- 
müthig  von  Schutzzoll,  Reglementierung  und  Gebundenheit  erwartet;  wenn 
abwechselnd  Colonien  oder  Cartelle  in  den  Himmel  erhoben  und  wieder  ver- 
flucht werden,  so  steckt  in  allen  diesen  Extremen  weit  mehr  von  ansteckender 
Modelaune,  als  wir  in  dem  Augenblicke,  in  dem  wir  von  der  Modekrankheit 
gerade  besessen  sind,  uns  träumen  lassen  oder  zuzugestehen  geneigt  sind. 
Nun,  förderlich  sind  die  Modesprünge  für  die  grossen  socialpolitischen 
Werke  gerade  nicht,  und  wir  hätten  alle  Ursache  dem  dankbar  zu  sein,  der 
uns  rechtzeitig  erkennnen  lässt,  was  nur  im  Kreis  herumtreibende  Mode, 
und  was  auf  das  Ziel  zuführender  wirklicher  Fortschritt  ist. 

Hier,  glaube  ich,  ist  wieder  ein  Punkt,  an  dem  die  Theorie  der  Praiis 
wichtige  Dienste  leisten  kann  und    soll.     Gestützt   auf  die  hundertjährigen 


l  Q  Bühm-Bawerk. 

Erfahrungen,  die  sich  in  ihr  verkörpern  und  verwerten,  berufsmässig  geübt, 
nüchtern  und  leidenschaftslos  die  Thatsachen  zu  untersuchen  und  aus  dem 
Wandel  der  Erscheinungen  den  dauernden  Kern  herauszulösen,  besitzt  die 
Theorie  eine  weit  grössere  Befähigung  die  Wetterlaunen  der  Mode  als  solche 
zu  diagnosticieren,  als  der  Praktiker,  der  mitten  in  der  Tagesströmung  steht. 
Freilich,  ganz  über  die  Mode  erhaben  ist  auch  die  Wissenschaft  selbst  nicht, 
und  die  wissenschaftliche  Bewegung  z.  B.,  welche  die  Methoden  -der  social- 
wissenschaftlichen  Forschung  w^ährend  der  letzten  Jahrzehnte  zum  Gegenstand 
hatte,  hätte  nach  meiner  Ansicht  kaum  so  schroff  von  einem  Extrem  ins 
andere  geführt,  wenn  nicht  auch  hier  die  Mode  sich  eingemischt  und  mit 
dem  ihr  eigen thümlichen  jähen  und  gewaltsamen  Schwünge  die  natürliche 
Bewegung  über  das  Ziel  gerissen  hätte. 

unser  flüchtiger  Streifzug  hat  uns  bis  jetzt  stets  solche  Beziehungen 
zwischen  Theorie  und  Praxis  vor  Augen  gestellt,  in  welchen  die  Theorie 
überwiegend  als  Geberin  erschien.  Die  Theorie  gibt  aber  nicht  nur  der 
Praxis,  sondern  sie  nimmt  auch  von  ihr.  Sie  empfängt  von  ihr  im  grossen 
und  im  kleinen.  Im  kleinen  nimmt  sie  unzählige  Erfahrungen,  Beobachtungen 
und  Kenntnisse  auf,  mit  denen  sie  ihr  Erkenntnismateriale  bereichert  und 
berichtigt.  Im  grossen  aber  empfängt  sie  vom  Leben  ihre  Stoffe  und  ihre 
bewegenden  Impulse:  ihre  Probleme  und  zugleich  diejenige  Herzenswärme, 
ohne  die  man  grosse  sociale  Probleme  nicht  behandeln  kann  und  soll.  In 
anderen  Wissenschaften  mag  es  anders  sein.  In  den  socialen  Wissenschaften 
geht  das  Herz  dem  Kopf  voran.  Die  grossen  theoretischen  Probleme  unserer 
Wissenschaft  hat  beinahe  nie  das  kalte  theoretische  Interesse,  der  Erkenntnis- 
drang nur  um  der  wissenschaftlichen  Einsicht  w^illen,  sondern  beinahe  immer 
die  praktische  Noth  zur  Discussion  gestellt.  So  war  es  vor  Jahrhunderten 
und  so  ist  es  heute.  Vor  Jahrhunderten  hat  die  Theorie  des  Geldes  an  den 
Calamitäten  mittelalterlichen  Geldwesens,  die  grosse  canönistische  Zins- 
literatur am  Wucherwesen  sich  entwickelt.  In  unseren  Tagen  ist  es  das 
Schicksal  der  arbeitenden  Classen,  des  emporgewachsenen  ,, äderten  Standes", 
welches  wie  ein  Magnet  die  Theoretiker  anzieht;  „Capital  und  Arbeit'  ist 
das  Leitmotiv  der  nationalökonomischen  Theorie  des  19.  Jahrhunderts 
geworden,  aber  nur,  weil  es  zuvor  das  Leitmotiv  unserer  praktischen 
Interessen,  Leiden  und  Conflicte  war.  Und  so  wird  es  immer  sein.  Die 
Lebenspraxis  warft  der  Theorie  einen  Stoff  nach  dem  anderen  in  den  Weg. 
Die  Theorie  greift  sie  alle  ohne  Wahl  auf  durchforscht  sie,  bereichert  und 
berichtigt  sich  an  jedem  einzelnen  von  ihnen,  an  dem  einen  wenig,  an  dem 
anderen  viel,  und  ringt  sich  so  an  ihnen  langsam  und  allmählich  zu  einer 
immer  vollkommeneren  Erkenntnis  des  Lebens  und  seiner  Erscheinungen 
empor.  So  werden  auch  die  flüchtigen  Angelegenheiten  des  Tages  den  Fort- 
schritten der  Wissenschaft  dienstbar,  die  sie  anregen  und  nähren,  und  so 
wird,  hoffe  ich,  auch  unserer  Zeitschrift  es  beschieden  sein,  gerade  dadurch, 
dass  sie  redlich  den  Interessen  ihrer  Zeit  zu  dienen  sucht,  manch  einen 
Baustein  zu  dem  bleibenden  Bau  der  Wissenschaft  zu  fügen. 


SOCIALREFORM  IN  ÖSTERREICH. 


VON 


DK-  JOSEPH  MARIA  BAEENKEITHER. 


Der  österreichische  Handelsminister  hat  dem  Abgeordnetenhause  im 
Juni  1891  einen  Gesetzentwurf  vorgelegt,  welcher  die  obligatorische  Ein- 
führung von  Arbeiterausschüssen,  Genossenschaften  der  Unternehmer  und 
Arbeiter,  sowie  von  Einigungsämtern  für  die  fabriksmässigen  Betriebe  zum 
Gegenstande  hat.  Eine  analoge  Gesetzesvorlage  für  den  Bereich  des  Berg- 
und  Hüttenwesens,  ausgegangen  vom  Ackerbauminister,  verfolgt  im  allge- 
gemeinen  dieselben  Zwecke,  weicht  jedoch  im  einzelnen  von  der  ersteren  ab. 

Die  weittragenden  legislativen  Ideen,  welche  diesen  Entwürfen  zu- 
grunde liegen,  geschöpft  aus  den  heute  so  reich  fliessenden  Quellen  social- 
politischer  Ansichten  und  Vorschläge  wollen  Institutionen  ins  Leben  rufen, 
die  in  dieser  Form  kein  Vorbild  haben,  die  von  der  Eegierung  geplant 
wurden,  ohne  die  betheiligten  Kreise  um  ihre  Meinung  zu  fragen,  und  die 
deswegen  bisher  weniger  Verständnis  als  Zweifel  an  der  Durchführbarkeit 
begegnet  sind. 

Und  doch  ist  mit  diesen  Vorschlägen  der  Eegierung  die  sociale  Keform 
in  einem  Umfange  auf  die  Tagesordnung  gesetzt,  wie  dies  in  Oesterreich  nie 
und  vielleicht  auch  ausserhalb  Oesterreichs  kaum  je  der  Fall  war.  Freilich  wird 
erst  die  Prüfung  dieser  Vorschläge  erweisen,  ob  sie  blos  ein  Spiel  mit  modernen 
Gedanken  sind  und  zum  Gesetz  geworden  die  Zahl  jener  legislativen  Acte  ver- 
mehren würden,  die  bei  uns  und  anderswo  zwar  wohlmeinenden  Absichten  ent- 
sprungen, jedoch  nicht  im  Stande  waren,  Menschen  und  Dinge  willkürlich 
umzuformen,  oder  ob  sich  etwas  und  was  sich  aus  ihnen  herausarbeiten  lässt, 
das  nicht  nur  auf  unsere  Verhältnisse  anwendbar  wäre,  sondern  auch  eine 
lebendige  Wirkung  versprechen  würde. 

Diese  Vorlagen  lenken  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Socialreform  in 
Oesterreich  überhaupt.  Sie  verdient  diese  Aufmerksamkeit  im  vollen  Maasse. 

Wir  wollen  deswegen  versuchen  einen  Ueberblick  zu  geben,  was  auf 
diesem  Gebiete  in  Oesterreich  geleistet  worden  ist,  welche  Form  die  grosse 
Zeitfrage  bei  uns  angenommen  hat  und  in  welcher  W^eise  die  legislativen 
Entwürfe,    von    denen   wir   sprechen,   in    die  Zukunft   gestaltend   eingreifen 


22  Baernreither. 

wollen.  Es  gliedert  sich  unser  Stoff  darnach  von  selbst.  Wir  werden  zuerst 
zeigen,  wie  und  wann  die  socialpolitischen  Maassnahmen  ihren  Anfang  ge- 
nommen haben,  wie  ein  Schritt  der  Gesetzgebung  dem  andern  gefolgt  und 
welche  Richtung  bei  uns  eingeschlagen  worden  ist.  Weiter  wollen  wir  an 
einer  der  wichtigsten  Institutionen,  die  wir  in  den  letzten  Jahren  geschaffen 
haben,  der  Arbeiter  Versicherung,  nachweisen,  dass  wir  in  kurzer  Zeit  mit 
richtiger  Vorausberechnung  und  Geschick  ein  neues,  grosses  Verwaltungs- 
problem zu  lösen  im  Stande  waren,  eine  Thatsache,  die  hoffentlich  dazu  bei- 
tragen wird,  dass  an  die  Stelle  der  pessimistischen  Zweifel,  die  sich  bei 
uns  jeder  neuen  Idee  entgegenstellen,  eine  grössere  Zuversicht  in  unsere 
eigene  Kraft  treten  wird.  Ferner  werden  wir  auf  den  Inhalt  der  Gesetzes- 
vorlagen über  die  Arbeiterausschüsse,  Genossenschaften  der  Unternehmer 
und  Arbeiter  und  die  Einigungsämter  eingehen  und  die  Zielpunkte  be- 
zeichnen, auf  die  es  unseres  Erachtens  ankommt.  Endlich  können  wir  uns 
nicht  versagen,  wenigstens  in  Kürze  auf  den  Zusammenhang  hinzuweisen, 
der  zwischen  den  socialreformatorischen  Gedanken  und  den  wirtschaftlichen 
und  moralischen  Kräften  des  Staates  besteht. 

I. 

Wer  den  Codex  Austriacus  mit  seinen  zahlreichen  Patenten  und 
Ordnungen  aus  dem  vorigen  Jahrhundert,  hauptsächlich  aus  der  Zeit  Maria 
Theresia's,  durchblättert,  wird  erstaunt  sein  über  die  Fülle  gewerblicher, 
industrieller  und  socialer  Gesichtspunkte,  denen  er  begegnet.  Wenn  auch 
unter  ganz  anderen  Productions-  und  Verkehrs  Verhältnissen  hat  doch  die 
Gesetzgebung  und  Verwaltung  damals  vorwärts  strebend,  die  Wege  einem 
steigenden  Volkswohlstande  geebnet. 

Analogien  mit  der  Gegenwart  sind  zum  Greifen.  In  den  .Eisen-Satz-  und 
Ordnungen,''  der  damaligen  Zeit  legt  die  Regierung  Hand  an  dieselben  Fragen, 
die  uns,  freilich  in  ganz  anderer  Ausdehnung,  in  den  Handelsverträgen  von  heute 
beschäftigen;  die  Proviantierung  der  Stadt  Wien  war  ein  Problem  wie  in  unseren 
Tagen;  man  trug  sich  schon  damals  mit  dem  Gedanken  gewerbepolitischer 
Codificationen  in  Oesterreich,  eine  allgemeine  Gewerbeordnung  für  alle  Erblande 
wurde  in  Aussicht  genommen  und  das  Patent  vom  29.  November  1724  ordnete 
statistische  Erhebungen  an,  oder,  wie  man  damals  verfügte,  „die  Handwerker 
in  Oesterreich  zu  beschreiben."  Die  „ Schuhknechte "  bereiteten  der  Regierung 
Verlegenheiten,  sie  schritt  mit  einem  Gesetz  vom  7.  November  1771  gegen  die 
strikenden  Schuhknechte  ein,  hebt  ihre  selbständige  Lade  auf  und  zwingt  sie, 
sich  bei  den  Meisterladen  einschreiben  zu  lassen,  wodurch  sie  ihre  selbständige 
Organisation  verloren.  Heute  halten  wir  Enqueten  ab  über  das  Sitzgeselleu- 
wesen  der  Schuhmacher  und  sind  damit  auch  in  legislativen  Verlegenheiten. 

Wir  haben  diese  wenigen  Splitter  einer  längst  vergangenen  Gesetz- 
gebung nur  angeführt,  um  daran  zu  erinnern,  wie  umfassend  die  Fürsorge 
des  Staates  für  das  gewerbliche  Leben  damals  war.  Bis  in  die  späten  Tage 
Kaiser  Josefs  geht  dieser  Zug,  auch  im  gewerblichen  Schulwesen  bemerkbar. 
Man  hat  das  Gefühl,  dass,   wenn  es  so  fortgegangen  wäre,    die  Gegenwart 


Socialreform  in  Oesterreich 


13 


in  lebendiger  Continiiität  mit  der  Vergangenheit  verbunden  wäre,  wie  in 
Frankreich  und  Deutschland  durch  eine  planmässige  Verwaltung,  und  wie 
in  England,  freilich  auf  einem  ganz  anderen  Wege,  durch  die  Ausbildung 
der  Selbstverwaltung  und  Selbsthilfe.  Wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass  dem 
bei  uns  nicht  so  ist,  dass  die  grossen  Kriege  am  Anfange  des  Jahrhunderts 
die  Fäden  der  Entwicklung  zerrissen  haben,  welche  in  den  darauffolgenden 
Friedensjahren  nur  unvollkommen  wieder  angeknüpft  wurden,  und  dass  die 
Absperrung  OesteiTeichs  auch  auf  gewerblichem  Gebiete  Stillstand  bedeutete. 
Erst  seit  Mitte  des  Jahrhunderts,  seit  etwa  40  Jahren,  nimmt  die  Industrie 
einen  namhaften  Aufschwung,  das  moderne  Bank-  und  Creditwesen  findet  Ein- 
gang in  Oesterreich  und  der  Schienenstrang  erstreckt  sich  in  alle  Gegenden 
des  weiten  Kelches.  Ein  Paar  vergleichende  Ziffern  mögen  ein  Bild  geben. 


In  den  im  Eeichsrathe 

vertreteten  Königreichen  und 

Ländern 


1850 


1870 


1890 


Baumwoll-,  |  Feinspindeln  |  ;3 
SchafwoU-  u.  J  Mechanische  ^  « 
Leinenbranche)     Webstühle     1 3 


Pferdekräfte  der  Dampfmaschinen 
in  der  Industrie   ....  Anzahl 

Production  von  Kübenzucker  .  .  q 

Production  von  Stein-  und  Braun- 
kohlen   q 


Eisenbahnen  im  Betriebt 


km 


1,335.000  (1851) 

9.800 
254.000 

8,766.000 
1.357 


2,483.000 
22.000 

123.400  (1875) 
1,108.800 

72,168.200 
6.112 


4,005.000 

:         78.700 

I 

i  197.600  (1885) 

I       6,943.000 

:     242,601.200 
15.307 


Diese  Expansion  ist  bedeutend,  aber  sie  erfolgte  sprunghafter  und 
regelloser  als  irgendwo  anders,  mehr  dem  Zufalle  und  der  Initiative  einzelner 
industrieller  Köpfe  und  Speculanten  folgend,  als  einer  gleichmässigen  natür- 
lichen Entwickelung.  Sie  entbehrte  jener  staatlichen  Fürsorge,  die  weniger  in 
der  directen  Unterstützung  liegt,  als  in  der  consequenten  Einhaltung  gewisser 
Grundsätze  der  Währungs-,  Zoll-  und  Handelspolitik.  Man  denke  an  die 
Peripetie  unserer  Zollpolitik  von  der  vormärzlichen  Prohibition  zur  englischen 
Nachtragsconvention  und  wieder  zurück  zum  autonomen  Zolltarif  vom 
Jahre  1887;  man  denke  an  die  Speculationskrisen,  in  deren  Wirbel  sich  die 
ersten  Bank-  und  Industriefirmen  ziehen  Hessen,  man  denke  an  die  Valuta- 
Schwankung  zwischen  1850  und  1890;  man  denke  endlich  an  die  Unsicherheit 
der  politischen  Verhältnisse  im  Innern,  die  keine  Tradition  in  der  gew^erb- 
lichen  und  Industrie-Politik  aufkommen  Hessen,  an  die  wirtschaftliche  und 
politische  Auseinandersetzung  mit  Ungarn! 

Man  urtheilt  gerechter  über  die  Schwierigkeiten  der  Gegenwart,  wenn 
man  die  Wechselfälle  der  Vergangenheit  vor  Augen  hat.  Die  Gesetzgebung 
und  Verwaltung  konnten  bei  uns  nicht  frei  in  die  Zukunft  blicken,  denn  sie 
hatten  immer  zu  viel  nachzuholen.  Durch  mehr  als  die  Hälfte  der  40  Jahre, 
von   denen   wir    sprechen,   waren    die   besten    Geister  in  Oesterreich  damit 


14  Baernreither. 

beschäftigt,  verfassungsmässige  Zustände  herzustellen.  Während  bei  unseren 
westlichen  Nachbarn  in  dieser  Zeit  die  arbeitende  Classe,  ihre  Lebensbedin- 
gungen, ihre  Vereinigungen,  ihre  ganze  rechtliche  Einordnung  in  das  Staats- 
wesen längst  der  Gegenstand  der  Untersuchung  und  Gesetzgebung  waren, 
standen  diese  Gesellschaftskreise  bei  uns  bis  vor  zwei  Decennien  ausserhalb  allen 
organischen  Zusammenhangs  mit  dem  Staatsleben.  Erst  im  Jahre  1867  erhielten 
wir  ein  Vereinsgesetz,  auf  Grund  dessen  nothdürftig  genug  die  Arbeiter  ihre 
Interessen  gemeinsam  verfolgen  können; -erst  im  Jahre  1870  wurde  das 
Coalitionsverbot  aufgehoben;  erst  seit  1871  ist  unser  Schulwesen  die  grosse 
breite  Grundlage  für  die  Hebung  der  untern  Classen,  auf  moderne  Grundlagen 
gestellt  und  erhielt  der  gewerbliche  Unterricht  nach  und  nach  seine  Ausbildung. 

Dieser  Hintergrund  der  allgemeinen  historischen  Thatsachen  macht  es 
erklärlich,  dass  das  Interesse  und  die  Initiative  sowohl  der  Unternehmer, 
als  der  Arbeiter  für  die  socialen  Fragen  zwischen  1850  und  1873  in  OesteiTeich 
nur  ein  sporadisches  war.  Was  anderwärts  Gegenstand  des  Studiums,  der 
Discussion,  der  Bestrebungen,  der  Agitation  und  auch  der  Gesetzgebung  auf 
diesem  Gebiete  war,  schlummerte  noch  bei  uns.  Wir  hatten  keine  Mundella, 
keinen  Pouyer-Quertier,  keinen  Dolfuss,  keinen  Krupp,  keinen  Kossi,  kein 
Parlamentarier  lieh  dieser  Sache  seine  Kraft,  kein  Arbeiterführer  erhob  sich 
über  das  Niveau  des  Agitators  und  ein  Minister  konnte  mit  einem  Schein 
von  Berechtigung  —  aber  doch  voll  Naivetät  angesichts  den  Zuständen,  die 
sich  bei  unseren  Nachbarn  entwickelt  hatten  —  noch  zu  Ende  der  sechziger 
Jahre   sagen,  dass  der  Socialismus  bei  Bodenbach  aufhöre. 

Man  kann  das  Jahr  1873  als  einen  Wendepunkt  bezeichnen.  Nach 
dem  tollen  Treiben  der  Speculationsperiode  trat  eine  Ernüchterung  der 
Geister  ein,  welche  eine  Wiedererhebung  vorbereitete.  Durch  die  Einschrän- 
kung und  Einstellung  vieler  Betriebe  wurde  die  Noth  unter  den  Arbeitern 
gross  und  der  Boden  für  die  Thätigkeit  von  Arbeitervereinen  und  der 
Arbeiterpresse  vorbereitet,  die  bald  darauf  ihre  einflussreiche  Einwirkung 
begann.  Dazu  kam  der  mächtige  Einfluss  der  Ereignisse  in  Deutschland  und 
der  socialistischen  Bewegung  in  diesem  Lande.  Mit  dem  allgemeinen  Stimm- 
rechte war  dort  die  socialistische  Partei  in  den  Eeichstag  eingezogen;  die 
Worte,  die  sie  dort  sprach,  und  die  Anträge,  die  sie  stellte,  pflanzten  sich 
in  die  Arbeiterkreise  Oesterreichs  fort.  Auch  der  Katheder-Socialismus  hielt 
seinen  Einzug  in  Oesterreich  und  seine  Lehren,  sowie  das  lebhaft  erwachte 
Interesse  für  die  sociale  Gesetzgebung  Englands  machen  sich  seit  dem 
Jahre  1873  mehr  und  mehr  im  öffentlichen  Leben  bemerkbar.  Vorerst  ohne 
praktische  Wirkung.  Im  Jahre  1874  fand  zwar  aus  Anlass  einer  Petition 
des  Arbeitervereines  „  Volksstimme "  um  das  politische  Wahlrecht  für  die 
Arbeiter  und  um  Einführung  von  Arbeiterkammern  eine  interessante  Debatte 
im  Abgeordnetenhause  statt  —  das  erste  Aufleuchten  social-politischer 
Discussionen  —  die  vom  Ausschusse  gestellten  Kesolutionsanträge  auf  Ein- 
führung von  Arbeiterkammern  und  Erlassung  einer  Arbeiterschutzgesetz- 
gebung sowie  auf  Bestellung  von  Gewerbeinspectoren  wurden  auch,  wiewohl 
unter  Widerspruch  und  manchen  Missverständnissen  vom  Hause  angenommen. 


Socialreform  in  Oester reich.  15 

aber  die  Eegierung,  die  sich  gar  nicht  au  der  Debatte  betheiligt  hatte,  gab 
den  Beschlüssen  keine  Folge  und  die  Sache  verlief  damals  im  Sande. 

Decennien  sind  gegenüber  den  still  und  sicher  fortwirkenden  Ideen 
einer  Zeit,  die  Menschen  und  Einrichtungen  nach  und  nach  umgestalten, 
nur  kurze  Zeiträume,  aber  manchmal  drängen  sich  doch  in  wenigen  Jahren 
die  Aeusfferungen  neuer  Ideen  zusammen,  wenn  ein  stai'ker  Impuls  gegeben 
ist,  wenn  diese  Ideen  anderswo  eine  concreto  Gestalt  annehmen. 

Die  Botschaft  des  deutschen  Kaisers  vom  19.  November  1881,  welche 
verkündete  „dass  die  Heilung  der  Schäden  nicht  ausschliesslich  im  Wege  der 
Repression  socialdemokratischer  Ausschreitungen,  sordern  gleich  massig 
auf  dem  der  positiven  Förderung  des  Wohles  der  Arbeiter  zu  suchen  sein 
werde",  sprach  den  Kern  einer  neuen  Regierungspolitik  aus  und  der  schon 
vorher  dem  Reichstage  vorgelegte  Entwurf  eines  UnfaUversicherungsgesetzes 
war  die  erste  concreto  Formulierung  des  fürsorglichen  Theils  des  Programmes, 
welcher  bestimmt  war,  dem  Socialistengesetze  die  Wage  zu  halten. 

Diesem  Anstosse  folgte  Oesterreich  und  zwar  sowohl  Regierung  als 
Parlament.  Gesetzentwürfe  und  Initiativanträge  geben  davon  Zeugnis,  wie 
allseitig  der  Gedanke  einer  socialpolitischen  Gesetzgebung  aufgegriffen  wurde. 
Man  liess  sich  von  der  Strömung,  die  in  Deutschland  immer  stärker  in 
dieser  Richtung  gieng,  tragen.  Am  5.  December  1882  brachte  die  „Ver- 
einigte Linke"  einen  ausführlichen  Antrag  ein,  der  die  Förderung  der 
Association  der  Kleingewerbetreibenden,  eine  ausgedehnte  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung, die  Einführung  von  Gewerbeinspectoren  und  die  obligatorische 
Kranken-  and  Unfallversicherung,  ferner  eine  Reform  der  öffentlichen  Armen- 
pflege und  des  Heimatsgesetzes,  endlich  eine  parlamentarische  Enquete  zur 
Untersuchung  der  bäuerlichen  Agrarverhältnisse  empfahl.  Gleichzeitig  hatte 
die  Regierung  diese  Frage  nach  verschiedenen  Richtungen  ins  Auge  gefasst  und 
insbesondere  wurde  vom  Justizministerium  in  einer  Denkschrift  an  den  Minister- 
rath,  die  im  Jahre  1882  entstand,  empfohlen,  gegenüber  den  Betriebsunfällen  den 
Standpunkt  der  Haftpflicht  zu  verlassen  und  die  deutsche  Idee  einer  öffentlich 
reclitlichen  Unfallversicherung  aufzunehmen.  Diese  Denkschrift  sprach  aus, 
„dass  ein  Haftpflichtgesetz  kein  genügendes  Mittel  der  Abhilfe  sei,  da  es 
die  Interessen  entgegenstelle  und  verschärfe,  sondern  dass  man  das  Ziel  nur 
durch  Zusammenwirken,  also  durch  die  Beisteuer  aller  Betheiligten,  durch 
eine  allgemeine  Unfallversicherung  erreichen  könne."' 

Am  4.  December  1883  wurde  von  der  Regierung  ein  Entwurf,  betreffend 
die  Unfallversicherung  der  Arbeiter,  am  28.  Jänner  1886  ein  Gesetzentwurf, 
betreffend  die  Krankenversicherung  eingebracht;  ersterer  wurde  am  28.  De- 
cember 1887,  letzterer  am  30.  März  1888  Gesetz.  Die  Regelung  der  Ver- 
hältnisse bezüglich  der  Bruderladen  —  Knappschaftscassen  —  erfolgte  durch 
ein  besonderes  Gesetz  vom  28.  Juli  1889.  Daneben  machte  die  Gewerbe-  und 
Arbeiterschutzgesetzgebung  grosse  Fortschritte. 

Die  Gewerbegesetznovelle  vom  15.  März  1883  hat  die  Zwangsgenossen- 
schaften und  den  Befähigungsnachweis  eingeführt.  Die  Zusammenfassung 
schwacher  isolirter  Kräfte  zu  einer  widerstandsfähigen  wirtschaftlichen  Potenz, 


Ig  Baernreither. 

sowie  die  Steigerung  der  individuellen  Leistungsfähigkeit  sind  gewiss  richtige 
Gedanken,  aber  die  Novelle  hat  selbst  ihren  Verfassern  so  viel  Enttäuschung 
gebracht,  weil  sie  in  dem  Iri'thum  befangen  ist,  dass  ersteres  durch  äusseren 
Zwang,  letzteres  durch  einen  schablonenhaften  Nachweis  zu  erreichen  ist. 
Die  selbständigen-  Gewerbetreibenden  sind  zu  dem  Glauben  verleitet  worden, 
dass  die  Gesetzgebung  ihnen  einen  Panisbrief  erth eilen  kann,  die  Gesellen 
verfallen  der  Socialdemokratie.  Dagegen  hat  das  Gesetz  vom  17.  Juni  1883, 
durch  w^elches  die  Gewerbeinspectoren  bestellt  wurden,  bei  allen  vorurtheils- 
frei  Denkenden  ungeth eilte  Zustimmung  gefunden;  es  hat  bei  dem  Unter- 
nehmer das  Bewusstsein  verstärkt,  dass  seine  Pflicht  gegen  den  Arbeiter 
mehr  umfasst  als  die  blosse  Lohnzahlung,  es  hat  ein  staatliches  Organ 
geschaffen,  welches  den  Verhältnissen  und  Bedürfnissen  der  arbeitenden 
Classe  näher  steht  als  alle  andern  Behörden  —  es  hat  alles  das  bewirkt 
gerade  wegen  der  neuen,  die  bisherigen  bureaukratischen  Schranken  durch- 
brechenden Form  des  Inspectorats,  welches  man  deswegen  nicht  nur  als  eine 
glückliche  Nachahmung  einer  englischen  und  deutschen  Einrichtung  betrachten 
darf,  die  sich  bei  uns  auffallend  rasch  eingelebt  hat,  sondern  auch  als  eine 
neue  Verwaltungsform,  die  mit  der  Entwickelung  einer  einheitlichen  socialen 
Verwaltung  nothwendigerweise  eine  Ausdehnung  erfahren  wird.  Endlich 
kann  man  die  zweite  Novelle  zum  Gewerbegesetze  vom  8.  März  1885  (Unfall- 
verhütung, Beschränkung  der  Arbeit  jugendlicher  Personen  und  Frauen 
Maximal- Arbeitstag,  Arbeitspausen,  Nachtarbeit,  Sonntagsruhe)  als  einen 
legislativen  Act  bezeichnen,  durch  welchen  Oesterreich  gerechten  Anforderungen 
der  Zeit  nachgekommen  ist. 

Zu  dieser  ganzen  Gruppe  von  Gesetzen  kann  auch  das  Hilfscassen- 
gesetz  gerechnet  werden,  welches  dazu  bestimmt  ist,  dem  Gedanken  der 
Versicherung  nicht  nur  in  den  Arbeiterkreisen,  sondern  auch  in  anderen 
Volksschichten  Eingang  zu  verschaffen,  sowie  das  Gesetz,  betreffend  Steuer- 
erleichterungen für  Arbeiterwohnungen,  beide  aus  der  Initiative  des  Abge- 
ordnetenhauses hervorgegangen,  zwar  noch  nicht  als  Gesetze  publiciert, 
jedoch  von  beiden  Häusern  des  Reichsrathes  bereits  angenommen. 

Zwei  Initiativanträge  aus  dem  Schoosse  der  „Vereinigten  Linken" 
gehen  noch  weiter.  So  vor  allem  ein  Antrag  auf  Einführung  von  Arbeiter- 
kammern, eingebracht  am  6.  September  1886.  Zur  Vertretung  der  Interessen  des 
Arbeiterstandes  wird  eine  Organisierung  geplant  in  Form  von  Körperschaften, 
die  aus  der  Wahl  der  versicherungspflichtigen  Mitglieder  der  Krankencassen 
hervorgehen  sollen,  analoge  Functionen,  wie  die  Handelskammern  auszuüben 
hätten  und  denen  auch  ein  ähnliches  politisches  Wahlrecht  für  das  Ab- 
geordnetetenhaus zukommen  sollte,  wie  jenen.  Dieser  Antrag  hat  zunächst 
zu  einer  Enquete  geführt,  in  welcher  23  Personen  (Kleingewerbetreibende, 
Secretäre  von  Arbeiter-Krankencassen  und  Arbeiter)  vernommen  wurden  und 
die,  wenn  auch  nur  in  einem  beschränkten  Umfange,  einen  Einblick  in  die 
Bestrebungen  unseres  Arbeiterstandes  gewährte.  Dieser  Antrag,  sowie  der 
am  17.  April  1890  eingebrachte  Antrag  auf  Einführung  von  Einigungsämtern 
haben  also  bereits  das  Gebiet  der  Organisierung  des  Arbeiterstandes  betreten, 


Socialreform  in  Oesterreich.  17 

in  welches  die  eingangs  erwähnten  Eegiemngsvorlagen  auch  ihrerseits  einen 
Zug  unternehmen,  vielleicht  einen  Gegenzug. 

Die  Socialpolitik  ist  zwar  der  jüngste  Ast  der  modernen  Staatskunst, 
aber  er  ist  rasch  und  mächtig  emporgewachsen,  und  wir  begegnen  seinei: 
Verzweigungen  überall.  Deswegen  muss  noch  auf  einen  weiteren  Kreis  von 
Gesetzen  und  Entwürfen  hingewiesen  werden,  die  uns  in  den  letzten  Jahren 
beschäftigt  haben.  Auf  juristischem  Gebiete  bezeichnet  schon  das  Wucher- 
gesetz vom  28.  Mai  1881  die  Wende  und  erprobte  sich  durch  seine  präven- 
tive ratio  legis;  dann  folgte  die  Executionsnovelle  vom  10.  Juni  1887,  bei 
welcher  der  Gesetzgeber  vor  die  schwierige  Wahl  gestellt,  die  wirtschaft- 
liche Persönlichkeit  auf  Kosten  der  sogenannten  Creditfähigkeit  zu  stärken, 
oder  letztere  auf  Kosten  der  ersteren  einseitig  aufrecht  zu  erhalten,  sich  für 
den  ersten  Weg  entschied  und  sich  deswegen  zu  einer  Einschränkung  der 
Executionsobjecte  entschloss.  In  das  Gebiet  der  Verwaltung  gehören  die 
Gesetzentwürfe  zur  Hintanhaltung  der  Trunksucht  und  gegen  die  Verfälschung 
von  Lebensmitteln,  welche  in  parlamentarischer  Verhandlung  stehen,  endlich 
auf  das  Gebiet  der  Agrarpolitik  das  Gesetz  vom  1.  April  1889,  betreffend 
die  Einführung  besonderer  Erbtheilungsvorschriften  für  landwirtschaftliche 
Besitzungen  mittlerer  Grösse. 

Dieses  letztgenannte  Gesetz  verdankt  seine  Entstehung  ebenfalls  der 
üebertragung  von  Bestrebungen,  die  in  Deutsehland  infolge  der  ungünstigen 
Lage  der  Landwirtschaft  auftauchten.  Es  ist  das  die  in  verschiedenem 
Gewände  auftretende  Idee,  die  Erhaltung  des  Bauernstandes  dadurch  zu 
fördern,  dass  die  ungetheilte  Uebernahme  des  Hofes  einem  Erben  auf  Kosten 
seiner  Miterben  erleichtert  wird.  Hier  waltete  bei  uns  keine  glückliche  Hand. 
Vielfach  bestand  ja  auch  im  österreichischen  Bauernstande  die  Tradition,  den 
Hof  an  einen  bevorzugten  Erben  zu  übertragen  und  die  Geschwister  nicht  voll, 
aber  billig  auszuzahlen.  Anstatt  nun  an  diese  Tradition  anzuknüpfen  und  die 
Stabilität  der  kleinen  Landwirtschaften  und  der  ansässigen  Bevölkerung  durch 
Befestigung  einer  alten  anerkannten  Gewohnheit  zu  stützen,  ohne  ein  singu- 
läres  Erbrecht  zu  schaffen,  ist  das  erwähnte  Gesetz,  indem  es  die  Bevorzugung 
des  sogenannten  Anerben  obligatorisch  durchführen  will,  zugleich  aber  seine 
eigene  Wirksamkeit  von  der  Detail-Gesetzgebung  der  einzelnen  Landtage 
abhängig  macht,  starr  und  unwirksam  zugleich,  denn  es  ist  nicht  zu  erwarten, 
dass  irgend  ein  Landtag  dem  Gesetze  in  seiner  heutigen  Gestalt  beitreten  wird. 

Diese  Uebersicht  enthält  das  Wesentliche  was  die  socialpolitischen 
Ideen  im  abgelaufenen  Decennium  bei  uns  hervorgebracht  oder  beeinflusst 
haben,  eine  Fülle  gesetzgeberischer  Action,  auf  die  wir  stolz  sein  können, 
Der  moderne  socialpolitische  Codex  Austriacus  —  im  Geiste  staatlicher 
Fürsorge  mit  dem  alten  verwandt  —  hat  schon  einen  bedeutsamen  Umfang, 

Freilich  taucht  sofort  eine  entscheidende  Frage  auf.  Dasjenige,  was 
man  dem  Arbeiter  in  der  neuen  Gesetzgebung  versprochen  hat,  muss  man 
ihm  auch  voll  halten  und  die  Echtheit,  der  Gehalt  unserer  Eefomi- 
bestrebungen  muss  an  der  Durchführung  und  Handhabung  dieser  Gesetze 
geprüft  werden.  Es  ist  natürlich  unmöglich,  hier  im  Detail  darauf  zu  antworten, 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  I.  Heft.  2 


lg  Baernreither. 

inwieweit  die  Intentionen  dieser  Gesetze  wirksam  geworden  sind,  •  zum  Theil 
ist  auch  die  Zeit  noch  zu  kurz,  aber  wir  wollen  es  wagen,  ein  allgemeines 
Urtheil  zu  fällen,  weil  das  Gute  einerseits  sowie  der  Mangel  andererseits, 
trotz  der  kurzen  Zeit  schon  klar  hervortritt. 

Die  Arbeiterschutzgesetzgebung,  die  Institution  der  Gewerbeinspectoren, 
sowie  die  Arbeiterversicherung  sind  ohne  Schwierigkeiten  ins  Leben  ge- 
treten. Die  Unternehmer  leisten  im  allgemeinen  keinen  Widerstand,  einige 
kommen  der  Tendenz  der  Gesetze  sogar  opferwillig  entgegen;  die  neuen 
Einrichtungen  haben  sich  rasch  eingelebt,  sie  werden  von  der  Arbeiterclasse 
verstanden  und  gelten  heute  schon  in  weiten  Kreisen  als  eine  Wohlthat  —  aber 
manche  dieser  Gesetze  werden  nicht  im  selben  Geiste  gehandhabt,  in  dem  sie 
gegeben  sind,  es  fehlt  der  planmässige,  consequente,  ausgleichende  Nachdruck 
der  Verwaltung,  die  in  letzter  Instanz  im  Ministerium  des  Innern,  des  Handels 
und  des  Ackerbaues  zersplittert  ist.  Dort  mangelt  die  eigentliche  Leitung, 
welche  dieser  ganz  neue  Zweig  der  Verwaltung  unbedingt  erfordert,  es  findet 
eine  unnöthige  Keibung  statt  und  es  entgeht  der  Vortheil,  den  diese  ver- 
schiedenen socialpolitischen  Institutionen  durch  gegenseitige  Unterstützung 
haben  könnten,  denn  sie  sollen  sich  ergänzen  und  als  Ganzes  wirken. 

Grosse  Verwaltungskörper,  wie  die  UnfaUversicherungsanstalten  und 
die  Krankencassen  mit  ihren  Verbänden  sind  gebildet,  aber  zwischen  diesen 
beiden  besteht  eine  Friction,  die  verschiedenen  Schiedsgerichte  der  Unfall- 
versicherung entscheiden  endgiltig  ohne  dass  in  irgend  einer  Weise  für  die 
Einheit  der  Kechtsprechung  gesorgt  wäre,  die  Versicherungstechnik  ist  ohne 
gehörigen  Contact  mit  der  Administration;  den  Gewerbebehörden  sind  durch 
die  Arbeiterschutzgesetzgebung  und  die  Vorschriften  über  die  Sonntagsruhe 
ganz  neue  Agenden  zugewachsen,  aber  die  Ueberwachung  und  Durch- 
führung ist  mangelhaft  und  bezüglich  des  Kleingewerbes  und  der  Haus- 
industrie sind  Arbeiterschutz  und  Sonntagsruhe  todte  Buchstaben  geblieben; 
die  Gewerbeinspectoren  thun  was  sie  können,  aber  ihre  Zahl  ist  gering  und 
sie  werden  mehr  und  mehr  in  den  bureaukratischen  Apparat  eingeklemmt, 
sie  werden  zu  viel  am  Schreibtisch  und  zu  wenig  in  der  Fabrik  verwendet. 

Nach  und  nach,  ohne  dass  wir  uns  dessen  noch  recht  bewusst  sind, 
ist  das  Kecht  des  Staates  bei  uns  erweitert  und  sein  Verwaltungsgebiet 
ausgedehnt  worden,  aber  das  Gedeihen  dieser  staatlichen  Expansion  hängt 
davon  ab,  dass  die  zugewachsenen  Theile  eine  einheitliche  oberste  Leitung 
erhalten.  Dann  wird  vieles  vereinfacht  und  verwohlfeilt,  viele  Kräfte  werden 
besser  ausgenützt  und  viele  Anregungen  werden  gegeben  werden  können. 

SoUte  es  bei  uns  zu  einer  solchen  Oberleitung  aller  socialpolitischen 
Institutionen  kommen,  so  müsste  dieselbe  allerdings  sich  sofort  ein  Organ 
schaffen,  ohne  welches  eine  sichere  Verwaltung  auf  diesem  Gebiete  un- 
möglich ist.  Die  speciellen,  gerade  bei  uns  in  Oesterreich  so  sehr  ver- 
schiedenen Verhältnisse  auf  gewerblichem  Gebiete  bedürfen  einer  fort- 
laufenden Untersuchung;  die  bestehende  Statistik  genügt  in  keiner  Hinsicht, 
denn  der  neue  Verwaltungszweig  muss  das  Materiale,  welches  er  benöthigt, 
nach   seinen  Gesichtspunkten    erheben  lassen.     Auch   genügt  ihm  nicht  die 


Socialreform  in  Oesterreich.  19 

blosse  Ziffer,  sondern  er  bedarf  der  Untersuchung  und  Feststellung  aller 
derjenigen  Umstände,  welche  die  Ziffern  erst  verständlich  machen.  Mit 
einem  Wort:  wir  werden  ein  statistisches  Arbeitsamt  nothwendig 
haben.  Die  Vereinigten  Staaten  sind  mit  dieser  Einrichtung  vorangegangen; 
sie  wurde  seit  1866  nach  und  nach  in  21  Staaten  der  Union  eingeführt.  Ein 
solches  Amt  existiert  ferner  in  England  seit  1886,.  in  der  Schweiz  seit  1887 
und  in  Frankreich  seit  dem  Jahre  1891.  Bei  uns  wäre  die  Aufgabe,  mit  richtig 
angewandten  Kräften  und  billigen  Mitteln  möglichst  viel  zu  leisten.  Ein  solches 
Amt  müsste  bei  uns  nicht  nur  selbst  arbeiten,  sondern  vor  allem  zu  social- 
statistischen  Arbeiten  anregen,  eine  gewisse  Einheit  in  die  statistischen  Arbeiten 
der  Handelskammern  bringen,  sich  nicht  scheuen,  mit  den  Arbeiterfach  vereinen 
in  Verbindung  zu  treten  und  vielleiclit  auch  die  socialstatistischen  Seminare 
an  den  Universitäten,  die  leider  bei  uns  keine  grossen  Erfolge  aufweisen, 
beeinflussen.  Wenn  einmal  die  Nützlichkeit  und  Verlässlichkeit  des  Arbeits- 
amtes erprobt  wäre,  würde  reichliches  Material  fliessen  zur  Sichtung  und 
Bearbeitung.  Dabei  kämen  ebenso  sehr  die  Lebensbedingungen  der  Industrie 
und  des  Gewerbes,  wie  die  Lebenshaltung  und  die  Lage  der  Arbeiter  in  IJetracht. 

IL 

Die  obligatorische  Arbeiterversicherung  erstreckt  sich  bei  uns  erst  auf 
Unfall  und  Krankheit.  Alters-  und  Invalidenversorgung  sind  noch  nicht  in 
Angriff  genommen.  Auch  Unfall-  und  Krankenversicherung  sind  noch  nicht  in 
jenem  Umfange  eingeführt  wie  in  Deutschland,  insbesondere  stehen  die  land- 
und  forstwirtschaftlichen  Arbeiter  nur  th eilweise  unter  der  gesetzlichen  Ver- 
pflichtung versichert  zu  sein.  Trotzdem  ist  auf  diesem  Gebiete  bei  uns  schon 
Erhebliches  geleistet.  Wir  wollen  deswegen  über  den  einen  und  andern  Zweig 
der  Arbeiterversicherung  einige  Daten  bringen  und  daran  Bemerkungen  knüpfen, 
um  zu  zeigen,  dass  die  Einführung  dieses  neuen  Verwaltungszweiges  im 
grossen  Ganzen  als  gelungen  bezeichnet  werden  kann,  dass  sich  aber  auch 
in  diesem  Detail  unser  Ruf  nach  einer  einheitlichen  Leitung  und  Verwaltung 
dieser  Angelegenheiten  als  ein  berechtigter  erweist. 

Was  zunächst  die  Unfallversicherung  anbelangt,  so  liegt  uns  der  soeben 
erschienene  treffliche  Bericht  über  die  Gebarung  und  die  Ergebnisse  der 
Unfallstatistik  für  die  Zeit  vom  1.  November  1889  (dem  Beginne  der  Wirk- 
samkeit des  Gesetzes)  bis  31.  December  1890  vor  und  gibt  uns  in  klarer 
und  übersichtlicher  Darstellung  Einblick  in  den  Geschäftsbetrieb  der  Ver- 
sicherungsanstalten. 

Zu  Ende  des  Jahres  1890  betrug  die  Zahl  der  nach  dem  Gesetze  ver- 
sicherten gewerblichen  Betriebe  53.193  mit  893.324  Arbeitern,  wozu  78.133 
landwirtschaftliche  Maschinenbetii^be  mit  338.494  Arbeitern  kommen.  Im 
Laufe  des  Jahres  1890  wurden  16.041  Unfallsanzeigen  erstattet,  darunter  6741, 
die  eine  Entschädigungsleistung  nach  sich  zogen,  und  hievon  548  Todesfälle. 

Es  ist  natürlich,  dass  ein  so  grosser  Mechanismus  nicht  sofort  glatt 
functioniert.  Es  wird  geklagt,  dass  die  Unfallsanzeigen  von  den  Behörden 
unregelmässig  und  spät  an  die  Anstalten  gelangen;  Vereinfachungen  werden 

2* 


20 


Baernreither. 


nach  mehreren  Kichtungen  eingeführt  werden  müssen,  so  insbesondere  bezüglich 
der  landwirtschaftlichen  Betriebe,  für  welche  ein  System  der  Tarifierung  fest- 
zusetzen sein  wird,  endlich  wird  auch  das  Verhältnis  der  Unfallversicherung 
zu  den  Krankencassen,  welchen  die  Versorgung  des  Verunglückten  in  der 
Carenzzeit  obliegt,  einer  Eegelung  unterworfen  werden  müssen  u.  s.  w. 

Das  sind  aber  Nebenfragen.  Für  allgemeine  Gesichtspunkte  dagegen,  ist 
eine  Vergleichung  gewisser  Eesultate  unserer  Unfallversicherung  mit  den 
deutschen  wichtig.  Bekanntlich  haben  wir,  was  die  Aufbringung  der  Mittel 
anbelangt,  das  Capitaldeckungsverfahren,  Deutschland  das  sogenannte  Umlage- 
verfahren angenommen,  das  heisst,  wir  sichern  die  Verpflichtungen,  die  gegen- 
über den  Verunglückten  oder  ihren  Hinterbliebenen  erwachsen,  durch  die  Ein- 
hebung eines  Betrages,  welcher  in  seiner  Gesammtheit  die  Capitalsdeckung  für 
die  Unfälle  eines  Jahres  bedeutet,  der  nach  Maassgabe  der  verschiedenen 
Gefahrenclassen  der  Betriebe  je  nach  der  Arbeiterzahl  aufgetheilt  wird  und 
welcher,  weil  man  annehmen  muss,  dass  die  Zahl  der  Unfälle  jedes  Jahr 
durchschnittlich  gleichbleibt,  sich  auch  gleichbleibt,  während  Deutschland  das 
Jahreserfordernis  umlegt,  zu  den  bestehenden  Verpflichtungen  also  jedes  Jahr 
neue  kommen,  so  dass  die  Umlage  von  Jahr  zu  Jahr  steigt.  Zur  Beurtheilung 
der  für  die  Unfallversicherung  einzuhebenden  Beträge  ist  es  auch  noch  noth- 
wendig,  sich  zu  vergegenwärtigen,  dass  nach  §  18  des  deutschen  Gesetzes  die 
Berufsgenossenschaften  verpflichtet  sind,  einen  Keservefond  anzusammeln,  der 
eine  gewisse  Höhe  zu  erreichen  hat,  dann  aber  zur  Deckung  der  Genossen- 
schaftslasten zu  verwenden  ist,  und  dass  wir  nach  §  15  unseres  Gesetzes  über 
die  Capitalsdeckung  hinaus  auch  noch  ein  Keservecapital  anzusammeln  haben 
aus  Beiträgen,  die  das  Ministerium  des  Innern  jährlich  festsetzt,  die  aber 
10  Procent  des  zur  Deckung  der  Verpflichtungen  der  Versicherungsanstalten 
erforderlichen  Fondes  nicht  übersteigen  darf. 

Nun  ist  vor  allem  die  Vergleichung  von  zwei  Ziftern  interessant,  aus 
denen  man  die  Belastung  der  Industrie  durch  die  Unfallversicherung  bei 
uns  und  in  Deutschland  ersehen  kann.  Gerade  Staaten,  die  sich  zollpolitisch 
nähern,  müssen  derartige  Belastungen  mit  einem  vergleichenden  Auge  ver- 
folgen.   Es  betrugen  in  Deutschland: 

die  geleisteten  sammt  Verwaltungskosten  und  dem 

Entsehädigungsbeträge  Zuschlage  für  den  Reservefond 


1886  0-08 

1887  0-23 

1888  0-33 

1889  0-42 

1890  0-51 


in  ^|^y  der 
Lohnsumme 


0-49 
0-73 
0-89 
0-99 
1-00 


Bei  uns  wurde  das  jährliche  Erfordernis  (Capitalsdeckung  und  Eeserve- 
capital)  mit  1*4  Procent  der  Lohnsumme  festgestellt  (in  der  Höhe  von  1'396 
Procent  factisch  eingehoben).  Unsere  Mehrbelastung  gegenüber  Deutschland 
beträgt  somit  heute  nur  0*4  Procent,  ein  Unterschied,  der  in  6 — 7  Jahren  aus- 
geglichen sein  wird,  worauf  sich  dann  das  Verhältnis  umkehren  und  Deutschland 
steigend  eine  grössere  Belastung  seiner  Industrie  durch  die  Unfallversicherung 
erfahren  wircf,  während  wir  es  mit  einer  gleichbleibenden  Last  zu  thun  haben. 


Socialreform  in  Oesterreich.  21 

Diese  Stabilität  in  der  Belastung  ist  ein  Hauptvorzug  unseres 
Deckungssystems  und  wird  in  dem  Maasse  als  im  Nachbarreiche  die  Um- 
lage steigen  wird,  als  ein  wohlthätiger  Factor  von  unserer  Industrie 
empfunden  werden,  ganz  abgesehen  von  der  Sicherheit  das  unser  System 
gewährt.  Auf  dem  internationalen  Congress.  der  sich  im  vergangenen 
Herbst  in  Bern  mit  der  Unfallversicherung  beschäftigte,  hat  unser  Deckungs- 
Verfahren  auch  entschieden  Beifall  gefunden  und  in  dem  officiellen  Berichte 
des  permanenten  Comites  wurde  ihm  ausdrücklich  der  Vorzug  vor  dem 
deutschen  Umlagesystem  zuerkannt.  „Le  Systeme  autrichieu  s'ecarte  com- 
pletement  du  Systeme  allemand,  qui  reporte  sur  Tavenir,  avec  une  coupable 
et  dangereuse  imprevoyance,  les  charges  du  present.  L'oeuvre  austrichienne 
a  donc  un  caractere  de  stabilite  que  ne  possede  pas  la  legislation  allemande 
ä  la  quelle  on  doit  reconnaitre  tous  les  caracteres  d'un  expedient." 

Zwei  Verschiedenheiten  unserer  und  der  deutschen  Unfallversicherung 
sollen  hier  erwähnt  werden,  weil  sie  bei  einer  Vergleichung  nicht  übersehen 
werden  dürfen.  Bei  uns  tritt  die  Unfallversicherung  schon  nach  einer  Carenz- 
zeit  von  4  Wochen,  während  welcher  der  Verletzte  von  seiner  Krankencasse 
versorgt  wird,  ein,  in  Deutschland  erst  nach  einer  Carenzzeit  von  13  Wochen; 
dagegen  beträgt  die  Maximalrente,  die  ausgesprochen  werden  kann,  in  Deutsch- 
land 66%  Procent  des  Lohnes,  bei  uns  nur  60  Procent.  Bis  zu  einem 
gewissen  Grade  dürften  sich  diese  beiden  abweichenden  Bestimmungen  in 
ihren  finanziellen  Wirkungen  compensieren. 

Was  hingegen  die  sociale  Wirkung  unserer  und  der  deutschen  Unfall- 
versicherung anbelangt,  so  muss  man  zugeben,  dass,  wir  soweit  man  die 
Bemessungen  der  Kenten  und  die  Aussprüche  der  Schiedsgerichte  bei  uns 
schon  übersehen  kann,  knapper  sind  als  unsere  Nachbarn.  Dabei  kommt 
freilich  in  Betracht,  dass  die  zugesprochenen  Kenten  immer  Procente  des 
Lohnes  bedeuten  und  die  Löhne  bei  uns  niedriger  sind  als  in  Deutschland. 
In  der  ersten  Gebarungsperiode  haben  sich  bei  uns  folgende  durchschnittlichen, 
auf  einen  Bezugsberechtigten  entfallenden  Jahresrenten  ergeben,  und  zwar: 

auf  einen  dauernd  gänzlich  Erwerbsunfähigen    .     184  fl.  93  kr. 

auf  einen  dauernd  theilweise  Erwerbsunfähigen  .       73  fl.  87  kr. 

auf  eine  Witwe 68  fl.  86  kr. 

auf  ein  Kind 41  fl.  91  kr. 

auf  einen  Ascendenten 50  fl.  42  kr. 

Ein  genauer  ziftermässiger  Vergleich  mit  den  analogen  Ergebnissen  in 
Deutschland  ist  leider  nicht  möglich,  weil  der  Bericht  des  Reichsversicherangs- 
amtes  keine  diesbezüglichen  Daten  bringt. 

Ferner  möchten  wir  noch  darauf  aufmerksam  machen,  dass  das 
deutsche  System  der  Berufsgenossenschaften  für  die  Zwecke  der  Unfall- 
verhütung ein  entsprechenderes  ist  als  unser  Territorialsystem.  Die  Thätig- 
keit  unserer  Gewerbe-Inspectoren  erhält  dadurch  eine  erhöhte  Bedeutung  und 
muss  die  Unfallversicherung   auf  diesem  Punkte  systematisch  unterstützen. 

Eine  in  der  letzten  Zeit  vielfach  ventilirte  Frage  dreht  sich  darum, 
ob  bei  uns  die  eingehobenen   Prämien  nicht    zu   hoch    angesetzt    sind    und 


22  Baernreither. 

infolge  dessen  nicht  eine  unnöthige  Capitalsansammlung  stattfindet.  Um  diese 
Frage  klarzustellen,  müssen  wir  jene  1*4  Procent,  welche  wir  von  der  Lohn- 
summe als  jährlich  präliminierte  Prämie  einheben,  in  ihre  Elemente  zerlegen. 

Bei  den  grundlegenden  Berathungen  zur  Tarifaufstellung  im  Jahre  1888 
war  ermittelt  worden,  dass  das  Erfordernis  zur  Deckung  der  den  Anstalten 
erwachsenden  Verpflichtungen  (die  Nettoprämie)  sich  voraussichtlich  auf 
1*093  Procent  der  Lohnsumme  stellen  werde.  Dazu  wurden  10  Procent 
dieser  Quote,  nämlich  0*109  Procent  der  Lohnsumme  für  das  nach  §  15 
des  Gesetzes  zu  bildende  Eeservecapital  geschlagen,  ausserdem  weitere 
0'109  Procent  der  Lohnsumme  für  Verwaltungskosten  präliminiert,  was  zu- 
sammen 1*311  Procent  der  Lohnsumme  ausmachte.  Diese  Ziffer  wurde 
jedoch  vom  Versicherungsbeirathe  auf  "  die  obigen  1*4  Procent  abgerundet, 
um  das  Präliminare  noch  sicherer  zu  gestalten.  Die  Kechnungsabschlüsse 
der  ersten  Gebarungsperiode  unserer  Unfallversicherung  (1.  November  1889 
bis  31.  December  1890)  ergeben  nun  über  sämmtliche  Ausgaben  ein. 
schliesslich  des  angesammelten  Deckungscapitals  (2,621.738  fl.)  und  des 
vollen  lOproc.  Eeservecapitals  (257.050  fl.)  noch  einen  Ueberschuss 
von  317.430  fl.  Er  hat  seinen  Grund  darin,  dass  einerseits  die  Voraus- 
berechnungen des  versicherungstechnischen  Bureaus  nahezu  vollkommen  mit 
dem  Ergebnis  übereinstimmten,  aber  dennoch  eine  kleine  Marge  zu  Gunsten 
des  Gebarungsergebnisses  übrig  Hessen,  andererseits  in  der  bereits  erwähnten 
vorsichtigen  Abrundung,  die  der  versicherungstechnische  Beirath  vorge- 
nommen hat.  Was  den  ersten  Punkt  betrifft  ist  zu  bemerken,  dass  die  Netto- 
prämie mit  1*093  Procent  der  Lohnsumme  vorausberechnet  war,  in  der  ersten 
Gebarungsperiode,  von  der  wir  sprechen  (1.  November  1889  bis  31.  De- 
cember 1890),  das  Erfordernis  sich  auf  1*043  Procent  der  Lohnsumme 
(235,264.177  fl.  bei  den  industriellen  Betrieben,  1.682.228  fl.  bei  den  land- 
und  forstwirtschaftlichen  Betrieben)  bezifferte,  was  eine  Differenz  von  0*05  Pro- 
cent zu  Gunsten  des  Gebarungsergebnisses  ausmacht.  Dieser  Ueberschuss  von 
317.430  fl.  kommt   etwa  8  Procent   der  eingehobenen  Unfallprämie   gleich. 

Nehmen  wir  nun  zu  diesem  Resultate  Stellung.  Wir  glauben  aus- 
sprechen zu  dürfen,  dass  sowohl  die  oberste  Verwaltungsbehörde,  als  auch 
der  Versich erungsbeirath  richtig  vorgegangen  sind,  deSli  es  hätte  gerade 
gegenüber  dem  Widerwillen,  welchem  das  Capitaldeckungs verfahren  bei  uns 
theilweise  begegnet,  einen  sehr  schlechten  Eindruck  gemacht,  wenn  wir  die 
erste  Gebarungsperiode  mit  einem  Deficit  abgeschlossen  hätten  und  die 
Prämie  erhöhen  müssten.  Es  war  daher  vorsichtig,  der  Einhebung  der 
Prämie  eine  solche  Berechnung  zugrunde  zu  legen,  die  eher  einen  Ueber- 
schuss als  einen  Ausfall  herbeiführen  musste,  und  wir  müssen  dieser  Vor- 
ausberechnung daher  unsere  uneingeschränkte  Anerkennung  zollen. 

Aber  ebenso  entschieden  möchten  wir  darauf  hinweisen,  dass  für  den 
Ausgleich  der  Schwankungen  in  den  Ergebnissen  nach  §  15  unseres  Gesetzes 
ja  das  Eeservecapital.  und  zwar  sogar  in  der  Maximalhöhe  angesammelt 
wird,  so  dass  es  in  Verbindung  mit  den  periodischen  Eevisionen  der  Tarife 
für  alle  Eventualitäten  ausreicht,  dass  daher  Capitalsansammlungen  darüber 


Socialreform  in  Oesterreich. 


23 


hinaus  nicht  nur  keine  gesetzliche  Basis  haben,  sondern  auch  socialpolitisch 
bedenklich  sind.  So  sehr  wir  das  Verdienst  hervorheben  möchten,  dass  diese 
Insitution  bei  uns  versicherungstechnisch  und  finanziell  so  vollkommen  klappt, 
ebenso  sehr  möchten  wir  empfehlen,  uns  auf  das  nothwendige  Maass  zu  be- 
schränken und  nicht  einer  Aengstlichkeit  nachzugeben,  die  auch  noch  Cassa- 
überschüsse  erzielen  möchte.  Nicht  nur  würde  dadurch  unserer  Industrie  in 
einer  ganz  unwirtschaftlichen  Weise  Capital  entzogen  werden,  sondern  der 
weiteren  Ausdehnung  der  Arbeiterversicherung  nur  Hindernisse  bereitet 
werden. 

Ohne  daher  das  Dickungssystem  und  die  Sicherheit  zu  gefährden, 
wird  man  also  hier  zwischen  dem  versicherungstechnischen  Standpunkt  und 
den  Interessen  der  Industrie  klug  zu  vermitteln  haben. 

Auch  die  Krankenversicherung  hat  bedeutende  Resultate  aufzuweisen. 
Wir  fassen   dieselben  in  der  nachstehenden  Tabelle  zusammen : 


Für  sämmtliche  im  Reichsrathe 
vertretenen  Länder 


Bezirks- 

Krankeu- 

cassen 


Betriebs- 
und Bau- 
Kranken- 
cassen 


Genossen- 
schafts- 
Kranken- 
cassen 


Vereins- 

Kranken- 

cassen 


Gesammt- 
Summe 


Anzahl  der  im  Jahre  1890  func- 
tionierenden  Gassen     .    .    .    . 


Anzahl  der  Gassen,  von  wel- 
chen Nachweisungen  vorge- 
legt wurden 


»1   «ü 
Ic  'S: 


männlich 


weiblich 


zusammen 


Ausgezahltes  Krankengeld  in  fl. 
ö.  W 


549 


549 


427.895 


71.187 


499.082 


1,504.049 


Ausgezahltes  Krankengeld  in  fl. 

ö.  W.  per  Kopf I      3-01 


Gesammt  -  Versicherungsleistun- 
gen in  fl.  ö.  W.  (Kranken- 
geld, Kosten  für  Aerzte  und 
Krankencontrole,  Medicamente, 
Spitäler  und  Beerdigung)  .    . 


Gesammt- Versicherungsleistun- 
gen in  fl.  ö.  W.  per  Kopf  . 


Jjaufende  Cassenbeiträge  im 
Ganzen  (Arbeitgeber  U.Arbeit- 
nehmer zusammen) 

Laufende  Cassenbeiträge  in  fl.  ö. 
W,  per  Kopf 


2,684.504 


5-38 


3.496.108 


1.464 


1.459 


365.085 


166.145 


531.230 
2,201.543 


414 


3,773.872 


7-10 


4,042.179 


7-01 


7-61 


677 


673 


194.468 


59 


59 


201.263 


38.916!       69.553 


2.749 


233.384 


805004 


270.816 


2.740 


1,188.711 


345.801 


1,534.512 


1,633.517 


3-45 


603 


i  6,144.113 


(ira.  burch- 

schnitte) 

4-00 


1.325  394 


5-68 


1  644.325 


2,312.970i 


10,096.740 


8  54      i      6  58 


2,307.-.5O,ll. 489.862 


7-05       :      S-52^ 


7-49 


24 


Baernreither. 


Viele  dieser  Ziffern  sprechen  für  sich.  Dass  von  den  2749  Gassen  alle 
mit  Ausnahme  von  5  Betriebs-  und  4  Genossenschaftscassen  die  vorge- 
geschriebenen  Nachweisungen  für  das  Jahr  1890  geliefert  haben,  ist  eine 
günstige  Thatsache.  Man  wird  auf  die  Correctheit  dieser  Nachweisungen 
nicht  genug  Wert  legen  können  und  die  Mühe  nicht  scheuen  dürfen,  die 
Gassen  zu  belehren,  ihnen  nöthigenfalls  ihre  Berichte  zur  Verbesserung 
zurückzugeben  u.  s.  w.  Hier  fällt  hindernd  ins  Gewicht,  dass  das  ver- 
sicherungstechnische Amt  im  Ministerium  des  Innern  mit  den  Gassen  und 
ihren  Verbänden  nicht  direct  verkehrt,  sondern  auf  den  schwerfälligen  Weg 
durch  die  politischen  Behörden  angewiesen  ist.  In  einem  so  modernen 
Verwaltungszweig  sollte  man  sich  doch  auch  zu  modernen  Verwaltungs- 
formen entschliessen,  eine  unmittelbare  Verbindung  herstellen  und  eine 
unmittelbare  Gontrole  durch  fachmännische  Inspectoren  einrichten. 

Eine  durchgreifende  Verwaltung  thut  aber  hier  auch  deswegen  Noth, 
weil  die  schwache  Seite  der  Krankenversicherung  bei  uns  wie  in  Deutschland 
in  der  Eivalität  der  verschiedenen  Kategorien  von  Gassen  liegt.  Die  Tabelle 
zeigt,  dass  die  Vereinscassen  per  Kopf  gerechnet  gerade  das  Doppelte  leisten 
wie  die  Bezirkscassen;  dabei  entfallen  auf  die  ersteren  10*6  Krankentage 
durchschnittlich  auf  ein  Mitglied,  bei  den  andern  6*15  Tage.  Es  ist  das 
der  ziffermässige  Ausdruck  der  Thatsache,  dass  die  Vereinscassen,  weil  sie  sich 
aus  den  besser  bezahlten  Schichten  der  Arbeiter  recrutieren,  höheres  Kranken- 
geld zahlen  können  als  die  Bezirkscassen  und  dass  da  ihre  Mitglieder  im  Durch- 
schnitt gewiss  gesünder  sind  als  die  der  Bezirkscassen,  ihre  vi'el  zahlreicheren 
Krankentage  nicht  nur  auf  eine  leichtere  Gewährung  in  Krankheitsfällen 
sondern  auch  auf  eine  Erleichterung  der  Arbeitslosigkeit  in  dieser  Form 
schliesseu  lassen.  Wie  dem  aber  auch  immer  sei,  erblicken  wir  die  Aufgabe 
der  obersten  Verwaltung  nicht  etwa  darin  die  Vereinscassen  einzudämmen 
und  zu  hindern,  sondern  darin  die  Bezirkscassen  so  viel  als  möglich  zu  heben. 

Die  vorstehenden  Ausführungen  haben  uns  sehr  ins  Detail  geführt, 
aber  die  besprochenen  Fragen  begegnen  in  den  betheiligten  Kreisen  Interesse 
und  Kritik  und  sind  überdies  keineswegs  geklärt.  Sie  zeigen  aber  auch, 
wie  tief  diese  neuen  Zweige  unserer  Verwaltung  in  alle  Verhältnisse,  selbst 
in  die  verfassungsmässigen,  eingreifen.  Mit  grosser  Genauigkeit  erfolgt 
jedes  Jahr  die  Feststellung  des  Budgets.  Die  gesetzmässige  Einhebung  der 
indirecten  Steuern  wird  strenge  überwacht.  Jede  noch  so  geringfügige  Post 
der  directen  Abgaben  wird  eingestellt  und  begründet.  Bei  den  Prämien  der 
Arbeiterversicherung  haben  wir  es  mit  einer  neuartigen  Auflage  zu  thun, 
die  jedenfalls  der  Form  nach  den  Gharakter  einer  directen  Steuer  an  sich 
trägt,  und  doch  hat  das  Gesetz  nur  die  allgemeinen  Grundsätze  für  die 
Vertheilung  und  Einhebung  aufgestellt;  ob  aber  die  gesammte  Industrie  und 
Landwirtschaft  für  die  Unfalls  Versicherung  jährlich  1*4  Procent  der  Lohn- 
summe oder  nur  1*8  Procent  zu  zahlen  haben,  was  nahezu  eine  Differenz 
von  einer  Viertel-Million  ausmacht,  bestimmt  die  oberste  Verwaltungs- 
behörde mit  einem  modernen  „Beirathe".  Für  dieses  Verhältnis  besteht  bei 
uns   noch   keine   budgetäre   Analogie.     Hier   kann  nur  durch  das  Studium, 


Socialreform  in  0 esterreich.  25 

sachliche  Prüfung-,  Gutachten  der  betheiligten  Kreise  und  ihrer  Vertretungs- 
körper jene  wirksame  und  sachliche  Controle  hergestellt  werden,  die  noth- 
wendig  ist,  um  jeden  Verwaltungskörper  im  richtigen  Geleise    zu    erhalten. 

III. 

Werfen  wir  nun  einen  Blick  auf  die  Gesetzesvorlagen,  welche  wir 
eingangs  dieser  Zeilen  erwähnt  haben.  Sie  bedeuten  einen  wichtigen  Schritt, 
der  unfj  weit  über  das  hinausführt,  was  wir  bisher  in  der  neuen  Richtung  ge- 
leistet haben.  Durch  den  Gewerbeinspector  und  die  Vorschriften  über  den 
Arbeiterschutz  greift  der  Staat  unmittelbar  mit  seiner  Zwangsgewalt  in  das 
gewerbliche  Leben  ein,  bei  der  Arbeiterversicherung  schreibt  er  das  Ver- 
fahren genau  vor,  wenn  er  auch  die  Durchführung  Selbstverwaltungskörpern 
überlässt.  Der  Entwurf  über  Arbeiterausschüsse,  Genossenschaften  der 
Unternehmer  und  Arbeiter,  Einigungsämter  plant  dagegen  Vereinigungen 
von  Individuen,  Köperschaften,  durch  welche  zwei  verschiedene,  sich  bisher 
fremd,  manchmal  sogar  feindlich  gegenüberstehende  Gesellschaftsclassen 
miteinander  in  Berührung  gebracht  werden  sollen.  Zusammensetzung, 
Wahlmodus,  Wirkungskreis  u.  s.  w.  kann  für  diese  Institutionen  festgesetzt 
werden,  was  sie  aber  leisten  werden,  das  hängt  schliesslich  von  der 
Initiative,  der  Intelligenz,  dem  guten  Willen,  der  Einsicht  und  der  Dis- 
ciplin  der  betheiligten  Personen  ab.  In  dieser  Frage  kann  die  Gesetzgebung 
den  Boden  ebnen,  unmittelbar  gestalten  aber  nicht.  Dadurch  hebt  sich 
diese  legislative  Action  von  jeder  früheren  ab,  darin  liegt  ihre  Bedeutung, 
aber  zugleich  die  Schwierigkeit  ihrer  Durchführung.  Hier  spielt  das  tiefere 
Element  der  Socialpolitik,  der  Appell  an  das  Individuum,  die  moralische 
Einwirkung  die  Hauptrolle,  das  macht  das  Wesen  der  Gesetzentwürfe  aus, 
das  macht  sie  ganz  besonders  wert  reiflich  durchdacht  zu  werden  und  das 
verpflichtet  uns  alles  dranzusetzen,  für  die  legislativen  Gedanken  der  Vorlagen 
die  richtige  Form  zu  finden. 

Vorerst  gestatten  wir  uns  eine  kurze  Inhaltsangabe  zu  machen, 
beschränken  uns  aber  auf  den  einen,  die  fabriksmässigen  Betriebe  betreffenden 
Entwurf,  der  „die  Einführung  von  Einrichtungen  zur  Förderung  des  Einver- 
nehmens zwischen  den  Gewerbsunternehmern  und  ihren  Arbeitern"  zum 
Gegenstande  hat,  und  sehen  von  dem  Entwurf  „betreffend  die  Errichtung 
von  Genossenschaften  beim  Bergbau"  ab,  weil  vieles  was  wir  bezüglich  des 
ersteren  zu  sagen  haben,  auch  für  den  zweiten  gilt,  das  Detail  des  letztern 
uns  aber  zu  weit  führen  würde. 

Der  Entwurf,  von  dem  wir  sprechen,  zerfällt  in  drei  Abschnitte.  Der 
erste  handelt  von  Arbeiterausschüssen.  Sie  sollen  obligatorisch  in  allen 
fabriksmässigen  Betrieben  eingeführt  werden,  gehen  aus  der  Wahl  sämmt- 
licher  21  Jahre  alter  Arbeiter  des  betreffenden  Unternehmens  hervor,  die 
der  Unternehmer  oder  falls  dieser  seiner  Pflicht  nicht  nachkommt,  die 
Gewerbebehörde  leitet.  Der  gesetzliche  Wirkungskreis  des  Arbeiterausschusses 
besteht  darin,  „die  Wünsche  und  Beschwerden  der  Arbeiterschaft 
oder  eines  T  heiles  derselben  in  Beziehung   auf  den   Loh  nv  er  trag  und 


26  Baemreither. 

die  sonstigen  Arbeitsbedingungen  vorzutragen,    sowie  die  Beilegung  von  in 
dieser  Hinsicht  vorhandenen  Meinungsverschiedenheiten  anzubahnen." 

In  dem  Statut,  das  der  ünternehnier  zu  verfassen  hat,  können  dem 
Arbeiterausschusse  aber  auch  noch  andere  Aufgaben  übertragen  werden,  „ins- 
besondere eine  Mitwirkung  bei  der  Verwaltung  der  bei  dem  betreffenden 
Unternehmen  bestehenden  Wohlfahrtseinrichtungen,  sowie  bei  der 
üeberwachung  der  Befolgung  der  Arbeitsordnung  und  der  für  die 
Gesundheit  und  Sicherheit  der  Arbeiter  erlassenen  Vorschriften  und  An- 
ordnungen. Es  kann  femer  bestimmt  werden,  dass  der  Arbeiterausschuss  vor 
Verhängung  von  Conventionalstrafen  um   sein   Gutachten  zu   befragen  isf 

Der  zweite  Theil  der  Vorlage  handelt  von  der  genossenschaftlichen 
Organisation  der  fabriksmässigen  Betriebe.  Es  soll  dem  Handelsminister 
anheim  gestellt  sein,  sie  dort  einzuführen  wo  er  mit  Eücksicht  auf  die 
Anhäufung  gleicher  oder  gleichartiger  Betriebe  einen  geeigneten  Boden  für 
diese  Genossenschaften  voraussetzt.  Sie  werden  für  die  Arbeiter  und  Unter- 
nehmer getrennt  errichtet,  aber  bezüglich  der  beiden  Genossenschaftsver- 
sammlungen besteht  ein  Unterschied,  indem  die  Vollversammlung  der  Unter- 
nehmer aus  allen  Individuen,  die  der  Arbeiter  nur  aus  Delegierten  besteht, 
die  von  den  Arbeiterausschüssen  gewählt  werden.  Als  Zweck  dieser  Genossen- 
schaften wird  im  Gesetze  bezeichnet:  „im  Kahmen  der  bestehenden  Gesetze 
die  wirtschaftlichen  Interessen  ihrer  Mitglieder,  soweit  sie  mit  dem  Gegen- 
stande ihrer  gewerblichen  Thätigkeit  in  Zusammenhang  stehen,  zu  erörtern, 
einschlägige  Wünsche  und  Beschwerden  in  Berathung  zu  ziehen  und  hiebei 
über  ihre  Haltung  zu  den  in  den  betreffenden  Fragen  von  der  anderen 
Genosschenschaft  gefassten  Beschlüssen  sich  zu  entscheiden." 

Die  Genossenschaftsversammlung  wählt  die  Vorstehung,  an  deren  Spitze 
der  Genossen  Schaftsvorsteher  tritt,  dessen  Wahl  jedoch  der  Bestätigung 
vt)n  Seite  der  Gewerbebehörde  unterliegt.  Die  Genossenschaften  stehen  unter 
Aufsicht  von  besonderen  Commissären,  sie  können  wenn  sie  rechts-  oder 
gesetzwidrig  vorgehen,  wenn  sie  ihren  W^irkungskreis  überschreiten  oder 
überhaupt  „den  Bedingungen  ihres  rechtlichen  Bestandes  nicht  mehr  ent- 
sprechen," aufgelöst  werden.  Die  Kosten  sollen  durch  freiwillige  Beiträge  der 
Handelskammern  und  der  Gemeinde,  endlich  durch  Umlage  gedeckt  werden. 

Der  dritte  Abschnitt  des  Entwurfes  handelt  von  den  Einigungsämtern. 
Der  Handelsminister  kann  sie  dort  wo  Genossenschaften,  auf  welche  sie 
aufgebaut  werden  sollen,  bestehen,  durch  Verordnung  errichten.  Sie  sind 
„zur  Herbeiführung  eines  gütlichen  Uebereinkommens  zwischen  den  Gewerbs- 
unternehmern und  Arbeitern,  über  die  Bedingungen  der  Fortsetzung  oder 
Wiederaufnahme  des  Arbeitsverhältnisses  bestimmt  und  haben  insbesondere 
die  Aufgabe,  vermittelnd  einzugreifen,  wenn  über  die  aus  dem  Arbeits- 
vertrage entspringenden  Rechte  und  Verpflichtungen  oder  über  die  Ab- 
änderung des  Arbeitsvertrages  Meinungsverschiedenheiten  zwischen  Unter- 
nehmern und  Arbeitern  entstanden  sind  oder  zu  entstehen  drohen." 

Das  Einigungsamt  besteht  aus  einer  gleichen  Zahl  von  aus  den  Genossen- 
schaften   gewählten    Unternehmern    und    Arbeitern    (3 — 5),    welche    einen 


Socialrelorin  in  üesterreicli.  27 

Obmann  und  Stellvertreter  wählen,  die  jedoch  von  der  politischen  Landes- 
behörde ernannt  werden,  wenn  die  Wahl  nicht  zustande  kommt.  Die  Ver- 
handlungen vor  dem  Einigungsamte  sind  mündlich  und  finden  unter  Zuziehung 
von  Vertrauensmännern  beider  Parteien  statt.  Kommt  eine  Einigung  zu- 
stande, wird  der  Inhalt  derselben  veröffentlicht,  kommt  sie  nicht  zustande 
so  hat  das  Einigungsamt  einen  Schiedsspruch  zu  fällen  und  den  Parteien 
mit  der  ilufforderung  bekannt  zu  geben,  sich  binnen  einer  Frist  zu  äussern, 
ob  sie  sich  demselben  unterwerfen  wollen  oder  nicht.  Das  Eesultat,  wenn 
es  auch  ein  negatives   ist.  wird  veröffentlicht. 

Wir  stehen  vor  einer  sehr  schwierigen  Aufgabe,  denn  wir  werden 
aufgefordert,  den  umgekehrten  Weg  einzuschlagen,  welchen  die  social- 
reformatorische  Gesetzgebung  unserer  westlichen  Nachbarn,  insbesondere 
Englands,  das  dem  Continent  in  der  Entwickelung  der  grossen  Industrie  und 
in  der  Entwickelung  der  Gesetzgebung  auf  diesem  Gebiete  so  weit  voraus 
ist,  gegangen  ist.  Dort  ringen  sich  neue  Gedanken  in  der  öffentlichen 
Discussion,  frei  aus  dem  Bedürfnisse  geboren,  zu  einer  gwissen  Geltung 
empor,  praktische  Ansätze  für  neue  Institutionen  sind  lange-  vorhanden  und 
Erfahrungen  sind  gesammelt,  bevor  man  daran  geht,  eine  gesetzliche  Form 
zu  suchen.  Wenn  wir  aber  heute  in  Oesterreich  von  Arbeiterausschüssen, 
Unternehmer-  und  Arbeitergenosschaften  und  Einigungsämtern  reden,  so 
haben  wir  es  —  abgesehen  von  den  schüchternen  Versuchen,  welche  etwa 
ein  Dutzend  Unternehmer  mit  Arbeiterausschüssen  gemacht  haben  —  mit 
Abstractionen  fremdländischer  Einrichtungen  zu  thun,  die  in  ein  Polizei- 
gewand gesteckt  und  bei  uns  angewendet  werden  sollen;  mit  anderen 
Worten:  Dieser  Gesetzentwurf  enthält  nicht  den  in  eine  Form  gebrachten 
Niederschlag  des  Lebens,  sondern  er  ist  ein  Programm,  welches  man  damit 
rechtfertigt,  dass  man  sagt:  in  einem  Lande,  wo  in  unserer  drängenden 
Zeit  gewisse  sociale  Bedürfnisse  nicht  aus  eigenem  Antriebe  der  Be- 
theiligten   geschaffen   werden,   muss    die  Gesetzgebung  den  Impuls  geben. 

Wir  wollen  den  Wert  eines  solchen  Impulses  nicht  herabsetzen,  denn 
er  entspringt  einem  .  edlen  Willen  gegenüber  den  um  Lohn  arbeitenden 
Classen;  er  muss  aber  durch  eine  objective  Betrachtung  der  Dinge,  wie  sie 
sich  auf  gewerblichem  Gebiete  bei  uns  herausgebildet  haben,  sowie 
durch  eine  genaue  Prüfung  der  Voraussetzungen  für  die  neuen  gesetz- 
geberischen Acte  geleitet  werden.  Erst  dann  werden  wir  wissen,  wie  weit 
w^ir  gehen  dürfen,  was  wir  heute  in  Angriff  nehmen  können  und  was  wir 
erst  an  Vorarbeiten  zu  leisten  haben.  „Le  bien  et  le  mal,  la  verite 
et  Terreur  dependent  du  degre  de  sagesse  ou  d'exageration  qu'on  donne 
aux  idees." 

Von  der  Kunst  diesen  Satz  anzuwenden,  wird  es  abhängen,  ob  aus 
dem  Gesetzentwurfe  ein  wirksames  Gesetz  werden  wird.  Der  Arbeiter  soll 
dazu  herangezogen  w^erden  Einsicht  in  das  grosse  Getriebe  wirtschaftlicher 
Interessen  zu  erlangen  und  etwas  praktisches  zu  leisten,  dem  Unternehmer 
sollen  die  Pflichten  zum  Bewusstsein  gebracht  werden,  die  der  Ausfluss 
seiner   ökonomischen  Stellung    sind,    beide    sollen  Erfahrungen  austauschen 


2  g  Baemreither. 

Über  die  Schwierigkeiten  ihrer  Lage  und  beide  sollen  dadurch  ein  billiges 
Maass  finden  für  Forderung  und  Gewährung. 

Mit  Arbeiterausschüssen  hat  man  in  Deutschland  nicht  unbedeutende 
Anfänge  gemacht  und  auch  einige  Firmen  in  OesteiTeich  haben  sie  ver- 
suchsweise eingeführt,  in  av eichen  Formen  und  mit  welchem  Erfolge.  w4rd 
die  Enquete  erweisen,  welche  über  den  Gesetzentwurf  vom  Gewerbe- 
Ausschüsse  des  Abgeordnetenhauses  veranstaltet  werden  wird.  Wir  wollen 
also  vorläufig  nur  einige  Aeusserungen  hervorragender  Corporationen  und 
Vereine  erwähnen  und  einige  Bemerkungen  daran  knüpfen. 

Im  allgemeinen  kann  man  wohl  sagen,  dass  die  Idee  der  Arbeiter- 
Ausschüsse  in  Oesterreich  bei  vielen  Unternehmern  Verständnis  und  Zu- 
stimmung findet,  wenn  wir  auch  nicht  in  allen  Fällen  sicher  sind,  ob 
dieses  Verhalten  nicht  blos  ein  platonisches  ist.  Der  Schwerpunkt  der 
Discussion  in  den  Kreisen  der  Unternehmer  liegt  bis  jetzt  in  der  Frage, 
ob  diese  Ausschüsse  obligatorisch  für  alle  fabriksmässigen  Betriebe  ein- 
geführt werden  sollen,  wie  die  Gesetzesvorlage  will,  oder  ob  die  Ein- 
richtung nur  facultativ  bestehen  und  es  von  dem  ♦  guten  Willen  des 
Unternehmers  abhängen  soll,  es  mit  derselben  zu  versuchen  oder  nicht. 

Eine  Ausarbeitung  des  industriellen  Clubs,  welcher  einen  Entwurf 
für  einen  Arbeiterausschuss  verfasst  hat,  bezeichnet  diesen  Ausschuss  ganz 
richtig  als  ein  Vermittlungsorgan  zwischen  Arbeitern  und  Unternehmer. 

„Da  der  Arbeiterausschuss  aus  Vertrauenspersonen  der  Arbeiter  be- 
steht, welche  im  Wege  freier  Wahl  zu  dieser  Stelle  berufen  werden,  so 
ist  er  ihre  anerkannte  Vertretung  und  deshalb  besonders  geeignet,  den 
Wünschen  und  etwaigen  Beschwerden  der  Arbeiterschaft  des  einzelnen 
Etablissements  in  passender  Form  Ausdruck  zu  leihen.  Umgekehrt  über- 
nimmt jedes  Auschussmitglied  die  Verantwortlichkeit,  auf  die  Arbeiter- 
schaft im  Sinne  der  Mässigung  und  Aufklärung  einzuwirken.  Es  wird  damit 
jener  regellose  Zustand  beseitigt,  welchen  Worthelden  benützen,  um  die 
Arbeiter  irre  zu  leiten.  Es  wird  nicht  vorkommen  können,  dass  Eädels- 
führer  ohne  Mandat  und  ohne  die  geringste  Verantwortlichkeit  und  Ver- 
bindlichkeit, in  der  Menge  stehend,  rufen:  „Wir  fordern  im  Namen  der 
Arbeiter  dies  und  jenes."  Kurz,  es  wird  ein  Organ  bestehen,  welches,  in 
ruhigen  Tagen  geschaffen,  gerade  in  stürmischen  Zeiten  sich  bewähren  soll. 
Unbedeutende  Anlässe  und  kleine  Zwiste,  welche  früher  zu  erbitterten 
Kämpfen  und  Ausständen  führten,  können  dann  im  Ausschusse  freimüthig 
besprochen  und  in  vielen  Fällen  in  kürzester  Zeit  zur  Befriedigung  beider 
Theile  gelöst  werden.  Die  eigene  positive  Thätigkeit  der  Arbeiter  im  Aus- 
schusse  wird  ihre  erziehliche  Wirkung  äussern,  sie  besonnener,  erfahrener 
und  dadurch  den  auswärtigen  Einflüssen  unzugänglicher  machen.  Es  wird 
ferner  ein  Sicherheitsventil  gegen  Geheimthuerei  geschaffen;  unklare 
Meinungen  und  irrige  Ansichten  werden  durch  Kede  und  Gegenrede  im 
Ausschusse  besser  geklärt  werden  als  dies  heute  möglich  ist,  es  wäre  denn, 
dass  man  den  Arbeiter  in  der  Schenke  aufsucht,  um  ihn  zu  widerlegen. 
Aber  der  Ausschuss  kann  auch  zu  einem   sehr  nützlichen  Verwaltungsorgan 


Socialreform  in  Oesterreicli.  29 

herangebildet  werden  in  allen  Angelegenheiten,  zu  denen  die  heutige  Social- 
gesetzgebung  den  Unternehmer  verpflichtet  und  welche  er  etwa  ans  freien 
Stücken  für  seine  Arbeiter  einrichtet.  Eine  Eeihe  von  Thätigkeiten  können 
sie  besser  verwalten  als  es  von  der  Fabriksleitung  geschehen  kann,  weil 
eben  die  Arbeiter  unter  sich  nicht  nur  innerhalb,  sondern  auch  ausserhalb 
der  Fabrik  in  steter  Berührung  sind,  gegenseitig  ihre  Lebensverhältnisse 
sehr  genau  kennen  und  dadurch  in  vielen  Fällen  ein  richtigeres  Urtheil 
haben,  als  der  fernstehende  Betriebsbeamte.  Die  Einrichtung  erspart  dem 
Unternehmer  dadurch  viel  Aerger  und  Zuträgerei  und  überhebt  ihn  oft  der 
Mühe  langer  Untersuchungen." 

Mit  grosser  Entschiedenheit  tritt  aber  der  industrielle  Club  dafür  ein, 
dass  die  Arbeiterausschüsse  aus  der  freien  Entschliessung  der  Unternehmer  ins 
Leben  gerufen  werden  müssen,  weil  in  der  obligatorischen  Einführung  ein 
Misstrauen  gegen  die  Unternehmer  liege,  das  sich  auf  die  Arbeiter  über- 
tragen werde  und  in  die  Ausschüsse  von  vornherein  Kampf  und  Wider- 
spruchsgeist hineintragen  würde,  ohne  die  radicalen  Socialisten  zu  be- 
friedigen; während  die  freiwillige  Einführung  von  der  Arbeiterschaft  aner- 
kannt und  mit  Dank  aufgenommen  würde  und  durch  dieselbe  die  noth- 
wendige  Autorität  und  das  Vertrauen  zu  dem  Fabriksherrn  keinen  Abbruch 
oder  Stoss  erleiden  und  auch  jene  künstliche  Spannung  vermieden  würde, 
welche  häufig  die  Folge  zwangsweise  eingeführter  Erleichterungen  ist. 

Wir  haben  diese  Aeusserung  eines  bedeutenden  Vereines  für  viele 
citiert.  Im  gleichen  Sinne  hat  sich  der  Verband  der  Baumwollindustriellen 
OesteiTcichs ,  der  Verein  der  Ascher  Textilindustriellen,  die  Baumwoll- 
industriellen Vorarlbergs  u.  s.  w.  ausgesprochen.  Auch  im  niederösten*ei- 
chischen  Gewerbe  vereine  hat  eine  eingehende  Discussion  dieser  Frage  statt- 
gefunden. Die  überwiegende  Majorität  sprach  sich  für  die  facultative  Form 
aus,  und  es  wurde  insbesondere  betont,  und  ausgeführt,  dass  in  kleineren 
Betrieben  und  in  patriarchalischen  Verhältnissen  kein  Boden  für  die  Ein- 
richtung von  Arbeiterausschüssen  bestehe,  dass  auch  bei  der  obligatorischen 
Einführung  der  Erfolg  nur  vom  guten  Willen  des  Unternehmers  abhänge, 
dass  der  Druck  einer  imperativen  Gesetzgebung  nicht  nothwendig  sei,  um 
die  Institution  ins  Leben  zu  rufen,  sondern  dass  die  Unternehmer  dem 
moralischen  Drucke  folgen  und  freiwillig  vorgehen  werden. 

Aber  wir  wollen  auch  das  Votum  eines  anderen  Interessentenkreises 
—  des  Vereines  der  Schafwollindustriellen  in  Brunn  —  anführen,  weil  es 
von  einem  anderen,  wie  uns  dünkt,  unbefangeneren  und  freieren  Geiste  ein- 
gegeben ist.  Es  zeigt,  wie  wenig  die  Industriellen  von  der  Lösung  dieser 
Frage  zu  fürchten,  wie  viel  sie  in  ihrem  richtig  verstandenen  Interesse  von 
ihr  zu  hoffen  haben. 

„Für  den  Grossunternehmer  ist  es  von  hohem  W^erte,  einen  neutralen 
Boden  zu  gewinnen,  auf  dem  er  mit  den  Arbeitern  und  ihren  berufenen 
Vertretern  in  besonnenen  sachlichen  und  fachlichen  Meinungsaustausch 
über  gemeinsame  Angelegenheiten  treten  kann.  Die  patriarchalischen  Ver- 
hältnisse früherer  Zeiten  haben  zum  mindesten  in  den  Industriecentren  zu 


30  Baerareither. 

bestehen  aufgehört,  der  Familiencharakter  des  Arbeitsverhältnisses  ist  fast 
überall  verschwunden,  das  Gefühl  des  Classen-  und  Interessengegensatzes 
ist  durch  den  eigenartigen  Charakter  des  Grossbetriebes  und  durch  die 
Einwirkung  der  socialdemokratischen  Bewegung  immer  mehr  gewachsen,  so 
dass  der  Arbeiter  und  Arbeitgeber  in  ihrem  Verkehre  immer  mehr  einander 
entfremdet  wurden.  Die  Folgeerscheinungen  dieser  Thatsachen  machen  sich 
in  bedauerlicher  Weise  geltend.  Bei  Streitfällen,  welche  bei  ruhiger  Aus- 
einandersetzung leicht  zu  beseitigen  wären,  entsteht  sofort  ein  schroffer 
Gegensatz,  dessen  Ausgleichung  in  der  Fabrik  nicht  einmal  versucht  wird, 
sondern  der,  sofort  nach  aussen  gelangend,  zu  Verwickelungen  führt,  deren 
kleinlicher  Anlass  zumeist  ganz  unbegreiflich  ist.  Der  Zündstoff  theilt  sich 
mit.  und  die  geringfügige  Angelegenheit  einer  einzelnen  Gewerbsunterneh- 
mung wird  oft  der  Anlass,  der  Arbeiter  und  Arbeitgeber  ganzer  Industrien 
in  die  Kampfesstellung  führt.  Anregungen  und  Anstände,  Wün- 
sche. Beschwerden  und  Streitfälle,  welche  auf  ein  einzelnes 
Etablissement  sich  beziehen,  dürften  wohl  am  raschesten  und  wirksamsten 
beseitigt  oder  vermieden  werden,  wenn  in  der  Unternehmung  ein  Vertretungs- 
körper besteht,  welcher  in  gemessenen  Zeiträumen  und  im  Falle  des  Bedarfes 
Arbeitgeber  und  Arbeiter  zu  gemeinsamer  Berathung  vereinigt.  Der  Arbeiter 
•gewinnt  Interesse  an  dem  individuellen  Leben  der  Unternehmung,  in  welcher  er 
arbeitet,  wenn  er  an  ihren  Schicksalen  in  Fragen  Antheil  nehmen  kann, 
welche  sein  Arbeitsverhältnis  betreffen ;  Verwickelungen  können  verhütet. 
Gegensätze  ausgeglichen  werden,  wenn  jenes  gegenseitige  Vertrauen,  jene 
Achtung  und  Einsicht  wachgerufen  wird,  welche  die  Interessensolida- 
rität des  Unternehmens  und  der  Arbeiter  fordert.  Kennt  der 
Arbeiter  die  Lebensbedingungen  seiner  Fabrik,  so  dürfte  ihm  auch  nicht  so 
leicht  einfallen.  Forderungen  zu  erheben,  welche  der  Unternehmer  nicht  er- 
füllen kann.  Die  Theilnahme  der  Arbeiter  an  der  Controle  der  Einhaltung  der 
Arbeitsordnung,  die  Theilnahme  an  der  Verhängung  der  Ordnungsstrafen, 
die  Berathung  über  die  Fragen  des  individuellen  Arbeitsverhältnisses  in  der 
einzelnen  Fabrik  braucht  der  Fabrikant,  der  seine  Pflichten  kennt  und  erfüllt, 
nicht  zu  fürchten.  Die  Disciplin  wird  nicht  gelockert,  sondern 
auf  eine  höhere  moralische  Grundlage  gestellt,  welche  die 
beste  Bürgschaft  dafür  ist,  dass  die  Arbeiter  an  eine  besonnene  sachliche 
Prüfung  ihrer  Verhältnisse  gewöhnt  und  von  den  utopischen  Forderungen 
der  Parteiprogramme  entfernt  werden.  Entwickeln  sich  die  Arbeiter- 
ausschüsse in  entsprechender  Weise,  so  kann  ihr  Arbeitsgebiet,  das  anfangs 
nicht  allzuweit  geöffnet  werden  darf,  in  der  Folgezeit  erweitert  werden. 
Unser  Verein  billigt  somit  diese  Einrichtung  und  anerkennt  auch 
dieNoth  wendigkeit  des  obligatorischen  Charakters  dies  er 
Organisation,  da  die  Vorbedingung  eines  allgemeinen  guten  Einverneh- 
mens der  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  eines  Industriecentrums  die  Kechts- 
gleichheit  der  Arbeiter  in  den  Unternehmungen  derselben  Branche  ist.  Nur 
verbitternd  könnte  es  wirken,  wenn  unberechtigtes  Misstrauen  oder  persön- 
liche Voreingenommenheit   einen  Betriebsbesitzer   veranlassen   würde,    dem 


Socialreform  in  Oesterreicli.  31 

Beispiele  einer  Anzahl  Collegen ,  welche  Arbeiterausschüsse  einrichten 
würden,  nicht  zu  folgen.  Ein  derartiges  Unternehmen,  wo  die  Arbeiter  nicht 
derselben  Berechtigungen  sich  erfreuen,  wie  die  Arbeiter  anderer  Unterneh- 
mungen, wo  auch  ein  etwaiger  Widerstreit  nicht  durch  Arbeiter- Ausschüsse 
zum  Austrage  gebracht  werden  kann,  könnte  leicht  der  Ausgangspunkt  für 
Verwickelungen  werden,  welche  bei  dem  Solidaritätsgefühl  der  Arbeiter  in 
ihrem  Wellenschlage  immer  weitere  Kreise  beeinflussen  würden,  trotzdem 
für  diese  selbst  der  individuelle  und  unmittelbare  Anlass  zu  einem  Wider- 
streite fehlt.  Wenn  wir  daher  dem  obligatorischen  Charakter  der  Einrichtung 
im  Interesse  ihrer  gedeihlichen  Wirksamkeit  das  Wort  reden,  da  auch  nur 
auf  diesem  Wege  eine  gewisse  Gruppe  von  Arbeitgebern  zur  Einführung 
vermocht  werden  kann,  so  müssen  wir  doch  darauf  hinweisen,  dass  zur 
Einfuhrung  der  Arbeiterausschüsse  in  den  Etablissements  ein  nicht  allzu 
ängstlich  bemessener  zeitlicher  Spielraum  gegeben  werden 
möge,  da  die  Besonderheit  der  einzelnen  Unternehmungen  unter  Umständen 
nicht  zulassen  kann,  sofort  nach  dem  etwaigen  Inkrafttreten  des  Gesetzes 
mit  dessen  Durchführung  zu  beginnen." 

In  der  Enquete  werden  wir  auch  die  Arbeiter  zu  hören  bekommen, 
aber  die  Argumentation  wird  sich  wohl  immer  um  dieselben  Punkte  drehen. 
Die  gesetzgebenden  Factoren  werden  eine  schwierige  Entscheidung  haben. 
Es  hiesse  der  Enquete  vorgreifen,  wollten  wir  andeuten,  wie  sich  die  Sachen 
möglicher  Weise  gestalten  werden.  Soviel  ist  aber  gewiss,  dass  es  sich  in 
letzter  Linie  darum  handelt,  ob  die  Unternehmer  einsehen  wollen,  dass  sie 
sich,  bezüglich  gewisser  die  Arbeitsverhältnisse  in  ihren  Betrieben  betrefiFenden 
Fragen  zu  einer  Theilung  der  Gewalten  entschliessen  müssen,  gerade  so  wie 
einst  die  absoluten  Monarchen  zur  Ertheilung  von  Constitutionen. 

Will  man  das  Lohnsystem  in  seiner  autokratischen  Schroifheit  aufrecht 
erhalten,  so  treibt  man  die  ganze  Arbeiterschaft  nach  und  nach  in  das 
Lager  der  doctrinären  utopistischen  Socialdemokratie.  Bietet  man  aber  die 
Hand  zu  Modificationen,  zu  einer  Milderung,  zu  einer  Fortbildung  des  Lohn- 
systemes,  so  werden  an  die  Stelle  von  Umsturzideen  Entwickelungsideen 
treten. 

Für  die  Gesetzgebung  liegt  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  obligato- 
rische oder  facultative  Arbeiterausschüsse,  demnach  nicht  in  den  äusseren 
Argumenten.  Dass  diese  Ausschüsse  in  geeigneter  Form  ein  geeig- 
netes Mittel  sind,  das  Lohnsystem  zu  mildern,  wird  allgemein  anerkannt. 
Ohne  den  guten  Willen  beider  Theile  —  am  Anfang  aber  besonders  der 
Unternehmer  —  ist  der  Gedanke  nicht  durchführbar.  Die  Gesetzgebung  wird 
also  für  jene  Form  sich  entscheiden,  durch  welche  sie  den  Sieg  des  guten 
Willens  sicherer  herbeiführen  kann. 

Der  zweite  Theil  des  Entwurfes,  welcher  die  Genossenschaften  der 
Arbeiter  und  Unternehmer  zum  Gegenstande  hat.  findet  bis  jetzt  weit  weniger 
Verständnis  als  die  Arbeiterausschüsse  und  doch  handelt  es  sich  hier  um 
eines  der  wichtigsten  und  schwierigsten  Probleme  unserer  Zeit,  um  die 
Frage  nämlich:  wie  es  der  grossen  Masse  der  Lohnarbeiter  zu  ermöglichen 


32  Baemreither. 

und  zu  erleichtern  wäre,  sich  herufsmässig  aneinander  zu  scliliessen,  dadurch 
ihre  Interessen  zu  verstärken  und  ihre  Selbsterziehung  zu  befördern.  Wir 
reden  hier  nur  von  den  Arbeitergenossenschaften,  denn  wo  diese  sich  stark 
und  lebenskräftig  entwickeln,  folgen  die  Organisationen  der  Unternehmer 
von  selbst  nach. 

Man  sollte  nun  glauben,  dass  man  das  eigentliche  Object  der  Gesetzes- 
vorlage, den  Lohnarbeiter,  kennt,  und  dass  man  seine  Lage  untersucht  hat. 
Leider  müssen  wir  aber  eingestehen,  dass  wir  über  das  Leben,  das  Ein- 
kommen, die  Arbeits-  und  Wohnungsverhältnisse,  die  Anschauungen,  die 
politischen  und  socialen  Gesinnungen  des  österreichischen  Arbeiters  nur 
lückenhaft  unterrichtet  sind.  Den  verschiedenen  Gestaltungen,  in  denen 
sich  das  Leben  der  Arbeiter  bewegt,  den  Vereinen  und  Versammlungen, 
der  Arbeitei-presse.  den  Congressen  wird  in  Oesterreich  noch  sehr  wenig 
Autmerksamkeit  geschenkt.  Sie  schliessen  eine  Welt  von  Ansichten,  Be- 
strebungen und  Wünschen  ein,  die  sich  täglich  erweitert,  aber  unsere 
officielle  Statistik  reicht  nicht  bis  dahin,  unsere  Verwaltung  ist  in  keiner 
andern  Verbindung  mit  dieser  Welt,  als  durch  den  Polizeicommissär,  unsere 
grosse  politische  Presse  wirft  nur  hie  und  da  einen  Seitenblick  dahin  und 
auch  unsere  politischen  Parteien  haben  keinen  Contact  mit  ihr.  Nur  im 
allgemeinen  können  wir  sagen,  dass  sich  die  Beziehungen  zwischen  Unter- 
nehmern und  Arbeitern  bei  uns  entschieden  verschlechtert  haben,  dass 
die  socialdemokratische  Agitation  ausserordentlich  an  Boden  gewonnen  hat, 
dass  die  socialdemokratische  Idee  immer  weiter  durchsickert  und  dass  die 
patriarchalischen  Zustände,  die  in  manchen  Gegenden  noch  herrschen,  im 
Schwinden  begriffen  sind.  Die  alten  Formen  sind  aufgelöst  oder  in  Auflösung 
begriffen,  eine  neue  Form  ist  nicht  gefunden,  denn  die  Agitation  allein  kann 
keine  gesellschaftliche  Organisation  schaffen  und  wir  dürfen  uns  nicht 
wundern,  von  verschiedenen  Seiten  zu  hören,  die  Arbeiter  seien  ohne  morali- 
schen Halt,  die  Familienbande  seien  gelockert,  die  Ansprüche  maasslos,  das 
Pflichtgefühl  gering. 

Zwei  Thatsachen  kann  man  aber  nicht  genug  hervorheben,  die  Zunahme 
des  Classenbewusstseins  in  unseren  Arbeiterkreisen  und  die  Wirkung  der 
modernen  Schulbildung  auf  dieselben.  Dort  wo  die  Industrie  dichter  ange- 
siedelt ist,  wo  der  Verkehr,  die  Presse,  bessere  Löhne  den  Arbeiterstand 
freier  gestellt  haben,  da  haben  wir  ihn  als  compacte  Masse  vor  uns.  erfüllt 
von  gleichen  Ideen  und  Bestrebungen,  dort  sucht  er  durch  die  Solidarität 
der  Genossen  die  Berufsunterschiede  zu  vernichten,  das  Classeninteresse 
zum  dominierenden  zu  machen  und  die  heutige  Arbeitergeneration  unter- 
schiedslos für  dieses  Interesse  zu  erziehen.  Das  ist  bereits  im  grossen 
Umfang  gelungen  und  nichts  trägt  zur  Verbreitung  des  Classenbewusstseins 
mehr  bei,  als  jener  höhere  Grad  von  Kenntnissen  und  Intelligenz,  der  in 
der  modernen  Volksschule  erworben  wird  und  der  den  Arbeitern  die  Mittel 
in  die  Hand  gibt,  sich  in  ihrer  Weise  fortzubilden. 

Aus  keiner  modernen  Institution  hat  unser  Arbeiterstand  einen 
grösseren  Nutzen  gezogen,  als  aus  der  heutigen  Volksschule.     Die  Männer 


Soclalreform  in  Oesterreich.  33 

der  neuen  und  alten  Schule  kennt  man  sofort  auseinander.  Keine  Schichte 
der  Bevölkerung  benützt  die  Bildungsmittel  der  neuen  Schule  so  consequent 
und  energisch  um  Kenntnisse  zu  erwerben  und  sich  Vorstellungen  von  dem 
wirtschaftlichen  Leben  und  vom  Staatswesen  zu  machen.  Es  ist  dies  ein 
idealer  und  zugleich  praktischer  Zug,  denn  er  ist  verbunden  mit  dem  Glauben 
an  die  Macht  des  Wissens  und  er  entspricht  dem,  wenn  auch  dunklen  Ge- 
fühle, dass  die  Zukunft  eine  andere  sein  wird  und  dass  Schulung  und  Kennt- 
nisse diese  Zukunft  näher  bringen.  Beide  Elemente,  das  Classenbewusst- 
sein  und  der  Trieb  nach  Erweiterung  von  Kenntnissen  treffen  zusammen, 
verstärken  sich,  bilden  eine  Macht.  Sie  ist-  der  Factor  mit  dem  die  Social- 
politik  vor  allem  rechnen  und  zu  dem  der  Staat  mit  seiner  Gesetzgebung 
und  Verwaltung  Stellung  nehmen  muss.  Das  ist  bis  heute  nicht  der  Fall. 
Wir  wollen  die  Planlosigkeit,  die  darin  herrscht  an  einem  Beispiel,  der 
Behandlung  des  Vereinswesens  zeigen.  Regierungsvorlagen,  die  den  Arbeiter 
in  Ausschüssen,  Genossenschaften,  Einigungsämtern  thätig  sehen  wollen,  wo 
er  Kenntnisse  braucht,  Urtheilsfähigkeit,  Haltung  und  Disciplin  beweisen  soll, 
auf  der  einen  Seite  —  sinnlose  Repression  seiner  intellectuellen  Bestrebungen 
auf  der  andern  Seite.  Die  Vereinsgesetze  vom  Jahre  1852  und  1867  sind  sehr 
prekäre  Eechtsformen  für  das  moderne  Vereinsleben,  aber  ihre  Handhabung 
fällt  noch  schwerer  ins  Gewicht  als  der  Inhalt.  Tief  in  die  Seele  der 
heutigen  Menschen  ist  die  Idee  der  Gleichheit  vor  dem  Gesetze  eingegraben. 
Ueber  mangelhafte  Gesetze  tröstet  man  sich  am  Ende,  aber  die  willkürliche 
Handhabung  erbittert.  Nichts  wirkt  aufregender,  als  wenn  in  einem  Theile 
des  Staates  etwas  erlaubt  ist,  was  in  einem  andern  verboten  ist,  wenn  ein 
Bezirkshauptmann  etwas  verhindert,  was  ein  anderer  geschehen  lässt,  wenn 
ein  und  dasselbe  Vereinsstatut  hier  genehmigt,  dort  als  unzulässig  erklärt 
wird  und  wenn  gegen  diese  Ungleichheiten  —  die  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  überall  vorkommen  —  eine  oberste  Instanz  nicht  rasch  uud  im  Sinne 
der  Gleichheit  vor  dem  Gesetz    einschreitet. 

Wenn  man  hört,  wie  Vereinsversammlungen  grundlos  aufgelöst,  Fest- 
reden verboten,  das  Vorlesen  von  Telegrammen  und  Begrüssungsschreiben 
verhindert,  Lieder  aus  den  Programmen  von  geselligen  Unterhaltungen  aus- 
gemerzt, Zeitungsartikel  wahllos  confisciert  werden;  wenn  man  diesen  ganz 
kleinlichen  Krieg  der  Polizeiorgane  gegen  die  Arbeitervereine,  dann  aber 
auch  wieder  die  unsichere  Haltung  dieser  Organe  in  einer  grösseren  Ver- 
sammlung mitansieht,  wird  man  an  die  vormärzlichen  Künste  der  Polizei 
erinnert,  die  so  unwirksam  waren  und  unser  Vaterland  so  lächerlich  gemacht 
haben.  Freilich  handelt  es  sich  hier  um  eine  verfehlte  Politik  nicht  nur 
gegen  die  Arbeiterkreise,  sondern  in  einem  viel  weiteren  Umfang;  denn 
dass  unsere  veraltete  Form  der  Repression  gegen  die  etwaigen  Ausschreitungen 
des  öffentlichen  Lebens  einer  Reform  bedürfe,  kann  der  conservativste  Mann 
in  Oesterreich  zugeben. 

Es  wäre  interessant  zu  zeigen,  wie  aber  selbst  auf  diesem  ungünstigen 
Boden  sich  unsere  Arbeitervereine  entwickelt  haben,  was  für  eine  Tendenz 
sie  verfolgen,  wieviel  Mitglieder  sie  besitzen  und  wieviel  Vermögen  sie  an- 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  I.  Heft.  3 


34 


Baernreither. 


gesammelt  haben.  Leider  ist  es  uns  nur  gelungen  über  Zahl  und  Art  der 
Arbeitervereine  in  den  verschiedenen  Kronländern  die  nachfolgende  Zusammen- 
stellung zu  machen,  für  welche  wir  eine  annähernde  Grenauigkeit  in  Anspruch 
nehmen  können. 

Arbeitervereine  nach  dem  Stande  vom  31.  December  1890. 


Vereins-Kategorien 


Arbeiter-Bildungsvereine  .... 

Arbeiter-Casinovereine 

Erwerbs-  u.  Wirthschaftsgenossen- 
scbatten  der  Arbeiter  und  zwar : 

a)  Arbeiter  Consumvereine  .    . 

b)  Arbeiter  Spar- und  Yorschuss- 
vereine    ........ 

c)  Sonstige  Arbeiter-Genossen- 
schaften   

Arbeiter  -  Fachvereine  (Gewerk- 
schaften)   

Allgemeine  Arbeiter  -  Gewerbe- 
vereine       

Arbeiter  -  Kranken  und  Leichen- 
vereine       

Arbeiter-Lesevereine 

Arbeiter- Versorgungsvereine    .    . 

Politische  Arbeitervereine    .    .    . 

Wohlthätigkeitsvereine  d.  Arbeiter 


Ol     o 


Sil- 


26 


30 


10 


11 


66 


81 
1 
4 

4 

9! 


26 


12 


32 


7124 

13 

1 

1 

613 

2 


29 


—  5 
1 
1 
1 


Zusammen 


'243J  7421  91 

li      I      I    ! 


2417 


42 


31 


10 


21 


30 


93|  54 

781  25 


95 


74 

34 

33^^ 

4 

6 

2 

13 


657 


18 


15 


1  — 


58  15  42 
5  -    1 


181 


17i  7 


6:  1 


40  7725   9 


307 
103 


92 

16 

27 

225 

42 

697 
20 
19 

7J 
41 


1596 


In  diesen  Vereinen  herrscht  ein  reges  Leben.  Jeder  Sonn-  und  Feiertag 
wird  zu  Discussionen  benutzt,  die  Fach-  und  Bildungsvereine  üben  eine 
Anziehung  durch  Vorträge  und  Curse,  die  Arbeiterzeitungen  —  es  existieren 
dermal  ungefähr  ein  halbes  Hundert,  die  auf  socialdemokratischem  Boden 
stehen,  davon  mehr  als  die  Hälfte  in  deutscher  Sprache  —  tragen  das 
Classenbewusstsein  auch  in  entfernte  Werkstätten  und  die  Arbeitercongresse, 
die  sich  besonders  in  den  letzten  Jahren  gemehrt  haben,  geben  Gelegenheit 
zur  Berührung  und  zum  Gredankenaustausch  mit  G-enossen  aus  andern 
Gegenden  und  Ländern.  Man  sollte  die  Tragweite  dieser  Bewegung,  welche 
in  dem  letzten  Decennium  an  Umfang,  Intensität  und  Planmässigkeit  sehr  zuge- 
nommen hat,  nicht  übersehen,  denn  sie  ist  streng  nach  dem  gemeinsamen 
Ziel  gerichtet  und  durch  nichts  abgelenkt,  was  sonst  in  unserm  Staate  die 
politischen  Ideen  durchkreuzt  oder  abschwächt.  Sie  ist  bis  jetzt  auch  noch 
unberührt  vom  nationalen  Antagonismus.  Im  December  1890  fand  in  Wien 
der  erste  Congress  der  Berg-  und  Hüttenarbeiter  Oesterreichs  statt,  der 
drei  Tage  dauerte  und  der  etwa  zur  Hälfte  von  deutschen  und  zur  Hälfte 
von  böhmischen  Delegirten  besucht  war.  Die  Verhandlungen  wurden  zwei- 
sprachig geleitet,  die  Reden  in  beiden  Sprachen  gehalten,  alles  so  gut  es 
gieng  verdolmeltscht,  aber  nicnt  die  leiseste  Reibung  fand  statt,  keine 
sprachliche  Rivalität  trat  zu  Tage,  man  hatte  das  Gefühl,  dass  diese 
Menschen,  erfüllt  von  ihrem  gemeinsamen  socialen  Interesse,  sich  eben  ver- 


Socialreform  in  Oesterreich.  35 

stehen  wollen  und  als  einer  der  eingeladenen  Eeichsrathsabgeordneten  in 
deutscher  Sprache  einige  Worte  an  die  Versammlung  richtete,  um  für  die 
Einladung  zu  danken  und  sich  entschuldigte,  dass  er  dies  nicht  auch  in 
böhmischer  Sprache  wiederholen  könne,  stand  ein  schlichter  Bergmann  auf 
und  erwiderte  ihm:  „Wir  haben  uns  mit  dem  Vertrauen  an-  Sie  gewendet, 
dass  sie  als  Vertreter  der  Menschlichkeit  und  des  Edelsinns  sich  unser  an- 
nehmen werden.  Wir  arbeiten  im  Sinne  der  Socialdemokratie  und  bei  diesem 
unserm  Streben  schwinden  alle  Unterschiede  der  Nation,  Eeligion.  des 
Standes  und  des  Keichthums.  Als  was  einer  geboren  wird,  das  mag  er  bleiben, 
und  niemand  werfe  es  ihm  als  Fehler  vor. "  Auf  dem  zweiten  österreichischen 
Parteitag,  der  in  Wien  im  Juni  1891  abgehalten  wurde,  machten  sich 
allerdings  einige  cechische  Delegierte  bemerkbar,  die  das  Verlangen  stellten, 
„dass  die  Organisation  der  socialdemokratischen  Partei  nach  den  Volks- 
stämmen platzgreifen  soll,"  aber  sie  blieben  auch  den  Delegierten  ihrer 
eigenen  Nation  gegenüber  in  verschwindender  Minorität  und  die  nationale 
Frage  trat  gegenüber  der  Discussion  über  die  allgemeine  Organisation  der 
Arbeiterpartei,  über  Presse,  Vereins-  und  Versammlungsrecht,  über  allge- 
meines Wahlrecht,  Maximalarbeitstag,  Coalitionsrecht,  Arbeiter  schütz,  Unter- 
stützungswesen,  Gewerksorganisation  und  Schule  —  weit  in  den  Hintergrund. 

Es  handelt  sich  nun  darum,  was  für  eine  Stellung  Staat  und  Gesellschaft 
zu  dieser  Bewegung  einnehmen  sollen. 

Wir  täuschen  uns  nicht  darüber,  dass  die  Lebensgewohnheiten  und 
Bestrebungen  der  Arbeiter  gefährliche  schädliche  Seiten  aufweisen,  die  der 
Staat  bekämpfen,  nöthigenfalls  unterdrücken  muss,  aber  wir  haben  gezeigt, 
dass  parallel  berechtigte,  ideale  Kräfte  tliätig  sind.  Seien  wir  gerecht.  Ist 
dieser  Widerstreit  zwischen  dem  Schlechtem  und  Bessern  nicht  das  Erbtheil 
jeder  gesellschaftlichen  Entwicklung?  Der  Staat  und  seine  Verwaltung  muss 
untersuchen,  scheiden  und  dann  je  nachdem  bekämpfen  und  unterdrücken, 
aber  auch  unterstützen  und  leiten.  Bis  jetzt  sieht  aber  der  Staat  bei  uns 
theilnamslos  zu,  wie  Gutes  und  Böses  in  die  Halme  schiesst,  und  unter- 
sucht nicht  und  unterscheidet  nicht  und  lässt  die  schädlichen  Einflüsse 
gewähren  und  hilft  dem  Guten  nicht  zum  Durchbruch;  bei  irgend  einer 
wirklichen  oder  eingebildeten  Gefahr  für  die  öifentliche  Kühe  und  Ordnung 
kommt  dann  die  Polizei  und  unterdrückt  —  natürlich  nur  vorübergehend 
—  beide.  Wir  müssen  auf  diesem  Gebiete  endlich  zu  neuen  Maximen 
in  der  Gesetzgebung  und  Verwaltung  kommen. 

Die  Socialpolitik  kann  nun  freilch  nicht  darauf  ausgehen,  Theorien  zu  be- 
kämpfen und  Fanatiker  zu  bekehren,  aber  sie  kann  den  Menschen  mit  seinen  Ge- 
danken und  seiner  Thätigkeit  auf  den  Boden  der  Wirklichkeit  versetzen  und  ihm 
helfen  auf  diesem  Boden  etwas  Greifbares  für  sich  und  die  Seinen  zu 
leisten,  denn  trotz  aller  weitfliegenden  Pläne  ergreift  der  Mensch  doch 
das  Naheliegende,  wenn  es  ihm  richtig  geboten  wird.  Sie  weiss  sehr  gut, 
dass  hinter  dem  heutigen  wirtschaftlichen  Gegensatz  ein  Gegensatz  der 
Anschauungen  zwischen  Arbeitern  und  Unternehmern  besteht,  dass  die 
ersteren,  wo  die  patriarchalischen  Verhästnisse  aufgehört  haben,  eine  grosse 

3* 


36 


Baerareither. 


solidarisch  auftretende  Masse  sind,  die  von  einer  unsichtbaren  aber  mächtigen 
geistigen  Strömung,  die  theilweise  gegen  Staat  und  Gresellschaft  gerichtet 
ist,  beherrscht  werden,  dass  sie  also  vor  allem  die  praktische  Mitwirkung 
der  Arbeiter  gewinnen  muss,  um  ans  dem  Bereich  der  praktischen  Arbeit 
in  das  Keich  der  Gedanken  hinüberzuwirken.  Das  ist  allein  der  Weg,  das 
überwuchernde  Classenbewusstsein  durch  Einwirkung  eines  berufsmässigen 
Interesses  einzudämmen,  oder  vielleicht  richtiger  gesagt,  zu  erziehen  und 
umzubilden. 

Will  nun  die  Gesetzgebung  und  Verwaltung  des  Staates  an  diese 
Frage  herantreten,  darf  sie  sich  vor  allem  nicht  der  Illusion  hingeben, 
dass  durch  Ministerialverordnung  und  polizeiliche  Keglementierung  etwas 
zu  erreichen  ist.  Das  Vorgehen  der  Gesetzgebung  kann  trotzdem  ein  sehr 
verschiedenes  sein.  Wo  die  Arbeiter  sich  bereits  in  der  Freiheit  geeinigt, 
ihre  Einigungen  sich  erprobt  und  geläutert  haben,  da  ist  die  Gesetzgebung 
das  Kesultat,  nicht  der  Anfang.  Die  englischen  Acte  von  1871  und  1876 
haben  die  Trades  ünions  nicht  geschaffen,  sondern  ihrem  Bestand  nur  gesetz- 
liche Form  gegeben.  Dieser  Entwickelungsgang  ist  bei  uns  ausgeschlossen. 
Die  Gesetzgebung  kann  aber  wohl  auch  versuchen  —  und  das  ist  der  Weg 
den  sie  bei  uns  einzuschlagen  haben  wird  —  mit  Bedachtnahme  auf  die 
locale  Vertheilung  der  Industrie  und  ihrer  Arbeiter,  auf  Bildungsgrad  und 
Bildungstrieb  der  Arbeiter,  auf  ihre  Bedürfnisse,  ihre  Neigungen,  auf  die 
schon  verhandenen  Ansätze  von  Vereinigungen  —  eine  Form  für  die  genossen- 
schaftliche Vereinigung  aufzustellen,  welche  frei  und  nützlich  sein  müsste, 
um  die  Arbeiter  heranzuziehen,  welche  die  gesunden  und  berechtigten  Be- 
strebungen der  Arbeiter  fördern  müsste,  damit  sie  nicht  auf  dem  Papier 
bleibt  und  die  dann  auch  erziehend  wirken  würde. 

Ein  Beispiel  einer  derartigen  gesetzgeberischen  Action,  die  das  berufs- 
mässige Interesse  in  einer  freien  Form  der  Organisation  zu  erwecken  ver- 
standen hat,  bietet  das  französische  Gesetz  vom  21.  März  1884,  „sur  les  syndicats 
professioneis ".  Nach  diesem  Gesetze  können  sich  getrennte  Genossenschaften 
der  Arbeiter  und  Unternehmer  oder  solche  in  denen  beide  zusammen  wirken 
(syndicats  mixtes)  bilden  mit  dem  Zweck  , wirtschaftliche,  industrielle,  com- 
mercielle,  und  landwirtschaftliche  Interessen  zu  studieren  und  zu  ver- 
theidigen.''  Im  Jahre  1884  gab  es  in  ganz  Frankreich  101  ünternehmer- 
syndicate,  68  Arbeitersyndicate,  1  gemischtes  Syndicat,  5  landwirtschaftliche, 
im  ganzen  175.  Im  Jahre  1891  gab  es  dagegen  schon  1127  ünternehmer- 
syndicate,  1250  Arbeitersyndicate.  126  gemischte,  750  landwirtschaftliche, 
zusammen  3253  mit  596.380  Mitgliedern. 

Wir  stehen  demnach  vor  der  Aufgabe  den  Gesetzentwurf,  der  in  seinem 
zweiten  Theile  die  grosse,  alle  industriellen  Völker  beschäftigende  Frage 
nach  der  berufsmässigen  Organisierung  des  Arbeiters  tan  des  bei  uns  auf  die 
Tagesordnung  gesetzt  hat,  nach  allgemeinen  Gesichtspunkten  zu  prüfen  und 
durch  die  Enquete  so  viel  als  möglich  sichern  Boden  zu  gewinnen,  um  die 
Eegierungsvorlage  umformen  und  die  legislative  Idee,  die  ihr  zugrunde 
liegt,   lebensfähig  machen  zu  können. 


Socialreforin  in  Oesterreich.  37 

üeber  die  Einigungsämter,  den  dritten  Theil  des  Entwurfes,  möchten 
wir  nur  einige  Bemerkungen  machen.  Sie  werden  allseitig  als  etwas  sehr 
wünschenswertes  bezeichnet,  die  Schwierigkeit  der  Einführung  wird  aber 
allgemein  unterschätzt.  Wir  sollten  gewarnt  sein.  Unsere  gesetzlichen  Bestim- 
mungen über  die  Gewerbegerichte  sind  auf  dem  Papier  geblieben.  Nur  drei 
Gewerbegerichte  (für  Maschinen-  und  Metallwaren-Industrie  in  Wien  seit  1873, 
für  Metallindustrie  seit  1883  und  für  Webeindustrie  seit  1870  in  Brunn)  sind 
constituiert  und  ihre  Thätigkeit  ist  gering,  denn  das  Wiener  Gewerbegericht 
entschied  im  Jahre  1890  nur  173  Fälle,  von  den  Brünnern  das  eine  123, 
das  andere  nur  17.  Wir  müssen  also  einen  ganz  neuen  Weg  einschlagen, 
um  die  Idee  einer  wirksamen,  ausgleichenden  Instanz  in  Lohn-  und  Arbeits- 
streitigkeiten durchführen  zu  können.  Auch  die  Vorlage  scheint  diesen 
Weg  nicht  gefunden  zu  haben.  Offenbar  schwebt  ihr  die  englische  Einrich- 
tung der  „Boards  of  conciliation  and  arbitration"  vor,  aber  ohne  zu  bedenken, 
dass  dieselbe  unter  dem  Einfluss  mächtiger  wirtschaftlicher  Kräfte  entstanden 
und  durch  eine  Gruppierung  der  Arbeiter  und  Unternehmer  gehalten  ist,  die 
bei  uns  noch  gar  nicht  besteht.  Den  Bemühungen  des  Fabrikanten  Mundella 
und  des  Kichters  Kupert  Kettle  ist  es  vor  etwa  40  Jahren  gelungen,  um 
den  erbitterten  Classenkampf,  der  damals  in  gewaltthätigen  Strikes,  in 
Verlusten  der  Industrie,  in  Noth  und  Elend  der  arbeitenden  Classe  ausartete, 
zu  mildern,  Arbeiter  und  Unternehmer  zusammenzubringen,  um  sich  über 
die  Arbeitsbedingungen  auseinanderzusetzen.  Vom  ersten  Moment  an  hatte 
man  aber  im  Auge,  dass  es  nicht  der  Mühe  wert  wäre,  sich  zusammen- 
zusetzen, wenn  die  Entscheidungen  des  Einigungsamtes  nicht  wirklich  durch- 
geführt würden.  Darauf  concentrierten  sich  alle  Bemühungen. 

Ebenso  wie  bei  uns  ist  dann  auch  die  wohlmeinende  Gesetzgebung 
sofort  bei  der  Hand  gewesen  und  es  hat  ein  Lord  St.  Leonard  im  Jahre  1867 
einen  Gesetzentwurf  eingebracht  und  dieser  Gesetzentwurf  ist  auch  Gesetz 
geworden,  in  welchem  er  rasch  diese  Idee  der  Einigungsämter  unter  das 
gesetzliche  Dach  und  Fach  bringen  wollte.  Die  Grundzüge  dieser  Leonard- 
acte  vom  Jahre  1867,  welche  sich  übrigens  auf  einen  früheren  Versuch 
beziehen,  der  schon  unter  Georg  IV.  gemacht  worden  ist,  sind  folgende. 
Durch  Verordnung  können  Einigungsämter  errichtet  werden.  Der  Vorsitzende 
soll  ein  Mann  sein  ausserhalb  des  Gewerbes.  Die  Unterwerfung  ist  frei- 
willig. Die  Unterwerfung  schliesst  jeden  anderen  Rechtszug  aus.  Die  Ent- 
scheidungen sind  executionsfähig  und  ausdrücklich  sind  die  Entscheidungen 
des  Einigungsamtes  oder  Schiedsgerichtes  für  die  Zukunft  —  also  Lohn- 
festsetzungen für  die  Zukunft  —  ausgeschlossen.  Mundella  selbst  hat  eine 
ähnliche  Acte  im  Jahre  1872  eingebracht,  die  auch  Gesetz  geworden 
ist.  aber  es  trat  etwas  ein,  was  sich  immer  ergibt  wenn  die  Gesetzgebung 
vorschnell  vorgeht  und  Verhältnisse  zusammenzufassen  sucht,  welche  noch 
kein  consistentes  Gefüge  haben. 

Diese  Gesetze  sind  gänzlich  wirkungslos  geblieben.  Es  sind  kaum  eine 
oder  zwei  Verordnungen  erlassen  worden,  wodurch  solche  Einigungsämter 
errichtet  wurden,  und   auch    die  Acte  Mundella,  welche    sich  von  der  Lord 


33  •  Baernreither 

St.  Leonardsacte  nur  dadurch  unterscheidet,  dass  die  schiedsgerichtlichen 
ürtheile  nicht  executionsfähig  sein  sollten,  ist  gänzlich  wirkungslos 
geblieben. 

Nicht  diese  Gesetze,  wohl  aber  der  Druck  der  Verhältnisse  hat  die 
Boards  of  conciliation  and  arbitration  fortgebildet.  Sie  haben  heute,  besonders 
in  der  Kohlen-  und  Eisenindustrie,  einen  grossen  Umfang  und  sind  Gegen- 
stand eingehender  Studien  gewesen,  deren  Kesultate  im  allgemeinen  wir 
wohl  als  bekannt  voraussetzen  können.  Die  englischen  Einigungsämter 
beruhen  auf  der  gegenseitig  anerkannten  Gleichberechtigung  der  Arbeiter- 
genossenschaften, Trade  Unions  und  der  Unternehmer-Genossenschaften,  Trade 
Associations,  die  sich  gar  nicht  mit  einander  in  Verbindung  setzen  würden, 
wenn  sie  nicht  den  Willen  und  die  Macht  hätten,  die  Schiedssprüche  auch 
durchzusetzen.  Die  Schwächlichkeit  unserer  Vorlage  besteht  darin,  dass  sie 
einen  Apparat  construiert,  der  auf  die  Differenzen  zwischen  Unternehmern 
und  Arbeitern  angewendet  werden  soll,  ohne  dass  man  erkennen  kann, 
was  diese  neuen  Einigungsämter  vor  dem  Schicksal  der  alten  Gewerbe- 
gerichte bewahren  wird.  Sie  sollen  durch  Verordnung  des  Ministers,  also 
obligatorisch  eingeführt  werden,  die  Befolgung  ihrer  Entscheidungen  ist 
aber  facultativ !  Die  beiden  Zielpunkte,  die  wir  immer  wieder  betonen  müssen, 
den  Arbeiter  zu  einer  praktischen,  erspriesslichen,  wirksamen  Thätigkeit 
li  eranzuziehen  und  durch  dieselbe  moralisch  auf  ihn  zurückzuwirken  — 
sind  hier  ganz  aus  den  Augen  verloren. 

IV. 

Nach  diesem  Ueberblick  über  die  Gesetzgebung  und  die  legislativen 
Bestrebungen  des  abgelaufenen  Decenniums,  über  die  Erfolge  die  wir  schon 
eiTungen  haben,  über  das  Programm,  welches  uns  in  der  nächsten  Zeit  be- 
schäftigen soll,  wollen  wir  zum  Schluss  Halt  machen  und  uns  fragen : 
Was  bedeutet  diese  Gesetzgebung  und  wohin  führt  sie  uns?  Dass  sie  ein 
neuer  Stoff  im  Leben  des  Staates  ist,  der  sein  Kecht  und  seine  Verwaltung 
erweitert  hat  und  der  in  dieser  Kichtung  fortwirkt,  das  liegt  auf  der  Ober- 
fläche. Wir  stehen  mitten  in  der  Bewegung  und  es  ist  nicht  schwer,  die 
nächsten  Consequenzen  dessen,  was  bereits  gescb äffen  wurde,  in  Gedanken 
weiter  auszubauen:  Die  Unfallversicherung  soll  auf  weitere  Betriebe  als 
bisher,  insbesondere  auf  die  land-  und  forstwirtschaftlichen  Arbeiter  aus- 
gedehntwerden, wir  wollen  die  Alters-  und  Invaliditätsversicherung  einrichten, 
den  Gewerbeinspectoren  wird  man  Bergbauinspectoren  an  die  Seite  setzen 
u.  s.  w.  —  Der  Kern  der  Sache  liegt  aber  tiefer. 

Das,  was  wir  socialpolitisehe  Gesetzgebung  nennen,  entspringt  zu- 
nächst der  gänzlich  veränderten  Auffassung  unserer  Zeit  darüber,  wie  sich 
der  Staat  zu  den  widersprechenden  wirtschaftlichen  Interessen  der  Ein- 
zelnen zu  verhalten  hat,  die  er  nicht  mehr  regellos  aufeinander  wirken  lassen 
kann.  Zunächst  ist  es  Fürsorge  für  die  schwächeren  Schichten  der  Gesell- 
schaft, wenn  er  jugendliche  Arbeiter  und  Frauen  in  Schutz  nimmt,  sich  um 
Licht  und  Luft   in    den   Arbeitsräumen  kümmert   und    das    ganze  Lohnver 


Socialreform  in  Oesterreich.  39 

hältnis  einer  gewissen  überwachenden  Controle  unterwirft.  Aber  bei  näherer 
Betrachtung  entdecken  wir  sofort  noch  ein  anderes  Element.  Für  den  Gewerbe - 
inspector  kommen  Augenblicke,  in  denen  er  sich  nicht  darauf  beschränken 
kann,  Arbeitsräume  zu  besichtigen  und  sich  mit  Schutzvorrichtungen  zu 
beschäftigen,  sondern  in  denen  er  auf  die  Einsicht,  den  Willen  und  die 
moralischen  Eigenschaften  der  Individuen  einwirken  muss,  und  der  Arbeiter, 
der  im  Ausschuss  einer  Krankencasse  sitzt  oder  im  Schiedsgericht  einer 
Unfallversicherungsanstalt,  ist  nicht  nur  ein  helfendes  Glied  in  der  Kette 
sondern  steht  selbst  unter  der  moralischen  Einwirkung  der  neuen  Institution. 
So  entdecken  wir  unter  der  wirtschaftlichen  Strömung  eine  ethische 
und  die  Socialreform  erhält  einen  tiefern  Inhalt.  Am  stärksten  tritt  dieser 
Inhalt  in  den  Gesetzvorlagen,    die   wir  soeben  besprochen  haben,    zu  Tage. 

Wir  fragen  also  berechtigterweise  nach  dem  Zusammenhang  der  social- 
politischen  Maassnahmen  mit  den  wirtschaftlichen  und  moralischen  Kräften 
des  Staates.  Es  ist  das  zugleich  die  Frage  nach  der  Durchführbarkeit 
desselben. 

Halten  wir  uns  zunächst  an  die  nächsten,  concreten  Aufgaben.  Sie 
laufen  alle  darauf  hinaus,  das  Lohnverhältnis  von  gewissen  Härten  zu 
befreien,  es  fortzubilden,  die  Lebenshaltung  der  arbeitenden  Classe  zu  ver- 
bessern, ihr  Einkommen  zu  erhöhen,  andererseits  aber  auch  ihre  Geschick- 
lichkeit, ihr  Pflichtgefühl,  Ordnungssinn  und  Verlässlichkeit  derselben  zu 
steigern.  Dieser  Parallelismus  zwischen  einer  bessern  Lebenshaltung  und 
einer  höhern  Leistungsfähigkeit  der  arbeitenden  Classe  ist  in  letzter  Reihe 
die  wirtschaftliche  Rechtfertigung  der  Socialreform  und  macht  sie  möglich. 
Aber  da  der  Anfang  doch  immer  mit  der  Verbesserung  der  materiellen  Lage 
der  Arbeiter  gemacht  werden  muss  und  dieselbe  nur  aus  dem  Industrie- 
gewinn bestritten  werden  kann,  so  muss  man  den  richtigen  Zeitpunkt  für 
die  Einführung  der  neuen  Einrichtungen  wählen.  Dieser  Zeitpunkt  scheint 
uns  gekommen.  Durch  die  Handelsverträge  ist  auf  eine  Reihe  von  Jahren 
hinaus  Stabilität  für  die  Industrie  hergestellt.  Die  Verhandlungen  über  diese 
Verträge  haben  gezeigt,  dass  die  Unternehmer  von  ihnen  angenehm  über- 
rascht waren  —  hat  doch  einer  unserer  grössten  Industriellen  den  Gesammt- 
eindruck  der  Handelsverträge  als  einen  „freudigen,"  das  Gesammtbild  als 
„hell  und  klar"  bezeichnet  und  versichert,  er  blicke  „in  eine  Aera  gedeih- 
licher Prosperität  auf  gesunder,  sich  stets  stärkender  Basis."  Die  Stabilität, 
die  durch  die  Verträge  geschaffen  ist,  kann  also  als  eine  für  unsere  Industrie- 
verhältnisse günstige  bezeichnet  werden  und  wir  dürfen  uns  die  wirtschaft- 
liche Kraft  zumuthen,  neben  die  Handelsverträge  als  CoroUar  die  Socialreform 
zu  setzen. 

Friedrich  List,  der  erste,  der  die  sogenannte  Schutzzollpolitik  richtig 
interpretiert  hat.  redet  nicht  so  sehr  von  Schutz  als  von  der  Erhöhung  der 
productiven  Kraft.  Wenn  wir  das  neugeschaffene  Vertragsgebiet  in  seinem 
Sinne  beurtheilen  wollen,  so  dürfen  wir  nicht  kleinlich  an  den  einzelnen 
Zollpositionen  haften,  sondern  müssen  jenem  Staate  den  grössten  Vortheil 
zuerkennen,  der  im  Stande  ist,  in  der  Zukunft  seine  productiven  Kräfte  am 


40  Baemreither. 

energischesten  zusammenzufassen  und  zu  verwerten.  List  steht  des- 
wegen so  hoch  über  seinen  Epigonen,  weil  sein  System  nie  auf 
die  Ausbeutung  der  Consumenten  eines  geschlossenen  Absatzgebietes 
gerichtet  ist,  sondern  weil  er  in  letzter  Linie  immer  einen  grossen  inter- 
nationalen Austausch  vor  Augen  hat.  Aber  man  muss,  was  die  Bedeutung 
der  productiven  Kräfte  eines  Staates  betrifft,  noch  weiter  gehen  als  er. 
Gleiche  Zoll-  und  Tarifbedingungen  bedeuten  für  zwei  Staaten  noch  nicht 
gleiche  Vortheile.  „Die  Güter  die  auf  dem  Welthandel  denselben  Geldpreis 
haben,  werden  an  den  verschiedenen  Productionsorteu  mit  einem  sehr 
ungleichen  Aufwände  von  Vermögensnutzungen  und  Arbeitsleistungen  prc- 
duciert.  Je  nach  der  Productivität  der  nationalen  Arbeit  und  dem 
Begehr  des  Auslandes  nach  den  nationalen  Producten  muss  das  Tausch- 
verhältnis sich  bald  günstiger,  bald  ungünstiger  für  ein  Land  stellen.  Die 
Engländer  z.  B.  erwerben  mit  Producten  der  Baumwoll-  oder  Eisenindustrie 
in  100  Arbeitstagen  gewiss  viel  mehr  Thee,  als  die  Chinesen  in  100  Arbeits- 
tagen producieren."  Je  höher  qualificiert  die  menschliche  Arbeit  eines  Volkes 
ist,  unter  desto  günstigeren  Bedingungen  tauscht  es  unter  sonst  gleichen 
Verhältnissen  international  seine  Güter  aus. 

Das  Ziel  der  Socialpolitik  parallel  mit  der  Verbesserung  der  Lebens- 
verhältnisse und  der  Sicherung  eines  regelmässigen  Lohneinkommens,  die 
moralischen,  intellectuellen  und  technischen  Kräfte  des  Arbeiters  zu  erhöhen 
—  trifft  also  mit  dem  Ziel  der  Industriepolitik  zusammen.  Deswegen  müssen 
wir  die  Zeit,  die  uns  jetzt  zur  ruhigen  Entwicklung  unserer  Industrie  gegönnt 
ist,  auch  nützen,  als  eine  Zeit  consequent  fortschreitender  socialer  Eeformen. 

Die  Gunst  der  Lage  trifft  mit  dem  Ernst  derselben  zusammen.  Man 
hat  bisher  nicht  daran  gedacht,  der  bei  uns  stündlich  mehr  um  sich 
greifenden,  zersetzenden  Socialdemokratie  planmässig  ein  Gegengewicht  zu 
geben.  Und  doch  hat  der  Staat  schon  heute  eine  Verantwortung  übernommen, 
die  ihn  unaufhaltsam  weiterdrängt.  In  den  bisherigen  Leistungen  erblicken 
wir  den  Beweis  für  die  gestaltende  Kraft  Oesterreichs  auf  diesem  Gebiete, 
wenn  auch  die  eine  oder  andere  Maassregel,  wie  wir  gesehen  haben,  der 
Anlage  oder  Durchführung  nach  verfehlt  ist.  Aber  wir  müssen  aus  dem 
Stadium  der  Versuche  und  einzelnen  Ansätze  herauskommen  und  die  Ein- 
richtungen, die  wir  geschaffen  und  die  wir  für  die  Zukunft  im  Plane  haben, 
als  ein  Ganzes,  als  eine  grosse,  zusammenhängende  politische  Aufgabe  an- 
sehen lernen.  Es  ist  das  keineswegs  leicht,  denn  jeder  zusammenfassenden 
Politik  stellen  sich  in  Oesterreich  traditionelle  Hinderungsmomente  entgegen. 
aber  diese  modernen  socialen  Ideen  sind  noch  in  ihrer  Jugendkraft,  sie 
werden  täglich  verstärkt  durch  den  Druck  der  äusseren  Verhältnisse,  sie 
werden  noch  Manchen  bekehren  und  Vieles  überwinden. 

Sie  führen  uns  in  zweifacher  Eichtung  über  den  engeren  Gegenstand 
unserer  Besprechung  hinaus.  Die  neue  Auffassung  über  die  Eechte  und 
Pflichten  der  Menschen,  die  in  einem  Gemeinwesen  zusammen  wohnen,  be- 
einflusst  nicht  nur  das  Verhalten  des  Staates  und  der  Gesellschaft  gegen- 
über den  eigentlichen  Lohnarbeitern  der  Industrie  und    der   Landwirtschaft. 


Socialreform  in  Oesterreich.  41 

Diese  neue  Auffassung  durchdringt  das  ganze  Staatswesen,  bildet  sich  nach 
und  nach  zu  Maximen  von  allgemeinerer  Geltung  hinaus  und  die  sociale 
Frage  erstreckt  sich  überall  dahin,  wo  die  menschliche  Leistung  im  Miss- 
verhältnis zum  Erwerb  steht.  Keine  Gesellschaftsform  wird  das  richtige 
Maass  endgiltig  feststellen,  aber  die  fortschreitende  Entwicklung  wirkt  den 
bestehenden  Missverhältnissen  immer  bewusster  und  kräftiger  entgegen.  Die 
Arbeiterfrage  ist  also  nur  ein  Theil  einer  grösseren  Aufgabe.,  Aber  auch 
die  Einrichtungen,  die  der  Staat  in  dieser  Eichtung  schafft,  dürfen  wir 
nicht  isoliert  betrachten,  noch  weniger  von  isolierten  Wirkungen  entscheidende 
Einflüsse  erwarten.  Schulwesen,  Gewerbe  und  Agrarpolitik,  Steuergesetz- 
gebung u.  s.  w.  gruppieren  sich  heute  um  jene  neuen  Maximen,  die  viel- 
fach noch  nicht  durchgearbeitet,  aber  doch  schon  stark  genug  sind,  ver- 
altete Anschauungen  zu  verdrängen.  So  weist  uns  die  Arbeiterfrage  auf 
eine  umfassendere  Politik,  die  wieder  fördernd  auf  sie  zurückwirkt. 

Dem  Staat  wird,  wie  die  Verhältnisse  bei  uns  liegen,  immer  eine 
führende  KoUe  zukommen,  aber  er  kann,  was  die  Festigung  des  Zusammen- 
hangs zwischen  seinen  socialpolitischen  Institutionen  und  dem  grossen  Leben 
des  Volkes  betrifft,  nicht  mehr  thun  als  die  moralischen  Kräfte  beleben, 
unterstützen,  zusammenfassen,  denn  niemand  gibt  sich  wohl  der  Täuschung 
hin,  däss  der  Staat  der  alleinige  Executor  der  Socialpolitik  sein  kann  —  im 
Gegentheil,  der  wirksamere  Hebel  liegt  nicht  im  Staate,  sondern  in 
der  Gesellschaft  und  die  sociale  Eeform  hängt  in  letzter  Eeihe  von 
ihrer  Erkenntnis  und  Verantwortlichkeit  ab.  An  eine  Entwickluug  social- 
politischer  Institutionen  ist  nur  zu  denken,  wo  wir  auf  Einsicht  und  Initiative, 
aber  vor  allem  auf  das  Pflichtgefühl  der  betheiligten  Kreise  rechnen  können. 
Niemand  hat  das  treffender  gesagt  als  der  deutsche  Philosoph  Friedrich 
Albert  Lange;  er  sieht  für  die  Heilung  des  Bruches  in  unserem  Volksleben, 
welcher  durch  die  Trennung  der  Gebildeten  vom  Volke  und  seinen  Bedürf- 
nissen herbeigeführt  ist,  nur  zwei  Mittel:  Ideen  und  Opfer. 

Es  ist  ausserordentlich  schwer,  ja  unmöglich,  heute  abzuschätzen,  wie' 
weit  man  bei  uns  auf  diese  moralischen  Momente  rechnen  kann,  und  erst 
eine  viel  spätere  Zeit  wird  darüber  ihr  ürtheil  fällen.  Wir  können  uns  vor- 
läufig nur  an  gewisse  Aeusserungen  aus  den  Kreisen  der  Unternehmer  und 
Arbeiter  halten  und  beobachten,  wie  beide  Theile  an  den  neuen  Einrich- 
tungen mitarbeiten.  In  den  gemachten  Erfahrungen  liegt  eine  Ermuthigung. 
Das  Verständnis  für  social-politische  Einrichtungen  hat  bei  uns  in  dem 
letzten  Decennium  zugenommen;  auch  kommt  uns  der  allgemeine  Charakter 
der  Bevölkerung  dabei  zugute,  die  zu  einem  gewissen  Wohlwollen  mehr 
hinneigt  als  unsere  genaueren,  aber  strengeren  Nachbarn.  Aber  eine  richtige 
Gesetzgebung  und  eine  kluge  Verwaltung  hat  noch  ein  weites  Feld,  diese  Ge- 
sinnung zu  befestigen,  wo  sie  besteht,  sie  hervorzurufen,  wo  sie  fehlt,  zu 
verbinden  und  zu  verstärken  und  Vertrauen  für  die  neuen  Einrichtungen  zu 
erwecken.  Auf  eine  directe  Zustimmung  des  Arbeiterstandes  darf  man  aller- 
dings nicht  rechnen;  ihm  gegenüber  muss  man  ruhig  und  consequent  fort- 
arbeiten „Sans  eclat  et  sans  recompense."  Der  Erfolg  liegt  hier  darin,  dass 


42  Baernreither. 

die  Ai'beiter  bei  den  neuen  Einrichtungen  mitwirken,  durch  die  Einsicht 
in  die  Verhältnisse  aufgeklärt  und  erzogen,  durch  die  Erkenntnis  der  Schwierig- 
keiten beeinflusst  werden,  dass  sie  Umstände  abwägen  und  über  Ansprüche 
nach  Eecht  und  Billigkeit  entscheiden  lernen.  Die  Brücke  aus  ihrer  Welt 
in  die  unsrige  ist  freilich  noch  sehr  schmal,  aber  man  kommt  doch  schon 
zusammen  und  es  ist  unsere  Aufgabe,  sie  zu  erbreitern. 

Edmund  Burke  hat  in  seiner  berühmten  Kede  „on  conciliation  with 
America"  versucht,  das  englische  Parlament  zu  überzeugen,  wie  die  englische 
Oberhoheit  mit  der  amerikanischen  Freiheit  vereinigt  werden  könnte.  Zum 
grössten  Schaden  Englands  blieb  er  ungehört.  Unsere  heutige  Gesellschafts- 
ordnung befindet  sich  den  Arbeitern  mit  ihren  Bestrebungen  und  ihrem 
Classenbewusstsein  gegenüber,  wie  vor  einer  neuen  Welt.  Werden  wir  im- 
stande sein  für  diese  neu  erwachten  gesellschaftlichen  Elemente  in  unserem 
modernen  Staatsorganismus  eine  Bethätigung  zu  finden?  Werden  wir  im- 
stande sein,  aus  der  heute  noch  theils  apathischen,  theils  feindlichen,  theils 
misstrauischen  Masse  ein  mitfühlendes,  mitdenkendes,  miterhaltendes  Glied 
unserer  Standes-  und  Gesellschaftsordnung  zu  machen?  Wir  dürfen  dies  nur 
hoffen,  wenn  wir  Furcht  und  Engherzigkeit  ablegen.  Wenn  eine  Eigenschaft 
der  heute  herrschenden  Gesellschaft  gegenüber  ihren  neuen  Elementen  als 
die  wichtigste  bezeichnet  werden  soll,  so  können  wir  dies  am  besten  mit 
den  Worten  Burke's  thun,  der  seinen  Landsleuten  in  der  erwähnten  Kede 
zurief:  Magnanimity  in  politics  is  not  seldom  the  truest  wisdom;  and  a 
great  empire  and  little  minds  go  ill  together. 


DIE  PROGEESSIVSTEUEK. 


VON 


PROFESSOR  DR.  EMIL  SAX. 


Einleitende  Bemerkungen. 

Jjass  die  Frage  der  Progressivsteuer  ein  sehr  zeitgemässes  Thema 
volkswirtschaftlicher  Untersuchung  sei,  wird  Niemand  in  Abrede  stellen,  und 
alle  Welt  wird  darin  übereinstimmen,  dass  es  in  hohem  Maasse  erwünscht 
wäre,  wenn  es  gelänge,,  eine  befriedigendere  Lösung  des  Problems  zu  finden 
als  diejenige,  welche  die  landläufigen  Theorien  bisher  zu  bieten  vermochten. 

Die  Menschen  können  zwar  praktisch  richtig  vorgehen,  ohne  sich  einer 
Theorie  ihres  Handelns  bewusst  zu  sein.  Aber  irrige  Theorien  haben  doch 
das  reflectierte  Handeln,  namentlich  auf  staatswirtschaftlichem  Gebiete,  nicht 
selten  wesentlich  und  in  schädlicher  Weise  beeinflusst.  Indes  auch  abgesehen 
von  der  praktischen  Wichtigkeit  der  Steuertheorie  und  des  gedachten  spe- 
ciellen  Punktes  derselben  wird  es  nicht  an  Interesse  für  einen  Fortschritt 
in  dieser  Hinsicht  ermangeln.  Die  Entwicklung  und  die  Wandlungen  der 
staatswirtschaftlichen  Theorie  zeigen  das  Ringen  des  Menschen  nach  Selbst- 
erkenntnis rücksichtlich  der  verwickeltsten  Beziehungen  zu  seinen  Mit- 
menschen. Wer  hieran  theilzunehmen  nach  seiner  geistigen  Beschaffenheit 
den  Wunsch  hegt,  wird  den  nachfolgenden  Erörterungen,  obschon  sie  mit- 
unter vielleicht  etwas  strenge  Anforderungen  hinsichtlich  angespannter 
Denkthätigkeit  stellen,  gewiss  mit  vollster  Aufmerksamkeit  folgen. 

Gleich  von  allem  Anfang  wollen  wir  eine  Unklarheit  der  Auffassung 
beseitigen,  welche  sich  als  die  Quelle  von  theoretisch  und  praktisch  folgen- 
schweren Irrungen  erwiesen  hat.  Progressive  Einkommensteuer  und  Progressiv- 
steuer sind  nicht  dasselbe.  Die  progressive  Einkommensteuer  kann  als  Glied 
eines  bestimmten  Steuersystems  lediglich  die  Bestimmung  haben,  zum  Aus- 
gleiche einer  stärkeren  Belastung  der  niedrigeren  Einkommen  durch  indirecte 
Steuern  zu  dienen,  um  im  Endresultate  eine  gleichmässige  Steuerlast  herbei- 
zuführen. Eine  progressive  Einkommensteuer  dieser  Art  ist  dann  eben  das 
Mittel  zur  Herbeiführung  einer  proportionalen  Steuer.  Bekanntlich  wurde 
eine  Steigerung  des  Steuerfasses  der  Einkommensteuer  zu  diesem  Zwecke 
—  aber  auch  innerhalb  der  Grenzen  dieses  Zweckes  —  von  mancher  Seite 


44 


Sax. 


empfohlen,  die  sich  principiell  die  Steuerlast  anders  als  gieichmässig,  d.  h. 
proportional,  nicht  zu  denken  vermochte.  Unter  Progressivsteuer  ist  also 
eine  Progression  der  Steuer  verstanden,  nicht  eine  Progression  einzelner 
gewisser  Steuerarten.  Eine  solche  ist  wieder  denkbar  ohne  eine  progressive 
Einkommensteuer,  freilich  nur  innerhalb  engerer  Grenzen,  wie  wenn  z.  B. 
durch  eine  gut  ausgebildete  Besteuerung  der  geistigen  Getränke  nebst  dem 
Tabakmonopole  in  Combination  mit  Luxussteuern  und  progressiv  gestalteten 
Verkehrssteuern,  vielleicht  auch  einer  progressiven  Wohnungssteuer,  welche 
Steuern  mit  einem  vollständigen  Ertragsteuersystem  combiniert  wären,  im 
Gesammteffecte  eine  gewisse  Progression  der  thatsächlichen  Steuerlast  für 
die  Wohlhabenden  bewirkt  würde.  Es  soll  hiemit  nicht  gesagt  sein,  dass  ein 
solches  Steuersystem  ausreichend  oder  das  richtige  sei,  sondern  nur  an- 
gedeutet, wie  eine  gewisse  Progression  in  der  Gesammtsteuer  der  Indivi- 
duen auch  ohne  progressive  Einkommensteuer  möglich  ist. 

Progressive  Einkommensteuer  und  Progressivsteuer  sind  mithin  wohl 
auseinanderzuhalten,  es  sind  dies  nicht  identische  Begriffe.  Freilich  wird 
eine  Association  dieser  Begriffe  dadurch  bewirkt,  dass  eine  Progression  der 
Steuer  in  jenem  Ausmaasse,  wie  es  neuererzeit  gewünscht  oder  als  richtig 
angesehen  wird,  eben  nur  durch  Einführung  der  progressiven  Einkommensteuer 
in  das  Steuersystem  erreichbar  erscheint,  und  in  diesem  Sinne  werden  jene 
beiden  Begriffe  in  der  Sprache  des  öffentlichen  Lebens  dermalen  synony- 
misiert.  Der  hiebei  zugrunde  liegende  Gedanke  ist  gewiss  nicht  anzu- 
fechten, aber  es  unterläuft  doch  die  Unklarheit,  dass  man  dabei  nur  zu  leicht 
auf  die  zum  Gesammteffecte  mitwirkenden  übrigen  Steuerarten  vergisst.  Indem 
man  das  Maass  der  Progression  der  Besteuerung  lediglich  in  dem  Verhältnisse 
der  Steuerstufen  der  Einkommensteuer  ausgedrückt  glaubt,  übersieht  man  die 
übrigen,  namentlich  die  Verbrauchssteuern,  als  mit  in  Betracht  kommende 
Pactoren  der  Gesammtsteuerleistung  der  verschiedenen  Individuen,  während 
es  sich  doch  eben  um  die  richtige  Progression  der  Gesammtsteuer  handelt. 

Aber  nicht  bloss  in  der  Redeweise  des  öffentlichen  Lebens,  auch  in  der 
Wissenschaft  wird  diese  „pars  pro  toto"  begangen,  obschon  für  die  theoretische 
Erfassung  und  Begründung  der  Progressivsteuer  das  klare  Bewusstsein  und 
Festhalten  des  Unterschiedes  geradezu  unentbehrlich  ist.  Es  rührt  dies  in 
letzter  Linie  wohl  daher,  dass  die  Idee  der  Progressivsteuer  an  die  Vor- 
stellung einer  allgemeinen  Personaleinkommensteuer  als  einziger  Steuer  sich 
genetisch  anschloss.  Durch  längere  Zeit  war,  wie  man  sich  erinnert,  diese 
Vorstellung  einer  einzigen  allgemeinen  Einkommensteuer  als  Ideal  der  Be- 
steuerung, das  man  jedoch  in  der  Wirklichkeit  nicht  erreichen  könne,  die 
herrschende;  und  zwar  nicht  bloss  in  den  Kreisen  der  Theoretiker.  Anfänglich, 
wie  bekannt,  als  proportionale  Steuer  gedacht,  wandelte  sich  dieses  Steuer- 
ideal später  unter  dem  Einflüsse  der  Opfertheorie  zu  der  progressiven 
Einkommensteuer  um.  Für  diese  Auffassung  konnte  der  obgedachte  Unter- 
schied gar  nicht  existieren:  die  Progressivsteuer  war  eben  die  progressive 
allgemeine  Einkommensteuer.  Diese  Auffassung  stellte  auch  an  die  Theorie 
bezüglich  der  Progressivsteuer  eigentlich  keine  grossen  Anforderungen.  Wenn 


Die  Progressivsteuer.  45 

man  ohnehin  nur  ein  Ideal  aufstellt,  dessen  Unerreichbarkeit  im  vorhinein 
feststeht,  ja  dem  man  sich  nicht  einmal  allmählich  nähern  könne;  wenn  die 
Praxis  ungeachtet  jenes  Ideales  sich  doch  mit  einer  Mehrheit  verschiedener 
Steuern  behelfen  muss,  die  das  Ziel,  welchem  eine  allgemeine  Einkommen- 
steuer entspricht,  stets  nur  äusserst  unvollkommen  zu  verwirklichen  vermögen, 
so  genügt  es  ersichtlich,  wenn  man  lediglich  die  Idee  einer  Progression 
durch  einen  allgemeinen  Gedanken  rechtfertigt.  Es  erschien  aber  offenbar" 
überflüssig,  das  richtige  Maass  der  Progression  ergründen  zu  wollen  und 
es  bedurfte  daher  auch  theoretischer  Prämissen,  aus  w^elchen  eine  solche 
Maassbestimmung  sich  mit  Nothwendigkeit  ergebe,  nicht.  Man  mochte  da 
immerhin  für  die  Gestaltung  des  Fusses  jener  Idealsteuer  mathematische 
Formeln  construieren,  z.  B.  abnehmende  ßeihen,  welche  sich  der  Einheit, 
d.  i.  dem  Einkommen,  zwar  asymptotisch  nähern,  niemals  aber  diese  Grösse 
erreichen  können.  Für  die  Steuerfüsse  der  Steuern  der  Wirklichkeit  folgte 
daraus  streng  genommen  gar  nichts  und  es  war  nicht  einmal  eine  ökonomische 
Motivierung  für  die  aufgestellte  Progressionsformel  erforderlich;  es  genügte, 
dass  der  Autor  oder  Kedner  dieselbe  als  „gerecht"  ansah  und  erklärte,  wobei 
natürlich  der  Eine  diese,  der  Andere  jene  Progression  als  die  gerechte  hin- 
stellen konnte.  Entwarf  man  damit  ja  doch  nur  ein  Bild,  welches  in  der 
Praxis  des  rauhen  Lebens  ohnehin  nicht  zur  That  werden  könne.  Es  erscheint 
überflüssig,  sich  diesfalls  in  literarischen  Eeminiscenzen  zu  ergehen. 

Wie  weiters  bekannt,  ist  gegenwärtig  in  der  Wissenschaft  die  Erkenntnis 
durch gednm gen,  dass  die  Natur  der  Steuer  ein  anderes  Steuerideal  bedinge, 
als  jenes,  welchem  man  früher  huldigte.  Mcht  eine  einzige  Einkommensteuer, 
sondern  ein  wohlcombiniertes  Steuersystem  kann  die  Zwecke  der  Besteuerung 
erfüllen  und  das  Vorgehen  der  Praxis,  welche  eine  lange  Zeitperiode  hindurch 
den  bestehenden  Steuern  stets  neue  Steuerarten  anzuschliessen  strebte,  ist 
nicht  ein  unrichtiges,  sondern  entspringt  gerade  aus  der  Natur  der  Sache. 
Jener  Widerspruch  zwischen  Theorie  und  Praxis  löste  sich  dadurch,  dass 
die  Theorie  in  den  Thatsachen  der  Praxis  nicht  länger  eine  Verkehrtheit 
oder  unvermeidliche  Unvollkommenheit  erblickt,  sondern  deren  Nothwendigkeit 
und  schliesslich  deren  ökonomischen  Grund  erkannte.  Was  man  anzustreben 
hat  und  was  nicht  mehr  als  ein  begrifflich  unerreichbares  Ideal  erscheint, 
ist:  ein  aus  den  verschiedenen  möglichen  Steuerarten  derart  zusammen- 
gesetztes Steuersystem,  dass  im  concreten  Falle  durch  die  Gesammtwirkung 
der  je  einen  Steuerträger  treffenden  Abgaben  derjenige  Effect  —  allerdings 
mit  einer  gewissen  unvermeidlichen  Fehlergrenze  —  hervorgebracht  werde, 
welcher  nach  dem  Wesen  der  Steuer  bezweckt  wird.  Die  Personaleinkommen- 
steuer wird  zu  einem  Gliede  des  Steuersystems,  obschon  noch  tiefgehende 
Meinungsverschiedenheiten  darüber  herrschen,  welche  Steuerarten  in  die 
Combination  des  Steuersystems  einzubeziehen  seien. 

Dieser  Umschwung  in  der  Steuerthecrie  hätte  auch  für  unsere  Frage 
von  Bedeutung  sein  sollen.  Man  kann  jetzt  nicht  mehr  dasjenige,  was  man 
hinsichtlich  der  Progi'ession  der  Steuer  auf  irgend  einem  Wege  allgemein 
deduciert,  von  der  Einkommensteuer  (als  Glied  des  Steuersystems)  ohne  weiters 


46  Sai. 

behaupten.  Gerade  der  Fehler  aber  wird  ziemlich  häufig  begangen.  Man 
gelangt  —  auf  diese  oder  jene  Weise  —  zu  einer  allgemeinen  theoretischen 
Aussage  über  die  Progressivsteuer,  über  ihre  Nothwendigkeit  und  über  die 
Frage  der  ziffermässigen  Gestaltung  der  Progression:  alles  das  wird 
schlechthin  auf  die  Einkommensteuer  übertragen.  Da  wird  man  gar  nicht 
gewahr,  dass  man  vom  Theile  etwas  ausspricht,  was  nur  vom  Ganzen,  vom 
Steuersysteme,  gilt.  Während  erst  zu  untersuchen  und  festzustellen  wäre, 
wie  mit  Kücksicht  auf  die  übrigen,  mitwirkenden  Glieder  eines  gegebenen 
Steuersystems  die  Einkommensteuer  in  demselben  zu  gestalten  wäre,  um 
ein  bestimmtes  Endergebnis,  nämlich  eine,  die  gewünschte  Progression 
zeigende  Gesammtsteuer  zu  realisieren,  stellt  man  irgend  welche  Sätze  über 
die  Progressivsteuer  auf,  d.  i.  über  eine  Progression  der  Steuer  überhaupt, 
und  glaubt  damit  die  Gestaltung  der  Einkommensteuer  als  Glied  des 
Systems  festgestellt  zu  haben,  ohne  zu  merken,  in  welchen  Fehler  man 
verfällt,  wenn  man  so  verfährt.^) 

Nach  dem  Gesagten  wird  es  leicht  festzuhalten,  worauf  es  ankommt, 
um  mit  der  erforderlichen  Klarheit  eine  Untersuchung  der  Frage  der 
Progressivsteuer  zu  führen. 

Bei  der  theoretischen  Erörterung  dieser  Materie  werden  übrigens  mit 
Vortheil  zwei  Punkte  auseinandergehalten.  Es  fragt  sich : 

Erstens,  wie  eine  Progression  der  Steuer  überhaupt 
principiell  zu  begründenist,  d.  i.  die  allgemeine  theoretische 
Formulierung  des  Progressionsprincipes,  und 

Zweitens,  was  in  Betreff  des  Maasses  der  Progression 
allgemein  festgestellt  werden  kann. 

Die  Trennung  der  beiden  Fragepunkte  empfiehlt  sich  durch  den  Umstand, 
dass  eine  bestimmte  Theorie  möglicherweise  nur  den  Grundsatz  der  Progression 
zu  begründen  vermag,  dagegen  ausser  Stande  erscheint,  das  Maass  der 
Progression  auf  Grund  allgemeiner  theoretischer  Prämissen  zu  bestimmen. 
Eine  zureichende  Theorie  sollte  allerdings  auch  in  letzterer  Hinsicht  befriedi- 
gende Aufschlüsse  geben  und  neuere  theoretische  Untersuchungen  sind 
gerade  durch  dieses  Bestreben  angeregt  worden. 

Anschliessend  hier  vorher  auch  noch  ein  Wort  der  Verständigung  über 
einige  Begriffsnamen.  Wir  stellen  die  Progressivsteuer  der  Proportional-  und  der 
Degressivsteuer   entgegen.    Unter   der  letzteren  ist  eine  Steuer  verstanden, 

')  Vgl.  hiezu  im  Folgenden  den  Schluss  von  Abschnitt  I,  2.  Insbesondere  im 
öifentlichen  Leben  unterläuft  dieser  Denkfehler.  Er  wird  aber  zumeist  durch  einen  zweiten 
unschädlich  gemacht.  Irgend  ein  Motivenbericht,  welcher,  um  irgend  eine  beantragte 
progressive  Einkommensteuer  zu  begründen,  sich  bemüht,  die  Progressivsteuer  überhaupt 
theoretisch  zu  rechtfertigen,  fügt  dem  die  beschwichtigende  Bemerkung  bei:  Uebrigens 
solle  ja  diese  progressive  Einkommensteuer  nur  die  Höherbelastung  ausgleichen,  welche 
die  geringeren  Einkommen  durch  die  Verbrauchssteuern,  „die  umgekehrt  progressiv 
wirken",  erfahren.  Ersichtlich  war  die  ganze  Mühe  überflüssig,  welche  auf  die  Motivierung 
der  Progressivsteuer  gewandt  wurde,  wenn  man  nur  eine  proportionale  Besteuerung  will, 
aber  es  involviert  dies  Vorgehen  doch  die  unbewusste  Anerkennung,  dass  das,  was  für 
das  Steuersystem  in  toto  gilt,  nicht  eo  ipso  von  diesem  einen  Gliede  gilt. 


Die  Progressivsteuer.  47 

welche  mit  zunehmendem  Einkommen  relativ  geringer  wird,  was  keineswegs 
eine  Unmöglichkeit,  sondern,  auf  die  Gesammtwirkung  eines  Steuersystems 
bezogen,  leider  manchmal  Wirklichkeit  ist.  Wenn  man  früher  wohl  von 
einer  „degressiven  Form"  der  Progressivsteuer  sprach  oder  erklärte,  die 
Progressivsteuer  sollte  eigentlich  besser  Degressivsteuer  genannt  werden, 
so  hatte  das  den  Sinn,  dass  man  die  Progression  von  einem  bestimmten 
Steuerfusse  als  höchstem  Steuersatze  an  nach  abwärts  ins  Auge  fassen  solle, 
und  dies  hielt  man  deshalb  für  angezeigt,  weil  man  der  Meinung  war,  dass 
eine  Progression  von  unten  an,  als  Progression  begrifflich  in  infinitum  auf- 
steigend, schliesslich  das  Einkommen  erreichen  müsse.  Gegenwärtig  theilt 
Niemand  mehr  jene  schiefe  Auffassung  und  man  vermeidet  daher  die 
erwähnte  Ausdrucksweise.  Dies  dient  der  Klarheit  umsomehr,  als  Anlass  ist, 
von  einer  degressiven  Progression  der  Steuer  zu  sprechen,  da  eine  Progression 
entweder  eine  gleichmässige  oder  eine  vorschreitende  (zunehmende)  oder 
auch  eine  abnehmende  sein  kann. 

Was  die  Literatur  anbetrifft,  so  bedürfen  die  Werke  der  deutschen  Fach- 
autoren, welche  für  die  Frage  in  Betracht  kommen,  dem  Leser  dieser  Blätter 
gegenüber  keines  Citates.  Merkwürdigerweise  hat  das  Thema  in  letzter  Zeit 
aber  gerade  in  einem,  der  deutschen  Leserwelt  wohl  zumeist  verschlossenen 
Literaturgebiete  specielle  Behandlung  gefunden,  nämlich  in  Holland;  theils 
in  systematischen  Darstellungen  des  Finanzwesens,  theils  in  Monographien, 
welche  voller  Beachtung  würdig  sind,^)  In  meiner  „Grundlegung  der  theo- 
retischen Staats wii tschaft "  ist  bereits  eine  Lösung  des  Problems  —  theils 
explicite,  theils  implicite  —  gegeben,  auf  welche  ich  zurückkommen  werde. 

I.  Die  Frii^e  der  Steuer-Progression  überhaupt. 
Ungenügende  Lösungsversuche. 

I.   Die  Opfertheopie. 

a)  Aeltere  Fassung;  Vorbereitung  einer  neuen  Formel. 

Am  bequemsten  machte  sich  die  principielle  Begründung  der  Steuer- 
progression nach  der  landläufigen  Opfertheorie.  Die  oberste  Prämisse  bildete 
der  Satz,  dass  die  Steuer  Allen  das  gleiche  Opfer  auferlegen,  für  Alle 
„thunlichst  gleich  empfindlich"  sein  müsse.     Die  proportionale  Steuer,    die 


1)  Die  hieher  gehörigen  Schriften  sind: 

M.  W.  F.  T  r  e  u  b ,  Ontwikkeliag  en  verband  van  de  Rijks-etc.  belastingen  in 
Nederland,  1885. 

N.  G.  Pierson,  Grondbeginselen  der  Staatshuishoudkunde,  2.  Aufl.  1886. 

Cort  van  der  Linden,  De  theorie  der  belastingen,  1887. 

W.  P.  J.  Bok,  De  belastingen  in  het  Nederlandsche  Parlement  van  1848—1888. 
Academisch  Proefschrift,  1888. 

A.  W.  Mees,  De  progressieve  inkomstenbelasting.  Economist  1889.  S.  437  ff. 

Minderhoud  te  Sneek,  Bijdrage  tot  de  kennis  der  inkomstenbelasting. 
Vragen  van  den  Dag  1889. 

A.  J.  Cohen  Stuart,  Bijdrage  tot  de  theorie  der  progressieve  inkomsten- 
belasting, 1889. 

N.  G.  Pierson,  Leerboek  der  Staatshuishoudkunde.  1890,  2.  Deel. 


48  Sax. 

Abgabe  der  gleichen  Quote  von  jedem  Einkommen,  bedeute  aber  nicht  ein 
gleiches  Opfer  für  Jeden,  wie  man  beiläufig  seit  den  letzten  20  Jahren 
überzeugt  ist,  während  man  bekanntlich  früher  allerdings  ziemlich  allgemein 
der  entgegengesetzten  Meinung  war  —  etwa  mit  Ausnahme  von  Say  und 
vereinzelten  Schriftstellern  minderen  Ansehens  —  und  das  gleiche  indivi- 
duelle Opfer  in  der  Beisteuer  des  gleichen  Theiles  des  Einkommens  von 
Seite  eines  Jeden  erblickte.  Für  den  Eeichen  sei  es  ein  geringeres  Opfer 
als  für  den  Dürftigen,  die  gleiche  Quote  seines  Einkommens  abzugeben  wie 
der  letztere.  Gleichheit  der  Opfer  werde  nur  erzielt,  wenn  man  von  dem  grös- 
seren Einkommen  eine  höhere  Quote  als  Steuer  nimmt,  mit  anderen  Worten 
Progression  der  Steuer  eintreten  lässt.  Eine  nähere  Begründung  dieses  Satzes 
wird  entweder  für  überflüssig  gehalten,  indem  man  ihn  als  von  selbst  ein- 
leuchtend ansieht,  oder  man  glaubt  eine  solche  durch  den  Hinweis  erbracht, 
dass  ja  die  gleiche  Steuerquote  dem  Einen  an  dem  Nothwendigen  oder  Wichtigen 
Abbruch  thue,  dem  Andern  nur  Entbehrliches,  selbst  üeberflüssiges  entziehe. 

Dass  eine  derartige  Kechtfertigung  nicht  genügt,  bedarf  wahrlich 
nicht  vieler  Worte.  Die  erstgedachte  ist  „offenbar"  unzureichend,  weil  nicht 
nur  früher  die  angesehensten  Autoren  und  die  verständigsten  Leute  eben 
anderer  Ansicht  waren,  sondern  auch  nachher  die  Selbstverständlichkeit  des 
Ausspruches  Widerspruch  gefunden  hat.  Das  letztgedachte  Argument  aber 
begegnet  —  „offenbar"  —  dem  Einwände,  dass  ja,  wenn  eine  Person  das 
zehnfache  Einkommen  eines  Zweiten  besitzt,  bei  der  proportionalen  Steuer 
dem  Ersten  zwar  entbehrlichere  Befriedigungen,  aber  in  zehnfach  grösserer 
Anzahl  entzogen  werden  als  die  minder  entbehrlichen,  welche  dem  Zweiten 
durch  die  Steuer  entgehen,  und  daher  erst  zu  untersuchen  wäre,  ob  der 
Entgang  von  10  Entbehrlichem  nicht  gleich  schwer  fällt  wie  der  Entgang 
von  ]  Wichtigem^).  Höchstens,  dass  man  damit  die  Steuerfreiheit  des  unent- 
behrlichen Lebensbedarfes  im  strengen  Sinne  des  Wortes  motivieren  kann, 
woraus,  wenn  man  den  nämlichen  Betrag  bei  allen  Einkommen  in  Abzug 
bringt,  eine  schwache  Progression  der  Steuer  auf  das  Gesammteinkommen 
resultiert:  eine  mehrfach  in  der  Literatur  verlangte  Steuer,  die  aber,  wie  sich 
im  Folgenden  zeigen  wird,  weit  entfernt  davon  ist,  eine  praktisch  oder 
theoretiseh  genügende  Lösung  des  Problems  der  Progressivsteuer  zu  ergeben. 

Es  drängt  sich  also,  wenn  man  von  der  Opfertheorie  eine  zureichende 
Fundierung  der  Progressivsteuer  erwartet,  doch  nachdrücklichst  die  Noth- 
wendigkeit  einer  unanfechtbaren  Motivierung  jener  These  auf,  welche  den 
Untersatz  des  Syllogismus  in  dieser  Theorie  bildet;  des  Satzes:  je  grösser 
das  Einkommen,  desto  geringer  caeteris  paribus  das  Opfer,  welches  eine 
bestimmte,  für  alle  Steuerträger  gleiche  Steuerquote  verursacht.  Gelingt  es, 
diese  zweite  Prämisse  des  Schlusses  befriedigend  festzustellen,  dann  würde  die 
Opfertheorie  —  die  Stichhältigkeit  ihres  Obersatzes  vorausgesetzt  —  concludent, 
d.  h.  für  den  hier  vorerst  ins  Auge  gefassten  Zweck.—  nämlich  die  Frage 
der  Progression  überhaupt,  nicht  auch  die  des  Maasses  —  beweiskräftig. 


^)  Vgl.  Robert  Meyer,    Die  Principien  der  gerechten  Besteuerung  1884,  S.  3.S2. 


Die  Progressivsteuer.  49 

Bei  so  beschaifener  Sachlage  schien  nun  in  den  Ergebnissen,  welche 
die  exacte  nationalökonomische  Theorie  neuestens  hinsichtlich  der  Grund- 
erscheinungen aller  Wirtschaft  aufzuweisen  hat,  die  Hoffnung  einer  besseren 
Fundierung  für  diese  Steuertheorie  zu  winken,  da  die  bezüglichen  theoretischen 
Arbeiten  eben  gerade  von  den  psychischen  Vorgängen  ausgehen,  die  die 
Verwendung  der  Güter  für  die  diversen  Lebenszwecke  leiten. 

Den  Vorläufer  bildetin  dieser  Hinsicht  Robert  Meyer  (Wien),  indessen 
,Principien  der  gerechten  Besteuerung"  erstmals  eine  Nutzbarmachung  der 
neu  gewonnenen  theoretischen  Erkenntnisse  für  das  Gebiet  des  Steuerwesens 
versucht  ist.  Die  Resultate  bezüglich  unserer  Frage  sind,  wie  sogleich 
vorausgeschickt  werden  muss,  allerdings  ganz  und  gar  unzureichend.  Dennoch 
möge  man  sich  die  Mühe  nicht  verdriessen  lassen,  den  ersten,  noch  unsicheren 
Schritten  eines  schwierigen  Gedankenganges  zu  folgen.  Zum  mindesten  wird 
dies  für  den  Leser  den  Nutzen  haben,  ihn  in  den  betreffenden  Ideenkreis 
einzuführen  und  mit  Dingen  vertraut  zu  machen,  die  weiterhin  in  den  vor- 
liegenden Erörterungen  eine  Rolle  spielen  werden. 

Meyer  schickt  sich  an,  indem  er  unter  „Opfer"  die  Wirkung  der 
Steuer  auf  die  Consumtion  der  Steuerträger  versteht,  eine  Erklärung  des 
fraglichen  Punktes  dadurch  zu  gewinnen,  dass  er  den  in  der  Steuerentrichtung 
vorliegenden  Fall  einer  Einschränkung  der  Bedürfnisbefriedigung  unter  die 
allgemeinen  Gesetze  der  Bedürfniserscheinung  subsumiert.  Er. geht  aus  von 
der  Thatsache,  dass  der  Mensch  seine  Bedürfnisse  nach  der  Stärke  ihrer 
Intensität  befriedigt  und  dass  daher  für  ein  gegebenes  Individuum  und  ein 
gegebenes  Einkommen  die  Grenze,  bis  zu  welcher  die  vorkommenden  Be- 
dürfnisse Befriedung  finden,  eine  ganz  bestimmte  ist.^)  Soweit  das  Einkommen 
reicht,  werden  die  Bedürfnisse  von  den  dringendsten  an  in  dieser  ökono- 
mischen Ordnung  ihrer  Befriedigung  zugeführt;  alle  minder  intensiven 
Bedürfnisse  bleiben  unbefriedigt. 

Wenn  nun  durch  die  Steuer  das  Einkommen  verkleinert  wird,  so 
müssen  die  in  der  Reihe  an  letzter  SteUe  stehenden  Bedürfnisse,  die  mindest 
intensiven,  unbefriedigt  bleiben,  so  weit,  bis  das  erübrigende  Einkommen 
wieder  die  Befriedbarkeit  ergibt.  Das  Opfer,  welches  die  Steuer  auferlegt, 
besteht  folglich  darin,  dass  infolge  der  Steuer  von  den  Bedürfnissen,  welche 
der  Steuerträger  mit  seinem  ungeschmälerten  Einkommen  befriedigen  könnte, 
die  mindest  dringenden  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  hinauf  von  der  Befrie- 
digung ausgeschlossen  werden. 

Dies  ist  der  Obersatz,  welchen  der  erwähnte  Autor  voranstellt;  un- 
streitig ein  ebenso  richtiger  als  wichtiger  Satz,  der  für  alles  Folgende  fest- 
zuhalten ist.-) 


')  S.  a.  a.  0.  §  28.  Das  Weitere  in  §  54. 

2)  Allerdings  enthält  diese  Thesis  nichts  Neues,  sondern  nur  die  wissenschaltlich 
klare  Formulierung  des  Gedankens,  der  Sätzen  zugrunde  liegt,  wie  z.  B.  dem  in 
Wagner's  „Finanzwissenschaft"  (1880):  „Das  freie  Einkommen  ist  regelmässig  der 
Fonds,  aus  dem  die  Steuer  bestritten  wird". 

Zeitschrifi  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  I.  Heft.  4 


50  Sax. 

Im  Weiteren  stellt  Meyer  eine  Behauptung  über  das  Verhältnis  der 
Stärke  der  bei  verschiedenen  Einkommen  letztbef riedbaren  Bedürfnisse  auf, 
die  er  aus  einer  Anschauung  über  das  Verhältnis  der  Zahl  der  Bedürfnisse 
jeden  Intensitätsgrades  zu  den  Stärkegraden  selbst  ableitet.  Er  erklärt  es 
als  eine  Erfahrung,  dass  die  Zahl  und  Mannigfaltigkeit  der  Bedürfni[;se  (dem 
Sinne  nach  ist  die  Mannigfaltigkeit  der  Bedürfnisse  je  eines  bestimmten 
Intensitätsgrades  gemeint)  mit  der  Abnahme  ihrer  Intensität  steigt,  was 
sich  darin  zeige,  dass  die  Menschen  eine  viel  grössere  Anzahl  Bedürfnisse 
geringer  Intensität  haben  als  hoher.  Daraus  ergebe  sich,  „dass  die  Ver- 
grösserung  des  Einkommens  um  gleiche  Beträge  die  durchschnittliche 
Intensität  der  zur  Befriedigung  gelangenden  Bedürfnisse  um  immer  kleinere 
Schritte  hinausrückt,  während  die  Anzahl  der  Befriedigungsacte  von  Bedürf- 
nissen gleicher  oder  nur  sehr  schwach  differenzierter  Intensität  stets 
zunimmt".  Wenig  Zeilen  hierauf  heisst  es:  „Die  Int ensitäts grenze  der 
Bedürfnisse  wird  daher  durch  gleichen  Zuwachs  des  Einkommens  je  nach 
der  Grösse  des  bereits  vorhandenen  Einkommens  um  sehr  verschiedene 
Stücke  hinausgerückt. "  Obschon  sich  letzterer  Satz  als  eine  Folgerung  aus 
dem  früheren  darstellt,  so  ist  doch  wohl  das  Gleiche  mit  ihm  gemeint, 
nämlich:  die  Intensität  der  letztbefriedbaren  Bedürfnisse  weist  bei  Zunahme 
des  Einkommens  um  gleiche  Summen  stets  geringer  werdende  Differenzen  auf.^) 

Diese  These  scheint  zunächst  wohl  einer  Feststellung  ihres  Sinnes  zu 
bedürfen,  welche  am  sichersten  durch  zahlenmässige  Concretisierung  zu 
gewinnen  sein  wird.  Stellen  wir  uns  eine  Anzahl  von  Einkommen  vor,  die 
um  je  1000  fl.  anwachsen  und  von  denen  je  100  fl.  für  die  gleiche  Zahl 
von  Bedürfnissen  jeden  Grades  verbraucht  würden.  Das  intensivste  Bedürfnis 
hätte  den  Stärkegrad  von  100,  jede  folgende  Bedürfnisgruppe  sei  um  1  Grad 
schwächer.  Mit  einem  Einkommen  von  1000  fl.  könne  man  die  Bedürfnisse 
der  Stärkegrade  100  bis  91  befriedigen.  Die  Intensitätsgrenze  der  Bedürfnisse 
ist  hier  91  Grad.  Bei  Zunahme  des  Einkommens  um  1000  fl.  wären  befriedbar 
Bedürfnisse  vom  90.  Stärkegrade  abwärts.  Angenommen,  dass  die  Bedürfnisse 
des  82.  Grades  der  Zahl  jnach  doppelt  so  umfangreich  seien  als  die  der 
höheren  Stärkegrade,  so  würden  200  fl.  dafür  nöthig  sein  und  die  zweiten 
1000  fl.  würden  folglich  zur  Befriedigung  dieser  Bedürfnisse  des  82.  Grades 
noch  hinreichen,  jedoch  nicht  mehr  für  die  Bedürfnisse  des  81.  Grades.  Die 


1)  Unter  „Intensitätsgrenze "  kann  doch  wohl  nur  die  Intensität  der  letztbefriedbaren 
Bedürfnisse  verstanden  sein,  offenbar  dasselbe  aber  ist  mit  dem  Ausdrucke  „durchschnitt- 
liche Intensität  der  zur  Befriedigung  gelangenden  Bedürfnisse"  gemeint.  Würde  der 
letztere  Ausdruck  streng  nach  seinem  Wortlaute  als  Durchschnitt  der  Intensität  der  ge- 
sammten  zur  Befriedigung  gelangenden  Bedürfnisse  interpretiert,  so  lägen  zwei  ver- 
schiedene Aussagen  vor,  nämlich,  dass  sowohl  dieser  Durchschnitt  als  auch  die  wirkliche 
Intensität  der  letztbefriedbaren  Bedürfnisse  bei  gleichmässig  zunehmenden  Einkoramens- 
grössen  immer  kleiner  werdende  Diiferenzen  aufweisen.  Da  indes,  sofern  sich  das 
Erstere  bewahrheitet,  dies  die  Folge  des  Eintretens  des  Letztgedachten  ist,  so  genügt  es, 
eben  nur  diese  Aussage  ins  Auge  zu  fassen,  selbst  wenn  der  Autor  wirklich  —  was  uns 
jedoch  in  Anbetracht  anderer  Stellen  seines  Buches  nicht  wahrscheinlich  dünkt  —  nicht 
die  nämliche  Aussage  beabsichtigt  hätte. 


Die  Progressivsteuer.  51 

Intensitätsgrenze  bei  den  zweiten  1000  fl.  wäre  also  82.  Beim  Zuwachse 
weiterer  1000  fl.  beginnt  die  Befriedigung  der  Bedürfnisse  vom  81.  Grade  ab 
und  es  reicht  die  Summe,  wenn  diese  Bedürfnisse  alle  gleich  denen  des 
82.  Grrades  doppelt  so  zahlreich  sind  als  die  höheren,  bis  inclusive  zum 
77.  Grade.  Beim  dritten  1000  fl.  ist  also  die  Intensitätsgrenze  77.  Kehmen 
wir  noch  einen  weiteren  Zuwachs  um  1000  fl.  hinzu  und  supponieren  wir,  dass 
die  Bedürfnisse  vom  74.  Grade  an  die  dreifache  Zahl  aufweisen,  so  könnten  mit 
den  vierten  1000  fl.  die  Bedürfnisse  des  76.  bis  einschliesslich  73.  Grades 
befriedigt  werden,  so  dass  die  Intensitätsgrenze  nun  bei  73  Grad  stünde. 
Es  erscheint  wohl  unnöthig,  die  Exemplification  weiter  fortzuführen.  Wir 
sehen  bei  Anwachsen  des  Einkommens  um  je  1000  fl.  die  Intensitätsgrenze 
sinken  von  91  auf  82,  77,  73.  Während  die  Differenz  zwischen  den  stärksten 
und  den  schwächsten  Bedürfnissen  bei  den  ersten  1000  fl.  noch  10  Grade 
betrug,  stellt  sich  der  Unterschied  bei  jedem  Anwachsen  des  Einkommens 
um  die  gleiche  Summe  auf  9,  5,  4:  die  Differenzen  zeigen  eine  fort- 
schreitende Verminderung. 

Ob  aus  einem  so  beschaffenen  Abfallen  der  Intensität  der  letztbefriedbaren 
Bedürfnisse,  wie  es  durch  vorstehende  Ziffern  verdeutlicht  ist,  Progression 
der  Steuer  folgen  würde,  wird  im  Verlaufe  der  Darstellung  erhellen.  Allein 
hier  muss  sofort  bemerkt  werden,  dass  diese  Differenzierung  als  Folge 
zunehmender  Zahl  der  Bedürfnisse  bei  abnehmender  Intensität  nur  erhalten 
wurde  auf  Grund  der  Annahme,  dass  die  gleiche  Summe  für  jedes  Bedürfnis 
aufzuwenden  ist.  Wie  aber,  wenn  die  schwächeren  Bedürfnisse  zugleich  mit 
Aufwendung  einer  geringeren  Gütermenge  befriedbar  sind,  man  also  zwar 
eine  grössere  Zahl  der  Bedürfnisse  bei  geringeren  Intensität sgraden  beobachtet, 
aber  auch  für  jedes  einzelne  Bedürfnis  weniger  Güter  gebraucht  werden? 
Es  ist  einleuchtend,  dass  es  dann  nur  auf  das  Verhältnis  ankommt,  in 
welchem  die  beiden  Zahlen  (der  anwachsenden  Bedürfnisse  und  der  geringeren 
Gütermenge  für  ein  Bedürfnis)  zu  einander  stehen,  um  ein  total  anderes 
Resultat  als  im  obigen  Beispiele  herauszubekommen.  Ziffermässige  Exemplifi- 
cationen,  die  leicht  anzustellen  sind,  ergeben  ein  Gleichbleiben  der  gedachten 
Intensitätsdifferenz  und  selbst  eine  Vergrösserung  derselben,  d.  i.  ein  Ergebnis 
diametral  entgegengesetzt  zu  dem,  welches  behauptet  wurde !  Wenn  daher 
jenes  Verhältnis  der  Intensitätsabnahme  der  bei  den  verschiedenen  Einkommen 
letztbefriedbaren  Bedürfnisse  wirklich  wahrzunehmen  ist,  so  kann  dies 
keineswegs  aus  der  zunehmenden  Zahl  der  Bedürfnisse  allein  folgen,  sondern 
nur  daraus,  dass  durch  dieselbe  zugleich  bestimmte  Summen  von  Einkommen 
absorbiert  werden.  Darüber  enthält  aber  die  vorliegende  Aussage  ihrem 
Wortlaute  nach  nichts,  und  wir  werden  uns  über  den  bezüglichen  Sachverhalt, 
der  in  der  That  in  unserer  Frage  von  Bedeutung  ist,  im  Folgenden  erst 
eine  Meinung  zu  bilden  haben.  ^) 

^  Die  ganze  Wortfassung  des  bezüglichen  Abschnittes  macht  es  wahrscheinlich, 
dass  Meyer  einen  zweiten  Gedanken  mit  verbindet,  ohne  sich  des  Umstandes  hewusst 
zu  werden,  dass  eben  noch  etwas  anderes  herangezogen  ist.  Wie  es  scheint,  stellt  sich 
Meyer  vor,  dass  die  Intensitätsgrade  der  Bedürfnisse    bei    zunehmendem    Einkommen 


52  Sa^- 

Auf  Basis  vorstehender  Prämissen  versucht  Meyer  nun  eine  Begründung 
der  Progressivsteuer,  von  welcher  er  selbst  sagt,  dass  sie  nicht  über  einen 
Wahrscheinlichkeitsbeweis  hinausgebt,  und  die  er  in  folgenden  Passus  zusam- 
menfasst:  „Solange  man  die  speciell  bei  der  Einkommensteuer  gewöhnlich  in 
Betracht  kommenden  Quoten  von  5  bis  10%  ins  Auge  fasst,  wird  man  sich 
kaum  ein  bestimmtes  Urtheil  darüber  bilden  können,  ob  das  bei  einer 
solchen  Steuer  bei  verschiedenen  Einkommensgrössen  hervorgerufene  Opfer 
gleich  oder  ungleich  gross  ist.  Dagegen  kann  die  Entscheidung  nicht 
zweifelhaft  sein,  sobald  man  an  grössere  Einkommensabzüge,  z.  B.  Vg  bis 
V3  des  Einkommens,  denkt.  Der  Mann,  der  von  1200  fl.  Einkommen  auf 
800  oder  600  beschränkt  wird,  muss  seine  Bedürfnisse  gegen  den  früheren 
Zustand  mehr  einschränken  als  Derjenige,  der  von  2400  fl.  auf  1600  oder 
1200  reduciert  wird.  Bei  dem  Vergleiche  eines  Einkommens  von  1200  fl. 
für  eine  Beamtenfamilie  mittleren  Kanges  und  eines  solchen  von  12.000  fl. 
für  einen  Capitalisten  dürfte  das  Urtheil  auch  schon  bei  .  .  .  der  Steuer  von 
107o  wohl  in  demselben  Sinne  ausfallen.  Insoferne  nun  der  Schluss  gerecht- 
fertigt ist,  dass  auch  die  Wirkung  einer  geringeren  Schmälerung  des  Ein- 
kommens verhältnismässig  dieselbe  bleibe,  lässt  sich  behaupten,  dass  das 
Princip  der  Opfergleichheit  die  progressive  Besteuerung  verlange." 

Es  ist  dies  gewiss  eine  recht  unsichere  Beweisführung.  Einzig  und 
allein  die  Worte  „seine  Bedürfnisse  gegen  den  früheren  Zustand  mehr 
einschränken"  deuten  den  entscheidenden  Gedanken  an,  aber  schon  der 
Umstand,  dass  der  Verfasser  denselben  so  wenig  wissenschaftlich  scharf 
formuliert  und  in  keiner  Weise  weiter  ausführt,  zeigt,  dass  er  den  Satz  nach 
seiner  Tragweite  nicht  verfolgt  hat.  (Wie  wir  sogleich  sehen  werden,  ist 
dies  von  Anderen  geschehen.)  Wenn  wir  die  in  den  hervorgehobenen  Worten 
eingeschlossene  These  allgemein  und  klar  fassen,  so  wäre  die  Argumentation 
diese :  Die  Entnahme  einer  gleichen  Quote  bewirkt  bei  kleinerem  Einkommen 
eine  grössere  relative  Verminderung  des  Maasses  der  Bedürfnisbefriedigung 
als  beim  grösseren  Einkommen.  Denkt  man  an  bedeutende  Einkommens- 
abzüge, z.  B.  V2  bis  Vs  des  Einkommens,  so  kann  die  Entscheidung  nicht 
zweifelhaft  sein.  Ebenso,  wenn  man  zwar  geringere  Quoten  als  Steuer  ansetzt, 
z.  B.  5  bis  107o,  aber  kleine  Einkommen  mit  sehr  grossen  vergleicht.  Und 


einen  sehr  starken  Abfall  zeigen  und  dieser  Abfall  zugleich  so  beschaffen  ist,  dass  ab- 
nehmende Differenzen  zum  Vorschein  kommen;  z.  B.  bei  einem  Einkommen  von  1000  fl. 
Intensitätsgrenze  90,  bei  2000  fl. :  50,  bei  3000  fl. :  30,  bei  'lOOO  fl. :  20,  bei  5000  fl. :  15, 
bei  6000  fl. :  12  u.  s.  w.  Hier  sind  die  Differenzen  40,  20,  10,  5,  3;  es  zeigt  sich  jedoch 
zugleich  ein  hoher  Intensitätsgrad  bei  kleinem  Einkommen,  sehr  rasche  Verminderung  bei 
zunehmendem  Einkommen  und  sehr  niedrige  Intensität  beim  Beginne  der  grösseren  Ein- 
kommen. In  einer  solchen  Darstellung  ist  eine  Aussage  über  ein  bestimmtes  Verhältnis 
eingeschlossen,  in  welchem  die  Intensitätsverminderung  zur  Zunahme  des  Einkommens 
steht.  Eine  derartige  Aussage  macht  jedoch  Meyer  in  bewusst-klarer  Weise  nicht.  Wenn 
man  seinen  Worten  jenen  Sinn  unterlegt,  wie  ich  es  in  meiner  „Grundlegung"  S.  512 
gcthan  habe,  dann  folgt  allerdings  etwas  in  Bezug  auf  die  Steuerprogression  daraus. 
Meyer  selbst  aber  zieht  die  bezügliche  Folgerung,  wie  wir  sogleich  sehen  werden, 
ebenfalls  nicht. 


Die  Progressivsteuer .  53 

insoferne  der  Schluss  gerechtfertigt  ist,  dass  auch  bei  noch  kleineren  Quoten 
schliesslich  dasselbe,  wenngleich  in  geringerem  Maasse,  eintritt,  lasse  sich 
behaupten,  dass  das  Princip  der  Opfergleichheit  die  progressive  Besteuerung 
verlange.  Das  ist  der  ganze  Beweis. 

Es  kann  nun  wohl  dieser  Ausführung  der  Vorwurf  nicht  erspart  bleiben, 
dass  in  ihr  das  unbedingt  erforderliche  Maass  von  Präcision  des  wissenschaft- 
lichen Denkens  und  Genauigkeit  des  Ausdruckes  nicht  aufgewendet  erscheint. 
Nicht  nur,  dass  man  erst  nicht  ohne  eine  gewisse  Mühe  ausfindig  machen 
muss,  dass  der  Autor  eine  grössere  relative  Einschränkung  des  Maasses  der 
Bedürfnisbefriedigung  bei  dem  kleineren  Einkommen  aussagen  will,  schränkt 
er  seine  eigene  Aussage  sofort  selbst  erheblich  ein,  indem  er  sogar  bei 
Steuerquoten  von  5  bis  107o  die  Sache  als  so  ungewiss  betrachtet,  dass 
man  „sich  kaum  ein  bestimmtes Urth eil  darüber  bilden  kann",  und  schliesslich^ 
was  die  allgemeine  G-eltung  des  Satzes  betrifft,  diese  davon  abhängig  macht, 
dass  der  Schluss  von  den  Fällen  sehr  grosser  Steuerquoten  und  sehr 
grosser  Einkommensdifferenzen  auf  alle  anderen  Fälle  gerechtfertigt  sei, 
wobei  man  eigentlich  nicht  weiss,  ob  der  Schluss  wirklich  gerechtfertigt  ist 
oder  nicht. 

Aber  wird  denn  der  Satz  auch  nur  bezüglich  der  als  zweifellos  exem- 
plificierten  Fälle  wirklich  bewiesen?  Es  wird  dies  auch  nicht  mit  einem  Worte 
versucht.  Oder  ergibt  sich  die  Behauptung  auch  ohne  ausdrücklichen 
Erweis  eo  ipso  als  Conclusion  aus  den  vorbesprochenen  Prämissen?  Eben- 
sowenig. 1) 

Es  ist  mithin  eigentlich  nichts  bewiesen  und  die  Darstellung  unterscheidet 
sich  in  ihrem  Gehalte  keineswegs  von  dem  Vorgehen  anderer  Autoren,  die 
den  Satz,  die  gleiche  Steuerquote  stelle  bei  kleinerem  Einkommen  ein 
grösseres  Opfer  dar,  damit  genügend  begründet  erachteten,  dass  sie 
behaupteten,  das  sei  „offenbar"  der  Fall.^)  Meyer  ist  also  über  die  Prämissen 
einer  Deduction  nicht  hinausgekommen.  Er  hat  nicht  die  Gleichung  angesetzt, 
mit  welcher  das  vorliegende  Problem  zu  lösen  wäre,  sondern  nur  Daten 
geliefert,  mit  welchen  die  Gleichung  vielleicht  anzusetzen  gewesen  wäre. 
Seine  Ausführungen  waren  daher  allerdings  zu  erwähnen,  aber  eben  nur  als 
einleitend  für  die  anderer  Theoretiker,  welche  dort  begannen,  wo  jener 
aufhört.  Und  diese  sind  die  eingangs  erwähnten  holländischen  Autoren, 
welchen  wir  uns  nun  sofort  zuzuwenden  haben. 


')  Aus  der  zunehmenden  Zahl  der  Bedürfnisse  von  abnehmender  Intensität  und  der 
dadurch  erfolgenden  Beanspruchung  zunehmender  Einkommensbeträge  folgt  geradezu  eine 
die  Progression  hemmende  Tendenz,  wie  in  Abtheilung  2  des  Abschnittes  HI  dieser 
Abhandlung  erhellen  wird. 

'^)  Wie  sehr  auch  der  Autor  selbst  den  Eindruck  hatte,  dass  sein  angeblicher  Be- 
weis nicht  besonders  gelungen  sei,  ist  daraus  erkennbar,  dass  er  sofort  „abgesehen  von 
dieser  theoretischen  Begründung"  durch  einen  praktischen  Grund  die  Nothwendigkeit  der 
Progressivsteuer  darthun  will;  einen  Grund',  der  —  nebenbei  bemerkt  —  gleichfalls  sich 
nicht  als  stichhältig  erweist.  Wenn  man  einem  Argumente  sofort  den  Nachsatz  beifügt: 
„üebrigens  ist  das  Behauptete  schon  aus  diesem  oder  jenem  anderen  Grunde  ersicht- 
lich," so  pflegt  das  Erstangeführte  nicht  besonders  überzeugend   zu  sein. 


54  Sax. 

b)  Neuere  Varianten  der  Opfertheorie. 

Die  erwähnten  Schriftsteller  meinten  die  Frage  der  Progressivsteuer 
dadurch  lösen  zu  können,  dass  sie  auf  die  Opfertheorie  jenen  Satz  der  all- 
gemeinen ökonomischen  Theorie  zur  Anwendung  brachten,  dessen  Inhalt 
wohl  heute  jedermann  gegenw^ärtig  ist,  wenn  wir  ihn  als  die  Lehre  Jevons' von 
der  „Final  utility"  oder  Menger's  Wertlehre  bezeichnen.  Der  Nutzen  eines 
Gutes,  die  Bedeutung  eines  Gutes  für  die  menschliche  Wohlfahrt  —  dieses 
Gut  als  Bestandtheil  eines  Complexes,  einer  Mehrheit  von  Gütern  gedacht  — 
nimmt  ihr  zufolge  mit  der  Zunahme  der  Grösse  des  Güterbestandes  ab,  als 
dessen  Theil  eben  jenes  Gut  ökonomisch  in  Betracht  kommt,  oder  —  auf 
Geld  bezogen:  jeder  Gulden  verschafft  weniger  Genuss,  je  grösser  das  Ein- 
kommen ist,  zu  welchem  er  hinzutritt,  und  sein  Ausgang  bereitet  einen 
umso  geringeren  Entgang,  je  grösser  das  Einkommen  ist,  aus  dem  er  ent- 
nommen wird. 

Mit  raschem  Griffe  glaubte  man  anfangs  in  diesem  Satze  an  sich 
schon  die  Handhabe  zu  erfassen,  welche  die  proportionale  Steuer  aus  den 
Angeln  hebt.  Wenn  der  Nutzen  der  Güter,  ihr  „Grenznutzen",  in  jenem 
Maasse  abnimmt,  so  folge  daraus  eo  ipso  die  Nothwendigkeit  einer  Progression 
der  Steuer  (Treub).  Wegen  der  Abnahme  des  Grenznutzens  bedeute  die 
Abgabe  der  gleichen  Quote  ein  kleineres  Opfer  beim  grösseren  Einkommen, 
resp.  sei  das  letztere  relativ  mehr  zu  leisten  imstande. 

Indes  bedarf  es  wohl  nur  einer  geringen  logischen  Achtsamkeit,  um 
den  Denkfehler  zu  bemerken,  in  welchen  man  bei  diesem  Schlüsse  verfällt. 
Wenn  bei  zwei  sich  gegenüberstehenden  Einkommen  von  1000  fl.  und  von 
10.000  fl.  der  Grenznutzen,  der  Wert  eines  Guldens  von  dem  letzteren 
Einkommen  Vio  ^^^  Grenznutzens  (Wertes)  des  Guldens  vom  erstbezifferten 
Einkommen  beträgt,  d.  h.  wenn  der  Grenznutzen  in  gleichem  Verhältnisse 
abnimmt,  in  welchem  das  Einkommen  zunimmt,  dann  bereitet  die  Abgabe 
der  gleichen  Quote  von  jedem  in  Vergleich  gezogenen  Einkommen  den 
gleichen  Entgang.  Bei  einer  107o  Steuer  zahlt  der  Mann  mit  10.000  fl. 
Einkommen  1000  fl.,  gegen  100  fl.  des  Steuerträgers  mit  1000  fl.  Einkommen, 
da  aber  der  Gulden  für  ihn  Vio  »hedeutet"  von  dem,  was  der  Gulden 
für  den  Zweiten  Wert  hat,  so  kommt  der  gleiche  Entgang  zum  Vorschein. 
Aus  der  Thatsache,  dass  der  Grenznutzen  der  Gutseinheit  mit  Zunahme  der 
Gütermenge,  des  Einkommens,  abnimmt,  folgt  also  noch  keineswegs  die 
Progressivsteuer  behufs  Herbeiführung  des  gleichen  Opfers  aller  Steuerträger. 

Wir  begegnen  indes  alsbald  eben  daselbst  dem  Versuche  einer  besseren 
Lösung  des  Problems,  nämlich  von  Seite  Pierson's  und  der  durch  ihn 
beeinflussten  Schriftsteller:  einem  Lösungsversuche,  welcher  auf  weit  durch- 
dachterer  Anwendung   des   vorerwähnten    ökonomischen   Lehrsatzes   beruht. 

Hiebei  schien  es  nothwendig,  vorerst  einmal  zu  untersuchen,  was  denn 
eigentlich  unter  einem  „gleichen  Opfer"  zu  verstehen  sei,  da  doch  nicht 
festzustellen  ist,  in  welchem  Verhältnis  die  Ausschliessung  minder  intensiver 
Bedürfnisse  gleichstehe  dem  Entfallen  intensiverer  Bedürfnisse,  aber  in  ge- 
ringerer Anzahl.  Die  Antwort,  welche  man  auf  diese  Frage  fand,  bildet  die 


Die  Progressivsteuer.  55 

Grundlage  der  weiteren  Schlussfolgerung.  Dieselbe  wurde  in  nachstehende 
Formel  gekleidet:  Opfergleichheit  bedeutet,  dass  die  durch  die  Steuerzahlung 
Jedem  entgehenden  Genüsse  im  gleichen  Verhältnisse  zu  dem  Jedem 
durch  sein  Einkommen  ermöglichten  Gesammtgenuss  stehen  sollen.  Die 
Opfer,  welche  verschiedene  Personen  zu  bringen  haben,  sind  gleich,  wenn 
letztere  einen  gleichen  Theil  von  der  Summe  von  Genüssen,  worüber 
Jeder  verfügt,  entbehren  müssen.  1) 

Damit  war  eigentlich  nur  bestimmt  und  deutlich  ausgesprochen,  woran 
man  wohl  schon  auch  von  anderer  Seite  gedacht  hatte,  wenn  man  „gleiche 
Opfer"  forderte,  oder  wenn  man  sagte,  die  Bedürfnisbefriedigung  des  Einen 
werde  doch  ersichtlich  «gegen  den  früheren  Zustand  mehr  eingeschränkt" 
dadurch,  dass  er  von  einem  gewissen  Einkommen  einen  bestimmten  Theil 
abgebe,  als  wenn  ein  Anderer  von  seinem  sehr  abweichenden  Einkommen 
dasselbe  zahle  (Meyer).  Aber  es  war  jene  ausdrückliche  Formulierung  doch 
eben  ein  wesentlicher  Gewinn  an  Klarheit.  Und  nicht  nur  das  allein,  sondern 
es  war  mit  ihr  zugleich  ein  Unterschied  von  der  früher  erwähnten  Auffassung 
statuiert,  welche  die  Opfergleichheit  in  dem  Entgange  des  gleichen  Nutzens 
suchte.  Nicht  die  Entbehrung  eines  gleichen  Genusses,  sondern  eines  gleichen 
Theil  es  von  den  respectiven  Genüssen  ist  das  gleiche  Opfer.  Mit  anderen 
Worten:  nicht  absolut  gleiche  Opfer,  sondern  relativ  gleiche  Opfer  sind 
fortan  verstanden.  \^ern  man  die  Opfergleichheit  im  Munde  führt;  die  Ent- 
behrung von  Genussquanten,  die  den  gleichen  Theil  des  Jedem  zufolge  seines 
Einkommens  zur  Verfügung  stehenden  Gesammtquantum  vonGenuss  ausmachen. 
Ein  sehr  belangreicher,  aber  auch  sehr  einleuchtender  Unterschied,  den  Cohen 
Stuart  noch  des  Näheren  und  Breiteren  zu  beleuchten  für  nöthig  hält. 2) 

Nun  handelt  es  sich  um  die  Vergleichung  der  infolge  der  Steuer 
entfallenden  Befriedigungen  mitdem  Gesammtmaasse  der  durch  das  Einkommen 
ermöglichten  Bedürfnisbefriedigung.  Hier  gelangt  jetzt  die,  wie  erwähnt, 
schon  von  Meyer  vorangestellte  Prämisse  zur  Verwendung.  Die  durch  die 
Steuer  in  Wegfall  kommenden  Güter  werden  den  mindest  intensiven  Bedürf- 
nissen, den  in  der  Bedürfnisreihe  zu  hinterst  stehenden,  entzogen.  Wer  einen 
bestimmten  Betrag  an  Steuer  zu  zahlen  hat,  wird  nicht  je  einen  Theil  davon 
den  Bedürfnisgruppen  aller  Grade  vorenthalten,  sondern  lässt  die  mindest- 
starken Bedürfnisse  soweit  unbefriedigt  als  der  betreffende  Güterausfall 
dies  mit  sich  bringt.  Der  durch  die  Steuer  verursachte  Entgang  lässt  sich 
mithin  darstellen  in  einer  Ziffer,  welche  das  Product  ist  aus  der  Steuersumme 
und  dem  Grenznutzen  der  Güter  in  dem  bezüglichen  Einkommen.^) 

*)  Pierson  „Grondbeginselen  etc,"  S.  310  ff.,  Cort  v.  d.  Linden,  a.  a.  0.  S.  78. 

2)  „Bijdrage"  etc.  S.  28  ff. 

3)  D.  h.  wenn  man  sich  umfangreichere  Bedürfnisgruppen  von  durchschnittlich 
gleicher  Intensität  vorstellt,  welchen  je  eine  grössere  Geldsumme  als  durch  sie  in  An- 
spruch genommener  Einkommensbetrag  entspricht,  z.  B.  lüOO  fl.,  und  wenn  man  weiters 
nur  an  relativ  geringe  Steuersätze  denkt,  die  selbst  in  einer  Progression  einen  solchen 
Einkommenstheil  nicht  erschöpfen;  denn  nur  dann  entfallen  infolge  der  Steuer  lediglich 
Bedürfnisse  der  allerletzten  Gruppe,  die  unter  sich  gleich  stark  sind  und  eben  den 
Grenznutzen  bezeichnen. 


56  Sax. 

Um  nun  zu  finden,  ob  der  so  bezifferte  Genussentgang  einen  gleichen  oder 
verschiedenen  Theil  von  der  Gesammtbefriedigung  ausmache,  welche  Jedem 
nach  seinem  Einkommen  zugänglich  ist,  muss  auch  letztere  in  gleicher  Weise 
zum  ziffermässigen  Ausdruck  gebracht  werden.  Dies  geschieht,  indem  man 
sich  das  Einkommen  in  bestimmte  Theilsummen  zerlegt  denkt,  deren  jede 
hinzukommende  einen  geringeren  Grenznutzen  zeigt  als  die  ihr  vorangehende. 
Den  Nutzen  jeder  solchen  Theilsumme  zeigt  an  das  Product  derselben  mit 
dem  Grenznutzen  der  Einheit.  Diese  Zahlen,  addiert,  ergeben  den  Gesammt- 
nutzen,  das  Maass  der  Bedürfnisbefriedigung,  welche  ein  Einkommen  gewährt. 

Die  für  das  Maass  des  durch  die  Steuer  verursachten  Entganges  gefun- 
denen Zahlen  sind  mit  den  letztgedachten  Ziffern,  welche  das  Gesammtmaass 
des  Genusses  ausdrücken,  ins  Verhältnis  zu  setzen.  Je  nachdem  ein  gleicher 
oder  ungleicher  Quotient  resultiert,  ist  die  Belastung,  das  Opfer  in  dem  hier 
in  Rede  stehenden  Sinne,  gleich  oder  verschieden. 

Vorstehender  Gedankengang  wurde  zuerst  von  Pierson  mit  voller 
Klarheit  ausgesprochen  ^)  und  von  seinem  Schüler  B  o  k  auf  Grund  der 
Ueberzeugung,  dass  hiemit  die  Frage  des  Princips  der  Steuerprogression 
endgiltig  gelöst  sei,  in  dem  Denkbilde  folgender  Tabellen  dargestellt.^) 

A  besitzt  1000  fl.  Einkommen  mit  Grenznutzen  von  lOO'O  Perc. 

«  95-0  „ 

.  91-0  „ 

«  87-5  „ 

„  84-3  „ 

n              V  81*3  „ 

.               r,  V8-4  „ 

C  beispielsweise  würde  von  seinem  Einkommen  per  3000  fl.  Gesammt- 
nutzen  (Gesammtgenuss)  haben: 

1000  fl.  ä  100  Perc.  =  1000 
1000  „    ä    95       „     =    950 
1000  „    ä    91       „     =    910 
2860. 
Nach  diesem  Schlüssel  ergibt  sich  ein  Gesammtnutzen  des  Einkommens 
bei  Ä  von  1000,  bei  B  von  1950,  bei  C  von  2860,  bei  D  von  3735,  bei  E 
von  4578,  bei  F  von  5391,  bei  G  von  6175.^) 


B 

^ 

1000  „ 

mehr  als  A 

C 

V 

1000  „ 

^       .    B 

D 

„ 

1000  „ 

.      .    c 

E 

V 

1000  „ 

.       .    B 

F 

„ 

1000  „ 

.       .    JE 

G 

^ 

1000  „ 

„   .  F 

^)  In  „de  Gids,"  „Nieuwe  litteratuur  over  belastingen,"  Februar  1888. 

2)  „De  belastingen  in  de  Nederlandsche  Parleraenf,  1888,  S.  177  ff.  Eine  Promo- 
tionsschrift von  besonderer  Eeife. 

^)  Der  Autor  sagt,  diese  Personen  A  bis  G  „schätzen"  ihr  Einkommen  auf  so  viel 
Gulden,  als  die  obigen  Verhältniszahlen  ausdrücken.  Ein  Einkommen  von  4000  fl.  werde 
also  auf  3735  fl.  geschätzt!  Hier  wird  der  Fehler  begangen,  das  Wort  Gulden  in  ver- 
schiedenem Sinne  zu  brauchen.  Bei  der  Ziffer  des  Einkommens  bedeutet  es  Münz- 
einheiten, bei  der  Ziffer,  auf  welche  das  Einkommen  „geschätzt**  wird,  Einheiten  des 
Grenznutzens.  Es  sollte  also  richtig  heissen :  die  Einkommen  des  A  bis  G  repräsentieren 
so  und  so  viel  Nutzeinheiten.  Da  im  Sinne  der  betreffenden  Theoretiker  Grenznutzen 
identisch  ist  mit  Wert,  hätte  der  Autor  auch  sagen  können:  „ Werteinheiten "  :  A  bis  G 
schätzen  ihre  respectiven  Einkommen  auf  so  und  so  viel  Werteinheiten.  Dasselbe  gilt 
natürlich  von  der  Reduction    der    Steuerquoten    auf   Grenznutzeinheiten.     Daher  sind  in 


Die  Progressivsteuer.  57 

Bei  einer  37o  Steuer  zahlt 

Ä    30  fl.  zum  Grenznutzen  von  100-0  Pere.  =     30*00,  d.  i.  3*000  Perc.  von  1000 

B     60  „  „ 

C    90  „  „ 

i>  120  „  „ 

^  150  „  „ 

-P^  180  „  „ 

G^  210  „  „ 

Siehe  da!  Eine  Ungleichmässigkeit  des  relativen  Genussopfers  und 
zwar  eine  fallende  Scala.  Um  Gleichheit  des  Opfers  zu  erhalten,  muss  man 
daher  eine  Progression  des  Steuerfusses  zur  Anwendung  bringen,  welche  so 
beschaffen  ist,  dass  sie  für  Alle  das  Verhältnis  zwischen  Opfer  und  Genuss 
auf  3%  bringt.  Dies  würde  bewirkt,^)  wenn 

A  zahlt  für  1000  fl.  3-0000  Perc. 


95-0 

y, 

=  57-00, 

„  2-923 

„ 

„  1950 

91-0 

„ 

=  81-90, 

„  2-863 

T) 

„  2860 

87-5 

V 

=  105-00, 

„  2-811 

„  3735 

84-3 

n 

=  126-45, 

„  2-762 

„ 

„  4578 

81-3 

n 

=  146-34, 

.  2-714 

„ 

„  5391 

78-4 

n 

=  164-64, 

„  2-666 

n 

„  6175. 

B 

^ 

« 

2000  „ 

3-0790 

C 

n 

n 

3000  „ 

3-1428 

D 

n 

n 

4000  „ 

3-2014 

E 

n 

n 

5000  „ 

3-2584 

F 

n 

H 

6000  „ 

3-3155 

G 

« 

n 

7000  „ 

3-3755 

So  erweisen  die  angenommenen  Zahlen,  welche  die  Abnahme  des 
Grenznutzens  darstellen,  die  Noth wendigkeit  einer  Steuerprogression. 

Bevor  wir  weitergehen,  möchte  ich  eine  andere  Formel  für  die  vorge- 
tragene Theorie  brauchen.  Ich  halte  Wert  und  Grenznutzen  nicht  für  Syn- 
onyma. Ohne  mich  hier  auf  die  Natur  der  Werterscheinung  einzulassen, 
will  ich  nur  hervorheben,  dass  Wert  etwas  Subjectives,  Grenznutzen  etwas 
Objectives  ist.  Zur  Klarstellung  des  Begiiffes  „Opfer"  betonen  es  auch 
einzelne  der  gedachten  Schriftsteller  nachdrücklich,  dass  nicht  dasjenige 
gemeint  ist,  was  der  Steuerzahlende  in  seinem  Innern  bei  der  Leistung 
empfindet,  sondern  der  objective  Entgang.  Das  ist  der  Nutzen,  welchen  die 
betreffenden  Güter,  wenn  sie  innerhalb  seiner  Gütersphäre  geblieben  wären, 
dem  Besitzer  thatsächlich  gestiftet  hätten.  Lassen  wir  daher  das  Wort 
„Wert"  aus  dem  Spiele  und  ich  habe  umsomehr  Anlass  dies  zu  thun,  weil 
im  Verfolge  dieser  Abhandlung  eben  der  Wert  als  subjective  Grösse  im 
Steuerwesen  zur  Geltung  gelangen  wird.  Jene  Einheiten,  auf  welche  die 
verschiedenen  Geldsummen  der  Einkommen  sowohl  als  der  Steuerquoten 
reduciert  wurden,  sind  Einheiten  des  Grenznutzens,  kurzgesagt  Nutzeinheiten. 
Daher  wäre  die  richtige  Formel  für  die  vorstehend  deducierte  Steuertheorie: 
Steuerquote  und  Einkommen,  beide  auf  Nutzeinheiten  reduciert, 
müssen  bei  jedem  Steuerträger  das  gleiche  Verhältnis  zeigen,  da 
hierin  eben  die  Gleichheit  der  Opfer  besteht.     Infolge  des  Sinkens  des 


obigen  Tabellen  überall  da,  wo  nicht  das  Zeichen  fl.  bei  der  Zijffer  steht,  solche  Nutz- 
einheiten verstanden,  um  den  Fehler  zu  vermeiden,  welchen  der  citierte  Schriftsteller 
begangen  hat  und  der  das  Verständnis  der  ziffermässigen  Beweisführung  selbst  beein- 
trächtigt oder  erschwert. 

^)  Nach  Eichtigstellung  durch  Cohen  Stuart,  „Bijdrage"  etc.,   S.  110. 


58  '  Sax. 

Grenznutzens  bei  steigenden  Einkommensgrössen  ergeben  nur 
progressive   Steuerquoten  dieses  Resultat.^) 

Eine  Lösung,  ebenso  klar  als  einfach!  Die  Lehre  vom  Grenznutzen 
scheint  dieselbe  in  einleuchtender  Weise  an  die  Hand  zu  geben.  Wenn  man 
früher  im  Zweifel  war,  ob  sich  ein  Ausdruck  für  das  Maass  des  Steueropfers 
finden  liesse,  der  Grenznutzen  behebt  diesen  Zweifel  und  ermöglicht  den 
gewünschten  Ausdruck.  Die  Opfertheorie  ist  hiemit  imstande  die  Progressiv- 
steuer zu  begründen. 

Leider  war  es  den  holländischen  Fachgenossen  nicht  gegönnt,  sich 
eines  solchen  Triumphes  zu  erfreuen.  Aus  der  eigenen  Mitte  ist  ihnen  ein 
Widersacher  erwachsen  in  Gestalt  eines  Autors,  der  mit  mathematisch 
geschulter  Denkkraft  und  auch  mit  mathematischer  Beweisführung  die  Fehler 
aufdeckte,  welche  in  der  geschilderten  Argumentation  begangen  werden,  und, 
obschon  er  die  Opfertheorie  acceptiert,  den  Nachweis  führt,  dass  mit  diesen 
Prämissen  allein  die  Progression  der  Steuer  nicht  stichhältig  gewonnen 
werden  kann:  der  bereits  genannte  Cohen  Stuart.  Unwiderleglich  zeigt  er, 
dass  der  obige  Schluss  aus  der  zahlenmässigen  Ausführung  ein  vorschneller, 
und  dass  aus  dem  Satze:  der  Grenznutzen  nimmt  mit  steigender  Gütermenge 
ab,  die  Progression  der  Steuer  noch  nicht  zu  deducieren  ist. 

Auf  die  mathematische  Beweisführung,  deren  er  sich  zu  diesem  Ende 
bedient,  soll  hier  nicht  eingegangen  werden.  Es  scheint  solches  auch  nicht 
erforderlich,  weil  schliesslich  die  Logik  der  Zahlen  bei  überlegter  Prüfung 
des  vorstehenden  ziffermässigen  Beweisganges  zu  dem  nämlichen  Ergebnisse 
führt.  Am  eindrucksvollsten  ist  vielleicht  die  Thatsache,  dass  man  imstande 
ist,  dem  obigen  Ziflfernbeispiele  andere  entgegenzustellen,  welche,  auf  ganz 
gleichen  Prämissen  aufgebaut,  ein  diametral  entgegengesetztes  Resultat 
zeigen!  So  produciert  der  genannte  Autor,  ausgehend  von  den  nämlichen 
Voraussetzungen,  eine  Tabelle,  die  zur  proportionalen,  und  eine  zweite, 
die  geradezu  zu  einer  mit  steigendem  Einkommen  abnehmenden  Steuer 
führt ! 

Man  beachte  die  folgenden  Tableaux: 
A  besitzt  1000  fl.  Einkommen,  mit  Grenznutzen  von  lOO'OO  Perc.,  Gesammtnutzen  1000 
B       „        1000  „    mehr  als  ^,     „  „  „       95-00       „  „  1950 

C       „        1000  „       ,        „    5,     „  „  „       93-80       „  „  2888 

D      „        1000  „       „        „    (7,     „  „  „      93-00       „  „  3818 

E      r,        1000  „       „        „    D,     .  «  .       92-41       ,  „  4742 

Bei  einer  37o  Steuer  würde  entrichten 

A     30  fl.  zum  Grenznutzen  von  10000  Perc.  =     30*000,  d.  i.  3000  Perc.  von  1000 

£    60  „      „              „              „       95-00      „      =     57-000,      „     2-923       „  „     1950 

C    90  „      „              „              „       93-80      ,      =    84-420,      „     2-923       „  „     2888 

X>  120  „      „              „              „       93-00      „      =  111-600,      „     2-923      „  „     3818 

^  150  „      „              „              „       92-41      „      =  138-615,      „     2-923       „  „     4742 


^)  Die   citierte  Schrift  von    Mees  ist    dem  mathematischen  Nachweise  desselben 
Theorems  gewidmet. 


Die  Progressivsteuer.  59 

Um  das  Verhältnis  zwischen  Opfer  und  Befriedigung  für  Alle  auf  37o 
zu  bringen,  würde  A  S^/q  und  die  Uebrigen  jeder  3-0797o  ^^^  Einkommens 
zu  zahlen  haben,  Letztere  also  wären  proportional  besteuert. 

Die  degressive  Steuer  zeigt  ein  anderes  Beispiel: 

A  besitzt  1000  fl.  Einkommen,  mit  Grenzmitzen  von  lOO'O  Perc,  Gesammtnutzen  1000 

B      ^        1000  ^  mehr  als  A,   ^              „  „      80-0      „                  „  1800 

C      .,        1000  „      „         „    ^,  „              „  „       77-0       ,                  „  2570 

D      „        1000  „      „         „     C,   „              „  „       76-4      „                  „  3334 

E      ..        1000  „      „         „    D,  «              „  „       75-6       „                  „  4090 

F      „        1000  „      „         „    ^,  „              „  „       75-0       „                  „  4840 

Wenn  abermals  37o  Steuer,  zahlt 

A     80  fl.  zum  Grenznutzen  von  lOO'O  Perc.  =     SO'OO,  d.  i.  8-000  Perc.  von  1000 

^     60  „  „              „              „  80-0      „  =    48-00,  „     2-667      ,         „     1800 

^    90  „  „               „               „  77-0      „  =     69-30,  „     2-696      „         „     2570 

i>120  „  „              „              „  76-4      „  =    91-68,  „     2-750      „  „     8334 

^  150  „  „              „              „  75-6      „  =  113-40,  ,,     2-772      „  ,     4090 

^  180  „  „              „              „  75-0      „  =  135-00,  „     2-790      „         „     4840 

Damit  das  Verhältnis  zwischen  Opfer  und  Genuss  bei  Allen  das  gleiche 
werde,  raüssten  von  ihren  Einkommen  zahlen: 

A   (für  1000  fl.)  3-000  Perc. 


B 

n 

2000  „ 

3-375 

C 

n 

3000  „ 

3-338 

D 

r) 

4000  „ 

3-273 

E 

V 

5000  „ 

3-247 

F 

^ 

6000  „ 

3-226 

Nach  Aussonderung  von  Ä  hätten  diese  Steuerträger,  je  grösser  ihr 
Einkommen,  einen  desto  geringeren  Steuerfuss  zu  entrichten,  um  gleiche 
Opfer  zu  erhalten! 

Immerhin  tritt  in  vorstehenden  Tabellen  noch  zwischen  den  ersten  und 
den  zweiten  1000  fl.  eine  Progression  der  Steuer  zu  Tage.  Dies  rührt  jedoch 
nur  her  von  der  evident  falschen  Voraussetzung,  dass  die  ersten  1000  fl. 
alle  den  gleichen  Grenznutzen  von  1007o  hätten.  Wenn  die  letzten  30  fl. 
davon  einen  Grenznutzen  von  1007o  aufweisen,  muss  der  Grenznutzen  anderer 
Theile  ein  grösserer  und  somit  der  Durchschnitt  grösser  als  1007o  sein,  und 
wenn  wirklich  lOO^o  der  Durchschnitt  ist,  kann  der  Grenznutzen  der  letzten 
30  fl..  welche  auf  die  Steuer  a,bgehen,  nicht  1007o,  sondern  muss  geringer 
sein.  Das  muss  bei  allen  1000  fl.  gelten.  Wenn  dem  Eechnung  getragen 
wii'd.  kann  nachstehende  Tabelle  construiert  werden: 

A  besitzt  1000  fl.  Einkommen,  mit  mittlerem  Grenznutzen  100  Perc.  =  1000  Gesammtnutzen 


B 

n 

1000  „  mehr  als  A, 

C 

r> 

1000  „   „   „  jB, 

D 

n 

1000  „  „   „  c, 

E 
F 

n 

1000  „   „   „  D, 

1000  „   „   „  ^, 

45 

n 

=  1450 

37 

V 

=  1820 

33 

n 

=  2150 

31 

» 

=  2460 

29 

^ 

=  2750 

60  ^a^- 

Nehmen  wir  an,  die  Steuer  würde  37o  betragen,  dann  zahlt 

A    30  fl.  zum  Grenznutzen  von  50-0  Perc.  =  15-00  d.  i.  TöOO  Perc.  von  1000 

jB    60   „      „              „              „     40-0      „  =  24-00     „  1-655  „        „  1450 

(7     90  „      „              „              „     35-0      „  =  31-50     „  1-733  „        „  1820 

D  120   „      „              „              „     32-0      „  =  38-40     „  1-786  „        „  2150 

J5;  150   „      „              „              „     30-0      „  =  45-00     „  1-829  „        „  2460 

F  180   „      „              „              „     28-5      „  =  51-30     „  1-865  „        „  2750. 

Damit  das  Verhältnis  zwischen  Opfer  und  Genuss  bei  Allen  das  gleiche 

werde  wie  für  A.  nämlich  l"57oi  niuss  an  Steuer  entrichten: 

A  .  .  .  3-000  Perc.  für  1000  fl. 

B  .  .  .  2-719      „  „    2000  „ 

C  .  .  .  2-600      „  „    3000  „ 

D  .  .  .  2-520      „  „    4000  „ 

JE  .  .  .  2-460      „  „    5000  „ 

F  .  .  .  2-412      „  „    6000  „ 

Hier  hat  man  eine  ununterbrochene  Steuer degression  vom  kleinsten 
bis  zum  grössten  Einkommen  —  als  Folge  der  nämlichen  Voraussetzungen, 
welche  in  dem  ersten  der  oben  angeführten  Beispiele  die  constante  Progres- 
sion ergaben,  und  auf  Grund  von  Ziffernansätzen,  die  genau  das  nämliche 
für  oder  gegen  sich  haben  wie  jene  des  ersten  Exempels  ! 

Damit  ist  die  Illusion,  auf  der  gedachten  theoretischen  Basis  im  Wege 
der  Opfertheorie  die  ProgTessivsteuer  zu  begründen,  mit  einem  Schlage  zer- 
stört. Es  war  eben  ein  logischer  Fehler,  dem  man  anheimgefallen.  Ein 
zahlenmässiges  Beispiel  hatte  man  sofort  für  beweismachend  angesehen, 
ohne  zu  untersuchen,  ob  das  gleiche  Resultat  der  Rechnung  zum  Vor- 
schein kommt,  wenn  man  die  Zahlensupposition  variirt.  Und  es  liegt  sogar 
sehr  nahe,  dass  dann  ein  verschiedenes  Resultat  herauskommen  muss.  Die 
Differenz  der  Quotienten  in  der  Vergleichung  beruht  darauf,  dass  Dividend 
und  Divisor  in  einem  verschiedenen  Maasse  bei  jeder  Einkommensstufe  sich 
verändern.  Wenn  nun  die  Ziffern  so  gewählt  werden,  dass  der  Divisor  in 
stärkerem  Verhältnisse  wächst  als  der  Dividend,  muss  ein  fallender  Quotient 
zum  Vorschein  kommen  und  umgekehrt.  Die  Nutzeinheiten  der  Steuersumme 
sind  der  Dividend,  die  des  Einkommens  der  Divisor,  um  den  Percentsatz 
zu  erhalten,  welchen  die  ersteren  von  den  letzteren  ausmachen.  Ist  dieser 
Quotient  ein  fallender,  so  muss  der  Steuerfuss  auf  eine  solche  Höhe  steigen, 
welche  einem  gleichen  Quotienten  entspräche,  d.  h.  es  ergibt  sich 
Progression.  Ist  der  Quotient  ein  steigender,  so  muss  der  Steuerfuss  ent- 
sprechend ermässigt  werden,    d.  h.  es  ergiebt   sich  Degression.  i)    Von  dem 

^)  Man   vergleiche    nur    das    erste,    von   Bok    angeführte,    und    das   letzte,    von 

Cohen  Stuart  entgegengehaltene  Exerapel.  Im  ersten  Beispiele  (S.  57)  betrugen 

die  Verhältnisszahlen  der  Nutzeinheiten  des  dagegen    die    respectiven    Verhältniszahlen 
Einkommens  der  Nutzeinheiten  der  Steuersumme 

1000  =  100-0  Perc.  30-00  =  lOO'O  Perc. 

1950  =  195-0      „  57-00  =  190-0      „ 

2860  =  286-0      „  81-90  =  272-0      „ 

3735  =  873-5      „  105-00  =  350-0      „ 

4578  =  456-8      „  126*45  =  421-5      „ 

5391  =  539-1      „  146-34  =  487-7      „ 

6175  =  617-5      „  164-64  =  548-8      „ 


Die  Progressivsteuer.  Qi 

Maasse,  in  welchem  die  Veränderung  in  den  Reihen  der  Divisoren  und 
Dividenden  von  einem  zum  anderen  und  abweichend  vor  sich  geht,  hängt 
dann  auch  das  Maass,  in  welchem  die  Quotienten  differieren,  ab. 

Daher  sind  die  Zifferansätze,  welche  man  für  die  successive  Abminderung 
des  Grenznutzens  macht,  und  insbesondere  der  Sprung,  welchen  man  dies- 
falls von  den  ersten  1000  fl.  zu  den  zweiten  1000  fl.  eintreten  lässt,  auf 
das  Resultat  des  Calculs  von  Einfluss.  Man  stelle  die  Prüfung  für  sämmt- 
liche  angeführte  Beispiele  an  und  man  wird  immer  finden,  dass,  sobald  die  Zahl 
der  Nutzeinheiten  eines  höheren  Einkommens  gegen  1000  fl.  eine  grössere 
percentuelle  Zunahme  zeigt  als  die  Zahlen  der  Nutzeinheiten  der  entspre- 
chenden Steuersummen  gegen  einander,  der  resultierende  Quotient  kleiner  ist 
als  der  Steuerfuss  für  1000  fl.,  von  dem  man  ausgieng,  daher,  um  gleiche 
Steuer  zu  erhalten,  der  Steuerfuss  für  das  betreffende  Einkommen  höher 
gehalten  werden  müsste  als  jener. 

Der  begangene  mathematische  Denkfehler,  welcher  in  dieser  Weise 
von  Cohen  Stuart  allerdings  nicht  hervorgehoben  wird,  macht  also  den 
erhofften  Beweis  zunichte.  Je  nach  Wahl  der  Ziffern,  welche  das  Verhältnis 
der  Abnahme  des  Grenznutzens  illustrieren  sollen,  erhält  man  progressive, 
proportionale  oder  degressive  Steuerfüsse  und  zwar  auch  derart,  dass  diese 
Bewegungsrichtung  des  Steuerfusses  in  einem  und  demselben  Exempel 
wechselt.  Setzt  man  die  von  Stuart  gegebenen  Beispiele  durch  Annahme 
weiterer  Vermehrung  des  Einkommens  mit  weiterer  Abnahme  des  Grenz- 
nutzens fort,  so  schlägt  das  Endergebniss  um !  Seine  Tabellen,  auf  weitere 
Einkommensgrössen  ausgedehnt,  würden  wieder  ein  anderes  Gesicht  zeigen. 
Aus  der  blossen  Thatsache  des  Abnehmens  des  Grenz- 
nutzens folgt  eben  auch  bei  dieser  Formulierung  der  Theorie  weder 
Progression  der  Steuer  noch  das  Ge gentheil. 

Um  von  den  zugrunde  gelegten  Prämissen  zur  Conclusion  der 
Progressivsteuer  zu  gelangen,  müssten  zwei  Bedingungen  erfüllt  sein.  Erstens 
müssten   wir   die    fortschreitende  Abnahme  des   Grenznutzens  genau  messen 


Das  percentuelle  Anwachsen  der  Divisoren  ist  ein  grösseres,  als  jenes  der  Dividenden, 
daher    auch    die   Quotienten,  wie  die  Tabelle   zeigte,    vom    zweiten  Falle  an  sämmtlich 
geringer  sind,   als  im   ersten  Falle  (3  Perc),  nämlich  2-923  Perc,   2-863  Perc.  u.  s.  w. 
bis  2-666  Perc,  so  dass,   um  in  allen  Fällen  3  Perc.  zu  erhalten,   Steuerfüsse  angesetzt 
werden  müssen,  die  höher  sind  als  3  Perc.  Im  letzten  Beispiele  (S.  60)  sind 
die  Verhältniszahlen  der  Nutzeinheiten  des       dagegen    die    Verhältniszahlen    der   Nutz- 
Einkommens  einheiten  der  Steuersumme 
1000  =  100  Perc.  15-00  =  100  Perc. 
1456  =  145      „                                                  24-00  =  160      „ 
1820  =  182      „                                                  31-50  =  210     „ 
2150  =  215      „                                                 38-40  =  256      „ 
2460  =  246      „                                                 45-00  =  300      „ 
2750  =  275      „          ''                                        51-30  =  342      „ 
Die  Divisoren  wachsen,   wie  man  sieht,  percentuell  in  geringerem   Maasse  als  die 
Dividenden,   daher  die  Quotienten  zunehmen:  laut  Tabelle  von  1-5  auf  1-655,   1-733  bis 
1-865,  was  zur  Folge  hat,    dass  eine  Degressivsteuer,  das   Gegentheil    einer  Progression, 
eintreten  müsste. 


62  Sax. 

und  somit  in  Ziffern  auszudrücken  imstande  sein;  Ziffern  also,  die  nicht 
blosse  Annahmen  oder  Exemplificationen,  sondern  Wirklichkeiten,  objectiv 
feststehende  Grössenunterschiede  wären.  Zweitens  müssten  diese  Ziffern 
gerade  so  beschaffen  sein,  dass  auch  wirklich  Progression  aus  ihnen  mit 
Nothwendigkeit  folgte,  nicht  etwas  anderes,  was,  wie  sich  zeigte,  auchmöglich  ist. 

Diese  Bedingungen  sind  unerfüllbar.  An  späterer  Stelle  wird  festgestellt 
werden,  was  wir  denn  über  das  Maass  der  Abnahme  des  G-renznutzens  bei 
zunehmender  Gütermenge  aussagen  können.  Angenommen  aber,  die  beiden 
Bedingungen  wären  erfüllbar,  wenigstens  in  einer  Weise,  welche  für  das 
praktische  staatswirtschaftliche  Handeln  ausreiche,  so  fragen  wir  dennoch : 
würde  dann  die  Progressivsteuer  auf  Basis  der  Opfertheorie  auch  wirklich 
definitiv  begründet  sein? 

Es  mag  müssig  erscheinen,  eine  solche  Frage  erst  aufzuwerfen,  nachdem 
im  vorhinein  die  Erfüllbarkeit  jener  Voraussetzung  negiert  wurde.  Indes  hat 
das  Aufwerfen  der  Frage  doch  immerhin  guten  Sinn.  Einerseits  hat  Cohen 
Stuart  den  Versuch  gemacht,  im  Wege  eines  interessanten,  später  zu 
besprechenden  Verfahrens  den  Mangel  genauer  Bezifferbarkeit  der  Höhe  des 
Grenznutzens  zu  supplieren,  und  es  erscheint  daher  angemessen,  die  Frage 
für  den  Fall  zu  stellen,  dass  ein  solches  Auskunftsmittel  zur  Verfügung 
stehe.  Andererseits  aber  ist  ja  doch  die  These,  betreffend  die  Gestaltung  des 
Grenznutzens,  nur  die  eine  Prämisse  der  Deduction;  die  andere  bilden  die 
übrigen  Thesen  der  in  Rede  stehenden  Theorie.  Es  fragt  sich,  ob  nicht  von 
dieser  Seite  her  die  Stichhältigkeit  der  Conclusion  bedroht  ist.  Dieser  letztere 
Punkt  ist  hier  zu  untersuchen. 

Wie  uns  scheint,  ist  es  nicht  schwer,  sich  hierüber  sein  ürtheil  zu  bilden. 

Die  Opfertheorie  geht  von  dem  Gedanken  aus,  dass  die  Steuer  als 
eine  allgemeine  Bürgerpflicht  Allen  die  gleiche  Last  auferlegen  solle.  Als 
solche  wird  nun  erklärt  die  Entbehrung  eines  gleichen  Theiles  des  verfügbaren 
Gesammtmaasses  von  Bedürfnisbefriedigung  von  Seite  eines  Jeden.  Mit 
Verlaub!  Das  ist  ein  ungleiches  Opfer.  Der  gleiche  Theil  von  ungleichen 
Grössen  ergiebt  selbst  ungleiche  Grössen.  Der  Umstand,  dass  diese  letzteren 
Grössen  zu  denjenigen,  wovon  sie  Theile  sind,  in  demselben  Verhältnisse 
stehen,  ändert  nichts  daran,  dass  sie  unter  sich  ungleich  sind.  Man  dürfte 
daher  strenggenommen  nicht  länger  von  gleichen  Opfern,  sondern  nur  von 
verhältnismässigen  Opfern  sprechen.  Und  in  der  That,  so  wie  die  Abgabe 
einer  und  derselben  Quote  ein  verschiedenes  Opfer  ist  bei  kleinem  und  bei 
grossem  Einkommen,  so  ist  auch  die  Entbehrung  eines  und  desselben  Theiles 
vom  Gesammtgenuss,  den  je  ein  Einkommen  ermöglicht,  ein  verschiedenes 
Opfer,  je  nachdem  dieses  Genussquantum  ein  grösseres  oder  kleineres  ist. 
Anch  dieses  Opfer  wird  immer  grösser,  je  kleiner  das  Einkommen  ist.  und 
wird  endlich  bei  dem  nur  zum  nothwendigen  Lebensunterhalte  ausreichenden 
Einkommen  exorbitant.  Das  leuchtet  den  Vertretern  der  in  Rede  stehenden 
Theorie  auch  ein  und  daher  wollen  sie  dieses  Existenzminimum  von  jeder 
Steuer  befreit  wissen.  Wird  dem  entsprochen,  dann  verlangt  man  von  den 
Betreffenden    nicht    nur    kein    verhältnismässiges,    sondern    überhaupt    kein 


Die  Progressivsteuer.  (33 

Opfer.  Dass  damit  aber  die  Opfertheorie  eine  eigenthümliche  Wendung 
annimmt,  ist  ersichtlich.  Ausgegangen  ist  die  Opfertheorie  von  der  Forderung 
gleicher  Opfer  von  Seiten  Aller  und  nun  kommt  sie  darauf  hinaus, 
von  dem  einen  Theile  der  Staatsangehörigen  gar  kein  Opfer  zu  verlangen, 
allen  Uebrigen  ungleiche  Opfer  aufzuerlegen!  Aerger  kann  sich  eine  Theorie 
nicht  selbst  dementieren. 

Was  nun  aber  die  Verhältnismässigkeit  der  als  Steuer  geopferten 
Genussquanten  betrifft,  so  erscheint  dieselbe  als  blosses  Postulat.  Wenn  man 
einmal  Ungleichheit  der  Opfer  an  die  Stelle  gleicher  Opfer  setzt,  in  deren 
Forderung  die  Opfertheorie  gipfelt,  so  ist  nicht  einzusehen,  warum  die 
ungleichen  Opfer  gerade  verhältnismässig  sein  sollen.  Die  Gerechtigkeit,  auf 
die  man  sich  diesfalls  beruft,  verlangt  dies  nicht  n^thwendiger  Weise. 
Würde,  wenn  das  öffentliche  Wohl  .es  nothwendig  macht,  von  dem  Einen 
einen  grösseren  Theil  seines  Genusses  abzuverlangen  als  von  den  Andern,  die 
Gerechtigkeit  dies  untersagen?  Die  Gerechtigkeit  verbietet  nur,  dass  Jemand 
eine  Steuer  auferlegt  werde,  welche  seinen  wirtschaftlichen  Verhältnissen 
widerspricht.  Ist  aber  nicht  der  Keichere  imstande,  einen  grösseren  Theil 
des  ihm  möglichen  Genusses  —  was,  wohlbemerkt,  noch  keineswegs  ein 
grösseres  Opfer  bedeutet!  —  auf  dem  Altar  des  Vaterlandes  zum  Opfer  zu 
bringen  als  der  minder  Wohlhabende  und  gar  der  Dürftige?  Wie  viel 
freilich,  dies  ist  unmöglich  zu  bestimmen,  weil  sich  nie  der  Schlüssel  linden 
wird,  mittels  dessen  man  beziffern  könnte,  wie  viel  Genüsse  geringerer 
Intensität  einen  solchen  von  höherer  Intensität  aufwiegen.  Daraus,  dass 
man  das  nicht  sagen  kann,  folgt  indes  noch  nicht,  dass  die  aufgeopferten 
(ungleichen)  Genüsse  alle  in  demselben  Verhältnisse  zum  Gesammtgenuss 
eines  Jeden  stehen  müssten.  Die  Anrufung  der  Gerechtigkeit  genügt  also 
keineswegs,  jene  Forderung  zu  erhärten,  wie  ja  die  Gerechtigkeit  selbst 
gleiche  Opfer  nicht  zu  begründen  vermöchte,  wenn  sich  aus  irgend  einem  Grunde 
eine  Steuer  als  gerechtfertigt  erwiese,  die   eben   ungleiche  Opfer  bedeutet. 

Oder  sollte  man  vielleicht  meinen,  dass  der  Verzicht  auf  einen  gleichen 
Theil  des  Gesammtgenusses  Jedem  gleiche  Unlust  bereitet?  Das  würde 
allerdings  dem  wahren  Sinne  der  Opfertheorie  entsprechen,  welche  die  gleiche 
subjective  Empfindung  durch  die  Steuer  in  Jedem  hervorrufen  will  —  ganz 
logisch,  da  dies  zum  Begriffe  des  Opfers  gehört  —  aber  es  wäre  eben 
nicht  zutreffend.  Uebrigens  würden  die  betreffenden  Autoren  dadurch  in 
Widerspruch  mit  sich  selbst  gerathen,  da  sie  es  ausdrücklich  ablehnen^ 
über  die  subjective  Stimmung  des  Steuerträgers  eine  Aussage  zu  machen^ 
und  unter  Opfer  den  objectiven  Entgang  verstehen  wollen!  Als  ob  die 
Aussage  über  einen  Genussentgang  dadurch  zu  einer  objectiven  würde,  dass 
man  diesen  Genuss  als  den  bestimmten  Theil  eines  Genussquantums 
(das  doch  immer  eine  subjective  Grösse  bleibt)  in's  Auge  fasst!  Schliess- 
lich würde  jene  Verhältnismässigkeit  voraussetzen,  dass  das  gleiche  Ein- 
kommen Jedem  den  gleichen  Genuss  bereitet,  was  doch  ebenfalls  nicht 
behauptet  werden  kann.  So  erweist  sich  diese  neuere  Variante  der  Opfer- 
theorie als  logisch  hinfällig. 


ß4  Sax. 

Nebstdem  ist  aber  noch  ein  Umstand  besonders  hervorzuheben.  Die 
erwähnten  holländischen  Theoretiker  sind  nur  dadurch  imstande  die  Opfer- 
theorie —  selbst  auf  der  soeben  gekennzeichneten  Basis  —  aufzubauen, 
dass  sie  das  Existenzminimum  aus  der  Eechnung  entfernen.  Es  geschieht 
dies  entweder  laut  den  citierten  Beispielen  in  der  Weise,  dass  für  die  ersten 
1000  fl.  eines  Einkommens  eine  Durchschnittsziffer  des  Grenznutzens  ange- 
setzt wird,  welche  von  dem  hohen  Grenznutzen  der  Güter  des  Existenz- 
minimums völlig  absieht,  oder  derart,  dass  Steuerfreiheit  des  Existenz- 
minimums mit  einer  petitio  principii  in  dem  Sinne  verlangt  wird,  dass  der 
bezügliche  Betrag  von  jedem  Einkommen  vor  Anlegung  der  Steuer  in  Abzug 
zu  bringen  sei.  So  auch  Cohen  Stuart,  der  die  besprochene  Variante  der 
Opfertheorie  rückhaltslos  acceptiert  und  auf  Grund  derselben  jene  Berech- 
nungen anstellt,  auf  welche  wir  im  späteren  zurückkommen  werden.  Nur 
mittels  dieser  Eliminirung  des  Existenzminimums  ist  es  überhaupt  möglich, 
plausible  Kesultate  mit  der  dargestellten  Demonstration  zu  erhalten.  Setzt 
man  hingegen  für  das  Existenzminimum,  welches  Bedürfnissen  von  ausser- 
ordentlich hohem  Stärkegrade  dient,  eine  entsprechend  hohe  Ziffer  als  Verhält- 
niszahl des  Grenznutzens  ein ;  setzt  man  z.  B.  den  Grenznutzen  der  Guts- 
einheit im  Existenzminimum  auf  das  lOOfache  des  Grenznutzens  der  Ein- 
heit in  einem  Einkommen  von  1000  fl.  an  und  macht  darnach  den  Calcul,  so 
kommen  Ergebnisse  zum  Vorschein,  die  die  ganze  Theorie  geradezu  ad  ab- 
surdum führen.  Eine  solche  Verhältniszahl  ist  keineswegs  eine  unzutreffende 
Exemplification,  sie  ist  eher  zu  niedrig  als  zu  hoch;  haben  doch  grosse 
Autoritäten  die  Bedürfnisse  des  nothwendigen  Lebensunterhaltes  gegenüber 
den  übrigen  Bedürfnissen  nicht  bloss  als  höchst  intensiv,  sondern  als  geradezu 
incommensurabel  bezeichnet.  Als  erheiterndes  Intermezzo  in  dieser  trockenen 
Materie  möge  nachstehendes  Beispiel  hier  Platz  finden. 

Das  Existenzminimum  betrage  200  fl.  und  es  sei  der  Grenznutzen  in 
ihm  das  lOOfache  des  Grenznutzens  beim  Einkommen  von  1000  fl.  Im 
übrigen  sollen  alle  ziffermässigen  Annahmen  des  ersten  der  obigen  Rechnungs- 
exeiiipel  hier  wiederkehren,  d.  i.  desjenigen,  bei  welchem  die  Progression 
resultierte.  Das  gibt  folgendes  Tableau: 


Einkommen 

mit  Grenznutzen  von 

folglicli  Verhältniszahl  des 

Gesammtnixtzens 

X  besitzt 

200  fl. 

10.000-0  Perc, 

20.000 

A 

„ 

1000  „ 

100-0 

„ 

20.800 

B 

v 

2000  „ 

95-0 

^ 

21.750 

C 

^ 

3000  „ 

91-0 

^ 

22.660 

B 

n 

4000  „ 

87-5 

» 

23.535 

E 

r> 

5000  „ 

84-3 

V 

24.378 

F 

r 

6000  „ 

81-3 

n 

25.191 

G 

» 

7000  „ 

78-4 

n 

26.375 

Eine  4V„  Steuer  ergäbe  sonach 

Pur 

Steuer 

zum  Grenz  nutzen  von 

X 

8  fl. 

10.000-0  Perc. 

= 

:  800-00, 

d.    i, 

,  4-000  Perc 

.  von  20.000 

A 

40  , 

100-0      „ 

= 

4000. 

r 

0-192       „ 

„     20.800 

B 

80  „ 

95-0      „ 

= 

76-00, 

V 

0-349       „ 

„     21.750 

Die  Progressivsteuer.  55 


=  109-20,  d.  i.  0-482  Proc.  von  22.660 

=  140-00,      „     0-594  „        „     23.535 

=  168-60,      „     0-691  „        „     24.378 

=  195-12,      „     9-774  „        „     25.191 

=  219-52,      „     0-832  „        „     26.375 

Wenn    ein  Jeder   17o  des   Gesammtgenusses  als  Steueropfer  abgeben 
sollte,  so  müsste  als  Steuer  entrichten: 

X     1-000  Perc.  von     200  fl. 


Pur 

Steuer 

7 um  Grenznutzeii  von 

C 

120    fi. 

91-0  Proc. 

D 

160  , 

87-5 

^ 

E 

200  , 

84-3 

n 

F 

240  „ 

81-3 

V 

G 

280  „ 

78-4 

y> 

A 

20-833 

n 

V 

1000 

B 

11-463 

„ 

n 

2000 

C 

8-268 

»1 

„ 

3000 

D 

6-734 

« 

V 

4000 

E 

5-788 

n 

„ 

5000 

F 

5-166 

v 

„ 

6000 

G 

4-807 

n 

» 

7000 

So  sieht  des  Bild  der  erwarteten  Progressivsteuer  aus,  wenn  man  nicht 
das  Existenzminimum  bei  der  Berechnung  des  Gesammtnutzens  ausscheidet. ') 

Bei  Ausscheidung  des  Existenzminimums  aus  dem  Calcul  gerathen 
nun  aber  jene  Theoretiker  in  Widerspruch  mit  ihrer  eigenen  richtigen  Vor- 
aussetzung, der  gemäss  die  Steuer  jeweils  nur  den  mindest  intensiven  Be- 
durfnissen, welche  sorst  hätten  befriedigt  werden  können,  Eintrag  thut.  In 
Gemässheit  dieser  Prämisse  wird,  sobald  das  Einkommen  nur  grösser  ist 
als  das  Existenzminimum  plus  der  Steuer,  durch  letztere  offenbar  der  noth- 
wendige  Lebensunterhalt  gar  nicht  tangiert.  Die  betreffenden  Steuersubjecte 
erfreuen  sich  folglich  des  ungeschmälerten  Genusses  jener  Güter  von  so 
ausserordentlich  hohem  Grenznutzen  und  im  Calcule  des  Gesammtnutzens 
ihres  Einkommens  müssen  diese  daher  mitgezählt  werden.  Zählt  man  sie 
aber  sammt  ihrem  hohen  Grenznutzen  mit,  dann  erscheint  jenes  Resultat, 
welches  die  ganze  Theorie  compromittiert. 

Sehen  wir  endlich,  was  speciell  den  Yorabzug  eines  Existenzminimums 
von  jedem  Einkommen  betrifft,  doch  nur  zu,  wie  sich  dieses  Theorem  uns 
nunmehr  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Opfertheorie  präsentiert.  In  der 
z.  B.  von  Bentham  und  Mill  vertretenen  Fassung  besagt  es:  Nach 
Ausscheidung  des  unentbehrlichen  Subsistenzbedarfes  verursacht  die  Abgabe 
einer  gleichen  Quote  von  dem  Reste  ein  gleiches  Opfer  und  eben  des- 
halb verlangt  man  diesen  Modus  der  Besteuerung.  Nun,  dies  ist  offenbar 
unrichtig.  Es  könnte  die  Abgabe  der  gleichen  Quote  nur  dann  ein  gleiches 
Opfer  sein,  wenn  alle  diese  Bedürfnisse,  welche  nach  Ausscheidung  des 
Existenzminimums  mit  dem  übrigen  Einkommen  zu  befriedigen  sind,  unter 


'i  Würde  man  nur  100  fl.  als  Existenziriinimum  ansetzen,  so  kämen  natürlidi 
andere  Endziifern,  aber  von  nahezu  gleicher  Verhältnismässigkeit  heiaus.  Sollte  bei  einer 
Decimalstelle  irgend  ein  Eechnnngsfehler  unterlaufen  sein,  ändert  dies  selbstverständlich 
an  dem  Resultate  und  seiner  Drastik  nicht  das  Mindeste.  Wollte  man  1000  als  Verhältnis- 
ziffer der  Intensität  der  Bedürfnisse  des  Existenzminimums  einsetzen,  so  würde  das 
Ergebnis  noch  weit  drastischer.  Und  wenn  man  gar  jene  Bedürfnisse  als  incommen- 
surabel    ansieht  (Mill),  demgemäss  QO  einsetzt,  so  wird  der  Calcul  überhaupt  unmöglich. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  I.  Heft  5 


06  ^ax. 

sich  gleich  an  Intensität  wären.  Da  sie  aber  unter  sich  grosse  Unterschiede 
der  Stärke  aufweisen  und  die  Steuer  nur  die  mindest  intensiven  schmälert, 
so  bedeutet  die  Entziehung  der  gleichen  Quote  wiederum  ein  ungleiches 
Opfer !  Man  müsste  mithin  zu  der  neueren  Auffassung  greifen  und  erklären : 
Die  richtige  Steuer  besteht  darin,  von  Jedem  diejenige  Quote  vom  Ein- 
koramen nach  Abzug  des  Existenzminimums  zu  entnehmen,  welche  Jedem 
denselben  Theil  des  ihm  mit  jenem  übrigen  Einkommen  verfügbaren 
Gesammtgenusses  entzieht.  Dagegen  aber  erheben  sich  selbstverständlich 
wieder  alle  jene  Einwendungen,  die  gegen  die  Forderung  verhältnis- 
mässiger Opfer  geltend  gemacht  wurden! 

Das  Vorstehende  in  Betracht  gezogen,  können  wir  wohl  behau  pten, 
dass  auch  der  geschilderte  letzte  Versuch,  der  Opfertheorie  in  veränderter 
und  vertiefter  Grestalt  die  Motivierung  der  Progressivsteuer  abzugewinnen, 
erfolglos  geblieben  ist.  Und  damit  ist  wohl  diese  Lehrmeinung  überhaupt 
definitiv  beseitigt.  Sie  entstammt  einer  Zeit,  in  der  man  die  staatswirt- 
schaftlichen Erscheinungen  mit  unklaren  Begriffen  und  bildlichen  Red  ens- 
arten  behandelte  und  naiver  Weise  in  blossen  Umschreibungen  Erklärungen 
erblickte.  Dieser  Denkrichtung  den  Todesstoss  zu  versetzen,  war  die  Aufgabe 
meiner  „Grundlegung  der  theoretischen  Staats  Wirtschaft".  Für  den,  der 
etwa  noch  nicht  überzeugt  war,  dürfte  jetzt  bezüglich  der  gedachten  Theorie 
gleichfalls  kein  Zweifel  mehr  übrig  sein. 

2.   Die  Steuer  nach  der   Leistungsfähigkeit. 

Kürzer  als  bis  nun  können  wir  uns  bei  der  Untersuchung  fassen,  ob 
und  inwiefern  das  Princip  der  Besteuerung  nach  der  Leistungsfähigkeit  die 
Progressivsteuer  zu  begründen  vermag.  Wer  folgerichtig  und  genau  denkt, 
wird  an  die  kritische  Prüfung  dieses  Theorems  sonderliche  Anstrengung 
nicht  zu  wenden  haben. 

Bemerkenswert  ist  vor  allem  der  Umstand,  dass  die  Wortführer  dieser 
Theorie  behufs  Motivierung  der  Progressivsteuer  nicht  selten  an  die  Opfer- 
theorie recurrieren,  die  Progressivsteuer  also  aus  jener  nicht  abzuleiten 
imstande  sind.  Allen  voran  F.  J.  Neumann,  der  bekanntlich  so  viel  zur 
Propagierung  der  Idee  der  Progressivsteuer  beigetragen  hat.  „Erst  durch 
Berücksichtigung  der  auferlegten  Opfer  erhält  der  Maasstab  der  Leistungs- 
fähigkeit bestifnmte  Gestalt  und  wird  für  das  Steuerwesen  brauchbar". 
Nur  durch  den  Maasstab  der  Opfergleichheit  findet  dieser  Vorkämpfer  der 
Prcgressivsteuer  dieselbe  eigentlich  zu  begründen,  der  Grundsatz  der  Lei- 
stungsfähigkeit erscheint  ihm  hiezu  untauglich,  weil  der  erforderlichen  Be- 
stimmtheit ermangelnd.  Auch  Rob.  Meyer,  so  verschiedene  praktische 
Anforderungen  an  die  Steuervertheilung  er  aus  dem  Principe  der  Vertheilung 
nach  der  Leistungsfähigkeit  deduciert,  die  Progression  der  Steuer  glaubt  er 
nur  aus  dem  Principe  der  Opfergleichheit  gewinnen  zu  können.  Und  ebenso 
führt  der  Gedankengang  anderer  Schriftsteller  yon  der  Steuer  nach  der 
Leistungsfähigkeit  hinsichtlich  der  progressiven  Steuer  immer  wieder  —  be- 


Die  Progressivsteuer.  57 

wusst  oder  unbewusst,  klar  oder  unklar  —  zum  Appell  an  das  Princip 
der  Opfergleichlieit  zurück.  Die  Leistungsfähigkeit  wachse  progressiv  mit 
dem  Einkommen,  weil  die  Abgabe  der  gleichen  Quote  bei  grösserem  Ein- 
kommen ein  geringeres  Opfer  auferlege  und  eben  erst  eine  steigende  Quote 
ein  gleiches  Opfer  ergebe.  Es  ist  einleuchtend,  dass  hiemit  die  Opfertheorie 
nur  in  einem  anderen  Gewände  auftritt  und  wir  somit,  wenn  wir  auf  die 
selbe  nicht  zurückkommen  wollen,  uns  mit  den  bezüglichen  Ausführungen 
nicht  weiter  zu  beschäftigen  brauchen,  obschon  ein  solches  pele-mele  der 
theoretischen  Motivierung  selbst  bei  den  angesehensten  Finanzschriftstellern 
und  in  der  publicistischen  Discussion  des  Gegenstandes  ziemlich  häufig  zu 
vernehmen  ist.  Jedenfalls  ist  aber  dieser  Umstand  schon  sehr  bezeichnend 
für  die  Beweiskraft,  welche  man  von  dem  nun  in  Erörterung  gezogenen 
Steuerprincipe  für  unsere  Frage  zu  erwarten  hat. 

Im  Folgenden  haben  wir  es  daher  lediglich  mit  Auffassungen  zu  thun, 
welche  in  der  Leistungsfähigkeit  einen  selbständigen,  an  sich  genügenden 
Maasstab  der  Steuervertheilung  finden.  Als  solcher  figuriert  dieselbe  bei 
Denjenigen,  welche  lehren:  Die  Steuerfähigkeit  besteht  im  Besitze  von 
Einkommen  und  hat  ihr  Maass  in  der  Grösse  des  Einkommens.  Steuer 
nach  der  Leistungsfähigkeit  heisst  daher :  Die  Steuern  der  Einzelnen  sollen 
in  dem  Verhältnisse  zu  einander  stehen,  in  welchem  die  betreffenden  Ein- 
kommen stehen. 

Nach  älteren  Anschauungen  verstand  man  hierunter  bekanntlich  das 
Einkommen  überhaupt  oder  das  Reineinkommen.  Als  logische  Consequenz 
hievon  erscheint  die  proportionale  Steuer.  Dies  bedarf  wohl  keiner  näheren 
Erörterung. 

Spätere  Lehrmeinungen  wollten  als  jenen  Maasstab  der  Steuer  nur  das 
freie  Einkommen  verwendet  wissen.^)  „Leistungsfähigkeit"  heisst  das 
Quantum  Güter,  welches  man  nicht  für  nothwendige  Individualbedürfnisse 
braucht.  Steuern  „nach"  der  Leistungsfähigheit  schliesst,  wie  eben  erwähnt, 
das  Postulat  ein,  dass  die  Steuern  im  gleichen  Verhältnisse  zu  dieser 
Leistungsfähigkeit  stehen  sollen.  Die  Steuern  vom  Gesammteinkommen 
sollen  demnach  in  demselben  Verhältnisse  zu  einander  stehen  wie  die  freien 
Einkommen  der  bezüglichen  Wirtschaftssubjecte.  Mit  andern  Worten:  Propor- 
tionalsteuer vom  freien  Einkommen,  d.  i.  vom  Einkommen  nach  Abzug  des 
Existenzminimums,  welche  Steuer,  ins  Verhältnis  zum  gesammten  Einkommen 
gebracht,  wie  wir  wissen,  eine  schwache  Progression  zeigt.  Einen  Unterschied 
macht  es  hier  nur,  ob  man  als  Abzugspost  lediglich  das  zur  blossen 
Erhaltung  der  körperlichen  Existenz  absolut  Nothwendige  (das  sogenannte 
physische  Existenzminimum  oder  Existenzminimum  im  eigentlichen  Sinne) 
oder  das  sogenannte  culturelle  Existenzminimum,  d.  i.  das  zur  Führung 
einer  menschenwürdigen  Existenz  nach  den  jeweiligen  Lebensverhältnissen 
unbedingt  Erforderliche  begreift.  Wenn  man  von  einzelner  Seite  die  „Lebens- 


1)  Vergl.  über    die   literargeschichtliche    Entwicklung    des    Inhaltes    des  Begriffes 
der  Leistungsfähigkeit  Roh.  Meyer  a.  a.  0.,  S.  181  ff. 


68  Sax. 

haltung"  berücksichtigt  wissen  will,  so  ist  wohl  nur  das  letztere,  das 
„allgemeine  sociale  Existenzminimum,"  gemeint,  keineswegs  aber  die  classen- 
gemässe  Lebenshaltung  der  wohlhabenderen  Bevölkerungsschichten  hierunter 
verstanden.  Dieser  Unterschied  ergibt  lediglich  eine  Verschiedenheit  in  der 
durch  die  Umrechnung  aufs  Gesammteinkommen  resultierenden  Progression: 
der  Grundgedanke  ist  immer  der  nämliche,  nur  der  Umfang  des  Begriffes 
„freies  Einkommen"  wird  abweichend  interpretiert. 

Die  hiemit  gegebene  Begründung  der  Progressivsteuer  zählt  bis  zur 
Gegenwart  viele  Anhänger.  Motivenberichte  zu  Steuerreformentwürfen  repro- 
ducieren  sie,  wenngleich  nicht  immer  mit  erwünschter  Klarheit.^)  Hervor- 
ragende Autoren  vertreten  sie  —  darunter  Adolf  Wagner.  Die  Leistungs 
fähigkeit  steigt  stärker  als  das  Einkommen  —  so  liest  man  —  weil  von 
letzterem  eine  immer  grössere  Quote  vom  Subsistenzbedarfe  nicht  in  An- 
spruch genommen  ist,  also  theils  zu  den  freien  Genüssen,  theils  zur 
Capitalisierung  verwendet  werden  kann.  „Die  proportionale  Besteuerung  des 
ganzen  Einkommens  ist  eine  Degressivbesteuerung  des  freien  Einkommens.'' 
Ergo  e  contrario :  Die  proportionale  Besteuerung  des  freien  Einkommens 
ist  Ausfluss  der  Bemessung  nach  der  Leistungsfähigkeit  und  diese  ergibt 
eine  Progression  der  Steuer  auf's  ganze  Einkommen.^) 

Dies  ist  die  Gedankenfolge,  in  welcher  das  Princip  der  Leistungs- 
fähigkeit im  obigen  Sinne  zu  einer  Steuerprogression  leitet.  Sehen  wir  zu, 
ob  dieselbe  als  unanfechtbar  gelten  kann. 

Wie  man  leicht  bemerkt,  ist  der  bezeichnete  Gedankengang  ein  unvoll- 
ständiger. Es  muss  noch  hinzugefügt  werden,  warum  der  Umstand,  dass 
von  zunehmendem  Einkommen  eine  immer  grössere  Quote  als  freies  Ein- 
kommen übrig  bleibt,  auf  die  Höhe  der  Steuer  von  Einfluss  sein  müsse 
und  zwar  dadurch,  dass  dieselbe  dem  freien  Einkommen  proportional 
gehalten   wird.   Nun    warum? Auf  diese  Frage  erhält  man  entweder 


1)  So  z.  B.  die  Motive  zu  den  öst.  Steuervorlagen  d.  J.  1874:  „  .  . .  so  wird  zu- 
gegeben werden  müssen,  dass  die  Steuerkraft  in  Fällen  der  Einkommenserhöhung  nicht 
im  arithmetischen,  sondern  nach  einem  progressiven  Verhältnisse  wächst,  indem  die 
Fähigkeit,  die  Steuer  zu  zahlen,  in  dem  Maasse  sich  erhöht,  als  die  Möglichkeit  zu- 
nimmt, die  nach  Bestreitung  der  Lebensbedürfnisse  verbleibenden  Ueberschüsse  dos  Ein- 
kommens zur  Deckung  minder  nothwendiger  Erfordernisse  oder  zur  Thesaurierung  zu 
verwenden."  Das  heisst  doch  oifenbar:  die  Leistungsfähigheit  nimmt  in  demselben  Maasse 
zu,  in  welchem  das  freie  Einkommen  wächst.  Daraus  würde  folgen,  dass  die  Steuer  pro- 
portional zum  freiem  Einkommen  sein  muss  und  dass  sonach  diejenige  Progi-ession, 
welche  sich  durch  die  Bezifferung  der  hiernach  bestimmten  Steuerbeträge  als  Procente 
des  Gesammteinkommens  ergiebt,  jenes  „progressive  Verhältnis"  darstellt,  in  welchem  die 
Steuerkraft,  d.  h.  die  Möglichkeit  einen  Theil  des  Gesammteinkommens  als  Steuer  abzu- 
geben, bei  Erhöhung  des  Einkommens  wächst.  '  (Motivenbericht  S.  142.)  Noch  minder 
klar  die  sächsische  Eegierungs vorläge  1871/72. 

2)  Wagner  „Finanzwissenschaft,"  IL  TheiL  Aufl.  v.  1880,  S.  357,  Aufl.  v.  1890, 
S.  457.  Ganz  richtig  wird  hinsichtlich  der  Progressivsteuer  nur  die  Höhe  des  Einkommens 
ins  Auge  gefasst,  während  die  Art  des  Einkommens  und  ungleiche  Absorption  desselben 
durch  bestimmte  Verwendungszwecke  —  Momente,  an  die  im  Begriff*e  der  „Leistungsfähig, 
keit"  mitgedacht  wird  —  andere  Fragen  der  Besteuerung  ergeben. 


Die  Progressivsteiier.  (59 

gar  keine  Antwort  oder  —  ausgesprochen  oder  unausgesprochen  —  die: 
weil  sonst  Ungleichheit  der  Opfer  zum  Vorschein  käme,')  oder:  weil  die 
Gerechtigkeit  dies  gebietet.  Warum  gebietet  es  die  Gerechtigkeit  ?  fragen 
wir  weiter.  Antwort:  Entweder  abermals  keine,  oder:  weil  sie  Gleichheit 
der  „Last"  verlangt  —  damit  wären  wir  wieder  glücklich  bei  der  Opfertheorie 
—  oder  endlich  eine  Wendung  (um  nidit  zu  sagen  Phrase),  die  nur  dem 
Denkungewandten  die  petitio  principii  verbirgt. 

Auf  diese  Weise  werden  wir  einfach  an  die  Standarte  der  Gerech- 
tigkeit gewiesen.  „Le  pavillon  couvre  la  marchandise"  :  da  bedarf  es  keiner 
weiteren  Prüfung.  —  Ist  dem  wirklich  so  ? 

Was  kann  denn  die  „vertheilende  Gerechtigkeit"  im  Steuerwesen  ge- 
bieten? Offenbar  nur  das  Negative,  keine  andere  Steuer  von  jemand  ein- 
zuheben  als  diejenige,  welche  nach  dessen  ökonomischen  Verhältnissen  die 
richtige  ist;  nicht  von  dem  Einen  mehr  Steuer  zu  verlangen  und  vom 
Andern  weniger  als  die  richtige!  Eine  positive  Directive  für  das  vor- 
liegende Gebiet  ist  im  Inhalte  des  Begriffes    nicht   gelegen. 

Oder  könnte  man  vielleicht  folgendermaassen  argumentieren:  Wenn 
von  Denjenigen,  welche  nur  ein  Einkommen  im  Umfange  des  Existenz- 
minimums haben,  eine  Steuer  nicht  eingehoben  wird,  so  erfordere  es  die 
Gerechtigkeit,  das  Einkommen  aller  Uebrigen  auch  zum  gleichen  Betrage  von 
der  Steuer  zu  eximieren?  Die  Antwort  könnte  nur  dann  bejahend  lauten, 
wenn  der  Grund,  aus  welchem  die  Erstgedachten  von  der  Steuer  befreit 
werden,  auch  bei  den  Letzteren  zuträfe.  Der  Grund  ist:  w^eil  die  Entziehung 
eines  Theiles  der  betreffenden  Güter  die  Erhaltung  oder  (beim  culturellen 
Existenzminimum)  die  menschenwürdige  Existenz  jener  Individuen  aufheben 
würde.  Bei  Denjenigen,  welche  mehr  besitzen  als  das  Existenzminimum  plus 
einem  Betrage  gleich  der  zu  zahlenden  Steuer,  trifft  aber  jener  Grund  nicht 
mehr  zu.  da  bei  diesen,  wie  wir  uns  erinnern,  die  Steuer  eben  an  jene 
Güter  nicht  rührt.  Es  ist  daher  gar  nicht  einzusehen,  wieso  vom  Gesichts- 
punlde  der  Gerechtigkeit  aus  eine  Steuer  verworfen  werden  könnte,  die  z.  B. 
bei  einem  Existenzminimum  von  200  fl.  so  beschaffen  wäre:  Bis  200  fl. 
Emkommen  Steuerfreiheit,  von  220  fl.  an  eine  proportionale  Steuer  von  107o; 
[Einkommen  über  200  fl.  bis  inclus.  219  fl.  geben  das  Plus  über  200  fl.  ab. 
Wenn  sich  eine  solche  Steuer  wirtschaftlich  empfehlen  würde,  wäre  namens 
der  vertheilenden  Gerechtigkeit  gegen  dieselbe  nicht  das  mindeste  einzuwenden. 
Dass  die  Steuerbefreiung  der  Menschen,  welche  lediglich  das  Existenzminimum 
aufweisen,  nicht  selbst  erst  durch  die  Gerechtigkeit  motiviert  wird,  sondern 
sich  anderweitig  vollständig  erklärt  —  u.  zw.  verschieden  für  das  physische 
und  das  culturelle  Existenzminimum  —  wird  kaum  eines  eingehenden 
Nachweises  bedürfen.  2)  So  lässt  uns  also,  wenn  man  sich  nicht  mit  Worten 
begnügt,  sondern  der  Sache  auf  den  Grund  geht,  die  Verweisung  auf  die 
Gerechtigkeit  im  Stich.  Der  Satz,  es  hätten  die  Steuern  sich  abzustufen  im 

^)  So  z.  B.  auch  Wagner  im  Verfolge  der  vorcitierten  Stelle. 

2)  Vergl.  hiezu  Abschnitt  III,  2.  Theil  der  vorliegenden  Abhandlung. 


70  i^ax. 

Verhältnis  des  freien  Einkommens,  ist  mithin  —  falls  man  nicht  zur  Opfer- 
theorie seine  Zuflucht  nimmt  —  einfach  ein  Postulat.  \) 

Andere  Postulate  sind  ihm  entgegenzusetzen,  indem  man  den  Begriff 
der  Leistungsfähigkeit  ändert.  Dies  geschah,  als  man  in  ihr  den  Ausdruck 
dessen  erblickte,  wie  viel  Jemand  Steuer  zahlen  kann  „ohne  Störung  der 
wirtschaftlichen  Entwicklung"  (Stein)  oder  „ohne  die  verhältnismässige 
Eigenversorgung  zu  verkümmern"  (Schaeffle);  Maasstäbe,  die  wohl  an 
Unbestimmtheit  das  äusserste  leisten!  Dass  man  mit  der  Forderung,  die 
Steuer  solle  im  Verhältnis  zu  dieser  Leistungsfähigkeit  stehen,  eine  Unzahl 
beliebiger  Progressionen  construieren  könnte,  steht  ausser  Zweifel.  Alle 
diese  wären  nur  postuliert,  nicht  motiviert:  der  Nachweis,  dass  eine  davon 
die  richtige  sei,  wäre  wohl  niemals  zu  erbringen. 

Immerhin  ist  unter  „Leistungsfähigkeit"  selbst  da  noch  eine  Güter- 
summe verstanden:  diejenige,  welche  Jemand  hingeben  könnte,  ohne  dass 
die  gedachten  Wirkungen  (Störung  der  wirtschaftlichen  Entwicklung,  Ver- 
kümmerung der  verhältnismässigen  Eigenversorgung)  eintreten.  So  unbe- 
stimmt das  Ausmaass  dieser  Summe  sein  mag,  es  ist  doch  wenigstens 
logisch  möglich,  die  Steuer  des  Einzelnen  als  im  Verhältnis  zu  dieser  Summe 
stehend  zu  denken.  Wenn  man  aber  vollends  mit  dem  Worte  „Leistungs- 
fähigkeit" jenen  verschwommenen  Begriff  des  derzeitigen  Sprachgebrauches 
verbindet,  den  Kob.  Meyer  so  trefflich  charakterisiert,  indem  er  sie  definiert 
als  „die  Gesammtheit  der  wirtschaftlichen  Momente,  welche  der  Wirtschaft 
die  Aufbringung  der  Steuer  ermöglichen  oder  erleichtern",  dann  ist  man 
wohl  mit  der  Logik  dieses  „Verhältnisses"  am  Ende.  Eine  Gütersumme 
(Steuer)  kann  doch  wohl  immer  nur  mit  einer  anderen  Gütersumme  im 
Verhältnis  stehen:  wie  aber  eine  Gütersumme  zu  einer  Summe  von  „Momenten", 
d.  i.  verschiedenen  Umständen,  Zuständen,  Thatsachen  der  individuellen 
Wirtschaft,  im  Verhältnis  stehen  könnte,  ist  unfassbar.  Die  hierauf  basierte 
Progressivsteuer  entstammt  jenem  Nebel  des  Gedankens,  welcher  die,  den 
Agitationen  und  Schlagworten  des  öffentlichen  Lebens  so  gedeihliche 
Atmosphäre  bildet,  den  jedoch  die  Wissenschaft  zerstreuen  muss,  wenn  sie 
ihres  Amtes  walten  will. 


1)  Cohen  Stuart,  welcher  mit  dem  BegriflFe  der  Leistungsfähigkeit  als  Ver- 
theilungsmaasstab  mathematisch  nichts  anzufangen  weiss,  hat  sich  für  seine  Theorie  aus 
demselben  einen  sehr  bequemen  Behelf  zurechtgelegt,  indem  er  unter  Leistungsfähigkeit 
=  Steuerkraft  =  Steuertragungsvermögen  das  Object  der  Besteuerung  versteht:  die- 
Cenige  Summe,  aus  welcher  die  Steuer  genommen  wird;  welche  die  Steuer  zu  tragen  hat. 
Mittels  einer  petitio  principii  erklärt  er  als  solche  das  Einkommen  nach  Abzug  des 
Existenzminimums.  Maasstab  der  Vertheilung  sei  dann  die  Opfergleichheit  (a.  ä.  0,  S.  39). 
Es  sei  diese  „Tragkraft"  dermaassen  in  Anspruch  zu  nehmen,  dass  verhältnismässige 
Opfer  entstehen.  N.  G.  Pierson  billigt  diese  Auffassung  der  „Steuerkraft"  höchlich 
(Leerboek  TL,  S.  461).  hat  jetzt  aber  die  Opfertheorie  aufgegeben  und  will  die  Steuer 
ausschliesslich  nach  der  Steuerkraft  bemessen  wissen.  Damit  stellt  er  doch  offenbar  das 
Postulat  auf:  die  Steuer  soll  in  geradem  Verhältnisse  zu  ihrem  eigenen  Objecte,  dem 
freien  Einkommen,  stehen.  Das  ist  ersichtlich  nichts  anderes  als  die  oben  erörterte 
Leistungsfähigkeitstheorie  und  hat  folglich  auch  alle  oben  erhobenen  Einwendungen 
gegen  sich. 


Die  Progressivsteuer.  71 

Wie  ersichtlich,  kommt  man  mit  dem  Grundsatze  der  Leistungsfähigkeit 
zu  keinem  festen  Ergebnisse  und  verliert  schliesslich  den  Boden  ganz  unter 
den  Füssen.  Leicht  erklärlich.  Die  „Leistungsfähigkeit"  ist  ein  allgemeiner, 
vermöge  seiner  Unbestimmtheit  möglicher  Ausdruck  zur  Zusammenfassung 
dessen,  was  aus  wirtschaftlichen  Gründen  in  der  Steuervertheilung  vor  sich 
geht  und  durch  irgendeine  Theorie  zu  erklären  ist.  Denn  was  Jemand  an 
wirtschaftlich  richtiger  Steuer  vorgeschieben  wird,  das  ist  er  ökonomischer 
Weise  zu  leisten  fähig.  Aus  der  Leistungsfähigkeit  an  sich  etwas  herleiten 
zu  wollen,  ist  strenggenommen  unmöglich:  nur  was  man  als  aus  irgend 
welchem  Grunde  innerlich  motiviert  ansieht,  kann  man  der  Leistungsfähigkeit 
entsprechend  finden.  Und  so  auch  in  Betreff  der  Progressivsteuer.  Man  ist 
überzeugt,  man  „fühlt",  dass  die  Steuer  progressiv  sein  soll  und  zwar,  weil 
sie  es  sein  kann.  Daher  ist  man  gewiss  berechtigt  zu  sagen,  das  entspreche 
der  Leistungsfähigkeit,  nur  hat  man  damit  wissenschaftlich  nichts  erklärt, 
nichts  begründet.  Wenn  man  aber  sagen  wollte,  das  allgemeine  Gefühl 
selbst  ist  die  Motivierung,  es  bedarf  einer  weiteren  nicht,  so  gibt  man  damit 
zu,  dass  eben  der  Grundsatz  der  Leistungsfähigkeit  nicht  die  Begründung 
liefert,  und  wird  damit  von  selbst  einer  Theorie  zuneigen,  welcher  es  gelingen 
sollte  zu  erklären,  warum  das  Gefühl  jenes  anzeigt. 

Man  sehe  aber  schliesslich  doch  auch  zu,  was  denn  praktisch  mit  der 
aus  der  proportionalen  Besteuerung  des  freien  Einkommens  hervorgehenden 
Progressivsteuer,  die  derzeit  noch  so  vielen  Anklang  findet,  erreicht  wäre. 
Zieht  man  nur  das  eigentliche  Existenzminimum  ab,  oder  greift  man  den 
Betrag,  welcher  als  allgemeines  sociales  Existenzminimum  angesehen  wird, 
nicht  zu  hoch,  so  kommen  bereits  bei  der  breiten  Schichte  der  mittleren 
Einkommen  so  geringfügige  Differenzen  des  Steuerfasses  heraus,  dass  die 
bezügliche  Progression  geradezu  als  eine  Spielerei  erscheint.^)   Wollte  man 

')  Man  kann  sich  mit  leichter  Mühe  durch  die  Bechnung  hievon  überzeugen. 
Wenn  das  Existenzminimum  mit  300  fl.  angenommen  wird  und  demnach  bei  einer  lOperc. 
Steuer  vom  freien  Einkommen  die  Steuer  vom  ganzen   Einkommen    sich   berechnet   mit 

7-00  Perc.  bei     1000  fl.  Einkommen 

8-50   „   ,   2000  , 

9-00   „   „   3000  „ 

9-25   „   „   4000  „ 

9-40   „   „   5000  „ 

9-50   „   „   6000  „ 

9-57   „   „   7000  , 

9-62   „   „   8000  „ 

9-66   „   „   9000  „ 

9-70      „        „     10000  „  „  u.  s.  w.: 

wie  wäre  es  auch  nur  denkbar,  ein  Steuersystem  zu  entwerfen,  dessen  Glieder  in 
ihrer  combinierten  Wirksamkeit,  also  directe  und  indirecte  Steuern  zusammen,  die 
verschiedenen  Einkommen  gerade  oder  auch  nur  annähernd  mit  Steuerbeträgen  treften, 
die  den  subtilen  Unterschieden  vorstehender  Scala  entsprechen!  Wohlbemerkt:  So  mini- 
male Differenzen  resultieren  schon  bei  den  mittleren  Einkommensstufen  (wie  erst  bei  den 
höheren  und  höchsten!)  für  eine  Abstufung  von  1000  fl.  (wie  erst  für  die  Zwischen- 
stufen!) und  bei  einem  Steuerfusse  von  10  Perc,  der  absichtlich  in  dieser  Höhe  an- 
gesetzt wurde  —  wie  erst  bei  einer  geringeren  Steuerhöhe! 


72  Sax. 

jedoch  eine  praktisch  brauchbare  Progression  erhalten,  so  müsste  die  Abzugs- 
post willkürlich  aller  Wirklichkeit  wridersprechend  hoch  gegriffen  werden, 
wodurch  die  Zahl  der  Steuerfreien  zu  einer  unmöglichen  Ausdehnung  an- 
schwellen würde! 

Aber  die  Anhänger  dieser  Progressivsteuer   denken    eben  immer  bloss 
an    die  Einkommensteuer,    wobei    der   eingangs    erwähnte   Fehler   begangen 
wird.    Wenn   nun    schon   bezüglich    der  Gresammtsteuer   aus  der  Steuerbe- 
freiung Derjenigen,    welche   bloss    das    gewisse   Existenzminimum  besitzen, 
nicht  folgt,  dass  die  ökonomisch  richtige  Gesammtsteuer  der  üebrigen  durch 
proportionale  Besteuerung  des  freien   Einkommens  gefunden  werde,    um  so 
Aveniger  können  die  so  gefundenen  Steuersätze  kurzweg  für  die  Einkommen- 
steuer  (im    Steuersysteme)    gelten.     Sie    könnten    doch   höchstens   für   die 
Steuern   in   ihrer  Gesammtwirkung   auf  das    einzelne   Steuersubject   gelten. 
Dies  ist  für  die  unteren  Einkommensstufen  schon   durch  die  Beschaffenheit 
der  indirecten  Steuern,  für  die  mittleren  durch  diese  und  Hinzutreten  einer 
proportionalen  Einkommensteuer   zu  erzielen,   bei  den  höheren  Einkommen- 
stufen   aber,   bei   welchen    die  Einkommensteuer  für  die  Steuersumme   ent- 
scheidend   wird,    ergibt    ja    jener   Steuermodus    eine   Progression    von    so 
minimalem  Maasse,    dass   dieselbe   faktisch   einer  Proportionalsteuer   völlig 
gleichkommt!    Wohl   aber   wäre,    wenn    die    Steuerbefreiung    des   Existenz- 
minimums nicht  eintritt,  eine  progressive  Gestaltung  der  Einkommensteuer 
der  Ausgleichung  wegen  nothwendig,    wenn  nicht  andere  Steuern  diese  Aus- 
gleichung besorgen.  Angenommen,  die  300  fl.  Existenzminimum  seien  durch 
indirecte  Steuern   mit  15  fl.    durchschnittlich  getroffen  =:  5^^,.    Wenn  nun 
Jemand  mit  1000  fl.  Einkommen  5°/o  Steuer  zahlen  soll,  so  sind  von  50  fl. 
die   bereits   durch   die   indirecten    Steuern   erhobenen    15  fl.    in    Abzug   zu 
bringen,  macht  35  fl.,  welche  durch  die  Einkommensteuer  zu  erheben  wären. 
Bei  2000  fl.  Einkommen  erübrigen  nur  85  fl.  für  die  Einkommensteuer,  um 
auf  5%  =  100   fl.    zu    kommen.     Dies    ergibt   einen  Einkommensteuersatz 
von  3*57o  bei  1000  fl.,  4*25'Vo  bei  2000  fl.  u.  s.  w.,  i.  e.  eine  progressive 
Einkommensteuer.    Diese   progressive  Einkommensteuer    wäre    also    gerade 
durch  den  Umstand  motiviert,  dass  das  Existenzminimum  nicht  steuerfrei 
ist,  wir  finden  aber  nicht  selten  gerade  von  Solchen,  welche  die  Steuerfreiheit 
des  Existenzminimums    durch   Freilassung   der   nothwendigen   Lebensmittel 
von  jeder  indirecten  Steuer  befürworten,  bei  der  Einkommensteuer  dann  die 
Progression    mit    Kücksicht    auf    die    Freilassung     des    Existenzminimums 
gefordert ! 

Zum  Schlüsse  dieses  Abschnittes  kann  ich  nicht  umhin,  einer  ganz 
eigenartigen  Begründung  der  Progressivsteuer  zu  gedenken,  welche  in 
Oesterreich  das  Licht  der  Oeffentlichkeit  erblickt  hat  und  wohl  die  Bezeich- 
nung einer  Singularität  verdient.  In  der  parlamentarischen  Vorberathung  des 
Entwurfes  einer  Personal-Einkommensteuer  während  der  VIII.  Session  des 
österreichischen   Reichsrathes   wurde   die    Behauptung   vertreten  i),    dass  es 

')  Bericht  des  Steuerreform-Ausschusses  über  den  §  5  des  Personaleinkommen- 
steuergesetzes, Nr.  684  der  Beilagen  zu  den  stenogr.  Prot,  des  Abgeordnetenhauses. 


Die  Progressivsteuer.  73 

JiiY  die  Annahme  einer  progressiven  Steuer  nur  einen  Grund  gibt,  aber 
einen  Grund  ron  so  durchschlagender  Bedeutung,  dass  er  allein  genügt,  die 
Einführung  der  bezeichneten  Steuer  zu  einem  zwingenden  Gebote  der 
Gerechtigkeit  zu  machen^  Dieser  Grund  liege  in  der  „Thatsache.  dass  von 
verschieden  grossen  Einkommen  eine  sehr  verschiedene  Quote  zur 
Bestreitung  derjenigen  Bedürfnisse  verwendet  wird,  deren  volle  oder  doch 
möglichst  volle  Befriedigung  bei  jedem  Einzelnen  im  Interesse  nicht  nur 
dieses  Einzelnen,  sondern  auch  der  Gesamratheit  gelegen  ist.  weil  sie  die 
Erhaltung  und  Gesunderhaltung  und  womöglich  auch  den  Culturf ort  schritt 
des  Individuums  und  der  Art  bezwecken"  .  .  .  Die  Quote  dieser  Ausgaben, 
welche  passend  Ausgaben  von  allgemeinem  Interesse  genannt 
werden  könnten,  nehme  noth wendigerweise  von  den  kleinsten  Einkommen 
an  bis  zu  den  höchsten  hinauf  continuierlich  ab,  obschon  der  absolute 
Betrag  dieser  Ausgaben  steige,  da  ein  Einkommenszuwachs  theilweise  zur 
besseren  Befriedigung  dieser  Bedürfnisse  von  allgemeinem  Interesse  solange 
verwendet  werde,  bis  schliesslich  eine  Grenze  voller  Befriedigung  eiTeicht 
ist,  oberhalb  welcher  jeder  weitere  Zuwachs  nur  das  den  Bedürfnissen  von 
rein  individuellem  Charakter  dienliche  Einkommen  vermehrt. 

Nun  liege  es  ,auf  der  Hand,  dass  die  zur  Bestreitung  der  Ausgaben 
von  allgemeinem  Interesse  verwendete  Einkommensquote  mit  einem  viel 
niedrigeren  Steuers  atze  zu  treffen  sei  als  das  übrige  Einkommen,  und 
da  diese  Quote  bei  steigendem  Einkommen  fortwährend  abnimmt,  so  muss 
die  percentuelle  Belastung  des  Einkommens  im  ganzen  mit  dessen  Höhe 
fortwährend  zunehmen.  Aus  den  beiden  in  der  Idee  festzustellenden  fixen 
Steuersätzen:  dem  niedrigeren  für  die  Ausgaben  von  allgemeinem  Interesse 
und  dem  höheren  für  das  übrige  Einkommen,  und  aus  dem  von  Stufe  zu 
Stufe  der  verschiedenen  Einkommen  wechselnden  Verhältnisse  dieser  beiden 
Theile  des  Einkommens,  ergebe  sich  dann  der  von  Stufe  zu  Stufe  wechselnde 
Durchschnittssteuersatz  für  das  Gesammteinkommen". 

Ich  habe  für  diesen  Gedankengang  keine  andere  Bezeichnung  als  die 
einer  „hübschen  Idee".  Das  ist  aber  auch  alles,  was  man  zu  seinen  Gunsten 
vorbringen  kann.  Denn  die  Prüfung  auf  die  wissenschaftliche  Beweiskraft 
fällt  recht  schlimm  aus.  Die  Unterscheidung  der  beiden  Kategorien  von 
Ausgaben  —  die  nicht  zusammenfällt  mit  der  Scheidung  des  Einkommens 
in  nothwendiges  und  freies  —  ganz  ununtersucht  gelassen:  worin  liegt  denn 
der  Grund,  dass  die  eine  dieser  Einkommensquoten  mit  einem  niedrigeren 
Steuerfusse  zu  belegen  sei  als  die  andere  ?  Dieser  entscheidende  Punkt,  auf 
dem  der  ganze  Beweis  ruht,  wird  mit  den  Worten  erledigt:  „Es  liegt  auf 
der  Hand!"    Wie,  wenn  nun  Jemand  findet,  dass  dies  nicht  auf  der  Hand 

liegt? Doch  vielleicht  bietet   die  Charakterisierung  der   niedriger  zu 

besteuernden  Quote  als  „Ausgaben  von  allgemeinem  Interesse'  den  Schlüssel 
zu  jener  Behauptung.  Man  dachte,  diese  Ausgaben  sollen  durch  die  Steuer 
weniger  eingeschränkt  werden,  weil  es  im  allgemeinen  Interesse  liege,  dass 
die  bezüglichen  Bedürfnisse  voll  oder  möglichst  voll  zur  Befriedigung 
gelangen.  Der  eingeschlossene  Zweck  würde  aber  doch  nur  dann  das  erwähnte 


74  ßax. 

Mittel  erfordern,  wenn  Jeder  die  als  Steuer  zu  zahlende  Summe  allen 
Bedürfniskategorien  in  gleichem  Verhältnisse  entzöge !  Wir  wissen  hingegen, 
dass  er  sie  nur  den  mindest  intensiven  Bedürfnissen  entzieht.  Und  bei  ver- 
nünftiger Lebensführung,  die  allein  in  Betracht  kommen  kann,  sind  die 
wichtigeren  Bedürfnisgruppen  auch  die  stärkeren.  Solange  die  Steuer  nicht 
den  für  die  gedachten  Bedürfnisse  von  rein  individuellem  Interesse  erforder- 
lichen Betrag  überschreitet,  bleiben  ja  die  „Ausgaben  von  allgemeinem 
Interesse"  von  der  Steuer  ganz  unberührt!  Es  wird  daher  die  Forderung 
einer  geringeren  Besteuerung  der  letzteren  hinfällig,  und  da,  wie  der  Bericht 
ganz  richtig  bemerkt,  die  geringeren  Einkommen  keineswegs  etwa  aus- 
schliesslich für  solche  Bedürfnisse  der  letzterwähnten  Art  verwendet  werden, 
sondern  „im  Gegentheile  selbst  von  dürftigen  Einkommen  eine  gewisse, 
wenn  auch  kleine  Quote  für  Ausgaben  zur  Verwendung  gelangt,  welche  den 
Anspruch  im  allgemeinen  Interesse  zu  liegen  nicht  erheben  können",  so 
wäre  erst  zu  untersuchen,  ob  nicht  eine  gegebene  proportionale  Steuer  die 
Ausgaben  von  allgemeinem  Interesse  bei  allen  Steuerträgern  nicht  tangiert 
—  mit  Ausnahme  derjenigen,  welche  nur  das  Existenzminimum  besitzen! 
Also  auch  diese  originelle  Motivierung  mit  einer  verschiedenen  Leistungs- 
fähigkeit der  unterschiedenen  Einkommensquoten  vermag  die  Progressiv- 
steuer nicht  zu  stützen.^) 


')  Zu  der  Steuertheorie  dieses  Capitels  ist  noch  zu  zählen  die  neuestens  im 
öffentlichen  Leben  so  häufig  gehörte  Wendung,  welche  die  Progressivsteuer  (als  pro- 
gressive Eintommensteuer)  als  Maassregel  der  Socialpolitik  begründet  und  fordert.  Ent- 
lastung der  Schwächeren,  Mehrbelastung  der  Stärkeren!  Mit  dieser  Devise  ist  ebenfalls 
nur  gemeint,  es  solle  ein  concretes  Steuersystem,  in  welchem  die  wirtschaftlich 
schwächeren  Volkselemente  überlastet,  die  Wohlhabenden  zu  wenig  besteuert  sind,  ver- 
bessert und  im  Wege  der  Einführung  oder  Ausgestaltung  einer  progressiven  Einkommen- 
steuer dermaassen  vervollkommnet  werden,  dass  die  Einzelnen  thatsächlich  nach  ihrer 
respectiven  Leistungsfähigkeit  getroffen  würden.  Motiv  und  Maasstab  der  Progressiv- 
steuer ist  auch  für  Diejenigen,  welche  sich  jener  Ausdrucksweise  bedienen,  die  verschie- 
dene Leistungsfähigkeit  der  diversen  Classen  der  Steuerträger,  Selbstverständlich  ist  die 
Progressivsteuer  eine  socialpolitische  Maassregel:  jede  Steuer  ist  eine  solche,  denn 
sie  ordnet  ein  socialökonomisches  Verhältnis.  Aber  einen  Maasstab  für  die  Steuerpro- 
gression vermag  dieser  Charakter  der  Maassregel  im  Sinne  jener  Redner  nicht  abzugeben. 
Letztere  wollen  ja  die  Schwächeren  eben  so  weit  entlasten  als  sie  —  ihrer  Leistungs- 
fähigkeit gegenüber  —  zu  viel  belastet  sind,  und  die  Stärkeren  um  so  viel  mehr  belasten 
als  sie,  entsprechend  ihrer  Leistungsfähigkeit,  ihrer  derzeit  zu  geringen  Belastung  gegen- 
über mehr  tragen  können.  Das  ist  wohl  zu  unterscheiden  von  der  bekannten  Lehre,  welche 
—  zurückreichend  auf  den  Vorschlag  im  Convente  der  franz.  Revolution  —  die  Pro- 
gressivsteuer noch  überdies  als  Mittel  zur  Correctur  der  Einkommensvertheilung  ver- 
wendet wissen  will.  Da  ist  nicht  mehr  die  Leistungsfähigkeit  der  Maasstab,  sondern  das 
Maass,  um  wie  viel  man  von  einer  gewissen  Grenze  an  jede  Einkommensstufe  redu eieren 
wollte.  Da  erst  wäre  der  socialpolitische  Zweck  in  jenem 'Umfange,  in  welchem  er  that- 
sächlich gesetzt  würde,  Motiv  und  Maasstab  der  Progression.  Wie  längst  von  anderer 
Seite  bemerkt  wurde,  hat  diese  Lehre  den  Umstand  gegen  sich,  dass,  wenn  man  über- 
haupt einmal  die  Prämisse  zugibt,  dass  die  bestehende  Gütervertheilung  geändert  werden 
solle,  das  Programm  der  Socialdemokratie  viel  consequenter  und  praktischer  erscheint. 
Denn  mittels  jener  Besteuerung  würden  ja  die  kleinen  Einkommen  nur  um  so  viel 
aufgebessert,  als  sie  dann  weniger  an  Steuer  zu  entrichten  hätten,  upd  bei  dem  numeri- 


Die  Progressivsteuer.  75 

II.  Die  theoretischen  Grundlagen  der  Frage  des  Maasses  der 

Progression. 

Einer  gesonderten  Untersuchung  soll  nunmehr  die  Frage  unterzogen 
werden,  was  sich  in  Betreff  des  Maasses  der  Abnahme  des 
Grenz  nutz  ens  bei  Zunahme  der  Gütermenge  (des  Einkommens)  fest- 
stellen lässt.  Die  Aussonderung  dieses  Fragepunktes  erfolgte  mit  Kücksicht 
auf  den  Vorbehalt  einer  speciellen  Erörterung  darüber,  was,  nachdem  viel- 
leicht das  Princip  der  Steuerprogression  schon  anderweitig  entschieden  wäre, 
hinsichtlich  der  Gestaltung  der  Progression  generell  festzustellen  sei.  Die 
holländischen  Autoren  giengen  auch  ursprünglich  von  solcher  Voraussetzung 
aus.  Sie  meinten,  dass  bei  Zugrundelegung  einer  irgendwie  exemplificierten 
Abnahme  des  Grenznutzens  bei  steigendem  Einkommen  sich  eine  Progression 
der  Steuer  als  nothwendige  Conclusion  erweisen  lasse.  Hiervon  wäre  dann 
zur  Festsetzung  der  thatsächlich  anzuwendenden  Progression  vorzuschreiten, 
indem  man  dem  Calcule  hinsichtlich  des  Maasses  der  Abnahme  des  Grenz- 
nutzens plausible  Annahmen  zu  Grunde  lege.  Freilich  kam  man  da  zu  recht 
abweichenden  und  selbst  sehr  starken  Progressionen,  je  nach  der  subjectiven 
Meinung,  die  sich  der  Betreffende  über  das  Verhältnis  der  Abnahme  des 
Grenznutzens  gebildet  hatte;  Ansichten,  die  uns  jetzt,  nachdem  wir  die 
Hinfälligkeit  der  Voraussetzung  kennen,  auf  welcher  jener  Gedankenbau 
errichtet  war,  nicljt  weiter  interessieren.  Wir  wissen  jetzt,  dass,  schon  um 
das  Princip  der  Progression  zu  ergeben,  die  Opfertheorie  der  gedachten 
Fassung  es  erfordert  hätte,  mit  bestimmten  Gestaltungen  hinsichtlich  des 
Abfalles  des  Grenznutzens  rechnen  zu  können,  da  andere  Verhältnisse  dieser 
Abnahme  Proportional-,  ja  selbst  Degressivsteuer  nach  sich  zögen,  ümso- 
mehr  dürften  die  bezüglichen  Verhältniszahlen  aber  nicht  auf  blossen  An- 
nahmen beruhen,  mögen  solche  Diesem  oder  Jenem  noch  so  plausibel 
erscheinen,  sondern  müssten  wissenschaftlich  erwiesen  sein. 

Von  der  erwähnten  Seite  wurde  die  Lehrmeinung  vertreten,  dass  die 
Abnahme  des  Grenznutzens  eine  degressive  sein  müsse,  d.  h.  dass  die 
Differenz  der  Grenznutzen  von  Stufe  zu  Stufe  kleiner  werde.  Entscheidend 
für  diese  Anschauung  ward  der  Umstand,  dass  eine  gleichmässige  Abnahme, 
d.  i.  eine  solche,  bei  welcher  die  Differenz  zwischen  je  zwei  auf  einander 
folgenden  Stufen  stets  die  gleiche  ist,  für  den  Grenznutzen  schliesslich  zur 
Ziffer  0  führen  müsste,  was  natürlich  bei  einer  vorschreitenden  Abnahme 
noch  rascher  der  Fall  wäre.  Nur  eine  degressive  Abnahme  des  Grenznutzens 
hätte    die  Folge,    dass  auch  die  Steuerprogression   eine  abnehmende  wird. 


sehen  Verhältnisse  der  kleinen  zu  den  grossen  Einkommen  wäre  dies  herzHch  unbedeu- 
tend. Erklärücher  Weise  acceptiert  die  Socialdemokratie  aber  auch  eine  solche  Abschlags- 
zahlung. Diejenigen,  welche  die  Progressivsteuer  kurzweg  als  socialpolitische  Maassregel 
empfehlen,  sollten  daher  doch  die  Güte  haben,  sich  insoweit  eines  klareren  Ausdruckes 
ihrer  Gedanken  zu  befleissen,  dass  man  zu  wissen  in  die  Lage  komme,  ob  sie  die  social- 
demokratische  Progressivsteuer  wollen  oder  —  ^ganz  einfach  und  bescheiden"  —  die 
Progressivsteuer  „nach  der  Leistungsfähigkeit"! 


7(5  Sax. 

d.  h.  die  Eventualität  vermeidet,  schliesslich  auf  100  Perc.  emporzuklimmen, 
d.  i.  das  ganze  Einkommen  zu  absorbieren.  Eine  gleichmässige  Abnahme 
des  Grenznutzens,  meinte  man,  wurde  auch  eine  gleichmässige  Progression 
der  Steuer  nach  sich  ziehen. 

Diese  Ansichten  in  Betreff  der  Consequenzen  des  Maasses  der  Abnahme 
des  Grenznutzens  für  die  Gestaltung  der  Steuerprogression  sind  nun  freilich 
auf  Grund  der  Theorie,  im  Hinblicke  auf  welche  sie  concipiert  waren, 
nämlich  die  im  Früheren  besprochene  Opfertheorie,  nicht  haltbar.  Wie 
Cohen  Stuart  mathematisch  nachweist,  würde  eine  gleichmässige  Ab- 
nahme des  Grenznutzens  auf  jener  Basis  (immer  mit  Ausscheidung  des 
Existenzminimums  aus  der  Eechnung)  nicht  gleichmässige,  sondern  pro- 
gressive Progression  der  Steuer  ergeben,  und  ist  ferner  eine  gleichmässige 
Progression  der  Steuer  nur  möglich,  wenn  die  Abnahme  des  Grenznutzens 
eine  sich  verringernde  ist.  Im  letzteren  Falle  kann  aber  auch,  wie  sich  so- 
gleich zeigen  wird,  eine  degressive  Steuerprogression,  resp.  wenn  das  Exi- 
stenzminimum nicht  ausgeschieden  wird,  eine  Proportionalsteuer  heraus- 
kommen, und  in  dem  letzten  der  oben  citierten  Zahlenbeispiele  Cohen 
Stuart's  (S.  60)  stellt  sich  bei  fallender  Abnahme  des  Grenznutzens  sogar 
eine  Degressivsteuer  heraus ! 

Das  zeigt  nun  wohl  schon  zur  Genüge,  dass  es  auf  etwas  anderes 
ankommt  als  darauf,  ob  bei  Vorschreiten  von  einer  Einkommensstufe  zur 
anderen  der  Grenznutzen  eine  gleichmässige  oder  ungleichmässige  Verän- 
derung aufweise.  So  wie  es  von  Seiten  der  erwähnten  Autoren  geschah,  ist 
die  Frage  nicht  genügend  präcis  gestellt.  Es  fragt  sich  nämlich  nicht  bloss, 
wie  b  e  i  zunehmender  Einkommensgrösse  das  Verhältnis  des  Grenznutzens 
einer  Einkommensstufe  zu  dem  der  vorangehenden  Einkommensstufen  im 
allgemeinen  beschaffen  sei,  sondern  es  fragt  sich,  in  welchem  Verhältnisse 
die  Aenderung  der  Grenznutzen  zur  Zunahme  der  Einkommen 
stehe.  Das  letztere  ist  das  entscheidende  und  mit  Rücksicht  hierauf  erhält 
die  Frage,  ob  eine  degressive,  proportionale  oder  progressive  Abnahme  des 
Grenznutzens  zu  constatieren  sei,  einen  anderen  Sinn.  Dies  scharf  zu 
erfassen,  ist  von  grosser  Wichtigkeit. 

Wir  sprechen  sonach  von  einer  proportionalen  Abnahme  des 
Grenznutzens,  wenn  dieser  sich  in  demselben  Verhältnisse  verändert,  in 
welchem  das  Einkommen  zunimmt.  Ein  solches  Verhältnis  wäre  im  folgenden 
Schema  dargestellt: 

Bei  1000  fl.  Einkommen  sei  Grenznutzen  =  1      =  100      Perc. 

«  2000  „  „            „             „ 

«  3000   „  „             „             „ 

.  4000  „  „            „            „ 

n        5000    „  „  „  „ 

n        6000    „  „  „  „ 

«  7000  „  „ 

«  8000  „  „  „  „ 

r,  9000  „  „  „  „ 

„  10000  „  «  „  „ 


=  1      = 

100 

=    72     = 

50 

33V3 

25 

=    Vs    = 

20 

=  Ve    = 

I6V3 

=  Vt    = 

UV, 

=  Vs    = 

12V2 

=    Vg     = 

11  Vo 

=   Vu.  = 

10 

Die  Progressivsteuer.  77 

Bleibt  die  Abnahme  des  Grenznutzens  hinter  den  angeführten  Verhält- 
niszahlen zurück,  dann  läge  eine  degressive  Abnahme  des  Grenznutzens 
vor;  überschreitet  dieselbe  aber  von  einer  Stufe  zur  andern  das  durch  die 
umgekehrte  Proportion  der  Einkommen  bezeichnete  Verhältnis,  dann 
sprechen  wir  von  einer  Progression  der  Abnahme  des  Grenznutzens. 
Dass  hier  ein  anderer  Sinn  des  Fragepunktes  vorliegt,  als  wenn  lediglich 
das  Verhältnis  der  Grenznutzen  der  verschiedenen  Einkommensstufen  zu 
einander  in's  Auge  gefasst  wird,  zeigt  sich  in  folgendem.  Sehen  wir  uns 
in  vorstehendem  Schema  das  Verhältnis  der  aufeinanderfolgenden  Grenz- 
nutzenzahlen an,  so  finden  wir,  dass  die  Differenzen  zwischen  denselben 
immer  geringer  werden:  100—50  =  50,  50~33V3  =  I6-/3,  33^ 3— 25  =  8V3, 
25 — 20  :=:  5  u.  s.  w.,  was  auch  mathematisch  selbstverständlich  ist.  Unge- 
achtet der  fortschreitenden  Abnahme  der  Differenzen  dieser  Verhältniszahlen 
des  Grenznutzens  nennen  wir  dieses  Abnahmeverhältnis  ein  proportionales: 
eben  ein  proportionales  zur  Grösse  des  Einkommens.  Das  Verhältnis  der 
Grenznutzenzahlen  unter  einander  ist  ein  degressives.  Das  ist  aber  wieder 
wohl  zu  unterscheiden  davon,  ob  dasjenige  Maass  der  Abnahme  des  Grenz- 
nutzens im  Verhältnis  zur  Zunahme  des  Einkommens,  welches  ein  progressives 
genannt  wurde,  sich  im  Fortschreiten  von  einer  Einkommensstufe  zur 
andern  derart  gestaltet,  dass  eine  abnehmende,  gleichmässige  oder  gar  vor- 
schreitende Progression  zutage  tritt.  Es  kann  diesfalls  eine  degressive 
Progression  zu  verzeichnen  sein,  die  eben  wohl  zu  unterscheiden  wäre  von 
einer  Degression  des  fraglichen  Verhältnisses  in  dem  Sinne,  welchen  wir 
im  Auge  haben,  oder  gar  einer  Degression  lediglich  der  Verhältniszahlen 
des  Grenznutzens  unter  einander. 

Es  steht  mithin  zur  Frage:  Was  lässt  sich  über  die  Höhe  des  Grenz- 
nutzens im  Verhältnis  zur  Grösse  des  Einkommens  feststellen  ?  Offenbar  ist 
dies  ein  Punkt,  der  auch  für  andere  Gebiete  der  Volkswirtschaft  von  Wich- 
tigkeit sein  muss. 

Vorerst  leuchtet  ein,  dass  die  umgekehrte  Proportionalität  des  Grenz- 
nutzens und  der  Einkommensziffer  das  einfachste  Verhältnis  wäre,  indem 
es  sowohl  die  Eichtung  als  das  Maass  der  bezüglichen  Veränderung  in 
Einem  bezeichnet.  Diese  Einfachheit  ist  geradezu  verführerisch  zu  nennen 
und  es  würde  wahrlich  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  ob  derselben  ein  öko- 
nomisches Gesetz  dieses  Inhaltes  kurzweg  postuliert  würde.  Geradezu  merk- 
würdig aber  ist  Folgendes.  Daniel  Bernoulli,  welcher  in  einem  an  die 
Petersburger  Akademie  im  Jahre  1730/31  erstatteten,  der  Auffindung  eines 
mathematisch  bestimmbaren  Maasses  der  Zinshöhe  gewidmeten  Memoire  die 
Grenznutzen-  resp.  Werttheorie  der  heutigen  exacten  Wirtschaftslehre  vor- 
ahnte, stellt  schon  eine  mathematische  Formel  für  die  Wertgrösse  auf. 
welche  eben  jenes  Verhältnis  zum  Ausdruck  bringt.  Es  sei  im  höchsten 
Grade  wahrscheinlich,  dass  unter  den  Umständen  des  gewöhnlichen  Wirt- 
schaftslebens der  Wert  einer  zu  der  vorhandenen  Gütermenge  hinzukom- 
menden Gutseinheit  umgekehrt  proportional  ist  der  Gütermenge.  Freilicli 
fasst  der  Mathematiker  diese  Einheit  als  einen  unendlich  kleinen  Theil  auf, 


78  Sax. 

aber  ein  sofort  nachfolgendes  erläuterndes  Beispiel  zeigt,  dass  der  Satz  ihm 
auch  für  die  endliche  Einheit  giltig  bleibt.  Wenn  des  Einen  Einkommen 
5000  Ducaten  ist,  das  eines  Andern  5000  ^/g-Ducaten,  so  sei  klar,  dass  in 
jeder  Hinsicht  dem  Ersten  ein  Ducaten  dasselbe  bedeutet,  was  für  den 
Zweiten  ein  halber  Ducaten  und,  wenn  Beide  den  Grewinn  eines  Ducaten 
machen,  der  Zweite  den  doppelten  Nutzen  erlangt.  Der  Nutzen  und  somit 
Wert  der  Einheit  (1  Ducaten)  ist  eben  nach  der  Meinung  des  Autors  um- 
gekehrt proportional  dem  gesammten  Grüterbestande.  ^) 

Man  sieht:  Dei*  Satz  enthält  dasselbe,  was  oben  in  dem  Schema  dar- 
gestellt wurde.    Ist  derselbe  aber  auch  wahr?  — 

So  sehr  der  Satz  wie  von  selbst  einleuchtend  erscheinen  mag ;  wie 
sehr  es  für  denselben  sprechen  mag,  dass  dem  Ersten,  welcher  überhaupt 
den  Begriff  des  Grenznutzens  erfasst,  sofort  auch  dieses  quantitative  Gesetz 
seiner  Grösse  intuitiv  in  die  Augen  springt :  zur  wissenschaftlichen  Fun- 
dierung ist  dies  nicht  genügend.  Es  schliesst  den  Beweis  einer  anderen 
Gestaltung  nicht  aus  und  wenn  daher  der  Beweis  erbracht  würde,  dass  die 
Abnahme  der  Intensität  der  Bedürfnisse  in  ihrer  ökonomischen  Eeihe  in 
einem  anderen  Verhältnisse  erfolgt,  als  in  welchem  die  zur  Befriedigung 
nothwendigen  Gütersummen  anwachsen,  so  wäre  der  Satz  insoweit  jeden- 
falls hinfällig.  Da  er  aber  zweifellos  die  Eichtung  der  Veränderung  des 
Grenznutzens  richtig  bezeichnet  und  bezüglich  des  Maasses  der  Abnahme 
eine  einfache  Formel  darstellt,  die  sofort  unleugbar  den  Eindruck  der  Wahr- 
scheinlichkeit macht,  so  kann  man  ihn  provisorisch  aufstellen,  um  durch 
den  Vergleich  mit  ihm  zu  untersuchen,  was  sich  hinsichtlich  der  wirklichen 
Abnahme  des  Grenznutzens  gegenüber  zunehmenden  Einkommen   etwa  Ab- 


^)  Das  Memoire,  „Specimen  theoriae  novae  de  mensura  sortis",  ist  enthalten  in  den 
Commentarii  acad.  scient.  imp.  Petropolitanae.  Tomus  V  ad  annos  1730  et  1731,  gedruckt 
1738.  P.  175  ff.  Die  charakteristischen  Stellen  mögen  hier  Platz  finden,  §  3.  „Valor  non 
est  aestimandus  ex  pretio  rei,  sed  ex  emolumento  quod  unusquisque  inde  capessit. 
Pretinm  ex  re  ipsa  aestimatur  omnibusque  idem  est,  emolumentum  ex  conditione  per- 
sonae.  Ita  procul  dubio  pauperis  magis  refert  lucrum  facere  mille  ducatorum  quam  divitis, 
etsi  pretium  utrique  idem  sit."  §  5.  Man  könne  kein  Maass  des  Zinses  auffinden,  wenn 
man  nicht  den  Nutzen  (emolumentum)  zugrunde  legt,  welcher  Jemand  aus  dem  Gewinne 
zukommt.  Der  sei  aber  subjeetiv  verschieden,  .  .  .  Von  Ausnahmsfällen  müsse  diesfalls 
abgesehen  werden.  Die  Regel  allein  sei  in  Betracht  zu  ziehen  und  zu  diesem  Behufe 
werde  angenommen,  dass  die  Güter  eines  Menschen  successive  um  unendlich  kleine 
Theilchen  sich  mehren  .  .  .  „Ita  valde  probabile  est,  lucrulum  quodris  semper 
emolumentum  afferre  summae  bonorum  reciproce  proportionale."  In  §6 
eingangs  wiederholt:  „Nisi  quid  insoliti  interveniat,  aestimari  posse  emolumentum  lucri 
valde  parvi  summae  bonorum  reciproce  proportionale,  Equidem  cum  recte  considero,  qua 
natura  homines  comparati  esse  soleant,  video  hanc  positionem  plerique  applicari  posse." 
Es  folgt  dann  das  obcitierte  Beispiel,  Die  Anwendung  der  vorstehenden  Sätze  auf  das 
eigentliche  Thema  der  Abhandlung  interessiert  uns  hier  nicht,  wohl  aber  sicherlich  der 
Umstand,  dass  diese  Ausführung,  in  den  mathematischen  Formen  der  aus  Abscisse  und 
Ordinate  construierten  Curve  mit  der  entsprechenden  Gleichung  auftretend,  das  erste 
Beispiel  einer  Anwendung  der  Mathematik  auf  ein  ^volkswirtschaftliches  Problem  zeigt 
—  zu  einer  Zeit,  in  welcher  es  eine  systematische  Theorie  der  Oekonomie  noch  gar 
nicht  gab! 


Die  Progressivsteuer.  79 

weichendes  eruieren  lässt.  So  bin  ich  in  meiner  Grundlegung  ^)  vor- 
gegangen. 

Auch  Cohen  Stuart  geht  von  der  nämlichen  Annahme  des  ein- 
fachsten Gesetzes  der  Abnahme  des  Grenznutzens  aus,  jedoch  nicht,  um 
dieselbe  als  Vergleichsmaasstab  zur  Bestimmung  des  wirklichen  Abnahme- 
verhältnisses zu  benützen,  sondern  um  —  weil  er  es  in  vorhinein  als 
unmöglich  erkennt,  ein  ziffermässig  zu  bestimmendes  solches  Verhältnis  zu 
eruieren  —  die  jener  Supposition  entsprechende  Steuerprogression  zu  be- 
rechnen und  sodann  die  so  gewonnene  Progression  mittels  eines  eigen- 
thümlichen  Verfahrens  auf  ihre  Plausibilität  und  mögliche  Annäherung  an 
die  Wirklichkeit  zu  prüfen.  Wäre  dieses  Vorgehen  zielführend,  so  wäre  die 
ganze  Schwierigkeit  umgangen  und  es  erschiene  die  Frage  des  Maasses  der 
Progression  auf  mathematischem  Wege  in  einer  für  die  Praxis  des  Steuer- 
wesens ausreichenden  Weise  gelöst.  Die  betreffenden  progressiven  Steuersätze 
wären  Näherungswerte,  welche  für  die  Steuergesetzgebung  hinreichenden 
Anhalt  böten.  Das  bezügliche  Verfahren  verdient  daher  die  vollste  Würdigung. 

Der  genannte  Autor  entwickelt  auf  Grund  der  gedachten  Annahme 
mathematisch  die  Formel  für  die  betreffende  Progression  und  bemerkt  (was 
übrigens  auch  in  einem  späteren  Abschnitte  dieser  Darlegungen  in  einem 
anderen  Zusammenhange  nochmals  wiederkehren  wird),  dass  eine  proportio- 
nale Steuer  die  Folge  wäre,  wenn  nicht  das  Existenzminimum  vorweg  in 
Abschlag  gebracht  wird.^)  Unter  Annahme  einer  solchen  Vorabzugspost  von 
250  fl.  und  von  500  fl.  ergeben  sich  beispielsweise  nachstehende  Steuersätze: 


ein  Einkorn 

men  von 

Bei  Verhältnis  von  1  Perc. 

zwischen    Grenz-    und    Gre- 

sammtuutzen  und  250  fl. 

Vorabzug 

Bei  Verhältnis  von  2  Perc. 

zwischen   Grenz-    und    Ge- 

sammtnutzen  und  500  fl. 

Vorabzug 

500  fl. 

0-69 

0-00 

1.000 

n 

1-38 

1-38 

2.000 

V 

2-06 

2-73 

5.000 

n 

2-95 

4-50 

10.000 

n 

3-62 

5-82 

20.000 

n 

4-29 

7-11 

50.000 

n 

5-16 

8-80 

100.000 

n 

5-82 

10-05 

500.000 

V 

7-32 

12-90 

1,000.000 

n 

7-96 

14-10 

Nun  zieht  der  Autor  zwei  weitere  Suppositionen  über  das  Verhältnis 
der  Abnahme  des  Grenznutzens  herbei.  Die  eine  davon  nimmt  an,  dass  diese 
Abnahme  eine  weitaus  stärkere,  die  andere,  dass  sie  eine  wesentlich 
schwächere  sei,  und  zwar  dermaassen  stärker,  respective  schwächer  als  das 
zuerst  angenommene  Verhältnis,  dass  das  wirkliche  Verhältnis  der  Ab- 
nahme aller  Wahrscheinlichkeit  nach  zwischen  diese  beiden  Extreme 
fallen  muss. 


0  Siehe  „Grundlegung"  S.  259  und  508  if. 

2)  Dies  ist  der  im  früheren  erwähnte  Fall,  dass  eine  degressive  Abnahme  der 
Grenznutzen-Verhältniszahlen  unter  sich  die  Proportionalsteuer  und  bei  Abzug  des 
Existenzminimums  eine  abnehmende  Steuerprogression  ergibt. 


80 


bax. 


Die  stärkere  Abnahme  des  ersten  Falles  erfolge  derart,  dass  (immer 
nach  Abzug  des  Existenzminimums)  bis  zu  einem  Einkommen  von  20.000  fl. 
der  Grenznutzen  umgekehrt  proportional  sei  der  Cubikwurzel  aus  der  vierten 
Potenz  des  Einkommensbetrages;  die  schwächere  Abnahme  des  zweiten 
Falles  sei  gegeben  damit,  dass  wieder  bis  zum  Einkommen  von  20.000  fl.  der 
Grenznutzen  umgekehrt  proportional  sei  der  Cubikwurzel  aus  der  zweiten 
Potenz  des  Einkommensbetrages.  Erst  bei  Einkommen  über  20.000  fl.  trete 
wieder  die  umgekehrte  Proportionalität  zum  Einkommen  hervor. 

Was  diese  Unterstellung  zu  bedeuten  hat,  illustrieren  folgende  Zahlen: 


Einkommen 


Es  würden  das  gleiche  Opfer  bedeuten 


im  Falle  der 
stärkeren  Ab- 
nahme des 
Grenznutzens 


im  Falle  umge- 
kehrter Propor- 
tionalität von 
Einkommen 

und 
Grenznutzen 


im  Falle  der 
schwächeren 
Abnahme  des 
Grenznutzens 


500  fl. 

1.000  „ 

2.000  „ 

5.000  „ 

10.000  „ 

20.000  „ 

50.000  „ 

100.000  „ 

500.000  „ 

1,000.000  „ 


10  fl. 

25  „ 

64  „ 

220  „ 

555  „ 

1.400  „ 

3.500  „ 

7.000  „ 

35.000  „ 

70.0U0  „ 


10  fl. 

20  „ 

40  „ 

100  „ 

200  „ 

400  „ 

1.000  „ 

2.000  „ 

1«'.000  „ 

20.000  „ 


10  fl. 

16  . 

25  „ 

46  „ 

74  „ 

117  „ 

293  „ 

585  „ 

2.925  ^ 

5.850  „ 


Der  Abstand  zwischen  den  beiden  extremen  Annahmen  unter  sich  und 
gegenüber  der  ursprünglichen  Annahme  ist,  wie  Figura  zeigt,  sehr  be- 
deutend und  wird  bei  den  hohen  Einkommen  geradezu  enorm. 

Nun,  welche  Progressionen  gehen  aus  den  beiden  variirenden  Annahmen 
hervor  und  wie  verhalten  sich  dieselben  zu  der  früher  gewonnenen  Progression? 


Hierüber  gibt  folgende  Zusammenstellung  Auskunft. 


Einkommen 


Progressio»  auf  Grund 

der  stärkeren  Ahnahme 

des  Grenznutzens 


500  fl.  00-00 

1.000  „  1-04 

2.000  „  2-30, 

5-000  „  4-50 

10.000  „  6-57 

20.000  „  9-11 

50.000  „  10-33 

100.000  „  11-19 

500.000  „  13-08 

1,000.000  „  13-88 

Ein  überraschendes  Resultat! 


Progression  auf  Grund 
der    schwächeren    Ab- 
nahme des  Grenznutzens 

00-00 

1-75 

3-13 

4-50 

5-29 

5-92 

8-27 
10-OC 
14-09 
15-76 


Frühere  Progression  nach 

der  ersten  Annahme 

(wie  oben) 

00-00 

1-38 

2-73 

4-50 

5-82 

7-11 

8-80 
10-05 
12-90 
14-10 

So  abweichend  die  Prämissen  waren,  so 


wenig  diff'erieren  die  Ergebnisse.^)  Eine  sehr  starke  und  eine  schwache  Ab- 


*)  Eigentlich  ist  das  Ergebnis  wieder  kein  überraschendes,  wenn  man  die  Ver- 
änderung der  Divisoren  und  Dividenden,  wie  im  früheren,  im  Auge  behält. 


Die  Progressivsteuer.  81 

nähme  des  Grenznutzens  führen  zu  Steuerprogressionen,  die  sich  von  jener 
nur  wenig  unterscheiden,  die  aus  der  zuerst  gemachten  Annahme  hervor- 
gieng.  Inmitten  jener  beiden  liegend,  zeigt  letztere  nach  beiden  Seiten  hin 
nur  geringe  Abweichungen. 

Und  nun  ist  es  wohl  hinlänglich  klar,  was  Cohen  Stuart  beab- 
sichtigt. Ohne  den  subtilen  Betrachtungen  nachzugehen,  welche  er  über  die 
resultierenden  Ergebnisse  anstellt,  glauben  wir  seinen  Gedankengang  genug- 
sam beschrieben,  wenn  wir  die  Conclusion,  in  die  er  ausläuft,  bezeichnen. 
Da  man  von  so  weit  differierenden  Voraussetzungen  aus  Progressionen  erhält, 
die  nahezu  übereinstimmen,  so  muss  das  Ergebnis  sich  der  Wirklichkeit 
annähern.  Wenn  sowohl  das  zuerst  zugrunde  gelegte,  einfachste  Gesetz  der 
Abnahme  des  Grenznutzens  bei  zunehmendem  Einkommen  als  auch  eine 
nach  entgegengesetzten  Eichtungen  hin  wesentlich  differierende  Annahme 
so  ziemlich  die  gleichen  Progressionen  ergeben,  so  wird  die  Praxis  nicht 
fehlgehen,  wenn  sie  eine  Steuerprogression  eintreten  lässt,  die  sich  an  die 
berechneten  anschliesst.  Dies  ist  eine  Progression,  welche,  solange  man 
nicht  in  sehr  hohe  Percentsätze  kommt,  durch  die  Eegel  ausgedrückt  wird: 
Arithmetische  Steigerung  der  Steuersätze  bei  geometrischer  der 
Einkommen!  Eine  hievon  nicht  belangreich  abweichende  Progression  sei 
also  die  richtige.^) 

Man  wird  nicht  umhin  können,  mir  zuzustimmen,  wenn  ich  dieses 
eigenthümliche  Verfahren  ein  interessantes  nannte  und  bemerkte,  dass,  wenn 
dasselbe  die  Prüfung  besteht,  seine  Ergebnisse  für  Theorie  und  Praxis  von 
grosser  Wichtigkeit  seien.  Vorbei  wäre  da  mit  einem  Male  alle  Noth  der 
Gesetzgeber  und  Theoretiker  von  wegen  der  Frage  der  Steuerprogression. 
Die  Mathematik  hätte  die  Frage  gelöst;  zwar  nicht  mit  solcher  Präcision, 
wie  sie  sonst  mathematischen  Lösungen  eigen  ist,  aber  doch  mit  an- 
nähernder Genauigkeit,  die  für  die  Praxis  ausreicht. 

Indes:  ist  die  Braut  nicht  zu  schön?  Wir  sind  genöthigt,  darüber  eine 
recht  rücksichtslose  Untersuchung  anzustellen. 

Die  Deduction  des  geschilderten  Verfahrens  beruht,  wie  man  sah,  auf 
drei  einander  entgegengestellten  Annahmen.  Die  zuerst  aufgeführte  wurde 
als  das  einfachste  Verhältnis  zwischen  der  Grösse  des  Grenznutzens  und 
der  des  Einkommens  bezeichnet,  aber  unser  Autor  ist  der  Meinung,  dass 
dies  eine  blosse  Supposition  sei.  Die  zwei  anderen  Aufstellungen  über  die 
Abnahme  des  Grenznutzens  wurden  lediglich  nach  dem  Gesichtspunkte  ge- 
macht, Contraste,  starke  Abweichungen  darzustellen,  aber  dass  auch  sie 
eben  wieder  nur  Suppositionen  sind,  wird  ausdrücklich  hervorgehoben. 
Irgend  ein  Beweis,  und  sei  es  auch  nur  ein  Wahrscheinlichkeitsbeweis,  für 
die  Wahrheit  einer  dieser  Aufstellungen  wird  nicht  erbracht,  ja  verständiger- 
weise   nicht    einmal   versucht;    liegt    es   doch    gerade  im  Sinne  des  ganzen 


1)  Es  ist  das  eine  Progression,  die  unter  den  holländischen  Autoren  T  r  e  u  b ,  in 
Deutschland  schon  vor  60  Jahren  J.  Schön  postuliert  hatte;  Letzterer  allerdings  für 
den  Fall,  dass  man  nicht  weitergehend  bezwecke,  durch  die  Progressivsteuer  die  Ver- 
mögensungleichheiten  der  Bürger  zu  vermindern. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  I.  Heft.  6 


82  ^ax. 

Eaisonnements,  den  Mangel  eines  solchen  Beweises  zu  supplieren.  Ungeachtet 
dieses  Mangels  wird  das  Ergebnis  der  Rechnung,  welches  aus  so  be- 
schaffenen Prämissen  hervorgeht,  als  wahr  angesehen,  und  zwar  einzig  und 
allein  deshalb,  weil  die  ziffermässigen  Resultate  nicht  weit  von  einander 
abweichen.  Das  ist  methodologisch  offenbar  höchst  bedenklich;  nein:  mehr, 
es  ist  einfach  unzulässig.  Conclusionen  dreier  Syllogismen,  welche  aus 
Prämissen  folgen,  deren  Wahrheit  nicht  erwiesen  ist,  erlangen  dadurch 
nicht  den  Charakter  wissenschaftlicher  Wahrheit,  dass  sie  von  einander  nicht 
erheblich  abweichen.  Sie  würden  nicht  einmal  erwiesen  sein,  wenn  sie 
genau  übereinstimmten,  also  keine  Abweichungen  aufwiesen!  Im  vor- 
liegenden Palle  sind  aber  sogar  Abweichungen  vorhanden,  nur  dass  sie 
relativ  nicht  sehr  bedeutend  erscheinen.  Aus  unerwiesenen  Prämissen  folgt 
in  alle  Ewigkeit  nie  ein  als  erwiesen  anzusehender  Schluss;  aus  blossen 
Annahmen  nie  eine  Wirklichkeit.  Dem  Verfahren  des  Verfassers  muss  also 
schon  aus  diesem  Grunde  jedwede  Bedeutung  hinsichtlich  seiner  Ergebnisse 
abgesprochen  werden.  Wenn  ein  sogeartetes  methodologisches  Vorgehen  in 
der  Wissenschaft  der  Volkswirtschaft  erst  einmal  breiteren  Boden  gewänne, 
könnten  wir  ja  Wunderdinge  erleben. 

Es  ist  der  dem  Verfahren  zugrunde  liegende  Gedanke  aber  auch  nicht 
etwa  dadurch  zu  rechtfertigen,  dass  die  beiden  extremen  Annahmen  als 
solche  eine  sehr  grosse  Anzahl  von  Varianten  in  sich  schliessen,  so  dass 
die  Schlussergebnisse  sozusagen  statistische  Geltung  erlangten.  Ausser  den 
beiden  zuletzt  in  Rechnung  gestellten  Annahmen  sind  noch  eine  Unzahl 
anderer  Möglichkeiten  offen,  darunter  noch  beliebig  extremere,  und  würde 
man  nach  solchen  die  Rechnung  machen,  so  müssten  ganz  andere  Resultate 
zum  Vorschein  kommen.  Warum  soll  denn  ferner  gerade  bei  20.000  fl.  das 
Verhältnis  des  Grenznutzens  umschlagen?  Bei  wie  vielen  anderen  Einkommens- 
grössen  könnte  man  dasselbe  annehmen !  Und  jene  in  so  schöne  mathematische 
Formeln  gekleideten  Veränderungen:  wie  viele  anders  gestaltete  Formeln 
Hessen  sich  als  Annahmen  ersinnen!  Kurz,  auch  nach  dieser  Richtung:  als 
angebliches  Ergebnis  massenhafter  Prämissen- Varianten,  ist  das  Resultat  des 
Calculs  nicht  stichhältig. 

Aber  selbst  wenn  es  in  diesem  Betrachte  unanfechtbar  erschiene ,  so 
wäre  es  für  das  Problem  des  Maasses  der  Progressivsteuer  bedeutungslos, 
da,  wie  wi-r  bereits  im  früheren  erkannten,  die  ganze  Basis  des  Calculs 
unhaltbar  ist  und  die  Einwände,  welche  gegen  die  der  Berechnung  zugrunde 
liegende  Opfertheorie  erhoben  wurden,  natürlich  hier  ebenfalls  wieder  in 
Geltung  treten.  Wenn  der  Calcul  schon  für  die  Frage  der  Progression  an 
sich  nichts  zu  beweisen  vermag,  wie  erst  hinsichtlich  des  Maasses  der 
Progression!  Dabei  brauchen  wir  auf  den  Umstand  erst  kein  Gewicht  zu 
legen,  wie  willkürlich  die  sub  titulo  Existenzminimum  als  Abzugspost  ein- 
gesetzten Summen  sind  und  dass  sich  das  Ergebnis  der  Rechnung  natürlich 
wieder  ändert,  wenn  man  andere  Summen  vorweg  vom  Einkommen  abzieht. 

Das  Facit  der  kritischen  Prüfung  ist:  das  mitgetheilte  Verfahren  erweist 
sich  als  wissenschaftlich  gänzlich  unbrauchbar.  Die  darauf  gewendete  Mühe 


Die  Progressivsteuer.  83 

ist  verloren.  Was  auf  den  ersten  Anblick  als  gleissende  Frucht  erschien,  ist 
eine  taube  Nuss.  Auf  diese  Art  ist  die  Frage  der  Progressivsteuer  nicht 
zu  lösen. 

Wie  lässt  es  sich  aber  doch  nur  erklären,  dass  ein  mathematischer 
Kopf  dermaassen  mit  der  wissenschaftlichen  Logik  in  Widerspruch  gerathen 
konnte?  Von  autoritativer  Seite  war  der  Ausspruch  gethan  worden,  die 
Progressivsteuer  involviere  ein  mathematisches  Problem^),  auf  Grund  der  im 
froheren  dargelegten  Opfertheorie  zu  lösen.  Die  angestellten  mathematischen 
Untersuchungen  hatten  indes  ergeben,  dass  eine  beliebige  Annahme 
hinsichtlich  des  Abfalles  des  G-renznutzens  bei  steigendem  Einkommen  nicht 
einmal  das  Princip  der  Progression  bedinge.  Wenn  es  sich  nun  gar  um  das 
Maass  der  Progression  handelt,  so  muss  man  umsomehr  von  einem  bestimmten 
Verhältnisse  dieser  Abnahme  des  Grenznutzens  auszugehen  in  der  Lage  sein. 
Da  aber  ein  solches  nicht  zu  erweisen  ist,  so  blieb,  wenn  das  Problem  seine 
mathematische  Lösung  finden  sollte,  eben  nichts  übrig,  als  verschiedene 
ziffermässige  Annahmen  zu  machen  und  dann  zuzusehen,  ob  das  Kesultat 
vielleicht  Einem  irgendwie  befriedigend  vorkommt. 

Nun,  wir  haben  gesehen,  die  Frage  ist  mittels  jener  Opfertheorie 
überhaupt  nicht  zu  beantworten;  auch  die  Mathematik  muss  auf  der  Grundlage, 
welche  letztere  bietet,  an  solcher  Aufgabe  scheitern.  Die  Lösung  muss  die 
Wirtschaftstheorie  an  sich  zu  finden  imstande  sein.  Jedenfalls  aber,  mag 
dieselbe  mit  was  immer  für  einer  anderen  Theorie  als  der  vorbesprochenen 
versucht  werden,  darf  sie  sich  auf  blosse  Annahmen  hinsichtlich  des  in 
Eede  stehenden  Fragepunktes  nicht  stützen. 

So  gelangen  wir  wieder  dahin  zurück,  zu  fragen:  was  lässt  sich  denn 
über  das  Maass  der  Abnahme  des  Grenznutzens  im  Verhältnis  zum 
steigenden  Güterbestande  eigentlich  aussagen?  — 

„Höhe  des  Grenznutzens "  bedeutet  nichts  anderes  als  die  Thatsache,  dass 
das  von  der  ins  Auge  gefassten  Gutseinheit  bezüglich  der  Befriedigung 
abhängige  Bedürfnis  von  gewisser  Stärke  ist.  „Abnahme  des  Grenznutzens " 
bezeichnet  die  Thatsache,  dass  mit  steigender  Gütermenge  die  jeweils  letzt- 
befriedbaren  Bedürfnisse  immer  schwächer  sein  müssen.  Das  Bedürfnis  ist 
ein  Gefühl.  Die  Stärke  (Intensität)  eines  Gefühles  kann  man  nicht  von  aussen 
messen,  nur  im  Innern  ermisst  der  Mensch  die  Stärke  seiner  Gefühle.  Aber 
er  kann  nur  aussagen,  das  eine  concrete  Gefühl  sei  stärker  als  ein  anderes: 
wie  stark  es  an  sich  ist,  kann  er  nicht  ausdrücken.  Ebensowenig  ist  er 
imstande,  genau  mitzutheilen,  um  wie  viel  stärker  das  eine  Gefühl  sei  als 
das  andere,  höchstens,  ob  es  um  vieles  oder  um  weniges,  in  grossem  oder 
kleinem  Maasse  stärker  sei,  vermag  er  auszusagen.  Dasselbe  gilt  bezüglich 
des  von  dem  in  Frage  stehenden  Bedürfnisse  abgeleiteten  Wertgefühles. 
Nur  an  den  Wirkungen,  welche  diese  ökonomischen  Gefühle  nach  sich 
ziehen,  d.  i.  an  den  betreffenden  wirtschaftlichen  Handlungen  der  Menschen, 
kann  man  das  Verhältnis  ihrer  Stärke  abmessen. 


1)  Pierson  in  „de  Gids",  1888,  S.  304. 


84  ^ax. 

Eine  theoretische  Feststellung  hierüber  kann  daher  in  keinem  anderen 
Sinne  erfolgen,  als  dass  auf  Grund  der  Uebereinstimmung  der  Menschen 
hinsichtlich  ihrer  Gefühle  und  von  Beobachtungen  über  die  in  den  Wirt- 
schaftshandlungen zutage  tretenden  Effecte  der  bezüglichen  Gefühle  eine 
allgemeine  Aussage  über  das  Maass  der  Intensität  gewisser  umfassender 
Gruppen  von  Bedürfnissen  gemacht  wird;  eine  Aussage,  deren  Controle  und 
Verificierung  eben  nur  durch  Selbstbeobachtung  von  Seite  jedes  Einzelnen 
und  daraufhin  geäusserte  allgemeine  Zustimmung  möglich  ist.  Eine  solche 
theoretische  Aufstellung  habe  ich  in  der  „Grundlegung"  versucht,  von  der 
Meinung  geleitet,  dass  die  Uebereinstimmung  der  Menschen  hinsichtlich 
ihrer  Bedürfnisgefühle  mindestens  für  die  wichtigsten,  wohl  unterscheidbaren 
Gruppen  derselben  die  Behauptung  gestatte,  dass  die  Differenz  ihrer  durch- 
schnittlichen Intensität  eine  grössere  oder  geringere  sei  als  diejenige, 
welche  nach  der  umgekehrten  Proportionalität  zum  Güterbestande  resultieren 
würde.  Die  diesbezüglichen  Ausführungen  haben  einen  wesentlichen  Wider- 
spruch bisher  nicht  erfahren  und  ich  kann  mich  für  den  vorliegenden  Zweck 
daher  wohl  darauf  beschränken,  hier  lediglich  in  Kürze  auf  selbe  zu 
verweisen. 

Die  stärksten  Bedürfnisse  sind  die  des  physischen  Existenzminimums 
im  strengsten  Sinne  des  Wortes.  Ihre  Intensität  ist  eine  so  hohe,  dass  sie 
gegenüber  anderen  Bedürfnissen  sozusagen  unvergleichbar  erscheint.  Will 
man  nicht  zugeben,  dass  sie  in  einem  mathematischen  Verhältnisse  als 
unendlich  bezeichnet  werden  müsste,  so  käme  doch  immer  eine  ausser- 
ordentlich hohe  Verhältniszahl  für  sie  einzusetzen,  so  dass,  wenn  z.  B.  mit 
200  fl.  dieses  Existenzminimum  gedeckt  wäre  und  weitere  200  fl.  für  die 
nächstfolgende  Bedürfnisgruppe,  nämlich  die  des  „culturellen"  Existenz- 
minimums, bedurft  würden,  das  Verhältnis  der  Stärke  der  ersten  und  der 
zweiten  Bedürfnisse  nicht  durch  2:1,  wie  dies  bei  umgekehrter  Propor- 
tionalität zum  Einkommen  der  Fall  wäre,  sondern  exempli  gratia  durch 
1000:1  auszudrücken  wäre. 

Aehnlich,  wenngleich  in  geringerem  Grade,  gestaltet  sich  der  Intensitäts- 
abfall zwischen  der  erwähnten  zweiten  und  der  nächsten  Bedürfnisgruppe, 
welche  die  Bedürfnisse  der  classenmässigen  Lebenshaltung  umfasst.  Die 
Bedürfnisse  des  culturellen  oder  allgemeinen  socialen  Existenzminimums 
sind  an  sich  gewiss  noch  ausserordentlich  stark,  die  des  besonderen  socialen 
Existenzminimums,  die  Classen-Bedürfnisse,  schon  minder  intensiv,  jedenfalls 
in  grösserem  Verhältnisse  minder  stark  als  das  umgekehrte  Verhältnis  der 
respectiven  Gütermengen  anzeigen  würde.  Insbesondere  gilt  dies  bezüglich 
des  Hauptstockes  der  Bevölkerung:  des  Mittelstandes,  dessen  classenmässiges 
Minimaleinkoramen  nicht  weiter  reicht,  als  um  wichtige  Bedürfnisse  socialer 
Nothwendigkeit  (des  Anstandes,  entsprechender  Erziehung  der  Kinder  etc.) 
und  einzelne  Bedürfnisse  blossen  Genusses  zu  befriedigen,  welch'  letztere  aber 
vermöge  der  Seltenheit  ihrer  Befriedbarkeit  noch  hohen  Intensitätsgrad  auf- 
weisen. Wenn  die  ersten  400  fl.  eines  Einkommens  bis  zur  Deckung  der 
letzten    Bedürfnisse    der   zweiten    Gruppe    reichen   und    weitere   400  fl.  die 


Die  Progressivsteuer.  35 

Classenbedürfnisse  decken,  so  wäre  nach  der  mehrerwähnten  Annahme  der  um- 
gekehrten Proportionalität  das  Stärkeverhältnis  1 :  Vg.  In  Wirklichkeit,  wird 
wohl  niemand  leugnen,  ist  der  Intensitätsgrad  der  letzteren  Bedürfnisse 
relativ  ein  weit  geringerer.  Absolut  ist  derselbe  noch  immer  ein  sehr  hoher 
und  sicherlich  wieder  in  weitem  Abstände  von  dem  Stärkegrade  der  nächst- 
folgenden Gruppe.  Als  diese  wäre  wohl  der  Inbegriff  der  individuellen 
Gewohnheitsbedarfe  eines  bescheidenen  Lebensgenusses  aufzuführen,  da  die 
Gewohnheit  das  Verlangen  nach  bestimmten  Befriedigungen  in  hohem 
Maasse  steigert.  Im  Durchschnitte  der  aufsteigenden  Einkommensstufen  sind 
hierin  schon  viele  freie  Bedürfnisse  persönlichen  Genusses  und  blosser 
Annehmlichkeit  mit  inbegriffen.  Hieran  reiht  sich  etwa  die  Gruppe  der 
Bedürfnisse  eines  verfeinerten  Lebensgenusses  oder  höheren  Zwecklebens, 
die  einen  gewissen  Luxus  und  relativ  häufige  und  als  solche  geringere  Lust 
gewährende  individuelle  Genüsse  —  insbesondere  auch  geistiger  Art  — 
einschliessen,  und  an  diese  eine  Anzahl  weiterer  Gruppen  individueller 
freier  Bedürfnisse,  die  bis  zu  minimalen  Intensitätsgraden  herabsinken. 

Bei  solchen  Bedürfnissen  von  absolut  sehr  geringer  Stärke  angelangt, 
lässt  sich  die  Fortdauer  des  bezüglich  der  Bedürfnisgruppen  der  höheren 
und  höchsten  Grade  erkannten  starken  Maasses  der  Intensitätsabnahme  nicht 
länger  behaupten.  Selbst  wenn  sie  stattfindet,  steht  dies  bei  den  nun  un- 
messbar  kleinen  Differenzen  einer  Abnahme  im  umgekehrten  Verhältnisse 
zum  Güterbestande  praktisch  völlig  gleich.  Dies  wollte  ich  in  der  „Grund- 
legung" sagen,  indem  ich  die  Abnahme  der  Bedürfnis  stärke  als  hier  praktisch 
zum  Stillstande  gelangt  bezeichnete.  Jenes  Verhältnis  kann  aber  nur 
zwischen  diesen  letztgedachten  Bedürfnisgruppen  unter  sich,  nicht  auch 
gegenüber  den  Bedürfnissen  höherer  Intensität  gelten,  da  ja  eine  so  starke 
progressive  Abnahme  der  Intensität  inzwischen  liegt! 

Es  wird  auffallen,  dass  in  vorstehender  Ausführung  davon  abgesehen 
wurde,  die  Menge  der  für  jede  der  unterschiedenen  Gruppen  anzusetzenden 
Güter  zu  untersuchen.  Das  ist  aber  offenbar  für  die  Gewinnung  genauerer 
Kesultate  ein  entscheidender  Punkt  und  zwar  derjenige,  wo  die  an  einer  frü- 
heren Stelle  berührte  Beobachtung  einer  mit  Abnahme  der  Intensität  sich 
zeigenden  Zunahme  der  Zahl  der  Bedürfnisse  ihre  Bedeutung  erlangt.  Wenn 
z.  B.  gegenüber  400  fl.,  welche  noch  zur  Deckung  des  culturellen  Existenz- 
minimums zureichen,  die  Classenbedürfnisse  eines  Individuums  überdies 
1200  fl.  beanspruchen,  so  würde  nach  der  Annahme  umgekehrter  Proportio- 
nalität zur  Gütermenge  das  Intensitätsverhältnis  zwischen  diesen  Bedürfnis- 
gruppen schon  1 :  V4  sein.  Das  thatsächliche  Verhältnis  (stärkerer  Abnahme) 
ist  hie  von  vielleicht  nicht  weit  entfernt. 

Und  dies  führt  uns  zu  einer  schärferen  Formulierung  der  obigen  Thesis. 
Gewiss  ist  der  Stärkeunterschied  der  aufgeführten  Bedürfnisgruppen  ein 
äusserst  grosser,  am  allerbedeutendsten  zwischen  der  ersten  und  der  zweiten 
Gruppe,  und  von  da  fortschreitend  geringer.  Wäre  die  für  jede  Bedürfnisgruppe 
benöthigte  Gütermenge  gleich,  so  käme  ein  Sinken  der  Intensität  zum 
Vorschein,   welches  bei  jeder  Stufe  weitaus  stärker  wäre,    als  die  umge- 


86  Sax. 

kehrte  Proportionalität  der  respectiven  Gütermengen  bezeichnet.  Je  grösser 
aber  die  einer  bestimmten  Bedürfnisgruppe  im  Vergleich  mit  den  vorange- 
henden Gruppen  entsprechende  Gütermenge  ist,  desto  mehr  ergibt  schon 
das  letztgedachte  Verhältnis  ein  erhebliches  Sinken  der  Verhältnisziffer  der 
Intensitätsabnahme.  Es  wird  der  thatsächliche  Abfall  aber  wohl  bis  zu  den 
schwächeren  Bedürfnisgruppen  herab  noch  immer  erheblicher  sein  als  nach 
jenem  Verhältnisse.  Die  mit  der  abnehmenden  Intensität  vorschreitende 
Zunahme  der  Zahl  der  Bedürfnisse  jeder  Gruppe  hat  die  Folge,  dass  das 
Verhältnis  der  umgekehrten  Proportionalität  zu  den  Einkommen  sich  immer 
mehr  nähert  dem  thatsächlichen  Verhältnisse  der  Abnahme  der  Bedürfnis- 
intensität, bis  letzteres  schliesslich  in  jenes  umschlägt. 

Insoweit  kann  man  eine  Progression  der  Intensitätsabnahme 
der  Bedürfnisse  in  dem  festgestellten  Sinne  des  Ausdruckes  constatieren. 

Dass  hier  stets  eine  durchschnittliche  Intensität  jeder  Bedürfnisgruppe 
angenommen  wurde,  widerspricht  allerdings  der  Wirklichkeit,  ist  aber  für 
den  praktischen  Zweck,  um  welchen  es  sich  handelt,  ohneweiters  gestattet. 
Von  der  nachgewiesenen  Gestaltung  der  Bedürfnisse  leitet  sich  das  gleiche 
Verhältnis  der  Abnahme  der  individuellen  Wertgrössen  ab.  Dieselbe  erfolgt 
also  in  einer  degressiven  Progression. 

Ob  es  gelingen  wird,  Bestimmteres  über  diese  Erscheinung  theoretisch 
festzustellen,  bleibe  dahingestellt.  Zur  Zeit  müssen  wir  uns  mit  Vorstehendem 
begnügen.  Und  nur  mit  solchem  Materiale  kann  die  Steuertheorie  ihre 
Schlüsse  aufbauen.  Für  die  Opfertheorie  wäre  dasselbe  so  gut  wie  nutzlos, 
da  diese,  wie  wir  sahen,  ein  mathematisch  genau  bestimmbares  Verhältnis 
braucht.  Was  wir  imstande  sind  mit  diesem  Materiale  anzufangen,  wird  der 
folgende  Abschnitt  zeigen. 

111.  Die  ökonomische  Steuerlehre. 

I.   Das  Wesen  den  Steuer  als  Werterscheinung. 

Wie  der  Leser  weiss,  habe  ich  in  meiner  „Grundlegimg  der  theoreti- 
schen Staatswirtschaft"  den  Versuch  gemacht,  die  Erscheinungen  der  Staats- 
wirtschaft und  unter  diesen  die  Steuern  von  einem  Gesichtspunkte  aus  auf 
ihr  Wesen  und  ihre  Gesetzmässigkeit  zu  untersuchen,  der  zwar  von  den 
übrigen  Theorien  völlig  abweichend,  dennoch  aber,  wie  mir  scheint,  der 
natürliche  ist.  Die  diversen  Steuerlehren  traten  bisher  an  das  Phänomen 
stets  mit  einem  Kriterium  heran,  welches  von  aussen  her  geholt  war.  Die 
Einen  —  und  dies  die  Meisten  —  wollen  die  Steuern  geregelt  wissen  nach 
„Gerechtigkeit",  die  Andern  nach  „Billigkeit"  —  man- bemerke,  dass  dies 
etwas  Verschiedenes  ist  —  wieder  Andere  nach  „social-politischen  Gesichts- 
punkten", während  schliesslich  ültrarealisten  lediglich  die  politischen  Macht- 
verhältnisse über  das  Steuerausmaass  entscheiden  lassen.  So  wäre  die  Steuer 
in  irgend  einer  bestimmten  Gestaltung  als  ein  Act  der  justitia  distributiva 
oder  der  Humanität  oder  als  Ausfluss  irgend  welchen  social-politischen 
Ideales  oder  endlich  des  politischen  Compromisses  zu  verstehen!  Bei  allem 


Die  Progressivsteuer.  37 

dem  hat  man  nach  meiner  Meinung  das  Nächstliegende  übersehen,  nämlich 
zu  fragen  :  Ist  denn  die  Steuer  nicht  vor  allem  andern  eine  wirtschaftliche 
Maassregel ?  Und  wenn  sie  dies  ist,  ist  sie  dann  nicht  rein  ökonomisch 
zu  begreifen  ?  Anstatt  die  Antwort  auf  die  Frage  der  Steuerverth eilung  von 
aussen  zu  holen:  ist  sie  mir  nicht  ökonomisch  von  selbst  gegeben? 
Brauche  ich  denn,  um  sie  zu  finden,  nicht  bloss  zu  beobachten,  was  die 
Gesetze,  welche  die  übrigen  ökonomischen  Verhältnisse  der  Menschen  unter 
einander  beherrschen,  auch  für  den  vorliegenden  Fall  lehren? 

Von  diesen  Erwägungen  geleitet,  habe  ich  meine  Steuertheorie  con- 
cipiert,  indem  ich  sie  aus  den  allgemeinen  ökonomischen  Erscheinungen 
und  deren  Zusammenhange  ableitete,  und  ich  glaube  daher  berechtigt  zu 
sein,  dieselbe  den  im  früheren  erörterten  Steuertheorien  gegenüber  als  die 
ökonomische  Steuerdoctrin  zu  bezeichnen.  Die  Steuer  und  ihr 
Ausmaass  erscheint  im  Lichte  dieser  Auffassung  als  ein  Product  des  Zu- 
sammenwirkens zweier  Ursachencomplexe,  welche  auch  bei  anderen  social- 
ökonomischen  Erscheinungen,  wie :  den  Preisen,  den  Antheilen  in  der  Güter- 
vertheilung  etc..  wirksam  werden:  der  Güterwertung  einerseits,  des  (coUectiven) 
Egoismus  und  Altruismus  andererseits.  Indem  die  Erfassung  der  Steuer  als 
Wertphänomen  an  die  elementaren  Erscheinungen  aller  wirtschaftlichen  Thä- 
tigkeit  anknüpft  und  auf  solche  Art  die  Erklärung  der  complicierten  staats- 
wirtschaftlichen Erscheinung  durch  Zurückführung  auf  die  allgemeinen 
ökonomischen  Elemente  gewinnt,  findet  sie  —  immer  unter  Beachtung  der 
gleichzeitig  wirkenden  zweiten  Ursache  —  für  die  Frage,  wie  hoch  sich  die 
Steuer  des  Einen  im  Verhältnisse  zur  Steuer  des  Andern  ökonomischer 
Weise  beläuft,  und  für  die  Frage,  welche  Gütersumme  jeder  Einzelne  an 
sich  als  Steuer  zu  widmen  in  der  Lage  ist,  eine  einheitliche  Lösung,  was 
bei  den  früheren  Steuerlehren  bekanntlich  nicht  der  Fall  war.  Sie  unter- 
scheidet sich  folglich  von  anderen  und  insbesondere  den  Theorien  der 
holländischen  Autoren  dadurch,  dass  sie  nicht,  wie  letztere,  die  Wertgesetze 
bloss  zur  Lösung  der  Frage  über  die  relative  Höhe  der  Steuern  heranzieht, 
nachdem  man  für  diese  von  aussen,  her  eine  allgemeine  Eichtschnur  gezogen, 
sondern  die  Steuerentrichtung  an  sich  schon  als  Werterscheinung  auffasst. 
Während  jene  die  Steuer,  d.  i.  den  Ausgang  bestimmter  Gütermengen  aus 
den  Einzelwirtschaften  behufs  Verwendung  für  Gemeinzwecke,  wie  eine  durch 
eine  äussere  Macht  erfolgende  Güterentziehung  ansehen,  erblicken  wir  in 
der  Steuerzahlung  die  Zuwendung  gewisser  Gütermengen  an  eine  gewisse 
Kategorie  von  Bedürfnissen,  an  Collectivbedürfnisse :  eine  ökonomische 
Handlung,  die  nach  den  allgemeinen  ökonomischen  Gesetzen  unter  dem 
Zeichen  des  Wertes  vor  sich  geht. 

Im  Sinne  dieser  Auffassung  ist  die  Steuer  auch  kein  „  Opfer \  Jene 
Lehren  allerdings  schliessen  den  Gedanken  em,  dass  durch  die  Steuer 
Güter  der  Bedürfnisbefriedigung  der  Individuen  entzogen  werden.  Nach  der 
ökonomischen  Steuerlehre  ist  das  Gegentheil  einzusehen,  denn  die  Collectiv- 
bedürfnisse sind  ja  auch  Bedürfnisse  der  Individuen :  gemeinschaftliche  Be- 
dürfnisse der  vom  coUectivistischen  Verbände   umschlossenen  Wirtschafts- 


88  Sax. 

subjecte.  In  der  Steuer  liegt  gerade  eine  Bedürfnisbefriedigung,  aber  eben 
die  Befriedigung  einer  bestimmten  Kategorie  von  Bedürfnissen.  Dabei  wird 
überdies  der  Fehler  vermieden,  die  Staatsthätigkeit  insgesammt  zur  Basis  der 
Steuer  zu  machen,  wie  dies  andere  Steuerlehren  thun.  Nur  gewissen  Staats- 
thätigkeiten,  nämlich  nur  denjenigen,  welche  reine  Collectivbedürf- 
nisse  ergeben,  entsprechen  die  Steuern,  während  Staatsthätigkeiten  abweichen- 
den Charakters  auch    ein    anderes    Staats  wirtschaftliches  Handeln  bedingen. 

Die  durch  die  Verbandsgewalt  erfolgende  Bestimmung  des  Maasses 
der  Steuer  ist  folglich  nur  dann  eine  richtige,  wenn  sie  dasjenige  anordnet 
und  erzwingt,  was  die  Verbandsmitglieder  von  selbst  vornehmen  würden, 
wenn  sie  in  richtiger  Erkenntnis  der  CoUectivbedürfnisse,  durchdrungen  von 
dem  vollen  Maasse  coUectivistischer  Gesinnung,  wie  solches  die  jeweiligen 
Lebensverhältnisse  bedingen,  mit  vollständiger  Unterdrückung  des  indivi- 
duellen Egoismus  handeln  würden.  Für  die  Finanzgewalt  fragt  es  sich  also : 
was  ist  die  ökonomische  Kichtschnur,  die  der  Einzelne  bei  Eintritt 
vorstehender  Voraussetzungen  einhalten  würde?  Denken  wir  uns  die  Frage 
bezüglich  der  CoUectivbedürfnisse  erstmals  gestellt,  so  finden  wir  den 
Güterwert  bei  gegebenem  Güterbestande  der  Einzelwirtschaften  durch  diesen 
und  die  Individualbedürfnisse  der  .einzelnen  Wirtschaftssubjecte  bestimmt 
und  es  erscheinen  die  CoUectivbedürfnisse  als  neu  hinzutretende  Bedürfnisse. 
Mithin  löst  sich  die  Frage  nach  der  Steuerhöhe  in  die  allgemeine  Frage 
des  wirtschaftlichen  Verhaltens  auf:  welche  Güter  dürfen  neu  hinzutretenden 
Bedürfnissen  ökonomischer  Weise  gewidmet  werden?  Eesp.  welche  Güter 
entfallen  in  der  Wirtschaft  eines  Jeden  nach  der  Anzeige  des  Wertes  auf 
CoUectivbedürfnisse  ? 

Die  CoUectivbedürfnisse  als  zu  den  Individualbedürfnissen  erstmals 
hinzukommend  gedacht,  zieht  die  Befriedigung  der  ersteren,  soweit  sie 
erfolgt,  natürlich  eine  Einschränkung  der  letzteren  nach  sich,  welche  sonst 
wären  befriedigt  worden,  wenn  jene  Bedürfnisse  der  ersteren  Art  nicht 
existent  geworden  wären.  Dieselben  aber  nach  bereits  bestehendem  Aus- 
maasse  als  fortdauernd  wahrgenommen  —  d.  h.  wenu  Jemand  im  vorhinein 
mit  den  ihm  obliegenden  Steuern  rechnet  -  erscheinen  insoweit  selbstver- 
ständlich die  im  erstgedachten  Falle  als  befriedbar  in's  Auge  gefassten 
Individualbedürfnisse  a  priori  als  unbefriedbar.  Der  Endeffect  ist  derselbe 
in  beiden  Fällen.  Für  die  theoretische  Deduction  muss  erklärlicher  Weise 
von  dem  erstgedachten  Falle  ausgegangen  werden. 

Die  oben  präcisierte  Formel  der  Frage  setzt  die  coordinierte  Verbin- 
dung von  Individual-  und  CoUectiv-Bedürfnissen  in  dem  Gesammtstatus  der 
Bedürfnisse  der  Wirtschaftssubjecte  voraus.  Individual-  und  CoUectiv- 
Bedürfnisse  bilden  zusammen  die  Eeihe  der  Bedürfnisse  der  Verbandsglieder 
und  ordnen  sich  in  derselben  nach  Maassgabe  ihrer  Stärke.  Hinsichtlich 
dieser  Prämisse  muss  ich  allerdings  lediglich  auf  meine  mehrerwähnte 
„Grundlegung"  verweisen. 

Für  die  Frage,  was  Jeder  im  Verhältnisse  zu  allen  üebrigen  für 
CoUectivbedürfnisse  ökonomischerweise  aufzuwenden  imstande  ist,  kann  von 


Die  Progressivsteuer.  89 

dem  Unterschiede  der  Stärke  der  verschiedenen  Collectivbedürfnisse  abge- 
sehen werden.  Die  Collectivbedürfnisse  im  allgemeinen  und  als  ein 
Ganzes  treten  zur  Gesammtheit  der  Sonderbedürfnisse  jedes  Einzelnen  hinzu 
und  es  fragt  sich,  was  Jeder  gegenüber  allen  Andern,  also  welches 
relative  Gütermaass  der  Einzelne  der  gedachten  Bedürfnisgruppe  zuwenden 
wird.  Die  Frage  so  gestellt,-  ist  die  Antwort  einfach  im  Hinweise  darauf 
zu  finden,  was  Individuen  mit  verschiedenem  Wertstande  caeteris  paribus 
hinsichtlich  des  Güteraufwandes  für  ein  neu  gegebenes  Bedürfnis  thun 
werden,  um  dessentwillen  sie  Güter  den  letzten  bisher  befriedbaren  Bedürf 
nissen  vorenthalten.  Wir  werden  sie  bereit  sehen,  verschiedene  Güter- 
quanten dem  gedachten  Bedürfnisse  nach  MaassgaBe  der  individuellen 
Werthöhe  der  Güter  zu  widmen,  und  zwar,  wenn  nothwendig,  bis  zur 
vollen  Summe,  welche  dem  Wertstande  entspricht.  Wenn  z.  B.  bei  einer 
Versteigerung  von  Kunstwerken  Personen  in  verschiedener  ökonomischer 
Lage  ein  solches  zu  erwerben  wünschen,  so  sehen  wir  jeden  der  Kauf- 
lustigen bei  gleichem  Werte  des  zu  erwerbenden  Objectes  für  Alle  so 
weit  mitbieten  als  ihm  die  individuelle  Werthöhe  der  hinzugebenden 
Güter  gestattet.  Wer  den  Gulden  nur  halb  so  hoch  schätzt  als  ein  Anderer, 
bietet  in  dem  Falle  bis  zum  Doppelten,  wenn  dies  erforderlich  ist,  um  das 
Gut  zu  erstehen.^)  Nicht  anders  ist  der  Vorgang  rücksichtlich  der  Collectiv- 
bedürfnisse, die  Staatsthätigkeiten  darstellen,  welche  allen  Verbandsgliedern 
gleichmässig,  ununterscheidbar  zugute  kommen.  Jeder  ist  bereit,  hiefür  so 
viel  Güter  in  Gemässheit  seines  Wertstandes  zu  widmen  als  jeder  Andere 
in  Gemässheit  seines  Wertstandes  und  eventuell  bis  zur  Erschöpfung 
der  Gütersumme,  welche  ihm  nach  dem  Wertstande  verfügbar  ist.  Nur 
an  die  selbstverständliche  Voraussetzung  ist  dies  bei  jedem  Einzelnen  ge~ 
knüpft,  dass  jeder  Andere  eben  so  handelt  und  dass  auch  bei  Jedem 
schliesslich  bis  zur  bezeichneten  Grenze  gegangen  werde.  Der  mutualistische 
Gleichgewichtszustand  der  coincidirenden  Interessen  aller  verbundenen 
Individuen  ist  die  Motivation  dieses  Verhaltens,  das  übrigens  in  gleicher 
Weise  bei  den  mutualistischen  Socialverhältnissen  der  Privatwirtschaft 
nachzuweisen  ist. 

Weil  dieses  ökonomische  Vorgehen  der  Wohlfahrt  Aller  gleichmässig 
dient,  hat  man  dasselbe  als  ein  Postulat  der  Gerechtigkeit  erklärt.  Wir 
wissen  allerdings,  dass  egoistische  Regungen  einerseits  verleiten,  nach  einer 
Schmälerung  des  hiernach  resultierenden  Leistungsmaasses  zu  trachten,  und 
dass  altruistische  Gesinnung  andererseits  wieder  eine  Modification  in  anderer 
Richtung   mit   sich   bringen  kann.     Aber  zunächst  ist  doch  das  allgemeine 


1)  Unter  Wert  verstehen  wir  aber  nicht  den  Grenznutzen  des  Gutes,  sondern  die 
von  der  Intensität  der  in  Frage  stehenden  Bedürfnisse  sich  ableitende  „Schätzung"  der 
Güter;  ein  eigenthümhches  ökonomisches  Gefühl,  über  dessen  Natur  und  Entstehung 
ich  andernorts  das  Nöthige  dargelegt  habe.  Siehe  „Grundlegung"  S.  252  und  meine 
Schrift  „Die  neuesten  Fortschritte  der  national-ökonomischen  Theorie"  S.  24  ff.  Was  man 
im  gewöhnlichen  Leben  Wert  nennt:  das  Quantitäts Verhältnis  der  Güt^-  im  Austausche, 
ist  nicht  der  Wert,  sondern  die  Folge  des  Wertes. 


90  Sax. 

Kichtmaass,  dem  gegenüber  Abweichungen  eintreten  können,  festzustellen, 
und  dieses  wird  festgestellt  durch  die  zusammenfallenden  Interessen  der 
Verbandsmitglieder,  allerseits  ökonomisch  vorzugehen,  ,so  zwar,  dass  Keiner 
auf  Kosten  des  Andern  sich  bevortheile.  Der  machtbewehrte  Arm  der 
Finanzgewalt  hat  also  nur  zu  verwirklichen,  was  in  diesem  Sinne  die  Ver- 
bundenen ökonomisch  wollen,  und  das  ist:  Unsere  respectiven  Steuer- 
leistungen sollen  Aequivalente  sein.  Aequivalente !  Dieses  eine  Wort 
bedeutet  die  relative  Steuerausth eilung  in  nuce. 

Sonderbar!  Wie  naheliegend  dies  ist  und  wie  lange  hat  es  gewährt, 
bis  es  gelang,  diese  Erkenntnis  bewusst  als  einfache  Anwendung  eines 
allgemeinen  ökonomischen  Gesetzes  zu  formulieren.  Dunkel  freilich  hat 
man  es  wohl  immer  gefühlt,  was  wieder  nicht  Wunder  nehmen  kann,  da 
der  Wert  ja  ein  Grefühl  ist.  Hätte  die  Theorie  früher  die  Natur  dieses 
Gefühles  verstanden,  so  wäre  es  ihr  unschwer  gelungen,  auch  die  vor- 
liegende Aeusserung  desselben  in  den  Staats  wirtschaftlichen  Handlungen 
der  Menschen  zu  deuten.  So  aber  erkannte  man  nur  das  Streben  der 
Menschen,  die  Steuern  der  Einzelnen  in  irgend  etwas  gleich  zu  wissen, 
und,  anstatt  zu  untersuchen,  in  welcher  Hinsicht  denn  die  Menschen  die 
Steuer  gleich  gestalten  wollen,  traten  die  Finanzlehrer  mit  der  Vorschrift 
auf:  die  Steuern  sollen  gleich  sein  als Ja,  als  was?  Als  Pflicht- 
leistung, als  Opfer,  als  Last,  als  Beanspruchung  der  Leistungsfähigkeit! 
Gleich  als  alles  mögliche,  nur  nicht  als  dasjenige,  als  was  die  Menschen 
sie  gleichgehalten  wissen  wollen:  als  Wertgrössen!  Waren  jene  bildlichen 
Ausdrücke  etwas  anderes  als  Einkleidungen  des  unklar  erfassten,  des  bloss 
geahnten  Sachverhaltes?  Und  wäre  ihre  Conservierung  in  der  Theorie  etwas 
anderes  als  ein  Ausfluss  der  vis  inertiae  auf  geistigem  Gebiete,  nachdem 
wir  nun  uns  klar  geworden  sind  darüber,  dass  die  Menschen  auch  hier 
unter  dem  Einflüsse  der  Impulse,  welche  überhaupt  ihr  wirtschaftliches 
Handeln  in  den  socialen  Zusammenhängen  leiten,  nichts  anderes  als  die 
Beobachtung  der  allgemeinen  ökonomischen  Grundgesetze  bezwecken?  Der 
aus  dem  Wertgesetze  und  dem  Gleichgewichte  der  Interessen  spriessende 
Grundsatz  der  Aequiv alenz  der  individuellen  Steuerbeträge  erklärt  uns 
dasjenige,  was  man  bisher  die  gerechte  Besteuerung  nannte.  Es  konnte  so 
genannt  werden,  weil  es  das  ökonomisch  Kichtige  ist,  es  erklärte  jene  Be- 
zeichnung aber  eben  nichts,  sondern  sie  erhält  erst  durch  die  ökonomische 
Auffassung  der  Steuer  ihr  Erklärung.  Die  Aequivalenz  der  Steuer  erklärt 
uns  erst  die  Opfertheorie  und  die  der  Leistungsfähigkeit.  Denn  gleiche 
Wertgrössen  bedeuten  die  gleiche  Unlustempfindung  beim  Ausgange  der 
betreff'enden  Güter  aus  dem  Besitzesstande  (die  hier  überwogen  wird  von 
der  Befriedigung  des  Gemeinbedürfnisses)  und  bezeichnen  dasjenige  Güter- 
quantum, welches  Jeder  nach  den  Verhältnissen  seiner  Wirtschaft  für  einen 
bestimmten  Zweck  zu  widmen  imstande  ist.^) 

*)  Ich  kann  die  Gelegenheit  nicht  vorübergehen  lassen,  ohne  mich  gegen  ein 
Missverständnis  zu  verwahren,  welchem  meine  Steuertheorie  ausgesetzt  war.  Vereinzelt 
wurde  dieselbe  so  aufgefasst,  als  hätte  die  Steuer  eines  Jeden  zu  bestehen  in  dem  „Geld- 


Die  Progressivsteuer.  91 

Der  mathematische  Ausdruck  dieses  Steuerprincipes  wäre,  dass  die 
Summe  der  Geldeinheiten  jeder  Individualsteuer,  multipliciert  mit  der  Yer- 
hältniszahl  des  Individualwertes,  für  jeden  Steuerträger  die  gleiche  Grösse 
ergibt.  Für  eine  solche  Darstellung  müsste  daher  eine  Werteinheit  zu 
Grunde  gelegt  werden,  da  eben  die  Geldeinheit  keine  Werteinheit,  sondern 
die  Einheit  des  auf  einen  einheitlichen  Nenner  gebrachten  Gutsbestandes, 
die  Gutseinheit,  darstellt.  Eine  Vergleichung  dieser  Grösse  mit  dem  Werte 
des  Gesammteinkommens  brauchte  nicht  stattzufinden,  was  auch  logisch 
ganz  richtig  ist,  weil  es  sich  ja  nur  um  die  Wertung  der  als  Steuer  aus- 
gehenden Güter,  nicht  aber  auch  um  die  des  gesammten  Güterbestandes 
handelt. 

Von  dem  hiermit  festgestellten  Principe  der  Steueräquivalenz  sind 
nun  die  Folgerungen  hinsichtlich  der  uns  beschäftigenden  speciellen  Frage 
zu  ziehen,  wobei  wir  im  Eahmen  der  vorliegenden  Abhandlung  auf  die 
Frage  der  ökonomischen  Bestimmung  der  absoluten  individuellen  Steuerhöhe 
nicht  eingehen. 

Bringen  wir  in  Betreff  der  individuellen  Werthöhe  zunächt  die  im 
vorhergehenden  Abschnitte  erörterte  einfachste  Annahme  der  umgekehrten 
Proportionalität  zum  Einkommen  in  Anwendung  und  sehen  wir  dabei  vorerst 
auch  von  den  Verschiedenheiten  des  individuellen  Bedürfnisstandes  ab,  deren 
Consequenzen  für  unseren  Gegenstand  später  berührt  werden  sollen.  Stellen 
wir  uns  vor,  dass  die  zahllosen  Individualeinkommen  eines  Volkes  sich  auf 
zehn  Einkommensgi'össen  von  1000  fl.  bis  10.000  fl.  mit  je  1000  fl.  Unter- 
schied reducieren  —  eine  Annahme,  die  selbstverständlich  behufs  äusserster 
Vereinfachung  der  Exemplification  gemacht  wird  —  so  stellt  sich  der  Wert 
der  Gutseinheit,  wenn  wir  denselben  bei  1000  fl.  Einkommen  zu  1  setzen, 
bei  2000  fl.  auf  Vg,  bei  3000  fl.  auf  V3,  bei  4000  fl.  auf  V4  u.  s.  w.  wie 
in  dem  Schema  (S.  76),  bis  schliesslich  bei  10.000  fl.  auf  Vio.  Wäre  nun 
100  fl.  die  Gütermenge,  welche  bei  einem  Einkommen  von  1000  fl.  auf 
die    CoUectivbedürfnisse    entfiele,   so  wäre  100  X  1  =  100  die  Ziffer  der 


äquivalente,  in  welchem  sich  nach  seinem  individuellen  Wertstande  der  Wert  der  Staats- 
leistungen ausdrückt."  (So  auch  Wies  er  „Der  natürliche  Wert"  S.  320.)  Aus  Obigem 
entnimmt  man  leicht,  dass  dies  eine  irrige  Auffassung  ist.  Nicht  die  Staatsleistung  und 
die  Steuerleistung  sollen  für  jeden  Einzelnen  Aequivalente  sein,  sondern  die  Steuer  jedes 
Einzelnen  soll  äquivalent  sein  der  Steuer  aller  Uebrigen.  Wie  man  übrigens  bei  nur 
halbwegs  aufmerksamer  Leetüre  meiner  „Grundlegung,"  angesichts  desjenigen,  was  ich 
dort  über  die  „Staatsleistungen,"  den  Wert  und  die  „Tauschtheorie"  der  Staatswirtschaft, 
welcher  jene  Auffassung  zugehören  würde,  ausführe,  zu  eben  dieser  Auffassung  gelangen 
konnte,  ist  mir  geradezu  unfassbar. 

Wenn  A.  Graziani,  welcher  im  „Giornale  degli  Economisti",  Februarheft  1891 
(S.  156  ff.)  die  Theorie  der  holländischen  Autoren  propagiert,  mir  entgegenhält,  dass  die 
richtige  Steuervertheilung  aus  nichts  anderem  als  dem  „principio  generale  dell'  uguaglianza 
giuridica"  hervorgehe,  so  übersieht  er,  dass  ein  solches  Steuerrechtsprincip  sich  ja 
eben  nur  durch  das  ökonomische  Princip  der  Aequivalenz  erklärt,  da  jeder  Grundsatz 
öffentlichrechtlicher  Ordnung  irgend  eines  ökonomischen  Verhältnisses  selbstverständHch 
eine  ökonomische  Wurzel  haben  muss. 


92  Sax.    , 

Wertgrösse.    welche   die  Steueiieistungen  aller  üebrigen  darstellen  müssen. 
Polglich  sind  zu  entrichten 

bei      2.000  fl.  Einkommen  x  X  V2  =  100»  ^l.  i  200  fl. 

„        3.000   „           „            X  X  V3  =  100,     r  300   „ 

4.000  „           „            X  X  V4  =  100,     „  400   „ 

„       10.000   „            „           X  X  Vio  =  100,     „  1000   „ 

Kurz,  die  durch  das  Wertgesetz  bedingte  Zuwendung  von  Gütern  an 
Collectivbedürfnisse  von  Seite  der  Besitzer  verschiedener  Einkommen  verhält 
sich  unter  der  gedachten  Voraussetzung  wie  die  Grösse  der  respectiven 
Einkommen,  d.  h.  bei  umgekehrter  Proportionalität  zwischen  Einkommens- 
grösse  und  Werthöhe  ergiebt  sich  proportionale  Steuer.^) 

2.    Folgerungen   hinsichtlich   der   Pnogressivsteuep. 

Damit  ist  die  Basis  gewonnen,  von  welcher  aus  in  Beantwortung 
unserer  Frage  auf  sicherem  Grunde  weiter  vorgeschritten  werden  kann. 
Fassen  wir  zusammen,  so  finden  wir  Folgendes.  Die  ökonomische  Steuer- 
theorie zeigt  uns,  dass  Jeder  bereit  ist,  dasjenige  Güterquantum  zur  Deckung 
der  Collectivbedürfnisse  aus  seinem  Einkommen  verwenden  zu  lassen,  welches 
wert  gleich  ist  dem  Güterquantum,  das  von  den  Anderen  zum  gleichen 
Zwecke  entnommen  wird  —  innerhalb  der  Grenze,  welche  überhaupt  je  für 
diese  Güterentnahme  gezogen  ist.  Wenn  der  Güter  wert  sich  genau  im  Ver- 
hältnis der  aufsteigenden  Abstufungen  des  Einkommens  abschwächen  würde, 
hätte  dies  die  Proportionalität  der  Steuer  —  im  stricten  Sinne  des  Wortes  — 
zur  Folge.  Im  Falle  einer  anderen  Gestaltung  des  Wertverhältnisses  muss 
ein  anderes  Verhältnis  der  Individualsteuerleistungen  resultieren.  Dies  bildet 
den  Obersatz  unserer  Deduction. 

')  Würde  im  obigen  Beispiele  ein  höherem  Steuerfuss  als  10%  zugrunde  gelegt, 
z.  B.  2OV0»  so  wäre  der  Satz  scheinbar  nicht  mehr  zutreffend.  Denn  20%  absorbieren  von 
10.000  fl.  2000  fl.,  von  welchen  jedoch  nur  die  ersten  1000  fl.  den  Wert  von  ^/,o  aufweisen, 
während  die  zweiten  1000  fl.  der  Voraussetzung  gemäss  bereits  ^'g  Wert  besitzen.  2000  fl. 
wären  also  nicht  mehr  wertgleich  200  X  1  =  200  des  Besitzers  von  1000  fl.  Einkommen, 
vielmehr  wären  (1000  X  Vio)  t  (900  X  Vg)  =  200;  die  entsprechende  Summe  wäre 
1900  fl.  Die  lucongruenz  rührt  indes  ersichtlich  nur  daher,  dass  ja  auch  beim  Besitzer 
von  1000  fl.  Einkommen  nicht  beliebig  viele  Gulden  den  Wert  von  1  repräsentieren 
können,  sondern,  wenn  die  ersten  in  Entfall  kommenden  100  fl.  den  Wert  von  1  zeigen, 
die  weiteren  Gulden  einen  höheren  Wert  aufweisen  müssen.  Beispielsweise  wären  da 
(100  X  1)  +  (90  X  1-i)  =  200,  d.  h.  190  fl.  ergäben  die  Wertverhältniszahl  200.  Das 
will  besagen,  dass  die  gemachte  Voraussetzung  umgekehrter  Proportionalität  der  Wert- 
höhe zum  Einkommen  ja  nicht  bloss  für  die  Einkommenstufen  ä  1000  fl.  gelten  kann, 
wie  solche  in  dem  arithmetischen  Beispiele  zugrunde  gelegt  wurden,  sondern  eben  all- 
gemein gilt  und  die  scheinbare  Incongruenz  in  dem  gedachten  Falle  also  nur  infolge 
der  Suppositionen  des  zahlenmässigen  Beispiels  entsteht,  während  bei  algebraischer 
Darstellung  natürlich  das  Kesultat  der  Proportionalsteuer  glatt  zum  Vorschein  kommt. 
Von  Einfluss  kann  eine  Verschiedenheit  des  Steuerfusses  nur  insofeme  sein,  als  die  Ver- 
änderung der  Werthöhe  nicht  in  genauem  (umgekehrten)  Verhältnisse  zu  der  des  Ein- 
kommens vor  sich  geht.    Darüber  später. 


Die  Progressivsteuer.  93 

Nun  wurden  an  einer  früheren  Stelle  dieser  Erörterungen  bereits  die 
Aussagen  berührt,  welche  die  Theorie  über  letzteren  Punkt  zu  machen  in 
der  Lage  ist.  Damit  ist  die  zweite  Prämisse  der  Schlussfolgerung  gegeben. 
Wir  brauchen  das  dort  Festgestellte  hier  einfach  anzuwenden  und  gelangen 
dadurch  zu  nachstehenden  Conclusionen. 

Erstens.  Wir  wissen,  d  a  s  s  die  Intensitätsabnahme  der  Bedürfnisse 
und  somit  die  Verminderung  der  Werthöhe  bis  zu  einem  gewissen  Punkte 
rascher  vorschreitet  als  die  correspondierende  Gütermenge  (Einkommen) 
zunimmt.  Folglich  müssen,  damit  Aequivalente  zum  Vorschein  kommen,  die 
Steuersummen  der  Einzelnen  insolange  in  stärkerem  Verhältnisse  als  im 
gleichen  Verhältnisse  der  Einkommen  anwachsen.  Aus  jener  Thatsache 
folgt  eo  ipso,  d  a  s  s  Progression  der  Steuer  einzutreten  habe,  und  zwar  zu 
dem  Ende  und  in  dem  Maasse,  auf  dass  die  Aequivalenz  der  Steuerleistungen 
hergestellt  wird.  Das  Princip  der  Progression  ist  damit  ge- 
geben. Es  deduciert  sich  concludent  aus  jener  Gestaltung  des  Individual- 
wertes,  und  da  wir  uns  derselben  vermöge  der  Natur  des  Wertes  gefühls- 
weise bewusst  sind,  so  begreifen  wir  mit  einem  Male,  warum  die  Forderung 
der  Progressivsteuer  schon  in  unserem  „Gefühle"  begründet  ist.  Dass  man 
letzteres  bei  unzureichender  Erfassung  des  Sachverhaltes  mit  dem  Gerech- 
tigkeitsgefühle identifi eierte,  ist  erklärlich,  weil  dieses  ja  jede  Abweichung 
von  dem  ökonomisch  richtigen  Maasse  der  Steuer  perhorresciert. 

Zweitens.  Wir  wissen,  dass  die  progressive  Abnahme  der  Werthöhe 
keineswegs  eine  regelmässige  in  dem  Sinne  ist,  dass  sie  etwa  in  eine  nach 
einer  Schablone  aufgebaute  Progression  gekleidet  werden  könnte,  die  mit 
jedem  kleinen  Einkommenstheile  um  eine  bestimmte  Stufe  vorschreitet. 
Nur  für  solche  Summen,  wie  sie  den  oben  unterschiedenen  Bedürfnisgruppen 
entsprechen,  konnte  die  Thatsache  der  progressiven  Abnahme  des  correspon- 
dierenden  Wertstandes  ausgesagt  werden,  und  sowohl  die  jenen  Bedürfnis- 
gruppen entsprechenden  Gütermengen  (Einkommenstheile)  als  die  Abstände 
der  durchschnittlichen  Bedürfnisintensität  und  mithin  der  Werthöhe  von 
Stufe  zu  Stufe  konnten  nicht  als  gleich  bezeichnet  werden.  Daraus  folgt, 
dass  wir  über  die  Beschaffenheit  der  Progressivsteuer  etwas  Allge- 
meines festzustellen  in  der  Lage  sind.  Es  ergibt  sich,  dass  nicht  eine  schön 
construierte  Progression,  die  von  Glied  zu  Glied  eine  regelmässige  Differenz 
aufweist,  der  Wirklichkeit  entspräche,  sondern  dass  nur  für  weitere  Durch- 
schnitte von  Einkommensgrössen,  wie  solche  von  den  gedachten  Bedürfnis- 
gruppen absorbiert  werden,  Fixpunkte,  Etappen  der  Progression  theoretisch 
bezeichnet  werden  können,  von  welchen  aus  üebergänge  je  zu  den  beiden 
angrenzenden  Stufen  mit  Kücksicht  darauf  zu  erfolgen  haben,  dass  Abnahme 
der  Bedürfnisintensität  auch  innerhalb  der  einzelnen  Gruppe  stattfindet. 

So  wie  die  Grenzwerte  der  den  unterschiedenen  Bedürfnisgruppen  in 
der  Keihe  correspondierenden  Einkommen  Sprünge  aufweisen,  welche  be- 
trächtlicher sind  als  das  umgekehrte  Verhältnis  der  aufeinanderfolgenden 
Einkommensziffern,  so  kann  sich  auch  die  Progression  der  Steuer  nur  in 
solchen  Sprüngen,  betreffend  jene  Einkommensgrössen,  bewegen.  Am  stärksten 


94  Sax. 

ist  der  Sprung  vom  physischen  zum  socialen  Existenzminimum,  sodann 
von  diesem  zum  classenmässigen  Minimaleinkommen  des  Mittelstandes,  das 
zugleich  das  Durchschnittseinkommen  der  breiten  unteren  Schichte  desselben 
darstellt.  Ein  grosser  Sprung  ist  weiter  von  da  zu  den  Durchschnitts- 
einkommen der  mittleren  Schichten,  welche  schon  die  Befriedigung  zahl- 
reicherer Bedürfnisse  blosser  Annehmlichkeit  und  individuellen  Genusses 
gestatten,  und  weiterhin  den  Einkommen  des  höheren  Mittelstandes,  die 
bereits  Befriedigungen  des  Luxus  und  der  Laune  einschliessen.  In  weiterer 
Folge  werden  die  respectiven  Abstände  immer  geringer,  nähern  sich  immer 
mehr  der  umgekehrten  Proportion  der  Einkommenssummen,  bis  endlich  bei 
hohen  Einkommen  das  letztgedachte  Verhältnis  eintritt,  womit  die  Progres- 
sion ihr  Ende  findet  und  die  Proportionalsteuer  beginnt.  Die  richtige 
Steuerprogression  ist  also  eine  degressive,  aber  unregelmässige. 
Drittens.  Wir  wissen,  dass  wir  in  der  Theorie  die  für  die  Steuer- 
progression maassgebenden  Unterschiede  der  In dividualwert stände  nicht  zu 
beziffern  vermögen,  sondern  nur  sagen  können,  dass  die  Individuen 
selbst  in  ihrem  Innern  die  Werthhöhe  ermessen  und  dieselbe  somit  ihrem 
ökonomischen  Handeln  zugrunde  zu  legen  imstande  sind.  Daraus  folgt, 
dass  nicht  die  Theorie  die  Progression  aufstellen  kann,  sondern  die  Steuer- 
träger selbst,  insoweit  die  Aeusserungen  ihrer  Wertgefühle  in  der  Steuer- 
gesetzgebung zu  richtigem  Ausdrucke  gelangen,  die  Progression  bestimmen. 
Die  Theorie  kann  nur  lehren:  diejenige  Steuerprogression  ist  jeweils  die 
wirtschaftlich  richtige,  bei  welcher  die  verschiedenen  Gruppen  der  Steuer- 
träger erklären,  ihre  darnach  sich  ergebenden  Steuerleistungen  seien  äqui- 
valent. Eine  solche  Erklärung  erfolgt  in  jenem  staatswirtschaftlichen 
Gesammthandeln ,  mittels  dessen  die  Steuer  des  Einzelnen  festgesetzt  wird. 
Man  muss  sich  dies  so  vorstellen,  dass  die  verschiedenen  Schichten  der 
Bevölkerung,  welche  die  gedachten  Abstufungen  der  Einkommensgrössen 
in  weiten  Durchschnitten  repräsentieren,  durch  ihren  Einfluss  auf  die  Steuer- 
gesetzgebung eben  jenes  Steuermaass  herbeiführen,  welches  die  Aequivalenz 
der  Steuer  verwirklicht.  Vergegenwärtigen  wir  uns  das  Bild  einer  solchen 
Gruppierung  der  Einkommensempfänger.  Es  stehen  sich  gegenüber:  die 
Leute  mit  bis  zu  500  fl.  Einkommen,  die  Gruppe  der  Personen  mit  500 
bis  1000  fl.  Einkommen,  die  mittleren  Schichten  mit  einigen  Tausend  Ein- 
kommen, dann  die  Schichte  des  höheren  Mittelstandes  mit  5000  bis 
10.000  fl.  Einkommen,  weiters  die  Keicheren  und  endlich  die  Millionäre. 
Mit  Rücksicht  auf  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  jeder  dieser  Schichten 
ist  die  Höhe  der  Steuer  festzusetzen  und  diejenige  Progression,  welche 
diesfalls  nothwendig  ist,  damit  die  Steuerleistungen  als  wertgleich  sich 
erweisen,  ist  die  wirtschaftlich  angezeigte.  Die  üebereinstimmung  der 
verschiedenen  Gruppen  der  Bevölkerung  hinsichtlich  einer  gewissen  Pro- 
gression, zum  Ausdruck  gebracht  im  öffentlichen  Leben,  lehrt,  dass  das 
Richtige  getroffen  wurde.  An  Mitteln  zur  Geltendmachung  des  individuellen 
Wertstandes  hinsichtlich  der  Steuer  fehlt  es  wohl  nirgends;  hieher  zählen 
Klagen.  Beschwerden,  Bitten,  Vorstellungen,  selbst  Handlungen  der  Reaction 


Die  Progressivsteuer.  95 

gegen  unrichtig  vertheilte  Steuern.  Indes  nur  wo  eine  Volksvertretung 
die  Staatsausgaben  festsetzt  und  die  Steuergesetze  bescliliesst,  die  verschie- 
denen Schichten  der  Bevölkerung  also  durch  ihre  Vertreter  auf  das  staats- 
wirtschaftliche Handeln  direct  bestimmend  einwirken,  gelangen  in  den 
betreffenden  Verhandlungen  und  Voten  die  individuellen  Wertschätzungen 
der  Steuersummen  in  erwünschtem  Maasse  zum  Ausdruck  und  eben  daher 
hat  man  ja  bekanntlich  zu  diesem  Modus  des  staatswirtschaftlichen  Handelns 
gegriffen.  Es  ist  mithin  die  ökonomisch  richtige  Steuerprogression  nicht 
a  priori  zu  formulieren,  sondern  sie  wird  in  dem  staatswirtschaftlichen 
Gesammthandeln  a  posteriori  auf  die  nämliche  Weise  festgesetzt,  wie  die 
angemessene  Höhe  der  Steuer  überhaupt,  sie  fällt  mit  letzterem  eigentlich 
zusammen.  Nicht  a  b  s  t  r  a  c  t  ist  die  richtige  Steuerprogression  zu  finden, 
sondern  nur  experimentell;  ein  Weg,  der  ja  auch  durch  die  Geschichte 
und  die  gegebenen  Thatsachen  vorgezeichnet  ist  —  handelt  es  sich  doch 
nicht  um  die  Schaffung  eines  Steuersystems  aus  dem  Nichts,  sondern  um 
dessen  successiven  Ausbau,  welcher  in  schrittweisem,  vorsichtigen  Gange  in 
der  Eichtung  der  Progression  zu  erfolgen  hat. 

Viertens.  Wir  wissen,  dass  sich  dies  alles  nur  auf  die  Höhe  der 
das  Individuum  treffenden  Gesammtsteuerleistung  bezieht,  welche  aus  der 
Combination  der  verschiedenen  Steuerarten  im  Steuersystem  hervorgeht. 
Daraus  folgt,  dass  die  soeben  gewonnenen  Aussagen  über  die  Steuerpro- 
gression eben  nur  von  der  Wirkung  des  Steuersystems  auf  den  einzelnen 
Steuerträger,  von  den  Steuersummen,  die  den  Einzelnen  durch  das  Zusammen- 
treffen mehrerer  Steuern  in  ihrer  Person  erwachsen,  gelten,  nicht  von 
einer   einzelnen  Steuerart  oder  von  jeder  einzelnen  Steuer. 

Daraus  folgt  wieder,  dass,  was  insbesondere  eine  allgemeine  Ein- 
kommensteuer als  Glied  des  Steuersystems  betriff*,  eine  Progression 
derselben  und  das  Maass  der  Progression  nur  mit'  Rücksicht  auf  die 
Gestaltung  und  Wirkung  der  übrigen  Glieder  des  concreten  Steuersystems 
bestimmt  werden  kann.  Insofern  eine  gewisse  Progression  des  Steuerfusses 
der  Einkommensteuer  als  das  Mittel  erschiene,  gegenüber  einer  stärkeren 
Belastung  bestimmter  Schichten  durch  Verbrauchssteuern  oder  im  Hinblicke 
auf  den  Umstand,  dass  sich  die  höheren  Einkommen  leichter  zu  einem 
Theile  der  Steuer  entziehen,  die  Ausgleichung  zu  bewirken,  also  zunächst 
nur  Proportionalität  der  Steuer  herzustellen,  wäre  diese  Progression  mit  der, 
aus  der  Gesammtsteuer  sich  ergebenden  zu  combinieren,  sofern  im  concreten 
Falle  die  letztgedachte  Progression  für  die  Einkommensteuer  überhaupt 
resultiert. 

Wenn  die  gedachten  Sprünge  der  aufsteigenden  Progression  für  die 
Einkommensstufe  des  socialen  Existenzminimums  durch  ausschliessliches 
Betroffensein  von  indirecten  Steuern,  für  -das  classenmässige  Minimal-Ein- 
kommen  des  Mittelstandes  ebenfalls  durch  diese  oder  allenfalls  den  Hiazutritt 
einer  Classensteuer  und  erst  von  den  unteren  Stufen  des  mittleren  Einkommens 
an  für  dieses  und  die  höheren  Einkommen  durch  Eintritt  der  Einkommen- 
steuer  verwirklicht   werden,    so   muss    weiterhin    der    progressionsgemässe 


96  ^ax. 

Steuerbetrag,  z.  B.  derjenige,  welcher  ein  Einkommen  von  5000  fl.  und  ein 
solches  von  10.000  fl.  trifft,  sich  zusammensetzen  aus  den  indirecten  Steuern, 
die  einen  Haushalt  des  betreffenden  Umfanges  belasten,  und  der  Einkommen- 
steuer. Die  Eruierung  der  durchschnittlichen  Wirkungen  der  indirecten 
Steuern  (nebst  denen  in  Oesterreich  die  überwälzte  Hauszinssteuer  in 
Betracht  zu  ziehen  käme),  die  natürlich  nur  durch  empirische  Feststellung 
von  Haushaltungsbudgets  möglich  ist,  wird  diesfalls  von  grosser  Wichtigkeit. 
Nur  mit  Eücksicht  hierauf  ist  die  Progression  der  Einkommensteuer  zu 
berechnen.  Dieselbe  kann  hiernach  in  mehreren  ihrer  Theile  bedeutende 
Verschiedenheiten  zeigen.  Eine,  aus  einem  allgemeinen  Satze  für  die  Steuer 
überhaupt  entwickelte  und  direct  auf  die  Einkommensteuer  angewandte 
mathematische  Formel  der  Progression,  bei  welcher  sorgsam  darauf  geachtet 
ist,  dass  keine  „Brüche''  oder  „Unebenheiten"  vorkommen,  ist  der  Wirklichkeit 
inadäquat,  ist  ein  nutzloses,  ja  schädliches  Phantasiespiel. 

Fünftens.  Wir  wissen  schliesslich,  dass  die  nach  dem  Wertstande 
sich  bemessende  Steuerhöhe  durch  collectiven  Egoismus  oder  Altruismus 
eine  Aenderung  erfahren  kann.  Es  können  diejenigen  Volkselemente,  welche 
vermöge  ihrer  Stellung  im  Staate  einen  ausschlaggebenden  Einfluss  auf  das 
Staats  wirtschaftliche  Handeln,  wie  auf  die  Gesetzgebung  überhaupt,  zu  üben 
in  der  Lage  sind,  ihren  Einfluss  benützen,  um  für  sich  eine  unter  dem 
Wertniveau  zurückbleibende  Besteuerung  zu  erwirken.  Andererseits  kann 
collectiver  Altruismus  geübt  werden  und  bestimmten  Classen  die  sie  nach 
dem  Wertstande  treffende  Steuer  ganz  oder  zum  Theile  erlassen  werden. 
Von  dem  thatsächlichen  Walten  und  der  thatsächlichen  Stärke  dieser 
Tendenzen  ist  die  Modification  der  Steuerausmessung  gegenüber  der  Aequi- 
valenz  der  individuellen  Steuerbeträge  abhängig.  Für  diese  zweite  Ursache 
des  Steuerausmaas»es  gibt  es  wieder  gewisse  Grenzen  und  es  ist  wohl 
auch  ein  allgemeines  Entwicklungsgesetz  hinsichtlich  der  Wirksamkeit  der 
beiden  socialökonomischen  Agentien  zu  behaupten,  darauf  braucht  jedoch  zu 
unserem  Zwecke  hier  nicht  näher  eingegangen  zu  werden. 

Sechstens.  Ausser  den  allgemeinen  Aufschlüssen  über  den  Grund 
der  Progressivssteuer,  ihr  Maass  und  die  Vorgänge  ihrer  Verwirklichung, 
welche  wir  der  ökonomischen  Steuertheorie  danken,  sind  auch  besondere 
Fragepunkte  dieses  Gegenstandes  nunmehr  unschwer  zu  erledigen.  Dies- 
bezüglich hier  nur  noch  folgende  kurze  Bemerkungen. 

a)  Steuerfreiheit  des  Existenzminimums.  Versteht  man  hierunter 
das  physische  Existenzminimum  im  wahren  Sinne  des  Wortes,  so  ist  ein- 
leuchtend, dass  eine  Steuer  diesfalls  überhaupt  nicht  platzgreifen  kann. 
Das  Individuum  mag  im  Kriege  sein  Leben  für  das  Vaterland  zu  opfern 
verpflichtet  sein:  im  übrigen  geht  die  blosse  Erhaltung  der  individuellen 
Existenz  allen  CoUectivzwecken  vor.  Die  betreffenden  Individuen  sind  gar 
keine  Steuerträger  und  können  solche  nicht  sein.  Die  Gemeinschaft  muss 
ihnen  sofort  im  Armenwesen  wieder  erstatten,  was  sie  ihnen  als  Steuer 
abgenommen   hätte.    Fasst  man  dagegen  den  „nothwendigen  Lebensbedarf " 


Die  Progressivsteuer.  97 

als  das  ,  allgemeine  sociale  Existenzminimuin"  auf,  so  dass  er  diejenigen 
Bedürfnisbefriedigungen  einschliesst,  die  nicht  mehr  zur  blossen  Erhaltung 
der  körperlichen  Integrität,  wohl  aber  nach  der  jeweiligen  Zeitauffassung 
zur  Führung  einer  „menschenwürdigen  Existenz"  unerlässlich  erscheinen,  so 
ist  das  Nämliche  wie  bezüglich  des  physischen  Existenzminimums  nicht  zu 
behaupten.  Auch  die  hier  inbegriffenen  Individualbedürfnisse  sind,  wie  wir 
wissen,  äusserst  hohen  Stärkegrades,  aber  sie  sind  nicht  incommensurabel 
und  es  ist  keineswegs  richtig,  dass  es  nicht  CoUectivbedürfnisse  gebe, 
welche  ihnen  an  Stärke  gleichkommen  (was  man  implicite  behauptet,  wenn 
man  sagt,  dass  jene  Einzellebensbedürfnisse  nicht  durch  Besteuerung  ein- 
geschränkt werden  dürften).  Es  folgt  nur,  dass  die  betreffenden  Wirtschafts- 
subjecte  sehr  niedrig  zu  besteuern  sind,  und  dies  ist  auch  praktisch  ganz 
wohl  durchführbar.  Dieses  Existenzminimum  ist  eine  immerhin  in  gewissem 
Maasse  elastische  Grösse  und  es  lässt  sich  keines  denken,  von  dem  man 
nicht  für  Gemeinzwecke  ein  Weniges  —  sei  es  auch  wirklich  noch  so 
wenig  —  abgeben  könnte.  Die  bezüglichen  Verbrauchssteuern  müssen  nur 
auch  niedrig  genug  gehalten  werden. 

Aber  man  kann  dieses  Existenzminimum  freilassen.  Ob  es  geschehen 
soll,  hängt  vom  coUectivistischen  Altruismus  ab,  d.  h.  davon,  ob  man  im 
concreten  Staate  solchen  zu  üben  gesonnen  und  mit  Kücksicht  auf  andere 
CoUectivbedürfnisse  zu  üben  in  der  Lage  ist.  Es  war  daher  auch  ein  ganz 
müssiger  Streit,  ob  die  Steuerausmessung  nach  dem  Leitsterne  der  ver- 
theilenden  Gerechtigkeit  die  Freilassung  des  Existenzminimums  im  vorliegenden 
Sinne  erheische.  Die  Gerechtigkeit  verlangt  es  nicht;  sie  würde  vielmehr 
das  Gegentheil,  die  Belegung  der  betreffenden  Wirts chaftssubjecte  mit  der 
entsprechenden  Steuer,  verlangen.  Altruistische  Eegungen  sind  die  Motivation 
des  bezüglichen  Gesammthandelns.  Dass  ein  solches  nicht  stattfindet,  wenn 
man  beim  Bestände  von  Verbrauchssteuern  die  Einkommensteuer  erst  von 
einer  gewissen  Einkommensgrösse  an  eintreten  lässt,  bedarf  keiner  Er- 
läuterung mehr. 

Sofern  aber  jene  Steuerbefreiung  eines  Existenzminimums  zugestanden 
wird,  hat  dies  ganz  und  gar  nicht  diejenige  Progression  für  die  Gesammt- 
steuer  zur  Folge,  welche  zum  Vorschein  kommt,  wenn  man  von  jedem 
Einkommen  ein  Existenzminimum  abzieht.  Daraus,  dass  man  einer  gewissen 
Classe  von  Steuersubjecten  eine  Steuer  ganz  oder  theilweise  erlässt,  um 
altruistische  Gesinnung  gegen  sie  zu  bethätigen,  folgt  noch  keineswegs, 
dass  man  bei  allen  Steuerträgern  die  betreffende  Summe  als  steuerfrei 
erkläre.  Wenn  jener  Steuererlass  bloss  darin  bestünde,  dass  man  die  Vei- 
brauchssteuer  auf  nothwendige  Lebensmittel  abschafft  oder  niedriger  im  Fuss 
hält  als  zulässig  wäre:  deshalb  braucht  bei  der  Einkommensteuer  noch 
keineswegs  von  jedem  steuerbaren  Einkommen  ein  gewisser  Betrag  vorweg 
in  Abzug  gebracht  werden. 

b)  Ein  anderer  Punkt  betrifft  die  Vorstellung,  die  man  sich  von  dem 
Maasse    der   Progression    machen    könnte,   wenn   man    den    starken 

Zeitschrift  für  Volkswirtschalt,  Socialpolitik  und  Venvaltung.  I.  Heft.  7 


98  Sax- 

Abfall    des    Wertes   der    Gutseinheit     bei    den    grösseren    gegenüber   den 
kleineren  Einkommen  vor  Augen  hat.^) 

Von  belangreichem  Einflüsse  ist  in  dem  Punkte  ein  Umstand,  dessen 
wir  bei  der  Aussage  über  die  Abstände  der  durchschnittlichen  Intensität 
der  verschiedenen  Bedürfnisgruppen  uns  sogleich  erinnern  mussten:  die 
Zunahme   der   Zahl   der  Bedürfnisse   mit   abnehmender   Intensität,    was  für 


*)  In  dieser  Hinsicht  darf  vorerst  folgendes  nicht  ausser  Acht  gelassen  werden, 
was  auch  im  Laufe  der  Erörterungen  schon  nebenbei  erwähnt  werden  musste.  Das  "Wert- 
gefiihl,  welches  eine  Giitersumme  anregt,  besitzt  nicht  immer  den  relativen  Stärkegrad, 
welcher  sich  ergibt,  wenn  man  die  Wertgrösse  der  Gutseinheit  mit  der  Anzahl  der  Guts- 
stiicke  multipliciert.  "Wenn  eine  Mehrheit  von  Gütern  aus  der  Güteisphäre  eines  Indivi- 
duums ausscheidet,  so  wird  ja  nicht  die  Gutseinheit  so  vielmal,  als  Stücke  ausgehen, 
dem  letzten  Bedürfnis  der  Keihe  entzogen,  sondern  jedes  folgende  Stück  einem  stärkeren 
Bedürfnis  als  das  vorgehende.  Wenn  ein  Mann  mit  1000  fl.  die  Bedürfnisreihe  bis 
zu  einem  gewissen  Punkte  deckt,  so  entfällt  der  lOOOste  Gulden  auf  ein  Bedürfnis  von 
gewisser  Stärke,  der  999.  Gulden  auf  das  nächsthöhere  Bedürfnis  u,  s.  w.  Was  so  im 
jeweihgen  Augenblicke  von  der  Gutseinheit  gilt,  gilt  für  die  Dauer  der  mit  dem  Ein- 
kommen bezeichneten  Bedarfsperiode  (Jahr)  für  je  eine  Anzahl  Gutseinheiten.  Für  das 
Maass  der  Progression  kann  folglich  nicht  das  Verhältnis  des  Wertes  maassgebend  sein, 
welchen  die  letzte  Gutseinheit  des  Einkommens,  je  nach  dessen  Grösse,  aufweist,  sondern 
der  Wert  des  ganzen  Steuerbetrages,  welcher  sich  eventuell  aus  Theilbeträgen  mit  ver- 
schiedener Werthöhe  zusammensetzt;  dann  nämlich,  wenn  die  Steuer  höher  ist  als  der- 
jenige Güterbetrag,  welcher  den  mindesten  Wert  der  Gutseinheit  zeigt.  Am  besten  wird 
wieder  ein  ziffermässiges  Beispiel  den  Sachverhalt  erhellen.  Nehmen  wir  ein  Einkommen 
von  500  fl.  und  eines  von  5000  fl.  Der  Mann  mit  500  fl.  hätte  50  fl.  an  Steuer  zu  zahlen. 
Der  Wert  der  Gutseinheit  bei  5000  fl.  Einkommen  sei  nicht  Vio  ^^^  dem  Werte  bei 
500  fl.,  sondern  ^/oq.  Würde  dieser  Wert  für  alle  Gutseinheiten  gelten,  so  würde  darnach 
auf  den  bezüglichen  Steuerträger  1000  fl.  Steuer  entfallen.  Das  Einkommen  von  500  fl. 
hätte  10*^/o,  jenes  von  5000  fl.  20^0  Steuer  zu  zahlen.  Nun  aber  muss  das  Vorerwähnte 
in  Rechnung  gestellt  werden.  Es  betrage  demgemäss  der  Wert 
vom  5000sten  fl.  bis  zum  4901  sten  fl.  V20 

„     4900   „      „     „       „     4801    „      „    Vig 

„     4800   „      „     „       „     4701    „      „    Vis 

„     4700   „      „     „       „     4601    „      „    V17 


4600  „      „  „  „  4501  „ 

4500  „„  „  „  4401  „  „  Vi5 

4400   „„  „  „  4301  „  „  Vu 

4300  „      „  „  „  4201  „  „  ^/,3 

4200   „      „  „  „  4101  „  „  V,2 


16 


„     4100   „      „     „       „     4001   „      „    %, 
des  Wertes  der  Gutseinheit  von  500  fl,;  bei  4000  fl.   sei  der  Wert  der  Gutseinheit  — 
unserer  Voraussetzung  entsprechend  —  nicht  '/s'  sondern  Vio  ^-  s.  w. 

Der  relative  Wertbetrag  der  Steuer  von  500  fl.  ist  unserer  Voraussetzung  gemäss 
50  X  1  =  50.  Um  zur  gleichen  Wertgrösse  von  50  bei  der  Steuer  von  5000  fl.  zu  ge- 
langen, müssen  vom  5000sten  Gulden  an  die  als  Steuer  ausgehenden  Theilbeträge  solange 
mit  ihrem  (steigenden)  Wertverhältnisse  angesetzt  werden,  bis  die  Summe  derselben  die 
Verhältniszahl  50  ergibt.  Also 

100  _|.  100  _J_  ]  00  _l_  100  _L   100  _L .  10  0   1.  1  0.0   I   100   I   _6   __  Kf) 

Die  con-espondierende  Steuer  ist  mithin  806  fl. 

Vorerst  wurde  bei  dem  Manne  mit  500  fl.  Einkommen  die  Durchschnittsrechnung 
angewendet.    Nehmen  wir  nun   aber  auch  an,  dass  von  500  fl.  ab  der  Wertstand  für  je 


Die  Progressivsteuer.  99 

die  aufeinanderfolgenden  Bedürfnisgnippen  ein  Anwachsen  der  von  je  einer 
derselben  absorbierten  Gütermenge  bedeutet.  Schon  an  jenem  Orte^)  erkannten 
wir  an  einem  supponierten  Beispiele,  dass,  je  grösser  die  für  eine  Bedürfnis- 
gruppe erforderliche  Gütermenge  im  Vergleich  zu  der  von  der  vorauf- 
gehenden beanspruchten  Summe  ist,  desto  weniger  sich  das  wirkliche 
progressive  Verhältnis  der  Intensitätsabnahme  der  Bedürfnisse  jener  zwei 
verglichenen  Gruppen  von  dem  Verhältnisse  entfernen  wird,  welches  durch 
die  umgekehrte  Proportionalität  der  betreffenden  Einkommen  ausgedrückt 
ist.  Das  heisst:  desto  geringer  muss  die  Progression  der  Steuer  von  der 
einen  zur  andern  der  bezüglichen  Einkommensstufen  sein.  In  je  weiterem 
Umfange  das  Einkommen  für  Bedürfnisse  von  gewissem  Intensitätsgrade  (in- 
folge grösserer  Anzahl  der  betreffenden  Bedürfnisregungen)  absorbiert  wird, 
desto  weniger  sinkt  eben  der  Intensitätsgrad  der  jeweils  letztbefriedbaren 
Bedürfnisse,  auf  desto  höherem  Niveau  wird  folglich  der  hievon  abgeleitete 
Wert  der  Gutseinheit  gehalten^).  Desto  schwächer  folgerichtig  die  Pro- 
gression der  Steuer. 

In  welchem  Maasse  die  Ausdehnung  der  verschiedenen  Bedürfnis- 
gruppen stattfindet,  ist  eine  Frage,  die  mit  wünschenswerter  Genauigkeit 
nur  auf  empirischem  Wege  nach  den  concreten  Zuständen  eines  bestimmten 
Staates  und  Volkes  beantwortet  werden  könnte.  Vielleicht  werden  die  sta- 
tistischen Untersuchungen  EngeFs,  welche  über  die  diversen  Ausgabenkate- 
gorien von  Haushaltungen  aller  Einkommensstufen  nach  Aufschreibungen 
einer  grossen  Anzahl  von  Wirtschaftern  Aufschluss  geben  sollen,  hiefür 
wertvolle  Anhaltspunkte  liefern ;  für  das  staatswirtschaftliche  Handeln  wären 
verlässliche  Aufschlüsse  solcher  Art  im  hohen  Grade  nützlich.  Für  die 
Zwecke  der  allgemeinen  Argumentation  kann  man  sich  indessen  wohl  mit 
einer  generellen  Feststellung  begnügen,  über  welche  Jederman  nach  seinen 
Lebenserfahrungen  sofort  ein  Urtheil  abzugeben  imstande  ist.  In  diesem 
Sinne  dürfen  wir,  ohne  Widerspruch  besorgen  zu  müssen,  für  die  oben 
unterschiedenen     allgemeinen     Bedürfnisgruppen     in     ihrer    Durchschnitts- 


25  fl.  sich  erhöhe  und  betrage  für  den  500— 476sten  Gulden  1,  für  den  475— 451sten 
Gulden  1*2,  für  den  450— 426sten  Gulden  1-5  u.s.  w.,  so  ergäbe  beiläufig  45-8  fl.  die  Wert- 
verhältniszahl 50.  Die  Steuern  der  beiden  verglichenen  Wirtschaftssubjecte  wären  folglich 
45-8  fl.  und  806  fl.,  d.  i.  9-16 o/^  und  16-12 O'^  anstatt  10%  und  20%.  Man  sieht,  es  ist 
durch  die  Wertung  des  ganzen  Gutscomplexes  der  Steuer  unter  der  gemachten  Voraus- 
setzung ein  Druck  auf  die  Progression  ausgeübt.  Da  wir  jedoch  zu  wenig  Genaues  über 
den  Gang  der  Wertabnahme  wissen,  so  ist  dies  sehr  unsicher.  Jedenfalls  wird  die  ver- 
hältnismässige Höhe  der  Progressionssätze  gegen  einander  im  Vergleich  zu  der- 
jenigen, welche  bei  der  Durchschnittsrechnung  resultiert,  nicht  sehr  geändert  und  da 
wir  es  hier  eben  nur  mit  der  Progression  hinsichtlich  der  relativen  Steueraustheilung 
zu  thun  haben,  so  erscheint  dies  als  ein  minder  wesentlicher  Punkt. 

^)  S.  im  Früheren  den  Schluss  von  Abschnitt  ü,  S.  53. 

2)  „Bei  gleichem  Güterbesitze  muss  der  Wert,  bei  verschiedenen  Individuen  oder 
in  der  Zeitfolge  bei  einem  und  demselben  Wirtschaftssubjecte  verglichen,  offenbar  sich 
verhalten  wie  der  jeweilige  Bedürfnisstand.  Je  höhere  Intensitätsgrade  dieser  im 
Ganzen  erreicht  und  je  mehr  Eegungen  er  einschliesst,  desto  höher  muss  sich  bei  einem 
bestimmten  Güterbestande  der  Wert  einsteUen."  Sax  „Grundlegung"  S.  260. 

7* 


100  Sax, 

gestaltung  die  Behauptung  der  erwähnten  fortschreitenden  Extension  aut 
Grund  einer  Beobachtung  aufstellen,  wie  sie  auch  Kob.  Meyer  a.  a.  0. 
verzeichnet. 

Das  sociale  Existenzminimum  umfasst  schon  mehr  Bedürfnisse  als  das 
physische:  der  bezügliche  Einkommensbetrag  ist  grösser  als  derjenige, 
welcher  nur  das  letztere  deckt.  Die  nächstfolgende  Gruppe  des  Standard  of 
life  des  Mittelstandes  weist  eine  erhebliche  Ausdehnung  der  einschlägigen 
Bedürfnisregungen  und  somit  der  zur  Befriedigung  nothwendigen  Summe 
auf.  Von  der  folgenden  Gruppe  der  individuellen  Gewohnheitsbedarfe  einer 
bürgerlichen  Existenz  im  Vergleiche  mit  der  vorgehenden  gilt  dasselbe  und 
so  weiter.  Je  schwächer  die  Bedürfnisse  werden,  desto  reichhaltiger  wird 
die  Zahl  ihrer  Kegungen  und  es  würden  schliesslich  letztere  ins  Unabseh- 
bare wachsen,  wenn  nicht  durch  die  Physis  dem  menschlichen  Begehrungs- 
vermögen ein  Ziel  gesetzt  wäre. 

Dieser  Thatbestand  bildet  für  die  Steuerprogression  das  Gegengewicht 
gegenüber  dem  anfangs  so  ungemein  starken  Abfalle  der  Intensität  von  einer 
Bedürfnisgruppe  zur  andern,  indem  er  einen  gleich  starken  Abfall  des 
Wertstandes  bei  den  betreffenden  Einkommensstufen  verhindert.  Das  Bild 
der  Progression,  welches  man  sich  lediglich  nach  dem  ersteren  Umstände 
machen  wollte,  wäre  also  ein  trügerisches.  Zufolge  jenes  in  entgegensetzter 
Eichtung  wirkenden  Momentes  wird  sie  eine  weit  sanftere  sein  müssen,  als 
es  auf  den  ersten  Blick  vielleicht  den  Anschein  hätte.  Stellen  wir  uns  die 
Steuerprogression  unter  dem  Bilde  einer  aufsteigenden  Treppe  vor,  deren 
Stufen  eine  zunehmende  verticale  Höhendifferenz  aufweisen.  Bei  gleicher 
Breite  der  Stufen,  die  uns  die  bezüglichen  Einkommen  repräsentieren,  würde 
von  der  Basis  zum  Gipfel  der  Treppe  eine  sehr  steile  Linie  resultieren. 
Wenn  jedoch  die  horizontale  Breitenausdehnung  der  Stufen  im  gleichen 
Maasse  mit  deren  verticaler  Höhendifferenz  zunähme,  so  käme  eine  weit 
weniger  steile,  eine  sanft  aufsteigende  Linie  zum  Vorschein. 

Neben  der  durchschnittlichen  Gestaltung  der  Bedürfnisstände  ist  — 
nebenbei  bemerkt  —  behufs  richtiger  Besteuerung  natürlich  auch  die  that- 
sächliche  individuelle  Gestaltung  zu  beachten.  Soweit  solche  allgemein  fass- 
bar wird,  wie  z.  B.  hinsichtlich  der  Anzahl  der  vom  Steuerträger  zu  ver- 
sorgenden Personen,  andauernder  Krankheit  etc.,  bedingt  dies  wieder  eine 
Modification  des  nach  der  Progression  sich  ergebenden  Steuerfusses,  während 
im  Uebrigen  die  indirecten  Steuern  dem  Einzelnen  es  gestatten  müssen, 
ihre  Steuer  den  individuellen  Wirtschaftsverhältnissen  anzupassen. 

c)  Endigung  der  Progression.  Bezüglich  der  hohen  und  höchsten 
Einkommen  gilt  das  vorhin  Bemerkte  ebenfalls.  Die  Ausdehnung  der  Be- 
dürfnisse schreitet  hier  vor  insbesondere  auch  durch  die  Einbeziehung  der 
Zukunft  in  das  gegenwärtige  wirtschaftliche  Handeln.  Die  jeweils  angeregte 
Sorge  um  Befriedigung  künftiger  Bedürfnisse  (des  Individuums  selbst,  sowie 
der  Nachkommen  und  anderer  Personen)  stellt  voraus  empfundene  Bedürf- 
nisse, also  Bedürfnisse  dar.  die  als  solche  schwächer  von  Intensität  sind 
als    die   präsenten  Bedürfnisse    gleicher  Art.     Die  Capitalisierung   von  Ein- 


Die  Progressivsteuer,  IQl 

kommen  ist  die  Verwendung  von  Gütern  für  solche  Bedürfnisse.  Durch 
diese  Einbeziehung  künftiger  Bedürfnisse  erfährt  der  Bedürfnisstand  eine 
Erweiterung,  welche  die  grössten  Dimensionen  annehmen  kann,  sich  dann 
aber  eben  auch  auf  Bedürfnisse  von  minimalen  Stärkegraden  erstreckt. 
Dieser  Umstand  in  Verbindung  mit  der  einleuchtenden  Folgerung,  dass,  da 
der  Bedürfnisgrad  nicht  auf  Null  sinken  kann,  von  einem  gewissen  Punkte 
niedriger  Bedürfnisintensität  an  die  Differenzen  der  durchschnittlichen 
Intensität  aufeinander  folgender  Bedürfnisgruppen  rasch  abnehmen  müssen 
und  somit  das  Verhältnis  der  umgekehrten  Proportionalität  der  Einkommen 
annehmen,  bedingt  schliesslich  die  Aufhebung  der  Progression  des  Wert- 
standes, was  folgerichtig  die  Progression  der  Steuer  zum  Stillstande  bringt. 
Auf  diese  Art  erledigt  sich  concludent  ein  Fragepunkt,  dessen  die  ältere 
Theorie  bekanntlich  nicht  Herr  zu  werden  vermochte.  Bei  welcher  Ein- 
kommensstufe das  Umschlagen  der  Progression  in  die  Proportionalsteuer 
eintritt,  kann  natürlich  ebenfalls  nicht  durch  den  Ausspruch  irgend  eines 
Theoretikers,  sondern  nur  durch  eine  sich  bildende  communis  opinio  be- 
stimmt werden.  Das  Ausklügeln  der  Formel  einer  Progression,  die  sich 
asymtotisch  der  Proportionale  nähert,  ohne  sie  je  zu  erreichen,  ist  daher 
eine  nicht  nur  überflüssige,  sondern  geradewegs  zweckwidrige  Mühe.  Das 
gilt  indes  wieder  nur  für  die  Steuer  an  sich.  Für  eine  Einkommen- 
steuer kann  eine  in  jener  Weise  verlaufende  endlose  Progression  aus  der 
Berücksichtigung  der  auf  je  eine  Einkommensstufe  entfallenden  Durchschnitts- 
quote indirecter  Steuern  folgen.  Indes  erscheint  das  aus  dem  rein  prakti- 
schen Grunde  nicht  gerade  nothwendig,  weil  bei  der  unvermeidlichen  Un- 
genauigkeit  der  Feststellung  der  hohen  Einkommen  eine  absolute  Eichtig- 
keit  der  bezüglichen  Steuerbeträge  ohnehin  nicht  zu  erzielen  ist,  was 
wieder  dann  nichts  verschlägt,  wenn  durch  eine  entsprechend  ausgestaltete 
Erbschaftssteuer  für  die  Steuernachholung  gesorgt  ist.  — 

Hiemit  sind  wir  am  Schlüsse  unserer  Ausführungen  angelangt,  welche 
die  Lösung  des  Problems  der  Progressivsteuer  im  Rahmen  der  relativen 
Steueraustheilung  mittels  der  ökonomischen  Steuerlehre  nachzuweisen 
bestimmt  waren.  Man  wird  nicht  leugnen  können,  dass  die  Lösung  eine 
ebenso  einfache  als  realistische  ist  und  dass  sie  die  Abwege  vollständig 
verschüesst,  auf  welche  andere,  unhaltbare  Theorien  zu  führen  geeignet 
sind.  Weitere  retrospective  Vergleiche  oder  nähere  Würdigung  der  erzielten 
Ergebnisse  sollen  hier  unterbleiben.  Mögen  die  letzteren  für  sich  selbst 
sprechen!  Sie  werden  damit  zugleich  Zeugnis  ablegen  für  eine  Theorie, 
welche  soeben  eine  förmliche  Umwälzung  in  der  nationalökonomischen 
Doctrin  überhaupt  hervorbringt:  die  psychologische  Wirtschaftslehre,  die 
trotz  äusserer  Hindernisse  in  geradezu  unwiderstehlichem  Siegeslaufe  sich 
die  allgemeine  Anerkennung  erobert. 


GßOSSBETßlEB  UND  PEODUCTIV 

GENOSSENSCHAFTEN. 


VON 


PROFESSOR  DR-  FRIEDRICH  VON  WIESER. 


I. 

„Die  Arbeitsmittel  für  die  Arbeiter!"  das  ist  die  letzte  Forderung  des 
heutigen  Socialismus.  Der  Beweis,  dessen  sich  die  heutigen  Socialisten  mit 
Vorliebe  für  diese  ihre  Forderung  bedienen,  ist  indes  keineswegs  schlüssig. 
„Aller  Ertrag  ist  Arbeitsertrag,  die  Arbeit  allein  ist  es,  die  alles  schafft,  die 
überhaupt  schaffen  kann",  „dem  Arbeiter  gebürt  der  Arbeitsertrag,  d.  i. 
der  ganze  Ertrag",  so  lauten  die  Prämissen,  aus  denen  der  Schluss  gezogen 
wird,  dass  dem  Arbeiter,  damit  er  des  ganzen  Ertrages  sicher  sein  könne, 
auch  die  Arbeitsmittel,  Land  und  Capital,  zugesprochen  werden  müssten. 
Zwischen  der  ersten  Prämisse  und  dem  Schlussatze  besteht  ein  auffälliger 
Widerspruch.  Wer  sagt,  dass  aller  Ertrag  von  der  Arbeit  herrühre,  dass 
also  Land  und  Capital  keinerlei  Ertrag  schaffen,  der  sagt  mit  andern  Worten, 
dass  Land  und  Capital  wertlos  seien.  Wer  aber  wird  wertlose  Dinge  fordern? 
Wenn  die  Socialisten  die  Arbeitsmittel  für  die  Arbeiter  fordern,  so  fordern 
sie  dieselben  um  ihres  Wertes  willen  und  erkennen  damit  an,  dass  die- 
selben mit  am  Ertrage  schaffen.  Sie  heben  daher  durch  ihre  Forderung 
selbst  stillschweigend  die  erste  Prämisse  auf,  aus  der  sie  ihre  Forderung 
ableiten. 

Neuestens  hat  Leo  Tolstoi  die  socialistische  Grundforderung  mit  aller 
Macht  der  Beredsamkeit  von  einem  anderen  Standpunkte  aus  vertreten. 
Dem  Arbeiter  müsse  das  Werkzeug  gehören,  weil  nach  der  Natur  der  Arbeit 
eben  Arbeiter  und  Werkzeug  zusammengehören.  Es  ist  unnatürlich,  sagt  er. 
wenn  die  Arbeitsmittel  dem  Arbeiter  nicht  gehören,  so  unnatürlich  und 
trotzdem  leider  so  oft  Wirklichkeit,  als  dass  Singvögel  mit  beschnittenen 
Flügeln  in  Käfigen  eingesperrt  leben.  Tolstoi  urtheilt  hiebei  nach  der  Natur 
der  Arbeit,  d.  h.  des  Menschen,  man  muss  indes  auch  fragen  nach  der 
Natur  des  Werkzeuges,  d.  h.  der  Dinge.  Das  Naturgesetz  der  meisten  Dinge 
aber  ist  der  Mangel,  man  kann  sie  nicht  haben  wie  man  will.  Der  Arbeiter, 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  103 

dem  die  Werkzeuge  und  sonstigen  Behelfe  fehlen,  erfährt  an  sich  nichts 
Anderes,  als  die  allgemeine  natürliche  Noth,  in  der  sich  schon  die  ersten 
Mensch  en  befanden,  die  umso  vieles  schlimmer  daran  waren,  weil  ihnen  überdies 
jeder  Unterricht  fehlte.  Wenn  heute  die  natürliche  Noth  grossentheils 
gemildert  ist,  wenn  Werkzeuge  und  Behelfe  da  sind,  so  sind  sie  nicht  bloss 
durch  Arbeit  da ,  sondern  ausserdem  durch  eine  zweite ,  ebenso  unent- 
behrliche Tugend  der  Wirtschaft,  durch  die  des  Zusammenhaltens  und 
Sparens.  Dem  Sparsinn  muss,  damit  er  wirke,  Belohnung  versprochen  und 
daher  auch  gegeben  werden,  und  daher  ist  es  ein  fruchtbarer,  unerlässlicher 
Rechtsgedanke,  dass  durch  Sparen  Eigenthum  erworben  werden  könne  und 
zwar  nach  dem  Sinne  des  Sparenden  selbst,  d.  h.  für  ihn  und  diejenigen,  die  er 
eben  bedenken  will,  für  die  er  spart,  vor  allem  also  seine  Kinder  und 
Kindeskinder.  Dieser  Gedanke  ist  erlaubt,  ist  geboten,  ist  sittlich,  wenn  er 
es  freilich  auch  nicht  aus  jedem  Munde  ist.  Der  mittellose  Bursche,  der  in 
einem  grossen  Unternehmen  Beschäftigung  findet,  kann  nicht  am  andern 
Tage  schon  seinen  Kopftheil  der  gesammten  Einrichtung  herausfordern.  Die 
Antwort  auf  ein  derartiges  Ansinnen  wird  in  den  meisten  Fällen  sehr  brutal 
lauten,  aber  der  Auswüchse  von  Roheit  entkleidet,  wird  sie  immer  einen 
gesunden  Grundgedanken  variieren,  dass  nämlich  eine  Thätigkeit  von  gestern 
her  keinerlei  Ansprüche  begründen  könne,  nachdem  die  Güter  der  Welt 
längst  in  Besitz  genommen  seien,  nachdem  wohlerworbene  Rechte  geachtet 
werden  müssten  und  nachdem  der  Betreffende  endlich  in  keiner  schlimmeren 
Lage    sei,   als  viele  vor  ihm.  die  es  doch  zu  etwas  gebracht  haben. 

Indes,  man  wird  nicht  leugnen  können,  dass  die  bäuerlichen  Besitzer 
und  der  bürgerliche  Mittelstand  innerhalb  ihrer  eigenen  Kreise  den  Gedanken 
„die  Arbeitsmittel  für  die  Arbeiter"  selber  in  weitem  Maasse  zur  Geltung 
gebracht  haben.  Nach  Bauernrecht  übergibt  der  Vater,  wenn  seine  Arbeitskraft 
zu  Ende  geht,  dem  Sohne  Haus  und  Land,  während  sich  im  städtischen 
Handwerk  fast  von  selbst  die  Folge  einstellt,  dass  es  dem  gehört,  der  es 
ausüben  kann.  Es  ist  ein  durchaus  verwandter  Zustand,  wenn  in  den  höheren 
Arbeitsberufen,  die  von  den  gebildeten  Classen  ergriffen  werden,  der  Regel  nach 
jedermann  um  die  Jahre,  wo  er  in  der  Blüte  seiner  Kraft  ist,  auch  in  die  volle 
Gelegenheit  eintritt,  Amt  oder  Beruf  auszuüben  und  Verdienst  zu  gewinnen. 

Das  Gleichgewicht  zwischen  Arbeitskraft  und  Arbeitsgelegenheit,  das 
im  Gewerbe  so  lange  herschte,  ist  erst  in  der  jüngsten  Zeit  durch  die  Aus- 
breitung des  Grossbetriebes  empfindlich  gestört  worden.  Den  Lohnarbeitern 
in  der  Fabrik  ist  die  Aussicht  auf  vollste  Verwertung  ihrer  Arbeitskraft  im 
alten  hergebrachten  Sinne  benommen.  Sie  rücken  niemals,  wie  es  der 
Handwerksgeselle  in  den  guten  Tagen  des  Handwerks  erwarten  konnte,  wie 
es  heute  noch  jeder  erwartet,  der  Medicin  oder  die  Rechte  studiert,  in  die 
volle  Arbeitsgelegenheit  auf,  sie  bleibe^  stets  auf  der  niedrigsten  Stufe  und 
unselbständig,  wie  die  Knechte  des  Bauern.  Was  sich  aber  in  der  bäuerlichen 
Enge  von  selbst  versteht  und  übrigens  durch  die  mehr  patriarchalischen 
Sitten  des  gutbäuerlichen  Lebens  minder  drückend  wird,  wird  in  der  auf- 
blühenden,   modern   lebenden   Industrie    zum    schmerzenden   Missverhältnis. 


104  Wieser. 

Niemals  ist  industrielle  Arbeit  in  solcher  Stärke  die  Quelle  der  Vermögens- 
bildung gewesen,  wie  heute,  nur  dass  diese  Quelle  heute  ausschliesslich  für 
den  Einen  oder  die  Wenigen  an  der  Spitze  fliesst,  während  sie  für  die 
grosse  Masse  der  Mitwirkenden  verstopft  ist. 

Die  Socialisten,  um  das  Gleichgewicht  zwischen  Arbeitskraft  und  voller 
Arbeitsgelegenheit  an  dem  Punkte,  wo  es  gestört  wurde,  wiederherzustellen, 
wollen  fast  die  ganze  wirtschaftliche  Welt  aus  den  Fugen  heben.  Es  fragt 
ich  aber,  ob  es  nicht  möglich  ist,  die  Cur  besser  zu  localisieren  und  Maass- 
regeln zu  ersinnen,  die  sich  auf  den  Ort  der  Erkrankung  beschränken. 

Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  dass  kleine  Mittel  genügen  könnten, 
um  die  „sociale  Frage"  zu  „lösen".  Die  „sociale  Frage"  ist  überhaupt  nicht 
zu  „lösen",  nur  die  Flachheit  der  modernen  Sprache  legt  uns  solche  Worte 
in  den  Mund  und  mit  ihnen  solche  „Gredanken"  in  den  Sinn.  Das  Opfer 
eines  Gottes  kann  die  Menschen  von  der  Erbsünde  befreien,  aber  niemals 
wird  eines  Menschen  Witz  uns  von  unserem  Erbübel,  der  Noth,  befreien. 
Das  sociale  Uebel  ist  die  uralte  Menschennoth,  der  Kampf  um  das  täg- 
liche Brot,  von  dem  die  wenigen  Reichen  enthoben  sind  und  in  den  die 
vielen  Armen  sich  um  so  tiefer  verstrickt  fühlen.  Um  uns  von  diesem 
üebel  zu  erlösen,  muss  die  Natur  erst  ergiebiger  gemacht  werden  —  dazu 
gehört  die  vereinigte  Anstrengung  unzähliger  Forscher  und  Arbeiter;  und, 
was  die  noch  grössere  Aufgabe  ist,  die  sich  auf  noch  grössere  Zeitperioden 
und  auf  noch  mehr  Köpfe  und  Schultern  vertheilt,  die  Völker  müssen  erst 
in  Wahrheit  zu  Culturvölkern  erhoben  werden.  Statt  der  Masse  oder  gar 
des  Pöbels  mit  den  wenigen  Selbständigen  und  Gebildeten  muss  es  wieder 
„das  Volk"  geben,  eine  Bürgerschaft  durch  und  durch  gesund,  so  wie  wir 
es  von  den  auserlesenen  Volksstämmen  glauben,  aus  denen  die  welt- 
beherrschenden Nationen  hervorgegangen  sind.  Heute  ist  jede  Nation  zer- 
rissen, wir  wollen  nur  nicht  daran  denken,  dass  es  so  ist.  Was  man  hoch- 
tönend Nationalliteratur  und  nationale  Kunst  nennt,  ist  der  Luxus  eines 
kleinen  Kreises,  der  Masse  so  unbekannt,  dass  die  Namen  der  gefeiertsten 
Meister  ihr  einfach  nichts  bedeuten.  Ich  glaube,  dass  ein  wenig  Nachdenken 
über  den  geschichtlichen  Verlauf  der  Dinge  uns  zu  der  traurigen  üeber- 
zeugung  bringen  muss,  dass  gerade  das  Wachsthum  der  Bildung  die 
wichtigste  Ursache  gewesen  ist,  um  die  alte  Einheit  des  Volks  zu  zer- 
reissen  und  die  Masse  den  Wenigen  so  tief  unterzuordnen,  wodurch  der 
sociale  Gegensatz  von  heute  bedingt  ist.  Wie  die  gelehrte  und  amtliche 
Jurisprudenz  das  Volk  um  seinen  Antheil  an  der  Eechtssprechung  gebracht 
hat,  so  hat  die  steigende  Bildung  dem  Volke  gegenüber  allenthalben  in 
Sitte.  Kunst,  Technik,  Politik  gethan.  Die  verzweifelten  Versuche  der 
zurückgedrängten  Menge  wurden,  z.  B.  in  den  Bauernkriegen,  mit  Gewalt 
niedergeschlagen.  An  unserer  Cultur  haftet  Blut,  das  nur  gesühnt  werden 
kann,  wenn  sich  die  Cultur  verallgemeinert  und  diejenigen  zu  sich  empor- 
hebt, die  als  Sprossen  der  Leiter  dienen  mussten.  Für  die  Mittelclasse  ist 
das  zum  Theile  bereits  geschehen,  nun  soll  es  auch  für  den  vierten  Stand 
geschehen.     Was    aber   bedarf  es   nicht   hiezu?     Unsere  Cultur  ist  fremd- 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  105 

ländischen  Ursprunges  und  ist  noch  immer  wie  ein  fremder  Tropfen  in 
unserem  Blute.  Noch  heute  wird  sie  mit  Absicht  fremdartig  gehalten,  um 
als  Unterscheidungsmerkmal  zu  dienen.  Sie  muss  erst  volksthümlich 
werden,  bevor  sie  dem  Volke  mitgetheilt  werden  kann,  sie  muss  erst  so 
reif  werden,  dass  sie  volksthümlich  sein  kann.  Etwa  wie  die  grosse 
Literaturbewegung  des  vorigen  Jahrhunderts  zur  Volkspoesie  zurückstrebte, 
um  sich  zu  reinigen  und  zu  erheben,  muss  eine  neue  noch  viel  grössere 
Bewegung  das  innerste  Herz  des  Volkes  erwärmen  und  seine  stärksten  und 
tiefsten  Gefühle  zu  Worte  bringen.  Wann,  in  wie  fernen  Jahrhunderten, 
wird  das  sein  können?  Und  wird  viel  anderes,  noch  Grösseres,  sein  können, 
was  auch  noch  geschehen  muss,  damit  der  Traum  des  Culturvolkes  erfüllt 
sei?  Nicht  früher  aber  als  all  dies  geschehen  sein  wird,  wird  die  sociale 
Ungleichheit  gänzlich  verschwunden  sein. 

Die  Erlösung  vom  socialen  Uebel  wird  daher  vor  allem  das  Verdienst 
solcher  Männer  sein,  deren  Genie  die  grossen  Erhebungen  in  Geist  und 
Gemüth  erweckt,  durch  die  die  Weltgeschichte  sich  wendet.  Sie  werden, 
ohne  es  zu  wissen,  auch  die  wirthschaftlichen  Eetter  werden. 

Es  wäre  aber  schlimm,  wollten  alle  anderen,  die  sich  zu  einem  so 
hohen  Werke  nicht  berufen  fühlen,  deshalb  die  Hände  in  den  Schoss 
legen.  Auf  dem  Boden,  den  die  culturelle  Ungleichheit  des  Volkes  ge- 
schaffen hat,  ist  das  sociale  Uebel  durch  besondere  wirtschaftliche  Ursachen 
weiter  ausgebildet,  durch  den  Grossbetrieb  namentlich  erst  gross  geworden. 
Besondere  wirtschaftliche  Hilfsmaassregeln,  fachmännisch-nationalökonomi- 
scher Rath  ist  da  so  imentbehrlich  als  der  Arzt  es  bei  dem  Kranken  ist, 
dessen  Krankheit  durch  die  Welt  oder  die  Liebe  mitverursacht  wurde  und 
nur  wiedemm  durch  sie  vollständig  geheilt  werden  kann.  Und  wie  der 
Arzt  muss  auch  der  Natioaalökonom,  mag  er  die  weiten  Zusammenhänge 
des  Leidens  noch  so  wohl  begi-eifen,  dennoch  darauf  achten,  dass  er,  mit 
seinen  künstlichen  Mitteln,  in  den  Organismus  nicht  zu  tief  eingreife,  damit 
er  nicht  zerstöre  wo  er  helfen  soll. 


n. 

Mit  dem  Grossbetriebe,  haben  wir  gesagt,  ist  das  sociale  Uebel  erst 
so  gi'oss  geworden.  Der  Gebrauch  der  Maschinen  und  des  sonstigen  indu- 
striellen Grosscapitales  hat  zur  Anhäufung  der  Arbeiter  und  damit  zur  Ver- 
kümmerung ihrer  natürlichen  Lebensbedingungen  geführt;  ferner  hat  er  eine 
neue  Versuchung  zur  Ausbeutung  der  Arbeitskraft  gegeben,  die  stärkste, 
die  bisher  in  den  Ländern  der  gemässigten  Zone  zu  überwinden  war,  wo 
die  Bebauung  des  Bodens  niemals  zu  starke  Anforderungen  an  die  mensch- 
liche Kraft  gestellt  hatte;  endlich  hat  der  industrielle  Grossbetrieb  die 
kleinen  und  mittleren  Meister  verdrängt  und  den  Gegensatz  der  Fabriks- 
arbeiter  und  der  grossen  Unternehmer  geschaffen,  einen  socialen  Gegensatz, 
der  schärfer  und  gefährlicher  wurde  als  der  von  Grundherrn  und  Bauern 
jemals  gewesen  ist. 


106  Wieser. 

Die  Geschichtschreibung  der  modernen  Volkswirtschaft  hat  viel  und 
schweres  Anklagematerial  wider  den  Grossbetrieb  gesammelt  und  wird  noch 
mehr  finden.  Zu  einem  gerechten,  abschliessenden  Urtheile  wird  erst  eine 
vielleicht  noch  entfernte  Zukunft  kommen,  bis  der  ganze  Process  mit  all 
seinen  guten  und  üblen  Folgen  durchgemacht  sein  wird.  Jedenfalls  ist  es 
ein  schweres  Unrecht,  wenn  man  aus  dem  „objectiven  Verfahren"  wider  den 
Grossbetrieb  ein  subjectives  wider  die  Personen  der  grossen  Unternehmer 
macht.  Selbstverständlich  kann  man  für  die  Ausschreitungen  einzelner 
nicht  den  ganzen  Stand  verantwortlich  machen;  was  aber  den  Stand  im 
ganzen,  anbelangt,  so  wird  man  anerkennen  müssen,  dass  die  Unternehmer 
moralisch  nach  den  Begriffen  der  Zeit  gehandelt  haben,  im  Sinne  der  allge- 
mein geltenden  Idee  des  Privateigenthumes,  und  dass '  sie  technisch  und 
organisatorisch  mit  unter  den  Führern  ihrer  Zeit  gewesen  sind.  Licht  und 
Schatten  sind  in  den  Wirkungen  des  Grossbetriebs  so  vertheilt,  dass  es 
begreiflich  ist,  wenn  diejenigen,  die  ihr  Interesse,  ihre  Begabung  und  die 
Gunst  der  Gelegenheit  zu  Unternehmern  macht,  vom  Lichte  geblendet 
werden  und  vom  Schatten  nichts  wahrnehmen.  Ihr  persönliches  Gefühl  darf 
mit  Kecht  ein  gutes  sein,  sie  dürfen  sich  in  dem  Bewusstsein  stolz  fühlen, 
dass  sie  nicht  bloss  für  sich  gewirkt  haben,  sondern  auch  noch  für  so 
viele  andere,    denen  durch  sie  Arbeit  und  Verdienst  beschafft  worden  ist.  ^ 

Vielleicht  wird  das  Urtheil  der  Zukunft  noch  günstiger  lauten.  "Welche 
Sachlage  ist  es  gewesen,  die  der  beginnende  moderne  Grossbeti'ieb  vorge- 
funden hat?  Das  Gewerbe  hatte  bis  dahin  der  Stadt  angehört:  was  an 
„Manufactur"  draussen  auf  dem  Lande  war,  zeigte  sich  keineswegs  im 
günstigen  Lichte.  In  der  Stadt  hatte  das  Gewerbe,  trotz  seines  theilweisen 
Verfalles,  eine  grosse  civilisatorische  Leistung  vollzogen,  es  hat  die  Stadt 
geschaffen  mit  ihrer  bürgerlichen  Freiheit,  mit  bürgerlichem  Wohlstand, 
mit  bürgerlicher  Sitte.  Weiter  ist  das  alte  Gewerbe  indes  nicht  gekommen 
und  es  konnte  bei  seiner  technischen  Beschränktheit  nicht  weiter  kommen, 
es  hat  seine  Wirkungen  auf  das  Land  und  die  Massen  ländlichen  Proletariates 
nicht  ausgedehnt.  Aus  diesen  Massen  hat  der  moderne  Grossbetrieb  seine 
ersten  Kecruten  geworben,  die  ihm  freiwillig  in  Scharen  zuströmten,  um- 
so zahlreicher,  je  mehr  in  seinem  Gefolge  die  Bevölkerungen  anwuchsen. 
Wenn  es  ihm  nun  gelänge,  an  diesen  Massen  die  befreiende,  civilisatorische 
Macht  des  Gewerbes  trotz  allem  schliesslich  doch  wiederum  zu  bewähren? 
Die  Aufgabe  ist  eine  ungeheure,  und  der  Anfang  kann  nicht  anders  als 
schwer  sein.  Die  Zustände  mancher  weiter  fortgeschrittener  Länder  lassen 
indes  eine  solche  Hoffnung  nicht  ganz  unbegründet  erscheinen.  Was  war 
der  englische  Arbeiter  zu  Anfang  des  Jahrhunderts?  Und  was  ist  wenigstens 
der  gelernte  englische  Arbeiter  heute?  Hat  er  ein  Kecht,  den  Grossbetrieb 
zu  verdammen  und  zu  behaupten,  dass  dieser  ihm  zu  Schaden  ausge- 
schlagen sei? 

Wie  immer  das  Endurtheil  der  Geschichte  ausfallen  möge,  so  muss 
man  heute  schon  sagen,  dass  der  Grossbetrieb  nicht  mehr  ganz  ist,  was  er 
war,  dass  das  Grosscapital  nicht  mehr  ganz  ist,  was  es  war.    Im  Anfange, 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  107 

in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts,  zu  Beginn  der  industriellen  Aera, 
war  man  arm  an  Capital,  heute  ist  man  vergleichsweise  reich.  Das  Capital 
zu  sparen  und  zu  mehren,  galt  damals  als  der  oberste  Grundsatz  volks- 
wirtschaftlicher Weisheit,  welchen  Theoretiker  und  Staatsmänner  vor  allen 
andern  hoch  hielten,  selbst  die  Steuergesetze  wurden  ihm  unterworfen. 
Was  schien  neben  der  kostbaren  Maschine  die  menschliche  Arbeitskraft  zu 
gelten,  die  nach  Belieben  zu  haben  war!  War  es  nicht  erklärlich,  dass 
man  Arbeit  nicht  schonte,  um  die  Maschinen  zu  nützen!  dass  man  die 
Nacht  zum  Tage  machte  und  die  Kinder  und  Frauen  zum  industriellen 
Dienst  presste!  Zum  erstenmale  hatte  man  eine  Technik,  die  Grosses  leisten 
konnte,  fast  unabhängig  von  der  Gunst  des  Klimas,  vom  Gange  der  Jahres- 
zeiten, vom  Lichte  des  Tages,  deren  Kräfte  sich  unabsehbar  steigern  und 
auf  dem  beschränktesten  Räume  ins  Riesenhafte  aufthürmen  Hessen.  Verstand 
und  Gewissenhaftigkeit  mochten  da  bethört  werden,  umsomehr  kühner 
Unternehmungssinn  und  rohe  Gewinnsucht.  Erst  die  schauerlichen  Erfahr- 
ungen, bis  zu  welchen  Abgründen  von  Grausamkeit,  bis  zu  welcher  Bedrohung 
des  Volksthumes  die  Geringschätzung  der  Arbeitskraft  führen  konnte,  geboten 
auf  diesem  Wege  halt.  Die  Gesellschaft,  die  Regierung,  die  ehrenhaften 
Unternehmer  kamen  zur  Besinnung,  und  Maassregeln  wurden  in  immer 
grösserem  Umfange  ergriffen  zum  Schutze  der  Arbeitskraft  des  Volkes,  von 
der  man  einsehen  lernte,  dass  sie  trotz  allem  das  wertvollste  wie  auch 
das  empfindlichste  Besitzthum  der  Wirtschaft  sei.  Die  überaus  rasche 
Steigerung  der  Capitalbestände,  die  nicht  selten  soweit  gieng,  dass  die 
Eigenthümer  um  lohnende  Verwendung  derselben  verlegen  waren  und  sich 
zu  den  waghalsigsten  Unternehmungen  entschlossen,  half  ihrerseits  dazu, 
die  Wertschätzung  des  Capitales  zu  mindern.  Ein  bemerkenswertes  Symptom 
hiefür  ist  darin  zu  finden,  dass  man  mehr  und  mehr  anfieng,  seine  Zinsen 
und  Renten  zu  besteuern.  Man  hörte  auf  zu  fürchten,  dass  man  hiedurch 
den  zarten  Trieb  der  Gapitalansammlung  schwächen  und  die  gesammelten 
Vorräthe  verscheuchen  könnte,  man  fieng  im  Gegentheile  an  zu  glauben, 
hiemit  erst  die  ausdauerndste  Steuerquelle  erschlossen  zu  haben. 

Die  Eabriksgesetzgebung  und  die  sonstigen  Maassregeln  des  Arbeiter- 
schutzes im  Grossbetriebe  hatten  guten  Erfolg.  Es  ist  ein  völliger  Irrthum, 
wenn  auch  heute  noch  das  Los  der  im  Grossbetriebe  dienenden  Arbeiter 
schlechthin  als  das  beklagenswerteste  bezeichnet  wird.  So  viel  Elend  in 
Bergwerken  und  Fabriken  eingeschlossen  ist,  so  gehen  gerade  aus  grossen 
Betrieben  die  bestgestellten  und  tüchtigsten  Arbeiter  hervor.  Hier  kann  am 
meisten  für  gesunde  Arbeitsräume,  für  Wohlfahrtseinrichtungen  aller  Art, 
für  Aufsicht  und  bei  dem  günstigen  Geschäftsgange  gerade  so  vieler  gross- 
industrieller Unternehmungen  auch  für  Besserung  der  Löhne  und  Arbeits- 
bedingungen gethan  werden.  Der  Handwerksmeister,  selber  auf  das  schwerste 
bedrückt,   kann   nicht   anders    als  seine  Arbeiter  noch  schwerer  bedrücken. 

Ausserdem  hat  der  Grossbetrieb,  wenn  auch  ohne  Absicht,  die  Arbeiter 
organisiert.  Er  hat  sie  durch  die  neue  Weise  der  Beschäftigung  vielfach 
intellectuell  gehoben,  -  eine  Behauptung,    die  allerdings  auf  Widerspruch 


10g  Wieser. 

stossen  wird  —  vor  allem  aber  hat  er  sie  in  Massen  zusammengebracht 
und  ihnen  damit  das  Kraftgefühl  der  Masse  gegeben,  aus  dem  sie,  die 
bisher  nur  vom  Muthe  der  Verzweiflung  angetrieben  waren,  den  höheren 
Muth  der  Hoffnung  und  Thatkraft  gewannen.  Sie  bildeten  Vereine,  schulten 
sich  in  denselben  für  die  Massenbewegung  und  wurden  durch  dieselben 
rührig  und  mächtig.  Der  kühne  Gedanke  konnte  entstehen,  dass  den  Arbeiter- 
heeren kein  Gegner  gewachsen,  dass  sie  die  Erben  der  Zukunft,  und  dass 
jeder  neue  Sieg  der  Grossindustrie  über  die  kleinen  Meister  ein  Pyrrhussieg 
wäre,  der  nur  die  Macht  der  Arbeiterschaft  steigerte.  Wer  da  glaubt,  dass 
die  sociale  Bewegung  von  heute  zunimmt,  weil  die  Leiden  der  Arbeiter 
zunehmen,  der  sieht  die  Welt  schlecht,  in  der  er  lebt.  Was  sie  antreibt, 
ist  vor  allem  das  erhöhte  Kraftgefühl,  zuerst  lange  im  hartnäckigsten 
Widerstände  und  nun  auch  schon  in  allmählichen  Angriffen  erprobt,  und  es 
ist  der  Grossbetrieb,  dem  sie  dieses  Gefühl  verdanken. 

Ich  glaube,  dass  der  Grossbetrieb  die  Organisation  der  Volkswirtschaft 
noch  in  einem  andern  höheren  Sinne  vervollkommnet  hat.  Unsere  Volkswirtschaft 
ist  nicht  genau  das,  was  der  Name  besagt.  Sie  ist  nicht  die  Wirtschaft  des 
Volkes,  sie  ist  vielmehr  die  der  einzelnen  Volksbürger,  die  jedoch  bei  der  Produc- 
tion  durch  Arbeitsth eilung,  Concurrenz  und  eine  Keihe  anderer  ebenso  wichtiger 
Einflüsse  mit  zwingender  Macht  zusammengehalten  werden,  freilich,  da  die 
volle  Einheit  fehlt,  nur  mit  zahlreichen  Eeibungen,  Lücken,  Ungleichmässig- 
keiten,  üebergriffen  und  Eückschlägen.  In  diese  Unordnung  Ordnung  zu 
bringen,  gerade  das  ist  ja  eine  der  Hoffnungen  des  Socialismus.  Nun,  jeder 
Grossbetrieb  hat  für  seinen  Bereich,  was  das  Technische  anbelangt,  bereits 
Ordnung  geschaffen.  Innerhalb  jeder  ausgedehnten  Fabrik  wird  die  Arbeits- 
theilung  bis  aufs  äusserste  ausgenützt,  ohne  irgendwie  übertrieben  zu  werden, 
denn  alle  Theilarbeiten  werden  in  ihren  Maassen  fort  und  fort  gegenein- 
ander abgewogen.  Ebenso  wirkt  die  Concurrenz  —  die  ein  Arbeiter  dem 
anderen,  der  bessere  Arbeiter  zumal  dem  schlechteren  bereitet  —  ohne  doch 
technisch  ausarten  zu  können.  Man  verlangt,  dass  die  Arbeit  ein  Amt  sein 
solle,  also  mit  einein  bestimmten  Arbeitsauftrag  für  jeden  zur  Arbeit  Be- 
stellten und  mit  gesicherter  Stellung  für  ihn;  die  Socialisten  glauben  ihren 
Staat  daraufhin  einrichten  zu  können.  Ist  es  aber  nicht  deutlich,  dass  der 
Weg  des  Grossbetriebes  ebendahin  führt  und  schon  ein  ansehnliches  Stück 
weit  geführt  hat?  Wo  sich  die  kleinen  Unternehmer  wechselseitig  befehden 
und  gefährden,  sichert  der  Grossbetrieb  heute  schon  wenigstens  den  höheren 
Augestellten,  den  Beamten,  die  Dienstesposten.  Auch  für  die  geringeren 
Arbeiter  sind  zahlreiche  Vorsorgen  getroffen,  und  ungleich  mehr  würden 
zweifelsohne  getroffen  sein,  wenn  die  Grossunternehmungen  nach  aussenhin 
selber  gesicherter  wären.  Die  Lage  des  Marktes  wechselt,  und  damit  wechselt 
noth wendigerweise  die  Zaiü  ihrer  Angestellten,  denen  bindende  Zusicherun- 
gen daher  noch  nicht  mit  genügendem  Vertrauen  gemacht  werden  können, 
um  wie  vieles  auch  der  Grossbetrieb  hiefür  günstiger  disponiert  ist  als  der 
mittlere  und  kleine,  bei  dem  die  Scliwankungen  der  Arbeiterzahl  vergleichs- 
weise viel  tiefer  eingreifen.     Aber  selbst  die  Marktlage  wird  vom  Grossbe- 


Grossbetrieb   und  Productivgenossenschaften.  109 

triebe  doch  eher  beherrscht;  der  Grossbetrieb  hatin  der  modernen  Volkswirtschaft 
zuerst  und  vielfach  mit  grossem  Erfolge  in  seinen  Cartellen  ein  Mittel  ge- 
funden, um  zum  mindesten  dem  üebermaasse  der  Concurrenz  zu  begegnen. 
So  viel  sich  auch  wider  die  Cartelle  sagen  lässt,  sie  sind  jedenfalls  ein 
bemerkenswertes  Zeichen  für  die  organisatorische  Kraft,  die  die  grossen  Unter- 
nehmungen im  Chaos  der  Volkswirtschaft  bewähren,  und  die  hierin,  aus 
dem  Umkreise  der  Fabriksmauern  heraustretend,  in  die  Ferne  und  ins 
Grosse  wirkt.  Das  wirtschaftliche  Gleichgewicht  der  europäischen  Staaten 
verschiebt  sich  heute,  wie  die  industrielle  Entwickelung  vom  Westen  aus 
nach  und  nach  den  Osten  ergreift  und  concurrenzfähig  macht.  In  nicht 
minderem  Maasse  verschiebt  sich  das  Gleichgewicht  der  Weltwirtschaft  durch 
die  neuen  Länder,  die  das  „europäische  Concert"  des  Vormärz  sprengen. 
Das  macht  die  gewaltigsten  Erschütterungen  des  Warenmarktes  und  schliess- 
lich auch  des  Arbeitsmarktes,  hier  ist  die  wahre  wenn  auch  entfernte 
Quelle  so  manchen  Uebels,  das  die  öffentliche  Stimme  ungerechterweise 
solchen  Einrichtungen  zuschreibt,  die  näher  im  allgemeinen  Gesichtskreise 
liegen.  Wäre  dieser  ungeheure  Process  abgespielt,  wäre  der  Vorsprung  der 
altbesiedelten  und  cultivierten  Länder  von  den  jüngeren  und  zurückgeblie- 
benen vollends  eingeholt  und  das  wirtschaftliche  Gleichgewicht  der  Welt 
im  Sinne  der  gegebenen  Vertheilung  der  Bodenschätze  und  der  nationalen 
Urkräfte  hergestellt,  dann  erst  könnte  auch  der  Grossbetrieb  seine  organi- 
satorischen Keime  vollends  ausbilden  und  insbesondere  seinen  Arbeitern 
Arbeit  und  Verdienst  zusichern,  ohne  durch  Eückkehr  zu  zünftischem  Zwang 
oder  sonstwie  die  modernen  Forderungen  freien  Verkehrs  zu  verletzen.  Die- 
jenigen Grossunternehniungen,  die,  wie  z.  B.  die  Eisenbahnen  vielfach, 
durch  ihre  Eigenart  eine  Art  monopolistischer  Sicherung  vor  den  Störungen 
der  Concurrenz  empfiengen,  haben  alle  längst,  wenn  vielleicht  auch  noch 
nicht  in  ganz  genügendem  Maasse,  ihre  Arbeiter  gesichert,  die  sie  als  „Diener" 
bestellen  mit  Hechten,  welche  sich  den  Beamtenrechten  annähern. 

Wo  die  Volkswirtschaft  nur  aus  kleinen  Betrieben  besteht,  ist  ihr 
Körper  gleichsam  durch  eine  Unzahl  fast  atomistisch  kleiner  Einzelzellen 
gebildet,  die,  mit  einem  im  Grunde  gesunden,  aber  doch  viel  zu  wenig 
geschärften  Listincte  einander  anziehend  und  abstossend,  sich  zu  einem  unvoll- 
kommenen Ganzen  vereinigen.  Der  Grossbetrieb  bedeutet  ein  umfangreicheres 
und  höher  organisiertes  Zellengebilde,  in  welchem  die  individuellen  Instincte 
dennoch  nicht  verkümmert  sind,  so  dass  der  Zusammenschluss  des  Ganzen 
ungleich  vollkommener  geräth.  Manche  Techniker  sind  der  Ansicht,  dass  es 
möglich  oder  wahrscheinlich  ist,  Kleinkraftmaschinen  zu  construieren,  die 
den  maschinellen  Vorrang  des  Grossbetriebes  aufheben.  Gelänge  das,  und 
würden  die  grossen  Unternehmungen  infolge  dessen  oder  infolge  anderer 
technischer  Wendungen  sich  wieder  in  kleinere  und  kleinste  zersetzen, 
dann  würden  wir  erst  mit  einemmale  eine  Gefahr  darin  sehen,  zu  diesen 
einfachsten  socialen  Bildungen  zurückzukehren.  Könnte  man  in  Deutschland 
den  Gedanken  fassen,  aus  der  Ordnung  der  Grosstaaten  wieder  in  die  alte 
Kleinstaaterei  zurückzufallen  ?  Gewiss  müsste  man,  wenn  die  Technik  sich  so 


IIQ  Wieser. 

wendete,    alles  aufbieten,    um    die    organisatorischen   Errungenschaften   des 
grossen  Betriebes  für  den  neuen  Zustand  zu  retten  und  auszunützen. 

Mit  alledem  soll  dem  Grossbetriebe  so  wie  er  ist  nicht  schlechthin 
das  Wort  geredet  werden.  Er  hat  so  wie  er  ist  noch  andere  Wirkungen, 
die  mit  Recht  als  ungeheuere  Uebel  empfunden  werden.  Er  zersetzt  den 
wirtschaftlichen  Mittelstand  und  schafft  den  Gregensatz  von  capitalistischen 
Unternehmern  und  Lohnarbeitern.  Während  das  Grosacapital  in  seinen  An- 
fängen dem  physischen  Befinden  des  Arbeiters  gefährlicher  war  als  später 
und  heute,  so  ist  umgekehrt  seine  Kraft,  die  wirtschaftliche  Selbständig- 
keit der  andern  Classen  zu  brechen,  immer  gestiegen  und  heute  am 
grössten.  Sein  Machtkreis  hat  sich  immer  mehr  ausgedehnt,  immer  mehr 
Existenzen  sind  ihm  unterthan  worden.  Das  ist  aber  noch  nicht  alles. 
Früher  sind  gar  viele  Unternehmer  durch  ihr  Genie  aus  kleinen  Anfängen 
reich  geworden,  man  hat  berechnet,  dass  die  industriellen  Reich  thümer 
grossentheils  so  entstanden  sind.  Heute  ist  dem  aufstrebenden  capitallosen 
Anfänger  durch  die  riesigen  Summen,  die  bereits  industriell  investiert  sind, 
der  Weg  ganz  anders  verlegt,  er  wird  die  Concurrenz  des  mittelmässig 
begabten  Erben  eines  alten  Grossgeschäftes  nur  schwer  besiegen  können. 
Wurden  vordem  häufig  genug  grosse  Anstalten  durch  nichts  anderes  wie 
die  Begabung  ihrer  Urheber  begründet,  so  beginnt  jetzt,  in  der  Zeit  der 
ausgebildeten  Kunst  der  Börsengründungen,  die  grosse  Actiengesellschaft 
ihren  Lebenslauf  einfach  damit,  dass  man  das  Capital  zusammenbringt. 
Die  teQhnischen  Probleme  sind  gegeben,  ebenso  die  technischen  Lösungen, 
Ingenieure  und  commerzielle  Leiter  von  ausgezeichneter  Schulung  sind 
zu  kaufen  gerade  wie  die  Dienste  des  untergeordneten  Personales,  das 
einzige,  was  in  Frage  steht,  ist  oft  nur  das  genügende  Capital,  Gelingt  es 
dasselbe  aufzubringen,  so  ist  alles  gethan.  Es  zwingt  in  seinen  Dienst  wie 
die  gemeine  ausführende,  so  auch  die  leitende  geistige  Arbeit.  Wer  Geld 
besitzt,  ist  Eisenbahnunternehmer,  Kohlengewerke,  Maschinenfabrikant, 
Baumwollspinner  oder  welche  Art  Grossindustrieller  er  eben  sein  will,  und 
all  dies,  ohne  irgend  etwas  davon  zu  verstehen  noch  einen  Finger  dazu 
zu  rühren.  Wie  seit  jeher  schon  den  Grundbesitz,  erbt  man  heute  auch 
das  Gewerbe,  das  bisher  in  den  germanischen  Ländern  immer  dem  vor- 
behalten war,  der  sich  ihm  mit  seiner  Person  und  seiner  Arbeit  widmete. 
Wer  auf  solche  Weise  Actionär  wird,  verdient  freilich  fast  niemals  den 
vollen  Gewerbsgewinn,  weil  er  die  Actie  verhältnismässig  theuer  bezahlen 
muss,  indes  kommt  der  Vortheil  aus  seiner  erhöhten  Einzahlung  doch  nicht 
einem  Gewerbsmann,  sondern  wiederum  einen  Geldmann,  dem  Bankier,  zu- 
gute, dessen  wirtschaftliche  Leistung  darin  besteht,  das  Capital  zusammen- 
zubringen und  bis  zur  vollen  Placierung  der  Actien  aus  seinen  Geschäfts- 
mitteln, die  keineswegs  immer   seine    eigenen  Mittel   sind,    vorzuschiessen. 

Die  Zersetzung  des  gewerblichen  Mittelstandes  durch  das  Grosscapital 
gehört  zu  den  beklagenswertesten  Erscheinungen  unserer  Zeit;  für  mein 
Urtheil  mit  aus  dem  Grunde,  weil  wiederum  eines  der  volksthümlichen 
Elemente  des  Volkes  in  die  Tiefe  hinabgedrängt  wird,  in    das  Massengrab, 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  Hl 

in  dem  das  mittelalterliche  Volk  modert.  Allerdings  bedeutet  dieser 
Process  der  Zersetzung  des  gewerblichen  Mittelstandes  nicht  schlechthin 
die  Zersetzung  des  Mittelstandes  überhaupt.  Der  Meister  verschwindet,  aber 
an  seine  Stelle  treten  Directoren,  Ingenieure,  Buchhalter  und  andere  höhere 
Angestellte  des  Grossbetriebes,  die  durch  die  Kraft  der  thatsächlichen 
Geschäftsführung  das  ersetzen  was  ihnen  an  juristischer  Selbständigkeit 
abgeht.  Auch  ist  die  Gelegenheit,  Vermögen  in  Actien  anzulegen,  nicht' 
bloss  für  den  Grosscapitalisten  da,  sondern  auch  für  den  mittleren  und 
kleineren  Wirtschafter,  und  diese  Stände  haben  durch  Benützung  derselben 
an  Stärke  sehr  gewonnen.  Indes  bleibt  die  Bedrängnis  einer  Classe,  zumal 
einer  so  zahlreichen  wie  die  der  Handwerker,  immer  ein  schweres  üebel 
nicht  nur  für  die  Betroffenen  selbst  sondern  auch  für  die  Gesammtheit, 
innerhalb  deren  ein  solches  Leiden  niemals  localisiert  werden  kann.  Vom 
Meister  aus  ergreift  es  auch  den  Gesellen  und  die  Lehrlinge,  von  seinem 
ersten  Sitze,  dem  materiellen  Befinden,  ergTeift  es,  im  zwingenden  Gefolge 
des  Elends,  den  intellectuellen  und  moralischen  Zustand.  „Eine  vorüber- 
gehende Erscheinung",  sagt  vielleicht  der,  der  den  technischen  Fortschritt 
über  alles  schätzt  und  über  ihm  alles  andere  übersieht,  „eine  Erscheinung 
die  vorübergegangen  sein  wird,  sobald  die  der  Vernichtung  geweihten 
Handwerke  endgiltig  verschwunden  sein  werden."  Aber  nicht  einmal  dieser 
rauhe  Trost  ist  wahr,  denn  die  Krankheit  ist  zu  schwer  als  dass  ihre 
Merkmale  jemals  völlig  vertilg-t,  als  dass  das  Gift,  das  sie  dem  volks- 
wirtschaftlichen Körper  einimpft,  jemals  völlig  aufgesogen  werden  könnte. 
Neben  dem  Schicksale  der  durch  den  Grossbetrieb  geschädigten 
Handwerker  ist  noch  das  der  Lohnarbeiter  in  Erwägung  zu  ziehen,  die 
dauernd  für  alle  Zukunft  dem  Grossbetrieb  angehören  sollen.  Es  bedarf 
keines  Beweises,  wie  wünschenswert  es  ist,  sie  aus  ihrer  hoffnungslos  ab- 
hängigen Stellung  zu  erheben  und  ihnen  Antheil  an  den  Betriebsgewin- 
nen zu  geben.  Man  braucht  nur  zu  denken,  wenn  wir  uns  einer  solchen 
Rechtsordnung  seit  jeher  erfreut  hätten  und  wenn  der  industrielle  Um- 
schwung des  Jahrhunderts  infolge  dessen  leicht,  ohne  Krise  vor  sich 
gegangen  wäre  und  seine  besten  Früchte  statt  einigen  Bevorzugten  un- 
mittelbar der  Masse  der  Arbeiter  gebracht  hätte  —  welches  materielle 
Wohlsein,  welche  Reinheit  der  Sitte,  welche  Sicherheit  des  Rechtes  wäre 
nicht  unter  uns!  Statt  dessen  haben  wir  den  Gegensatz  der  wirtschaft- 
lichen Classen  und  mit  ihm  den  socialen  Krieg.  Wenn  es  wenigstens  für  die 
Zukunft  gelänge,  eine  Untern ehmungsform,  eine  Rechtsform  für  den  Gross- 
betrieb zu  finden,  durch  welche  seine  technischen  Gewinne  unter  alle  von 
ihm  Betroffenen  und  ihm  Angehörigen  billig  vertheilt  würden,  so  wäre 
dies  eine  der  wertvollsten  socialwirtschaftlichen  Errungenschaften.  Der 
Erfindungsgeist  wird  noch  viele  technische  Umwälzungen  aussinnen  und  jede, 
die  sachlich  nennenswerte  Vortheile  bietet,  wird  gewiss,  allem  andern  zum 
Trotz,  auch  durchgeführt  werden.  Wie  das  Karrenfuhrwerk  durch  die  Eisen- 
bahn, würde  die  Eisenbahn  durch  das  Luftschiff  erbarmungslos  verdrängt 
werden,  falls  dieses  grossartiger  und  billiger  sollte  betrieben  werden  können. 


212  Wieser. 

Nicht  leicht  wird  man  eine  Aufgabe  finden,  an  die  die  grösste  Mühe  des 
Nachdenkens  mit  mehr  Fug  gewendet  würde  als  diese,  neue  Rechtsformen 
des  Grossbetriebes  zu  erdenken.  Der  geringe  Erfolg  der  bisherigen  Ver- 
suche darf  von  erneuten  Anstrengungen  nicht  abschrecken.  Mindestens  die- 
jenige Hartnäckigkeit,  mit  welcher  die  Techniker  die  Idee  des  Luftschiffes 
auszubilden  suchen,  muss  von  den  Oekonomen  in  dieser  um  so  viel  näher 
liegenden  Sache  bewiesen  werden.  Es  ist  zwar  nach  allen  äusseren  und 
inneren  Umständen  innerhalb  absehbarer  Zeit  ganz  unwahrscheinlich,  für  die 
Masse  des  Volkes  völlige  Gleichheit  in  Besitz  und  Bildung  mit  den  best- 
gestellten Classen  zu  erreichen,  aber  ein  anderer  Wunsch  darf  nicht  auf- 
gegeben werden,  dessen  Erfüllung  dem  Menschenfreunde  genügen  könnte, 
nämlich  der,  dass  die  Masse  des  Volkes,  das  „Volk",  statt  wie  heute 
so  oft  durch  die  Arbeit  verkrüppelt  und  entwürdigt  zu  werden,  wiederum 
wie  sonst  in  den  glücklichen  Zeiten  durch  seine  Arbeit  an  Leib  und 
Seele  gesund  und  zum  unerschöpflichen  Eückhalt  der  nationalen  Kraft 
gemacht  werde.  % 

IIL 

Neue  Rechtsformen  für  den  Grossbetrieb  sind  nicht  leicht   zu  finden. 

Man  hat  den  Emancipationskampf  der  Fabriksarbeiter  des  öfteren 
mit  der  Bewegung  verglichen,  die  zur  Bauernemancipation  führte,  und 
hiebei  den  Schluss  gezogen,  dass,  wie  diese  mit  der  Ablösung  der  grund- 
herrlichen Rechte  und  dem  Uebergange  des  Landes  in  vollen  bäuerlichen 
Besitz  endete,  so  auch  jener  damit  enden  werde,  dass  die  Arbeiter  das  volle 
Eigenthum  der  Fabriken  erwerben  und  die  Rechte  der  heutigen  capitalistischen 
Eigenthümer  abgelöst  oder  —  aufgehoben  werden. 

'^      Ein  ganz  leidenschaftsloser  Beobachter  wird  wohl  zu  einem   anderen 
Urtheil  gelangen  müssen. 

Nur  nebenbei  soll  vorläufig  bemerkt  werden,  dass  man  dem  müssigen 
Grundeigenthümer  höchstens  den  unthätigen  capitalistischen  Actionär  zur 
Seite  stellen  könnte,  der  im  Productionsprocesse,  so  wie  jener,  die  Rolle 
einer  stummen  Person  spielt,  die  nimmt,  ohne  zu  handeln.  Der  thätige 
Unternehmer  dagegen,  die  Oberbeamten,  die  Mitglieder  des  technischen  und 
kaufmännischen  Personales  stehen  auf  der  andern  Seite,  mit  den  Lohn- 
arbeitern zusammen,  sie  bilden  mit  diesen  den  Körper  des  Betriebes,  der 
ohne  sie  nicht  vollständig  wäre.  Sie  können  von  keiner  Betriebsverfassung, 
selbst  von  der  revolutionärsten  nicht,  völlig  ausgeschlossen  werden.  Ein 
Gedanke,  auf  den  wir  noch  genauer  zurückkommen  werden,  der  uns  aber 
vom  Anfang  an  den  Gang  unseres  Nachdenkens  dahin  erhellt,  dass  alle 
Rechte,  die  die  „Handarbeiter"  aus  ihrer  Thätigkeit  im  Betriebe  auf  das 
Eigenthum  des  Betriebes  ableiten  mögen,  ihnen  jedenfalls  nur  in  Gemein- 
samkeit mit  den  übrigen,  den  „geistigen"  Arbeitern,  zu  denen  vor  allem 
der  tüchtige  Unternehmer  selber  gehört,  zukommen  können. 

An  dieser  Stelle  ist  es  zunächst  eine  andere  Thatsache,  die  unsere 
Aufmerksamkeit  in  Anspruch  nimmt.  Sobald  der  Grundherr  abgefunden  war, 


Grossbetrieb  und  Productiygenossenschaften.  113 

blieb  der  Bauer  als  einziger  Anwärter  auf  das  Eigenthum  des  Landes  zurück. 
Seine  Rechte    zu    ordnen,    bot   keine  Schwierigkeit,    er   wurde    eben    voller 
Eigenthümer  im  Sinne  des  alten  klaren  Eigenthumsbegriffes.  Welche  rechtliche 
Sachlage  bietet  sich  uns  aber,  wenn  wir  die  Rechte  des  Fabrikanten  abgelöst 
denken?    Wer   tritt   da   als    sein  Nachfolger   ein?   Es  ist  keine  genügende 
Antwort,   zu   sagen,   dass  die  Gesammtheit  der  Arbeiter  —  mit  Einschluss 
der  leitenden  Beamten  oder  auch  ohne  sie  —  das  Erbe  antreten  solle,  denn 
sofort  erhebt   sich    die   Frage,   wie   diese  Gesammtheit    rechtlich    geordnet 
werden  könnte.  Diese  weitere  Frage  kann  vielleicht  einmal  später  auf  Grund 
weiterer  Entwickelungen  deutlich    beantwortet    werden,  •  durch    die   heutige 
Entwickelung  ist  sie  es  aber  noch  nicht.  Das  Eigenthum  des  Unternehmers 
ist  die  einzige  klare  Rechtsform,    die  wir  uns  heute  für  den  Fabriksbetrieb 
denken  können,   die    genossenschaftlichen    Beziehungen    der    Arbeiterschaft 
sind  noch  nicht  so  weit  ausgereift,    dass  sie  jene  Form  sprengen  und  durch 
eine  neue,  fertige,   sofort  ersetzen  könnten.    Jeder  vorzeitige  Versuch,   das 
Einzeleigenthum    der    grossen   Betriebe    durch   das    genossenschaftliche  zu 
ersetzen,  wird  mit  derselben  Nothwendigkeit  zu  Verwirrung,  Streit,  Verlusten 
nnd  nach  alledem  zur  verschärften  Wiedereinsetzung  des  Einzeleigenthums 
führen,    wie   die    Proclamierung   der  Republik   so   oft    nach    mannigfachen 
Unordnungen  zur  Dictatur  geführt  hat. 

Ich  habe  diesen  Vergleich  nicht  ohne  Absicht  gemacht.  Ich  glaube  — 
und  es  ist  dies  ein  oft  ausgesprochener  Gedanke  -  dass  der  Kampf  um  die 
Rechtsform  des  Grossbetriebes  ein  wirtschaftlicher  Verfassungskampf  ist, 
den  politischen  Verfassungskämpfen  durchaus  verwandt.  Man  kann  seine 
Natur  und  die  wahrscheinliche  Lösung  durch  kein  anderes  Mittel  besser 
verstehen  lernen,  als  durch  eine  Untersuchung  von  diesem  Gesichtspunkte  aus. 
Das  zunehmende  Kraftgefiihl  der  bürgerlichen  Massen  hat  die  Erwägung 
aufgebracht,  ob  das  Schicksal  der  Staaten  noch  fürderhin  durch  den  Herrscher- 
willen' eines  Einzigen  und  der  von  ihm  abhängigen  Beamtenschaft  entschieden 
werden  dürfe.  Die  „Logik  der  Speculation"  schien  unausweichlich  zu  dem 
Schlüsse  kommen  zu  müssen,  dass  tüchtige  selbstbewusste  Bürger  sich  selber 
zu  regieren  hätten.  Von  den  vielen  Versuchen  demokratischer  Republiken 
sind  aber  die  meisten  misslungen.  Die  ., Logik  der  Thatsachen''  hat  die 
Monarchien  zumeist  erhalten  und  die  Herrscherrechte  nur.  mehr  oder  weniger, 
im  Sinne  der  modernen  Verfassungen  durch  Parlamente  und  bürgerliche 
Grundrechte  beschränkt.  X 

Der  Einzelunternehiüer  ist  der  absolute  König  des  Betriebes,  die 
capitalistische  Gesellsehaftsunternehmung  entspricht  etwa  einer  aristokratischen 
Verfassung,  wie,  um  den  Vergleich  zu  ergänzen,  das  mittelalterliche  Gewerbe 
patriarchalisch  war.  Wo  die  Arbeiter  die  Productivgenossenschaft  veriangen, 
veriangen  sie  die  demokratisch-republikanische  Regelung  des  Betriebes. 
Arbeiterschutzgesetze  belassen  den  Unternehmer  als  Herrn  und  genügen 
sich  darin,  wie  Staatsgrundgesetze  die  nothwendigsten  Freiheiten  und 
Ansprüche  des  arbeitenden  Unterthanen  zu  gewährieisten.  Selbst  das  Amt 
des  Fabriksinspectors  hat  seine  Analogie  im  alten  Volkstribunate,  nur  dass 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  I.  Heft.  S 


114  Wieser. 

heute  dessen  Veto  fehlt,  während  sein  kühner  aufopfernder  Geist  manchen 
seiner  modernen  Nachfolger  befeuert  und  geehrt  hat ;  noch  näher  steht  dem 
Tribunen,  wenigstens  was  das  Veto  anlangt,  in  England  thatsächlich,  wenn 
auch  nicht  rechtlich,  der  Gewerkvereins-Secretär.  Wie  denn  auch  die 
Arbeitseinstellung  die  „secessio  in  montem  sacrum"  ist,  die  Abstinenz- 
erklärung der  Plebs.  Arbeitercassen  sind  Formen  der  Selbstverwaltung  — 
Schiedsgerichte,  Einigungskammern,  Arbeiterausschüsse  endlich  sind  Anfänge 
ständischer  oder  parlamentarischer  Vertretung,  constitutioneller  Beschränkung. 

Gleich  den  politischen  Verfassungskämpfen  sind  auch  die  wirtschaft- 
lichen durch  das  zunehmende  Kraftgefühl  der  Masstn  entzündet,  das  hier 
wie  dort  seine  Nahrung  aus  den  zahlreichen  Thatsachen  empfängt,  welche 
im  modernen  Leben  den  socialen  Schwerpunkt  von  den  .oberen"  Schichten 
der  Gesellschaft  mehr  und  mehr  nach  abwärts  rücken.  Das  Aufstreben  der 
Massen  ist  das  grösste  gesellschaftliche  Ereignis  der  Neuzeit,  und  damit  ist 
das  Problem  aufgetaucht  wie  die  Massen  zu  regieren  haben.  Ein  revolutionärer 
Macchiavell  würde  statt  des  „principe"  ein  Buch  über  das  Volk  -il  popolo" 
schreiben.  Darum  ist  die  Frage,  wie  der  Grossbetrieb  zugunsten  der  Massen 
zn  organisieren  wäre,  so  recht  eine  Frage  unserer  Zeit,  die  den  Grossbetrieb 
zugleich  mit  so  vielen  andern  Erscheinungen  grossartigen  Zusammenlebens 
geschaffen  und  der  Arbeiterschaft,  gleich  der  Bürgerschaft  im  politischen 
Leben  den  Muth  eingegeben  hat,  Antheil  am  ßegimente  zu  fordern.  Möglich, 
dass  der  revolutionär-republikanische  Sturm  und  Drang  auch  hier  in  den 
ruhigen  Hafen  der  constitutionellen  Monarchie  leiten  wird.  Vermöchte  nicht 
eine  solche  Erwartung  dem  Ausblick  in  die  wirtschaftliche  Zukunft  und 
der  Beobachtung  der  gegenwärtigen  Wirren  gar  viel  von  den  Schrecknissen 
zu  nehmen,  die  sie  für  den  ruheliebenden  Bürger  ohne  Zweifel  haben  ? 

Von  all  den  neuen  Verfassungsformen,  die  die  Gährung  unserer  Zeit 
für  den  Grossbetrieb  in  Vorschlag  gebracht  hat,  möchte  ich  in  diesem 
Aufsatze  nur  eine  einzige,  die  Productivgenossenschaft,  besprechen.  Ich 
thue  es  keineswegs  aus  dem  Grunde,  weil  ich  diese  für  die  allein  selig- 
machende oder  auch  nur  für  die  nächstgebotene  halte,  ich  thue  es  nur 
deshalb,  weil  ich  der  Meinung  bin,  dass  in  einer  so  dringenden  Angelegen- 
heit nichts  ungeprüft  bleiben  dürfe,  und  weil  ich  die  Form,  die  die 
Productivgenossenschaft  gerade  in  Deutschland  und  Oesterreich,  man  kann 
sagen  auf  den  ersten  Wurf  der  Idee  hin,  angenommen  hat,  für  eine  nicht 
genügend  geläuterte  halte,  um  merklichen  Erfolg  zu  erreichen.  Ich  schreibe, 
wie  ich  glaube  mit  gutem  Gewissen  sagen  zu  können,  nicht  als  blinder 
Schwärmer.  Wer  über  die  Productivgenossenschaft  nachdenkt  und  sich  für 
sie  erklärt,  muss  beschämt  und  entmuthigt  sein,  wenn  er  findet,  dass  alle 
seine  Gedanken  schon  gedacht  wurden  und  durch  die  nüchterne  Wirklich- 
keit auch  wieder  entkräftet  scheinen.  Vielleicht  nimmt  der  eine  oder  der 
andere  der  skeptischen  Leser,  denen  dieser  Aufsatz  in  die  Hand  kommt, 
an  demselben  weniger  Anstoss,  wenn  ihm  der  Verfasser  die  aufrichtige 
Versicherung  ertheilt,  dass  er  selbst  erst  durch  alle  Grade  des  Zweifels 
hindurchgegangen  ist,  bis   er  ihn  zu   veröffentlichen   sich  entschloss.     Man 


Grossbetrieb  and  Productivgenossenschaften.  115 

darf  nicht  vergessen,  dass  gerade  die  Geschichte  des  Associationswesens 
und  besonders  auch  der  Genossenschaft  wie  an  den  bittersten  Täuschungen 
so  auch  an  überraschenden,  an  das  Wunderbare  grenzenden  Erfolgen  reich  ist. 
Wer  weiss,  ob  nicht  noch  manche  gute  Ader  im  tauben  Erz  verborgen  ist ! 

IV. 

Die  „Logik  der  Speculation"  hat  an  der  Idee,  dass  die  Arbeiter  den 
Betrieb  selbst  in  die  Hand  nehmen  sollen,  anfänglich  gar  keine  sonderlichen 
Schwierigkeiten  gefunden:  ist  die  Einzelunternehmung  im  Grossbetriebe 
eine  gesellschaftliche  Gefahr,  nun,  so  soll  eben  die  genossenschaftliche 
Unternehmung,  die  Productivgenossenschaft  an  ihre  Stelle  treten  —  nichts 
schien  einfacher  als  dieser  Gedanke.  So  ist  die  Productivgenossenschaft 
entstanden,  nicht  aus  dem  Leben  heraus,  sondern  durch  „  Construction  % 
als  Ergebnis  eines  frommen  Wunsches.  Vielleicht  ist  sie  eben  deshalb  ein 
frommer  Wunsch  geblieben.  Die  „Logik  der  Thatsachen''  scheint  zu  er- 
weisen, dass  sie  nur  ein  wenig  lebensfähiges  Gebilde  sei.  Inmitten  der 
lebhaften  Entwickelung  des  deutschen  und  auch  des  österreichischen  Ge- 
nossenschaftswesens sind  es  gerade  die  gewerblichen  Productivgenossen- 
schaften —  die  landwirtschaftlichen  haben  andere  Zwecke  und  andere 
Mittel  —  die  zurückgeblieben,  man  kann  sagen  verkümmert  sind.  Der 
letzte  Ausweis  der  Anwaltschaft  des  deutschen  Genossenschaftsverbandes 
zählt  für  den  31.  Mai  1891  unter  7608  deutschen  Genossenschaften  —  worunter 
3910  Creditgenossenschaften,  984  Consumvereine,  980  landwirtschaftliche 
Kohstoffgenossenschaften  und  974  landwirtschaftliche  Productivgenossen- 
schaften —  nur  151  gewerbliche  Productivgenossenschaften  auf.  Selbst  ange- 
nommen, dass  dieselben  alle  echte  und  vollwertige  Productivgenossenschaften 
seien,  so  zählen  sie  im  Meere  der  Volkswirtschaft  doch  nur  wie  einige  Tropfen. 
Vollends  im  Grossbetriebe  haben  sie  so  gut  wie  gar  nichts  zu  bedeuten. 

Die  Genossenschaft  ist  überhaupt  die  Associationsform  für  den  „kleinen 
Mann".  Aus  vielen  kleinen  Kräften  soll,  nach  dem  Ausspruche  von  Schulze- 
Delitzsch,  eine  Grosskraft  gebildet  werden.  Durch  Vereinigung  vieler  will 
der  Consumverein  dem  kleinen  Consumenten  den  Vortheil  unmittelbaren 
und  grossen  Einkaufs  der  häuslichen  Bedarfsartikel  gewinnen,  ähnlich  will 
der  Creditverein  dem  kleinen  Geschäftsmann  einen  Credit  gewinnen,  der 
sich  dem  annähert  wie  ihn  der  grosse  hat.  Rohstoffgenossenschaften  und 
die  verwandten  Formen  wollen  ihm  bei  einzelnen  Operationen  im  Betriebe 
die  Vortheile  der  grossen  Unternehmung  sichern,  beim  Einkauf  des  Roh- 
stoffes, beim  Absätze  u.  s.  f.  Alle  diese  Genossenschaften  sollen  dem 
Handwerker,  überhaupt  dem  kleinen  Producenten  dienen,  der  sich  gegen- 
über der  Concurrenz  der  Grossunternehmung  im  Kleinbetrieb  behaupten 
Avill.  die  Productivgenossenschaft  aber  soll  es  ihm  ermöglichen,  das 
Handwerk  aufzugeben,  das  gegenüber  der  überwältigenden  Concurrenz  als 
solches  nicht  mehr  bestehen  kann,  und  an  seiner  Stelle  mit  Genossen,  die 
in  derselben  Lage  sind,  auf  gemeinsame  Rechnung  einen  Grossbetrieb  zu 
führen.     Jene    andern    (zu    denen    auch    die    landwirtschaftliche    Productiv- 


216  Wieser. 

genossenschaft  gehört)  sind  Hilfsgenossen  Schäften  für  den  kleineren  Erwerb, 
diese  aber  will  grosse  Erwerbsunternehmungen  schaifen. 

Wenn  Schulze-Delitzsch  von  der  gewerblichen  Productivgenossen- 
schaft  einstens  gesagt  hatte:  „In  ihr  begrüssen  wir  den  Gipfelpunkt  des  Systems 

und    sie   hatten  wir  hauptsächlich im  Sinne",   so   hat  ihm   der 

Ausgang  bisher  wenigstens  nicht  Eecht  gegeben.  Die  „Vollgenossenschaft'' 
—  wie  man  dieselbe  wohl  mit  Kecht  nennen  kann  —  ist  -durch  die  blossen 
„ Hilfsgenossenschaften "  fast  ganz  in  den  Hintergrund  gedrängt  worden.  Es 
ist  daher  erklärlich,  wenn  heute  die  Freunde  des  Genossenschaftswesens 
in  Deutschland  und  Oesterreich  hauptsächlich,  ja  eigentlich  ausschliesslich 
die  letzteren  „im  Sinne  haben".  So  unbestreitbar  es  aber  ist,  dass  die 
Hilfsgenossenschaften  jede  Förderung  verdienen,  so  muss  man  doch  wohl 
sagen,  dass  man  in  einer  Beziehung  in  ihrer  Förderung  zu  weit  gegangen 
ist.  Man  hat  die  genossenschaftlichen  Einrichtungen,  man  hat  die  genossen- 
schaftliche Gesetzgebung  fast  durchaus  aus  ihrem  Gesichtskreise  geregelt 
und  dadurch  die  Entwickelung  der  Vollgenossenschaft  gehemmt,  die  wegen 
ihres  ganz  eigenen  Zweckes  ganz  eigene  Erfordernisse  hat.  Die  genossenschaft- 
liche Literatur  und  Gesetzgebung  ist  heute  fast  durchaus  von  der  Voraus- 
setzung beherrscht,  dass  die  Genossenschaft  dem  „kleinen  Manne"  dadurch 
dienen  solle,  dass  sie  den  kleinen  Betrieb  zu  erhalten  sucht,  man  hat 
so  gut  wie  vergessen,  dass  die  Productivgenossenschaft  das  Gegentheil  will. 
Vielleicht  ist  bezüglich  ihrer,  weil  man  sie  thatsächlich  fast  immer  nur 
im  engsten  Eahmen,  mit  den  geringsten  Mitteln  hat  arbeiten  sehen,  die 
Meinung  unwillkürlich  allgemein  geworden,  dass  sie  gleichfalls  nur  hiefür 
bestimmt  sei.  Man  hat  sich  wohl  ganz  und  gar  daran  gewöhnt,  den 
Grossbetrieb  als  die  Domäne  der  capitalreichen  Einzel-  oder  Actienunter- 
nehmung  zu  betrachten. 

Die  Wahrheit  ist  aber  die,  dass  die  Productivgenossenschaft  entweder 
ihren  Platz  im  Grossbetriebe  finden  muss,  oder  aber  dass  man  sie  gar 
nicht  braucht.  Es  ist  gar  kein  Bedürfnis  darnach  vorhanden,  dass  das 
Handwerk  genossenschaftlich  ausgeübt,  dass  das  Lohnverhältnis  im  Hand- 
werk abgeschafft  werde,  dieses  Bedürfnis  ist  nur  in  der  Grossunternehmung 
vorhanden  oder  wenigstens  verständlich.  Es  ist  gar  nicht  einzusehen,  wie 
dem  Handwerk  hiedurch  irgendwie  aufgeholfen  werden  könnte.  Ein  Gesetz, 
das  auf  kleine  Productivgenossenschaften  zugeschnitten  ist.  ist  so  verkehrt 
als  ein  Gesetz  wäre,  das  auf  kleine  Consumvereine  zugeschnitten  wäre.  Ein 
solches  Gesetz  verstösst  direct  wider  den  genossenschaftlichen  Grundge- 
danken, der  da  ist,  dem  gemeinsamen  Zweck,  welcher  er  eben  sei,  durch 
Vereinigung  selbst  der  unbedeutendsten  Elemente  die  Macht  der  bedeu- 
tendsten zu  geben. 

V. 

Der  geringe  Erfolg  der  demokratisch-republikanischen  Productivgenos- 
senschaft ist  umso  befremdlicher,  als  ihre  finanz- aristokratische  Schwester- 
form, die  Actiengesellschaft,    gleichzeitig  sich  im  Triumphe  entwickelt  hat. 


Grossbetrieb  und  Produetivgenossenschaften.  117 

„Das  Geld  ist  es,  was  den  Unterschied  macht",  wird  wohl  mancher  Leser 
sofort  ausrufen,  ,,die  eine  gedeiht,  weil  sie  von  Haus  aus  reich  ist,  die 
andere  verkümmert,  weil  sie  ohne  Mittel  beginnt''.  Ich  erlaube  mir  dies  zu 
bestreiten,  und  will  damit  nicht  im  mindesten  etwas  Paradoxes  sagen.  Das 
Geld  kann  einen  so  grossen  Unterschied  nicht  ausmachen,  es  ist  trotz  allem 
der  gesunden  Arbeit  nicht  so  weit  überlegen,  die  immer  noch  die  erste  und 
fruchtbarste  Kraft  in  der  Wirtschaft  ist.  Niemand  wird  bestreiten,  dass  die 
Actiengesellschaft,  wenn  nicht  ihr  Princip  lebensfähig  wäre,  trotz  der  reich- 
sten Mittel  zerfallen  müsste.  Der  Fond,  den  sie  mitbringt,  hilft  ihr  nur 
über  den  Anfang;  dass  sie  dann  weiter  gedeiht,  verdankt  sie  sich  selbst. 
Der  Mangel  an  den  nöthigen  Fonds  kann  umgekehrt  freilich  manches  sonst, 
lebensfähige  Unternehmen  im  Keime  ertödten,  keine  Erfahrung  ist  im  wirt- 
schaftlichen Leben  häufiger,  aber  der  Productivgenossenschaft  so  wie  sie 
sich  bisher  versucht  hat,  müssen  noch  andere  schwerere  constitutive  Mängel 
anhaften,  sonst  müssten  die  Erfahrungen  mit  ihr  doch  günstigere  sein. 
Manche  Productivgenossenschaft  erfreute  sich  der  Pathenschaft  wohlwollender 
Gönner,  die  sie  unter  reichen  Geschenken  aus  der  Taufe  hoben,  und  doch 
konnte  sie  sich  nicht  recht  erhalten.  Was  aber  noch  deutlicher  spricht  ist 
Folgendes:  fort  und  fort  sind  zahlreiche  Einzelunternehmer,  die  mit  nichts 
begonnen  hatten,  heraufgekommen,  zu  Ehren  und  Eeichthum  —  warum 
begegnen  wir  neben  diesen  Lebensläufen  nicht  ebenso  häufig,  ja  häufiger 
der  aufsteigenden  Entwicklung  genossenschaftlicher  Unternehmungen  ?  Warum 
ist  die  Wirtschaftsgeschichte  an  derartigen  Beispielen  so  arm?  Sollten  doch 
mehrere  im  Bunde  das  umso  eher  erreichen  können  was  dem  einzelnen  oft 
gelungen  ist!  Und  nicht  blosb  dem  einzelnen  gelungen  ist,  sondern  in  der 
That  auch  oft  genug  einem  Bunde  von  mehreren,  von  zweien  oder  dreien, 
die  etwa  eine  offene  Handelsgesellschaft  oder  in  ähnlicher  Form  ein  Com- 
pagniegeschäft  bildeten.  Wenn  gerade  die  Productivgenossenschaft  weitaus 
am  häufigsten  Schiffbruch  leidet,  so  ist  der  Beweis  wohl  geliefert,  dass  die 
Schuld  an  ihr  selber,  an  ihrer  Idee  und  Verfassung  liegen  muss.  Jeder 
Zweifel  hierüber  muss  vollends  verschwinden,  wenn  man  zum  Schlüsse  noch 
erwägt,  dass  andere  genossenschaftliche  Verbindungen  der  mittellosen 
Classen  gleichwohl,  trotz  desselben  anfänglichen  Geldmangels,  in  glänzend- 
ster Weise  gediehen.  Wodurch  sind  die  Vorschusscassen  von  nichts  zu 
Millionen  gekommen?  Warum  konnten  die  genossenschaftlichen  Betriebs- 
unternehmungen nicht  den  gleich  grossen  Erfolg  haben? 

Auf  eine  der  wirksamsten  Ursachen  haben  wir  früher  bereits  hinge- 
wiesen. Die  Handarbeiter  wollen  die  Productivgenossenschaft  allein  machen, 
ohne  Mitwirkung  ihrer  leitenden  „geistigen"  Mitarbeiter.  Sie  sind  nur  ein 
Rumpfparlament  und  wollen  ein  Vollparlament  sein.  Man-  kann  die  Bemer- 
kung nicht  unterdrücken,  dass  es  verwunderlich  ist,  dass  die  beiden  Par- 
teien sich,  man  kann  sagen  niemals,  zusammengefunden  haben.  Was  wäre 
natürlicher  als  das  Bündnis  der  gesammten  Arbeit  gegenüber  dem  Capital? 
Die  Interessen  aller,  die  in  der  Wirtschaft  und  der  Gesellschaft  ihre  per- 
sönliche Kraft  einsetzen,  sind  in  Wahrheit  solidarisch.    Jedenfalls  sind  die 


llg  Wieser. 

Umsturzpläne  der  Lohnarbeiter  eine  Ursache,  die  ihnen  bisher  die  Beihilfe 
der  übrigen  gesellschaftlichen  Mitarbeiter  entziehen  musste.  Aber  noch  eine 
andere,  wie  ich  glaube,  viel  wirksamere  Ursache  trennt  die  beiden  Flügel 
des  Arbeiterlieeres.  Zwischen  ihnen  liegt  die  fast  unübersteigliche  Kluft, 
die  den  -gebildeten"  Theil  der  Nation  vom  ^ Volke-  trennt  und  deren 
unausfüUbare  Tiefe  durch  keine  andere  Erfahrung  so  deutlich  wird.  Zwischen 
denen,  die  durch  die  höheren  Schulen  gegangen  sind  und  die  Lebensge- 
wohnheiten der  Bildung  angenommen  haben  —  ich  schliesse  hier  die  all- 
täglichsten Verrichtungen  ein  —  und  denen,  die  als  ^.Volk"  zurückgeblieben 
sind,  ist  das  Tischtuch  zerschnitten.  Man  kennt  sich  nicht  mehr  in  beiden 
Lagern  und  wie  das  immer  geschieht,  man  hasst  sich  daher,  weil  man  sich 
nicht  berührt.  Es  gibt  so  wenig  Heiraten  hin  und  her,  wie  einst  zwischen 
Patriciern  und  Plebejern,  wie  zwischen  Weissen  und  Schwarzen.  Hier  kann 
man  deutlich  sehen,  wie  der  sociale  Gegensatz  auf  dem  der  Bildung  auf- 
gebaut ist  und  dass  er  erst  mit  ihm  verschwinden  kann.  Wenn  gerade  die 
bestbezahlten  Lohnarbeiter  bei  uns  die  entschiedensten  Socialisten  sind, 
während  viel  schlechter  gestellte  Beamte  die  bestehende  Ordnung  verthei- 
digen,  so  kommt  dies  daher,  weil  die  efsteren  noch  etwas  zu  erringen 
haben  was  die  letzteren  schon  besitzen,  nämlich  Bildung  und  geläuterte 
Lebensbedürfnisse  und  mehr  noch  als  das,  die  Achtung,  von  der  sie  fühlen, 
dass  sie  ihrem  Stande  gebüre,  die  Anerkennung  ihrer  vollen  Menschenwürde 
und  voller  gesellschaftlicher  Kechte. 

Zu  dem  ersten  grossen  Fehler,  dass  sie  den  Kreis  ihrer  Mitglieder  zu 
enge  ziehen,  fügen  die  demokratischen  Productivgenossenschaften  den  zweiten, 
dass  sie  sich  eine  ungeeignete,  eine  zu  lose  Verfassung  geben.  Die  Volks- 
wirtschaft ist  seit  ihren  Anfängen  von  zwei  grossen  Trieben  beherrscht,  dem 
nach  Vereinigung  und  dem  nach  Absonderung,  oder  dem  nach  Zusammen- 
fassen der  ganzen  gemeinen  Kraft  und  dem  nach  höchster  freier  Bethätigung 
des  Einzelwillens.  Die  Berufsth eilung  ist  ein  glänzendes  Beispiel,  wie  ver- 
eintes Wirken  bei  völlig  gesonderter  Bewegung  zu  erreichen  ist;  alle 
arbeiten  sich  in  die  Hände,  aber  jeder  entscheidet  sich  für  sich  und  rechnet 
seinen  persönlichen  Theil  am  Verdienste  voll  heraus.  Die  heutige  Gross- 
unternehmung ist  ein  anderes  Beispiel,  hunderte,  tausende  von  Arbeitern 
und  sonstigen  Helfern  vereinigen  sich  zu  den  höchsten  technischen  Kraft- 
anstrengungen, aber  dort,  wo  die  individuelle  Entscheidung  unentbehrlich  ist, 
sozusagen  auf  der  Commandobrücke,  von  der  aus  die  gemeinsamen  Bewe- 
gungen zu  leiten  sind,  bleibt  der  Einzelwille  in  ungebrochener  Herrschaft. 
Aber  so  sinnreich  die  heutige  Grundanlage  des  Grossbetriebes  auch  ist,  wird 
man  doch  sagen  müssen,  dass  in  ihr  das  Gleichgewicht  der  „anziehenden" 
und  „isolierenden"  Kräfte  noch  nicht  ganz  gefunden  ist,  es  ist  noch  zu  sehr 
die  Organisation  des  Kleinbetriebes  nachgeahmt,  ohne  dass  die  nöthigen 
Anpassungen  an  die  vergrösserten  Verhältnisse  vorgenommen  worden  wären. 
Um  den  einen  wichtigsten  Sonderwillen  zu  sichern,  den  des  Führers,  ist 
der  Selbständigkeit  aller  der  vielen  Untergebenen  zu  gi'osser  Zwang  angethan. 
Unsere  heutige  individualistische  Ordnung  verletzt  hierin  den  Individualismus, 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  119 

Aveil  sie  zu  wenige  selbständige  Unternehmer  belässt,  während  sie  das 
Dienstverhältnis  verallgemeinert  und  verewigt.  Eine  neue  Eechtsform  des 
Grossbetriebes  muss  gefunden,  muss  wenigstens  gesucht  werden,  um  der 
Masse  der  Arbeiter  wieder  individuellere  Wirksamkeit,  wieder  individuellen 
Antheil  am  Erfolge  zu  geben.  Diese  Aufgabe  ist  es,  die  in  Wahrheit  die 
Productivgenossenschaft  zu  lösen  hat.  Ihrem  Namen  zum  Trotz  soll  sie 
nicht  dem  Triebe  nach  Vereinigung,  sondern  dem  nach  Selbständigkeit 
dienen,  indem  sie  innerhalb  der  unabweislichen  grossen  Betriebsvereinigungen 
die  gemeine  Freiheit  sichert:  statt  der  Unterordnung  aller  unter  Einen 
genossenschaftliches  Zusammenwirken.  Dieser  schöne  Grundgedanke  wird 
aber  von  der  rein  demokratischen  Form  der  Productivgenossenschaft  über- 
trieben. Das  Maass  der  Freiheitsrechte,  das  verlangt  wird,  ist  zu  gross.  Um 
die  gemeine  Freiheit  zu  sichern,  haben  manche  Statuten  die  Ansprüche 
Einzelner  selbst  dann  verletzt,  wenn  sie  gerade  im  Interesse  des  Ganzen 
besonders  berücksichtigt  werden  sollten.  Das  ist  dort  geschehen,  wo  man 
dem  Capital,  d.  h.  den  Genossen,  die  Capital  erspart  hatten,  den  Zins  ver- 
weigern oder  kürzen  wollte.  Das  ist  auch  dort  geschehen,  wo  man  sich 
nicht  entschliessen  konnte,  den  begabteren  Genossen,  die  mehr  leisten, 
höhere  Antheile  zuzugestehen.  Der  demokratischen  Productivgenossenschaft, 
selbst  wo  sie  sich  von  solchen  Extremen  ferne  hält,  ist  aber  zum  mindesten 
stets  der  eine  Mangel  eigen,  dass  sie  die  Autorität  des  Befehles  angreift, 
den  sie  zwar  nicht  zu  einer  gemeinschaftlichen  Sache  macht  aber  doch  um 
seine  volle  individuelle  Schärfe  und  Entschiedenheit  bringt. 

Das  Vorbild  für  die  Verfassung  der  demokratischen  Genossenschaft 
ist  der  Verein.  Das  Grundgefühl  ist,  dass  gute  Genossen  sich  eben  ver- 
tragen sollen.  Nun  mag  das  etwas  lose  Gefüge  des  Vereines  für  andere 
genossenschaftliche  Zwecke  genügen,  aber  für  die  exacte  Vollziehung  der 
Arbeit  in  einem  wirklich  grossen  Betriebe  genügt  es  nicht.  Hier  muss 
unumgänglich  ein  Befehl  sein,  mit  seinen  Voraussetzungen:  Ueberordnung 
und  Ansehen,  Unterordnung  und  Gehorsam.  Das  sind  aber  Gefühlszustände, 
die  durch  eine  noch  so  herzliche  einträchtige  Verabredung  ebensowenig 
geschaffen  werden  können,  als  man  durch  Vereinsbeschluss  etwa  aus  den 
Mitgliedern  ohneweiters  eine  militärisch  disqiplinirte  Truppe,  aus  dem  Vor- 
stand einen  militärischen  Befehlshaber  machen  könnte.    '"^ 

Die  Arbeiter  wiederholen  hier  genau  denselben  Irrthum,  infolge  dessen 
man  auch  geglaubt  hat,  dass  Staaten  und  Staatsverfassungen  durch  blossen 
Vertrag  begründet  werden  könnten.  Weil  im  Einzelverkehre  die  Menge  ge- 
wohnt ist,  sich  der  Verabredung  zu  bedienen,  um  sich  wechselseitig  zu 
binden,  so  hält  man  es  für  selbstverständlich,  dass  im  Massenverkehre 
dasselbe  Mittel  gelten  müsse.  Das  delphische  „Erkenne  dich  selbst"  ist 
erst  voll  verstanden,  wenn  man  es  mit  dem  Zusätze  versteht  „Und  er- 
kenne dich,  wenji  du  unter  den  Anderen  bist''.  Der  Mensch  für  sich  allein 
oder  mit  den  Seinigen,  überhaupt  im  engen  Kreise,  gibt  sich  nicht  als 
dasselbe  Wesen  wie  der  Mensch  in  der  Menge  der  Menschen.  Grosse 
Fürsten,     Feldherren,    Staatsmänner    und    Unternehmer    wissen    in    dieser 


120  Wieser. 

Massenpsychologie  genauesten  Bescheid,  die  Wissenschaft  noch  sehr  geringen, 
am  unberathensten  aber  ist  das  öffentliche  Urtheil,  die  gemeine  Meinung. 
Niemand  versteht  die  Masse  so  schlecht  als  die  Masse  selbst,  sie  hält  sich 
für  viel  einfacher  als  sie  ist. 

Einige  hauptsächliche  Erfordernisse  des  Massenverkehres  lassen   sich, 
ohne  psychologische  Kunst  und  Künstelei,  aus  der  Technik  desselben  ver- 
stehen. Die  Verabredung  ist  eine  Sache,   die  zwischen  zweien  oder  wenigen 
natürlich   und    möglich   ist,    zwischen   hunderten   und    tausenden    gibt    es 
dagegen  kein  Gespräch  und  keine  Auseinandersetzung.  Sollen  von  so  grossen 
Mengen  Entschliessungen  gefasst  werden,    so  muss    ein    anderes  Auskunfts- 
mittel ergriffen  werden,    selbst  dann,  wenn  die  Begabung  aller,  ihre  Fähig- 
keit, sich  verständig  zu  entschliessen,  ganz   gleichwertig  wäre,  was  niemals 
der  Fall  ist.  Das  Verfahren   ist,   im    einfachsten  Verlaufe   geschildert,  kurz 
gesagt  das  folgende:    Einige    äussern   ihre  Meinung   und   machen    die  Vor- 
schläge,   die  Menge    dagegen  wählt  aus  und  stimmt  zu.     Die  alten  Staats- 
verfassungen und  Volksrechte  bringen  in  ihrer  ungekünstelten  Weise  diesen 
Vorgang  der  Massenentscheidung  in  dem  Kechte,  das  sie  der  Masse  geben, 
zum  klarsten  Ausdruck.    Ebenso  geht,  um  ein  anderes  möglichst  entferntes 
Beispiel   zu    geben,    die   Erzählung  jeder   tumultuarischen,    unvorbereiteten 
Massenbewegung  —  wir   haben    dieser   und  der  Berichte  über  sie  im  Zeit- 
alter der  Kevolutionen  genug  —  immer   auf  denselben    typischen  Vorgang 
hinaus,  dass  nach  wüsten  Handlungen  und  verworrenem  Geschrei  der  Menge 
einige  ehrgeizige    oder   eifrige,    einsichtigere  Männer  sich  zusammenfanden, 
um  das  Nothwendige  in  Stille  zu  berathen,    dass    sie    dann  mit  ihren  Vor- 
schlägen hervortraten  und  durchdrangen  und  die  Leitung  länger  oder  kürzer 
behielten.  Wer  die  unschlüssige  Menge  durch  einen  Einfall  überrascht,  dem 
alle  zujubeln,  schliesst  damit  gleichsam  den  elektrischen  Strom,   durch  den 
aus  der  zerstreuten  Vielheit  der  Einzelnen  ein  Ganzes  wird  und  die  Menge 
zum  Bewusstsein   ihres  Daseins    und   ihrer   ungeheuren  Kraft  gelangt.     Er 
entbindet   das  Massengefühl   und   gewinnt   dadurch   seiner  Idee  und   seiner 
Person    ein    Ansehen,    wie    es    niemals    durch    die   blosse  Verabredung   mit 
Diesem  und  Jenem  gewonnen  werden  könnte.    In  ihm  erkennt,   achtet  oder 
fürchtet  die  Menge  sich  selbst,  jenes  machtvolle  oder  schreckliche  Wesen, 
dessen  sie  sonst  nicht  bewusst  wird. 

Das  geschilderte  Verfahren  spielt  sich  nicht  im  mindesten  immer 
ganz  rein  ab.  Häufig  wird  es  durch  Gewalt  oder  Betrug  gefälscht,  häufig 
wird  es  mit  Kecht  noch  weiter  abgekürzt  und  verändert.  Statt  selber,  durch 
eigene  Zustimmung,  die  Entscheidung  zu  fällen,  bezeichnet  die  Masse 
diejenige  Person,  die  sie  fällen  soll.  Die  technischen  Nothwendigkeiten  im 
Massenverkehre  drängen,  wenn  die  Massen  gross  sind,  ohnedies  zu  solchen 
Formen,  weil  in  einem  zu  grossen  Gebiete  nicht  einmal  mehr  die  Zu- 
stimmung aller  zu  allen  Einzelentscheidungen  eingeholt  werden  kann.  Die 
klarste  Weise,  die  Vertrauensperson  zu  bezeichnen,  ist  die  Wahl.  Auch  die 
Wahl,  wenn  sie  eine  Wahl  aus  dem  Herzen  der  Menge  ist  und  die  über- 
wältigende Uebereinstimmung  aller  in  der  Person  des   Gewählten   beweist, 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  121 

hat  von  daher  die  magische  Kraft,  den,  welchen  die  Einzelnen  bezeichnet 
haben,  über  alle  Einzelnen  emporzuheben,  üeber  die  Wahl  hinaus  bauen 
sich  dann  noch  andere  Formen  der  Bestellung  auf,  deren  nachdrücklichste 
dem  Fürsten  zutheil  wird,  der  seine  Würde  ohne  Auftrag  „aus  eigenem 
Rechte"  bekleidet,  umso  nachdrücklicher,  wenn  er  sein  persönliches  Recht 
aus  dem  jahrhundertalten,  unbestreitbaren  seiner  Vorfahren  ableitet,  so  dass 
das  Gefühl  der  Unterordnung  durch  keinerlei  Erinnerung  von  früher  her 
verringert  wird.  Aus  dem  Munde  des  Fürsten,  der  mit  solchem  Nachdruck 
an  die  Spitze  gestellt  ist,  wird  der  Vorschlag  zum  Gesetz  oder  Befehl,  die 
Zustimmung  des  Volkes  wird  zum  Gehorsam. 

In  der  menschlichen  Gesellschaft  werden,  je  nach  Anlage  und  äussern 
Umständen,  die  verschiedenen  Formen  gemeinsamer  Entscheidung  ab- 
wechselnd gebraucht.  Wo  immer  die  Entscheidung  einmüthig  gefasst  und 
vollzogen  werden  muss,  dort  haben  sich  diejenigen  Formen  durchgesetzt, 
die  den  nachdrücklichsten  Befehl  sichern.  So  in  der  Verfassung  der 
Armeen,  so  auch  in  der  des  Erwerbsbetriebes.  Die  Autorität  des  Unter- 
nehmers im  Betriebe  gründet  sich  theils  auf  die  Macht  überkommenen  Be- 
sitzes, theils  auf  das  Ansehen  der  Erfahrung  und  Bildung,  theils  auf  den 
Zauber  des  Talentes  und  des  Glückes.  Alle  Erwerbsbetriebe  sind  seit  jeher 
durch  eigentlichen  Befehl  geleitet  worden,  die  Productivgenossenschaft  will 
die  erste  Ausnahme  machen. 

Man  darf  sich  zugunsten  der  Verfassung  der  Productivgenossen- 
schaften nicht  etwa  auf  die  Actiengesellschaften  berufen.  Das  Statut  der- 
selben regelt  nur  die  Beziehungen  der  Eigenthümer,  der  Actionäre,  unter 
einander,  aber  nicht  den  Arbeitsbetrieb.  Bezüglich  des  letzteren  ist  nur  so 
viel  festgesetzt,  dass  die  Gesammtheit  der  Actionäre  als  solche,  weil  eben 
ein  schwerfälliges,  zur  Folge  der  Einzelentscheidungen  unbrauchbares  Wesen, 
mit  ihm  nichts  zu  schaffen  habe:  seine  Oberleitung  fällt  Einzelpersonen  zu, 
die  den  Arbeitern  mit  vollster  Befehlsmacht  gegenübertreten.  Auch  ist 
es  besonders  lehrreich  zu  beobachten,  wie  die  durch  das  Statut  rechtlich 
ohnedies  sehr  zugeschnittenen  Eiuzelbefugnisse  des  Actionärs  thatsächlich 
in  noch  viel  minderem  Maasse  ausgeübt  werden.  Die  meisten,  zumal  die 
ganz  kleinen  Actionäre  betrachten  sich  selbst  vom  Anfang  an  als  zum 
Schweigen  verurtheilt.  Wer  sie  zur  Thätigkeit  in  ihrem  Interesse  bewegen 
will,  muss  sie  erst  mit  Mühe  anspornen,  muss  eine  Gesellschaft  innerhalb 
der  Gesellschaft  bilden.  Die  Statuten  der  Actiengesellschaften  gehören,  wie 
unsere  modernen  geschriebenen  Verfassungen,  zu  den  Rechtsformen,  von 
denen  noch  mehr  auf  dem  Papiere  als  verwirklicht  ist.  Ueberaus  be- 
zeichnend ist  der  Vorgang,  der  bei  der  Errichtung  aller  grossen  Actien- 
unternehmungen  thatsächlich  eingehalten  wird,  obwohl  das  Gesetz  ihn  nicht 
fordert,  ja  während  er  eigentlich  gegen  die  im  Gesetze  festgehaltene  reine 
gesellschaftliche  Idee  verstösst.  Es  ist  geradezu  der  typische  Vorgang  der 
Massenentscheidung:  die  Gründer  schlagen  vor,  das  zeichnende  Publicum 
stimmt  zu.  Wäre  jemals  eine  grosse  Actiengesellschaft  möglich  geworden, 
wenn  man  abgewartet  hätte,  bis  alle,   die  zeichnen  wollten,  sich  im  Sinne 


122  Wieser. 

einer  wahrhaften  Verabredung  geeinigt  hätten?  So  ist  der  erste  gesellschaft- 
liche Beschluss  gleichbedeutend  mit  dem  Verzichte  der  grossen  Masse  der 
Vertragschliessenden  auf  gleichwertigen  Antheil  an  der  Meinungsäusserung, 
und  die  folgenden  Beschlüsse  der  Generalversammlungen  wiederholen  das 
Schauspiel.  Die  ausserordentliche  Entwickelung  des  Actienwesens  hängt 
gewiss  damit  zusammen,  dass  das  Publicum,  statt  auf  dem  doctrinären 
Gesetzesboden  zu  bleiben,  ohne  Bedenken,  ja  wohl  mit  zu  wenig  Bedenken 
sich  in  die  Umstände  fügte  und  sich  mit  den  Rechten  begnügte,  deren 
Ausübung  thatsächlich  möglich  war.  Die  Productivgenossenschaft  ist  bisher 
noch  zu  wenig  in  den  Fluss  der  Ereignisse  gekommen,  noch  zu  wenig  vom 
Glücke  begünstigt  gewesen,  als  dass  auch  ihre  spröden  Rechtsformen  durcli 
die  rasche  und  schmeichelnde  Hand  des  Erfolges  umgewandelt  worden  wären. 
Würden  in  den  Productivgenossenschaften  nicht  bloss  die  Lohnarbeiter 
sondern  auch  die  Betriebsbeamten  und  die  arbeitenden  Unternehmer  selbst 
vereinigt  sein,  so  wären  die  Bedingungen  eines  wahrhaften  Befehles  weit 
besser,  ja  vollkommen  gesichert.  Die  Arbeits disciplin,  die  durch  einen 
blossen  genossenschaftlichen  Beschluss  nicht  erzeugt  werden  kann,  hätte 
einen  festen  Halt  an  dem  eingewurzelten  Gefühle  der  Ueber-  und  Unter- 
ordnung der  socialen  Classen.  Derselbe  Mann,  mit  demselben  Selbst- 
vertrauen, würde  befehlen,  der  heute  befiehlt,  und  mit  derselben  Selbst- 
verständlichkeit Avürde  ihm  gewohntermassen  gehorcht;  natürlich  voraus- 
gesetzt, dass  sein  Ansehen  durch  eine  zweckmässige  Verfassung  der  Ge- 
nossenschaft gehalten  wäre,  die  die  Masse  auf  diejenigen  Rechte  verweist, 
welche  allein  von  der  Masse  wirklich  ausgeübt  werden  können.  Der  ge- 
bildete Mittelstand,  der  heute  seine  Interessen  durch  die  Arbeiterschaft 
bedroht  findet,  wäre  vielleicht  trotz  der  trennenden  socialen  Kluft  für  deren 
Sache  zu  gewinnen,  wenn  sie  ihm  seine  leitende  Stellung  an  der  Spitze 
aller  Thätigen  beliesse. 

VI. 

Während  die  Productivgenossenschaft  in  Deutschland  und  Oesterreich 
fast  vergeblich  nach  Ausbreitung  im  Grossbetriebe  ringt,  wird  gerade  in 
diesen  Staaten  das  Gebiet,  das  sie  erobern  will,  mehr  und  mehr  von  einer 
andern  neuen  Bildung  besetzt.  Ich  meine  die  moderne  öffentliche  Unter- 
nehmung, die  Grossbetriebe  des  Staates  und  der  Gemeinden.  Ihre  Geschichte 
ist  ein  Stück  wirtschaftlich -socialer  Geschichte,  in  dem  die  Motive  der 
grossen  socialen  Bew^egung,  wenn  auch  staatsmännisch  gedämpft,  gleichfalls 
anklingen.  Gerade  für  das  Verständnis  der  Productivgenossenschaft  ist  die 
Verfolgung  derselben  besonders  lehrreich. 

Die  Theorie  hat  seit  langem  den  rein  privaten  Wirtschaftsbetrieben 
des  Staates  den  Untergang  gewünscht  und  prophezeit,  der  sie  auch  grössten- 
theils  ereilt  hat.  Aus  ihrer  Asche  sind  jedoch  überraschend  schnell  und 
gross  die  öffentlichen  Unternehmungen  emporgewachsen,  Erwerbsunterneh- 
mungen, mit  deren  Aufgaben  hervorragende  öffentliche  Interessen  verbunden 
sind  und  die  daher  im  Staatsbetrieb  (bezw.  Gemeindebetrieb)  geführt  werden. 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  123 

Allerlei  Yoraussagungen  entgegen,  haben  sich  die  öifentlichen  Unterneh- 
mungen auch  in  ihrem  rein  privaten,  wirtschaftlich-technischen  Dienste  vor- 
trefflich bewährt  und  das  Axiom  von  der  Unfähigkeit  des  Staates  zur  pri- 
vaten Betriebsführung  erschüttert.  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  das  volle 
Anwendungsgebiet  der  öffentlichen  Unternehmung  heute  noch  nicht  erschö- 
pfend gefunden  ist,  wenn  es  auch  andererseits  so  gut  wie  gewiss  ist,  dass 
es  seine  bestimmten  nicht  allzu  fernen  Grenzen  habe,  indem  es  doch  nur 
bestimmte  Aufgaben  sind,  für  die  die  Wirts chaftsqualitäten  des  Staates 
ausreichen,  die  mehr  nach  der  Kichtung  von  Kraft  und  Ordnung  als  nach 
der  der  Behendigkeit  liegen.  Indes  ist  hier  nicht  der  Platz,  um  davon 
ausführlicher  zu  sprechen,  uns  interessiert  jetzt  nur  der  socialpolitische 
Gehalt  der  öffentlichen  Unternehmung.  *l 

Durch  die  öffentliche  Unternehmung  ist  zum  erstenmale  dem  capita- 
listischen  Grossbetriebe  eine  gleichgewichtige  Kraft  gegenübergestellt,  der 
Glaube  an  die  AlleinheiTschaft  der  capitalistischen  Unternehmung  im  Gross- 
betriebe ist  gebrochen  worden.  Daher  ist  die  Idee  der  Verstaatlichung  volks- 
thümlich,  sie  kommt  den  Wünschen  des  Mittelstandes  und  der  Arbeiterclasse 
entgegen,  die  sich  in  der  Abneigung  gegen  das  Grosscapital  vereinigen. 
Man  braucht  den  Hass  gegen  das  Grosscapital  und  die  ausschweifenden 
Hoffnungen,  die  aus  dem  Herzen  desselben  in  die  Idee  der  Verstaatlichung 
gesetzt  werden,  nicht  zu  theilen  und  kann  nichtsdestoweniger  den  Erfolg 
dieser  Idee  freudig  begrüssen.  Das  Gleichgewicht  der  Kräfte  ist  innerhalb 
der  Volkswirtschaft  ebenso  wichtig  wie  im  Verhältnisse  der  Staaten.  Es 
durfte  die  stärksten  Bedenken  hervorrufen,  der  privaten  Grossunternehmung 
die  sich  immer  mehr  häufenden  Betriebe  anvertrauen  zu  müssen,  die  sich 
über  das  ganze  Staatsgebiet  einheitlich  ausdehnen  sollen  und  die  dadurch, 
sowie  durch  die  innerliche  Wichtigkeit  ihrer  Aufgaben  ihren  Träger  zu 
einer  Art  öffentlicher  Macht  emporheben.  Gerade  wenn  man  die  private 
Unternehmung  als  unentbehrlich  betrachtet,  weil  in  ihr  die  unternehmende 
Kraft  sich  concentriert,  wird  man  mit  Befriedigung  beobachten,  dass  eine 
Aufgabe  von  ihr  genommen  ist,  die  sie  über  ihren  wahren  Wirkungs- 
kreis heraushebt,  sie  auf  Abwege  führt  und  der  öffentlichen  Meinung  ge- 
hässig macht. 

Man  kann  wohl  annehmen,  dass  der  geringe  Erfolg  der  Productiv- 
genossenschaften und  der  grosse  der  Verstaatlichung  mit  zu  der  Wendung 
der  socialistischen  Ideen  beigetragen  haben,  statt  der  Productivgenossen- 
schaft  lieber  den  socialen  Staat  zu  fordern.  Die  Socialisten  wollen  den 
gesammten  Erwerb  im  Sinne  der  öffentlichen  Unternehmung  verstaatlichen, 
wegen  eines  grossen  öffentlichen  Interesses,  das  ihrer  Meinung  nach  sich 
an  die  Vollziehung  jeder  Erwerbsthätigkeit  knüpft,  nämlich  des  Interesses, 
die  Arbeit  wider  das  Capital  zu  beschützen.  Wenn  schon  eine  bloss  demo- 
kratische Partei,  die  auf  dem  Boden  des  heutigen  Wirtschaftsrechtes  ver- 
bleibt, von  der  Ausdehnung  der  Verstaatlichung  in  einem  wahrhaft  demo- 
kratisch regierten  Staate  ungemessene  Vortheile  für  die  Mittel-  und  unteren 
Classen   erhoffen  kann,  Vortheile,   die  die  von   der  Productivgenossenschaft 


124  Wieser. 

erhofften  leicht  überwiegen  können,  so  ist  es  umso  begreiflicher,  wenn  die 
Gedanken  der  Socialisten  diesen  Weg  gehen. 

Was  die  Betriebsverfassung  der  öffentlichen  Unternehmung  anlangt, 
so  bringt,  völlig  im  Unterschiede  zur  Productivgenossenschaft,  der  Staat  in 
dieselbe  die  ganze  Kraft  des  Befehles  mit.  Seine  Werkstätten  ferner,  in 
denen  der  Capitalist  nichts  zu  reden  hat,  vereinigen  Lohnarbeiter  und 
Beamte  nach  der  alten  Ordnung  der  Dinge.  Eher  als  alles  andere  ist  in 
ihnen  zu  befürchten,  dass  das  Uebergewicht  des  Mittelstandes  zu  gross. 
dass  die  Disciplin  überschärft  werde.  Es  ist  höchst  wahrscheinlich,  dass 
der  socialistische  Staat,  wenn  er  je  einmal  lebendig  werden  sollte,  sich. 
zum  mindesten  im  Punkte  der  Befehlgebung,  mehr  diesem  Vorbilde  als 
dem  der  demokratischen  Productivgenossenschaft  anschliessen  werde.  Ohne- 
dies erschöpfen  sich  die  Kevolutionen  immer  an  den  Orundsätzen  und  den 
Führerstellen,  bis  zum  Innern  des  Dienstes  zu  treffen  ist  die  Kraft  noch 
keiner  gross  genug  gewesen. 

Werden  die  Freunde  der  Productivgenossenschaft  aus  der  Betrachtung 
der  öffentlichen  Unternehmung  nicht  manche  gewichtige  Lehre  zu  ziehen 
haben?  Sollten  die  Angehörigen  des  Mittelstandes  und  der  Arbeiterclasse. 
die  sich  unter  der  Führung  der  Kegierung  zum  (irossbetriebe  vereinigt 
haben,  nicht  auch  aus  eigener  Wahl  sich  zusammenzufinden  vermögen  ?  V^ 

VIL 

Wie  haben  die  Erwecker  der  Productivgenossenschaft  in  Deutschland 
über  deren  Einrichtung  gedacht?  Ihre  Aeusserungen  bieten  mehr  als  ein 
classisches  Zeugniss  dafür,  dass  es  nicht  wider  die  Grundidee  der  Productiv- 
genossenschaft verstösst,  wenn  man  dieselbe  über  den  Kreis  der  Lohnarbeiter 
hinaus  auszudehnen  und  ihnen  einen  strengen  Befehl  zu  sichern  sucht. 

Bei  Niemand  ist  dies  Zeugnis  deutlicher  als  bei  Y.  A.  Hub  er.  Er  hat 
zu  den  seltenen  Conservativen  gehört,  welche  nicht  bloss  erhalten,  sondern 
um  zu  erhalten  auch  erneuern  und  verbessern  wollen.  Er  wollte  die  Asso- 
ciation überhaupt  und  damit  auch  die  Erwerbsassociation  des  Grossbetriebes 
als  eine  conservative  Einrichtung.  Mit  Eifer  wendete  er  sich  gegen  seine 
Parteigenossen,  welche  die  Kückkehr  zur  Zunft  oder  ähnlichen  Corporations- 
forraen  der  gewerblichen  Arbeit  forderten,  die  in  den  modernen  Verhältnissen 
keinen  Boden  mehr  haben.  „Die  Association  ist  die  einzige  wahrhaft  con- 
servative Corporation  der  Gegenwart  und  Zukunft  für  die  sogenannten 
arbeitenden  Classen."  Was  er  will,  ist  „die  aristokratische  Form  der  Asso- 
ciation, die  proletarische  Association  mit  aristokratischem  Kern  und  Leitung". 
„Dass  auch  diese,  ja  sogar  die  demokratische  Association  eine  feste  Auto- 
rität haben  kann  und  muss,  versteht  sich  von  selbst,  und  es  ist  nicht  das 
geringste  Verdienst  der  Association,  dass  ihr  Gelingen  wesentlich  von  der 
Festigkeit  und  Competenz  der  Autorität  abhängt  und  dass  ihre  Praxis 
jedenfalls  immer  nach  der  Entwickelung  einer  möglichst  festen  und  starken 
Autorität  drängt." 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  125 

Lassalle  hat  sich  über  die  genauere  Einrichtung  der  Arbeiter-Associa- 
tionen  niemals  ausgesprochen.  Er  hat  ihren  Namen,  den  der  Arbeiter- 
Associationen  mit  Staatshilfe,  unter  die  Massen  geschleudert,  und  es  war 
seine  Grösse  und  sein  Verhängnis,  dass  er  den  Kampf,  der  auf  den  blossen 
Namen  hin  schon  entbrannte,  mit  kühner  Entschlossenheit  aufnahm,  im 
Sturme  Anhänger  werbend  und  die  Gegner  bestreitend,  ohne  der  Welt  und 
wohl  auch  sich  weitere  Kechenschaft  geben  zu  können.  Den  Arbeitern 
genügte  der  Zauber  des  Wortes,  und  man  thut  Lassalle  gewiss  nicht  un- 
reclit.  wenn  man  vermuthet,  dass  auch  er  sich  von  demselben  blenden  liess 
und  ihm  ohne  Probe  glaubte.  Der  tiefe,  realistische  Kenner  des  wahren 
Wesens  der  „geschriebenen"  Staatsverfassungen  vergass,  dass  auch  die 
Arbeiter-Association  erst  nur  auf  dem  Papiere  stand,  noch  dazu  mit  dem 
Namen  allein,  ohne  selbst  die  Grundlinien  der  Verfassung.  Nur  so  viel 
wissen  wir  aus  seinem  Munde,  dass  seine  Absicht  ins  Grosse  gieng,  er 
wollte  die  Association  für  den  fabriksmässigen  Grossbetrieb,  nicht  für  hand- 
werksmässige  Zwerggeschäfte,  und  er  wollte  sie  umfassend  für  das  ganze 
Teiritorium  der  Volkswirtschaft.  Vergegenwärtigt  man  sich  die  dictatorische 
Höhe,  von  der  aus  er  seine  Anhänger  leitete,  wie  er  sie  zur  genossenschaft- 
lichen Unternehmung  moralisch  zu  zwingen  suchte,  so  führt  die  logische 
Folgerichtigkeit  zu  dem  Schlüsse,  dass  wie  bei  der  Erweckung  der  Asso- 
ciationen, so  auch  bei  ihrer  Durchführung  ein  befehlender  gebildeter  Geist 
der  zaghaften  unwissenden  Menge  vorgesetzt  werden  dürfe  und  müsse. 

Bei  Schulze-Delitzsch  liegt  die  Sache  ganz  anders.  Er  war  mehr  als 
ein  Kufer  im  Streit,  seine  Worte  verkündigten  sein  „ernst  bereitetes  Werk". 
Er  hat  Productivgenossenschaften  nicht  nur  gefordert,  sondern  auch  that- 
sächlich  begründet,  wiewohl  Lassalle  ihm  vorwerfen  konnte,  dass  er  es  erst 
gethan,  bis  dessen  Drängen  die  Geister  wachgerufen  hatte.  Wir  kennen 
seine  Ansichten  über  die  Statuten  derselben  bis  ins  einzelne,  er  liat  ein 
Musterstatut  entworfen,  er  hat  ja  endlich  die  genossenschaftliche  Gesetz- 
gebung Deutschlands  und  mit  ihr  auch  die  Oesterreichs  eingegeben.  Wenn 
solchergestalt  die  deutsche  und  österreichische  Productivgenossenschaft  in 
gesetzlicher  Vorschrift,  Theorie  und  Praxis  auf  ihn  zurückgeht,  so  kann 
man  nichtsdestoweniger  gerade  ihn  als  Zeugen  wider  die  Verfassung  der- 
selben aufrufen.  Man  kann  es,  weil  der  von  ihm  ausgeführte  Plan  die 
grösseren  Umrisse  des  zuerst  von  ihm  entworfenen  Planes  nicht  ausfüllt. 
Noch  ist  ein  Theil  seiner  Idee,  noch  ist  seine  höchste  und  letzte  Absicht 
nicht  verwirklicht. 

Man  lese  in  seinen  „Arbeitenden  Classen"  die  Ausführung  auf  Seite  63: 
„Ebensowenig  ist  es  unsere  Meinung,  dass  sich  die  Association  auf  Arbeiter 
oder  Handwerker  gewisser  Gewerbszweige  beschränken  müsse.  Vielmehr  ist 
es  im  Interesse  aller  wünschenswert,  dass  sich  bei  ihrer  Gründung  Leute 
aus  allen  Fächern  betheiligen,  dass  Capitalisten,  Kaufleute,  Techniker  und 
eigentliche  Arbeiter  gleich  von  Haus  aus  zusammentreten  und  so  die  ver- 
schiedene Vorbildung  und  Begabung,  ja  selbst  einen  Theil  der  materiellen 
Mittel   mitbringen,    welche    zu  einem  schwunghaften  Angriff  der  Sache  so 


1 26  Wieser. 

förderlich  sind.  Nur  darauf  kommen  wir  immer  wieder  zurück :  dass,  ehe 
nicht  die  Arbeiter  sich  aus  eigener  Kraft  und  aus  eigenem  Triebe  an  der- 
gleichen Unternehmungen  wagen  und  thatsächlich  die  Möglichkeit  darthun, 
dass  sie  es  allenfalls  auch  allein,  ohne  Betheiligung  der  übrigen  Classen 
durchzusetzen  vermögen,  man  sich  von  Seiten  dieser  wohl  hüten  wird,  ihnen 
dabei  entgegenzukommen.  ..." 

Bekanntlich  hat  der  Vereinstag  der  deutschen  Genossenschaften  in 
diesem  Sinne  beschlossen,  „es  sei  den  Productivgenossenschaften  zu 
empfehlen,  sich  bei  der  Aufnahme  von  Mitgliedern  nicht  an  die  betreffen- 
den Gewerbsgenossen  zu  beschränken,  sondern  auch  Mitglieder  aus  andern 
Kreisen,  besonders  auch  aus  dem  Kaufmannsstande  heranzuziehen".  Der 
Genossenschaftsanwalt  ermangelt  nicht,  alljährlich  in  seinem  Berichte  diesen 
Rath  zu  wiederholen.  Indes  wurde  schon  während  der  Verhandlung,  die 
dem  Beschlüsse  vorausgieng,  „sofort  erinnert",  „dass  der  Beschluss  schwer- 
lich weittragende  Folgen  haben  werde,  da  Personen,  welche  nicht  zu  den 
unmittelbaren  Fachgenossen  zählen,  in  der  Regel  wenig  Lust  zeigen,  in  eine 
Productivgenossenschaft  einzutreten".  Man  hat  es  also  mit  einem  Beschlüsse 
zu  thun,  der  sich  selber  von  vornherein  als  einen  „akademischen"  ansah. 
Wäre  er  mehr  gewesen,  so  hätte  etwas  gethan  werden  müssen,  um  die 
Productivgenossenschaft  entsprechend  einzurichten,  d.  h.  um  solche  Rechts- 
formen zu  sichern,  welche  den  Eintritt  anderer  als  unmittelbarer  Fach- 
genossen erleichtert  hätten. 

Schulze-Delitzsch  hat  in  seinen  Anfängen  sich  für  ausgiebige  Erwei- 
terung der  Rechtsformen  gerade  hinsichtlich  der  Productivgenossenschaft 
ausgesprochen.  In  dem  eben  genannten  Werke  heisst  es  (S.  76),  nachdem 
er  von  der  damals  sich  so  erfreulich  anlassenden  Entwickelung  der  franzö- 
sischen Associationen  erzählt  hat,  weiter:  „Die  rechtliche  Verfassung  der- 
selben wechselt  zwischen  der  Societe  en  nom  coUectif  —  wo  sämmtliche 
Mitglieder  den  Gläubigern  solidarisch  haften  und  die  Angelegenheiten  der 
Association  durch  Mehrheitsbeschlüsse  ordnen,  die  Verwaltung  aber  mittelst 
gewisser  Ausschüsse  oder  Beamten  führen  —  und  der  Societe  en  comman- 
dite  des  französischen  Code  de  commerce,  wo  einer  oder  mehrere  gerants 
mit  grösserer  Machtvollkommenheit  an  der  Spitze  des  Geschäftes  stehen 
und  Dritten  gegenüber  allein  haften,  während  die  Mitglieder  nur  auf  Höhe 
ihrer  Geschäftsantheile  verbindlich  sind Die  Natur  dieser  Associa- 
tionen, welche  eine  feste,  einheitliche  Leitung  zum  Gedeihen  des  Geschäfts 
fordern,  brachte  es  ganz  von  selbst  mit  sich,  dass  allmählich  fast  alle  zu 
der  zweiten  Form  übergegangen  sind". 

Man  lese  sodann  Seite  86,  wo  es  für  Deutschland  heisst:  „Mit  dieser 
Verfassung"  (die  der  Societe  en  nom  collectif  entspricht)  „ist  man  bei  den 
bisherigen  Associationen  im  allgemeinen  durchgekommen,  doch  dürfte,  so- 
bald man  zur  Production  für  gemeinschaftliche  Rechnung  übergeht,  eine 
mehr  einheitliche  Leitung  erfahrungsmässig  Bedürfnis  werden,  in  welchem 
Falle  man  in  der  auch  dem  deutschen  Handelsrechte  bekannten  Commandit- 
gesellschaft  die  geeignetere  Form  finden  wird". 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschafteii.  127 

Ich  will  nicht  untersuchen,  wesshalb  die  deutsche  Gesetzgebung  den 
ersten  Anregungen  von  Schulze-Delitzsch  nicht  in  ihrem  vollen  Umfange 
gerecht  wurde  sondern  mit  den  sämmtlichen  Erwerbs-  und  Wirtschafts- 
genossenschaften auch  die  Productivgenossenschaft  zunächst  auf  das  Statut 
der  „Societe  en  nom  collectif  eingeschränkt  hat,  ja  warum  selbst  Schulze- 
Delitzsch  die  weitesten  Ziele  seines  ersten  Planes,  den  er  offenbar  unter 
dem  Einflüsse  Huber's  gefasst  hatte,  späterhin  aus  den  Augen  verlor.  Im 
Musterstatut  für  die  Productivgenossenschaften  sucht  er  dieselben  nicht 
im  mindesten  aus  dem  flachen  Rahmen  der  gesetzlichen  Organisation 
zu  energischeren  Formen  emporzuheben.  Gemäss  den  Probestatuten  für 
„Productivgenossenschaften  mit  geringer  Mitgliederzahl "  soll  der  Vorstand 
auf  1  Jahr,  später  auf  2  Jahre,  für  „Genossenschaften  mit  stärkerer  Mit- 
dliederzahl"  soller  „auf  beiderseits  halbjährliche  Kündigung"  gewählt  werden. 
In  seiner  letzten  Arbeit  „Material  zur  Revision  des  Genossenschafts-Gesetzes " 
aus  dem  Jahre  1883  beschränkt  er  sich  auf  Fragen  der  Durchführung, 
macht  Zugeständnisse  im  Punkte  der  unbeschränkten  Haftung,  aber  dringt 
mit  keinem  Worte  auf  eine  erweiterte  Grundlegung  des  Genossenschafts- 
rechtes, die  es  erlauben  würde,  den  Kreis  der  Mitglieder  über  die  „Arbeiter-' 
auszudehnen  und  eine  festere  Leitung  zu  organisieren. 

Und  doch  hätte  die  stockende  Entwickelung  der  deutschen  Productiv- 
genossenschaften es  nahe  legen  können,  ihnen  die  Wege  des  Gesetzes  besser 
zu  ebnen.  Die  blosse  Zulassung  der  beschränkten  Haftung  zu  der  von 
Anfang  her  allein  gestatteten  unbeschränkten  Haftung  konnte  gerade  für 
Productivgenossenschaften  keinen  sonderlichen  Erfolg  versprechen,  in  Oester- 
reich  galt  ja  das  „Wahlsystem",  und  man  kam  auch  nicht  weiter.  Wohl 
aber  durfte  man  auf  den  ersten  Gedanken  von  Schulze-Delitzsch  zurück- 
greifen, auf  die  Commanditgesellschaft  und  verwandte  Formen,  auf  allerlei 
Genossenschaften  „wesentlich  ungleichen  Rechtes"  wenn  man  so  sagen 
kann.  Deutschland  und  Oesterreich  erlauben  nur  Genossenschaften  „wesent- 
lich gleichen  Rechtes"  —  warum?  Hält  man  damit  nicht  jeden  Theilnehmer 
von  den  Genossenschaften  zurück,  der  mit  mehr  Kraft,  Bildung  und  Mitteln 
auch  grössere  Ansprüche  auf  Verdienst,  vor  allem  aber  auch  auf  Wirk- 
samkeit stellt?  Raubt  man  ihnen  nicht  ihre  berufeneu  Führer?  Es  ist  ganz 
erklärlich,  dass  sich  diese  den  capitalistischen  Unternehmungen  anbieten, 
die  ihnen  alles  bewilligen  was  sie  beanspruchen.  Die  Productivgenossen- 
schaft ist  für  den  Grossbetrieb,  für  den  sie  doch  bestimmt  ist,  wegen 
dessen  sie  doch  heraufbeschworen  wurde,  durch  das  Gesetz  selbst  concurrenz- 
unfähig  gemacht,  ihr  gesetzliches  Maass  ist  auf  den  Kleinbetrieb  zuge- 
schnitten, auf  den  Schurz  .des  Handwerkers,  nicht  auf  das  Kleid  des 
Fabrikanten.  Warum?  Dem  Sinne  von  Schulze-Delitzsch  wird  man 
am  gerechtesten,  wenn  man  —  neben  etwas  lehrhaft  übertriebener  Vorliebe 
für  die  „reine"  Genossenschaftsform,  besonders  für  die  unbeschränkte 
Haftung,  die  aber  ihm,  dem  grossen  Lehrer  des  Volkes,  wohl  ansteht  — 
noch  hinzunimmt,  er  habe  die  Genossenschaften  sich  aus  dem  Bedürfnisse 
entwickeln,  ihr  Recht  sich  dem  Bedürfnisse  anpassen  lassen  wollen.    Er  hat 


128  Wieser. 

ausgebildet  was  er  an  Antrieben  vorfand,  zumal  im  Mittelstande,  dem  er 
selber  angehörte,  es  war  ihm  wohl  ein  missliches  Experiment,  grössere  Formen, 
die  sich  erst  später  ausfüllen  mochten,  für  die  Zukunft  vorzubilden.  Er  war 
ein  echter  Mann,   der  in  der  Gegenwart  wirkte,  aber  auch  in  ihr  aufgieng. 

VIII. 
Das  neue  deutsche  Genossenschaftsgesetz  vom  1.  Mai  1889  ist  im 
allgemeinen  gewiss  eine  beträchtliche  Verbesserung  des  alten  Gesetzes  und 
mag  vielleicht  das  Lob  verdienen,  welches  ihm  ein  juristischer  Beurtheiler 
gespendet  hat,  dass  es  „im  ganzen,  wie  von  allen  Seiten  anerkannt  ist, 
auf  der  Höhe  der  Zeit  stehe,  in  seltener  Vollendung".  Was  gerade  die 
Productivgenossenschaft  anbelangt,  so  ist  es  dagegen  im  wesentlichen  ganz 
auf  der  alten  Grundlage  verblieben.  Das  Gesetz  hatte  allerdings  zunächst 
die  Aufgabe,  der  genossenschaftlichen  Bewegung  in  Deutschland  gerecht  zu 
werden,  die  in  die  Grossindustrie  noch  nicht  eingedrungen  ist,  aber  es 
wäre  wohl  nicht  wider  seine  Aufgabe  gewesen,  für  den  Fall  voraus  zu  sorgen, 
dass  einmal  auch  die  Grossindustrie  derselben  geöffnet  werden  sollte,  sei 
es  durch  die  Arbeiter,  sei  es  durch  die  Unternehmer  selbst.')  Vielleicht 
werden  sich  manche  von  diesen  letzteren  in  ihrem  wohlverstandenen  eigensten 
Interesse  hiezu  entschliessen  mögen.  Die  wichtigste  Aenderung  des  Gesetzes, 
dass  die  beschränkte  Haftung  zugelassen  wurde,  ist  immerhin  auch  in  Eück- 
sicht  auf  die  productivgenossenschaftlichen  Ziele  zu  begrüssen,  weil  die 
Freiheit  der  Bewegung  grösser  geworden  ist.  Weiter  zu  gehen,  konnte 
man  sich  indes  nicht  entschliessen.  Es  würde,  sagt  der  Motivenbericht 
der  ßegierung,  „über  das  Maass  des  Nothwendigen  hinausgehen,  wenn 
man  den  Genossenschaften  nach  dem  Muster  des  französischen  oder  schweize- 
rischen Gesetzes  die  Bestimmung  der  Haftungsart  völlig  frei  geben  wollte. 
Die  daraus  hervorgehende  Vielgestaltigkeit  würde  leicht  zur  Verwirrung 
und  Gefährdung  des  Geschäftswesens  führen."  War  es  in  der  That  noth- 
wendig.  nur  den  eben  als  „nothwendig"  erachteten  Kaum  für  die 
Bewegung  freizugeben?  Ist  der  Geschäftsverkehr  in  der  kaufmännischen 
Welt  verwirrt  und  gefährdet,  w^eil  neben  der  offenen  Gesellschaft  und  der 
Actiengesellschaft  noch  die  beiden  Formen  der  Commanditgesellschaft  — 
mehr  als  diesen  Spielraum  räumt  auch  das  französische  Gesetz  den  Genossen- 
schaften nicht  ein  —  gestattet  sind?  Die  beiden  Schattirungen  der  unbe- 
schränkten Haftpflicht,  die  im  neuen  Gesetze  beschlossen  wurden,  sind  viel- 
leicht viel  eher  geeignet,  zu  verwirren  und  zu  gefährden,  als  die  Erlaubnis 
es  gewesen  wäre,  die  alten  Formen  des  Handelsrechtes  zu  benützen.  Alles 
kommt  doch  darauf  hinaus,  dass  man,  bei  allem  Wohlwollen  für  den  kleinen 
Mann,  die  Grossunternehmung  so  sehr  als  die  Domäne  des  Besitzes  betrachtet, 
dass  man  glaubt,  gesetzliche  Vorsorgen  für  einen  anderen  Fall  ganz  und 
gar   nicht  versuchen  zu  müssen.    Die  übrigen  Veränderungen  des  Gesetzes, 


1)  Ueber    einen    hiehergehörigen    Fall    fBorchert  in  Berlin)  s.  Böhmert  Gewinn- 
betheiligung, S.  255. 


Grossbetrieb  und  Prodüctivgeiienossschaften.  129 

soweit  sie  auf  unsere  Sache  Bezug  haben,  zeigen  denselben  Geist.  Wie 
im  alten  Gesetze  schon,  ist  die  Stellung  des  Vorstandes  jederzeit  wider- 
ruflich erklärt:  immerhin  ist  die  Forderung  beseitigt,  dass  der  Vorstand 
durch  Wahl  bestimmt  werden  müsse.  Dagegen  ist  für  denselben  das  neue 
Erfordernis  gestellt,  dass  er  mindestens  aus  zwei  Mitgliedern  zu  bestehen 
habe,  was  zwar  dem  Geiste  der  demokratischen  d.  h.  kleinen  Genossen- 
schaft entspricht,  wo  man  einem  Einzigen  so  viel  Machtvollkommenheit 
nicht  anvertrauen  will,  während  es  dagegen  jene  Form  der  Association  aus- 
schliesst,  die  in  eine  monarchische  Spitze  ausgeht  und  daher  der  Grossindustrie 
vielleicht  am  angemessensten  ist. 

Man  mag  ja  sagen,  dass,  sobald  ein  starkes  Bedürfnis  nach  Productiv- 
genossenschaften  grösseren  Stiles  sich  melden  sollte,  die  Pforten  der 
Gesetzgebung  sicherlich  für  sie  werden  geöffnet  werden.  Man  kann  die 
Aufgabe  der  Gesetzgebung  aber  auch  anders  fassen.  Man  kann  es  für  ihre 
Pflicht  erklären,  allen  moralisch  zulässigen  und  thatsächlich  ausführbaren 
Acten  von  vorneherein  rechtliche  Wirkung  zu  wahren.  Schliesslich  ist  ja 
nur  durch  eine  unvermeidliche  Arbeitsth eilung  der  Process  der  Gesetzgebung, 
d.  i.  der  feierlichen  Verkündigung  des  rechtsbildenden  Willens,  von  dem 
Processe  der  thatsächlichen  Aeusserung  dieses  Willens  getrennt  worden.  Der 
dadurch  bedingten  Gefahr,  dass  das  Gesetz  zu  spät  komme,  ist  am  besten 
zu  begegnen,  wenn  man  es  schon  bei  Zeiten  für  den  Fall  des  Gebrauches 
fertigstellt.  Niemand  wird  leugnen,  dass  der  genossenschaftlichen  Bewegung 
gegenüber  die  Gesetzgebung  sich  einer  argen  Versäumnis  schuldig  gemacht 
hat.  Der  rechtsbildende  Wille  war  da,  die  durch  die  moderne  Technik 
zusammengeführten  Arbeitermassen  wollten  als  Masse,  als  Einheit  sprechen. 
Kechte  erwerben,  Pflichten  auf  sich  nehmen  —  ein  natürlicher  Anspruch, 
dem  nach  „natürlichem  Eechte**  jedermann  mit  seinen  Eechtshandlungen 
entgegengekomnien  wäre,  dem  aber  die  formale  W^eihe  des  gesatzten  Kechtes 
erst  viel  zu  spät  zutheil  geworden  ist.  In  Deutschland  und  Oesterreich  ist 
sie  ihm  auch  heute  noch  nicht  voll  und  ganz  geworden.  Die  Arbeiter,  die 
rechtlich  als  eine  productive  Einheit  auftreten  wollen,  können  dies  nui*, 
wenn  sie  sich  zu  „wesentlich  gleichem  Eecht"  verbinden.  Den  anderen 
Verbänden,  die  sie  etwa  unter  sich  beschliessen  wollten,  versagt  das  Gesetz 
die  rechtliche  Wirkung,  obwohl  alle  ihre  Aeusserungen,  ihre  Erklärungen 
Kechte  auf  sich  nehmen  zu  wollen,  ebenso  deutlich  und  nach  „natürlichem 
Kechte"  ebenso  bindend  sind.  Hat  man  einmal  die  Lücke  des  Gesetzes 
erkannt,  die  darin  bestand,  dass  die  „Gesellschaften  wechselnder Mitgliederzabl" 
wie  die  Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossenschaften  in  der  Sprache  des 
Kechtes  heissen,  nicht  zugelassen  waren,  so  war  es  gesetzgeberische  Pflicht, 
allen  Witz  aufzubieten,  um  sie  auch  in  allen  denkbaren  Formen  zuzulassen, 
deren  sie  sich  bedienen  mochten.  Zum  mindesten  durften  ihnen  diejenigen 
nicht  versagt  sein,  die  das  bürgerliche  und  das  Handelsgesetzbuch  für  die 
Gesellschaften  der  capitalistischen  und  gebildeten  Classen  längst  ausgebildet 
hatte,  und  die  also  als  Ausdrucksmittel  gesellschaftlichen  Willens  längst 
bekannt  waren,  -f- 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  S^ocialpolitik  und  Verwaltung,  I.   Heft.  9 


130  Wieser. 

Ist  es  nicht  bezeichnend,  dass  wir  besondere  Gesellschaftsformen  für 
die  besitzenden  Classen  und  ebenso  besondere  für  die  arbeitenden  Classen 
ausgebildet  haben,  dass  aber  gerade  diejenigen  Formen  fehlen,  in  denen  die 
beiden  Classen  sich  vereinigen  könnten?  Die  Scheidung,  über  deren  üble 
Folgen  wir  so  klagen,  ist  eben  der  uns  selbstverständliche  Zustand. 

IX. 

Neben  dem  Zeugnisse  der  Urheber  der  Productivgenossenschaft  in 
Deutschland  lässt  sich  aus  den  Vorgängen  in  Frankreich,  dem  Mutterlande 
der  Productiv  -  Association ,  ein  noch  entscheidenderes  Thatsachenzeugnis 
für  die  Behauptung  erbringen,  dass  diese  Association,  wenn  sie  im  Sinne 
ausgedehnterer  Betheiligung  und  strengeren  Eegimentes  organisiert  wird, 
ihrer  Aufgabe  im  Grossbetriebe  erst  voll  gerecht  zu  werden  vermag. 

Ich  will  zu  diesem  Zwecke  die  vielberufenen  Organisationen  von 
Godin,  Leclaire  und  Boucicaut  etwas  eingehender  erörtern.  Anfänglich  als 
Einzelunternehmungen  mit  Gewinnbetheiligung  eingerichtet  —  wie  sie  denn 
zumeist  hiefür  als  Beispiele  herangezogen  werden  —  sind  sie  schliesslich 
zu  eigenthümlichen  Productiv-Associationen  geworden,  und  als  solche  will 
ich  sie  hier  besprechen.  Alle  drei  gehören  sie  dem  Grossbetriebe  an,  die 
von  Boucicaut  begründete  Anstalt,  das  bekannte  grosse  Warenhaus  „Au 
bon  marche"  in  Paris  ist  sogar  eine  der  grössten,  wenn  nicht  die  grösste 
ihrer  Art.  Wir  finden  durch  sie  einen  Charakterzug  auch  auf  socialwirtschaft- 
lichem  Gebiete  bethätigt,  der  für  die  Franzosen  ebenso  bezeichnend  ist,  als 
die  Schärfe  und  Kühnheit,  mit  der  sie  die  letzten  Principien  des  gesellschaft- 
lichen Zusammenlebens  aufrühren,  das  ist  nämlich  die  Kraft  zur  praktischen 
Ausgestaltung  der  neuen  Ideen.  Die  Deutschen,  zuerst  durch  die  berauschenden 
Worte  ergriffen,  die  über  die  Grenze  schollen,  haben  nach  und  nach,  sowohl 
dadurch,  dass  sie  politisch  grösser,  als  dass  sie  ernüchterter  wurden,  gelernt 
herauszuhören,  wie  viel  Phrase  da  mit  eingemischt  war  und  ist.  Es  wäre 
aber  ein  schlimmer  Irrthum  zu  glauben,  dass  sie  damit  ihre  Nachbarn 
ausgelernt  hätten,  zu  deren  bestem  Wesen  auch  noch  ein  unermüdlicher 
und  zugleich  befeuerter,  vollendeter  praktischer  Verstand  gehört. 

Die  in  den  nächsten  Abschnitten  folgende  Darstellung  der  genannten  drei 
Organisationen  wird  zeigen,  dass  dieselben  keineswegs  auf  der  Basis  der 
deutsch-österreichischen  demokratischen  Productivgenossenschaft  stehen.  Sie 
stützen  sich  nicht  bloss  auf  die  Lohnarbeiter,  sondern  sie  sind  grundsätzlich 
auch  auf  das  übrige  zum  Betriebe  gehörige  Personale  ausgedehnt.  Und  sie 
suchen  dem  Betriebsleiter  die  möglichste  Autorität  zu  wahren.  Zu  diesen 
Principien  gesellen  sie  noch  das  weitere,  die  Kechte  der  betheiligten  Arbeiter 
selbst  strenge  abzustufen.  Besonders  klar  tritt  dasselbe  bei  Godin  und 
Leclaire  hervor,  in  den  Vorrechten  der  „Elite",  des  „Kernes".  Ein  Theil  des 
Personales,  der  verhältnismässig  nicht  einmal  sehr  gross  ist,  ist  ausschliesslich 
berufen,  diejenigen  Eigenthümerrechte  auszuüben,  die  nach  Abzug  der 
Befugnisse  der  Leitung  überhaupt  noch  verbleiben.  Der  Best  der  Arbeiter- 
schaft ist  auf  den  Genuss  der  Eigen thumsfrüchte   in   Form    einer  liberalen 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  131 

Gewinnbetheiligung,  eventuell  auch  reichlicher  Fürsorge  für  ihre  Zukunft 
beschränkt. 

Die  Abstufungen  sind  so  scharf,  der  Kreis  der  zur  „Elite"  zugelassenen 
Personen  verhältnismässig  so  gering,  dass  der  Name  einer  Productiv- 
genossenschaft  in  dem  uns  vertraut  gewordenen  Sinne  kaum  anwendbar 
scheint.  In  der  That  sind  jene  Organisationen  auch  nicht  Ausbildungen 
unseres  genossenschaftlichen  Gedankens,  sie  sind  Associationen,  die  aus  der 
Einzelunternehmung  hervorgegangen  sind  und  auch  deutlich  deren  festeres 
Gepräge  zeigen.  Godin  vollends,  dem  grösstangelegten  der  neuen  Organi- 
satoren, ist  der  Gedanke  der  blossen  Arbeitergenossenschaft  immer  fremd 
gewesen,  er  hatte  vom  Anfang  her  die  höhere  „Association  des  Talentes, 
der  Arbeit  und  des  Capitales"  im  Sinn.  Die  Association,  die  er  schuf,  galt 
ihm  keineswegs  als  eine  verkümmerte  Genossenschaft,  sondern  als  die 
schönste  überhaupt  denkbare  Form  der  Vereinigung,  die  „Association 
integrale.'' 

Zugunsten  der  Idee  der  Elite  ist  zunächst  ein  äusserlicher  Umstand 
anzuführen,  die  Nothwendigkeit,  je  nach  dem  Geschäftsgang  die  Arbeiterzahl 
zu  wechseln.  Hieran  muss  sich  die  reine  demokratische  Idee  der  Genossen- 
schaft jedenfalls  brechen.  Es  geht  an,  Arbeiter  nach  Bedarf  anzustellen  und 
zu  entlassen,  aber  es  ist  wider  den  Begriff  des  Geschäftsherrn,  dass  ihm 
Woche  für  Woche  die  Thüre  gewiesen  werden  kann.  Es  liegt  nahe,  deshalb 
die  Herrenrechte  von  Anfang  an  auf  einen  so  geringen  Theil  der  Arbeiterschaft 
einzuschränken,  der  jedenfalls  weil  er  zum  Geschäftsstamme  gehört,  immer  er- 
halten bleiben  muss.  Schul  ze-Delitzsch  hat  sich  selbst  gezwungen  gesehen, 
nach  einer  -anderen  Seite  hin  Zugeständnisse  zu  machen.  Wenn  die  ersten 
Gründer  der  Genossenschaft  Capital  erspart  haben,  sollen  sie  dann  gehalten 
sein,  neue  Genossen  ohneweiters  zuzulassen?  Schulze-Delitzsch  verlässt 
hier  selbst  den  Boden  der  demokratisch-genossenschaftlichen  Idee,  indem  er 
gestattet,  neue  Arbeiter  als  blosse  Lohnarbeiter  zu  beschäftigen,  wobei  er 
freilich  den  Bath  gibt  und  den  Wunsch  ausspricht,  man  möge  ihnen,  bis 
sie  gleichfalls  Capitaleinlagen   machen   könnten,    den   Eintritt   offen   lassen. 

Man  hat  gesagt,  dass  durch  Genossenschaften  derartig  abgestuften 
Rechtes  die  Lohnarbeit  nicht  aus  der  Welt  geschafft  wird,  so  dass  das 
bekämpfte  Uebel  nicht  beseitigt  ist.  Nun,  es  wäre  immerhin  ein  Erfolg, 
wenn  das  Uebel  erheblich  gemildert  würde.  Aber  die  Lohnarbeit  als  solche 
ist  gar  nicht  das  Uebel,  das  bekämpft  wird,  sie  muss  überhaupt  kein  Uebel 
sein,  wenn  sie  nicht  dazu  gemacht  wird.  Das  Uebel,  um  das  es  sich  im 
Grossbetrieb  handelt,  ist  die  kümmerliche  und  die  aussichtslose  Lohnarbeit 
der  Massen,  die  die  Gesellschaft  scheidet.  Gelänge  es,  den  Massen  die 
Hoffnung  und  den  Anspruch  bieten  zu  können,  dass  sie  in  eine  besitzende 
„Elite"  eintreten  werden,  die  nicht  zu  gross  zu  sein  braucht,  wenn  sie 
nur  nicht  zu  klein  ist  —  welcher  Gewinn,  welcher  Umschwung  wäre  das! 
Die  Entwickelung  ist  überhaupt  niemals  anders  als  stufenweise  gelungen, 
von  Grad  zu  Grad  und  ebenso  auch  von  Classe  zu  Classe.  Nur  schichten- 
weise kann  sich  das  Volk  von  seinem  Falle  erheben.    Die    Elite    wird    der 

9* 


]^32  Wieser. 

Mustertypus  sein,  die  Vorschule  für  die  üebrigen.  Die  Gebildeten  sind  dem 
Volke  nicht  verständlich,  von  denen  lernt  es  nichts  als  Luxus  und  Unsitte, 
die  man  absehen  kann,  während  eine  geistige  Verbindung  kaum  besteht. 
Ist  aber  einmal  ein  Theil  des  Volkes  emporgehoben,  dann  wird  der  Rest 
von  ihm  lernen  können,  weil  er  seinesgleichen  ist.  Dann  wird,  was  heute 
so  fehlt,  wieder  ein  üebergang  sein  von  den  Höchsten  zu  den  Niedersten, 
man  wird  sich  wieder  verstehen  lernen  und  wieder  finden. 

Der  Gedanke  der  Elite,  so  sehr  er  der  demokratischen  Auffassung 
der  Genossenschaft  widerspricht,  ist  der  Angelpunkt  in  der  Verfassung 
der  zu  besprechenden  französischen  Productivgenossensehaften,  die  bisher 
fast  die  einzigen  bedeutungsvollen  gesellschaftlichen  Organisationen  des 
Grossbetriebes  sind.  Er  macht,  äusserlich  und  innerlich,  die  Zuwendung 
der  Eigenthumsrechte  an  die  Arbeiterschaft  erst  möglich.  Allen  kann  man 
das  Eigenthum  nicht  geben,  ohne  es  aufzuheben,  aber  einer  Anzahl  der 
Besten  und  Zuverlässigsten  kann  man  es  sichern,  und  das  wird  in  seinen 
letzten  Folgen  allen  zugute  kommen. 

Bevor  ich  die  Statuten  der  oben  berufenen  französischen  Productiv- 
Associationen  bespreche,  möchte  ich  nur  noch  das  ürtheil  eines  französi- 
schen Autors  über  dieselben  mittheilen,  das  von  Charles  Robert,  der 
schriftstellerisch  für  die  Sache  der  Gewinnbetheiligung  der  Arbeiter  so  viel 
gethan  hat  und  der  als  Leclaire's  Freund  und  Berather  eine  so  genaue 
praktische  Vertrautheit  mit  diesem  Gegenstand  besitzt.  Er  schreibt  in  dem 
Berichte,^)  den  er  anlässlich  der  letzten  Pariser  Weltausstellung  über  die 
„Associations  cooperatives  de  production"   erstattet  hat.  Folgendes: 

„Manche  Beispiele  beweisen  bis  zur  Evidenz,  dass  die  Arbeiter  in  ge- 
wissen Fällen  gedeihende  Genossenschaften  selbständig  begründen  können, 
aber  ich  wüsste  nicht  genug  auf  die  Nothwendigkeit  zu  dringen,  eine  kräf- 
tige und  wohlbezahlte  Geschäftsleitung  einzurichten  ....  Die  Genossen- 
schaft braucht  eine  machtvolle  Executivgewalt,  die  gewiss  strenge  con- 
troliert  werden,  aber  die  doch  wieder  ihres  nächsten  Tages  gewiss  und 
gegen  die  anarchische  Einmischung  einfacher  Genossen  in  die  Geschäfts- 
leitung sichergestellt  sein  muss.  Es  ist  nothwendig,  dass  die  Arbeit  die 
Mitwirkung  des  Talentes  aufsuche,  dass  die  kräftigen  Arme  sich  einen 
fähigen  Kopf  beschaffen,  dass  die  Leitung  der  Genossenschaften  eine  ein- 
trägliche Laufbahn  sei.  Vielleicht  wird  man  eines  Tages  sehen,  dass  die 
Arbeitergenossenschaften  den  Hochschulen  ihre  besten  Ingenieure  abfordern 
werden,  um  ihnen  hohen  Gehalt,  schöne  Gewinnbetheiligung  und  einen 
Contract  von  zwölf  oder  fünfzehn  Jahren  anzubieten.  Ein  bemerkenswerter 
Zug  der  reichen  und  blühenden  Productivgenossensehaften,  wie  z.  B.  der 
des  Familisteriums  von  Guise,  ist  die  Anordnung  einer  strengen  Hierarchie 
von  Graden,  durch  die  man  hindurchgehen  muss.  Wir  sind  weit  von  jenem 
blinden  und  brutalen  allgemeinen  Gleichheitsniveau  entfernt,  unter  das 
gewisse  Socialisten  die  Welt  der  Arbeit  beugen  möchten."  .... 


Bulletin  de  la  participation  aux  benefices  1891.  S.  33  ff. 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  133 

„Welchen  Ursprungs  immer  sie  seien,  die  Productivgenossenschaften, 
um  zu  einem  entsprechenden  und  dauernden  Erfolge  zu  kommen,  müssen 
dem  Capitale  den  Zins  und  Gewinn  zusprechen,  die  ihm  gebüren.  die 
Arbeit  jedes  Genossen  nach  ihrem  thatsächlichen  Werte  bezahlen  und 
namentlich  der  Leitung  die  nothwendige  Belohnung,  Dauerhaftigkeit  und 
Autorität  geben." 

Und  nun  noch  eine  Bemerkung.  Die  französischen  Grossassociationen, 
von  denen  ich  Beispiele  geben  will,  imponieren  nicht  durch  ihre  Zahl,  es 
sind  ihrer  äusserst  wenige.  Statistisch  vermögen  sie  daher  nichts  zu  er- 
weisen, das  aber  sollen  sie  auch  nicht.  Bis  durch  eine  genügende  Ueber- 
zahl  ein  statistisch  vollgiltiger  Beweis  erbracht  werden  könnte,  dann  braucht 
man  die  Statistik  nicht  mehr,  dann  ist  die  Sache  in  sich  selbst  stark 
genug  geworden,  um  weiterzuwirken.  Für  den  Anfang  handelt  es  sich  um 
die  Idee  und  ob  sie  innerliche  Macht  genug  besitzt,  um  die  Geister 
zu  entzünden.   <^ 

X. 

Die  Statuten  der  Godin'schen  Association^)  sind  ein  umfangreiches, 
für  den  Juristen  und  Nationalökonomen  gleich  interessantes  Werk.  Godin 
beklagt  sich,  dass  die  Enge  der  französischen  Genossenschaftsgesetzgebung 
ihm  bei  der  Abfassung  derselben  schwere  Hindernisse  bereitet  habe  —  wie 
hätte  er  erst  über  die  deutsche  und  österreichische  Gesetzgebung  zu  klagen 
gehabt!  —  meint  aber,  dass  vielleicht  gerade  der  ihm  hiedurch  auferlegte 
Zwang  genauester  Präcisierung  die  Lebensfähigkeit  seines  Werkes  erhöht 
habe.  Die  Statuten  sind  ein  Versuch,  den  Typus  der  Grossbetriebsassociation 
bis  ins  einzelnste  festzustellen.  Ob  man  sie  auch  für  verbesserungsbedürftig 
halten,  ob  man  sie  vielleicht  in  gewissen  Grundlagen  für  verfehlt  halten 
mag,  so  wird  doch  niemand  ihrem  Urheber  Genie  und  reichste  Erfahrung 
absprechen  dürfen.  Godin,  der  als  armer  Dorf  band  werker  begonnen  hat  und 
als  grosser  reicher  Unternehmer  gestorben  ist,  ist  vor  den  vielen  indu- 
striellen Talenten  unserer  Zeit  noch  dadurch  ausgezeichnet,  dass  er  auch 
etwas  von  den  ganz  besonderen  intellectuellen  und  moralischen  Gaben  eines 
socialen  Keformators  besass. 

Die  Godin'sche  Association  erstreckt  sich  nicht  bloss  auf  den  Erwerb 
der  Mitglieder.  Abgesehen  davon,  dass  sie  auch  für  Consum  und  Erziehung 
Anstalten  trifft,  vereinigt  sie  noch  den  grösseren  Theil  ihrer  Mitglieder  in 
einem  gemeinschaftlichen  Wohnhause :  richtiger  in  einem  Wohnpalaste,  dem 
Producte  der  „socialen  Architektur."  dem  „Eamilisterium,"  in  welchem 
dasjenige  verwirklicht  ist,  was  von  der  Fourier'schen  Idee  des  Phalan- 
steriums   lebensfähig   war.     Wer  Godin's  Werk  vollständig  würdigen  will. 


1)  S.  Godin,  Mutualite  sociale,  Paris  1880  (zu  vergl.  desselben  Verfassers  „Solutions 
sociales"  Paris  1871).  Ferner  Bernardot,  Le  Familistere  de  Guise  (eine  für  die  Pariser 
Weltausstellung  geschriebene  umfassende  Darstellung  der  Entwickelung  und  des  Bestandes 
des  Unternehmens).  Hievon  ein  Auszug  in  H.  Häntschke,  Gewinnbetheiligung  der  Arbeit, 
J.  B.  A.  Godin  und  seine  Schöpfung  (Abdruck  aus  den  Blättern  für  Genossenschaftswesen). 


134  Wieser. 

darf  sich  keineswegs  auf  seine  Organisation  des  Erwerbes  beschränken.  Ich 
muss  es  hier  thun,  füge  aber,  um  Missverständnisse  auszuschliessen,  we- 
nigstens die  eine  Bemerkung  bei,  dass  man  es  auch  im  übrigen  nicht  mit 
einem  socialistischen  Experiment  zu  thun  hat.  Die  Entwickelung  des  Indivi- 
duums ist  der  Zweck,  dem  alles  dienen  soll,  und  die  überkommenen  Ideen 
von  Recht  und  Sitte  Tverden  nirgends  verwirrt. 

Um  die  äusseren  Verhältnisse  des  Unternehmens  in  Kürze  klarzustellen, 
so  sei  erwähnt,  dass  die  Fabrik  Heiz-  und  Kücheneinrichtungen  u.  dgl. 
herstellt;  dass  das  Geschäftscapital  zur  Zeit  als  Godin  sein  blühendes 
Einzelunternehmen  in  eine  Association  umwandelte,  am  13.  August  1880. 
4,600.000  Francs  ^)  betrug  und  sich  seither  etwa  verdoppelt  hat;  dass  das  Capital 
fast  ganz  Godin  gehörte,  heute  aber  fast  ganz  den  Angestellten  gehört, 
was  sie  freilich  mit  dem  Umstände  zu  verdanken  haben,  dass  ihnen  Godin 
sein  halbes  Vennögen  vermachte ;  dass  in  den  beiden  Werkstätten  in  Guise 
und  Laeken  am  1.  Juli  1888  zusammen  1451  Personen  (190  Beamte. 
1261  Arbeiter)  beschäftigt  waren ;  dass  im  Familisterium  zu  Guise,  Kinder 
und  Frauen  miteingerechnet,  am  1.  Jänner  1889,  1748  Personen  wohnten; 
und  dass  nach  dem  am  15.  Jänner  1888  erfolgten  Tode  Godin's  das  Unter- 
nehmen unverändert  erfolgreich  weitergeführt  wurde. 

Godin's  „Association  du  Capital  et  du  Travail"  ist  juristisch  genommen 
eine  einfache  Commanditgesellschaft.  Unter  dieser  Rechtsform  will  sie  ihr 
hohes  sociales  Ziel  erreichen,  das,  wie  wir  gleich  auf  dem  Titelblatte  der 
„Mutualite  sociale"  erfahren,  darin  besteht  die  Volksverarmung  durch  die 
Anerkennung  zweier  Rechte  —  Grundrechte,  UiTechte  —  auszutilgen, 
nämlich  durch  die  Anerkennung  des  Rechtes  der  Schwachen  auf  den  noth- 
wendigen  Lebensbedarf  und  des  Rechtes  der  Arbeiter  auf  Gewinnbetheiligung. 

Zur  Verwirklichung  des  ersteren  hat  die  Association  Hilfscassenein- 
richtungen  umfassendster  und  grossartigster  Anlage.  Sie  werden  durch  Bei- 
träge der  einzelnen  Mitglieder  und  Beiträge  der  Association  erhalten  und 
durch  die  Betheiligten  selbst  verwaltet.  Hievon  handeln  die  besonderen 
Statuten  der  „Assurances  mutueUes"  in  95  Artikeln. 

Ueber  das  letztere  müssen  wir  uns  aus  den  allgemeinen  GeseUschafts- 
statuten  („Statuts")  in  142  Artikeln  und  aus  den  104  Artikeln  der  Geschäfts- 

^)  Das  franz.  Gesetz  (Loi  sur  les  societes  vom  24.  Juli  1867,  Art.  49)  gestattet 
den  Genossenschaften  (societes  ä  capital  variable)  nur  ein  Grundcapital  von  200.000  Frcs., 
schränkt  also  damit  die  genossenschaftliche  Grossassociation  sehr  ein.  Diese  ist  der 
capitalistischen  Gesellschaft  vorbehalten,  wobei  man  gleichfalls,  ebenso  wie  anderwärts, 
vergessen  hat,  dass  das  sociale  Problem  ja  eigentlich  dem  Grossbetriebe  angehört.  Weil 
die  Genossenschaften  thatsächlich  fast  immer  mit  ganz  kleinen  Grundcapitalien  zu  beginnen 
und  häufig  sich  bis  zum  Ende  in  ganz  bescheidenem  Kahmen  zu  halten  gezwungen  sind, 
lässt  man  sich  zu  der  irrigen  Meinung  verleiten,  dass  sie  in  der  Grossunternehmung 
nichts  zu  suchen  hätten,  und  verschliesst  ihnen  daher  dieselbe  von  gesetzeswegen.  Der 
berufene  Art.  49  des  franz.  Gesetzes  hat  übrigens  bei  der  Mehrzahl  der  Erklärer  eine 
liberale,  einschränkende  Auslegung  dahin  gefunden,  dass  er  nur  von  der  Actiengesellschaft 
und  Commanditgesellschaft  auf  Actien  gelten  soll.  Damit  sind  die  offene  Gesellschaft  und 
die  einfache  Commanditgesellschaft  für  die  genossenschaftlichen  Bestrebungen  gerettet, 
S.  Mathieu  et  Bourgui^nat.  Commentaire  de  la  Loi  sur  les  societes,  Paris  1868.  S.  244  ff. 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  135 

Ordnung  (Reglement)  belehren.  Wii-  ersehen  hieraus,  dass  das  Recht  auf 
Gewinnbetheiligung  mehr  ist  als  sein  Name  besagt.  Godin  erhöht  es  bis  zu 
einem  Rechte  auf  Geschäftsbetheiligung,  dessen  die  obersten  Stufen  der 
Arbeiterschaft  unter  gewissen  Bedingungen  theilhaftig  werden.  Die  Arbeiter 
geringsten  Rechtes,  die  „Hilfsarbeiter"  „Auxiliaires"  seiner  Statuten  —  hier 
wie  überall  ist  unter  der  Arbeiterschaft  die  Beamtenschaft  mitzuverstehen  — 
empfangen  nämlich  ihre  Gewinnantheile  in  der  Form  blosser  Einzahlungen 
für  die  Hilfscassen,  die  Arbeiter  der  bevorzugten  Stufen  dagegen  empfangen 
sie  in  Spareinlagen,  die  nach  Umständen  in  eigentliche  Geschäftseinlagen 
verwandelt  werden,  falls  entweder  das  Geschäftscapital  vermehrt  werden  soll 
oder  aber  nachdem  die  älteren  Einlagen  amortisiert  worden  sind. 

Um    die    Arbeiterschaft   so   reich    dotieren    zu   können,    müssen   sich 
freilich  Unternehmer  und  Capital  bescheiden,   und  hier  ist  der  Punkt,   wo 
das  Godin'sche  System  vielleicht  grundsätzliche  Anfechtung  erfahren  wird. 
Godin  erkennt  durchaus    die    grossen   productiven   Dienste    der    tüchtigen 
Geschäftsleitung   und   des    Capitales    an,    desgleichen   die   Nothwendigkeit, 
beide   durch   entsprechende  Belohnung   zu  ermuntern.     Man  möge  sich  nur 
erinnern,  dass  er  selbst  als  Unternehmer  reich  geworden  ist.  Seiner  Meinung 
nach  gebürt  dem    Capitale  von  rechtswegen  der  übliche  regelmässige   Zins 
(er  berechnet  ihn  mit  h^/o),  ausserdem  gebürt   ihm  noch,    ebenso   wie    der 
Arbeit  und  verhältnismässig  mit  ihr,   Antheil  am  Reingewinn,    wenn   dieser 
den    üblichen  Capitalzins   übersteigt.     Der  Leitung  gebürt,    ausser   der  Be- 
zahlung nach  üblichem  Maasse,  ein  besonders  hoher  Antheil  am  Reingewinn. 
Aber   der  Lohnarbeit  gebürt  auch  ihr  Antheil,    und  es  muss  ferner,    seiner 
Ansicht  nach,    dafür  Sorge  getragen  werden,    dass   diejenigen  Arbeiter,    die 
Capital   erspart   haben,    dasselbe  innerhalb  des  Geschäftes  selbst,   mit  An- 
spruch auf  die  entsprechende  Gewinnchance,  anlegen  können.  Hieraus  folgert 
er  für  diejenigen,    die  bereits  durch  längere  Zeit  mit  Capital  am  Geschäfte 
betheiligt  waren,  die  Verpflichtung,  der  Reihe  nach  den  jüngeren  Genossen 
Platz  zu  machen.    Aus   den    durch  die  Gewinnbetheiligung  gebildeten  Spar- 
einlagen   der  jüngeren  Genossen    sind  die  älteren  mit  dem  Nominalbetrage 
ihrer  Geschäftseinlagen  nach  einem   festen  Plane  allmählich  hinauszuzahlen, 
aber  ohne  dass  sie  etwa  weiteren  Antheil  an  den  Dividenden  hätten,  so  wie 
ihn    die  Genusscheine    den  hinausgezahlten  Actionären  geben.     Godin  gibt 
somit  der  Amortisation  stärkere  Kraft  als  sie  bei  den  Actiengesellschaften, 
bei  denen  sie  vorkommt,  gewöhnlich  besitzt,  wo  sie  das  Stimmrecht,  bezw. 
Miteigenthum  zwar  aufhebt,  aber  in  der  Regel    —    das  Gesetz  schreibt  es 
keineswegs    vor    —    noch    Anspruch    auf  einen  Theil   der  Früchte  belässt. 
Wichtiger  ist  der  Unterschied,  der  hinsichtlich  der  Veranlassung  der  Amor- 
tisation bei  Godin    gegenüber   den  Fällen   der  Actiengesellschaft  besteht. 
Diese    amortisieren,  weil   sie  die  Liquidation  des  Unternehmens  vorbereiten 
müssen.    Godin   aber  thut  es  in  Aussicht  auf  den  Fortbestand  des  Unter- 
nehmens. Er  will  damit  erreichen,  dass  Capital  und  Arbeit  ständig  vereinigt 
bleiben.     Nur  durch  ihre  Vereinigung   wirken  sie;    deshalb   sollen  die  Ar- 
beiter auch,    der  Regel  nach  und  auf  die  Dauer,  zugleich  die  Capitaleigeu- 


136  Wieser. 

thümer  sein  —  Grodin  selbst  hat  sich  mit  seiner  gesammten  Capitalseinlage, 
als  der  erste,  der  Amortisation  unterworfen.  Ich  will  diesen  Grundsatz,  den 
eigenthümlichsten  und  folgenschwersten  des  ganzen  Systems,  nicht  weiter 
erörtern,  ihn  weder  anfechten,  noch  vertheidigen,  sondern  in  der  Darstellung 
der  statutarischen  Bestimmungen  fortfahren. 

Godin  räumt  den  Arbeitern  ihre  Ansprüche  nicht  unbesonnen  und 
bedingungslos  ein.  Die  reinen  Socialisten  haben  ebensoviel  Ursache,  ihm 
einzusprechen,  als  die  Vertreter  des  reinen  Capitalinteresses. 

Er  behält  der  Geschäftsleitung  alle  wesentlichen  Elemente  des  Befehles 
vor  und  theilt  der  Arbeiterschaft  nur  sehr  beschränkte,  noch  dazu  stark 
abgestufte  Befugnisse  zu. 

Von  den  Ansprüchen  der  untersten  Stufe  der  Arbeiterschaft, 
der  „Hilsarbeiter",  war  bereits  die  Kede.  Von  sämmtlichen  1451  im 
Geschäfte  Thätigen  zählten  (nach  dem  Stande  vom  1.  Juli  1888) 
nicht  weniger  als  636,  darunter  65  Beamte  und  571  Lohnarbeiter,  zu  dieser 
Classe.  Die  nächst  höhere  Stufe  ist  die  der  „Theilhaber"  „Participants", 
38  Beamte,  422  Lohnarbeiter,  zusammen  460  Mann.  Sie  und  die  folgende  Stufe 
der  „Mitglieder"  „Societaires"  empfangen,  wie  bereits  gesagt,  die  Gewinn- 
antheile  in  Spareinlagen  mit  der  Anwartschaft  auf  Geschäftsbetheiligung. 
Sie  sind  ferner  darin  bevorzugt,  dass  sie  erst  nach  den  Hilfsarbeitern 
entlassen  werden  dürfen,  wenn  Geschäftsrückgang  die  Verringerung  der 
Arbeiterzahl  nothwendig  macht,  wobei  die  dritte  Stufe  wieder  vor  der 
zweiten  und  innerhalb  einer  jeden  die  länger  dienenden  Arbeiter  vor  den 
später  eingetretenen  bevorzugt  sind.  Die  „Mitglieder"  sind  ferner  bei  der 
Gewinnvertheilung  bevorzugt,  indem  ihr  Lohn  hiebei  nach  einem  besseren 
Schlüssel,  nämlich  mit  1507o  in  Anschlag  kommt.  „Mitglieder"  gab  es 
am  1.  Juli  1888  258,  wovon  50  Beamte,  208  Lohnarbeiter.  Theilhaber  und 
Mitglieder  bedürfen  der  Zulassung  durch  den  Geschäftsrath,  die  nur  unter 
besonderen  Bedingungen  ertheilt  werden  kann,  wobei  es  unter  anderm  auf 
Alter  und  Dauer  des  Dienstes  ankommt;  „Mitglieder"  müssen  überdies  im 
Familisterium   wohnen,     Besitz    eines  Geschäftscapitales  ist  nicht  erfordert. 

Erst  die  oberste  Stufe  der  Genossen  hat  Antheil  an  den  Regierungs- 
rechten. Diese  heissen  „Gesellschafter",  „Associes",  und  sie  bilden  die 
Generalversammlung.  Sie  können  nicht  entlassen  werden,  ihr  Lohn  oder 
Gehalt  wird  bei  der  Gewinnvertheilung  mit  200^  o  angeschlagen.  Sie  können 
nur  durch  die  Generalversammlung  aufgenommen  werden,  und  müssen, 
nebst  andern  strengeren  Erfordernissen,  mindestens  500  Francs  Capital 
erspart  haben.  Ihre  Zahl  betrug  am  1.  Juli  1888  bloss  97,  wovon  nur  60 
Lohnarbeiter,  37  Beamte  waren. 

Die  Generalversammlung  empfängt  die  Jahresberichte.  Sie  hat  über 
die  wichtigsten  Fragen  der  Vermögensverwaltung  Gutachten  mit  bestimmter 
Rechtswirkung  abzugeben.  Ihr  sind  die  Statutenfragen  und  die  wichtigsten 
Personalfragen  vorbehalten.  Insbesondere  wirkt  sie,  durch  Wahl  oder  Be- 
stätigung, an  der  Bestellung  des  Chefs  des  Unternehmens  mit,  der  aber 
aus  der  Mitte  des    Geschäftsrathes    genommen    werden    muss.    Sie    wählt 


Gro-ssbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  137 

drei  Delegierte  in  den  Geschäftsrath.  Sie  wählt  den  aus  drei  Mitgliedern 
bestehenden  Aufsichtsrath,  der  das  Controlorgan  der  Gesellschaft  ist  und 
dem  es  namentlich  zusteht,  den  Antrag  auf  Absetzung  des  Chefs  zu  stellen. 

Die  Leitung  ist  dem  Chef  des  Unternehmens  vorbehalten.  «Admini- 
strateur  gerant"  „geschäftsführender  Vorstand".  Er  ist  der  Firma-Inhaber  und 
hat  dritten  Personen  gegenüber  alle  Rechte  und  Pflichten  eines  solchen, 
insbesondere  volle  ausschliessliche  Vertretungsbefugnis  und  unbeschränkte 
persönliche  Haftung.  Auch  nach  innen,  der  Gesellschaft  gegenüber,  hat 
er,  abgesehen  von  Personen-  und  Statutenfragen,  freie  Entscheidung,  wenn 
er  auch  Rechenschaft  legen  und,  unter  bestimmten  Rechtsfolgen,  Gutachten 
einholen  muss.  Selbst  in  Personen-  und  Statutenfragen  sind  ihm  Reservatrechte 
vorbehalten,  die  seiner  Initiative  Spielraum  lassen  und  es  verhindern,  dass 
eine  andere  Autorität  sich  über  die  seinige  stelle.  Es  würde  zu  weit  führen, 
alle  Einzelheiten  der  überaus  kunstvoll  ausgedachten  Gewaltenvertheilung 
aufzuzählen.  Der  wichtigste  noch  zu  erwähnende  Punkt  ist,  dass  der 
Firma-Inhaber  auf  Antrag  des  Aufsichtsrath  es  von  der  Generalversammlung 
in  bestimmten  Fällen  abgesetzt  werden  kann,  wenn  er  sich  nämlich 
in  unzweideutiger  Weise  unfähig,  nachlässig  oder  vertrauensunwürdig  er- 
wiesen hat.  Ausserdem  endigt  sein  Amt  nur  mit  seinem  Willen.  Obwohl 
nicht  HeiT  aus  eigenem  Rechte  hat  er  doch  wie  der  gewählte  Präsident 
einer  Republik  alle  wesentlichen  Vorrechte  der  Autorität. 

Godin  hatte  sich  als    Gründer   und    erster    „geschäftsführender  Vor- 
stand" besondere  Vorrechte   vorbehalten,    selbstverständlich    die    Unabsetz- 
barkeit,  dann  aber  auch  allerlei  Rechte,  die  ihm  erlaubten,  seine  Verfassung . 
zu  verbessern  und  das  Erziehungswerk  an    seinen    Genossen    zu   vollenden. 
Auch  behielt  er  sich  vor,  seinen  Nachfolger  zu  ernennen. 

Hinsichtlich  des  Chefs  der  Unternehmung  war  ihm  nicht  bloss  wichtig, 
ihm  gegenüber  den  Arbeitern  die  nothwendige  Autorität  zu  bewahren, 
sondern  er  wollte  auch  gewährleistet  haben,  dass  er  die  nothwendige  Fähig- 
keit für  seinen  wichtigen  Posten  besitze.  Wie  er  einerseits  „une  direction 
süffisante  et  stable"  sichern  wollte,  wollte  er  andrerseits  das  „regime 
arbitraire  d'un  seul  chef  de  fabrique "  ausschliessen.  Es  sollte  ausgeschlossen 
sein,  dass  die  Direction,  die  „von  Natur  der  Begabung  und  dem  Verdienste 
gebürt",  im  Erbwege  in  unfähige  und  ungeschulte  Hände  falle. 

Dem  „geschäftsführenden  Vorstand"  ist  ein  „Geschäftsrath"  beigegeben, 
der  sich  in  mehrere  Unterabtheilungen  gruppiert.  Er  besteht  unter  dem 
Vorsitze  des  „geschäftsführenden  Vorstandes"  aus  3  Delegierten  der  General- 
versammlung und  9  (jetzt  10)  Directoren  oder  Abtheilungsvorständen.  Seine 
Rechte  in  Personalfragen  sind  zum  Theile  bereits  besprochen  worden.  Von 
besonderer  Bedeutung  ist  seine  Mitwirkung  bei  der  Bestimmung  des  Chefs. 
Der  Geschäftsrath  hat  in  allen  wichtigeren  Betriebsangelegenheiten  Gut- 
achten abzugeben. 

Der  „geschäftsführende  Vorstand"  erhält  4  Proc,  der  „Geschäftsrath" 
16  Proc,  der  „Aufsichtsrath"  2  Proc.  des  Reingewinnes  als  Extratantieme, 
ausser  ihren  regelmässigen  Gehalten,    Löhnen,  Zinsen  und  Gemnnanth eilen. 


138  Wieser. 

Sämmtliche  Angestellte  der  Association  werden  durch  Wahl  oder 
aber  nach  Prüfung  und  Concurs  bestellt. 

Diejenigen  Personen,  welche  Geschäftsantheile  besitzen,  ohne  der 
Gesellschaft  Dienste  zu  leisten,  heissen  „Interessenten"  „Interesses".  Zu 
ihnen  gehören  z.  B.  die  aussenstehenden  Erben  von  Gesellschaftern,  die 
deren  Capitalsansprüche  erworben  haben,  oder  solche  Personen,  denen  Ge- 
schäftsantheile mit  Zustimmung  der  Association  cediert  wurden.  Sie  haben 
Zins-  und  Dividendenrechte,  aber  keinerlei  Antheil  an  der  Verwaltung  und 
können  stets  mit  ihren  Vermögensansprüchen  nach  dem  Nominalwerte  ab- 
gefunden werden. 

Nachdem  wir  die  Kolle,  die  den  Interessenten  zugetheilt  ist,  kennen 
gelernt  haben,  ist  uns  erst  ein  voller  Ueberblick  über  die  Beziehungen 
gegeben,  in  welche  Godin  das  Capital  zur  Unternehmung  stellt.  Sein  erster 
Zweck  ist,  den  Arbeitern  das  ünternehmungscapital  zugänglich  zu  machen, 
aber  er  erreicht  zugleich  mit  diesem  noch  einen  anderen:  dem  ünter- 
nehmungscapitale  umgekehrt  auch  die  Arbeit  zu  verbinden.  Was  ist  das 
Grundübel  in  der  heutigen  Actien-Capitalunternehmung?  Dass  dem  Actionär 
die  allein  durch  die  Arbeit  zu  schaffende  persönliche  Beziehung  zum  Ge- 
schäfte fehlt,  daher  er  so  leicht  versucht  ist,  Speculant  zu  werden,  die 
dauernden  Geschäftsinteressen  um  seines  augenblicklichen  Vortheiles  willen 
zu  verletzen,  oder  aber  sich  damit  bescheidet,  wie  ein  Fremder,  fast  wie  ein 
Gläubiger,  dem  ganzen  Betriebe  fernzubleiben,  mit  dem  er  nichts  zu  schaffen 
hat.  Während  Godin  beiden  Folgerungen  begegnet,  verfällt  er  aber  doch 
nicht  in  das  Extrem,  das  Capital  ganz  starr  an  die  Arbeit  zu  binden.  Er 
nimmt  auf  die  unvermeidlichen  Abweichungen  des  Einzelinteresses  Eück- 
sicht  und  erlaubt  dem  Capitale  eine  gewisse  Beweglichkeit,  die  einerseits 
dem  Genossen  bei  der  Verwertung  seines  Besitzes  zugute  kommen  muss, 
und  andrerseits  auch  dem  Geschäfte  wenn  nöthig  fremdes  Capital  zuführt 
oder  erhält. 

Godin  bezeichnet  als  Angehörige  seiner  Gesellschaft  alle  Arbeiter 
ausser  den  „Hilfsarbeitern"  und  ausserdem  die  Interessenten.  Civilrechtlich 
müssen  selbstverständlich  alle  diejenigen  den  Gläubigern  haften,  welche 
unter  irgend  einem  Titel  Vermögenseinlagen  im  Geschäfte  stehen  haben. 
Alle  diese  Personen  sind  es  auch,  auf  die  sich  die  gesellschaftlichen  Ver- 
luste vertheilen. 

Die  hier  im  kürzesten  Auszuge  mitgetheilten  statutarischen  Bestim- 
mungen der  Association  von  Guise  können  ein  abschliessendes  ürtheil  über 
den  Wert  der  Einrichtungen  Godin's  nicht  erlauben.  Sie  können  nur  zu 
einem  genaueren  Studium  derselben  anregen.  Gewiss  liegt  hier  eine  un- 
gewöhnliche organisatorische  Leistung  vor,  der  Versuch  einer  wahren  Ver- 
fassung des  Grossbetriebs,  wo  das  in  Eechtsregeln  gefasst  ist,  was  jetzt 
durch  Willkür,  Herkommen  und  die  ungeschriebenen  Gebote  des  Concurrenz- 
1  Marktes  nicht  „geregelt"  sondern  bloss  vollzogen  wird.  Godin  will  keines- 
wegs, dass  Talent  und  Besitz  auf  ihre  Vorrechte  verzichten,  er  will  nur, 
dass  sie  die  einfache  Arbeit  auch  zu  ihrem  Rechte  kommen  lassen.  Worauf 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  139 

er  für  sich  verzichtet  hat,  das  sind  seiner  Meinung  nach  nur  die  schein- 
baren Vortheile  des  Augenblicks,  die  preisgegeben  werden  müssen,  um  die 
grössten  und  dauerndsten  Erfolge  zu  behaupten. 

XL 

Die  Einrichtungen  Leclaire's^)  haben  mit  denen  Godin's  viel  Ver- 
wandtes. Leclaire  hat  ohne  Zweifel  den  Euhm  der  Priorität  für  die  meisten 
Ideen,  aber  Godin  hat  sein  System  noch  weiter  durchgebildet,  wie  es  auch 
der  grössere  umfang  und  die  grössere  JSchwierigkeit  des  von  ihm  geführten 
Betriebes  verlangten.  Das  Leclaire'sche  Geschäft  führt  Maler-,  Vergolder- 
und ähnliche  Arbeiten  aus,  sein  Capital  wurde  allmählich  auf  400.000  Francs, 
seit  1.  Jänner  1891  bis  auf  800.000  Francs  gesteigert,  die  Anzahl  der 
beschäftigten  Arbeiter  und  Beamten  betrug  1870  758,  1880  949,  1889 
959  Mann.  Auch  Leclaire  hat  als  Arbeiter  begonnen  und  ist  als  reicher 
Mann,  mit  Hinterlassung  eines  Vermögens  von  1,200.000  Francs  gestorben; 
er  hat  es  oft  gesagt,  dass  er  ohne  sein  Gewinntheilungssystem  niemals  so 
reich  geworden  wäre.  Leclaire  enthielt  sich  seit  1865  jeder  Einflussnahme 
auf  die  Leitung  seines  Geschäftes,  1872  starb  er,  und  auch  darin  ist  die 
Analogie  mit  dem  Godin'schen  Unternehmen  fortgesetzt,  dass  trotz  des  Todes 
des  Begründers  das  Geschäft  auf  der  von  ihm  geschaffenen  Grundlage  sich 
weiter  erhielt  und  gedieh. 

Die  Entwickelung  des  Leclaire'schen  Geschäftes  und  seine  Einrichtungen 
sind,  namentlich  in  Eücksicht  auf  die  Gewinnbetheiligung  der  Arbeiter  und 
deren  ausserordentliche  Erfolge,  oft  beschrieben  worden.  Die  betreffenden 
Darstellungen  in  den  bekannten  Werken  von  Böhmert  und  Gilman  ver- 
dienen in  den  weitesten  Kreisen  gelesen  zu  werden.  Ich  kann  mich  hier 
umso  kürzer  fassen,  als  sich,  wie  gesagt,  vieles  mit  den  Godin'schen  Ein- 
richtungen berührt. 

Auch  im  Hause  Leclaire  haben  alle  Arbeiter  ohne  Ausnahme  Anrecht 
auf  Gewinnbetheiligung.  Der  halbe  Reingewinn  jedes  Jahres  wird  den 
Arbeitern  baar  ausbezahlt. 

Unter  den  Arbeitern  besteht  wieder  eine  bevorzugte  Elite,  „noyau" 
(1887  aus  131  Mitgliedern  bestehend).  Unter  deren  Vorrechten  ist  wieder 
zu  erwähnen  die  besondere  Berücksichtigung  in  Hinsicht  auf  dauernde 
Beschäftigung.  Die  Mitglieder  des  „noyau"  bilden  die  Generalversammlung, 
die  den  Schiedsrath  erwählt,  bei  der  Bestimmung  der  Chefs  mitwirkt 
und  über  Statutenänderungen  entscheidet. 

Die  Mitglieder  des  „noyau"  können  in  die  wechselseitige  Hilfscasse  auf- 
genommen werden.  Die  Hilfscasse  ist  ihrerseits  am  Geschäfte  als  Comman- 
ditistin  mit  dem  halben  Geschäftsfonde  (200.000,  jetzt  400.000  Frcs.) 
betheilioft. 


V)  Siehe  die  Statuten  in  „Maison  Leclaire.  A.  Defourneaux  et  Cie.  Eeglement 
de  la  niaison.  Acte  de  Societe  A.  Defourneaux  et  Cie.«  Paris  1»73.  Dazu  Bulletin  de 
la  participation  aux  benefices  vom  Jahre  1891  S.  65  f. 


140  Wieser. 

Neben  ihr  enthält  die  Gesellschaft  zwei  (jetzt  drei)  öffentliche, 
persönlich  haftende  Gesellschafter,  welche  den  Betrieb  zu  leiten  haben  und 
die  Geschäftsherren  sind,  mit,  wie  erwähnt  werden  mag,  durch  die  eigen- 
thümliche  genossenschaftliche  Verfassung  thatsächlich  nicht  im  mindesten 
eingeschränkter  Autorität.  Sie  sind  Eigenthüm^r  des  halben  Capitales.  Tritt 
nach  dem  Tode  eines  der  Chefs  ein  neuer  in  die  Firma  ein,  der  den  auf 
ihn  entfallenden  Fond  nicht  einzulegen  vermag,  so  müssen  die  Erben  seines 
Vorgängers  dessen  Capital  so  lange  stehen  lassen,  bis  es  aus  den  Einkünften 
des  neuen  Chefs  zurückgezahlt  werden  kann.  Den  öffentlichen  Gesellschaftern 
gebürt,  neben  massigem  Gehalt  und  b^/^  Capitalszinsen,  ein  Viertel  des 
Reingewinnes,  dessen  eine  Hälfte,  wie  bereits  erwähnt,  unter  die  Arbeiter 
vertheilt  wird.  Das  letzte  Viertel  gebürt  der  Hilfscasse  als  Commanditistin. 

Die  Chefs  sind,  so  oft  eine  Stelle  frei  wird,  aus  den  Oberbeamten 
des  Geschäftes  über  Vorschlag  des  Schiedsrathes  durch  die  General- 
versammlung zu  wählen,  und  dieser  Wahl  müssen  dann  noch  die  älteren 
Chefs,  beziehungsweise  der  Vorstand  der  Hilfscasse  ihre  Zustimmung 
ertheilen.  Jeder  Chef  kann  von  den  übrigen  im  Verein  mit  dem  Vorstand 
der  Hilfscasse,  nach  Anhörung  zweier  mit  den  Functionen  eines  Aufsichts- 
rathes  betrauten  Delegierten  der  Generalversammlung,  zur  Abdankung  verhalten 
werden. 

Die  Oberbeamten  des  Geschäftes  sind  möglichst  aus  den  Arbeitern 
zu  nehmen,  die  dem  „noyau"  angehören.  Sie  werden  nach  einem  Concurse 
durch  die  Generalversammlung  vorgeschlagen,  worauf  sie  noch  der  Bestätigung 
durch  die  Chefs  und  den  Vorstand  der  Hilfscasse  bedürfen. 

Als  wesentlicher  Gehalt  der  Organisationen  Leclaire's  und  Godin's  ist 
also  festzustellen: 

Ausser  dem  allen  Arbeitern  gemeinsamen  Rechte  auf  Reingewinn 
und  dem  Ansprüche  auf  „Versorgung"  (der  allerdings  bei  Leclaire  nur  der 
Elite  zusteht)  haben  die  begabteren  und  strebsameren  Arbeiter  noch  zwei 
Aussichten:  die  eine,  sich  am  Geschäfte  mit  Capital  betheiligen  und  die 
bedeutungsvollen  Rechte  der  Generalversammlung  ausüben  zu  können, 
und  die  andere,  in  die  höheren  Beamtenposten  und  zuletzt  selbst 
die  höchste  Stelle  des  Chefs  der  Unternehmung  vorzurücken,  wenn  das 
Vertrauen  ihrer  Genossen  und  ihre  Leistungen  sie  dazu  berufen.  Die  Hier- 
archie der  Leitung  der  Grossunternehmung  ist  nicht  aufgehoben,  ja  nicht* 
einmal  erschüttert,  nein,  vielmehr  moralisch  und  intellectuell  gefestigt,  aber 
sie  ist  dem  Arbeiter  nicht  mehr  unzugänglich,  sie  ist  ihm  geöffnet.  Das 
ist  ein  Punkt,  der  über  den  Discussionen,  die  hinsichtlich  der  Ansprüche 
auf  den  Capitalbesitz  geführt  werden,  gewöhnlich  vernachlässigt  wird,  der 
aber  von  ganz  gleich  grosser  Wichtigkeit  ist. 

Ich  habe  bei  dieser  Darstellung  alles  das  nicht  erwähnt,  was  Leclaire 
und  Godin  gethan  haben,  um  ihre  Arbeiter  nicht  bloss  intellectuell  sondern 
auch  moralisch  zu  heben.  Beide  waren  sich  dessen  auf  das  vollste  bewusst. 
dass  höhere  Ansprüche  auch  verdient  sein  müssen  und  vom  ungebildeten 
rohen  Arbeiter  nur  missbraucht  werden  würden. 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  141 

xn. 

Einen  wesentlich  andern  Typus  der  Productivassociation  im  Gross- 
betriebe zeigt  das  von  A.  Boucicaut  begründete  Warenhaus  „Au  bon 
marche\  Das  Geschäfts capital  dieses  Hauses  beträgt  nicht  weniger  als 
20  Millionen  Francs,  ein  Keservefond  in  der  doppelten  Höhe  ist  vorgesehen. 
Die  Geschichte  des  Geschäftes,  dessen  Gründer  gleichfalls  mit  nichts  be- 
gonnen hatte,  ist  bei  Gilman  erzählt  und  in  der  deutschen  Uebersetzung 
seines  Buches  von  L.  Katscher  bis  auf  die  neueste  Zeit  fortgesetzt.  Das 
Geschäft  hat  Gewinnbetheiligung  und  eine  munificente  Altersversorgung 
durchgeführt,  für  die  namentlich. die  Witwe  Boucicaut's  in  der  grossmüthig- 
sten  Weise  die  Fonds  anwies.  Frau  Boucicaut  überliess  schon  bei  ihren 
Lebzeiten  Antheile  am  Geschäfte  einigen  ihrer  Angestellten,  welche  Er- 
sparnisse gemacht  hatten,  hauptsächlich  den  Oberbeamten,  und  nach  ihrem 
Tode,  nachdem  sie  ihre  Angestellten  und  die  Versorgungscasse  mit  gross- 
artigen Legaten  bedacht  hatte,  gieng  das  Geschäft  vollends  in  den  Besitz 
von  Angestellten  des  Hauses  über.  Ich  gebe  im  Folgenden  den  wesentlichen 
Inhalt  der  Gesellschaftsstatuten  nach  ihrer  neuesten  Fassung  vom  24.  Sep- 
tember 18901). 

Die  Gesellschaft  ist  eine  Commanditgesellschaft  auf  Actien.  Das 
Capital  von  20  Millionen  ist  in  400  Actien  zu  50.000  Francs  zerlegt,  die 
aber  wieder  in  Achtelantheile  weiter  zerlegt  werden  können.  Für  unseren 
Zweck  interessant  sind  nur  diejenigen  Bestimmungen,  die  sich  auf  die 
Leitung  beziehen,  sowie  diejenigen,  die  die  Verbindung  des  Capitalbesitzes 
mit  der  Arbeit  betreffen.  In  letzterer  Beziehung  ist  zu  erwähnen,  dass  die 
Actien  auf  Namen  lauten  und  an  fremde  nicht  zur  Gesellschaft  gehörige 
Personen  nur  mit  Zustimmung  der  Generalversammlung  veräussert  werden 
können.  Wird  die  Zustimmung  verweigert,  so  kann  der  Besitzer  den  Gesell- 
schaftsmitgliedern die  Actien  zum  Verkaufe  anbieten  und  schliesslich  eine 
notarielle  Versteigerung  erwirken,  bei  der  aber  ausser  den  Gesellschafts- 
mitgliedem  nur  solche  Personen  mitbieten  können,  die  entweder  von 
den  Gewinnen  oder  von  den  Geschäftsumsätzen  des  Hauses  Antheile 
beziehen. 

Die  Leitung  des  Geschäftes  steht  den  drei  persönlich  haftenden  Gesell- 
schaftern zu.  Sie  haben  „les  pouvoirs  les  plus  etendus  pour  Tadministration 
des  affaires  de  la  societe".  Sie  sind  auf  7,  bezw.  6  und  5  Jahre  bestellt, 
ihre  Nachfolger  werden  je  auf  5  Jahre  bestellt  werden,  übrigens  sind  di»- 
derzeitigen  Geranten  wieder  wählbar.  Die  Wahl  erfolgt  durch  die  General- 
versammlung, die  im  übrigen  die  gewöhnlichen  Hechte  in  Betreff  Dividenden- 
bestimmung. Rechnungsprüfung,  Statutenänderungen,  Capitalveränderungen 
u.  s.  f.  hat  und  der  auch  die  wichtigsten  Acte  der  Vermögens  Verfügung, 
wie  z.  B.  über  Immobilien,  vorbehalten  sind.  Die  Geranten  beziehen 
36.000  Francs   Gehalt,  der  Eangsälteste  von  ihnen  48.000  Francs,  ausser- 


1)  Statuts  de  la  Societe  en  commandite    par   actions    Plassard,  Morin,    Fillo' 
«fc  Cie.  (Au  bon  marche)  Paris. 


142  Wieser. 

dem  jeder  3  Proc.  Tantieme  vom  Eeingewinn.  Jeder  von  ihnen  muss  min- 
destens 100.000  Francs  Gesellschaftsantheil  besitzen,  die  der  Association 
als  Unterpfand  dienen. 

Die  Verfassung  der  Gresellschaft  nähert  sich  mehr  der  einer  rein  capi- 
talistischen  Gesellschaft.  Immerhin  ist  bemerkenswert,  dass  das  Capital  sich 
in  den  Händen  von  Angestellten  befindet,  dass  es  möglichst  für  Angestellte 
reserviert  bleiben  soll  und  dass  man  für  die  Leitung  die  Form  einer  Com- 
manditgesellschaft  auf  Actien  gewählt  hat. 

XIII. 

Alle  drei  soeben  beschriebenen  Associationen  des  Grossbetriebes  sind, 
ausser  durch  ihre  Verfassungen,  noch  durch  eine  andere  Thatsache  bedeu- 
tungsvoll, dass  sie  nämlich  ihre  Begründung  der  Initiative  der  Einzelunter- 
nehmer verdanken,  denen  die  betreffenden  Betriebe  vorher  gehörten,  Schulze- 
Delitzsch  will  seine  Productivgenossenschaften  auf  Selbsthilfe  der  Arbeiter 
begründen.  Gewiss  kann  man  die  Arbeiter,  wenn  man  sie  zur  Genossen- 
schaftsbildung auffordert,  auf  nichts  als  auf  ihre  Selbsthilfe  verweisen,  s  i  e 
dürfen  nicht  auf  die  Mitwirkung  Anderer  pochen,  und  gewiss  ist  ferner, 
dass  die  aus  der  Selbsthilfe  hervorgegangenen  Productivgenossenschaften 
die  höchste  moralische  Kraft  der  Arbeiterschaft  erweisen.  Sollen  deshalb 
Associationen  von  „oben"  her  unerwünscht  sein?  Sie  erweisen  auf  Seite 
ihrer  Urheber  eine  nicht  mindere  moralische  Kraft,  sie  sind  aussergewöhn- 
liche  Leistungen  wohlwollenden  und  erziehenden  Geistes.  Immer  haben  an 
dem  Werke  der  „aufsteigenden  Classenbewegung"  die  oberen  Classen  einen 
ebenso  wichtigen  Antheil  gehabt  als  die  unteren,  aufsteigenden  Classen 
selbst  —  sollte  es  gerade  in  der  Bewegung  der  industriellen  Lohnarbeiter 
anders  sein  müssen?  Associationen,  die  durch  die  Unternehmer  selbst  be- 
gründet werden,  haben,  ganz  abgesehen  davon,  dass  sie  den  nothwendigen 
materiellen  Fond  mitbringen,  den  grossen  Vorzug  für  sich,  dass  sie  von 
vorneherein  Einrichtungen  des  Friedens,  der  Versöhnung  sind,  weil  sie  alle 
Betheiligten,  die  Arbeiterschaft,  die  Beamten  und  den  Unternehmer,  weil 
sie  die  Thätigkeit  und  das  Capital  vereinigen  —  sollten  gerade  sie  aus- 
geschlossen werden  müssen  und  nur  Genossenschaften  des  Parteigeistes 
und  Kampfes  erlaubt  sein? 

Fragen  wir  lieber,  welche  Aussichten  dafür  bestehen,  dass  das  von 
Godin  und  seinen  Geistesverwandten  gegebene  Beispiel  nachgeahmt  werde. 
Ugo  Eabbeno,  der  Geschichtschreiber  der  Productivgenossenschaft,  erzählt, 
dass  er  bei  dem  Besuche,  den  er  Godin  im  Familisterium  zu  Guise  machte, 
obwohl  hingerissen  von  der  Grossartigkeit  des  hier  zur  That  gewordenen 
Gedankens,  doch  nicht  umhin  konnte,  seine  Zweifel  zu  äussern,  ob  ähnliche 
Werke  wieder  geschaffen  werden  könnten.  Godin,  der  die  Frage  nicht  ganz 
verstand,  entgegnete  mit  grosser  Lebhaftigkeit,  dass  er  hundert,  tausend 
Familisterien  mit  gleichem  Erfolge  einrichten  wolle.  Er  hatte  nicht  ver- 
standen, dass  Ugo  Rabbeno  dachte,  es  würden  sich  niemals  hundert, 
tausend  Godin 's  finden. 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  143 

Goclin,  Leclaire,  Herr  und  Fraa  Boucicaut  waren  von  der  Ansicht 
durchdrungen,  dass  den  Arbeitern  ein  Kecht  auf  die  Leistungen  zukomme, 
die  sie  ihnen  zugestanden.  Sie  wollten  nichts  schenken,  sie  glaubten  ihre 
Anstalten  auf  einen  festeren  Boden  als  auf  den  der  Gunst  gebaut  zu  haben. 
Man  kann  aber  nicht  übersehen,  dass  sie,  um  ihre  Arbeiter  so  erhöhter 
Ansprüche  würdig  zu  machen,  erst  ein  langes,  mühsames  Werk  der  Erzie- 
hung vollenden  mussten,  durch  welches  sie  dieselben  so  weit  erhoben, 
dass  sie  erwerbsfähig  ge-nug  wurden,  um  üebergewinn  und  Antheil  am 
Ei§;enthum  zu  verdienen;  und  dass  sie  voll  eifriger  Ungeduld  nicht  einmal 
so  lange  zuwarteten,  sondern  mit  ihrer  Anerkennung  immer  schon  lange 
und  überreichlich  zuvorkamen.  Ihre  Werke  sind  Werke  jener  echten 
Menschenliebe,  die  sich  für  nicht  mehr  als  Menschenpflicht  hält. 

Das  gemeine  Maass  der  Menschenliebe  ist  nicht  gross  genug,  um 
ihnen  sonderlich  viele  Nachahmer  zu  erwecken,  ein  anderer  Umstand  indes 
gibt  hierauf  eine  etwas  besser  begründete  Hoffnung.  Ihr  Wohlwollen  ist 
ihren  Unternehmungen  und  ihnen  selbst  zugute  gekommen,  und  sie  haben 
durch  den  Erfolg  bewiesen,  dass  ihre  ersten  Voraussetzungen  begründet 
waren,  dass  die  Arbeiter  wirklich  reichlich  alles  zu  vergelten  vermochten, 
was  sie  ihnen  zugestanden  hatten.  Sie  haben  gezeigt,  dass  man  nicht  bloss 
den  Gewinn,  sondern  sogar  die  Geschäftsführung  mit  den  Arbeitern  th eilen 
kann,  ohne  davon  Schaden  zu  haben.  Wenn  das  von  ihnen  gegebene  Bei- 
spiel besser  bekannt  wird,  so  ist  es  nicht  unmöglich,  dass  mehr  und  mehr 
Unternehmer  sich  demselben  anschliessen,  namentlich  solche,  denen  ihr 
Unternehmen  so  lieb  geworden  ist,  dass  sie  seinen  Fortbestand  wünschen, 
auch  wenn  sie  selbst  ihm  nicht  mehr  vorzustehen  vermöchten.  Wem  könnten 
sie  es  besser  anvertrauen,  wer  hat  eine  besser  begründete  Anwartschaft  als 
die  erprobten  Mitarbeiter  und  Mitführer?  Die  Menschen  sind  überhaupt 
gerne  wohlwollend,  wenn  sie  es  ohne  Schaden  für  sich  selber  sein  können. 
Gewiss  bedarf  es  nur  noch  einer  etwas  allgemeineren  Erfahrung  über  das 
System  der  Association  des  Unternehmers  mit  seinen  Arbeitern,  und  gar 
viele  werden  sich  bereit  finden,  an  Stelle  des  gegenwärtigen  Haders  und 
der  beständigen  Bedrohung  einen  gesicherten,  ehrenvollen  und  gewinn- 
bringenden Friedenszustand  zu  setzen.  Vielleicht  —  warum  soll  man  das 
nicht  hoffen  dürfen  —  wird  einmal  noch  auf  diesem  Wege  die  Gross- 
association allgemein  ?  Damit  wäre  dem  gewerblichen  Arbeiter  für  die  ver- 
lorne Aussicht,  Handwerksmeister  zu  werden,  dasjenige  Aequivalent  geboten, 
das  den  Verhältnissen  des  Massenbetriebes,  in  denen  nicht  jeder  selbständig 
werden  und  Herrenrechte  erlangen  kann,  entspricht. 

Alle  Schriftsteller,  die  für  die  Gewinnbetheiligung  und  die  aus  ihr 
sich  entfaltende  Association  eingetreten  sind,  sind  darin  einig,  dass  nichts 
für  die  Entwickelung  derselben  gefährlicher  wäre  als  Ueberstürzung.  Mit  den 
Verhältnissen  und  der  Erkenntnis  soll  sich  der  Uebergang  von  selbst 
machen.  Das  Gelingen  ist  viel  zu  sehr  von  der  Gunst  der  Umstände  und 
von  einer  innerlichen  Läuterung  bei  allen  Betheiligten  abhängig,  als  dass 
gewaltsame  Förderung  irgend  etwas  auszurichten  vermöchte. 


1 44  Wieser. 

Warum  hat  das  alte  Handwerk  dem  Arbeiter  das  Meisterrecfht  ge- 
geben? Ein  äusserlicher  Grund  hat  dies  möglich  gemacht,  der,  dass  das 
Handwerk  nicht  „übersetzt''  war;  aber  noch  ein  innerlicher  Grund  musste 
hinzukommen,  um  den  „goldenen  Boden  des  Handwerks"  zu  sichern,  das 
war  die  Würde  der  Handwerksarbeit,  die  aus  der  Wichtigkeit  hervorgieng, 
welche  sie  gemäss  dem  technischen  Vermögen  der  Zeit  hatte,  und  aus  dem 
edlen  Eifer,  mit  welchem  der  Handwerksstand  sich  seiner  Aufgabe  gerecht 
zu  machen  wusste. 

Für  die  Lohnarbeiter  im  Grossbetriebe  standen  von  Anfang  an^in 
beiden  Beziehungen  die  Verhältnisse  höchst  ungünstig.  Den  Unternehmern 
fehlte  es  von  Anfang  an  nicht  an  „Händen".  Die  Leute  des  zusammen- 
brechenden Handwerks  fielen  ihnen  zu,  in  Massen  strömten,  durch  die 
hohen  Geldlöhne  angelockt,  die  ländlichen  Arbeiter  herbei,  die  an 
ein  immerwährendes  und  aussichtsloses  Dienstverhältnis  gewöhnt  waren 
und  noch  nicht  wussten,  dass  die  Arbeit  in  der  Fabriksluft  ihre  Küstigkeit 
auf  eine  schwerere  Probe  stellen  werde  als  die  schlechtest  bezahlte  Arbeit 
unter  freiem  Himmel  gethan  hatte.  Was  konnte  unter  diesen  Umständen 
der  Arbeiter  des  Grossbetriebes  mehr  erwarten  als  den  Lohn,  kärglichen 
Lohn,  Lohn  für  den  Tag  ausbezahlt  ohne  Sicherung  für  die  Zukunft?  Wer 
mehr  verlangt  hätte,  dem  würde  einfach  geantwortet  worden  sein  mit  dem 
Hinweise  auf  die  Vielen,  die  damit  zufrieden  waren.  Es  lag  in  der  genauen 
Consequenz  der  Verhältnisse  des  Arbeitsmarktes,  dass  der  Fabriksherr  seinen 
Gewinn  und  seine  Macht  mit  niemand  zu  theilen  brauchte. 

Das  war  das  eine,  und  das  zweite  war,  dass  in  den  Anfängen  der 
Grossindustrie  die  Arbeit  des  gemeinen  Mannes  ihre  beste,  die  erziehende 
Kraft  nicht  äussern  konnte.  Die  Arbeit  richtete  zugrunde  statt  zu  erheben. 
Ich  will  nicht  im  einzelnen  darstellen  wie  es  gekommen  ist,  dass  in  beiden 
Beziehungen  seither  ein  Umschwung  zugunsten  der  industriellen  Arbeiter- 
schaft eingetreten  ist.  Aeusserlich  .und  innerlich  sind  sie  eine  Macht  ge- 
worden oder  im  Begriffe  es  zu  werden.  Die  Wirkungen  auf  den  Lohn  und 
das  Dienstverhältnis  sind  nicht  ausgeblieben,  es  ist  ganz  ausserordentlich, 
was  sich  hieran  verändert  hat. 

Wie  sich  die  weitere  Zukunft  gestalten  wird,  das  wird,  so  sehr 
das  Gefühl  es  anders  wünschen  würde,  zunächst  gleichfalls  vom 
Stande  der  Technik  und  des  Arbeitsmarktes  abhängen.  Es  wird  sich 
zunächst  um  die  technisch  -  ökonomische  Beurtheilung  handeln,  die  die 
Verrichtungen  der  Hilfsarbeiter  auf  die  Dauer  im  modernen  Fabri- 
kationsprocesse  erfahren  werden.  Fällt  dieselbe  ungünstig  aus,  dann  steht 
auch  der  Eechtsprocess  für  die  Arbeiter  schlimm.  Solange  ihre  Verrich- 
tungen nur  wenig  geschätzt  werden,  solange  wird  der  Unternehmer  sich 
von  seinen  Leuten  nicht  abhängig  fühlen,  er  wird  denken:  „Ihr  seid  doch 
nur  Arbeiter  wie  es  andere  auch  gibt,  warum  sollt  gerade-  ihr  mehr 
erhalten  als  den  gemeinen  Lohn?"  Ist  dagegen  jeder  Fabrikationsprocess 
bis  zur  höchsten  Complicität  und  Feinheit  ausgebildet,  hält  man  dafür 
dass  in    dem    grossen  Käderwerke    des  Betriebes    der   erprobte  Arbeiter  die 


Grossbetrieb  und  Productivgenossenschaften.  145 

am  schwersten  ersetzliche  Bedingung  sei.  dann  stellt  sich  von  selbst  eine 
andere  ökonomische  Betrachtung  seiner  Dienste  ein.  Dann  zählt  er  anders 
als  der  ungeschulte,  fremde  Arbeiter  draussen,  dann  gehört  er  mit  zur 
Fabrik  so  wie  der  Unternehmer,  und  man  wird  es  selbstverständlich  finden, 
dass  der  letztere  den  Erfolg  der  Fabrik  im  entsprechenden  Maasse  mit  ihm 
theile.  Das  Mengenverhältnis  des  Capitalbesitzes  und  der  Begabung  und 
Ausbildung  zur  rohen  einfachen  Arbeitskraft  wird  dabei  selbstverständlich 
mit  in  die  Wagschale  fallen. 

Sodann  ist  die  „Frage"  auch  eine  Culturfrage.  Es  wird  sich  darum 
handeln,  ob  das  Yolk,  in  Haupt  und  Grliedern,  in  Herrn  und  Arbeitern, 
sich  zu  der  Culturhöhe  ausreifen  wird,  um  technische  Leistungen  vorzüg- 
lichsten Grades  nicht  nur  hervorbringen,  sondern  auch  würdigen  zu  können; 
und  ob  es  die  genügende  Eeinheit  des  Gefühles,  Schärfe  der  Voraussicht 
und  Festigkeit  des  Wesens  bewähren  wird,  um  die  technische  Entwickelung 
mit  dem  nothwendigen  persönlichen  Entgegenkommen,  mit  zeitgemässen 
Organisationen,  mit  vernünftigen  Rechtszugeständnissen  zu  ermuntern  und 
mit  dem  entsprechenden  Streben  zu  begleiten. 

Man  kann  sagen,  dass  die  Association  des  Grossbetriebes  —  wie  ja 
schon  die  Gewinnbetheiligung  —  eine  Betriebsform  höchster  technischer 
wie  cultureller  Intensität  ist,  die  nur  dann  versucht  werden  soll,  wenn 
die  höchsten  Erfolge  mit  den  höchsten  intellectuellen  und  moralischen  Kraffc- 
einsätzen  gewonnen  werden  sollen.  Vorher  ist  sie  so  wenig  am  Platze  als 
sie  nachher  vielleicht  entbehrlich  ist. 

Unser  Vaterland,  Oesterreich,  ist  ein  Land  verhältnismässig  wenig 
intensiver  Wirtschaft.  Wir  kennen  die  Gewinnbetheiligung  erst  für  Direc- 
toren  und  Oberbeamte.  Vielleicht  in  keinem  Culturstaate  ist  es  für  den 
Augenblick  müssiger,  von  der  genossenschaftlichen  Einrichtung  des  Gross- 
betriebes zu  reden.  Verhältnismässiger  Mangel  an  Capital,  an  höherer 
technischer  Ausbildung  wie  an  allgemeiner  Volksbildung,  an  Unternehmungs- 
lust, an  genossenschaftlicher  Reife,  überhaupt  an  Schulung  für  grosse 
Verhältnisse,  wenn  auch  wohl  nicht,  wie  öfters  befürchtet  wird,  an  moralischer 
Kraft  für  dieselben  machen  die  Idee  derzeit  so  aussichtslos,  dass  man  für 
sie  kaum  auch  nur  theilnehmende  Hörer  finden  dürfte.  Aber  die  sociale 
Entwickelung  geht  rasch,  und  es  ist  kein  Zweifel,  dass  unsere  Volkswirt- 
schaft von  der  vollen  Kraft  der  socialen  Erschütterungen  erfasst  werden 
wird,  die  sie  jetzt  erst  noch  in  den  Anfängen  kennt,  die  aber  jede 
entwickelte  Volkswirtschaft  wie  eine  mit  der  Reife  des  Alters  kommende 
Krankheit  heimgesucht  haben.  Mögen  wir  von  den  Erfahrungen  anderer 
Länder  Nutzen  ziehen.  Sie  zeigen  uns  die  Wege  des  Kampfes  und  die  der 
Versöhnung.  Es  ist  ein  erlaubter  Wunsch,  dass  die  Gedanken  in  unserem 
Vaterlande  sich  möglichst  vom  Anfang  und  durchaus  auf  die  letzteren 
richten  möchten. 


Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  I.  Heft.  IQ 


DIE  ENTSTEHUNG  DER  HAUSINDUSTEIE, 
MIT  RÜCKSICHT  AUF  ÖSTERREICH. 


VON 
DR-  EUGEN  SCHWIEDLAND. 


lieber  den  Begriff  der  Hausindustrie  bestehen  noch  vielfach  unklare 
Ansichten.  Besonders  in  Oesterreich  werden  in  den  einschlägigen  Publica- 
tionen  unter  diesem  Ausdruck  ganz  verschiedenartige  Formen  des  gewerb- 
lichen Betriebes  zusammengefasst. 

Der  erhobene  Vorwurf  trifft  auch  die  Begriffsabgrenzung,  welche  der 
IX.  internat.  statistische  Congress  vom  Jahre  1876  zu  Budapest  in  Bezug  auf  die 
Hausindustrie  vornalim,  und  eben  diese  wird  bei  uns,  insbesondere  seitens 
nicht  streng  fachwissenschaftlicher  Autoren,  vielfach  als  massgebend  betrachtet. 

Der  Congress  stellte  ^)  in  Bezug  auf  im  Hause  betriebene, 
seiner  Auffassung  nach  «omit  „ hausindustrielle "  gewerbliche  Thätigkeiten 
eine  Dreith eilung  auf.  Neben  dem  Hausfleiss,  welcher  als  „Hausindustrie 
innerhalb  der  Familie",  Industrie  du  foyer,  bezeichnet  wurde,  —  dieser 
ursprünglichen  und  einfachsten  Form  gewerblicher  Betriebsamkeit  des  Hauses 
für  den  eigenen  Bedarf,  bei  welcher  keine  Unternehmung  vorhanden  ist  und 
keine  Herstellung  von  Waren  stattfindet,  —  wurde  nationale  oder  her- 
kömmliche und  fabrikmässige  Hausindustrie  unterschieden.  Bei  dem 
letztgenannten  Betriebssysteme  lässt,  nach  der  Charakteristik  Engel's  in 
der  Congress-Sitzung  vom  2.  September^)  „ein  Handlungshaus  von  selbst- 
ständigen  oder  unselbständigen,  aber  in  eigener  Behausung  arbeitenden 
Gewerbetreibenden  Waren  oder  Theile  von  Waren,  nach  bestimmten  Vor- 
schriften oder  Mustern  gegen  Stück-Bezahlung  fertigen  und  liefert  in  der 
Kegel  auch  die  Kohstoffe  zu  den  Waren  oder  Warenth eilen. "  Die  tradi- 
tionelle Hausindustrie  hingegen  wurde  als  eine  Beschäftigung  der  Land- 
wirtschaft betreibenden  Bevölkerung  im  Nebenberufe  aufgefasst,  welche 
die  nicht  ländlichen  Arbeiten  gewidmete  Zeit  gewinnbringend  ausfüllt. 


^)  Compte-Rendu  de    la  neuvieme   Session.  II«  Partie:   Travaux    du  Congres. 
Budapest  1878,  S.  691  fg. 

2)  Ve  Section.  S.  413. 


Die  Entstehung  der  Hausindustrie,  mit  Eücksicht  auf  Oesterreich.  I47 

Der  Congress  hatte  die  Aufgabe,  einen  allgemeinen  Fragebogen  zu 
berathen  und  musste  daher  alle  concreten  Erscheinungsformen  der  Haus- 
industrie charakterisieren  und  beschreiben;  es  kam  ihm  auf  die  statistische 
Erfassung  und  Zusammenfassung  aller  von  den  Vertretern  der  verschiedenen 
Staaten  angeführten  Formen  der  Betriebsamkeit  ausser  dem  Handwerke 
und  der  Fabrikindustrie  an.  Eine  theoretische  Erkenntnis  der  Haus- 
industrie lässt  sich  jedoch  nicht  gewinnen,  ohne  die  Entstehung  derselben 
zum  Ausgangspunkte  der  Betrachtung  zu  machen. 

Vom  wissenschaftlichen  Gesichtspunkte  ist  denn  auch  die  vorge- 
nommene Begriffsabgrenzung  nicht  richtig.  Schon  die  Dreitheilung  ist 
falsch,  weil  sie  den  Hausfleiss  mit  umfasst,  dessen  Entstehung, 
wirtschaftliche  und  sociale  Bedeutung  eine  von  jener  der  Hausindustrie 
gänzlich^  verschiedene  ist. 

Gleichwohl  liegt  jener  Systematik  insoweit  eine  richtige  Ansicht  zu 
Grunde,  als  in  Bezug  auf  die  wahre  „Hausindustrie"  —  nach  Ausscheidung 
des  Hausfleisses,  als  eines  generisch  vollständig  verschiedenen  Productions- 
systems  —  noch  eine  Verschiedenheit  zu  beachten  ist.  Diese  liegt  in  der 
Geschichte  der  Entstehung  der  Hausindustrie  und  wurde  jüngst  von  Bücher 
in  einer  vortrefflichen  Abhandlung  ^)  mit  Fug  ganz  allgemein  auf  den 
„grundverschiedenen  Gang  der  socialen  und  wirtschaftlichen  Entwicklung 
im  Osten  und  im  Westen  von  Europa"  zurückgeführt. 

Haben  West-  und  Mitteleuropa  das  Städtewesen  und  das  Handwerk 
als  originale  Schöpfungen  hervorgebracht,  so  wuchs  das  letztere  im  Osten 
hauptsächlich  aus  dem  Hausfleisse,  aus  der  gewerblichen  Nebenbeschäfti- 
gung des  Landbewohners  hervor.  Dort  entsteht  das  Kleingewerbe,  indem 
ein  Theil  der  Familie,  weil  etwa  die  Grundstücke  zu  ihrer  Ernährung 
nicht  mehr  ausreichen,  die  Producte  ihres  Hausfleisses  aber  anderseits  ent- 
sprechender Nachfrage  begegnen,  sich  in  stetig  steigendem  Maasse  und 
eventuell  unter  Zuziehung  von  Gehilfen  der  gewerblichen  Production  zuwendet. 

Der  auf  diese  Art  für  den  Absatz  entstandene  selbständige  gewerb- 
liche Betrieb  ist  das  Handwerk  im  Osten.  Um  das  Bild  seiner  Ent- 
stehung klar  zu  machen,  braucht  man  bloss  die  Bemerkung  des  russischen 
Ministerial-Directors  Weschniakoff  anzuführen:  dass  in  seiner  Heimat 
die  Städter,  wie  die  Landbewohner,  in  gleichem  Maasse  theils  Land- 
wirtschaft, theils  Gewerbe  betrieben  haben  und  dass  diese  Gleichförmigkeit 
zwischen  Stadt  und  Land  zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  manche 
fremde   Eeisende  auffällig  berührte  2)   —    oder   auf  A.  Thun  hinzuweisen, 

')  Hausfleiss  und  Hausindustrie,    im  Wiener  „Handelsmuseum"    1890,  Nr.   31  fg. 

2)  Notice  sur  Tetat  actuel  de  l'industrie  domestique  en  Eussie.  St.  Petersbourg, 
Ministere  des  domaines,  1873,  S.  6:  „H  ne  pouvait  s'y  produire  de  difference  entre  les 
villes  et  les  campagnes;  l'industrie  ne  pouvait  pas  se  concentrer  dans  les  villes  et  y 
former  de  grands  centres,  comme  dans  TEurope  occidentale.  Les  habitants  des  villes,  de 
m^me  que  ceux  des  campagnes,  s'occupaient  indistinctement,  tantöt  d'agriculture,  tantöt 
d'industrie,  gräce  aux  immenses  terrains  dont  pouvaient  disposer  les  uns  et  les  autres 
originairement.  Cette  communaute  de  travaux  de  nos  populations  rurales  et  urbaines  a 
frappe  quelques  observateurs  etrangers  qui  ont  visite  la  Kussie  ä  la  fin  du  siecle  passe." 

10* 


148  Schwiedland. 

der^)  in  gleicher  Weise  den  häufig  landwirtschaftlichen  Charakter,  welchen 
die  Städte  Mittelrusslands  noch  in  -unseren  Tagen  tragen,  hervorhebt. 

Die  osteuropäischen  Völker,  welche  nicht  die  Cultur  der  alten 
römischen  Welt  als  Unterlage  ihrer  ferneren  Entwicklung  vorfanden  und 
überdies  in  verhältnismässig  geringer  Dichtigkeit  weit  ausgedehnte  Länder- 
strecken bewohnten,  haben,  um  den  treffenden  Ausdruck  Bücher's  zu  ge- 
brauchen, die  „ganze  moderne  Industrieentwicklung  unmittelbar  auf  die 
älteste  Form  der  Stoffveredlung,  diejenige  der  patriarchalisch  geschlossenen 
Hauswirtschaft  aufgesetzt." 

Ob  wir  aber  im  Westen  dem  Handwerk  infolge  der  Entwicklung  des 
Städtewesens  als  einer  besonderen  und  bedeutsamen  historischen  Erscheinung 
begegnen,  im  Osten  dagegen  die  gewerbliche  Erzeugung  ungleich  länger 
Haussache  ist,  ob  im  Westen  die  Berufsth eilung  und  eine  reiche  Berufs- 
bildung frühzeitig  vor  sich  geht,  im  Osten  dagegen  der  Anfang  gewerb- 
licher Arbeitstheilung  erst  in  spätere  Zeiten  fällt,  stets  ist  die  ursprüng- 
lichste gewerbliche  Entwicklungsstufe,  die  historische .  Urform  heutigen 
Industriewesens,  der  Hausfleiss  der  natu  ral  wirtschaftlichen 
Epoche.  „It  was  .  .  .  household  manufacture,  in  which  every  different 
part  of  the  work  was  occasionally  performed  by  all  the  different  members 
of  almost  every  private  family,  but  so  as  to  be  their  work  when  they  had 
notbing  eise  to  do,  and  not  to  be  the  principal  business  from  which 
any  of  them  derived  the  greater  part  of  their  subsistence."  Diese 
gelegentliche  Definition  Smith'-)  ist  ganz  zutreffend.  In  der  That  findet 
keine  Erzeugung  einer  besonderen  Art  von  Gegenständen  durch  Gewerbe- 
treibende aus  Erwerbsabsicht  statt;  es  ist  eine  Erzeugung  in  der  Familie 
für  die  Familie,  die  hier  erfolgt. 

Diese  naturalwirtschaftliche  Verfassung,  in  welcher  noch  Land- 
wirtschaft und  Gewerbe  (sozusagen  begrifflich)  in  derselben  Familie  vereinigt 
sind,  hat  vermöge  der  Beste,  in  welchen  sie  sich  noch  erhält,  ein  bedeu- 
tendes gegenwärtiges  Interesse.  Auch  heutigen  Tages  vollzieht  sich  in  jeder 
Hauswirtschaft  regelmässig  eine  gewisse  gewerbliche  Thätigkeit  für  eigene 
Bedarfszwecke,  wenngleich  dieselbe  sichtbar  in  stetem  Zurückgange  befindlich 


1)  Landwirtschaft  und  Gewerbe  in  Mittelrussland,  Leipzig  1880,  z.  B.  S.  234. 
Peter  der  Grosse  rief  in  Eussland  die  ersten  Manufacturen  ins  Leben  und  der  Fabriks- 
betrieb machte  unter  Alexander  I.  seine  ersten  Fortschritte.  (Vgl.  D  e  d  e ,  der  Handel 
des  russischen  Eeiches,  Mitau  1844,  und  die  ganze  in  v.  Rede  n's  statistisch-gewerb- 
lichen Darstellung:  Das  Kaiserreich  Russland,  Berlin  1843,  angegebene  Literatur.)  Der 
österreichische  Generalconsul  in  Odessa  Dr.  v.  Gutmannsthal  berichtet  im  Jahre  1849 
aus  Anlass  der  damaligen  Ausstellung,  dass  es  in  Russland  eine  eigene  Classe  von 
Fabriksarb  eitern  nicht  gebe  (Russlands  Industrie-Zustände,  Wien  1850,  S.  181),  eine 
Angabe,  welche  nach  Dement  Jeff  (Die  Lage  der  Fabriksarbeiter  in  Central-Russland, 
im  Archiv  für  soz,  Gesetzgebung  und  Statistik,  1889)  zum  Theil  heute  noch  zutrifft.  Siehe 
im  Uebrigen  auch  die  einschlägigen  gelegentlichen  Ausführungen  und  Bemerkungen  in 
Besobrasof,  Etudes  sur  Teconomie  nationale  de  la  Russie,  2  Bde,  St.  Petersburg, 
1873—86. 

^)  Wealth  of  Nations,  I.,  Chapt.  XL  (vorletzter  Absatz  des  vorletzten  Abschnittes). 


Die  Entstehung  der  Hausindustrie,  mit  Eücksicht  auf  Oesterreich.  149 

ist  —  allein  nicht  auf  diese  geringfügigen  Ueberbleibsel  einer  primitiven 
Wirtschaftsepoche  wollen  wir  verweisen.  In  ungleich  namhafterem  Umfange 
sind  —  auch  im  westlichen  Europa  —  in  Dörfern  und  auf  Einzelhöfen  die 
Landwirtschaft  treibenden  Bewohner  für  die  Bedürfnisse  des  eigenen  Hauses 
gewerblich  thätig. 

Je  mehr  wir  nach  dem  Osten  gehen,  desto  allgemeiner  wird  diese 
Oikenwirtschaft  —  die  leibhaftige  Singular  Wirtschaft  der  älteren  National- 
ökonomie —  bei  welcher  die  Mittel  zur  Befriedigung  der  Bedürfnisse  des 
Wirtschafters  in  aller  Regel  im  Umkreise  seines  Hauses  entstehen.  Sie 
findet  sich  in  reinerer  Form  schon  in  Oesterreich.  Durch  das  Vordringen  der 
modernen  Verkehrswirtschaft  zersetzt  und  zurückgedrängt,  ist  diese  wirt- 
schaftliche Autarkie  noch  in  den  Schilderungen  isländischer,  hochschottischer, 
norwegischer,  polnischer,  russischer,  südslavischer,  südösterreichischer,  un- 
garischer und  galizischer  Bauernschaften  zu  erkennen.  Am  vollendetsten 
innerhalb  Oesterreichs  aber,  dessen  hauswirtschaftlichen  Verhältnissen  wir 
uns  im  Besonderen  zuwenden  wollen,  in  der  Bukowina. 

„Beim  Bau  des  Hauses  —  berichtet  ein  Gewährsmann  aus  diesem 
Lande  ^)  —  versteht  es  der  Mann  in  der  Regel,  die  Arbeiten  des  Zimmer- 
mannes, des  Dachdeckers  u.  dgl.  zu  versehen,  während  das  Weib  das  Bemör- 
teln  der  geflochtenen  und  gestockten  Wände  oder  das  Dichten  der  Block- 
wandfugen mit  Moos,  das  Stampfen  des  Fussbodens  und  viele  andere  ein- 
schlägige Arbeiten  übernehmen  muss.  —  Vom  Anbau  der  Gespinnstpflanze 
oder  der  Aufzucht  des  Schafes  an  bis  zur  Fertigstellung  der  Bett-  und 
Kleidungsstücke  aus  Leinen,  Wolle  oder  Pelzwerk,  Leder,  Filz  oder  Stroh- 
geflecht, erzeugt  ferner  das  Bukowinaer  Landvolk  alles,  —  selbst  die  Farb- 
stoffe aus  eigens  gezogenen  Pflanzen,  sowie  die  nöthigen,  allerdings  höchst 
primitiven  Handwerkzeuge.  Und  so  ist  es  im  allgemeinen  auch  mit  der 
Nahrung.  Mit  Aufwand  ziemlich  bedeutender  Mühe  pflegt  der  Bauer  sein 
Maisfeld,  stellt  auf  der  Hausmühle  das  Kukuruzmehl  her,  das  er  zum  Backen 
seiner  Hauptkost  (Mamaliga,  der  Polenta  ähnlich)  verwendet.  Auch  seine 
einfachen  Ackerwerkzeuge,  die  Gefässe  und  Geräthe  für  die  Wirtschaft  und 
die  Küche  weiss  er  selbst  oder  versteht  wenigstens  ein  Autodidact  im 
Orte  herzustellen;  nur  die  Bearbeitung  des  Eisens,  welches  Material  die 
eingeborne  Bevölkerung  in  äusserst  geringen  Mengen  verbraucht,  überlässt 
er  im  allgemeinen  den  im  Lande  zerstreut  lebenden  Zigeunern.'' 

Aehülich  Geheimrath  Graf  Dzieduszycki^)  in  Bezug  auf  Galizien: 
„Unser  Bauer  hat  bis  in  die  jüngste  Zeit  und  in  entlegenen  Gegenden  noch 
jetzt,  alles  was  er  für  sich  und  seine  Familie  brauchte,  selbst,  und  zwar 
hauptsächlich  aus  den  Producten  seiner  eigenen  Wirtschaft  mit  Hilfe  seiner 
ganzen  Familie  verfertigt.  Seine  Hauptbeschäftigung  war  immer  die  Land- 
wirtschaft,   und  zwar  nach  örtlicher  Möglichkeit    in  allen  ihren  Zweigen." 

^)  Herr  Carl  Komstorfer,  Professor  an  der  k.  k.  Staats-Gewerbeschule  zu  Czernowitz. 

^)  Die  Hausindustrie  Oesterreichs.  Ein  Commentar  zur  hausindustriellen  Ab- 
tii eilung  auf  der  allg.  land-  und  forstwirtschaftl.  Ausstellung  Wien,  1890.  Redigiert  von 
W.  Exner.  Wien  1890.  S.  107—109. 


150  Schwiedland. 

Die  von  der  landwirtschaftlichen  Arbeit  freie  Zeit  benützten  die  Bauern- 
familien zur  Herstellung  der  von  ihnen  benöthigten  gewerblichen  Erzeug- 
nisse. Im  Herbst  wurden  Hanf,  Flachs  und  Wolle  zum  Spinnen  vorbereitet 
und  Farbstoff  enthaltende  Kräuter  gesammelt,  im  Winter  der  Spinnrocken 
in  Thätigkeit  gesetzt  und  die  Kleidungsstücke  für  alle  Familienangeliörigen 
seitens  der  Frauen  verfertigt. i)  Leinen  und  auch  sonstige  in  der  Gegend 
zu  Kleidung  verwendete  Stoffe  wurden  von  den  Männern  gewebt,  desgleichen 
Schaf-  und  andere  Thierhäute  zu  Stiefeln  und  anderem  Hausbedarf,  Holz 
zu  Wirtschaftsgeräthen,  sowie  Schilf  und  Weide  zu  Geflechten  verarbeitet. 
Ein  alter  Gebrauch  war  auch  die  Töpferei  auf  dem  eigenen  Töpferofen; 
so  bildete  das  Bauernhaus  eigentlich  eine  Werkstätte  der  verschieden- 
artigsten Gewerbszweige.  „In  vielen  Gegenden  ist  es  auch  jetzt  noch  so, 
in  anderen  hat  jedoch  eine  Arbeitstheilung  Platz  gegriffen,  u.  zw.  zwischen 
Nachbarn,  Insassen  eines  Dorfes,  seltener  einer  ganzen  Gegend  (denn  die 
zur  Befriedrigung  der  Bedürfnisse  der  Dorfbewohner  dienenden  Gewerbe 
wurden  in  der  Kegel  alle  im  eigenen  Dorfe  betrieben),  indem  jeder  Einzelne 
nach  Maassgabe  seiner  Handgeschicklichkeit  in  diesem  oder  jenem  Ge- 
werbe vorzugsweise  arbeitete.  In  jedem  Dorfe  sind  Weber,  welche  Hanf 
und  Flachs  und  —  wo  gebräuchlich  —  auch  Wolle  verweben,  ferner 
Schuster,  Schneider,  Schmiede,  Wagner,  Korb-  und  Strohflechter.  Zimmer- 
leute etc.  Ein  jeder  von  ihnen  deckt  seine  und  seiner  Familie  Bedürfnisse 
und  jene  seiner  Nachbaren.  Alles  Eohmateriale  wird  hauptsächlich  aus  der 
eigenen  Wirtschaft  oder  doch  aus  der  nächsten  Umgebung  bezogen.  Von 
anderwärts  wurden  nur  Salz  und  Eisen   bezogen  und  gekauft."  ^) 

Es  liegt  im  Wesen  der  Sache,  dass  die  Bearbeitung  von  Eisen  im 
Hause  nur  schwer  möglich  war  und  so  erhält  die  aus  den  ältesten  Quellen  ge- 
schöpfte Vermuthung  Spiegel's.  dass  bei  den  Iraniern  anfänglich  nur 
Metallarbeiter  als  besondere  Handwerker  bestanden  hätten,  wirtschaftliche 
Begründung.^)   Der  Bauer   that  denn  auch  in  Galizien  alles  mögliche,  um, 


*)  In  gleicher  "Weise  ohlag  in  der  deutschen  Heldenzeit  der  Frau,  ob  Fürstin  oder 
Dienstmannsgattin,  die  Beschaffung  der  Kleidung  für  den  ganzen  Hausstand.  (Siehe  das 
Nibelungenlied,  11.  30  und  31: 

vil  der  edlen  steine  die  frouwen  leiten  in  das  golt 

Die  si  mit  p orten  weiden  wurken  üf  ir  wät 

den  jungen  stolzen  recken 

65.  dö  sazen  scoene  frouwen  naht  [unde  tac 

daz  lützel  ir  deheiniu  ruowe  gepflac 

unze  man  geworhte  die  Sivrides  wät, 

(861.)  do  hiez  ir  juncfrouwen  drizec  meide  gän 

uz  ir  keraenäten  Kriemhilt  die  künegin 

die  zuo  zölhem  werke  beten  groezlichen  sin. 

(365.)  der  frouwen  unmuoze  diu  newas  niht  klein 

inre  siben  wochen  bereiten  si  diu  kleit.) 

2)  Ähnlich  berichtet  über  Congresspolen  Frau  S.  D  a  s  z  y  n  s  k  a  in  der  „Volks- 
wirtschaftlichen Wochenschrift"  (Wien)  vom  12.  Juni  1890,  S.  556. 

3)  Nach  Kraus'  „Brauch  und  Sitte  der  Südslaven"  (Wien  1885),  einem  Werk  dessen 
Darstellungen  aus  den  neu-österreichischen  Landen  den  vorstehenden  Schilderungen   aus 


Die  Entstehung  der  Hausindustrie,  mit  Rücksicht  auf  Oesterreich.  151 

WO  es  angieng,  Eisen  durch  Holz  zu  ersetzen,  und  so  sieht  man  heute  noch 
da  und  dort  Kader  an  Bauern  wagen,  die  nicht  mit  eisernen  Reif  bändern, 
sondern  mit  einem  Stück  harten  jungen  Holzes  beschlagen  sind,  das  auf 
einer  eigenthümlichen  Vorrichtung  gebogen  wird.  Diese  Eäder,  eine  Be- 
sonderheit vieler  Waldgegenden,  werden  in  andere  und  oft  in  entfernte 
Theile  des  Landes  ausgeführt. 

Man  kann  das  geographische  Gegenstück  dieser,  einer  primitiven 
Cultur  entsprechenden,  geschlossenen  Hauswirtschaft  in  Oesterreich  antreffen, 
ohne  seinethalben  bis  in  die  südlichen  Theile  Osteuropas  zu  wandern.  In 
Steiermai'k  finden  sich  deutlich  ihre  Spuren  und  wir  sehen  dort,  wie  die 
moderne  Verkehrs-  oder  „Welt" -Wirtschaft  seit  dem  Baue  der  Eisenbahnen 
auch  in  den  entlegenen  Thälern  die  räumliche  Arbeitsth eilung  stets  mehr 
und  mehr  verwirkliclit. 

Die  alten  Nagelschmieden  und  die  meisten  Hauswalken  sind  seit 
einer  Generation  ungefähr  unbenutzt,  die  Webstühle  zumeist  bei  Seite  ge- 
schafft, die  Behelfe  zur  Erzeugung  von  Seife  und  ünschlittkerzen  neben 
den  Essigständer  in  die  Eumpelkammer  gestellt.  Allein  noch  andere  Gegen- 
stände als  Essig  und  Kerze,  Leinen  und  Tuch,  Fass,  Reif,  Rechen  und 
ähnliches  Holzgeräthe  liefert  jetzt  der  Kaufmann,  welche  —  die  einen  vor- 
nehmlich in  Obersteiermark,  die  anderen  besonders  im  Unterland  —  noch 
unlängst  als  Hausproducte  erzeugt  wurden.  Der  Handel  verdrängt  auch  in 
immer  steigendem  Maasse  die  ehedem  vielfach  übliche  häusliche  Bereitung 
von  Oel  aus  Lein-  und  Kürbissamen,  das  ehemalige  Mahlen  der  Brodfrucht 
auf  der  Handmühle  (mit  zwei  Mühlsteinen  geringen  Durchmessers  und 
massiger  Dicke)  und  die  Zubereitung  von  Graupe.  Die  Körbe  (aus  Ruthen, 
Stroh  und  Waldrebe),  Waschtröge  und  Teigwannen,  Fassreifen,  Heugabeln 
und  -rechen,  Sensen-  wie  Besenstiele  wurden  vordem  durchgängig  im  Hause 
erzeugt,  gleichwie  noch  heute  die  Holzschuhe.  Im  engen  Zusammenhange  mit 
der  Landwirtschaft  findet  dagegen  die  Herstellung  von  Cider  und  Branntwein, 
jene  der  Milchproducte  und  die  Hausselcherei  nach  wie  vor  in  der  bäuerlichen 
Wirtschaft  statt.  Im  Unterlande  wird  das  geschlachtete  Schwein  abgehäutet, 
die  Haut  dem  Lederer  zum  Gerben  und  Herrichten  übergeben  und  dann 
im  Hause  daraus  die  Beschuhung  gefertigt.  An  manchen  Orten  werden  auch 
die  Mauerziegel  heute  noch  von  den  Bauern  erzeugt,  welche  sie  ohne  fremde 
Hilfe  formen,  trocknen    und    brennen;    „meist    wird    mehrere  Jahre    daran 


der  Bukowina  und  Galizien  analog  sind,  gab  es  auch  bei  den  Südslaven  ursprünglich 
keine  Handwerker  ausser  Schmieden.  In  Swiatniki-göme  im  Krakauer  Gebiet 
besteht  noch  eine  zum  Theil  hausindustrielle  Erzeugung  von  Schlössern,  welche  seit  dem 
XI.  Jahrhunderte  dort  hergestellt  werden,  der  Zeit,  wo  Bischof  Stanislaus  Szczepanowski 
(St.  Stanislaus,  Bischof  der  Krakauer  Diöcese,  1071—79)  in  jener  Gegend  gelernte 
Schlosser  aus  der  Fremde  ansiedelte.  Vgl.  übrigens  auch  L  i  p  p  e  r  t,  Culturgeschichte, 
Band  n,  S.  217—8. 

Auch  in  der  germanischen  Heldensage  findet  sich  zuerst  als  selbständiges  be- 
triebenes Gewerbe  das  Schmieden  von  Waffen  und  Goldschmuck  erwähnt,  während 
alle  ührigen  Bedarfsgegenstände  vom  Hauswirte  selbst,  seiner  Frau  und  seinem  Gesinde 
erzeugt  werden.  Siehe  die  eddische  Wielandsage. 


152  Schwiedland. 

gearbeitet  bis  der  Bedarf  gedeckt  ist."^)  Auch  hier  erblickt  man  also  noch 
in  der  Bauernwirtschaft  das  theilweis  conservirte  naturalwirtschaftliche  Ge- 
bilde, wenn  auch  in  atrophischer  Form. 

In  allen  diesen  Fällen  ist  die  wirtschaftliche  Autarkie,  die  alte  pa- 
triarchalische Hauswirtschaft  als  langsam  verschwindende  sociale  Erschei- 
nung weit  reiner  erhalten  als  gemeinhin  in  Mitteleuropa.  Die  Epoche,  der 
sie  angehört  bietet  uns  ein  Bild  dar,  in  welchem  wir  die  Grundlagen  der 
modernen  Volkswirtschaft:  Arbeitstheilung  und  Tausch,  in  ihren  Anfängen 
erblicken,  erstere  bis  zur  Scheidung  in  leitende  und  in  mechanisch  aus- 
führende Arbeit  innerhalb  der  Grossfamilie,  des  Gehöftes  gediehen,  letz- 
teren auf  Ausnahmsfälle  beschränkt.  Hier  besteht  denn  auch  keine  Volks- 
wirtschaft im  Sinne  eines  organischen  Ganzen;  die  Urzellen,  welche  sie 
bilden  werden,  stehen  noch  in  keinem  Zusammenhange.  Anstatt  einseitiger 
und  regelmässig  auf  einander  angewiesener  Wirtschaften  finden  wir  autonome 
Einzelwirtschaften  von  Grossfamilien,  die,  für  sich  selbständig,  die  einen 
der  anderen  für  gewöhnlich  nicht  bedürfen.^)  In  dieser  Wirtschaftsepoche 
kann  man  von  einer  Hausindustrie  unmöglich  reden. 

Die  erste  Weiterentwicklung  aus  diesem  Zustande  vollzieht  sich,  indem 
der  üeberschuss  der  Hauswirtschaft  im  Tauschwege  abgegeben  wird.  Man 
kann  in  den  Gebirgscantonen  der  Schweiz,  z.  B.  in  Graubünden,  beobachten, 
wie  die  Bauern  neben  den  selbst  gezogenen  Kühen  und  Producten  der 
Feldwirtschaft  auch  hölzerne  Heugabeln  und  ähnliches  Wirtschaftsgeräth 
auf  die  Wochenmärkte  bringen. 

Bald  ist  die  eine  oder  andere  Wirtschaft  auf  den  Absatz  angewiesen, 
d.  h.  ihre  gewerbliche  Production  wird  zu  einer  Erwerb sthätigkeit,  welche 
ihr  ständige  Einnahmen  liefert,  die  sie  nicht  entbehren  könnte.  Ein  Bei- 
spiel dieser  Art  bildet  in  Gebirgsdörfern  Niederösterreichs  (in  Rohr  und 
in  Schwarzau  i.  G.,  in  Klosterthal,  Längepiesting,  Hellenbach  und  Hinter- 
gscheid^)  die  Verfertigung  von  Bottichen  durch  Bauern  aus  dem  Holze 
eigener  Waldungen^);  so  besteht  als    eine    auf  weiteren  Absatz  berechnete 


^)  S.  Heinr.  Graf  Attems  über  „Steiermark"  in  der  Ausstellungsschrift:  Die 
Hausindustrie  Oesterreichs,  S.  17. 

2)  Vgl.  Bücher,  1.  c.  S.  535. 

3)  In  der  Bezirkshauptmannschaft  Wiener-Neustadt,  Gerichtsbezirk  Guttenstein. 

*)  Die  Bauern  erzeugen  mit  Hilfe  ihrer  Söhne  und  der  Knechte  in  der  Regel 
30  bis  50  Bottiche  im  Jahr.  Durch  diese  Herstellung,  die  in  den  Herbst-  und  Winter-, 
bei  anderen  auch  in  den  Frühjahrsmonaten  stattfindet,  beschafft  der  Wirtschaftsbesitzer 
oft  das  einzige  Bargeld;  daneben  findet  auch  noch  Tauschhandel  statt.  (So 
verführt  z.  B.  Mathias  Buchhaas  in  Klosterthal  im  Jahr  20  bis  30  Bottiche,  für  die  er 
den  Winterbedarf  seines  Hauses  an  Getreide  eintauscht.)  Das  Beschlagen  der  Bottiche 
mit  Holzreifen,  die  aus  den  im  besten  Wachsthume  befindlichen  Bäumchen  verfertigt 
wurden,  kommt  infolge  der  Billigkeit  der  Eisenreifen  und  zur  Schonung  der  Waldungen 
neuestens  mehr  und  mehr  ab.  In  einzelnen  Gemeinden  (Rohr  i.  G.)  ist  die  Erzeugung 
der  Maischbottiche  bereits  sehr  zurückgegangen,  weil  die  alten  Wirtschaftsbesitzer  ab- 
starben und  die  jungen  die  Production  nicht  fortsetzen,  da  sie  im  Vertrieb  ihrer  Waren 
durch  die  Vorschriften  über  das  Hausierwesen  und  den  Befähigungsnachweis  für  die  Aus- 
übung handwerksmässiger  Gewerbe   (Binderei),  oder    durch  die  engherzige  Handhabung 


Die  Entstehung  der  Hausindustrie,  mit  Kücksicht  auf  Oesterreich.  153 

bäuerliche  Industrie  in  Steiermark,  um  Aussee,  die  Stickerei,  und  ähnlich 
war.  südlicher  in  Steiermark,  die  Erzeugung  von  Loden  und  Wiffltuch 
traditionell,  welches  in  andere  Gegenden  abgesetzt  wurde. 

Die  gewerbliche  Thätigkeit,  welche  bei  umfangreichem  Landbesitz 
einen  Nebenberuf  für  die  Dauer  des  Winters  bildet,  coordinirt  sich  eben 
in  kleineren  Wirtschaften,  welche  die  Arbeitskraft  des  Eigenthümers 
nicht  ausschliesslich  in  Anspruch  nehmen,  dem  Hauptberufe  und  dient, 
indem  sie  sich  auf  das  ganze  Jahr  erstreckt,  ebenso  Zwecken  des  Erwerbes, 
wie  in  anderen  Fällen  die  Landwirtschaft;  die  gewerbliche  Arbeit  wird  eine 
gewerbsmässige ;  sie  wird  bald  Haupt-  und  Lebensberuf,  die  Landwirtschaft 
Nebenbeschäftigung. 

Aus  wirtschaftlichen  Gründen  also,  —  aus  Armut  oder  um  die 
Producte  der  Land-  und  Forstwirtschaft  zu  verwerten,  —  wenden  sich  ein- 
zelne Wirtschaften  vorwiegend  gewerblichen  Verrichtungen  einer  besonderen 
Art  zu^)  und  diese  Specialisierung  wandelt  sie  um  zu  Betrieben,  welche  oft 
alle  Merkmale  des  Handwerks  aufweisen. 

Es  entsteht,  auf  dem  Tausche  beruhend  und  auf  ihn  berechnet,  ein 
eigener  gewerblicher  Lebens  beruf,  eine  besondere  Erwerbsthätigkeit.  neben 
welcher  die  landwirtschaftliche  Beschäftigung  noch  einhergehen  kann.  Das 
örtliche  Vorkommen  gewisser  Kohstoffe  ^),  das  Vorhandensein  von  Natur- 
kräften ^),  ein  zufälliges  Ansiedeln  fremder  Gewerbsleute  ^)  gewährt  in 
höherem  Maasse  die  Bedingungen  für  eine  besondere  Production  und  bei 
einigermaassen  fortgeschrittenen  Culturverhältnissen  vollzieht  sich  daher 
bald  eine  gewisse  räumliche  Arbeitstheilung:  auf  dem  Tausche   beruhend, 


dieser  Bestimmungen  und  im  Besuche  der  Märkte  insbesondere  noch  durch  die  Furcht 
vor  Besteuerung  behindert  werden.  (Nach  österr.  Gewerberecht  wäre  ihr  Betrieb  als  „Haus- 
industrie" aufzufassen  und  als  solche  von  der  Einth eilung  unter  die  Gewerbe  überhaupt 
ausgenommen).  Der  Absatz  leidet  übrigens  auch  durch  ein  Zurückgehen  der  Nachfrage, 
welches  seinen  Grund  zum  Theil  im  Aufhören  der  kleinen  landwirtschaftlichen  Brennereien 
haben  mag,  so  dass  die  besprochene  Erwerbsquelle  stets  spärlicher  wird. 

Auf  ähnliche  Weise  werden  in  Miesenbach  Dachschindeln  im  häuslichen  Neben- 
betriebe erzeugt  und  zu  Markte  geführt. 

1)  Vgl.  bezüglich  Eusslands  Stellmacher,  Ein  Beitrag  zui  Darstellung  der  Haus- 
industrie in  Kussland,  Eiga  1886,  S.  35:  Die  gewerbliche  Thätigkeit  am  Wohnort  des 
Producenten  ist  „vorherrschend  hervorgerufen  worden  durch  den  äusserst  beschränkten 
Umfang  des  auf  den  Einzelnen  fallenden  Landantheils,  des  „Nadjel",  sowie  durch  die 
geringe  Fruchtbarkeit  des  Ackerlandes.  Ausserdem  beanspruchen  die  Feldarbeiten  (in 
Mittelrussland)  bloss  einen  Zeitraum  von  fünf  Monaten,  der  Bauer  ist  somit  die  übrige  Zeit 
des  Jahres  vollständig  frei." 

■^)  So  des  Töpfei-thons  in  Galizien;  vgl.  weiter  unten. 

3)  So  der  Wasserkräfte  im  Oetschergebiet  in  Niederösterreich,  wo  im  Mittelalter 
eine  kräftige  Kleineisenindustrie  sich  entwickelte. 

*)  So  in  dem  oben  erwähnten  Falle  der  Ansiedlung  von  Schlossern  bei  Swiatniki- 
göme,  wo  das  ganze  Mittelalter  hindurch  Panzerhemden,  Rüstungen,  Speere  und  Lanzen, 
in  der  Neuzeit  eiserne  Bettgerüste  und  Ofenröhren,  vorzugsweise  aber  Schlösser  traditionell 
d.  i.  von  ziemlich  allen  Ortsbewohnern  und  für  den  Absatz  nach  aussen  bei  landwirt- 
schaftlicher Nebenbeschäftigung  erzeugt  werden.  Bezüglich  Russlands  siehe  die  obige 
Schrift  Stellmacher's  S.  30,  40,  41,  43. 


154  Schwiedland. 

wie  dies  der  Naturalwirtschaft,  aus  deren  Epoche  diese  ökonomischen  Er- 
scheinungen in  unsere  Zeit  hereinragen,  entspricht.  „Lange  Zeit  herrschte 
bei  uns,"  sagt  Graf  Dzieduszycki  in  Bezug  auf  Galizien,  „Tauschhandel,  und 
in  einigen  Gegenden  besteht  er  noch  bis  jetzt.  In  der  Gegend  von  Brody. 
Zloczow,  Kamionka  strumilova  sind  viele  Ortschaften,  wo  Töpferthon  im 
üeberflusse  vorkommt.  Die  Töpfer  (jener  Gegenden)  führen  mit  eigenen 
Wagen  und  Pferden  regelmässig  wenigstens  zweimal  im  Jahre  ihre  Ware 
gegen  Podolien  zu  und  bleiben,  in  einem  Dorfe  ankommend,  vor  den  Thüren 
ihrer  Kunden  stehen.  Die  Hausfrau  w^ählt  ihre  Ware  und  schüttet  nach 
Verabredung  in  ein  Gefäss  Producte  ihrer  Wirtschaft,  also:  Grütze,  Erbsen, 
Fisolen  u.  s.  w.  als  Gegenwert."  Und  wie  ich  aus  Schilderungen  meiner 
Mutter  weiss,  wurden  auf  dem  Flachlande  in  Ungarn  noch  in  den  fünfziger 
Jahren,  das  ist  lange  vor  dem  Bau  von  Eisenbahnen  in  jener  Gegend, 
Bauern,  welche  gleichfalls  Töpferware  zum  Verkaufe  ins  Haus  brachten, 
auf  die  analoge  Weise  landesüblich  befriedigt,  indem  die  Käuferin  das  er- 
worbene irdene  Gefäss  je  nach  dessen  Grösse  zwei  bis  dreimal  mit  Mais. 
Hafer,  Hühnerfutter  u.  dgl.,  oder  etwa  zur  Hälfte  mit  Korn  zum  Tausche 
füllen  liess.  Diese  Gegenstände  wurden  von  den  Verkäufern  gegen  andere 
Nutz  dienlichkeiten  ihres  Bedarfes  weitergegeben  oder,  insoweit  sie  fremde 
Waren  mit  sich  führten,  ihren  Mandanten  übermittelt.  Mit  der  Entwicklung 
der  Märkte  ersetzt  der  Kauf  für  die  zu  Markt  gebrachten  Gegenstände 
allgemein  den  Tausch.  ^) 

* 

Somit  haben  wir  die  alte  geschlossene  Eigenwirtschaft  (I.)  in  ihren 
Eesten  betrachtet  und  die  primitiven  Hauswirtschaften  unserer  Zeit,  gleich 
jenen  der  naturalwirtschaftlichen  Epoche,  in  einem  Tau  seh  verkehr  (H.) 
verbunden  gesehen. 

Gewerbe,  welche  auf  dieser  Stufe  der  Entwicklung  stehen,  werden  zu 
Hausindustrien  durch  das  Auftreten  des  Verlegers;  auf  diesen  übergeht 
—  oft  in  bedeutend  sich  erweiterndem  Maasse  —  die  Vermittlung  des 
Absatzes.  (Wir  erinnern  an  die  grossstädtischen  Handlungsniederlagen  sog. 
nationaler  Hausindustrien  der  Ungarn,  Bosnier,  u.  s.  w.). 

Es  kann  sich  die  Entwicklung  aber  vorher  noch  weiter  vollziehen. 
Wir  haben  soeben  (S.  153)  die  Anlässe  betrachtet,  aus  welchen  sich  ganze 

^)  Das  Geldbedürfnis  der  noch  in  einer  halb  naturalwirtschaftlichen  Verfassung 
befindlichen  steiermärkischen  Bauern  äussert  sich  in  bezeichnender  Weise  darin,  dass  sie 
vielfach  bemüht  sind,  Ender  zur  Verpflegung  zu  erhalten,  weil  sie  baren  Geldes 
gänzlich  ermangeln  und  ihre  Naturalproducte  nicht  anders  zu  verwerten  in  der  Lage 
sind,  als  indem  sie  sich  um  Pfleglinge  bewerben,  welche  ihnen  die  Städte  —  vornehm- 
lich aus  den  Reihen  der  ausser  der  Ehe  Geborenen  —  zuwenden.  Auf  die  Frage,  wes- 
halb er  Milch  und  Butter  nicht  verkaufe,  meinte  ein  Bäuerlein  ganz  bezeichnend: 
„Haben  ja  im  Dorf  alle  ihre  eigenen  Kühe."  Auf  entlegenen  Weilern  wird  oft  ein  Span- 
ferkel angeschafft  und  mit  den  Abfällen  der  Wirtschaft  aufgezogen,  um  durch  seinen 
Verkauf  im  gemästeten  Zustande  zu  barem  Gelde  zu  gelangen.  Die  Bauern  bezeichnen 
das  Thier  mit  Beziehung  hierauf  als  ihre  „lebende  Sparcassa,"  aus  welcher  sie  Geld 
herauszunehmen  vermögen. 


Die  Entstellung  der  Hausindustrie,  mit  Rücksicht  auf  0 esterreich.  I55 

Ortschaften  besonderen  gewerblichen  Betrieben  zuwenden;  diese 
Productionsform  bezeichnet  eine  dritte  Stufe  der  gewerblichen  Entwicklung. 

Auf  dieser  Stufe  eines  traditionellen  fd.  h.  in  einer  bestimmten 
Ortschaft  von  nahezu  der  Gesammtheit  ihrer  Einwohner  geübten)  Hand- 
werks, das  seine  Erzeugnisse  auf  die  Märkte  verführt  und  mithin  auf  Vorrath 
arbeitet  (III.),  steht  heute  z.  B.  die  Schuhmacherei  in  der  Umgegend  von 
Znaim  in  Mähren,  von  Eisenstadt  in  Ungarn  und  in  Uhnöw  in  Galizien.  In 
äusserst  lehrreicher  Weise  zeigen  die  Schilderungen  Dr.  v.  Paygert's^)  wie  in 
Galizien  Schuhwaren  als  Erzeugnisse  nahezu  aller  gewerblichen  Betriebs- 
systeme figurieren,  von  den  für  den  eigenen  Bedarf  erzeugten  bäuerlichen  Holz- 
schuhen an  bis   zu    den  Erzeugnissen  der  modernsten  Schuhwarenfabriken. 

In  den  Gebirgsgegenden,  wohin  die  moderne  gewerbliche  Arbeits- 
theilung  noch  nicht  vordrang,  stellen  die  Bauern  (ähnlich  wie  in  Steier- 
mark. Kärnten  und  Krain)  ihre  Holzschuhe  selbst,  im  Hausfleiss,  her. 
Doch  ist  in  den  einzelnen  Dörfern  die  Zahl  der  selbständigen  Schuhmacher, 
welche  auf  Bestellung  und  direct  für  die  Consumenten  arbeiten,  zu- 
gleich auch  Ackerbau  treiben  und  den  ländlichen  Arbeitern  (=z  Bauern) 
social  gleichstehen,  in  neuerer  Zeit  in  Zunahme.  Diese  selbständigen 
Handwerker  erscheinen  uns  als  wirtschaftliche  Ableger  der  oben  erwähnten, 
gewissen  Ortschaften  eigenthümlichen  traditionellen  Gewerbeübung;  ander- 
wärts, wie  in  Steiermark,  wo  das  auf  die  Stöhr  ziehen^)  auch  noch  bei 
Schuhmachern  üblich  ist.  mögen  solcherart  wandernde  Meister  und  Gesellen 
durch  Ansiedlung  im  Dorfe  selbständige  Handwerke  begründen. 

Gleichwie  in  Kussland  bis  in  die  letzten  Jahrzehnte  einzelne  Dörfer 
Lederarbeiten  ausführten,  welche  in  grossen  Massen  auf  dem  berühmten 
Markte  zu  Nischni-Nowgorod  abgesetzt  wurden,^)  besteht  ferner  in  manchen 
Gegenden  Galiziens,  z.  B.  in  Uhnow  (etwa  80  Kilometer  von  Lemberg) 
die  Schuhmacherei  als  der  Gegend  eigenthümliches  und  localisiertes  Ge- 
werbe. Es  wird,  verbunden  mit  der  Gerberei,  vom  grössten  Theile  der 
Ortsbewohner  ausgeübt;  von  2681  christlichen  Einwohnern  Uhnöws  leben 
zumindest  1300  von  dem  Schuhmachergewerbe;  im  Gegensatze  zu  dem 
einzelnen  Dorfschuhmacher,  welcher  auf  Bestellung  arbeitet,  bilden  sie  eine 
social  geschlossene  Classe,  die  in  der  Kegel  auf  Vorrath  produ eiert. 
Wie  in  der  Znaimer  oder  in  der  Eisenstädter  Umgegend  wird  das  Erzeugnis 
auf  den  Märkten,  u.  zw.  noch  in  90  Kilometer  Entfernung  von  Uhnöw,  von 
den  Producenten  selbst  feilgehalten ;  es  sind  achtzehn  Ortschaften,  in  welchen 


1)  Die  sociale  und  wirtschaftliche  Lage  der  galizischen  Schuhmacher,  Leipzig,  1891. 
(Die  vom  Verfasser  in  Bezug  auf  die  Hausindustrie  gebrauchte  Terminologie  lehnt  sich  an  jene 
des  IX.  intern,  statistischen  Congresses  an  und  weicht  daher  von  der  hier  benützten  ab.) 

2)  Der  umherziehende,  die  erforderliche  Herstellung  im  Hause  des  Consumenten 
vornehmende  Gewerbebetrieb. 

^j  Gutmann  sthal,  a.  a.  0.,  S.  173:  „Ganze  Dorfgemeinden  beschäftigen  sich 
mit  Verfertigung  von  Stiefeln,  Handschuhen,  u.  s.  w.  meistens  ordinärer  Gattung:  so 
werden  z.  B.  in  Bogorodskoje,  Gouvernement  Nischni-Nowgorod,  alljährlich  gegen  200.000 
Paar  schafledeme  Fausthandschuhe,  in  Pawlowo  alljährlich  gegen  80.000  Paar  solcher 
Fausthandschuhe  aus  Seehundsfellen  verfertigt." 


]^56  Schwiedland. 

der  Absatz  —  theils  auf  Jahres-,  theils  auf  Saison-,  theils  auf  Wochen- 
mäi'kten  —  erfolgt;  obwohl  es  jedem  fi'eistände  alle  diese  Orte  zu  besuchen, 
thut  dies  keiner,  da  jeder  bloss  seine  eigenen  Erzeugnisse  feilhält.  Commis- 
sionäre  gibt  es  nicht  ^)  und  der  Verkauf  erfolgt  dort  sowohl  direct  an  Con- 
sumenten,  als  an  Dorfkrämer,  welch  40  bis  50  Kilometer  weit  zum  Markt 
kommen  und  die  Stiefeln  und  Schuhe  für  die  Zwecke  der  Wiederveräusse- 
rung  in  ihrem  Dorf  laden  aufkaufen.  Diese  Handwerker  bildeten  in  der  Zeit 
der  älteren  Gewerbeverfassung  eine  Zunft  ^)  und  betreiben  ebenfalls  noch 
im  Nebenberufe  Landwirtschaft.  ^) 

In  anderen  Orten,  z.  B.  in  Grrodek,  tritt  aber  neben  der  geschilderten 
Handwerksform  die  Hausindustrie  (IV.)  auf. 

Wie  anderwärts  die  Classe  der  Verleger  sich  auf  eine  doppelte 
Weise  entwickelt,  indem  einerseits  die  Kohstofflieferanten,  anderseits  die 
mehr  Unternehmungsgeist  besitzenden  Gewerbegenossen,  welche  den  Ver- 
kauf anfänglich  bloss  commissionsweise  für  die  Anderen  mitbesorgten,  den 
Absatz  allmählich  vollständig  monopolisierten  und  die  Erzeuger  zu  unselbst- 
ständigen  Heimarbeitern  hinabdrückten,  so  entstanden  auch  in  einzelnen 
„Schuhmacherorten"  Galiziens  Verleger  aus  der  Classe  der  (jüdischen)  Leder- 
händler, sowie  aus  (christlichen)  Schuhmachern.  Diese  besorgen  nun  den 
Fernabsatz  und  haben  die  ehemals  zünftigen  Schuhmacher  in  die  drückendste 
Abhängigkeit  von  sich  gebracht,  so  weit,  dass  in  einzelnen  Orten  diejenigen, 
welche  das  Schuhwerk  angefertigt  haben,  auch  die  Pflicht  übernehmen,  es 
in  der  Zeit  stärkerer  Nachfrage  auf  den  Märkten  (für  Kechnung  des 
Händlers)  zu  verkaufen.*) 

Endlich  werden  in  Galizien  neben  den  Erzeugnissen  der  im  Lande 
befindlichen  Schuhwarenfabriken  noch  Fabriksproducte  der  Mödlinger 
Schuhfabrik  in  besonderen  Niederlagen  dieses  Unternehmens  zu  Brody.  Krakau 
und  Kolomea,  sowie  Schuhe  aus  der  Münchengrätzer  Fabrik  in  einer  Nieder- 
lage in  Brody  abgesetzt. 


*)  „Jeder  trägt  seine  Ware  selbst  dahin,  oder  mietet  sich,  wenn  die  Entfernung  gar 
zu  gross  ist,  allein  oder  mit  mehreren  anderen  Schuhmachern  gemeinschaftlich  einen 
Wagen  zu  ihrem  Transport.  An  den  Thoren  der  betreffenden  Marktstadt  stehen  gewöhn- 
lich schon  die  jüdischen  Lederhändler  und  controlieren  ganz  genau,  welches  Quantum 
von  Waren  jeder,  dem  sie  Material  auf  Credit  gegeben  haben,  auf  den  Markt  bringt 
und  wieviel  er  davon  im  Laufe  des  Tages  verkauft.  Hat  der  betreffende  Schuldner  eine 
entsprechende  Einnahme  gehabt,  so  setzen  ihm  seine  Gläubiger  solange  zu,  bis  er  seine 
Schulden  bezahlt  hat."  Paygert,  a.  a.  0.  S.  24. 

2)  Die  ühnöwer  waren  von  jeher  freie  Bürger,  nur  etwa  80  Familien  waren  als 
leibeigen  dem  römisch-katholischen  PfaiTer  zugetheilt.     Paygert,  S.  15. 

^)  Nach  der  Systematik  des  IX,  international-statistischen  Congresses  lüge  hier 
eine  „nationale  Hausindustrie"  vor.  Wir  haben  es  jedoch  thatsächlich  bloss  mit  Hand- 
werksbetrieben zu  thun;  der  Meister  ist  hier  noch  Unternehmer  und  steht  social  und 
wirtschaftlich  hoch  über  den  vom  Verleger  abhängigen  Hausindustriellen. 

*)  Die  Mäkler  und  Krämer,  welche  mit  dem  Lederhändler  in  Verbindung  stehen 
und  auf  dem  Markte  anwesend  sind,  üben  eine  wirksame  Controle  beim  Verkaufe  aus, 
und  diese  Einrichtung  erspart  dem  Unternehmer  viele  Betriebskosten.  Vgl.  Paygert,  S.  56. 


Die  Entstehung  der  Hausindustrie,  mit  Rücksicht  auf  Oesten-eich.  I57 

Ein  gleicher  Fall,  wo  ein  local-traditionelles  Gewerbe  zu  einer  Haus- 
industrie wurde  und  damit  für  die  Erzeuger  die  bekannten  wirtschaftlichen 
und  socialen  Uebelstände  sich  einstellten,  während  in  einem  anderen 
Orte  die  gleiche  Erzeugung  sich  von  Verlegern  frei  zu  halten  wusste  und 
verhältnismässig  blüht,  wo  also  die  von  uns  unterschiedene  III.  und  lY. 
Entwickelungsstufe  neben  einander  bestehen,  findet  sich  in  Ober- 
östeiTeich.  Zu  den  armen  Messerern  in  Grünburg-Steinbach  und  Neuzeug 
bilden  die  (genossenschaftlich  organisierten)  Trattenbacher  Erzeuger  der 
nämlichen  primitiven  Taschenmesser  den  lebhaftesten  und  erfreulichsten 
Gegensatz.  Entlang  der  Steyr  und  der  Enns  hatte  sich  aus  dem  ländlichen 
localisierten  Gewerbebetriebe  der  Messerer  und  Schalenschroter  an  jenen 
Orten  von  selbst  die  Hausindustrie  entwickelt,  wie  dies  in  vielen  galizischen 
Schuhmacherorten  geschah,  in  Trattenbach  jedoch  wird,  wie  berichtet  wird, 
jeder  sich  anbietende  „Verleger"  mit  vereinten  Kräften  zum  Thale  hinaus- 
gejagt. 0 

Beim  üebergange  des  localisierten  Gewerbes  in  eine  Hausindustrie  ist 
Vorläufer  des  Verlegers  der  Hausierer,  welcher  beim  Absatz  in  die  Ferne 
überall  gern  eintritt.  Bei  local-traditionellen  Handwerkern  nimmt  eine  eigene 
Classe  von  Zwischenhändlern  die  Agenden  des  Hausierens  auf  sich.  Sie  bildet 
sich  aus  den  bereits  genannten  Elementen  (Meistern  oder  Kohstofflieferanten), 
sowie  auch  aus  berufsmässigen  Hausierern.  Auf  dieser  Zwischenstufe  stehen 
bereits,  aber  noch  ohne  zu  Hausindustrien  geworden  zu  sein,  die  bäuer- 
lichen Productionszweige,  welche  in  der  Bukowina  Flachs,  Hanf,  Baumwolle. 
Bast,  Stroh,  Schafwolle,  Ziegenhaar,  Leder  und  Felle  oder  Metalle'  ver- 
arbeiten und  den  Markt  ständig  durch  einzelne  hiezu  berufene  Dorfmit- 
glieder oder  durch  Zwischenhändler,  und  zwar  die  im  Lande  ansässigen 
Juden,  beziehen  lassen.-) 

Auch  anderwärts  kommen  manchmal  Hausierer  und  Händler  von  aussen 
ins  Dorf,  so  noch  zu  Beginn  des  Jahrhunderts  im  Grödener  Thal  in  Süd- 
tirol, wo  Holzschnitzereien  gefertigt  wurden  ^) ;  desgleichen  vertrugen  bis  zur 
Mitte  des  Jahrhunderts  Teferegger  Hausierer  die  unter  dem  Namen 
Teferegger  oder  Defregger  Decken  bekannten  Teppiche  aus  Kindshaaren  aus 
den  Bezirken  Welsberg  und  Sillian  in  Südtirol  nach  Deutschland,  Italien, 
Frankreich,  nach  den  Niederlanden,  Polen  und  Kussland.-*) 

Der  häufigste  Fall  aber  ist,  dass  Gewerbegenossen  sich  zu  Verlegern 
emporheben.    So  zog  in  den  20er  Jahren    der   unternehmende  Lichtenfelser 


')  Bericht  der  k.  k.  Gewerbe -Inspectoren.  Aehnlich  sind  die  französischen  Korb- 
flechter zu  Villaines  in  der  Touraine  genossenschaftlich  organisiert  und  geben  kein  ein- 
ziges Stück  ihrer  Producte  an  einen  Händler  ab.  (Korb-Industrie-  und  Weiden -Zeitung, 
Berlin,  October  1891.) 

2)  Vgl.  M  i  s  c  h  1  e  r ,  Hausindustrie  und  Hausgewerbe.  Ein  Aufsatz  in  der  Münchener 
„Allg.  Zeitung«  vom  10.  April  1889. 

3)  Tirol  und  Vorarlberg,  statistisch  mit  geschichtlichen  Bemerkungen;  von  Joh. 
Jac.  Staffier,  der  Eechte  Doctor  und  k.  k.  Gubernialrathe.  Innsbruck,  1848,  S.  423. 

*)  Staffier,  a.  a.  0.  S.  354. 


158  Schwiedland. 

Korbwarenerzeuger  ^)  nach  Norddeutschland,  der  Schweiz,  Frankreich.  Holland, 
ja  bis  nach  Brasilien  als  Korbführer  und  Korbhändler.  So  zogen  die 
Solinger  Schwertschmiede  im  Mittelalter  mit  Producten  der  Härter  und 
Eaider  auf  den  fernen  grossen  Markt.  ^) 

Ob  der  letzte  Schritt  sich  vollzieht,  ob  aus  der  Puppe  des 
Händlers  der  Verleger  hervortritt,  d.  i.  der  Erzeuger  seine  Unternehmer- 
eigenschatt  verliert,  unselbständig  und  vom  Ersteren  vollkommen  abhängig 
wird,  hängt  in  der  Regel  nur  von  der  günstigen  Entwicklung  des  Absatzes 
ab,  und  geht  oft  mit  der  Nachhaltigkeit  der  Nachfrage  Hand  in  Hand.  Wo 
der  Absatz  in  der  Ferne  und  unter  complicierten  Verhältnissen  gesucht 
werden  muss,  tritt  die  Abhängigkeit  der  Erzeuger  ein,  so  mächtig  ist  das 
Element  des  kaufmännischen  Betriebes  im  Verhältnis  zu  jenem  der  ge- 
werblichen Erzeugung.  ^) 

Die  socialökonomische  Entwicklung  erfolgt  also  durch  die  Occupation 
und  Erweiterung  des  Absatzgebietes  seitens  der  Händler  und 
Verleger.  Der  absolute  Gewinn  des  Kaufmanns  ist  oft  bei  relativ  gerin- 
gen Zuschlägen  am  einzelnen  Stücke  grösser,  als  bei  höheren  Zu- 
schlägen, so  dass  der  privatwirtschaftliche  Vortheil  den  Händler  zur  Ver- 
grösserung  des  Umsatzes  treibt.  Diese  Erweiterung  des  Absatzes  zieht 
aber  manchen  volkswirtschaftlichen  Nachtheil  nach  sich. 

Mit  der  Nachfrage  nimmt  zwar  die  Production  zu,  aber  beim  Vertrieb 
in  fernere  Gegenden  steigen  die  Kosten  oft  ohne  dass  der  Preis,  angesichts 
der  wenig  wohlhabenden  Abnehmerciasse,  auf  die  man  rechnet,  entsprechend 
erhöht  werden  könnte.  Ab  und  zu  hat  der  Händler  eine  Concurrenz  zu 
besiegen,  zu  deren  üeberwindung  er  die  Vertriebskosten  auf  seine  Erzeuger 
abwälzt,  oder  er  thut  dies  um  durch  die  Ermässigung  der  Preise  den  Absatz, 
d.  i.  den  Umsatz,  zu  vergrössern.  Der  Producent  aber,  welcher  seine  wichtigste 
kaufmännische  Thätigkeit  nicht  mehr  ausübt,  mithin  das  Gewerbe  nicht 
mehr   in    seiner  ganzen  Ausdehnung  betreibt,    wird  ökonomisch  immer  ein- 


^)  Sax,  die  Hausindustrie  in  Thüringen,  II.  Theil,  Jena  1888,  S.  8  fg. 

')  Thun,  die  Industrie  am  Niederrhein  und  ihre  Arbeiter.  Leipzig  1879,  II. 

3)  Auch  der  Hausfleiss  bringt  seine  Production  über  den  Bedarf  —  aber  bloss 
diese  —  auf  den  Markt.  Wenn  man  daher  „auf  den  Wochenmärkten  der  ungarischen, 
siebenbürgischen  und  rumänischen  Städte  neben  dem  Gemüse  und  den  Eiern,  welche  die 
Bauersfrau  hereingebracht  hat,  die  gestickte  Leinenwäsche,  die  gewebte  Wolldecke  oder 
Schürze  erblickt,  welche  ihre  fleissigen  Hände  erzeugt  haben  und  für  die  sie  einige 
Gulden  zu  lösen  hoift"  (Bücher),  so  ist  bei  dieser  Veräusserung  keinerlei  Gefahr  zu 
befürchten,  dass  der  Producent  seine  wirtschaftliche  Selbständigkeit  einbüssen  könnte,  auch 
wenn  für  die  landwirtschaftlichen  Ueberschüsse  der  Hauswirtschaft,  z.  B.  für  den  Obst- 
most der  steirischen  Bauern,  Aufkäufer  in  Thätigkeit  treten.  Erst  wo  der  Hausfleiss  sich 
bereits  zu  einem  gewerbsmässigen  Erzeugen  für  den  fremden  Consumenten  umgestaltet 
hat  und  in  dieser  Thätigkeit  die  Grundlage  der  wirtschaftlichen  Existenz  des  Hauses 
liegt  —  oder  wo  die  Einwohner  einer  Ortschaft,  wenn  auch  unter  Beibehaltung  der 
ländlichen  Nebenbeschäftigung,  in  ihrer  überwiegenden  Mehrzahl  ein  localisiertes  Gewerbe 
ausüben,  z.  B.  Hüte  erzeugen,  Eisengeräthe  schmieden,  Schuhe  verfertigen,  bedeutet  die 
Absonderung  oder  das  Auftreten  einer  eigenen  Händlerclasse  einen  social  ökonomisch  und 
morphologisch  höchst  bedeutsamen  Schritt. 


Die  Entstehung  der  Hausindustrie,  mit  Kiicksiclit  auf  Oesterreich.  I59 

seitiger  und  zu  einem  Widerstände  gegenüber  der  Neigung  des  Kaufherrn, 
die  Gestehungskosten  zu  drücken,  umso  rascher  unfähig,  wenn  mehrere 
Händler  einander  beim  VeHriebe  unterbieten. 

Während  die  berufsmässigen  Abs  atz  vermittler,  sowie  ökonomisch 
besser  begabten  oder  besser  situierten  Erzeuger,  als  Organe,  welche  die 
kaufmännischen  Aufgaben  ausführen,  sich  zu  Verlegern  emporheben,  werden 
die  Organe  der  blossen  gewerblichen  Herstellung,  die  daheim  gebliebenen 
Unternehmer,  zu  einer  gesonderten  Classe  von  social  immer  mehr  abhän- 
gigen und  technisch  zurückgebliebenen  Heimarbeitern. 


Aus  der  auf  den  Tausch  gegründeten  Nebenbeschäftigung  von  Bauern 
(n.  Stufe)  und  aus  der  Industrie  von  Handwerkerdörfern  (HL)  entstanden 
auf  diese  Weise  auch  im  Westen  Hausindustrien;  sie  bilden  aber  dort 
eine  minder  wichtige  Erscheinung,  weil  die  gewerbliche  Entwickelung  eine 
reichere  w^r  und  dort  nicht  lediglich   auf  die   Hauswirtschaft   zurückgeht. 

Es  wäre  müssig,  die  Entstehung  der  handwerkmässigen  Erzeugung 
in  West-  und  Mitteleuropa  des  Näheren  zu  schildern.  Die  Berufstheilung, 
welche  vielfach  künstlich  auf  das  Land  übertragen  wird,  vollzieht  sich  hier 
originär  zuerst  auf  den  Frohnhof.  Dessen  Organisation  umfasst,  hierin  dem 
Kloster  vergleichbar,  sowohl  ausschliesslich  Landwirtschaft,  als  aus- 
schliesslich Gewerbe  treibende  Familien  oder  Gruppen. 

Bildet  die  Frohn Wirtschaft  die  Wiege  des  Handwerks,  so  ist  der  Ort 
seiner  Weiterbildung  die  Stadt.  Allmählich  gelangt  der  gewerbliche  Er- 
zeuger des  Hofes,  der  hörige  Gerber,  Walker  oder  Schwertfeger,  in  die 
palissadenumzogene  befestigte  Ortschaft,  wohin  er  schon  vorher  seine 
Producte  verkaufte  und  wo  der  Frohnherr  in  aller  Eegel  ebenfalls  Grund- 
stücke besitzt.  Parallel  mit  der  räumlichen  Arbeitsth eilung,  mit  der 
fortschreitenden  ökonomischen  Differenzierung  zwischen  der  —  sich  alsbald 
mit  Gewerbeproducten  selbst  genügenden  —  Veste  und  dem  flachen  Lande, 
das  die  Eohmaterialien  liefert,  vollzieht  sich  nun  in  der  Stadt  die  gewerb- 
liche Berufstheilung  und  Classenbildung.  Die  Gewerbetreibenden  treten  als 
eigener  Beruf  selbständig  neben  die  anderen  Berufe  und  erkämpfen  in  der 
Zunft  —  dieser  im  occidentalen  Sinne  in  Ost-Europa  ebenfalls  unbekannten 
Bildung  —  ihre  eigene  Verfassung. 

Da  beginnt  vom  XV.  bis  zum  XVHL  Jahrhundert  die  Entwicklung 
des  modernen  Unternehmens. 

Das  Handwerk  hatte  sich  auf  den  Fernabsatz  eingerichtet;  die  Zunft  selbst 
organisierte  diesen,  wo  sie  dazu  genügend  kräftig  war^);  wo  nicht,  lag  er  in  den 
Händen  der  Kaufleute;  diese  sahen  sich  aber  in  dem  zünftig  gegliederten 
Handwerk  einem  Contrahenten  von  gleicher  ökonomischer  Stärke  gegenüber. 

Bald  gewinnt  jedoch  die  Kolle  des  Handels  erhöhte  Bedeutung, 
denn  in    dem  Maasse  als    mit   der   Wende    (}er   Neuzeit    die    europäischen 


')  Vgl.  Schmoller,  Jahrbuch,  1890,  S.  1057. 


150  Schwiedland. 

Staaten,  durch  allgemein  politische,  wie  wirtschaftliche  Ursachen  gedrängt, 
die  Hauptaufgabe  ihrer  Wirtschaftspolitik  in  der  Förderung  der  eigenen 
Industrie  erblicken,  beginnt  das  Absatzgebiet  der  bisher  ins  Ausland 
liefernden  Gewerbe  sich  zu  verengen.  Politische  Verhältnisse  tragen  dazu 
bei,  die  Kückwirkung  dieser  Wirtschaftspflege  auf  die  gewerbefleissigen 
Länder  Mitteleuropas  empfindlicher  zu  gestalten.  Einerseits  gestatten  nun  die 
entwickelteren  und  verbesserten  Mittel  des  Verkehres  für  die  Ferne  zu 
produ eieren,  anderseits  ist  aber  der  Gewerbestand  infolge  des  Niederganges 
der  Städte,  des  Aufkommens  der  Landmeister,  u.  s.  w.  geschwächt.  Aus 
diesen  Verhältnissen  zieht  der  Unternehmer  modernen  Styles  die  Eechnung; 
die  stattgehabte  Entwicklung  des  auswärtigen  Absatzes  und  die  späteren  compli- 
cierteren  Concurrenzverhältnisse  drängen  dazu,  dem  kleinen  Producenten  die 
selbständige  Geschäftsleitung  zu  entwinden,  und,  der  Lage  des  Wirtschaftslebens 
am  besten  entsprechend,  d.  i.  dem  Unternehmer  die  beste  Möglichkeit  des 
Bestandes  gewährend,  entsteht  allenthalben  die  primitivste  Form  des  Gross- 
betriebes: die  Hausindustrie.  In  dieser  Organisation  findet  der  Unter- 
nehmer die  Vortheile  der  Erzeugung  im  Grossen ;  dank  den  billigen  Löhnen 
und  dem  Verfalle  der  Gewerbe  kann  er  sie  leicht  begründen.  Um  der 
Möglichkeit  des  grossen  Absatzes  und  der  Concurrenzfähigkeit  willen  wird 
sie  aber  ins  Leben  gerufen. 

Sind  es  im  Osten  anscheinend  die  höhere  persönliche  Geschäftsgewandt- 
heit des  Hausierers,  der  entwickeltere  kaufmännische  Sinn  des  Händlers, 
welche  die  Uebermacht  des  Verkaufsorganes,  hier  früher,  dort  später, 
begründen  und  den  gewerblichen  Producenten  ökonomisch  einengen,  seiner 
wirtschaftlichen  Selbständigkeit  und  seines  Unternehmercharakters  berauben, 
so  kommen  die  Hausindustrien  in  Mitteleuropa  infolge  der  allgemeinen  wirt- 
schaftlichen Verhältnisse  zu  gleicher  Zeit  in  grosser  Zahl  auf.  Sie  bilden 
hier  für  die  künftigen  Weltindustrien  jenes  System  des  Betriebes,  welches 
unter  einer  kaufmännischen  Leitung  die  vortheilhaftesten  Erzeugungsbedin- 
gungen bietet,  das  Mittelglied,  welches  in  die  Manufactur  und  Fabrikindustrie 
hinüberleitet.  Während,  wie  Schmoller  sich  ausdrückt^),  wenige  Personen 
vorhanden  sind,  die  zu  Verlegern  taugen,  sind  viele  vorhanden,  die  zu 
Hausindustriellen  brauchbar  sind.  Begünstigt  durch  die  Uebertragung  der 
Welthandelsstrasse  auf  den  atlantischen  Ocean  beginnen  England,  Holland 
und  Frankreich,  eine  centralistische  und  kräftige  nationale  Wirtschaftspolitik 
und  beeilen  hiedurch  ihre  wirtschaftliche  Entwicklung  wesentlich,  während 
in  Deutschland  die  Verwüstungen  und  der  Verfall  aller  Cultur  infolge  des 
dreissigjährigen  Krieges  einen  langsameren  Fortschritt  bedingen ;  und 
als  dort  schon  Fabriken  entstehen,  entwickeln  sich  hier  erst  die  Betriebe 
mit  Hausindustriellen.  Gegen  Stücklöhnung,  welche  dem  Unternehmer 
die  Schätzung  der  Productionsbedingungen  erleichtert,  in  der  Betriebsstätte 
des  hauptsächlichen  Arbeiters  thätig,  welche  aus  der  Werkstatt  in  die  Wohn- 
räume zurückverlegt  ist,  stellen  sie  ihre  Producte  her,  nicht  individualisierend, 


')  Jahrbuch,  1890,  III.  Heft. 


Die  Entstehung  der  Hausindustrie,  mit  Rücksicht  auf  Oesterreich.  161 

wie  der  Handwerker,  der  für  den  localen  Absatz  arbeitet,  sondern  für  den 
Absatz  im  Grossen  und,  wie  vielfach  die  Fabrikindustrie,  nach  Typen.  Diese 
Producenten,  welche  nahezu  völlig  ihrer  Unternehmereigenschaft  entfremdete 
Handwerker  darstellen  oder  sich  aus  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung 
recrutieren,  sind,  gleich  dem  kaufmännischen  Unternehmer,  welcher  ihnen 
vorsteht  und  den  Productionsprocess  wirtschaftlich  leitet,  ein  Ergebnis  der 
allgemeinen  wirtschaftlichen  Entwicklung. 

Es  begründet  im  Wesen  der  Hausindustrie  keinen  Unterschied,  ob 
der  Betrieb  lediglich  unter  der  (sei  es  gelegentlichen,  sei  es  geregelten) 
Mitwirkung  des  Hausstandes  des  Arbeiters  oder  unter  Zuhilfenahme 
von  Gesellen  und  Lehrlingen  erfolgt  —  ob  die  Werkzeuge  Eigenthum 
des  Heimarbeiters  oder  seines  kaufmännischen  Verlegers  sind —  ob  ihm 
dieser  den  Rohstoff  und  das  Zubehör  liefert  oder  der  Hausindustrielle 
diese  Productionselemente  aus  eigenem  beistellt  und  im  Entgelt  mithin 
nicht  lediglich  Arbeitslohn,  sondern  zugleich  einen  Kaufpreis  empfängt 
—  ob  endlich  der  Verleger  mit  den  Sitzgesellen  unmittelbar  oder  bloss  durch 
Factoren  verkehrt;  diese  Momente  berühren,  wenn  sie  auch  zum  Theil 
Unterschiede  begründen,  welche  auf  die  ökonomische  und  sociale  Lage  der 
Arbeiter  erheblich  zurückwirken,  doch    nicht   das  Wesen   der  Erscheinung. 

Für  den  Begriff  der  Hausindustrie  wesentliche  Momente  sind: 

1.  die  Abhängigkeit  der  gewerblichen  Producenten  vom  Verleger, 
dem  gegenüber  sie  nie  als  selbständige  Unternehmer  erscheinen  und  an  den 
sie  in  Bezug  auf  den  Absatz  ihrer  Erzeugnisse  angewiesen  sind, 

2.  die  Arbeit  im  eigenen  Wohnräume^),  sei  es  allein,  oder  unter 
Mithilfe  Anderer,  endlich 

3.  die  Herstellung  von  Waren  nach  bestimmten  Durchschnittstypen 
und  in  grossen  Massen.  Dabei  sind  das  Verlags-  und  das  Manufactur-  oder 
Fabriksystem  im  Wesen  so  nahe  verwandt,  dass  die  räumliche  Vereinigung 
der  Arbeiter  in  der  Fabrik  oft  wie  ein  zufälliges  Moment  erscheint,  dessen 
Verwirklichung  für  den  Unternehmer  hier  rentabel  ist.  dort  nicht. 

Der  Ursprung  der  Hausindustrie  ist  dabei  im  einzelnen  Falle  sehr 
verschieden.  Zünftige  Gewerbe,  wie  solche,  hinsichtlich  deren  Erzeugnisse 
die  Zunftzugehörigkeit  zweifelhaft  ist,  und  nicht- zünftige  Kleinbetriebe 
verfallen  ihr:  endlich  werden  auf  Grund  des  Verlages  auf  dem  flachen 
Lande  mit  bäuerlichen  Hilfskräften  bedeutende  Gewerbebetriebe  errichtet, 
sei  es  weil  dort  keine  Zunftschranken  bestehen^),  sei  es,  wie  auch  heut- 


*)  Dr.  A.  Braun  (Zur  Statistik  der  Hausindustrie;  als  Manuscript  gedruckt, 
Wien  1888,  S.  5)  erw^ähnt,  dass  Hausindustrielle  in  der  Maschinenstickindustrie  von 
Appenzell  a.  Eh.  ihre  Arbeitsmaschinen  sehr  häufig  ausserhalb  ihrer  Wohnung  aufstellen 
und  mithin  nicht  „zu  Hause"  arbeiten.  Dieser  Umstand  berührt  die  obigen  Begriffs- 
bestimmungen nicht;  es  liegt  dort  eben  eine  corporative  Gestaltung  auf  Grund 
hausindustrieller  Verhältnisse  vor,  welche  sich  zur  Hausindustrie  verhält,  wie  die  hand- 
werksmässige  productivgenossenschaftliche  Erzeugung  zum  Betriebe  in  der  einzelnen 
Werkstatt. 

2)  Beispiel:  Die  Entwicklung  der  Aachener  ländlichen  Tuchindustrie,  T  h  u  n. 
Die  Industrie  am  Niederrhein,  Band  I.,  S.  18. 

Zeitschrift  für  Volkwirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  I.  Heft.  1 1 


162  Schwiedland. 

zutage,  wegen  der  wohlfeileren  Arbeit.  Dort  wird  die  Hausindustrie  von 
Händlern,  welche  bereits  im  Besitze  des  Absatzes  sind,  zur  Yerbilligung 
der  Erzeugung  und  Vergrösserung  des  Umsatzes,  oder  von  solchen,  welche 
den  Markt  mit  einem  Schlage  erobern  wollen  —  in  jedem  Falle  also  der 
Concurrenzfähigkeit  halber:  um  dieselbe  zu  erhalten  oder  um  sie  zu 
gewinnen  —  angesetzt.  ^)  Wie  in  dem  anderen  capitalistischen  Betriebs- 
systeme, der  Fabrik  und  Manufactur,  gelangt  auch  im  Verlage  das 
Gewerbe ,  welches  sich  selbst  zu  reformieren  nicht  die  Kraft  besass. 
unter  die  Vormundschaft  des  Handels.  Dieser  weiss  die  Gewinne 
zu  finden,  die  jenem  sich  entzogen.  Damit  unterjocht  er  bestehende 
Gewerbe,  setzt  an  Orten,  wo  keine  bestanden,  neue  an  und  beginnt  einen 
vernichtenden  Concurrenzkampf  gegen  die  alten  Erzeugungsweisen.  Wie  bei  der 
Fabrik,  liegt  im  Verlags  System  der  Schwerpunkt  der  Unternehmung  in 
der  (kaufmännischen)  Leitung,  welche  sich  von  der  technisch-ausfuhrenden 
Arbeit  absonderte  und  die  Erzeugung  nach  capitalistischen  Gesichts- 
punkten beherrscht. 

*  * 

* 

So  finden  wir  denn,  wenn  der  Fabriksbetrieb  mit  seiner  Unternehmer-, 
Beamten-  und  Arbeiterschaft  ausser  Betracht  bleibt,  nach  der  Beseitigung 
der  zünftigen  Organisation  neben  den  selbständig  gebliebenen  Klein- 
handwerkern (A.)  mit  ihrem  Gesellen-  *und  Lehrlingsstande  unselb- 
ständig gewordene  Meister  und  Arbeiter,  welche  keine  Aussicht 
haben  jemals  selbständig  zu  werden  (B.),  d.  h.  eigentliche  Haus- 
gesellen, welche  daheim  für  Fabrikanten,  Zwischenhändler,  Detailmagazine 
und  grössere  Meister  arbeiten ,  sowie  Gewerbetreibende,  welche 
zwar  von  den  nämlichen  Factoren  abhängig  und  zu  Heimarbeitern  geworden 
sind,  aber  gewerberechtlich  noch  selbständig  sind,  —  d.  h.  (wie  bei- 
spielsweise die  sogenannten  Stückschneider)  die  formelle  Meisterbefugnis 
besitzen  und  als  Meister  besteuert  sind.  Diese  arbeiten  möglicherweise 
sogar  mit  Gesellen  oder  lassen  als  Schweisser  arbeiten,  sie  sind  aber  trotz- 
dem im  materiellen  Sinne  keine  selbständigen  Unternehmer  mehr;  diese 
Eigenschaft  ist  auf  den  Eigenthümer  der  sie  beschäftigenden  Unternehmung 
(Fabrik,  Geschäftshaus,  grösserer  Werkstattbetrieb)  übergangen.  Insbesondere 
die  modernen  Magazine  —  ebenfalls  ein  Ergebnis  der  fortgeschritteneren 
Entwicklung  des  Westens  —  geben  der  Hausindustrie  einen  Anstoss  zu 
neuem  Entstehen. 


*)  Die  nämliche  Tendenz  des  Handels  zur  Unterwerfung  der  Er- 
zeugung macht  sich  später,  in  Oesterreich  namentlich  nach  den  Fünfziger  Jahren, 
geltend,  als  —  zu  einer  Zeit,  wo  die  Fabrik  sich  behufs  des  Absatzes  noch  nicht  un- 
mittelbar an  die  Consumenten,  sondern  lediglich  an  die  Zwischenhändler  wandte  —  grosse 
Zwischenhändler  vielfach  Fabriken  errichteten  oder  erwarben,  um  den  Vortheil  auszu- 
beuten, dass  sie  als  Händler  und  Fabrikanten  auf  einen  Theil  des  Gewinnes  ohne 
Schaden  verzichten  konnten.  Desgleichen  trachtet  heute  das  Grossmagazin  nicht  allein 
kaufmännische  Zwischenglieder  überflüssig  zu  machen,  sondern  zugleich  sein  ökonomisches 
Gewicht  den  einzelnen  Fabrikanten  fühlbar  zu  machen. 


Die  Entstehung  der  Hausindustrie,  mit  Rücksicht  auf  Oesten-eich.  163 

Zwischen  den  beiden  kennzeichneten  Gruppen:  der  wirklichen 
gewerblichen  Meister  (A.)  und  jener,  welche  ihre  Selbständigkeit  in 
Wahrheit  vollständig  eingebüsst  haben  (B.),  nehmen  heute  gewisse 
handwerksmässige  Unternehmer  eine  Mittelstellung  ein. 

Es  sind  dies  Meister,  die  zwar  noch  in  eigenen  Werkstätten 
schalten,  aber  nicht  mehr  dir e et  mit  den  Consumenten  zu  thun  haben, 
auch  nicht  vorwiegend  auf  dessen  Bestellung,  sondern  im  Grossen  und 
für  Exporteure  oder  Handlungshäuser^erzeugen  lassen.  In  diese  Classe 
fällt  der  Wiener  Perlmutter-,  Hörn-,  Meerschaum-,  Bein-  oder  Stockdrechsler, 
sowie  ein  stets  wachsender  Theil  der  Möbeltischler. 

Durch  das  Entstehen  grosser  Geschäftshäuser,  welche  glänzende  Aus- 
lagen und  grosse  Yorräthe  auf  Lager  halten,  wird  der  Meister  in  seiner 
selbständigen  Existenz  beschränkt  und  bald  um  dieselbe  gebracht.  Ebenso 
wie  zahllose  Schneidermeister  der  sichereren  Existenz  halber  zu  Stück- 
schneidern oder  auch  zu  einfachen  Gesellen  des  Confectionärs  werden,  sind 
zalreiche  Tischler  veranlasst,  an  das  Handlungshaus,  die  Möbelhalle,  zu 
liefern.  Und  nun  entwickelt  sich  alsbald  ein  ähnliches  Verhältnis  wie 
zwischen  Verleger  und  Heimarbeiter  mit  ähnlichen  Missbräuchen  und 
socialen  Schattenseiten;  der  Meister  ist  nur  noch  nicht  arm  genug  um 
direct  Heimarbeiter  zu  werden,  dafür  werden  aber  neben  ihm  auch  „Haus- 
industrielle" beschäftigt,  deren  Hungerlöhne  ihn  zu  ruinieren  drohen. 

Zuoieich  wird  zwischen  den  einzelnen  Lieferanten  zum  Zweck  der 
billigeren  Herstellung  eine  eigenthümliche  Specialisierung  in  der  Art  ein- 
geführt, dass  der  eine  bloss  Stühle,  der  andere  bloss  Tische  oder  Betten 
u.  s.  w.  erzeugt.  ^) 

Vollends  in  Gewerben,  welche  für  den  Export  arbeiten,  erlangt  das 
Organ  des  Exportes  alsbald  eine  aus  seiner  wirtschaftlichen  üeberlegen- 
heit  sich  natürlich  ergebende  Uebermacht  gegenüber  dem  einzelnen  selb- 
ständigen Meister:  bald  findet  eine  Versorgung  des  letzteren  mit  Kohmaterial 
seitens  des  ersteren  statt,  während  anderseits  selbständig  an  den  Exporteur 
liefernde    Zwischenhändler   ebenfalls  Hausindustrielle,    Sitzgesellen,    zu  ver- 


1)  Die  technischen,  ökonomischen  und  socialen  Folgen  dieses  Systems  liegen  auf 
der  Hand.  Die  technische  Einseitigkeit  verleiht  dem  Arbeiter  eine  grössere  manuelle  Geschick- 
lichkeit für  die  Eine  Art  der  Arbeit,  der  er  sich  widmet.  Die  Technik  dieser  speciellen 
Erzeugung  wird  damit  gehoben  —  so  dass  bald  ein  gewöhnlicher  Tischler  mit  einem 
„Bettentischler"  u.  s.  w.  nicht  zu  concurrieren  vemiag.  Dazu  kommt,  dass  bei  der  stets 
gleichen  Erzeugung  AbfäUe  leicht  zu  verwenden  sind;  der  gewöhnUche  Tischler,  der  ge- 
legentlich ein  modernes  Bett  zimmert,  kann  mit  den  erübrigten  Nussholzstücken  nichts 
anfangen,  er  muss  sie  als  „todtes  Capital"  auf  den  Boden  legen  oder  er  verbrennt  sie;  der 
„Specialist"  hat  dagegen  für  jedes  Abfallstückchen  gleich  neue  Verwendung.  Infolge 
dieser  Umstände  arbeitet  ein  Tischler  der  letzteren  Art  wohlfeiler  als  jeder  andere, 
entwindet  also  seinen  ArbeitscoUegen  das  Absatzgebiet.  Ihm  selbst  bringt  dies  aber  auch 
keinen  Gewinn;  die  Concurrenz  der  Möbelhallen  untereinander  und  seine  abhängige 
Stellung  gegenüber  dem  jeweiHgen  Händler,  der  ihn  beschäftigt,  verhindern  dies  und 
veranlassen  ihn  vielmehr,  zum  Verwenden  unverhältnismässig  zahlreicher  Lehrlinge  seine 

Zuflucht  zu  nehmen. 

11* 


\Q4:  Schwiedland. 

wenden  beginnen.  Und  nun  sucht  jeder  Theil  auf  Kosten  des  Anderen  den 
augenblicklichen  Gewinn  zu  erhöhen :  der  Händler  durch  Herabdrücken  des 
Arbeitslohnes,  der  Meister  durch  Aufwendung  billigeren  Materials,  durch 
leichtfertige  Arbeit  und  Verwendung  zahkeicher  Lehrlinge;  doch  niuss 
der  Meister  beim  Wettbewerbe  mit  dem  Hausgesellen,  wenn  es  sich  um 
Erzeugnisse  gewöhnlicher  Gattung  handelt,  den  Kürzeren  ziehen,  weil  er 
die  Kosten  einer  eigenen  Werkstatt  zu  tragen,  höhere  Löhne  und  Steuern 
zu  zahlen  hat,  während  ihm  der  Exporteur  bei  schlechter  Arbeit  oft  beliebige 
Abzüge  am  Preise  macht.  Dazu  kommt,  dass  die  Meister  infolge  ihrer 
kaufmännischen  Unbildung  die  Preiscalculationen  oft  zu  niedrig  machen 
und  den  Factoren  der  Exporteure  geradezu  verderbliche  Preise  zugestehen, 
um  Aufträge  zu  erhalten.  Bis  das  Product  im  Einzelnen  an  den  Consu- 
menten  gelangt  atomisiert  sich,  wenn  es  selbst  einen  nur  geringen  Wert  dar- 
stellt, der  jeweilige  Preisnachlass,  so  dass  an  dem  socialpolitisch  beklagens- 
würdigen „Niederconcurrenzieren"  schliesslich  nur  derjenige  Händler,  welcher 
dadurch  einen  grösseren  Umsatz  erlangt  —  sowie  der  transatlantische  Impor- 
teur einen  Gewinn  haben. 

Eine  in  Bezug  auf  ihre  Unternehmer-Eigenschaft  gleiche  Stellung, 
wie  diese  an  Handlungshäuser  liefernden  und  schon  halb  unselbständigen 
Meister  haben  jene  zahlreichen  Kleingewerbetreibenden  inne,  welche  von 
Fabriken  abhängig  werden,  wie  beispielsweise  der  im  Solde  des  Brau- 
hauses hantierende  Bindermeister,  —  der  Buchbinder,  welcher  vom  Erzeuger 
von  Geschäftsbüchern  beschäftigt  wird  und  in  dessen  fabriksmässig  betrie- 
benen Buchbinderei  (handwerksmässig)  das  Marmorieren  der  Bücher  besorgt,  — 
ferner  der  Metallschleifer,  dessen  Betrieb  in  das  Locale  einer  Dampfver- 
miethungsanstalt  verlegt  ist  und  nur  in  dem  Maasse  der  Aufträge  einiger 
Metallwarenfabriken  vor  sich  geht,  oder  wie  der  Anstreicher,  welcher  sammt 
seinen  Gesellen  und  Lehrlingen  in  der  Maschinenfabrik  thätig  ist.  und  der- 
gleichen Typen  moderner  „Handwerksmeister"  mehr,  welche  alle  in  keinem 
directen  Verkehre  mehr  mit  dem  Käufer  ihrer  Erzeugnisse  stehen  und  doch 
nicht  in  dem  Maasse  der  Fabrik  incorporiert  sind,  wie  etwa  der  Tischler 
einer  Maschinenwerkstätte  oder  Eisengiesserei,  wie  der  Schriftgiesser  der 
Druckerei,  oder  wie  der  Bildhauer  oder  Tischler,  welcher  in  der  W^erkstätte 
des  Tapezierers  thätig  ist,  dem  Unternehmen  des  letzteren.  Alle  die  erst- 
genannten „Handwerksmeister  in  partibus"  haben  noch  Gehilfen  oder  selbst 
Lehrlinge  neben  sich,  welche  sie  entlohnen,  beschäftigen  und  beaufsichtigen. 

Wie  die  Fabrik  sich  solcherart  Meister  sammt  Gesellen  angliedert, 
ebenso  verwendet  sie  auch,  sei  es  zur  Vornahme  von  Vorbereitungs-  oder 
von  Vollendungsarbeiten,  sei  es  zur  Herstellung  des  Hauptproductes  selbst, 
eigentliche  Hausindustrielle.  Der  ökonomische  Vortheil  des  Verlag- 
systems ist  eben  für  Industrie-  wie  Handelsunternehmungen  der  nämliche. 
Durch  die  Heranziehung  der  abhängigsten  Lohnarbeiterclasse  wird  ein  Neben- 
unternehmen des  Magazins  oder  der  eigentlichen  Fabrik  geschaffen,  das 
bloss  Betriebs-  und  nahezu  keinerlei  Anlagecapital  erfordert  und  daher  in 
der  Bewegung  eine  grössere  Freiheit  gewährt  als  der  Fabriksbetrieb,  dessen 


Die  Entstehung  der  Hausindustrie,  mit  Rücksicht  auf  Oesterreich.  1(35 

Inhaber  in  Bezug  auf  seine  Arbeiter,  wie  auf  seine  Concurrenten  schon 
durch  die  Kücksicht  auf  das  fixe  Productivcapital ,  dort  zur  Nach- 
giebigkeit, hier  zur  Vereinbarung  veranlasst  wird.  Als  Verleger  ist 
er  zu  ähnlichen  Kücksichten  nicht  gezwungen;  je  wolfeiler  er  verkaufen 
kann,  desto  grösser  sind  oft  Umsatz  und  absoluter  Gewinn,  und  wenn  das 
betreffende  Handelsgebiet  unergiebig  geworden  ist.  verlässt  es  der  wirkliche 
Verleger  einfach  gleich  einen  erschöpften  Bergwerk.  Auch  Handwerksmeister 
haben  diese  natürlichen  Vortheile,  welche  dem  Verlagssystem  zu  Gunsten 
des  Unternehmers  innewohnen,  sich  zu  Nutzen  gemacht.  Die  an  Exporteure 
liefernden  Gewerbetreibenden,  welche  zum  Theil  mit  den  von  Zwischen- 
händlern aller  Art  beschäftigten  Hausgesellen  einen  harten  Concurrenzkampf 
führen,  übernehmen,  um  die  Gestehungskosten  des  Werkstättenproductes 
zu  mindern  und  so  die  eigene  Existenz  (d.  h.  zunächst  die  Concurrenz)  sich 
zu  erleichtern,  selbst  die  Kolle  von  Verlegern. 

Es  ist  endlich  nur  eine  logische  „Verbesserung"  des  Systems,  wenn 
die  Hausindustrie  in  die  ländlichen  Bezirke  übertragen  wird,  wo  die  bis 
dahin  Landwirtschaft  treibende  Bevölkerung  zum  Betriebe  des  Webstuhles, 
zur  Hantierung  mit  der  Strickmaschine  oder  zum  Knopfdrehen  leicht  abge- 
richtet werden  kann  und  eine  wohlfeile  Arbeitskraft  darbietet,  so  dass  zum 
Schluss  im  Absterben  begriffene  alte  Hausindustrien,  welche  aus  national 
eigenthümlichen  Gewerbethätigkeiten  des  Landvolkes  entstanden  sind,  der 
primitivere,  „östliche"  Typus  (wie  die  Herstellung  der  sog.  Waldleinwand 
in  Nieder-Oesterreich),  einträchtig  neben  der  neuen  „fabriksmässigen"  Haus- 
industrie nach  westlichem  Typus  (z.  B.  der  Erzeugung  von  Strickwaren 
u.  dgl.)  besteht. 

Viele  Hausindustrien  sterben  ab  ^)  oder  werden  in  fabriksmässige  Unter- 
nehmungen verwandelt  —  oftmals  zur  Erlösung  der  Arbeiter  aus  ihrer 
elenden  Lage  ^)  —  allein  während  die  Hausindustrie  so  einerseits  ihre  Kolle 
als  „das  historische  Mittelglied"  zwischen  Handwerk  und  Fabrik  erfüllt,  ent- 
stehen anderseits  fortwährend  neue  Hausindustrien  in  bisher  verschonten 
Gewerbezweigen.  Der  capitalistische  Betrieb,  welcher  die  Weberei.  Spinnerei, 
Maschinenindustrie  längst  erfasst  und,  nach  oder  ohne  eine  Zwischenperiode 
hausindustrieller  Production,  bereits  allenthalben  in  Fabriksbetriebe  eingereiht 
hat,  ergreift  nun  die  Schuhmacherei,  die  Drechslerei,  das  Tischlergewerbe. 
Wo  in  diesen  Gewerben  nicht  sofort  ein  Maschinenbetrieb  entsteht,  dort 
tritt  wieder  der  Handel  als  Occupator  auf,  bildet  wieder,  infolge  der  ge- 
schilderten privatwirtschaftlichen  Vortheile  des  Systems,  die  Hausindustrie 
die  Uebergangsform  für  die  fernere  Entwicklung. 


^)  Manche  werden  infolge  ihrer  Einseitigkeit  und  technischen  Zuriickgebliebenheit 
sogar  von  den  Verlegern  wieder  verlassen  und  hören  auf,  so  die  Kleineisenindustrie  im 
Oetschergebiete,  deren  Verlag  sich  in  den  Händen  der  Kaufleute  von  Waidhofen  a.  d.  Ybbs 
befand. 

2)  So  dermalen  die  erwähnte  alte  traditionelle  Schlosserei  zu  Swiatniki-göme. 
welche  sich  allmählich  aus  dem  Handwerk  zur  Hausindustrie  umgestaltet  hatte. 


Ißß  Schwiedland. 

Durch  die  Lösung  der  Leibeigenschaftsverliältnisse,  welche  im  Osten 
den  dem  Frohnhofe  ähnlichen  grossen  Eigenwirtschaften  ein  jähes  Ende 
bereitete,  scheint  die  moderne  Entwicklung  des  Grossbetriebes  auch  dort 
eine  Förderung  zu  empfangen.  Dadurch  wird  für  Ost  und  West  eine  gleiche 
Gnmdlage  für  die  fernere  Entwicklung  in  höherem  Maasse  gegeben.  Allein 
die  Unterscheidung  der  typisch  „östlichen"  und  typisch  „westlichen*  Ent- 
stehung der  Hausindustrie  hat  doch  wohl  ihr  wissenschaftliches  Interesse. 
Liess  die  nähere  Betrachtung  den  Hausfleiss  als  ein  Ergebnis  der  natural- 
wirtschaftlichen Verfassung  erkennen,  während  die  Hausindustrie  eine 
Formation  der  verkehrswirtschaftlichen  Epoche  ist,  so  lehrte  sie  auch, 
dass  die  alte  sogenannte  „nationale  Hausindustrie"  des  IX.  Internat,  sta- 
tistischen Congresses  keine  „Hausindustrie"  ist,  insolange  sie  nicht 
für  Verleger  produciert,  sondern  ein  eigenthümlich  localisiertes  Handwerk. 

Abgesehen  von  diesem  und  dem  Hausfleisse  vereint  Oesterreich,  das 
Mittelglied  zwischen  Ost-  und  Westeuropa,  such  alle  Formen  der  wirklichen 
Hausindustrie. 

I.  Wir  finden  hier  zunächst  jene  Art  Hausindustrie,  die  (nach  dem 
„östlichen Typus")  aus  dem  localisierten  Handwerk  ganzer  Ortschaften 
entstand,  wie  die  galizische  Schuhwarenindustrie,  wie  die  Holz-  und  Spielwaren- 
erzeugung in  der  Viechtau  bei  Gmunden,  oder  die  Sesselerzeugung  im 
Tischlerdorf  Mariano  unweit  Görz. 

IL  Wir  finden  aber  auch  den  Typus  jener  Hausindustrie  vor,  welche 
aus  einem  ehemals  selbständigen  und  zünftigen  Handwerk  sich  entwickelte. 
So  bestehen  heute  noch  in  einem  Wiener  Bezirke  Heimweber.  Das  Auf- 
kommen der  grossen  Confectionshäuser  bedingt  diese  Entwicklung  neuerer 
Zeit  in  allen  Zweigen  der  Bekleidungsindustrie.  Wie  das  grosse  Kleider- 
Detailmagazin  die  Kundenschneider  schädigt  und  zum  Theil  zu  abhängigen 
Stückschneidern  macht,  so  drücken  grosse  Schuhwaren-Kaufhallen,  welche 
nicht  capitalkräftig  genug  sind,  um  einen  Manufacturbetrieb  in  der  Provinz 
zu  errichten,  viele  Schuhmacher  der  Stadt  zu  Sitzgesellen  herab  ^). 


^)  Der  Bericht  der  nieder-österr.  Handels-  und  Gewerbekammer  über  den  Handel, 
die  Industrie-  und  Verkehrsverhältnisse  ihres  Bezirkes  während  der  Jahre  1854 — 56 
(Wien  1857)  sagt  schon,  dass  von  den  2671  Schuhmachermeistern  des  damaligen  Wiener 
Pohzeirayons  nur  8 — 900  auf  eigene  Eechnung  für  Platzkunden,  etwa  100  für  den 
Export  und  der  Kest,  mithin  16—1700,  mit  Stückarbeit  für  die  bedeutenderen  Meister 
und  Kaufleute  beschäftigt  waren.  Der  Bericht  für  1857—60  (Wien  1861)  bemerkt,  dass 
die  grossen  Schuhwaren-Etablissements  bereits  die  Deckung  eines  nicht  unbeträchtlichen 
Theiles  von  dem  Bedarfe  der  Eesidenzbewohner  auf  sich  genommen  und  damit  den  Absatz 
des  für  den  Localbedarf  arbeitenden  Kleingewerbes  vermindert  haben.  Heute  wird  die 
Zahl  der  Schuhmachergesellen  in  Wien  siebenmal  so  hoch  geschätzt  als  die  Zahl  der 
Meister  vor  40  Jahren;  es  sollen  4000  bei  „Kundenschustern"  arbeiten,  2000  auf  Fabriken 
entfallen  und  gegen  10.000  als  Sitzgesellen  von  Fabriken  und  Händlern  thätig  sein. 

Wenn  der  Schuhlieferant  Versendungen  ins  Ausland  vornimmt  und  infolge  besonderer 
Conjuncturen  plötzlich  das  Zehn-  und  Zwanzigfache  binnen  kurzer  Zeit  liefern  soll, 
während  nach  vorübergegangener  Conjunctur  wieder  Wochen  und  oft  Monate  lang  keine 
bedeutenden  Aufträge  kommen,  dann  beginnt  er  Hausgesellen  zu  verwenden,  weil  er  bei 
diesem  System  das  Eisico  der  Arbeitslosigkeit  am  leichtesten  von  sich  abwälzt  und  auch 


Die  Entstehung  der  Hausindustrie,  mit  Rücksicht  auf  Oesterreich.  I57 

Ein  weiteres  Beispiel  dieser  Kategorie  bieten  die  Korbmacher  in  Wien 
dar,  welche  infolge  der  Einrichtung  von  eleganten,  auf  Auswahl  und  grossen 
Vorrath  begründeten  Korbwaren-Mederlagen  allmählich  zu  Heimarbeitern 
einiger  weniger  grossen  und  capitalkräftigen  Händler  geworden  sind  ^). 

III.  Der  billigeren  Arbeitskräfte  halber  wird  drittens  die  Hausindustrie 
in  Vorstädten  wie  auf  dem  flachen  Lande  angesetzt,  und  zwar  sowohl  von 
Kundengeschäften  und  Fabrikanten  als  von  allerlei  Vermittlern  und  Hand- 
werksmeistern. So  setzt  der  Perlmutter-Knopf händler  Bauernburschen  zum 
Knopfdrehen  und  der  Handschuh-Exporteur,  von  der  Einrichtung  des  Post- 
paketes und  den»  modernen  Communicationsverhältnissen  begünstigt,  Haus- 
näherinnen in  entfernten  Landestheilen  an,  so  lässt  der  Wiener  Strick- 
warenerzeuger durch  seine  Werkmeister  Landleute  abrichten,  welchen  er 
dann  Strickmaschinen  im  häuslichen  Betriebe  zur  Verfügung  stellt,  so  ver- 
mag der  Haarnetzefabrikant  fast  seine  sämmtlichen  Arbeiter,  mit  Ausnahme 
jener,  welche  die  Ware  vei-packen,  auf  dem  flachen  Lande  zu  erhalten  oder 
die  Fächerfabrik  ihre  zierlichen  Holzgestelle  von  den  Bewohnern  eines  böhmi- 
schen Dorfes  zu  beziehen.  So  vollzieht  sich  die  Industrialisierung  des  flachen 
Landes  in  immer  steigendem  Maasse,  indem  die  bis  dahin  Landwirtschaft 
treibende  Bevölkerung  sich,  vorerst  vorübergehend,  alsbald  ständig,  der  gewerb- 
lichen Thätigkeit  zuwendet.  In  der  Stadt  aber  setzen  sich,  eine  förmliche 
Hierarchie  des  Elends  bildend,  neben  dem  Sitzgesellen  auch  Nebengesellen 
an.  welche  bei  jenem  in  Miete  sind. 

IV.  Andere  Hausindustrien  werden  errichtet,  um  einem  localen  Noth- 
s  tan  de  gewisser  Gegenden  zu  begegnen. 2)  Zu  diesem  Zweck  wurde  in 
Oesterreich  unter  der  Aegide  der  Regierung  beispielsweise  die  Korbflechterei 
durch  Wanderlehrer  (in  Mähren)  in  Wsetin  und  Wall.-Meseritsch,  (in  Nieder- 
österreich) in  Zwettl.  in  Böhmen  zu  Königssaal  bei  Prag,  endlich  (in  Galizien) 
in  Rudnik  hausindustriell  organisiert,  und  die  Perlmutterknopf drechslerei  in 
Tachau  (Böhmen)  eingeführt. 

V.  Endlich  wird  aber  auch  eine  Art  von  Hausindustrie  organisiert, 
deren'  Zweck  nicht  der  Profit  des  Absatzvermittlers  oder  die  Beschäftigung 
einer  arbeitslosen  Bevölkenmg  ist,    sondern   welche  erziehliche   und   kunst- 


das  feste  Productivcapital,  dessen  eine  Fabrik  bedarf,  entbehren  kann.  Zugleich  wird 
bei  Krisen  im  auswärtigen  Absätze  versucht,  den  inneren  Markt  zu  erobern  und  neu 
eröifnete  Verkaufshallen  drängen  dann  den  „Kundenschuster"  noch  mehr  zurück. 

^)  Die  Kortflechtermeister  giengen  infolge  der  Errichtung  der  Magazine  zunächst 
des  selbständigen  Kundenkreises  verlustig.  Sie  begannen  daher  an  Stelle  der  früher  auf 
Bestellung  angefertigten  kunstvollen  Stücke  leicht  absetzbare  Dutzendartikel  zu  erzeugen, 
welche  sie  im  Magazin  anbringen  konnten.  Damit  gieng  die  Kunstfertigkeit,  welche  beim 
hausindustrieUen  Betrieb  immer  sehr  leidet,  zurück.  Jetzt  wird  den  (formell  selbstän- 
digen) Meistern  bereits  das  Rohmaterial  seitens  der  Händler,  welche  auch  in  der 
Provinz  arbeiten  lassen,  geliefert.  Es  bleibt  abzuwarten,  ob  und  welche  Erfolge  ihnen  ein 
auf  eine  äussere  Anregung  soeben  gebildeter  Rohstoff-Verein  bringen  wird. 

2)  So  entstanden  Hausindustrien  auch  in  Deutschland  und  in  Frankreich;  vgl. 
Stieda,  „Die  deutsche  Hausindustrie,"  S.  112,  und  mehrere  Fälle  in  Barberet's 
„Monographies  Professionnelles",  bish(!r  7  Bände,  Paris  1886—1891. 


1(38  Schwiedland. 

gewerbliche  Absichten  ins  Leben  riefen.  Hieher  gehören  die  auf  Förderung  und 
Pflege  mancher  Arten  des  nationalen  Hausfleisses  abzielenden  Bestrebungen, 
welche  im  Aussee'er  Hausindustrie- Verein  (zum  Zweck  des  Absatzes  nationaler 
Stickereien)  oder  in  der  Verwaltung  der  Fürstin  Czartorjska  auf  Wiazownica 
(zum  Absatz  von  Korbwaren  und  Teppichen)  verkörpert  sind. 

Dies  die  uns  in  0 esterreich  bekannt  gewordenen  Typen.  Auf  die  geschil- 
derten Arten  entwickeln  sich  noch  immerfort  Hausindustrien.  Die  letztberührte 
Entstehungsart  hat  natürlich  eine  im  Verhältnis  untergeordnete  wirtschaft- 
liche Bedeutung.  Durch  die  früher  genannten  aber  werden  trotz  der  einge- 
führten Gewerberegelung  Personen  ohne  Meisterbefugnisse  von 
solchen,  welche  diese  Rechte  ebenfalls  nicht  besitzen,  zu  gesetzlich  vorbe- 
haltenen Arbeiten  angesetzt.  Die  Gewerbefreiheit  hat  naturgemäss  diese 
Entwicklung  wesentlich  begünstigt,  wenn  auch  die  Bedingungen  für  den 
Absatz  im  Grossen  und  für  die  kaufmännisch-capitalistische  Organisation  des 
Vertriebes  schon  vor  ihrem  Eintritte  gegeben  waren.  Allein  auch  die  heutige 
Gewerbe-Ordnung  hindert  die  geschilderte  Entwicklung  keineswegs.  W^enn  an 
einem  kleineren  Orte  ein  Schuhwarenhändler  seine  Niederlage  errichtet  und 
allmählich  ungehindert  auch  Bestellungen  nach  Maass,  sowie  Reparaturarbeiten 
übernimmt,  die  er  ausserhalb,  durch  Hausgesellen  oder  in  Schuhwarenfabriken 
ausführen  lässt.  gerathen  die  verschiedenen  Meister  des  Ortes,  und  mit  diesen 
ihr  Gesellenstand,  allmählich  in  eine  empfindliche  Bedrängnis.  Nun  ergeben 
sie  sich  entweder  dem  neuen  Unternehmen,  indem  sie  Stückmeister  oder 
allenfalls  Hausindustrielle  desselben  werden,  oder  sie  versuchen  ein  Con- 
currenzsystem  durch  das  Halten  von  möglichst  vielen  Lehrlingen,  welche, 
zu  Gesellen  geworden,  alsbald  entlassen  und  durch  zahlreichere  neue  Lehr- 
linge ersetzt  werden.  Diese  Gehilfen,  welche  keine  Aussicht  auf  eine  erträg- 
liche selbständige  Existenz  haben,  sowäe  Lehrlinge,  welche  dem  Meister 
entlaufen,  bilden  dasjenige  Material,  aus  welchem  sich  die  eigenen  Sitz- 
gesellen des  Handlungshauses  recrutieren,  und  nun  ist  die  Entwicklung  auf 
einem  Cmweg  dennoch  bei  der  Hausindustrie  angelangt.  Die  Gewerbefreiheit 
gewährt  dem  Confectionär  natürlich  ohneweiters  das  Recht,  selbst  eine  Werk- 
stätte für  die  Herstellung  von  Bekleidungsgegenständen  einzurichten,  ebenso 
wie  sie  beispielsweise  dem  Uhren  -Händler,  welcher  seine  Ware  aus  einer 
Schweizer  Fabrik  bezieht,  gestattet,  Reparaturarbeiten  an  Uhren  zu  über- 
nehmen, welche  er  dann  durch  den  billigst  arbeitenden  Uhrmacher- 
Gehilfen  vornehmen  lässt,  der,  wenn  der  Händler  genügende  Aufträge  hat. 
allmählich  dessen  Hausgeselle  wird,  auch  Lehrlinge  aufnimmt  und  ausbildet 
und  den  selbständigen  Meistern,  welche  in  Werkstätten  arbeiten  lassen,  die 
empfindlichste  Concurrenz  bereitet.  Ist  doch  das  Arbeiten  zu  unver- 
gleichlich niedrigen  Löhnen  oder  Preisen  das  ständige 
Attribut  des  Hausindustriellen. 

Um  den  Meisterstand  ökonomisch  zu  kräftigen,  versuchte  man  für 
eine  Reihe  von  Gewerben  ^)  zum  Befähigungsnachweis  Zuflucht  zu  nehmen. 


1)  Dieselben  werden  „handwerksmässige"  genannt. 


Die  Entstehung  der  Hausindustrie,  mit  Rücksicht  auf  Oesterreich.  169 

Das  Mittel  erschien  von  vornherein  als  eine  Halbheit,  solange  nicht  die  Eegelung 
des  Lehrlingswesens  ebenfalls  vorgesehen  wurde,  allein  klar  erscheint  nach  den 
bisherigen  Erfahrungen  unter  dem  Eegime  des  Befähigungsnachweises,  dass 
auch  ohne  eine  strenge  Kegelung  der  Hausindustrie  die  Beschränkungen 
zur  Hebung  des  Kleingewerbes  untauglich  sind. 

Durch  §  1  des  Gesetzes  vom  15.  März  1883  zur  Abänderung  der 
Gewerbe-Ordnung  wird  eben  die  Hausindustrie  von  der  Einreihung  unter 
die  Gewerbe  überhaupt  ausgenommen. 

Was  aber  ist  als  Hausindustrie  definiert? 

Die  an  Gesetzesstatt  geltende  Bestimmung  der  Hausindustrie  ^),  als 
jene  gewerbliche  Production,  w^ eiche  nach  örtlicher  Gepflogenheit  von 
Personen  in  ihren  Wohnstätten  als  Haupt-  oder  als  Nebenbeschäftigung  in 
der  Art  betrieben  wird,  dass  diese  Personen  bei  ihrer  Erwerbsthätigkeit, 
falls  sie  derselben  nicht  bloss  persönlich  obliegen,  keinerlei  gewerb- 
liche Hilfsarbeiter  (Gehilfen,  Lehrlinge  u.  s.  w.)  beschäftigen, 
sondern  sich  lediglich  der  Mitwirkung  der  Angehörigen  des 
eigenen  Hausstandes  bedienen,  übersieht  die  Person  des  Ver- 
legers und  erinnert  durch  die  Betonung  der  „örtlichen  Gepflogenheit"  an 
jene  local  üblichen,  traditionellen  Gewerbe,  welcher  wir  als  Vorstufe  der 
Hausindustrie  im  Osten  besonders  gedachten.  Man  könnte  darüber  streiten, 
ob  diese  Definition  ihrem  Wortsinne  nach  nicht  auch  die  Sitzgesellen  der 
Städte  umfasst,  wo  das  Heimarbeiten  bereits  in  Wahrheit  zu  einer  örtlichen 
Gepflogenheit  geworden  ist.  Dann  wäre  auch  diese  Ftfrm  der  Hausindustrie 
durch  §  1  der  Gewerbe -Ordnung  von  der  Einreihung  unter  die  Gewerbe 
überhaupt  ausgenommen.  Allein,  wenn  dem  gegenüber  darauf  hingewiesen 
Avürde,  dass  im  Sinne  der  Gewerbeordnung  dem  Händler  die  Erzeugung 
versagt  ist  —  wob*ei  §  38  al.  3  G.-O.  dieses  Verbot  rücksichtlich  der  Her- 
stellung „handwerksmässiger"  Erzeugnisse  besonders  wiederholt  —  und  dass 
somit  der  Sitzgeselle  des  Kaufmannes  bereits  rechtlich  abgeschafft  ist,  so 
bleibt  zu  erwidern,  dass  diese  Vorschrift  in  praxi  vollständig  missachtet  wird  und 
dass  ferner  dem  Haltern  von  Sitzgesellen  seitens  der  Meister  ( —  welche  dadurch 
an  Steuern,  Krankencasse-  und  Unfallversicherungs-Beiträgen,  Beleuchtung, 
Werkstattmiete  und  Löhnen  sparen  und  somit  ihre  Genossen  durch  eine  billigere 
Production  niederconcurrieren  können  — )  ebensowenig  gesteuert  ist,  als  dem 
Hinabdrücken  ärmerer  Meister  zu  Sitzgesellen  von  Kaufleuten.  Und  so 
werden  in  Gewerben,  in  welchen  das  selbständige  Arbeiten  als  Beruf  an 
die  Erbringung  des  Befähigungsnachweises,  d.  i.  an  die  Zurücklegung  von 
Lehrlings-  und  von  Gesellenjahren  geknüpft  ist,  nach  wie  vor  ungestört  Heim- 
arbeiter angesetzt. 2)  Die  Hausindustrie  war  wohl  bei  der  Abfassung  der  Gewerbe- 


^)  Im  Eriass  des  k.  k.  Handelsministeriums  vom   16.   September  1883,  Z.  26.701. 

2)  Vgl.  das  Ergebnis  der  Enquete  der  nieder- österr.  Handels-  und  Gewerbe- 
kammer über  die  Verhältnisse  in  der  Wiener  Perlmutter-Drechslerei,  im  Protokolle  der 
öffentlichen  Sitzung  am  27.  October  1890.  —  Sitzgesellen  der  Schneiderbranche  nehmen  in 
Wien  zur  Saison  sogar  Dienstmädchen  auf,  welche  sie  entlohnen,  aber  nicht  bei  sich 
beherbergen. 


170  Schwiedland. 

novelle  dem  Gesetzgeber  noch  nicht  als  jene  üppige  Wucherung  in  den 
Werkstatt-  oder  „handwerksmässigen"  Gewerben  bekannt,  als  welche  sie 
heute  neben  dem  Werkstattbetriebe  gedeiht! 

Trotz  einer  peinlichen  Abgrenzung  der  Gewerberechte  und  der  Er- 
schwerung des  Antrittes  zahlreicher  Gewerbe  vermöge  der  Einführung  des 
Befähigungsnachweises  vollzieht  sich  denn  die  Entwicklung  der  Hausindustrie 
noch  ungestört,  ja  sogar,  vielleicht  wegen  des  Zeitfortschrittes  noch  energischer 
als  in  der  Periode  der  absoluten  Gewerbefreiheit,  und  darin  liegt  der  Grund,  dass 
die  Einführung  des  Befähigungsnachweises,  wie  man  heute  sagen  kann,  nicht  die 
erhofften  Wirkungen  gebracht  hat.  Man  wollte  den  Händler  verhindern,  sich 
als  Gewerbetreibender  zu  etablieren,  aber  er  kann  als  Händler  ungehindert 
Hausindustrielle  ansetzen  und  selbständige  Meister  zu  solchen  machen.  — 
Vielleicht  hätte  eine  ungleich  strengere  Kegelung  des  Lehrlingswesens  im 
Gesetze  wie  in  der  Praxis,  sowie  eine  minder  optimistische  Auffassung  von  der 
volkswirtschaftlichen  EoUe  der  „fabriksmässigen"  Hausindustrie  diese  Entwick- 
lung einzudämmen  vermocht;  vielleicht  könnte  auch  die  Ausdehnung  der  Gewerbe- 
Ordnung  mit  ihren  bisherigen  oder  mit  noch  wesentlich  verschärften  Arbeiter- 
schutzmaassregeln  auf  die  gesammte  Hausindustrie  die  Lage  der  (durch 
ihre  ConcuiTenz  bedrängten)  Werkstattmeister  wie  der  Heimarbeiter  zum 
Theile  verbessern  .  oder  den  üebergang  in  den  fabriksmässigen  Betrieb 
befördern  —  jedenfalls  wird  der  Gesetzgeber  der  besprochenen  Erscheinung 
gegenüber  eine  Entscheidung  zu  treffen  haben,  welche  das  Princip  der 
Gewerbefreiheit  oder  der  Gewerberegelung  selbst  berührt.  Wenn  er  auch 
schwer  vermögen  wird,  die  Bewegung  damit  erheblich  zu  beeinflussen, 
wird  er  doch  ihre  Wirkungen  nicht  weiter  ignorieren  können. 


VERHANDLUNGEN  DER  GESELLSCHAFT 
ÖSTERREICHISCHER  VOLKSWIRTE. 


General-    und    25.    Plenarversammlung   vom    26.  Octoben   1891. 

JJer  Vorsitzende  Sectionschef  von  Inama- Stern  egg  eröffnete  die  ausser- 
ordentliche Generalversammlung  mit  einer  Ansprache,  in  welcher  er  zunächst 
auf  das  glänzende  Banquet  Bezug  nahm,  das  die  Gesellschaft  österreichischer 
Volkswirte  den  Theilnehmern  an  der  III.  Session  des  internationelen  statistischen 
Institutes  geboten  hat,  als  dieselbe  in  der  Zeit  vom  28.  September  bis  30.  October  1891 
in  Wien  tagte  ;  hiedurch  seien  die  Beziehungen  der  Gesellschaft  zum  Auslande  fester 
geknüpft  worden ;  denselben  Zweck  habe  auch  die  Ernennung  des  Institutspräsidiums 
tu  Ehrenmitgliedern  der  Gesellschaft  verfolgt,  welche  umso  angemessener  gewesen 
sei,  als  dasselbe  sich  aus  in  der  wissenschaftlichen  Welt  hochangesehenen  und 
verdienstvollen  Männern  zusammensetzte.  Der  Präsident  Sir  ßawson  W.  Eawson 
gehöre  sei  50  Jahren  zu  den  Koryphäen  der  englischen  Statistik,  sei  lange  Zeit 
Präsident  der  Statistical  Society  in  London  gewesen,  habe  sich  in  Indien  um 
die  Pflege  der  internationalen  Handelsbeziehungen  grosse  Verdienste  erworben 
und  bilde  nun  eine  der  Hauptstützen  der  Imperial  federation  league;  Professor 
Emil  Levasseur,  erster  Vicepräsident  des  Institutes,  Akademiker  und  Pro- 
fessor am  College  de  France,  sei  schon  in  jungen  Jahren  auf  dem  Wege  der 
historischen  Forschung  in  den  Socialwissenschaften  vorangegangen,  habe  durch 
sein  grosses  Werk  „Population  de  la  France"  das  Muster  einer  Bevölkerungs- 
statistik geliefert,  sei  ein  hervorragender  Geograph  und  vereinige  mit  ungewöhn- 
licher Vielseitigkeit  eine  beinahe  deutsche  Gründlichkeit;  Wilhelm  Lexis,  Pro- 
fessor in  Göttingen  und  zweiter  Vicepräsident  des  Institutes,  habe  über  Währunsr 
und  Geld,  über  statistische  Theorien,  vor  allem  aber  über  das  Gesetz  der  Ge^ 
sammtheiten,  u.  zw.  sowohl  der  Bevölkerungs-  als  der  Wertgesammtheiten 
Untersuchungen  von  hervorragender  Bedeutung  geliefert;  Luigi  Bodio  endlich, 
der  Generalsecretär  des  Institutes  und  Generaldirector  der  italienischen  Statistik, 
habe  sich  in  seinen  Arbeiten  über  den  Volkswohlstand  und  in  den  zahllosen 
Veröffentlichungen  der  amtlichen  Statistik  Italiens  als  vielseitiger,  scharfblickender 
und  geübter  Gelehrter  und  praktischer  Arbeiter  erwiesen.  Nach  diesen  Ausfüh- 
rungen ertheilte  die  Versammlung  ohne  Debatte  und  einstimmig  der  Ernennung 
der  oben  bezeichneten  Ehrenmitglieder  ihre  Zustimmung.  Damit  wurde  die  General- 
versammlung   geschlossen    und   es   eröffnete  der  Herr  Vorsitzende  die  Plenarver- 


172  Verhandlungen  der  Gesellschaft  üsterreichisclier  Volkswirte. 

Sammlung  mit  einer  kurzen  Besprechung  der  Vorkommnisse  während  der  Sommer- 
pause; insbesondere  hob  er  die  durch  Beiträge  der  Gesellschafts-Mitglieder  möglich 
gewordene  Aufstellung  und  Enthüllung  der  Büste  Lorenz  v.  Stein's  in  den  Arcaden 
der  Wiener  Universität  hervor,  welchen  Act  sowohl  das  hohe  k.  k.  Unterrichtsmini- 
sterium, als  auch  der  akademische  Senat  mit  Dank  zur  Kenntnis  genommen  haben. 
In  zweiter  Eeihe  gab  der  Herr  Vorsitzende  bekannt,  dass  die  Gesellschaftsleitung 
die  Vorarbeiten  für  Herausgabe  einer  selbständigen  „Zeitschrift  für  Volkswirtschaft, 
Socialpolitik  und  Verwaltung"  begonnen  habe,  welche  die  Aufgabe  verfolge, 
im  grossen  Stile,  getragen  vom  ernstesten  Streben  wissenschaftlicher  Arbeit  und 
gelehrter  Forschung,  in  allen  jenen  Kreisen  eine  reiche  Fülle  von  Mittheilungen 
zu  verbreiten,  die  an  dem  volkswirtschaftlichen  Leben  Oesterreichs  Interesse  nehmen ; 
die  Redaction  dieser  Zeitschrift  habe  sich  aus  dem  Herrn  Dr.  v.  Plener,  Hofrath 
V.  Böhm-Bawerk  und  dem  Präsidenten  der  Gesellschaft  gebildet;  der  bisherige 
Verleger  der  „Mittheilungen"  habe  auch  den  Verlag  der  Zeitschrift  gegen  einen 
verhältnismässig  geringen  Jahresbeitrag  seitens  der  Gesellschaft  übernommen  und 
sich  bereit  erklärt,  den  Mitgliedern  die  Zeitschrift  um  einen  namhaft  erniedrigten 
Preis  zu  überlassen  und  denselben  die  in  die  Zeitschrift  in  gekürzter  Form  auf- 
zunehmenden Berichte  über  die  Verhandlungen  der  Gesellschaft  als  Separat- 
abdrücke unentgeltlich  zuzumitteln.  Die  Zeitschrift  werde  also  eine  Ausgestaltung 
und  Erweiterung  der  bisherigen  „Mittheilungen"   darstellen. 

Schliesslich  berichtet  der  Herr  Vorsitzende,  dass  an  Stelle  des  bisherigen 
ersten  Vicepräsidenten  Prof.  Dr.  v.  Miaskowski,  der  an  die  Universität  Leipzig 
berufen  sei,  der  Vorstand  der  Gesellschaft  Herrn  Hofrath  Dr.  E.  v.  Böhm- 
Bawerk  cooptiert  habe;  die  definitive  Wiederbesetzung  der  Stelle  werde  gleich- 
zeitig in  der  Neuwahl  des  Gesammtvorstandes  in  der  ordentlichen  General- 
versammlung erfolgen. 

Sectionschef  v.  Inama-Sternegg  ertheilt  nun  Herrn  Dr.  Ferdinand 
Schmid  das  Wort  zu  seinem  Vortrage  über  die  neue  Preussische  Steuer- 
reform-Gesetzgebung. 

Dr.  F.  Schmid  verweist  zunächst  auf  die  Bedeutung  der  gewählten  Themas 
für  uns  Oesterreicher,  welche  sich  schon  aus  der  einen  Thatsache  ergebe,  dass 
die  österreichische  Regierung  daran  sei,  eine  grosse  Reform  auf  demselben  Ge- 
biete durchzuführen.  Die  preussische  Reform  zeigt  das  Maass  desjenigen,  was  den 
herrschenden  Bevölkerungsclassen  des  Königreichs  in  Bezug  auf  Besteuerung 
hat  abgerungen  werden  können;  überdies  ist  sie  wegen  der  ausserordentlichen 
Raschheit,  mit  der  sie  alle  Fährlichkeiten  der  parlamentarischen  Verhandlung  über- 
standen hat,  und  deswegen  interessant,  weil  es  sich  um  den  grössten  deutschen  Staat 
handelt,  der  daran  geht,  Gewerbe-  und  Einkommensteuer,  die  wichtigsten  Theile  seines 
Systems  der  directen  Besteuerung  neu  zu  gestalten,  um  in  Kurzem  auch  die  Grund- 
und  Gebäudestäuer  durch  Ueberweisung  an  die  Communalverbände  zu  reformieren. 

Die  preussische  Reformvorlage  hatte  ein  dreifaches  Ziel  u.  zw.  eine  Reform 
der  alten  Gewerbesteuer,  eine  Umgestaltung  der  Einkommensteuer  und  eine  Er- 
gänzung des  Erbschaftssteuergesetzes  vom  Jahre  1873  im  Auge.  Das  letzte  der 
drei  genannten  Projecte  musste  infolge  des  Widerstandes  im  Parlamente  fallen 
gelassen   werden,  die  andern  beiden  Ziele  wurden  erreicht,   die  darauf  bezüglichen 


General-  un.l  25.  Plenarversammlung  vom  26.  Oetober  1891.  173 

Vorlagen  sind  seit  dem  24.  Juni  d.  J.  Gesetz;  auf  sie  bezieht  sich  der  fol- 
gende Vortrag. 

Zur  Zeit  des  Tilsiter  Friedens  musste  die  preussische  Regierung  für  Erhö- 
hung ihrer  Einnahmen  sorgen;  eines  der  Mittel  hiezu  bot  ihr  die  Einführung 
einer  allgemeinen  Gewerbe-Classensteuer;  diese  wurde  im  Jahre  1820  dureh 
eine  Gewerbesteuer  für  bestimmte  gewerbliche  Betriebe  ersetzt,  welche,  obwohl 
vielfach  abgeändert,  bis  zuletzt  die  Grundlage  der  preussischen  Gewerbebesteuerung 
bildete.  Manche  Betriebe  allerdings,  so  das  Hausiergewerbe  und  Wanderlager, 
werden  durch  besondere  Steuern  getroffen  und  somit  auch  vom  neuen  Gesetze 
nicht  berührt.  Das  alte  preussische  Gewerbesteuergesetz  beruhte  auf  dem  Principe 
der  Classenbildung  und  belastete  nur  jene  Gewerbe,  welche  in  gewisse  Gattungs- 
classen,  deren  Zahl  allmählich  auf  sechs  zusammenschmolz,  eingereiht  werden 
konnten.  Neben  diesen  Classen,  die  zum  Theile  auch  Betriebs-Umfangsclassen 
waren,  unterschied  das  Gesetz  Gewerbesteuerabtheilungen,  nämlich  Ortsclassen, 
in  welche  die  Orte  je  nach  ihrer  industriellen  Bedeutung  eingereiht  wurden. 
Hiedurch  sollte  die  Durchführung  der  Besteuerung  nach  sogenannten  Mittelsätzen 
ermöglicht  und  auch  das  Princip  der  Steuerautonomie  und  Steuerrepartition  zur 
Geltung  gebracht  werden.  Durch  die  Multiplication  dieser  Mittelsätze  mit  der  Zahl  der 
Steuerpflichtigen  des  Steuerbezirkes  wurde  ein  Jahressoll  festgesetzt,  welches  dann 
von  den  Steuerpflichtigen  selbst,  der  Steuergesellschaft,  resp.  von  ihrem  Ausschusse 
repartiert  wurde.  Das  System  der  Mittelsätze  sicherte  dieser  Gesetzgebung  trotz 
ihrer  bedeutenden  Mängel  ihre  lange  Dauer.  Unter  den  Mängeln  ist  die  geringe 
juristisch-formale  Durchbildung  derselben,  welche  vielfache  Härten  begründete, 
zu  nennen,  überdies  wnrde  im  Laufe  der  Zeit  die  Ortsclasseneintheilung  unhaltbar; 
dasselbe  gilt  auch  von  den  Gattungs-  und  Betriebsumfangsclassen.  auch  die  nur 
leise  angedeutete  Abgrenzung  zwischen  Grossbetrieb  und  Handwerk  erschien  bald 
unmöglich;  manche  Betriebe,  welche  in  die  Classeneintheilung  nicht  passten, 
blieben  steuerfrei,  daneben  gab  es  aber  auch  doppelte  Besteuerung,  wenn  jemand 
neben  dem  Hauptbetriebe  noch  einen  Nebenbetrieb  hatte  und  beide  in  verschiedene 
Gattungsclassen  fielen;  endlich  waren  Grossbetriebe  oft  nur  mit  Y^^  Procent 
besteuert,  während  Kleinbetriebe  2  Procent  und  mehr  entrichten  mussten. 

Die  neueste  Reform  beseitigt  den  alten  Classenschematismus  und  theilt 
alle  Gewerbe  nach  dem  Ertrage,  subsidiär  nach  dem  Anlage-  und  Betriebs capital, 
in  vier  Classen,  als  unterste  Grenze  erscheint  ein  Ertrag  von  1500  Mark,  resp. 
Hin  Betriebs-  oder  Anlagecapital  von  3000  Mark;  hiedurch  wurde  ein  Drittel 
sämmtlicher  Betriebe  steuerfrei  gemacht,  während  in  Süddeutschland  im  allge- 
meinen nur  ein  Anlage-  und  Betriebscabital  von  700  Mark  abwärts  frei  bleibt. 
Die  preussische  Reform  hat  damit  das  z.  B.  in  Baiern  und  Hessen  adoptierte 
System  des  französischen  Classenschematismus,  welches,  wie  verlautet,  auch  im 
österreichischen  Entwürfe  Anwendung  finden  soll,  abgelehnt,  da  die  Aufstellung 
eines  solchen  Classentarifs  eine  Sisyphusarbeit  wäre.  Auch  das  in  Baden  geltende 
System,  wonach  die  Steuer  nicht  auf  den  Ertrag,  sondern  auf  das  Anlage-  und 
Betriebscapital  basiert  wird,  hat  Preussen  abgelehnt. 

Ein  indirectes  Mittel  zur  Durchführung  dieser  Ertragsbesteuerung  bietet  in 
Preussen    das    neue    Einkommensteuergesetz;     dasselbe    setzt   nämlich    auch  für 


174  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

gewerbliche  Betriebe  eine  ziemlich  weitgehende  Declarationspflicht  fest,  ermöglicht 
also  eine  Einschränkung  derselben  bei  der  Gewerbesteuer;  für  diese  sind  nur  die 
für  den  Steuersatz  maassgebenden  Grenzsummen  des  Ertrages  und  die  für  den 
Betriebsumfang  charakteristischen  Merkmale  zu  fatieren.  Die  2.  bis  4.  Steuer- 
classe  wird  auch  jetzt  nach  Mittelsätzen  besteuert,  die  erste  Classe,  der  Betriebe 
von  sehr  verschiedenem  Umfange  angehören,  wird  mit  einer  Percentualsteuer 
u.  zw.  im  allgemeinen  mit  einem  Percent  belastet.  Der  Zweck  der  ganzen  Eeform 
gieng  darauf  hinaus,  eine  gerechtere  Vertheilung  der  Gewerbesteuer  ohne  Inaus- 
sichtnahme  eines  höheren  Ertrages  zu  erzielen.  Von  den  sonstigen  wesentlichen  Be- 
stimmungen des  Gesetzes  sind  vor  allem  die  folgenden  hervorzuheben.  In  Betreff 
des  subjectiven  Umfanges  der  Steuerpflicht  gilt,  dass  die  von  öffentlichen  Corpo- 
rationen  erhaltenen  Betriebe,  welche  nicht  einen  Erwerb  bezwecken,  steuerfrei 
sind  und  dass  private  Betriebe  dieser  Art  vom  Finanzminister  die  Steuerfreiheit 
erlangen  können;  die  landwirtschaftlichen  Betriebe  mit  Einschluss  des  Pachtbe- 
triebes sind  gleichfalls  steuerfrei,  andere  sind  es  zum  Theil  deswegen,  weil  sie 
speciellen  Steuern  unterliegen,  wie  der  Eisenbahn-  und  Bergwerksbetrieb;  ebenso 
unterliegen  der  Volksanschauung  entsprechend  auch  die  liberalen  Berufsunter- 
nehmungen und  Dienste  nicht  der  Gewerbesteuer.  Die  Steuerorgane  sind  nach 
dem  Principe  der  Autonomie  eingerichtet.  Die  zu  einer  Steuergesellschaft  ver- 
einigten Steuerpflichtigen  eines  Bezirkes  wählen  einen  Ausschuss,  dem  ein  staat- 
licher Commissär  vorsitzt;  hiebei  sind  Geschäftsgeheimnisse  immer  zu  wahren 
und  können  Bücher  nur  dann  zur  Vorlage  gelangen,  wenn  sich  der  Steuer- 
pflichtige freiwillig  hiezu  erbietet.  Der  Oberverwaltungsgerichtshof  bietet  die 
richterliche  Controle  für  das  Einsteuerungsverfahren,  w^ährend  die  Kegierung  hiefür 
einen  besonderen  Steuergerichtshof  in  Aussicht  genommen  hatte.  Aus  finanzpoli- 
tischen Gründen  besteht  neben  der  Gewerbesteuer  eine  Nebensteuer,  nämlich  eine 
besondere  Betriebssteuer  für  Schank-  und  Gastwirtschaften,  sowie  für  den  Klein- 
handel mit  Spirituosen.  Durch  die  Entlastung  der  kleinen  Gewerbe  war  ein 
Ausfall  von  2,700.000  Mark  gegeben  und  dieser  soll  hiedurch  gedeckt  werden; 
auch  volkswirtschaftliche  und  ethische  Gesichtspunkte  waren  für  die  Anwendung 
dieser  Maassregel  bestimmend. 

Im  allgemeinen  erweist  sich  also  die  neue  Gewerbesteuer  als  klar  und  durch- 
sichtig und  beachtet  sie  socialpolitische  Gesichtspunkte,  indem  sie  die  kleinen 
Betriebe  entlastet  es  ist  aber  zweifelhaft,  ob  die  vielfach  beschränkten  Macht- 
befugnisse der  Einsteuerungsorgane  eine  allseitige  und  gerechte  Vertheilung  der 
Steuerlast  im  Einzelnen  genügend  sicherstellen. 

Auch  die  preussische  Einkommensteuer  führt  auf  die  Zeit  des  Tilsiter 
Friedens  zurück.  Damals  wurde  ein  ziemlich  compliciertes  System  von  Consum- 
tionsabgaben  eingeführt,  mit  welchen  die  spätere  Entwicklung  der  Einkommen- 
steuer innig  zusammenhängt.  In  den  kleinen  Städten  und  auf  dem  flachen  Lande 
war  dieses  System  nämlich  schwer  durchführbar,  man  setzte  also  im  Jahre  1820 
an  seine  Stelle  eine  Art  Kopfsteuer;  dieselbe  belastete  die  Haushaltungen  nach 
einigen  wenigen  Sätzen,  war  also  noch  keine  eigentliche  Einkommensteuer.  Im 
Jahre  1851  wurde  neben  dieser  Classensteuer  für  die  höheren  Einkommen  eine 
besondere,     der    modernen    Einkommensteuer    sehr    nahestehende     classificierte 


26.  Plenarversammlung  vom  9.  November  1891.  175 

Einkommensteuer  eingeführt.  Weiters  wurden  im  Jahre  1873  die  Mahlaccise  und 
die  Schlachtsteuer  als  Staatssteuern  auch  für  die  grösseren  Städte  abgeschafft,  die 
Classensteuer  auf  das  ganze  Land  ausgedehnt  und  so  Classensteuer  und  classificierte 
Einkommensteuer  allgemein  nebeneinander  gestellt.  Ihre  Eeformbedürftigkeit  wurde 
am  Ende  der  70er  Jahre  allgemein  klar;  die  Classensteuer  bedrückte  die  niedern 
Classen  stark;  dagegen  entlastete  die  classificierte  Einkommensteuer  infolge  mangel- 
haften Einsteuerungsverfahrens  und  zu  weit  getriebener  Steuerautonomie  die 
Wohlhabenden  sehr  bedeutend.  Als  dann  viele  Gemeinden  besonders  im  Westen 
des  Reiches  genöthigt  waren  ihren  Haushalt  zum  Theile  auch  auf  Personalsteuern 
zu  gründen,  wurde  dieser  Mangel  noch  mehr  fühlbar;  die  hohen  Communal- 
zuschläge,  —  vielfach  bis  zu  500  7o  —  machten  die  Steuer  für  viele  Theile  der 
Bevölkerung  geradezu  erdrückend.  Auch  die  Reichssteuerreform  und  insbeson- 
dere die  Zollgesetzgebung  unter  Bismarck  Messen  die  Neugestaltung  der  Personal- 
steuern als  immer  dringender  erscheinen.  Fürst  Bismarck  wollte  die  niederen 
Classen  durch  Aufhebung  der  Classensteuer  und  der  untersten  Sätze  der  classifi- 
cierten  Einkommensteuer  entlasten  und  die  noch  übrigen  Reste  der  letzteren 
in  eine  moderne  Personalsteuer  umwandeln.  Diesem  Zwecke  sollten  die  Gesetz- 
entwürfe von  1882  und  1883  dienen;  der  letztere  nahm  übrigens  neben  der 
classificierten  Einkommensteuer  noch  eine  besondere  Capitalrentensteuer  in  Aus- 
sicht. Diese  Projecte  führten  thatsächlich  zu  einer  Entlastung  gewisser  Einkommen- 
kategorien, das  zweite  Project  wurde  aber  schon  in  der  parlamentarischen 
Commission  in  der  Hauptsache  zurückgewiesen,  indem  sich  dieselbe  gegen  die 
Einführung  der  Capitalrentensteuer  und  gegen  eine  weitergehende  Aufhebung  der 
Classensteuer  und  der  unteren  Theile  der  classificierten  Einkommensteuer  aussprach ; 
vor  das  Plenum  gelangte  dieses  Project  gar  nicht. 

Erst  Finanzminister  Miquel  hat  auch  diesen  Theil  der  Reform,  u.  zw. 
überraschend  schnell  durchgeführt.  Sein  letztes  Ziel  ist,  die  Personaleinkommensteuer 
ähnlich  wie  in  Sachsen  zur  Hauptgrundlage  der  Staatsbesteuerung  zu  machen  und 
die  Grund-  und  Gebäudesteuer  ganz  oder  theilweise  den  Gemeinden  zu  überweisen ; 
da  sich  Miquel  hiebei  grosser  Mässigung  befliss,  gelang  ihm  die  Durchführung 
wenigstens  eines  Theiles  seiner  Pläne.  Dieselben  bezweckten  unmittelbar  1.  die 
Verschmelzung  der  Classensteuer  und  der  classificierten  Einkommensteuer  zu  einer 
einheitlichen  Personaleinkommensteuer,  2.  die  Hinaufrückung  der  Grenze  für  die 
Degression  der  Steuer,  3.  weitere  Erleichterungen  für  die  unbemittelten  Classen 
durch  erweiterte  Durchführung  des  Princips  der  Individualisierung  bei  der  Steuer- 
bemessung, Einführung  des  Declarationszwanges,  Neuorganisation  der  Einsteuerungs- 
behörden und  Schaffung  einer  richterlichen  Controle  für  das  Einsteuerungsverfahren. 
Die  Wiedervorlage  eines  Capitalrentensteuer-Projectes  unterliess  Miquel,  die 
Ersränzung  des  Erbschaftssteuergesetzes  von  1873  gab  er  wegen  des  heftigen 
parlamentarischen  Widerstandes  auf.  In  Betreff  des  subjectiven  Umfangs  der 
Einkommensteuerpflicht  ist  zu  erwähnen,  dass  für  Actiengesellschaften  das  badische 
Princip  angenommen  wurde,  wonach  der  Actionär  eine  mässigv)  Rente  unversteuert 
beziehen  soll,  indem  von  den  zu  berücksichtigenden  Ueberschtissen  der  Gesellschaft 
372%  des  Grundcapitals  —  die  Regierung  hatte  37o  vorgeschlagen  —  vorweg 
in  Abzug  gebracht  wird.     Weiters  gilt,  dass  die  eingetragenen  Genossenschaften 


176  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

steuerpflichtig  sind,  wenn  sie  ihren  Wirkungskreis  auch  auf  Nichtmitglieder  aus- 
dehnen, Consumvereine  mit  offenem  Laden  sind  es  dann,  wenn  sie  die  Eechte 
juristischer  Personen  haben.  Als  Existenzminimum  gilt  der  Betrag  von  900  Mark; 
dasselbe  höher  zu  rücken,  hat  Miquel  nicht  einmal  versucht.  Dagegen  sollen 
die  unteren  Classen  auf  anderem  Wege  Erleichterungen  erlangen.  Zunächst  wurde 
die  Familiengrösse  des  Steuerpflichtigen  berücksichtigt,  indem  für  jedes  nicht 
selbständig  veranlagte  Familienmitglied  unter  14  Jahren  50  Mark  dann  abge- 
zogen werden,  wenn  das  zu  versteuernde  Einkommen  den  Betrag  von  3000  Mark 
nicht  übersteigt,  sind  drei  oder  mehr  solche  Familienglieder  vorhanden,  so  muss 
die  Steuer  um  mindestens  eine  Stufe  herabgesetzt  werden  ;  bei  gewissen  besonderen 
Umständen  uud  Unglücksfällen  können  die  Behörden  die  Steuern  um  drei  Stufen 
niedriger  bemessen. 

In  Eücksicht  auf  den  objectiven  Umfang  der  Steuerpflicht  ist  zu  erwähnen, 
dass  Conjuncturengewinne  im  allgemeinen  als  Einkommen  und  nicht  als  Vermeh- 
rung des  Stamm  Vermögens  betrachtet,  daher  der  Besteuerung  unterzogen  werden, 
dagegen  dürfen  —  was  vom  socialpolitischen  Gesichtspunkt  aus  interessant  ist  — 
Beiträge  zu  Arbeitercassen  und  Versicherungsprämien  bis  zu  einem  bestimmten 
Betrage  als  Abzugssposten  eingestellt  werden.  In  Betreff  des  Tarifs  setzte  die 
Eegierungsvorlage  die  Grenze  der  Degression  von  3000  M.  auf  9500  M.  hinauf, 
nahm  aber  das  Princip  eines  stark  progressiven  Steuerfusses  nicht  an.  Das  Abge- 
ordnetenhaus setzte  die  Steuersätze  für  die  mittleren  Einkommen  von  2500  bis 
9000  M.  stark  herab  und  rückte  die  Grenze  der  Degression,  um  den  damit  ge- 
gebenen Ausfall  zu  decken,  auf  100.000  M.  hinauf.  Einkommen  von  100.000  M. 
und  mehr  haben  4^0  zn  bezahlen,  solche  von  10.000  M.  37o»  solche  von 
900  M,   0'62Vo,  also  von  100.000  M.  nach  abwärts  in  sinkender  Scala. 

Hieraus  ergibt  sich  zunächst  eine  Entlastung  im  Betrage  von  672  Millionen; 
die  erhöhte  Individualisierung  wirkt  in  derselben  Richtung  und  bringt  den  Ge- 
sammtbetrag  der  Erleichterung  auf  9  Millionen. 

Das  Steuerverfahren  ist  hauptsächlieh  durch  Einführung  des  Declarations- 
principes  wesentlich  verbessert.  Die  Fatierung  ist  vorgeschrieben  für  alle  Einkommen 
über  3000  M. ;  für  alle  geringeren  ist  sie  facultativ  und  nur  dann  obligatorisch, 
wenn  der  Vorsitzende  der  Einsteuerungsbehörde  dazu  auffordert.  Während  die  Re- 
gierungsvorlage für  den  Unterlassungsfall  der  Declaration  nur  den  Verlust  der 
Rechtsmittel  statuiert  hatte,  gestattet  das  Gesetz  der  Behörde  überdies  einen 
25yQigen  Zuschlag  zur  Steuer  aufzuerlegen.  Die  Unterlassung  der  Declaration  gilt 
nicht  als  DefraudationsfaU;  für  einen  solchen  sind  principiell  nur  Geldstrafen 
u.  zw.  im  4-  bis  lOfachen  Betrage  der  Steuerverkürzung  zulässig.  Andererseits 
finden  die  Privatinteressen  weitgehenden  Schutz,  indem  die  Verletzung  von  Privat- 
geheimnissen an  den  betreffenden  Functionären  mit  Gefängnis  bis  zu  drei  Monaten 
geahndet  v.ird.  Das  Einsteuerungsverfahren  ist  auch  dadurch  verbessert,  dass  das 
Princip  des  Steuerinspectorates  anerkannt  wird  und  dass  der  Vorsitzende  der 
Steuerbehörde  zweckmässig  erweiterte  Befugnisse  hat.  Für  Einkommen  bis  zu 
3000  M.  bestehen  örtliche  Voreinschätzungscommissionen,  für  die  grössern  Ein- 
kommen Veranlagscommissionen,  für  den  Bezirk  als  Berufungsdistanz  besondere 
Berufungscommissionen.  Die  Ausschüsse  für  die  Gewerbesteuer  dürfen  Zeugen  und 


General-  und  25.  Plenarversammlung  vom  26.  October  1891.  177 

Sachverständige  eidlich  vernehmen,  bei  der  Einkommensteuer  steht  dieses  Eecht 
nur  den  Berufungscommissionen  zu,  die  sich  auch  hiebei  der  Vermittlung  des 
Amtsgerichtes  zu  bedienen  haben.  Für  die  Behörden  sind  die  Declarationen  nicht 
bindend,  sie  können  vielmehr  eine  Berichtigung  veranlassen  und  wenn  diese  nicht 
zum  Ziele  führt,  die  Steuer  nach  dem  Ergebnisse  sonstiger  Erhebungen  feststellen. 

Die  glückliche  Finanzlage  Preussens  machte  es  möglich,  dass  auch  bei  diesem 
Theile  der  Eeform  nur  eine  gerechtere  Vertheilung  ins  Auge  gefasst  wurde ;  wenn 
die  Einnahmen  der  reformierten  Einkommensteuer  die  Summe  von  80  Millionen 
übersteigen,  soll  der  üeberschuss  einem  noch  zu  erlassenden  Gesetze  gemäss  den 
Communalverbänden  zu  deren  Entlastung  überwiesen  werden  und  wird  vorläufig 
an  einen  vom  Finanzminister  verwalteten  Fond  abgeführt.  Kommt  obiges  Gesetz 
nicht  zustande,  so  sind  die  üeberschüsse  zur  Herabsetzung  der  Einkommensteuer 
zu  verwenden.  —  Dieser  Theil  der  MiqueTschen  Eeform  ist  also  gewissermaassen 
provisorischer  Natur,  was  man  bei  einer  Kritik  desselben  nicht  wird  übersehen  dürfen. 

Dieser  mit  lebhaftem  Beifalle  aufgenommene  Vortrag  war  von  einer  Dis- 
cussion  gefolgt,  in  welcher  zuerst  Herr  Dr.  König  das  Wort  ergriff  um  folgende 
Momente  zu  betonen. 

Es  sei  bedauerlich,  dass  ein  politischerBeamte,  der  Landrath,  bei  der  Einsteuerung 
eine  dominierende  Stellung  einnehme;  es  sei  auffallend,  dass  die  preussische 
Finanzverwaltung  im  Auslande  lebende  Preussen  schon  nach  zweijähriger  Abwesen- 
heit von  der  Steuer  enthoben  wissen  will;  die  Heranziehung  juristischer  Personen 
vermehren  die  Einnahmen  des  Fiscus  um  mindestens  6  Millionen;  beachtenswert 
seien  die  Verhandlungen  über  die  Einbeziehung  des  fundierten  und  unfundierten 
Einkommens  mit  Bezug  auf  das  projectierte  Erbschaftssteuergesetz;  in  Betreff  des 
Steuertarifes  habe  man  der  ursprünglichen  Vorlage  gegenüber  die  Eeihe  der 
Classen  und  die  Höhe  des  Steuerfusses  vergrössert;  was  die  Declarationen  angehe, 
so  habe  das  gleiche  Verfahren  in  Sachsen  schon  jezt  zur  Folge,  dass  mehr  als  die 
vom  Gesetze  verlangten  Fassionen  eingehen. 

Für  die  Gewerbesteuer  sei  die  von  Miquel  verlangte  fixe  Summe  von 
19*8  Millionen  genehmigt  worden;  eine  Gleichmässigkeit  für  die  Steuerzahler  sei 
hiedurch  ausgeschlossen.  Wie  man  in  Preussen  durch  die  Eeform  eine  wirkliche 
Einkommensteuer  zu  schaffen  und  bei  der  Gewerbesteuer  eine  bessere  Vertheilung 
zu  erzielen  beabsichtiget  hat,  so  soUte  auch  bei  uns  bald  ein  logisch  gedachtes 
und  klar  redigertes  Gesetz  zu  Stande  kommen. 

Dr.  Eitter  v.  Fürth  tritt  für  das  Eepartitionsverfahren,  speciell  bei  Objects- 
steuern,  ein;  Oesterreich  könne  nicht  ohne  weiteres  auf  seine  Ertragssteuern  ver- 
zichten, müsse  aber  ihre  Zurückdrängung  im  Auge  behalten.  Bei  der  Erwerbsteuer 
bezwecke  die  Eepartition  einen  Ausfall  am  Erträgnisse  zu  verhindern;  die  gleich- 
massige  Vertheilung  werde  in  Preussen  durch  das  Institut  der  Steuergesellschaften 
gefördert.  Eedner  bespricht  dann  die  Stellung  der  preussischen  Eegierung  zur 
Frage  des  Existenzminimums,  zum  Problem  der  Capitalrentensteuer,  welche  in  den 
Eahmen  des  Projectes,  das  mit  den  Ertragsteuern  brechen  wollte,  nicht  gepasst 
hätte  und  ihr  Verhalten  mit  Eücksicht  auf  das  Erbschaftssteuergesetz  und  die  durch 
dasselbe  beabsichtigte  Heranziehung  des  fundierten  und  unfundierten  Einkommens ; 
auch  dieser  Plan   sollte  nicht  ohne  weiteres  verworfen  werden;     schliesslich  ver- 

Zeitschrift  für  Volkswirtsuhatt,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  I.  Heft.  12 


178  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

weist  Eedner  darauf:  Dass  durch  die  Veranlagungscommission  der  Einkommensteuer 
die  Vorlage  der  Handelsbücher  gefordert  und  das  Ergebnis  dieser  Prüfung  "bei  der 
Bemessung  der  Gewerbesteuer  berücksichtigt  werden  dürfe. 

Nach  diesen  Ausführungen  erklärt  der  Herr  Vorsitzende  die  Versammlung 
für  geschlossen. 

26.   Plenapvepsammlung  vom   9.    November  1891. 

Die  Versammlung  wird  durch  den  Herrn  Vorsitzenden  Sectionschef  v.  Inama- 
Sternegg  mit  der  Mittheilung  eröffnet,  dass  seit  Beginn  der  diesjährigen  Wirksam- 
keit des  Vereines  acht  neue  Mitglieder  in  denselben  aufgenommen  worden  sind  u.  zw. 
die  Herren  Dr.  Bauer,  Dr.  E.  v.  Fürth,  Dr.  Grünberg,  Dr.  Hartmann,  Dr.  Kuh, 
Dr.  Landesberger,  Dr.  v.  Schullern  undDr.  Singer.  Der  Herr  Vorsitzende  ertheilt 
sodann  dem  Eeichsrathsabgeordneten  Dr.  Gross  das  Wort  zu  seinem  Vortrage  über 
Arbeiterwohnungen.  Herr  Dr.  Gross  verweist  zunächst  auf  die  grosse  wirtschaft- 
liche, hygienische,  technische,  ethische  und  insbesondere  sociale  Bedeutung  des  Pro- 
blems, wodurch  eine  erschöpfende  Behandlung  desselben  nothwendig  zu  einer  sehr 
umfangreichen  werden  müsste ;  da  der  Eahmen  eines  Eeferates  aber  ein  sehr  enger 
sei,  so  müsse  er  seine  Ausführungen  sehr  einschränken ;  insbesondere  müsse  er  es  sich 
genügen  lassen,  von  den  Arbeiterwohnungen  zu  sprechen,  so  sehr  es  ihm  klar  sei,  dass 
das  Problem  auch  für  eine  Eeihe  anderer  Bevölkerungsclassen  grosse  Bedeutung  be- 
sitze; weiters  wolle  er  nur  österreichische  Verhältnisse  in  Betracht  ziehen.  In  Oester- 
reich  ist  sowohl  die  Literatur  eine  bedeutend  geringere,  als  auch  die  Thätigkeit  auf 
dem  ganzen  Gebiete  der  Wohnungsfrage  eine  viel  weniger  bedeutende,  als  in  Deutsch- 
land, wo  sich  eine  Eeihe  von  Vereinen  verschiedener  Art  mit  dieser  Frage  befassen. 

Die  in  den  Arbeiterwohnungen  zu  Tage  tretenden  Uebelstände  sind  in  solche 
wirtschaftlicher,  hygienischer  und  ethischer  Natur  zu  unterscheiden;  alle  aber  haben 
ihre  Grundlage  in  wirtschaftlichen  Uebelständen.  Der  erste  wirtschaftliche  Uebel- 
stand  liegt  in  den  hohen  Preisen  der  Arbeiterwohnungen,  indem  der  Quadratmeter 
bewohnbaren  Eaumes  in  kleinen  Wohnungen  immer  viel  theurer  ist,  als  in  grossen, 
u.  zw.  einerseits  deswegen,  weil  einer  grossen  Nachfrage  geringes  Angebot  ent- 
gegensteht und  weil  andererseits  der  Vermieter  vom  Mieter  und  dieser  vom  After- 
mieter eine  Gefahrenprämie  fordert,  weil  also  geradezu  Wohnungswucher  Platz 
greift;  der  zweite  Uebelstand  ergibt  sich  daraus,  dass  die  Wohnungsmiete  beim 
Arbeiter  einen  weit  höheren  Percentsatz  seines  Einkommens  ausmacht,  als  beim 
Wohlhabenden;  verwendet  der  letztere  5 — 107o  des  Einkommens  für  diesen  Zweck 
so  muss  der  erstere  25  —  30Vo  opfern.  Aus  diesen  Misständen  in  Bezug  auf  den 
Preis  ergeben  sich  die  hygienischen  Uebel;  der  Arbeiter  muss  möglichst  billige 
und  daher  unzureichende  Wohnungen  mieten,  in  grössere,  zu  theure  Wohnungen 
muss  er  Aftermieter  und  Bettgeher  aufnehmen;  in  jedem  Falle  liegt  also  eine 
XJeberfüllung  der  Wohnung  vor.  Zehn,  zwölf  und  mehr  Personen  beiderlei  Ge- 
schlechtes sind  oft  in  einem  Zimmer  zusammengedrängt,  ja  es  wird  manchmal 
geradezu  mit  den  Betten  Schicht  gemacht,  'indem  die  Bewohner  sie  abwechselnd 
gebrauchen.  Die  hygienischen  Uebel  treten  umsomehr  zutage,  wenn  es  sich  nicht 
um  an  sich  gesunde  Wohnugen,  sondern  um  unheizbare  Dachkammern,  Dachböden, 
Kellerlöcher    und    dergleichen  Locale    handelt.   Solche  Verhältnisse  bringen   auch 


26.  Plenarversammlung  vom  9.  November  1891.  I79 

schwere  sittliche  Schäden  mit  sich,  sie  zerstören  jedes  Familienleben  und  treiben 
die  Bewohner  in  die  Arme  des  Lasters. 

Die  Beschaffung  büliger  und  gesunder  Arbeiterwohnungen  würde  diesen 
liebeln  wirksam  entgegen  treten  und  die  sociale  Frage  zwar  nicht  lösen,  aber  doch 
auf  eine  andere  Basis  stellen.  Die  Lösung  der  Frage  muss  von  ihrer  Tvirtschaft- 
lichen  Seite  aus  gefunden  werden;  die  Sanitätspolizei  allein  kann  nicht  alles  thun, 
auch  eine  besondere  Wohnungsgesetzgebung  genügt  nicht,  so  wünschenswert  und 
heilsam  sie  auch  wäre.  Delogierungen  der  Bewohner  eines  Kellerloches  führen  die- 
selben zunächst  ins  Asyl  für  Obdachlose  oder  den  Gemeindearrest  und  schliesslich 
vielleicht  in  eine  noch  elendere  Wohnung,  welche  bald  durch  den  Nachschub  an 
Bettgehern  neuerdings  überfüllt  ist.  In  England  und  Belgien  werden  daher  der- 
artige Wohngebäude  unter  Umständen  expropriiert  und  niedergerissen;  in  Belgien 
aber  hatte  es  nur  die  Folge,  dass  sich  nun  die  Arbeiter  an  der  Peripherie  der 
Stadt,  weit  von  ihren  Arbeitsstätten  gerade  in  so  schlechten  Wohnungen,  wie  die 
früheren  waren  ansiedelten ;  in  England  ist  sogar  ein  Neu-  und  Umbau  schlechter 
Häuser  von  amtswegen  und  auf  Kosten  des  Besitzers  zulässig.  Das  schwerfällige 
Verfahren  aber  macht  den  Erfolg  dieser  G-esetzesbestimmungen  vielfach  illusorisch. 
—  Der  Schwerpunkt  der  Frage  liegt  in  der  Schaffung  guter  und  billiger  Woh- 
nungen ;  sind  solche  vorhanden,  so  müssen  auch  die  Wohnungswucherer  im  Preise 
herabgehen  und  die  Wohungen  assanieren.  In  Oesterreich  ist  in  dieser  Eichtung 
bisher  wenig  geschehen;  einige  Gresellschaften  in  Prag,  Eeichenberg  undTriest,  welche 
diesen  Zweck  verfolgen,  haben  manches  G-ute  gethan,  ebenso  Vereine  in  Wien 
und  Brunn,  welche  nach  dem  Cottage-Systeme  bauen.  Das  Cottage-System  ist 
aber  wohl  für  den  vorliegenden  Zweck  wenig  geeignet,  weil  es  für  den  Arbeiter 
zu  theuer  ist;  auch  hier  muss  er  durch  Aufnahme  von  Aftermietern  und  Bettgehern 
einen  Theil  des  Preises  hereinzubringen  suchen ;  überdies  wird  der  Arbeiter  durch 
dieses  System  in  seiner  Freizügigkeit  gehindert,  weil  er  das  Haus  nicht  verkaufen 
kann,  solange  er  Eaten  zahlen  muss ;  er  kann  es  nicht  verlassen,  ohne  die  be- 
zahlten Baten  zu  verlieren  und  wenn  es  endlich  ihm  gehört,  kann  er  es  auch 
nur  sehr  schwer  veräussern.  Besser  als  dieses  System  wirkt  die  auch  in  Deutsch- 
land geübte  Herstellung  grosser  Gebäude  für  eine  Anzahl  von  Familien,  wobei 
durch  Wahl  eines  geeigneten  Grundrisses  die  mit  dem  Zusammenleben  mehrerer 
Familien  verbundenen  Uebelstände  beseitiget  werden  und  die  Möglichkeit  geboten 
wird,  gewisse  gemeinsame  Einrichtungen,  wie  Waschküche,  Badezimmer  u.  dgl. 
herzustellen.  Diese  letztere  Methode  ist  nun  thatsächlich  meist  von  den  Industriellen 
eingeschlagen  worden,  u.  zw.  mehr  am  flachen  Lande  als  in  den  grossen  Industrie- 
städten. Solche  Gebäude  sind  nun  aber  oft  Arbeiterkasernen  der  schlechtesten 
Sorte,  und  sie  sind  meist  viel  zu  theuer;  der  Mietzins  solcher  Wohnräume  am 
Lande  steigt  per  Quadratmeter  bis  zu  3  Gulden,  so  dass  eine  massig  grosse  Wohnnug 
bis  zu  120  fl.  kostet.  Staat,  Land  und  Gemeinde  haben  bisher  für  die  Arbeiter- 
wohnungen nichts  gethan.  Eine  wenigstens  negative  Förderung  der  Bauthätigkeit 
dürfte  der  kürzlich  im  Abgeordnetenhause  erledigte  schon  1883  von  den  Abg. 
Hermann  und  Portheim  eingebrachte,  dann  von  Mauthner  und  Winterholler  wieder  auf- 
genommene Antrag  ergeben,  welcher  ursprünglich  [eine  gänzliche  Steuerbefreiung  für 
alle  kleinen  Wohnungen  verlangte,  dann  aber  hauptsächlich  wegen  der  Haltung  der 

12* 


IgO  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

Eegierung  stark  eingeengt  wurde.  Es  soll  die  Steuerbefreiung  nämlich  nur  mehr 
für  Arbeiterwohnungen  gelten,  welche  von  Gemeinden,  gemeinnützigen  Vereinen, 
Genossenschaften  und  Arbeitgebern  für  ihre  eigenen  Arbeiter  errichtet  werden; 
leider  sind  hiebei  von  Actiengesellschaften  zu  diesem  Zwecke  errichtete  Gebäude 
ausgeschlossen,  und  doch  haben  gerade  solche  insbesondere  in  Franki'eich  vieles 
zugunsten  der  Arbeiter  geleistet  und  besteht  die  Steuerbefreiung  für  solche  seit 
dem  Jahre  1889  in  Belgien  u.  zw.  sogar  ohne  Feststellung  einer  Maximaldividende  und 
eines  Maximalzinses,  wodurch  leicht  Arbeiterwohnungen  zum  Gegenstande  des  Specula- 
tionsbaues  werden  können.  Der  Absicht,  vollkommene  Befreiung  von  der  Staats- 
steuer und  allen  Zuschlägen  zu  gewähren,  trat  das  Interesse  der  Gemeinden  in 
den  Weg;  in  Betreff  der  Landes-  und  Gemeindezuschläge  hat  denn  auch  das 
Herrenhaus  Aenderungen  an  dem  vom  Abgeordnetenhause  beschlossenen  Gesetzent- 
wurfe vorgenommen,  welche  die  Zurückleitung  desselben  an  jenes  nothwendig 
machen.  Der  vom  Abgeordnetenhause  angenommene  Entwurf  enthält  ein  Minimal- 
maass  der  Wohnungen,  um  der  Herstellung  all'  zu  kleiner  vorzubeugen,  musste 
aber  auch  aus  fiscalischen  Gründen  ein  Maximalmaass  aufnehmen;  da  man  vom 
Cottagesystem  abgekommen  war,  erschien  die  Feststellung  eines  Maximalmaasses  für 
die  Gebäude  überflüssig.  Damit  nicht  der  ganze  Vortheil  aus  dem  Gesetze  statt  den 
Mietern  den  Vermietern  zugute  komme,  bestimmte  man  auch  ein  Maximalmaass  der 
Mietzinse,  nach  dem  Quadratmeter  bewohnbaren  Eaumes  berechnet.  Die  Feststellung 
dieses  Maximums  war  sehr  schwierig;  da  sie  nicht  den  Localbehörden  überlassen 
werden  konnte;  um  nicht  grossen  Unternehmern  zu  vielen  Einfluss  zu  geben  und  man 
doch  mit  Rücksicht  auf  die  Baukosten  und  das  Einkommen  der  Arbeiter  localen  Ver- 
hältnissen Rechnung  tragen  musste,  schuf  man  drei  Ortsclassen  mit  bestimmten  Zins- 
sätzen u.  zw.  gelten  als  solche:  I.Wien  mit  fl.  1*75,  2.  Orte  mit  mehr  als  10.000 
Einwohnern  mit  fl.  1*15,  3.  kleinere  Orte  mit  fl.  0*80  pro  Quadratmeter.  Diese  Ma- 
ximalzinse  sind  in  jedem  Falle  erschwinglich,  werden  aber  besonders  bei  von  Ge- 
meinden oder  gemeinnützigen  Vereinen  errichteten  Gebäuden  wohl  meist  nicht  er- 
reicht werden. 

Zu  viel  darf  man  von  den  Wirkungen  des  österreichischen  Gesetzes  nicht  er- 
warten; wohl  kann  man  hoffen,  dass  viele  Industrielle  und  gemeinnützige  Vereine,  die 
bisher  an  Capitalmangel  litten  und  nun  infolge  der  Steuerbefreiung  eine  massige  Ver- 
zinsung des  Capitals  in  Aussicht  haben,  wenn  sie  auch  billige  Wohnungen  herstellen, 
davon  Gebrauch  machen  werden ;  dagegen  ist  wenig  von  der  Thätigkeit  der  Gemeinden 
und  Genossenschaften  zu  gewärtigen;  die  Bildung  von  Arbeitergenossenschaften  be- 
gegnet nämlich  grossen  Schwierigkeiten.  Es  wird  Aufgabe  der  Geldinstitute,  insbeson- 
dere der  Sparcassen  sein,  den  gemeinnützigen  Vereinen  zu  entsprechend  niedrigem 
Zinsfusse  Geld  vorzustrecken;  ja  es  sind  in  dieser  Richtung  schon  Schritte  gethan 
worden. 

Unter  diesen  Voraussetzungen  lässt  sich  in  den  grösseren  Centren  eine  segens- 
reiche Bauthätigkeit  erwarten;  in  jedem  Falle  aber  stellt  das  Gesetz  den  ersten  Schritt 
zur  Lösung  einer  der  wichtigsten,  socialen  Fragen  dar. 

Nach  diesen  mit  lebhaftem  Beifalle  aufgenommenen  Ausführungen  ergreift  Herr 
Vicedirector  Wittelshöfer  das  Wort;  er  bestreitet  die  Bedeutung  des  besprochenen 
Gesetzes  und  führt  die  schlechten  Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter  nicht  auf  ihre 


26.  Plenarversammlung  vom  9.  November  1891.  181 

Ausgaben,  sondern  auf  ihre  geringen  Einnahmen  zurück;  das  Aftermieterunwesen 
könne  durch  das  Gesetz  nicht  gehemmt  werden.  Die  Wohnungsfrage  sei  weniger  in 
der  G-rossindustrie,  welche  ein  eigenes  Interesse  habe,  die  Arbeiter  gut  zu  behausen 
und  so  an  die  Scholle  zu  binden,  als  vielmehr  im  Kleingewerbe  und  in  der  Haus- 
industrie acut;  hier  nun  sei  das  Gesetz  ganz  illusorisch,  die  Bildung  von  Bauge- 
nossenschaften unmöglich;  die  Bedeutung  des  Gesetzes  sei  also  eine  geringe. 

Eeichsrathsabgeordneter  Dr.  v.  Plener  vertheidigt  das  Gesetz,  welches  eben 
nur  einen  bestimmten  Zweck  verfolge,  bei  der  gegebenen  Sachlage  auch  mir 
diesen  verfolgen  könne,  und  bei  den  gewiss  traurigen  Arbeiter-Verhältnissen  in  der 
Grossindustrie  auch  gewiss  ein  weites  Feld  segensreicher  Wirksamkeit  finde;  aller- 
dings sei  es  zu  bedauern,  dass  der  Entwurf  bei  der  parlamentarischen  Berathung 
starke  Einschränkungen  erfahren  habe;  jedenfalls  könne  man  dem  Gesetze  selbst  es 
nicht  zum  Vorwurfe  machen,  dass  es  Ziele  nicht  erreicht,  die  es  gar  nicht  anstrebt. 

Nach  einigen  Bemerkungen  des  Herrn  Alex.  Fischl,  wonach  der  für  Wien  fest- 
gesetzte Zins  zu  niedrig  und  das  Cottagesystem  weder  zu  theuer  sei,  noch  die  Frei- 
zügigkeit behindere,  wonach  endlich  die  Haltung  des  Herrenhauses  die  auf  das  Gesetz 
gebauten  Hoffnungen  stark  verringere,  verwahrt  sich  Eeferent  Herr  Dr.  Gross  dage- 
gen, als  hätte  er  das  Gesetz  eine  grosse,  socialreformafcorische  That  genannt;  jeden- 
falls werden  durch  das  Gesetz  die  Wohnungsübelstände  gemildert  und  das  Aftermieter- 
unwesen bekämpft  werden;  eineEeform  der  Einkommensverhältnisse  könne  allerdings 
mit  dieser  Frage  nicht  verquickt  werden. 

Der  Herr  Vorsitzende,  Sectionschef  v.  Inama-Sternegg,  schliesst  sodann 
unter  Erneuerung  des  dem  Eeferenten  ausgesprochenen  Dankes  die  Versammlung. 


LITEMTURBERICHT. 


Nordbölimische  Arbeiterstatistik.  Tabellarische  Darstellung  der  Ergebnisse  der 
von  der  Reich enberger  Handels-  und  Gewerbekammer  am  1.  December  1888  durchge- 
führten Erhebung.  Eeichenberg.  1891. 

Der  Mangel  einer  umfassenden  und  zuverlässigen  Arbeiterstatistik  machte  sich  auch 
in  Oesterreich  insbesondere  bei  der  Berathung  der  socialpolitischen  Versicherungsgesetz- 
gebung in  empfindlicher  "Weise  fühlbar.  So  entschloss  sich  denn  die  Eeichenberger 
Handels-  und  Gewerbekammer  zu  Ende  des  Jahres  1888  ausserhalb  des  Rahmens  der 
regelmässigen  Quinquennal-Industriestatistik  eine  allgemeine  Betriebs-  und  Arbeiter- 
statistik im  Kammerbezirke  vorzunehmen.  Und  zwar  schwebte  ein  doppelter  Zweck  bei 
dieser  Aufnahme  vor  Augen:  „einerseits  sollte  sie  die  Kammer  in  die  Lage  versetzen, 
an  der  Durchführung  der  socialen  Versicherungsgesetzie  mit  Hilfe  eines  anderen  und 
besseren  Materiales  als  den  Verwaltungsbehörden  zu  Gebote  stand,  mitzuwirken;  anderer- 
seits sollte  sie  im  Hinblicke  auf  die  allgemein  empfundene  und  anerkannte  Nothwendig- 
keit  einer  Verbesserung  der  statistischen  Quinquennalberichterstattung  der  österreichischen 
Handels-  und  Gewerbekammer  als  Prüfstein  dafür  gelten,  was  auf  dem  Gebiete  der 
Arbeiterstatistik  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  erreichbar  sei." 

Es  ist  gewiss  sehr  erfreulich,  dass  die  Reichenberger  Kammer  das  von  der 
Wiener  Kammer  gegebene  Beispiel  befolgt  und  ebenfalls  nach  einer  Verbesserung  und 
namentlich  Vertiefung  ihrer  statistischen  Berichterstattung  strebt.  Nachdem  durch  das 
Wiener  Statistische  Seminar  eine  stattliche  Reihe  trefflich  geschulter  Statistiker  heran- 
gebildet worden  ist,  stehen  für  derartige  Bemühungen  glücklicherweise  nun  auch  die 
geeigneten  Kräfte  zur  Verfügung.  Das  erhöhte  statistische  Interesse  der  Reichenberger 
Kammer  dürfte  in  erster  Linie  auf  die  Referenten  des  statistischen  Bureaus,  früher 
Herrn  Dr.  Hatschek,  zur  Zeit  Herrn  Dr.  Bach,  zurückzuführen  sein. 

Die  Erhebung,  für  welche  als  Zeitpunkt  der  1.  December  1888  gewählt  worden 
war,  wurde  mittelst  Betriebsfragebögen  und  Arbeiterzählkarten  durchgeführt.  Da  der 
Betriebsfragebogen  vorzugsweise  für  die  Erhebung  der  nicht  zur  Veröffentlichung  gelangten 
betriebsstatistischen  Thatsachen  bestimmt  war,  verliert  er  hier  gegenüber  dem  Arbeiter- 
zählblatt an  Interesse.  Letzteres  aber  bildet  in  der  That  ein  charakteristisches  Merkmal 
der  Erhebung,  welches  sie  vor  allen  früheren  auszeichnet.  Das  Arbeiterzählblatt  wurde 
zur  Erleichterung  der  späteren  Bearbeitung  des  Materiales  für  jede  der  12  Industrie- 
gruppen auf  andersfarbiges  Papier  gedruckt  und  enthielt  folgende  Fragen: 

1.  Bezirk,  2.  Standort,  3.  Name  des  Arbeitgebers,  4.  Art  der  Betriebsuntemeh- 
mung,  5.  Vor-  und  Zuname  des  Arbeiters,  6.  Geburtsstätte,  7.  Geburtsjahr,  8.  Art  der 
Beschäftigung,  9.  Arbeitet  bei  obigem  Arbeitgeber  seit,  10.  Bezieht  durchschnittlich  per 
Woche  an  Lohn  (im  Accord  —  fest). 

Auffallend  erscheint  es,  dass  bei  der  Fragestellung  nach  dem  Lohne  auf  den 
etwaigen  Bezug  von  Emolumenten  keine  Rücksicht  genommen  worden  ist.  Die  von  der 
Wiener  Kammer  durchgeführte  treffliche  Lohnstatistik  beweist,  dass  solche  vielfach  eine 
beträchtliche  Rolle  spielen.  ')  Auch  möchten  wir  einigermaassen  bezweifeln,  ob  man  die  Frage 

»)  Unter  88066  beobachteten  Arbeitern  befanden  sich  1(5363  Emolumentenempfänger.  Statistischer 
Bericht  über  Industrie  und  Gewerbe  des  Erzherzogthums  Oesterreich  unter  der  Enns  im  Jahre  1885.  Wien 
1889.  J.  XLTX. 


Literaturb  ericht .  183 

nach  (lern  durchschnittlich  per  Woche  verdienten  Lohne  allenthalben  richtig  erfasst  und 
dem  entsprechend  beantwortet  hat.  Es  sollte  natürlich  derjenige  Lohn  angegeben 
werden,  welcher  auf  eine  Woche  entfiele,  wenn  sich  der  Verdienst  auf  die  einzelnen 
Arbeitswochen  einer  Zeitperiode,  etwa  eines  Jahres,  gleichmässig  vertheilen  würde.  Eine 
Belehrung  über  diesen  Punkt  scheint  dem  Zählblatte  nicht  beigefügt  worden  zu  sein. 
Da  aber  eine  statistisch  correcte  Angabe  des  durchschnittlichen  Wochenlohnes  unter 
Umständen  nicht  ganz  leicht  fällt,  so  können  wir  uns  nach  dieser  Hinsicht  einer  gewissen 
Skepsis  nicht  ganz  erwehren.  Es  mag  übrigens  gleich  hier  betont  werden,  dass  selbst 
dann,  wenn  die  Ermittlung  des  durchschnittlichen  Wochenlohnes  durchaus  richtig  erfolgt 
sein  sollte,  aus  demselben  auf  die  Höhe  des  Jahreseinkommens  eines  Arbeiters  noch 
keine  Schlüsse  gezogen  werden  dürfen.  Auf  die  Frage,  wie  viele  Wochen  hindurch  der 
Arbeiter  im  Jahre  beschäftigt  ist.  hat  die  Erhebung  keine  Antwort  ertheilt. 

Die  nordböhraische  Arbeiterstatistik  bezieht  sich  keineswegs  auf  die  gesammte  ge- 
werblich thätige  Arbeiterbevölkerung  des  Kammerbezirkes.  Nach  zwei  Kichtungen  fand  eine 
Beschränkung  statt.  Einmal  wurden  die  Arbeiter  der  Montanindustrie,  der  Verkehrsanstalten 
und  des  Handels  ausgeschlossen,  und  dann  blieben  auch  die  Arbeiter  unbeachtet,  welche  in 
nicht  fabriksmässigen  Betrieben  thätig  sind.  Da  indes  eine  statistisch  brauchbare  Ab- 
grenzung der  fabriksmässigen  Betriebe  nicht  vorliegt,  musste  man  sich  immer  noch  an  das 
freilich  höchst  mangelhafte  Merkmal  der  Erwerbsteuerhöhe  von  mindestens  21  fl.  halten. 
Bezüglich  einzelner  besonders  wichtiger  Industrien  wurde  indes  bei  der  Vertheilung  der 
Frageformulare  tief  unter  den  genannten  Steuersatz  herabgegangen,  um  nach  eingelangter 
Beantwortung  selbst  zu  beurtheilen,  ob  die  Betriebe  als  fabriksmässige  in  den  Eahmen 
der  Erhebung  fielen.  Die  Abgrenzung  nach  unten  ist  somit  eine  schwankende. 

Diese  Beschränkungen  der  Erhebung  müssen  bei  der  Beurtheilung  der  Ergebnisse 
wohl  beachtet  werden.  Indem  die  Lohnverhältnisse  der  kleingewerblichen  und  hausindu- 
striellen Arbeiter  unermittelt  blieben,  gelangten  diejenigen  Lohnverhältnisse  in  der 
Statistik  nicht  zur  Darstellung,  für  welche  die  Präsumtion  besteht,  dass  sie  noch  weit 
unerfreulicher  seien  als  die  in  den  Fabriken. 

Zur  Versendung  gelangten  über  2000  Fragebogen  und  nahezu  eine  Viertelmillion 
Zählblätter.  Hievon  sandten  mehr  als  1300  Betriebsuntemehraer  die  Fragebögen  nebst 
105.000  wohl  ausgefüllter  Arbeiterzählblätter  an  das  statistische  Bureau  der  Kammer 
ein.  Die  Sichtung  des  eingetroffenen  Materiales  ergab,  dass  von  denjenigen  Betrieben, 
die  Fragebogen  sammt  Zählblättem  beantwortet  hatten,  nur  1131  als  Fabriken,  bezie- 
hungsweise Grossbetriebe  in  den  Rahmen  der  Statistik  aufzunehmen  waren.  Zu  diesen 
1131  Fragebögen  gehörten  102.221  befriedigend  ausgefüllte  Zählblätter. 

Sind  hiemit  auch  alle  Arbeiter  und  Betriebe,  welche  in  das  Gebiet  der  Erhebung 
fallen,  erfolgreich  der  Massenbeobachtung  unterworfen  worden  ?  Kann  die  Erhebung  als 
eine  vollständige  gelten? 

Der  statistische  Referent  der  Kammer  glaubt  zur  Beantwortung  dieser  wichtigen 
Frage  einen  Anhaltspunkt  den  Anmeldungen  zur  Unfallversicherung  entnehmen  zu  können. 
Die  im  Sommer  18ö8  erfolgte  erste  Anmeldung  hatte  für  den  Kammerbezirk  139.854  Arbeiter 
ergeben.  In  dieser  Ziffer  sind  indes  auch  die  zahlreichen  Arbeiter  der  Bergwerksbetriebe, 
der  Eisenbahnen,  gewisser  landwirtschaftlicher  Betriebe  u.  s.  w.  inbegriffen,  auf  welche 
die  Erhebung,  wie  wir  wissen,  sich  nicht  erstreckte.  Somit  wird  der  Erhebung  eine 
relative  Vollständigkeit  zuerkannt  werden  müssen.  Ob  und  in  welchem  Sinne  der  Mangel 
einer  absoluten  Vollständigkeit  die  Ergebnisse  beeinflusst  hat,  ist  schwer  zu  sagen. 
Sollte  bei  denjenigen  Betriebsuntemehmem,  welche  eine  Beantwortung  abgelehnt  haben, 
nur  eine,  wenn  man  so  sagen  darf,  platonische  Abneigung  gegen  statistische  Lmfragen 
als  Motiv  in  Betracht  gekommen  sein,  dann  wird  man  die  Fehler,  welche  die  Unvoll- 
ständigkeit  der  Erhebung  heraufbeschworen  hat,  nicht  allzu  streng  beurtheilen  dürfen. 
Anders  hingegen,  wenn  die  unerfreuliche  Gestaltung  gerade  der  Verhältnisse,  die  im 
eigenen  Betriebe  bestehen,  den  Beweggrund  gebildet  haben  sollte.  Man  würde  dann  zur 
Annahme  o-ezwungen  sein,  dass  die  Ergebnisse  wegen  Ausschlusses  einer  Zahl  bedenk- 
licher Betriebe  ein  freundlicheres  Antlitz  zeigten,  als  sie  in  der  That  besitzen. 


2g4  Literaturbericht. 

Für  die  Authenticität  der  Angaben  glaubt  die  Kammer  einstehen  zu  dürfen,  da  die 
von  ihr  vorgenommenen  Controlen  ein  durchaus  befriedigendes  Resultat  geliefert  haben. 

Nach  welchen  Gesichtspunkten  erscheint  das  umfangreiche  Material  verarbeitet? 
Es  gelangen  zunächst  die  Lohnverhältnisse  und  die  Stabilität  der  Arbeiter  nach  Steuer- 
bezirken zur  Darstellung.  Es  sind  also  die  Fragen  1,  2,  7,  9  und  10  des  Arzeiterzähl- 
blattes,  deren  Beantwortung  die  Grundlagen  für  diesen  Theil  der  Statistik  abgibt.  Für 
jeden  der  69  Steuerbezirke,  welche  das  Gebiet  der  Reichenberger  Kammer  umfasst, 
werden  4  Tabellen  entworfen.  Die  ersten  drei,  je  eine  für  die  männlichen  Arbeiter,  für 
die  weiblichen  und  beide  zusammen,  bringen  die  Lohnverhältnisse  zur  Anschauung.  Die 
Arbeiter  werden  nach  den  Geburtsjahren  in  öjährige  Altersclassen  gruppiert.  Wir  erfahren 
sodann  für  jede  Altersclasse  die  Zahl  derjenigen,  welche  im  Stücklohne  arbeiten.  Hierauf 
folgt  die  Summe  der  Wochenlöhne,  welche  insgesammt  von  den  Angehörigen  dieser 
Altersclasse  im  Stücklohn  verdient  werden.  Die  nächste  Spalte  zeigt,  welcher  Lohn  auf 
den  einzelnen  Arbeiter  der  Altersclasse  fallen  würde,  wenn  die  Summe  ihrer  Löhne  auf 
alle  Angehörigen  sich  gleichmässig  vertheilte,  also  den  durchschnittlichen  Wochenlohn 
eines   Mitgliedes    dieser   Altersclasse,    Dieselben   Daten    folgen  auch   für  die  Zeitlöhner. 

In  der  dritten  Hauptspalte  werden  die  Lohnverhältnisse  schlechthin,  ohne  auf  den 
Unterschied  zwischen  Zeit-  uud  Stücklohn  mehr  Rücksicht  zu  nehmen,  in  derselben 
Weise  aufgeführt.  Endlich  werden  die  Summen  der  überhaupt  verdienten  Wochenlöhne 
gebildet,  durch  die  Zahl  der  beobachteten  Arbeiter  getheilt,  woraus  sich  der  durch- 
schnittliche Wochenlohn  des  Steuerbezirkes  ergibt. 

In  der  4.  Tabelle  werden  die  Arbeiter  nach  den  Jahren  gruppiert,  seit  welchen 
sie  bereits  in  dem  Betriebe,  welchem  sie  zur  Zeit  der  Zählung  angehören,  beschäftigt  sind. 
Von  besonderem  Interesse  sind  hier  die  Procentberechnungen,  welche  den  Bruchtheil 
der  Arbeiter  erkennen  lassen,  der  erst  seit  dem  Erhebungsjahr  1888,  seit  1887.  1886 
u.  s.  w.  in  dem  Betriebe  thätig  ist.  Weniger  instructiv  ist  die  durchschnittliche  Arbeits- 
dauer eines  Arbeiters  in  demselben  Betriebe. 

Der  Anordnung  nach  localen  Gesichtspunkten  (Steuerbezirken)  liegt  der  Gedanke 
zu  Grunde,  auch  den  Einfluss  der  localen  Momente  auf  die  Alters-,  Lohn-  und  Stabili- 
tätsverhältnisse der  Arbeiter  darzuthun.  Da  indes  die  Statistik  selbst  über  die  Beschaffen- 
heit der  localen  Bedingungen  (Kosten  der  Lebenshaltung,  Nationalität,  wirtschaftlichen 
Charakter  in  den  einzelnen  Steuerbezirken)  keine  Aufschlüsse  gewährt,  so  ist  eine 
weitergehende  und  unmittelbare  Belehrung  nicht  leicht  zu  gewinnen. 

Dankbarer  erscheint  dem  gegenüber  das  Studium  des  zweiten  Theiles.  Er  bringt 
die  Lohn-,  Alters-  und  Stabilitätsverhältnisse  der  Arbeiter  nach  Industrie-Gruppen, 
Classen  und  Branchen  zur  Darstellung. 

Da  die  Beziehungen  zwischen  Lohn  und  Alter  der  Arbeiter,  ebenso  wie  die  Sta- 
bilitätsverhältnisse unseres  Wissens  eine  ähnlich  umfassende  Ermittelung,  wie  sie  das 
Werk  der  Reichenberger  Kammer  bietet,  noch  nicht  erfahren  haben,  rechtfertigt  sich 
wohl  der  Versuch,  nicht  nur  wie  bisher  die  bei  der  Erhebung  und  Bearbeitung  befolgte 
Methode,  sondern  auch  einige  der  wichtigeren  materiellen  Ergebnisse  vorzuführen. 

In  sämmtlichen  von  der  Statistik  erfassten  Betrieben  waren  57.867  männliche 
Arbeiter  mit  einem  Durchschnittslohne  von  5  92  fl.  per  Woche  und  41.957  weibliche  mit 
einem  solchen  von  3-63  fl.  beschäftigt.  Zieht  man  die  localen  Verschiedenheiten  in 
Betracht,  so  zeigt  sich,  dass  im  allgemeinen  die  deutschen,  nordwestlich  gelegenen, 
vorwiegend  industriellen  und  dichterbevölkerten  Bezirke  höhere  Löhne  aufweisen  als 
die  im  Südosten  gelegenen  Gebiete,  in  welchen  eine  der  böhmischen  Nationalität  ange- 
hörende, ackerbautreibende  und  minder  dichte  Bevölkerung  vorherrscht.  So  stehen  die 
Steuerbezirke  Töplitz  mit  7-87  fl.,  Auscha  mit  7-48  fl.,  Aussig  mit  7-87  fl.,  Bilin  mit 
6-91  fl.,  Lobositz  mit  6-57  fl,,  Königgrätz  mit  6-12  fl„  Dux  mit  6-06  fl.  und  Reichenberg 
(St.)  mit  5-99  fl,  an  der  Spitze,  während  Opocno  (3-84),  B.  Skalitz  (3-62),  Libau  (3-58), 
Neupaka  (3-56)  und  Nechanitz  (3*53)  am  Ende  der  Reihe  erscheinen,  welche  die 
Durchschnittslöhne  sämmtlicher  Arbeiter  über  16  Jahre  in  absteigender  Stufenfolge 
zeigt.  Gruppiert  man  die  Löhne  nach  den  Industriezweigen,  so  ergibt   sich,  dass    mann. 


Literaturbericht.  Ig5 

liehe  Arbeiter  die  höchsten  Löhne  verdienen  in  Walzwerken  (12-02  tl.),  Tafelglashütten 
1 12-44  fl.).  Chamotte-  und  Thonwarenfabrikation  (9-04  fl.),  Hohlglashütten  («-37  fl.), 
Buch-  und  Steindruckerei  (8-35  fl.);  die  niedrigsten  in  der  Glasperlenerzeugung  (4-89  fl.), 
Seidenweberei  (4-85  fl.),  Leinenweberei  (4-74  fl.),  Flachsspinnerei  (4-66  fl.),  Erzeugung 
von  Männer-  und  Damenkleidern  (4-29  fl.),  Spiegel-  und  Rahmenfabrikation  und  Glas- 
Schleiferei  (4-27\  Holzstifte-  und  Holzrouleauxerzeugung  (4-25  fl.)  und  Jutespinnerei-  und 
Weberei  (4-19  fl.).  Weibliche  Arbeiter  stehen  sich  am  besten  in  der  Erzeugung  von 
Männer-  und  Damenkleidern  (6-42  fl.),  in  der  Schuhwarenfabrication  (4-49  fl.,  Schaf- 
wollspinnerei (4-14  fl.)  und  Baumwollweberei  (3-92  fl.).  Der  niedrigste  Verdienst  wird 
ihnen  in  der  Hornknopferzeugung  (2-92  fl.),  der  Glasraffinerie  (2-87  fl.),  der  Bandweberei 
(2-77  fl.),  in  Eohglashütten  (2-10  fl.)  und  in  Mühlen  (1-80  fl.)  zu  Theil. 

Von  den  Männern  stehen  23.905  (41%)  im  Stücklohn  mit  einem  durchschnitt- 
lichen Wochenverdienste  von  6-07  fl.;  33.962  (59%)  mit  5-82  fl.  per  Woche  im  Zeitlohne; 
die  entsprechenden  Ziffern  für  die  Frauen  sind  27.884  (667o)  und  3-81  fl.;  14.073  (34%) 
und  327  fl.  Für  beide  Geschlechter  stellt  der  Lohn  im  Accord  sich  höher  als  der  feste 
Zeitlohn,  bei  den  Männern  um  4%,  bei  den  Frauen  aber  um  17'^/(,. 

Im  Stücklohne,  welcher  die  thatsächliche  Arbeitsleistung  genau  wiederspiegelt, 
erreicht  der  Arbeiter  das  Maximum  seines  Verdienstes  im  Alter  von  31  bis  35  Jahren. 
Von  da  ab  geht  derselbe  sofort  wieder  rasch  zurück.  Bei  der  Arbeiterin  gilt  als  Zeit 
höchster  Leistungsfähigkeit  und  grössten  Stücklohnverdienstes  das  Alter  von  25 — 35  Jahren. 

Die  sorgfältige  Ermittelung  des  Alters,  welche  durch  die  Zählblätter  stattgefunden 
hatte,  erlaubte  auch  den  Altersaufbau  der  beobachteten  Arbeiterbevölkerung  zur  Darstellung 
zu  bringen.  Es  ergibt  sich,  dass  von  den  Männern  13.233  (23"/„j  im  Alter  unter  21  Jahren, 
von  den  Frauen  1G.885  (40"/o)  unter  der  genannten  Altersgrenze  sich  befinden.  Von  der 
22.  Altersclasse  aufwärts  erscheint  die  Besetzung  bald  wesentlich  schwächer.  Offenbar  ver- 
lässt  ein  beträchtlicher  Theil  der  Arbeiterinnen  nach  der  Verheiratung  die  Fabriksarbeit. 

Die  Ermittelung  des  Alters  der  Arbeiter  hat  leider,  wie  das  der  Altersstatistik 
schon  zu  ergehen  pflegt,  zu  mancherlei  Missverständnissen  geführt.  So  stellt  z.  B.  „Der 
Freigeist",  ein  in  Reichenberg  erscheinendes  Arbeiterblatt,  auf  Grund  der  vorliegenden 
Statistik  die  Behauptung  auf,  dass  ungefähr  2/3  der  erwachsenen  Arbeiter  unter  35  Jahren 
stürben,  da  die  Tabelle  über  den  Altersaufbau  der  Arbeiterbevölkerung  nur  30.000  Arbeiter 
über  35  Jahren  aufweise.  „Freilich  kann  eingewendet  werden,  dass  die,  welche  über 
35  Jahre  zählen  und  nicht  mehr  in  der  Industrie  beschäftigt  sind,  nicht  gestorben  sein 
müssen,  sondern  zu  einer  selbständigen  Beschäftigung  übergegangen  sein  können.  Dem 
gegenüber  kann  aber  erwidert  werden,  dass  Arbeiter  im  Grossbetriebe  beschäftigt  nur 
in  seltenen  Fällen  dazu  kommen,  ein  eigenes  Geschäft  zu  betreiben  oder  eine  andere 
Arbeit  zu  wählen,  weshalb  diese  Wenigen  die  von  uns  gezogenen  Schlüsse  nicht  erheb- 
lich beeinträchtigen  können."  ')  Hiebei  wird  also  der  Umstand,  dass  ein  grosser  Theil 
von  Arbeiterinnen  wegen  Verheiratung  ausscheiden  kann,  ganz  übersehen. 

Dif  Statistik  macht  uns  ferner  mit  dem  Durchschnittsalter  der  Arbeiter  in  den 
einzelnen  Industrien  bekannt.  Dasselbe  beträgt  für  die  Männer  überhaupt  31-8,  für  die 
Weiber  26'3.  In  der  Textilindstrie  wird  es  auf  30-7  und  20  5,  in  der  Tuchindustrie 
speciell  auf  35-0  und  28-6  berechnet.  Angesichts  dieser  Ziffern  glaubt  der  Verfasser 
von  „Oesterreich's  Tuch-  und  Modewarenfabrication  im  Hinblicke  auf  das  Jahr  1892"  2), 
Gustav  Trenkler,  annehmen  zu  dürfen,  „dass  die  Arbeit  in  der  Tuchfabrik  eine  gesunde 
genannt  werden  muss.  und  durch  diese  schätzenswerten  Ziffern  wohl  manches  einge- 
wurzelte, deshalb  obei-flächliche  Bedenken  schwinden  muss."  Und  an  anderer  Stelle 3)  : 
„Die  grossen  Zahlen,  gegen  die  es  keinen  Appell  gibt,  haben  bewiesen,  dass  die  Textil- 
industrie unter  allen  anderen  Industrien  zu  den  gesündesten  der  Fabriksbeschäftigungen 
in  geschlossenen  Räumen  gehört,  und  dass  in  deren  Unterabtheilung  die  Tuchfabrication 
die  erste  Stelle  einnimmt." 


»)  Der  Freigeist,  Reichenberg  27.  August  1891. 
2j  Wien  1891.  S.  89. 
3j  a.  a.  O.  S.  192. 


1  g(5  Literaturbericht . 

So  muss  denn  der  jedem  Statistiker  selbstverständliche  Sachverhalt  noch  eigens 
betont  werden,  dass  das  Durchschnittsalter  der  Arbeiter  einer  Industrie  gar  keinen 
Schluss  auf  deren  gesundheitsschädliches  oder  gesundheitsförderndes  Verhalten  gestattet. 
Ein  niedriges  Durchschnittsalter  besagt  einfach,  dass  in  der  betreffenden  Industrie  die 
jugendlichen  Arbeitskräfte  überwiegen.  Diese  Erscheinung  aber  braucht  mit  den  Ein- 
wirkungen der  betreffenden  industriellen  Arbeit  auf  die  Gesundheit  oder  Sterblichkeit 
nicht  das  Mindeste  zu  thun  haben.  So  wird  in  Industrien  oder  Betrieben,  welche 
schon  seit  längerer  Zeit  in  sich  gleich  bleibendem  Umfange  bestehen,  naturgemäss  ein 
grösserer  Bruchtheil  älterer  Arbeiter  anzutreffen  sein,  während  die  erst  in  letzter  Zeit  zur 
Blüte  gelangten  Industrien  oder  Betriebe  vorzugsweise  den  Nachwuchs  der  Bevölkerung 
aufnehmen  und  infolgedessen  mehr  jugendliche  Arbeiter  aufweisen.  So  zeigte  sich  bei  einer 
in  Mannheim  veranstalteten  Erhebung,  dass  in  den  seit  längerer  Zeit  bestehenden  und 
mehr  stabilen  Unternehmungen  die  Besetzung  der  höheren  Altersclassen  eine  wesentlich 
dichtere  war  als  in  jüngeren  Etablissements.  ^)  Auch  in  der  nordböhmischen  Tuchindu- 
strie wird  vermuthlich  das  höhere  Durchschnittsalters  vorwiegend  durch  den  Umstand 
bedingt  sein,  dass  dieser  Industriezweig  zu  den  ältesten  und  stabilsten  der  Kammer  gehört. 

Die  Ermittelungen  über  die  Stabilität  der  Arbeiter  haben  das  bemerkenswerte 
Resultat  geliefert,  dass  30%  der  Arbeiter  erst  in  dem  Erhebungsjahre  in  das  Unternehmen 
eingetreten  waren,  in  welchem  sie  sich  im  Zeitpunkte  der  Erhebung  befanden.  Mau  kann 
also   daraus  schliessen,  dass  nahezu  30%  der  Arbeiter  jährlich    ihre  Stellung  wechseln. 

Ein  dritter  Theil  des  Werkes  combiniert  die  Durchschnittslöhne  mit  der  Grösse 
der  Betriebe,  sowohl  nach  Bezirken  als  nach  Industrien.  Es  gilt  die  Frage  zu  erledigen, 
ob  die  Entwicklung  der  grösseren  und  grössten  Betriebe  günstig  auf  die  Lohnverhält- 
nisse einwirke  oder  nicht.  Fast  überall  nimmt  in  der  That  die  Höhe  des  Durchschnitts- 
lohnes mit  der  Grösse  des  Betriebes  ab.  So  beläuft  sich  der  Lohn  in  Betrieben,  mit 
weniger  als  50  Arbeitern  auf  6-69  fl..  in  solchen  mit  50—100  auf  5-20  fl.;  100—400: 
4'83  fl.,  über  400:  4*82  fl.  In  der  Eegel  liegen  die  grössten  Fabriken  auf  dem  Lande, 
in  Gegenden  mit  niedrigen  Löhnen  und  niedrigen  Lebensmittelpreisen.  Auch  wird  die 
Zahl  der  höher  entlohnten  Werkmeister,  Aufseher  und  Vorarbeiter  vergleichsweise  um 
so  geringer,  je  mehr  Arbeiter  in  einem  Unternehmen  beschäftigt  sind.  Insofern  erscheint 
die  Ueberlegenheit  des  Grossbetriebes  auch  durch  einen  relativ  niedrigen  Aufwand  für 
Löhne  begründet. 

Die  wertvollsten  Daten  zur  Beurtheilung  der  Lohnverhältnisse  bietet  der  vierte 
Theil  des  Werkes:  die  detaillierte  Uebersicht  der  Lohnstufen.  Es  sind  deren  33  gebildet 
worden.  Die  .erste  umfasst  die  Arbeiter  mit  einem  Wochenverdienst  von  weniger  als 
1  fl..  die  zweite  solche  mit  1*01  fl.  —  1*50  fl.  und  so  immer  um  einen  halben  Gulden 
ansteigend  bis  zum  Wochenverdienst  von  15  fl.  Die  nächsten  drei  Classen  steigen  mn 
5  fl..  die  letzte  um  10  fl.  Diese  Uebersichten  werden  für  jede  Industriegruppe  gewährt, 
wobei  die  derselben  Lohnclasse  angehörenden  Arbeiter  noch  nach  Geschlecht  und  Art 
der  Entlohnung  (Accord-  oder  Zeitlohn  gesondert  sind.) 

Bedauerlich  bleibt  6s,  dass  keine  Combination  der  Lohnverhältnisse  der  einzelnen 
Industrien  mit  localen  Gesichtspunkten  vorgenommen  wurde.  Es  wäre  doch  gewiss  inter- 
essant zu  erfahren,  wie  sich  die  Lohnverhältnisse  derselben  Industrie  in  verschiedenen 
Theilen  des  Kammerbezirkes  entwickelt  haben.  Hierüber  kann  man  sich  nur  auf  Um- 
wegen und  mit  sehr  bedingter  Zuverlässigkeit  eine  Vorstellung  bilden.  Ferner  hätten 
sich  die  Resultate  der  Lohnclassenstatistik  leicht  in  einem  Diagramm  zusammenfassen 
lassen,  durch  welches  ein  rascher  Ueberblick  über  die  Verhältnisse  der  einzelnen  Indu- 
strieen  möglich  geworden  wäre. 

Von  den  männlichen  Arbeitern  erhält  ein  Viertel  einen  Wochenlohn  von  4  fl.  und 
weniger;  die  Hälfte  aber  erfüllt  die  Lohnclasse  von  4  fl.  —  7  fl..  wobei  insbesondere 
die  Classen  4*51 — 4-50  und  5'51 — 6-00  stark  besetzt  sind.  Ein  Fünftel  bezieht  Löhne  von 
7*00 .  fl.   —  10*50  fl.    Von  den  Arbeiterinnen  verdient  die  Hälfte  3  fl.  und  weniger,  zwei 

»)  Die  sociale  Lage  der  Fabrik.sarbeiter  in  Mannheim.  Herausgegeben  im  Auftrage  des  Or.  Mini- 
8terium.s  des  Innern  von  L.  WörishoflFer.  Karlsruhe  1891.  S.  !13. 


Literaturbericht.  ;[g7 

Fünftel  erhalten  3  fl.  —  4  fl.,  und  nur  ein  Zehntel  vermag  4  fl.  —  5  fl.  zu  erreichen. 
Diese  Ergebnisse  werden  vornehmlich  durch  die  Verhältnisse  der  Textilarbeiter  bedingt, 
welche  ja  zwei  Drittel  der  überhaupt  beobachteten  Arbeiterschaft  ausmachen.  Die  Lage 
der  Metall-  und  Glasarbeiter  stellt  sich  günstiger  als  der  obige  Durchschnitt  für  alle 
Arbeiter  angibt. 

Nach  der  von  der  Wiener  Kammer  veröffentlichten  Lohnstatistik  bezogen  einen 
Wochen  verdienst  von  5  fl.  und  weniger  V,o,  5  fl.  —  7  fl.  ^/g,  7  fl.  —  12  fl.  mehr  als 
die  Hälfte,  12  fl.  und  mehr  ungefähr  V5  der  männlichen  Arbeiter.  Von  den  weiblichen 
Arbeitern  erhielten  ^'g  3  fl.  und  weniger,  mehr  als  die  Hälfte  3  fl.  —  5  fl.,  '/^  5  fl.  — 
7  fl.  und  der  Rest  mehr  als  7  fl.^) 

Diese  Ziffern  bedürfen  keines  Commentares. 

Dass  mit  den  Löhnen  der  nordböhmischen  Arbeiter  selbst  dann,  wenn  die  Lebens- 
mittelpreise und  insbesondere  die  Wöhuungsmieten  in  jenen  Gegenden  nicht  so  hoch 
wären  als  sie  es  thatsächlich  leider  sind,  nur  ein  äusserst  kümmerlichas  Dasein  gefristet 
werden  kann,  wird  niemand  in  Abrede  stellen.  Es  ist  schwer  begreiflich,  wie  unter  diesen 
Umständen  die  bekannte  „Petition  der  Industriellen  und  Gewerbetreibenden  Nordböhmens 
an  die  hohe  k.  k.  Regierung  wegen  Regelung  der  Arbeiterverhältnisse"  von  „im  allge- 
meinen günstigen  Lohnverhältnissen"  und  einer  „gesicherten  Lebenshaltung  der  indu- 
striellen Arbeiter  Nordböhmens"  sprechen  konnte.  Je  weniger  die  materiellen  Ergebnisse 
der  Erhebung  den  Socialpolitiker  befriedigen  dürften  und  der  nordböhmischen  Industrie 
zur  Ehre  gereichen,  um  so  mehr  ist  der  Muth  der  Kammer  anzuerkennen,  mit  welchem 
sie  die  bisher  doch  nur  in  den  allgemeinsten  Umrissen  bekannten  Lohnverhältnisse  rück- 
haltslos bis  in  die  Einzelheiten  offen  dargelegt  hat.  Ebenso  uneingeschränktes  Lob  verdient 
das  Werk  in  Bezug  auf  die  formale  Seite  der  Durchführung.  Was  sich  mit  Tabellen  und 
Ziffern  überhaupt  leisten  lässt,  ist  hier  zustande  gebracht.  Gleichwohl  werden  u.  E. 
derartige  Arbeiten  als  eine  ausreichende  Grundlage  für  socialpolitische  Entwürfe  nicht 
betrachtet  werden  können.  Es  gibt  eben  noch  unendlich  viele  Dinge,  welche  für  die 
Lage  der  Arbeiter  von  grösster  Wichtigkeit  sind,  und  die  sich  einer  zahlenmässigen  Er- 
mittelung doch  schlechterdings  entziehen.  Zur  Ziffer  muss  sich  das  Wort,  gesellen,  die 
Statistik  muss  durch  die  Description  erweitert  und  vervollständigt  werden.  Bisher  ist 
diese  Vereinigung  meist  nur  von  privaten  Forschem  versucht  worden.  Aus  naheliegenden 
Gründen  fiel  dabei  der  socialstatistische  Theii  in  der  Regel  sehr  mangelhaft  aus.  Voll- 
kommeneres wird  erst  erzielt  werden,  wenn  amtliche  Organe,  denen  ein  Recht  auf 
Beantwortung  zuerkannt  ist,  und  die  durch  ihre  amtliche  Thätigkeit  mit  den  einschlä- 
gigen Verhältnissen  innig  vertraut  sind,  die  Berichterstattung  über  die  socialen  Zustände 
übernehmen.  Solche  Beamte  sind  die  Gewerbeinspectoren.  Das  Beispiel  Badens  zeigt, 
was  von  dieser  Seite  geleistet  werden  kann. 

Wie  den  österreichischen  Gewerbeinspectoren  ist  auch  den  deutschen  die  Anwei- 
sung ertheilt,  in  ihrem  Jahresberichte  sich  über  die  wirtschaftlichen  und  sittlichen 
Zustände  der  Arbeiterbevölkerung  ihres  Aufsichtsbezirkes  auszusprechen.  Nach  der  ganzen 
Einrichtung  des  Dienstes  können  diese  Aeusserungen  nur  erfolgen  auf  Grund  der  bei 
den  Dienstreisen  gemachten  Wahrnehmungen  und  der  näheren  Untersuchung  einzelner 
Misstände,  von  denen  der  Beamte  durch  seine  Thätigkeit  Kenntnis  erhält.  Bei  dem 
Dunkel,  das  über  die  sociale  Lage  der  Arbeiter  gebreitet  ist,  konnten  auf  dem  ange- 
deuteten Wege  leicht  einige  Mittheilungen  gemacht  werden,  denen  ein  gewisses  Interesse 
zukam.  Allein  alle  diese  Mittheilungen  konnten  nach  der  Art  ihrer  Entstehung  doch  nur 
den  Charakter  des  Zufälligen  haben.  Das  der  allgemeinen  Beobachtung  zugängliche  Gebiet 
musste  bald  erschöpft  sein.  Die  Berichterstattung  lief  Gefahr,  mit  der  Zeit  über  die 
wirtschaftliche  und  sociale  Lage  der  Arbeiterbevölkerung  nur  noch  Wiederholungen  und 
Gemeinplätze  zu  bringen.  So  entschloss  sich  der  badische  Aufsichtsbeamte,  an  die  Stelle 
der  allgemeinen  socialen  Berichterstattung  eine  specielle,  nur  eine  bestimmte  Arbeiter- 
gruppe in's  Auge  fassende  treten  zu  lassen,    von    letzterer  aber   ein  umso   gründlicheres 

>)  Stat.  Bericht  über  Industrie  und  Gewerbe  des  Erzherzogthunis  unter  der  Enns  im  Jahre  18S5, 
Wien  1881)    S.  LXXI. 


1  g  g  Literaturb  ericht . 

Bild  zu  entwerfen. ')  Dieser  Versuch  ist  glänzend  gelungen.  Bereits  liegen  zwei  statistisch 
und  descriptiv  gleich  vollkommene  Arbeiten  der  badischen  Fabriksinspection  vor:  Die 
sociale  Lage  der  Cigarrenarbeiter  im  Grossherzogthum  Baden,  Karlsruhe  1890.  231  S. 
Ferner:  Die  sociale  Lage  der  Fabrikarbeiter  in  Mannheim  und  dessen  nächster  Umgebung. 
Karlsruhe  1891.  383  S.  Und  dieser  Erfolg  ist  leicht  erklärlich.  „Solche  Darstellungen 
sind  für  den  Aufsichtsbeamten  leichter  zu  bewerkstelligen  als  für  Andere,  weil  er  durch 
seinen  Beruf  schon  eine  ziemliche  Menge  von  Material  zur  Verfügung  hat,  welches,  wenn 
auch  an  sich  nicht  vollständig,  doch  in  eine  systematische  Verarbeitung  leicht  eingereiht 
werden  kann.  Weil  er  ferner  die  Quellen  kennt,  aus  denen  er  zu  schöpfen  hat.  und  weil  er 
sich  nicht  zu  schwer  einen  Maassstab  für  die  Beurtheilung  dieser  Quellen  bilden  kann."  2) 

Diese  Pflege  der  Socialstatistik  in  Verbindung  mit  Description  durch  das  Fabriks- 
inspectorat,  wie  sie  sich  in  Baden  zu  entfalten  beginnt,  erscheint  uns  auch  für  Oester- 
reich  ausführbar  und  geboten.  Sobald  man  anerkennt,  dass  vollständige  Darlegungen  der 
socialen  Lage  der  Arbeiterbevölkerung  nur  unter  Zuhilfenahme  der  Description  gewonnen 
werden  können,  wird  man  die  Pflege  einer  so  erweiterten  Berichterstattung  auch  nicht 
mehr  Handelskammern  überlassen  können.  Dieselben  sind  Organe  zur  Vertretung  der 
Interessen  der  Unternehmer.  Es  erscheint  uns  ungerecht,  sie  mit  Aufgaben,  die  ausserhalb 
dieser  Sphäre  liegen,  zu  belasten,  und  man  darf  sich  nicht  beklagen,  wenn  sie  dieselben 
widerwillig  und  nicht  immer  objectiv  erfüllen.  Sie  sind  dazu  selbst  beim  besten  Willen 
nicht  im  Stande.  Sie  können  allenfalls,  wie  das  vorliegende  Beispiel  der  Reichenberger 
Kammer  beweist,  rein  zahlenmässige  Darstellungen  mit  voller  Objectivität  liefern,  nicht 
aber  Beschreibungen.  Und  wenn  wunderbarerweise  eine  Kammer  dies  zu  Stande  bringen 
sollte,  dann  würde  doch  eine  von  ihr  ausgehende  Ermittelung  immer  dem  Misstrauen  der 
Arbeiter  begegnen.  Es  kommt  bei  solchen  Untersuchungen  aber  nicht  bloss  darauf  an, 
dass  sie  wirklich  objectiv  sind,  sondern  dass  alle  Betheiligte  sie  auch  dafür  ansehen. 
Die  Aufgabe  der  erweiterten  Berichterstattung  kann  unter  den  gegebenan  Verhältnissen 
u.  E.  daher  nur  der  völlig  parteilosen,  aber  sachkundigen  Instanz  des  Gewerbeinspec- 
torates  zugewiesen  werden.  Dass  die  österreichischen  Gewerbeinspectoren  dieser  Aufgaben 
gewachsen  wären,  wird  niemand  bezweifeln,  der  die  hie  und  da  in  den  Berichten  zer- 
streuten kleinen,  aber  oft  wunderbar  anschaulichen  und  lehrreichen  Skizzen  über  einzelne 
Industrien,  insbesondere  Hausindustrien  kennen  gelernt  hat.  Es  würde  sich  hier  mit 
vergleichsweise  geringem  Aufwände  Bedeutendes  erreichen  lassen.  Einerseits  aber  müsste 
der  Gewerbeinspector  durch  Beiordnung  von  Assistenten  von  den  untergeordneten  Schrei- 
bereien, üeberwachungsarbeiten  u.  s.  w.  entlastet,  andererseits  durch  volkswirtschaftlich- 
statistisch gebildete  Hilfskräfte  unterstützt  werden. 

Freiburg  (Baden).  Prof.  Dr.  H.  Herkner. 

Der  Centralyerband  der  Stickerei-Industrie  der  Ostschweiz  und  des  Vor- 
arlbergs. Geschichte  des  Centralverbandes  der  Stickerei-Industrie  der  Ostschweiz  und 
des  Vorarlbergs  und  ihre  wirtschafts-  und  socialpolitischen  Ergebnisse.  Von  Georg  Baum- 
herger, Redactor  der  „Ostschweiz''.  St.  Gallen.  1891. 

Obwohl  die  Tagespresse  sich  oft  mit  dem  Stickereiverbande  der  Ostschweiz  und 
des  Vorarlbergs  befasst  hat,  dürfte  seine  Entwicklung  auch  in  Oesterreich  doch  nur  in 
den  allgemeinsten  Zügen  bereits  bekannt  sein.  Es  muss  aber  als  äusserst  wünschens- 
wert bezeichnet  werden,  dass  die  Geschichte  sowie  die  wirtschafts-  und  socialpolitischen 
Ergebnisse  dieses  eigenartigen  Gebildes  gerade  von  Seiten  österreichischer  Volkswirte 
und  Socialpolitiker  zum  Gegenstande  eifrigen  Studiums  gemacht  werden.  Halb  Gewerk- 
verein, halb  Kartell  hat  der  Verband  die  Organisation  einer  Hausindustrie  zu- 
stande gebracht;  also  einer  Betriebsform,  die  sich  organisatorischen  Bestrebungen  gegen- 
über bis  jetzt  immer  besonders  spröde  erwiesen  hat,  Dass  aber  für  ein  Land,  das  so 
zahlreiche  Hausindustrien  besitzt  wie  Oesterreich,  das  Problem  der  Organisation  derselben 
im  Vordergrunde  des  Interesses  stehen  muss,  bedarf  keines  weiteren   Nachweises.   Indes 

')  Vgl.  Die  Lage  der  Cigarrenarbeiter  im  Grossherzogthume  Baden.  Beilage  zum  .Tahn^sboriclite  der 
Gr.  bad.  Fabriksinspectors  für  das  Jahr  1889.  Karlsruhe  1890.  S.  1  u.  2. 
*)  a,  a.  O.  S,  ß. 


Literaturbericht.  189 

nicht  nur  als  Organisation  einer  Hausindustrie  überhaupt  verdient  der  Stickereiverband  vom 
österreichischen  Standpunkte  aus  eingehende  Beachtung,  dieselbe  muss  ihm  ferner  auch 
zuerkannt  werden  als  Organisation  einer  zum  Theil  österreichischen  Hausindustrie. 

Die  misslichen  Verhältnisse,  aus  denen  der  Verband  die  Stickereiindustrie  errettet 
hat,  entsprachen  vielfach  der  Lage,  in  welcher  zur  Zeit  so  manche  österreichische  Haus- 
industrie sich  befindet. 

Infolge  wenig  befriedigender  Jahre  in  der  Landwirtschaft  und  wegen  der  gedrückten 
Lage  in  anderen  Industrien  hatten  sich  fortwährend  neue  Elemente  der  Stickerei  zuge- 
wandt. Dadurch  erreichten  die  Productionskräfte  eine  Stärke,  welche  kaum  in  flotten 
Zeiten  verwertet  werden  konnte,  geschweige  denn  in  flauen.  Dieser  ungesunde  Ueberschuss 
an  Producenten  trieb  die  Stickerei  schon  an  sich  recht  eigentlich  in  das  Fahrwasser 
der  Uebei-production.  Da  die  neuen  Elemente  als  abgestossene  der  Urproduction  und 
anderer  Industrien  nur  eine  quantitative  Verstärkung  der  Productionskraft  im  Gefolge 
hatten,  so  zeitigten  sie  mit  der  Gefahr  beständiger  Ueberproduction,  die  nicht  viel  kleinere 
eines  qualitativen  Niederganges  der  Industrie.  Die  Löhne  sanken  zu  einer  nie  gekannten 
Tiefe.  Die  Arbeitszeit  wurde  in 's  maasslose  verlängert.  Die  Beschäftigung  der  Kinder 
als  Fädler  artete  zu  einer  furchtbaren  Ausbeutung  dieser  hilflosen  Geschöpfe  aus.  „Bei 
der  in  Vorarlberg  weitverbreiteten  Masctiinenstickerei",  so  schrieb  damals  (1884)  der  k.  k. 
Gewerbeinspector,  „werden  in  jenen  Localen,  in  denen  dieselbe  als  Hausindustrie  be- 
trieben wird,  Kinder,  sobald  sie  das  Alter  erreicht  haben,  um  als  Fädler  verwendet 
werden  zu  können,  über  ihre  Kräfte  in  Anspruch  genommen.  Man  fängt  das  Tagewerk 
mit  der  Frühstunde  an  und  arbeitet,  wenn  hinreichende  Beschäftigung  geboten  ist,  bis 
10  ja  bis  11  Uhr  nachts.  Geht  dies  sofort,  so  steht  die  Gesundheit  der  jungen  Gene- 
ration in  Gefahr."  ') 

Der  Niedergang  der  Arbeitsbedingungen  ermuthigte  die  Speculation  zu  allen 
möglichen  Ausschweifungen.  In  Begleitung  der  wilden  Speculation  aber  stellte  sich  die 
Corruption  auf  allen  Gebieten  ein.  Zahlreiche  Arbeitgeber  suchten  bei  den  steten  Preis- 
rückgängen sich  durch  gewissenlose  Abzüge  schadlos  zu  halten.  Der  Producent  seinerseits 
hauderte  darauf  los  im  Bewusstsein,  dass  der  Speculation  die  Qualität  Nebensache  war. 
Die  Gebote  der  Geschäftsmoral  schienen  bei  Arbeitern  und  Arbeitgebern  gänzlich  ausser 
Curs  zu  sein  und  alles  einer  völligen  Anarchie  entgegenzueilen.  Da  führte  endlich  das 
alle  Betheiligte  beherrschende  Gefühl,  dass  es  so  nicht  weiter  gehen  könne,  zur  Gründung 
des  Verbandes.  Nach  beträchtlichen  Schwierigkeiten  trat  er  vom  14.  Juli  1885  in  Action. 
Er  umfasste  die  Arbeitgeber  (die  exportierenden  Kaufleute),  die  Arbeitnehmer  (die 
Einzelsticker  und  Fabrikanten)  und  die  Fergger,  welche  den  Verkehr  zwischen  den 
ersteren  vermitteln.  Das  Centralcomite  publicierte  folgende  erste  Maassnahmen: 

1.  Vom  I.August  1880  an  darf  Arbeit  nur  noch  an  Verbandsmitglieder  abgegeben 
werden,  ebenso  sind  die  Arbeiter  gehalten,  nur  noch  für  solche  Arbeit  auszuführen,  die 
dem  Verbände  angehören. 

2.  Mit  dem  15.  August  darf  keine  Ware  mehr  unter  den  nachstehenden  Minimai- 
Lohnansätzen  in  Arbeit  gegeben  oder  genommen  werden:  für  31/2  Mobmaschinen  28  Cts. 
per  100  Stück  für  %  und  33  Cts  für  \U. 

Bald  darauf  wurde  auch  die  elfstündige  Arbeitszeit  für  sämmtliche  im  Verbände 
befindlichen  Maschinen  verfügt.  Damit  waren  die  drei  Säulen  aufgerichtet,  welche  die 
Träger  der  Verbandsidee  blieben.  In  Bezug  auf  weitere  Einzelheiten  muss  auf  des  Werk 
Baumberger's  selbst  verwiesen  werden.  Hingegen  dürfte  es  am  Platze  sein,  das  vom 
Verbände  Geschaffene  in  den  Hauptzügen  zu  einem  Gesammtbilde  zu  vereinigen:  „Die 
Lohnfrage  fand  eine  Kegelung  mit  dem  Minimallohne  und  mit  den  Zuschlägen  für 
geringe  Muster  als  Ergänzung  des  ersteren.  Für  die  Lohnsicherung  wurde  das 
Ferggerregulativ,  die  Verkaufsstelle  für  Ketourwaren,  das  Regulativ  für  Abzugswesen 
und  Retouren,  die  Verordnung  über  Garn  verkauf  und  das  Stichzählungsregulativ  erlassen. 
Die  Sicherheit  der  Production  wurde  geschützt  mit  dem  Verbandsmusterschutz,  dem 


I)  Vgl.  Bericht  der  k,  k.  Gewerbeinspectoren  über  ihre  Amtsthätigkeit  im  Jahre  1882.  Wien  1885.  S.  287. 


190  Literaturbericht. 

Boykott  und  zum  Theil  auch  wieder  mit  dem  Minimallohn.  Die  quantitativeProduetion 
fand  eine  Ordnung   mit  der  Normalarbeitszeit,    mit    dem  Rechte  der  Decretierung  allge- 
meiner Arbeitseinstellung    an  einzelnen  Tagen  und  mit  dem  Regulativ  über  Maschinen- 
verkehr —  die  qualitative  Production  dagegen  theilweise  mit  der  Musterclassification, 
dann  mit  dem  Regulativ  für  Stichweiten    und  den  Verordnungen  über  Facheurse,  Lehr- 
lingswesen und  Stickerkarten.     Die  Concurrenzfähigkeit  wurde  zu  schützen  gesucht 
mit   der    Schaffung    eines    Verbandes    in  Sachsen    und  mit  der  Unterhaltung  von  Bezie- 
hungen   zu    ihm.    Für  billigen  und  schnellen  Rechtsschutz  sorgten  Fachgerichte  und 
Experten."    So  hat  der  Verband  jeder  Interessentengruppe  erhebliche  Vortheile  geboten. 
Es    erübrigt    noch    der   Rolle    zu    gedenken,    die    Vorarlberg  im  Verbände  spielt. 
Nach    einer    am    1.    Januar    1889    aufgenommenen  Verbandsstatistik  —  und  seither  soll 
eine  wesentliche  Aenderung  nicht  eingetreten  sein  —  gehörten  von  den  12.921  Verbands- 
mitgliedern 2421,   von  den   21.847  Verbandsmaschinen  2809  dem   Vorarlberg    an.  Nach 
einer  Schätzung    des    k.    k.    Gewerbeinspectors  beschäftigt  die  vorarlbergische  Stickerei 
ungefähr  9000  Arbeiter,  d.  i.  lO^/o  der  Gesammtbevölkerung.  An  der  Spitze  steht  Lustenau 
mit    618    Maschinen,    dann    folgen  Götzis  mit  331,  Hohenems  mit  229,  Altach  mit  149, 
Dornbirn  mit  147,  Wolfurt-Schwarzach-Bildstein  mit  132  und  Höchst  mit  127  Maschinen. 
Alle    übrigen    Orte    zählen   beträchtlich    weniger   Maschinen,  meist  weniger  als  fünfzig. 
Die  Vorarlberger  gelten  für  fleissig,  nüchtern    und  im  ganzen  für  anspruchsloser  als  die 
Ostschweizer  Sticker.     An  industrieller  Intelligenz  und  Fertigkeit  reichen  sie  aber  nicht 
an  die  letzteren  heran.     Das  wird  von  Baumberger  ebenso  wie  von  dem  k.  k.  Gewerbe - 
inspector    übereinstimmend    betont.     In    der  Ostschweiz    ist  die  Industrie  freilich  schon 
sehr  alten  Datums.  Ausserdem  besitzt  aber  Vorarlberg  auch  ein  schlechteres  Maschinen- 
material.   Ein    nicht    sehr  sauberer  Maschinenhandel  überschwemmte    das  Ländchen  mit 
ausrangierten   schweizer  Maschinen.    Unter  diesen  Verhältnissen  wird  von  den  schweizer 
Kaufleuten    nach   Vorarlberg  vorwiegend    geringe    Ware  ausgegeben;    bessere    nur  dann, 
wenn    die    schweizer  Sticker    die  Aufträge   nicht  mehr  bewältigen  können.     Andererseits 
wird   bei   zurückgehender    Conjunctur   auch    dem    Vorarlberger  die  Arbeit  am  frühesten 
entzogen.    Man  lässt  dann  auch  die  geringere  Ware   lieber  auf  den    besseren    schweizer 
Maschinen    ausführen.    So    fühlen    sich    denn    die    Vorarlberger    stets    zurückgesetzt  und 
waren  bereits  mehremale  geneigt,  gegen  den  Verband  aufzutreten.  Vorarlberg  war  seit  den 
Tagen    der  Verbandsgründung  das  Sorgenkind  des  Verbandes.     Namentlich    im    Sommer 
1887  wurde  im  Vorarlberg  heftig  gegen  den  Verband  agitiert.  Auf  einer  Delegierten  Ver- 
sammlung  zu  Dornbirn   am  30.  October   1887  traten  die  Differenzen  klar  zu  Tage.    Es 
gab  drei  Parteien.  Die  eine,  die  kleinste,  welche  aus  den  qualitativ  geringsten  Arbeitern 
bestand,    wollte  einen  eigenen    vorarlbergischen  Verband  gründen.     Diese  Stellung  wird 
begreiflich,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  dass  eben  diese  Gruppe  wegen  ihrer  geringen 
Leistungsfähigkeit    am    wenigsten    auf    die    Beschäftigung    durch    die  schweizer  Firmen 
zählen  kann.  Eine  andere  Partei  erstrebte  ebenfalls  eine  Emancipation  der  vorarlbergischen 
Stickerei  von  der  schweizerischen,  hielt  aber  den  Zeitpunkt  hiefür  noch  nicht  gekommen. 
Erst  müsse  die    technische  Leistungsfähigkeit  gehoben  und  der  Entwickelung  der  Hilfs- 
industrien (Appretur,  Bleicherei  etc.)  grösseres  Augenmerk  geschenkt  werden.  Das  dritte 
und  grösste  Lager  war  mit  Maassnahmen  zur  Hebung  technischer  Leistungsfähigkeit  ein- 
verstanden,   wünschte    aber    einen  noch  engeren  Anschluss  an  die  Schweiz  als  Mittel  an 
grösserem  Wohlbefinden. 

Nach  1887  kam  es  nicht  mehr  zu  einer  ähnlichen  Bewegung.  Die  einsichtigeren 
Arbeiter  begriffen  immer  mehr,  dass  vorerst  eine  Emancipation  des  Vorarlberg  nicht  in 
ihrem  Interesse  liegen  würde.  Man  sah  ein,  dass  beim  ersten  Versuche  die  Arbeitabgabe 
nach  Vorarlberg  vom  Verbände  sofort  gesperrt  werden,  und  dass  ihre  Lage  trauriger 
als  je  sich  gestalten  würde,  sobald  sie  ausschliesslich  von  den  vorarlbergischen 
Exporteuren  abhiengen  und  nicht  mehr  auf  die  schweizerischen  Arbeitgeber  rechnen 
könnten,  welche  bisher  ihre  Position  den  eigenen  Arbeitgebern  gegenüber  gebessert  und 
gestärkt  haben.  Auch  das  k.  k.  Gewerbeinspectorat  ist  zu  der  Ueberzeugung  gekommen,  dass 
eine  Emancipation  vorerst  nicht  zum  Vortheile  der  vorarlbergischen  Arbeiterbevölkerung 


Literaturbericht.  191 

ausschlagen  würde  und  hat  Ende  1890,  als  eine  neue  gegen  den  Verband  gerichtete 
Bewegung  auszubrechen  drohte,  in  diesem  Sinne  mit  Erfolg  interveniert.^)  Es  kann  sich 
für  absehbare  Zeit  nur  darum  handeln,  der  Zurücksetzung  der  vorarlbergischen  Arbeiter 
durch  die  schweizerischen  Firmen  dadurch  die  Grundlage  zu  entziehen,  dass  die  vorarl- 
bergischen Arbeiter  allmählich  auf  die  Höhe  der  schweizerischen  Leistungen  gebracht 
werden.  Ein  ersier  Schritt  zu  diesem  Ziele  wird  mit  der  Errichtung  einer  Sticki-rfachschule 
in  Dornbirn  gethan.  Prof.  Dr.  H.  Herkner,  Freiburg  i.  B, 

Tschechische  Cigarrenarbeiter  in  New-York.  Unter  dem  charakteristischen 
Titel  „How  the  Other  Half  lives"  sind  vor  kurzem  Studien  veröffentlicht  worden,  durch 
welche  namentlich  die  wirtschaftliche  Seite  des  Lebens  der  Armen  in  New-York  eine  genaue 
Ermittelung  erfahren  hat.  Hiebei  werden  von  dem  Autor,  Jacob  A.  Riis,  auch  die  Yer- 
hältnisse  der  tschechischen  Colonie  dargelegt.  Da  das  genannte  Werk  im  österreichischen 
Publicum  kaum  eine  grössere  Verbreitung  finden  dürfte,  ist  vielleicht  die  Wiedergabe  einiger 
Bemerkungen,  welche  die    tschechischen   Einwanderer   betreffen,    nicht    unwillkommen :  2) 

Tschechisches  Quartier  ist  vielleicht  nicht  der  richtige  Name  für  die  Colonie,  da 
dieselbe,  wenn  auch  innerhalb  bestimmter  Grenzen,  sich  über  ein  weites  Gebiet  der 
Ostseite  erstreckt.  Sie  schiebt  sich  in  keilartigen  Streifen  vor,  welche  durch  ihren  starken 
Gegensatz  die  Gleichförmigkeit  der  deutschen  Niederlassung  unterbrechen.  Beide  Rassen 
verschmelzen  auf  dieser  Seite  des  Atiantischeu  Oceans  ebensowenig  als  an  den  rauhen 
Abhängen  der  böhmischen  Gebirge.  Der  Nachklang  des  dreissigj ährigen  Ejieges  macht 
sich  nach  zwei  und  einem  halben  Jahrhundert  selbst  in  New-York  noch  mit  dem- 
selben grimmen  Hasse  bemerkbar,  den  der  gigantische  Kampf  unter  den  besiegten 
Tschechen  erzeugte.  Der  Hauptgrund  hiefür  ist  zweifelsohne  die  vollständige  Isolierung 
des  tschechischen  Einwanderers.  Mehrere  Ursachen  bringen  diese  Wirkung  zustande: 
seine  besonders  rauhe  und  nicht  anziehende  Sprache,  welche  er  weder  selbst  leicht 
vergessen  noch  anderen  mittheilen  kann,  sein  starrer  Rassenstolz  und  ein  volksthümliches 
Vorurtheil,  das  ihn  ungerechter  Weise  zu  einem  Feinde  des  öffentlichen  Friedens  und 
der  organisierten  Arbeit  stempelt.  Dem  Verläumder,  der  ihn  des  Anarchismus  bezichtigt, 
kann  der  Tscheche  erwidern,  dass  der  Census  von  1880  für  die  tschechische  Bevölkerung 
die  geringste  Criminalitat  ergeben  hat.  Es  ist  eine  grosse  Seltenheit,  dass  ein  Tscheche 
ein  Verbrechen  begeht.  Der  Anschuldigung,  dass  er  als  Lohndrücker  auftrete,  kann  er 
entgegenhalten,  dass  die  Trades-Unions  ihm  diese  Stellung  aufgezwungen  haben. 

Die  54.  und  73.  Strasse  bilden  das  Centrum  der  tschechischen  Niederlassungen.  Die 
Lage  der  Cigarrenfabriken,  in  denen  der  Tscheche  seinen  Lebensunterhalt  gewinnt,  gibt  bei 
der  Wahl  des  Heims  den  Ausschlag.  Freilich  ist  von  einer  „Wahl",  abgesehen  etwa  von  der 
farbigen  Bevölkerung,  bei  keiner  Classe  des  Gemeinwesens  weniger  die  Rede.  Mehr  als  die 
Hälfte  aller  Tschechen  sind  Cigarrenm acher.  Sie  drängen  sich  in  grosser  Zahl  in  den  soge- 
nannten Mietkasernen-Fabriken  zusammen,  wo  die  am  wenigsten  lohnende  Arbeit  zu  den 
niedrigsten  Löhnen  ausgeführt  wird.  Hierin  liegt  ihre  grösste  Bedrückung  und  der  Hauptgroll 
der  anderen  Arbeiter  gegen  sie  begründet.  Der  Fabrikant,  der  4—12  an  sein  Geschäft 
anstossende  Miethäuser  besitzt,  besetzt  sie  mit  diesen  Leuten,  verlangt  übertrieben  hohe 
Zinse  und  nicht  selten  sogar  ein  Depot  von  f)  Dollars  als  „Schlüsselgeld" ;  ferner  liefert  er 
ihnen  wöchentlich  den  Tabak.  Die  Müsse,  die  ihm  noch  bleibt,  verwendet  er  dazu,  die 
Löhne  bis  nahe  an  den  Punkt  zu  beschneiden;  bei  welchem  der  Mieter- Arbeiter  verzweifelt 
und  sich  empört.  Thut  er  letzteres,  so  hat  er  die  Wahl  zwischen  Unterwerfung  und  Kündigung, 
die  mit  gänzlichem  Verlust  der  Arbeitsgelegenheit  verknüpft  ist.  Seine  Noth  bestimmt  den 
Ausgang,  in  der  Regel  vermag  er  nicht  lange  auszuhalten.  Ungleich  dem  polnischen  Juden, 
mit  dem  er  sonst  an  unermüdlichem  Fleisse  wetteifert,  hat  er  selten  etwas  für  schlechte 
Zeiten  zurückgelegt  Er  liebt  sein  Bier,  und  verzehrt,  was  er  einnimmt.  Unterwirft  er 
sich  nicht,  dann  melden  die  Zeitungen,  dass  eine  kleine  Armee  auf  das  Pflaster  geworfen 
wurde,  dass  mitleiderregende  Fälle  von  Noth  und  Familienelend  sich  ereigneten. 

»)  Bericht   der  k.  k.  Gevverbeinspectoren  über  ihre  Amtsthätigkeit  im  Jahre  1890.  Wien  1881.  S.  180. 
i)  Jacob  A.  Riis,  How   the  Other  Half  lives.  Studies   among  the   tenements  of  New-York.  London, 
Sampson  Low,  Marston,  Searle  &  Rivington  Lim.  1891.  S.  136-147. 


192  Literaturbericht. 

Männer.  Frauen  und  Kinder  arbeiten  in  diesen  freudenlosen  Behausungen  sieben 
Tage  die  Woche  hindurch,  vom  Anbruch  des  Tages  bis  spät  in  die  Nacht.  Oft  ist  nur 
die  Frau  in  der  alten  Heimat  bereits  Cigarrenarb eiterin  gewesen.  Der  Mann  folgt  jetzt 
nothgedrungen  dem  Gewerbe  der  Frau,  weil  er  keine  andere  Arbeit  finden  kann,  da  er 
kein  Wort  Englisch  versteht.  Aus  diesen  Verhältnissen  erwuchs  die  bittere  Feindschaft 
der  Gewerkvereine  gegen  die  tschechische  Einwanderung.  Die  Vereine  weigerten  sich, 
Frauen  aufzunehmen.  Zu  einem  grossen  Theile  aber  hieng  die  Erhaltung  der  Familie 
von  diesen  ab.  Sie  mussten  mit  jeder  Bedingung  zufrieden  sein.  Diesen  Zwiespalt  haben 
dann  die  Arbeitgeber  in  ihrem  Interesse  eifrig  weiter  entwickelt.  Der  Sieg  ist  ihnen 
zugefallen,  nachdem  der  Appellhof  das  Gesetz,  durch  das  die  Ausübung  der  Cigarren- 
industrie  in  den  Miethäusern  verboten  war,  für  verfassungswidrig  erklärt  hat. 

üebrigens  waren  die  Nachrichten,  welche  der  Gewerkverein  der  Cigarrenarbeiter 
über  diese  Verhältnisse  verbreitet  hat,  vielfach  übertrieben.  Zweifellos  sind  die  Leute 
arm,  in  vielen  Fällen  sogar  sehr  arm.  Aber  sie  sind  nicht  unreinlich,  eher  das  Gegen- 
theil.  Sie  leben  viel  besser  als  die  Schmiede  im  zehnten  Bezirke.  Ungeachtet  ihres  blassen 
Aussehens,  das  auf  den  alles  durchdringenden  Tabakdunst  zurückgehen  mag,  erscheinen 
sie  nicht  weniger  gesund  als  andere  in  geschlossenen  Räumen  thätige  Arbeiter.  Die 
wichtigsten  Beschwerden  bildeten  vielmehr  die  elenden  Löhne  und  die  enormen  Miet- 
zinse, die  für  ein  Minimum  von  Bequemlichkeit  erhoben  werden. 

Eine  Reihe  von  Häusern  in  der  East  Tonth  Street  mag  als  Beispiel  dienen.  Sie 
beherbergen  35  Cigarrenarbeiter-Familien.  Obwohl  viele  von  ihnen  schon  ein  halbes 
Lebensalter  im  Lande  sind,  spricht  kaum  ein  halbes  Dutzend  von  ihnen,  abgesehen  von 
den  Kindern,  ein  Wort  Englisch.  Ein  Zimmer  mit  zwei  Fenstern,  das  auf  die  Strasse 
geht,  und  ein  Hinterzimmer  ohne  Fenster,  das  euphemistisch  Schlafzimmer  genannt 
wird,  kosten  monatlich  12-25  Dollars.  Im  Vorderzimmer  arbeiten  Mann  und  Frau  von  6  Uhr 
früh  bis  9  Uhr  abends.  Sie  entrippen  zusammen  die  Tabakblätter;  dann  macht  er  den 
Wickel,  sie  rollt  den  Rapper  darauf  und  vollendet  die  Cigan-e.  Für  1000  Stück  erhalten 
sie  3'7.^  DoUars.  In  der  Woche  bringen  sie  zusammen  3000  Stück  fertig.  Hiemit  ist  der 
Punkt  erreicht,  welcher  die  Arbeiter  zur  Empörung  treibt.  Sie  befinden  sich  eben  im 
Ausstande  und  verlangen  5-00  und  5'50  Dollars  für  ihre  Arbeit.  Der  Fabrikant-Haus- 
herr hat  ihr  Verlangen  zurückgewiesen.  Von  Stunde  zu  Stunde  erwarten  sie  deshalb  die 
Kündigung.  Der  Mann,  den  wir  besuchen,  ist  von  offenbarer  Intelligenz,  dennoch  wohnt 
er  schon  9  Jahre  in  New- York,  ohne  ein  Wort  Englisch  und  Deutsch  zu  verstehen.  Drei 
geweckte  kleine  Kinder  spielen  auf  dem  Flur.  Sein  Nachbar  in  demselben  Stockwerke 
lebt  seit  fünfzehn  Jahren  hier.  Er  schüttelt  den  Kopf,  als  er  befragt  wird,  ob  er  Englisch 
verstehe.  Doch  antwortet  er  einige  abgebrochene  Worte,  wenn  er  in  deutscher  Sprache 
angeredet  wird. 

Im  nächsten  Hause:  Ein  Mann  mit  ehrwürdigem  Bart  und  scharfem  Auge  beant- 
wortet unsere  Fragen  durch  einen  Dollmetscher.  Man  wird  selbst  unter  amerikanischen 
Maschinenbauern  schwerlich  intelligenteren  Zügen  begegnen.  Dennoch  hat  auch  er  inner- 
halb neun  Jahre  keine  Silbe  Englisch  gelernt.  Deutsch  mag  er  wahrscheinlich  nicht 
lernen.  Seine  Geschichte  ist  dieselbe  wie  bei  den  anderen.  Zusammen  mit  seiner  Frau 
bringt  er  in  der  Woche  3000  Stück  Cigarren  fertig  und  verdient  11*25  Dollars,  wenn  er 
genügend  mit  Material  versehen  wird.  Er  war  in  seiner  alten  Heimat  Schmied.  Hier  kann 
er  in  diesem  Gewerbe  keine  Arbeit  finden,  weil  er  kein  „Engliska"  versteht.  „Verstün- 
de ich  es",  so  sagte  er  mit  hellem  Blick,  „ich  könnte  bessere  Arbeit  thun  als  hier  gethan 
wird."  Allein,  er  kennt  keinen  tschechischen  Schmied,  der  ihn  verstehen  würde.  Er 
würde  zu  Grunde  gehen.  Mit  der  Cigarrenarbeit  kann  er  und  sein  Weib  wenigstens  den 
Lebensunterhalt  erwerben.  „0",  sagte  sie,  „das  wäre  freilich  schön,  wenn  der  Vater  in 
seinem  Gewerbe  arbeiten  könnte!"  Welchen  Haushalt  könnten  sie  dann  führen,  wie 
glücklich  würden  sie  sein." 

So  weit  der  amerikanische,  den  österreichischen  Sprachenkämpfen  durchaus  fem- 
stehende Berichterstatter.  Seine  Ausführungen  bilden  u.  a.  einen  beachtenswerten  Beitrag 


Literaturbericht.  jgg 

zu  der  bisher  leider   noch  wenig   untersuchten  Frage,    wie    hoch    Sprachkenntnisse    vom 
wirtschaftlichen  Standpunkte  zu  veranschlagen  sind, 

Prof.  Dr.  H.  Herkner,  Freiburg  i.  B. 
Oesterreiclis  Tuth-  und  Modewareiifabrikation  im  Hinblick  auf  das  Jalir  1892. 

Eine  Studie  von  Gustav  Trenkler.  Wien  1891.  Verlag  des  k.  k.   üsterr    Handelsmuseum. 

Wie  schon  di^r  Titel  erkennen  lässt,  gehört  die  Schrift  Trenklers  zu  den  litera- 
rischen Erzeugnissen,  welche  der  im  Jahre  1892  erfolgende  Ablauf  der  Handelsverträge 
gezeitigt  hat.  Mancher  wird  somit  in  dem  Büchlein  ein  einseitiges,  hitziges  Advocaten- 
plaidoyer  für  oder  gegen  den  schutzzöllnerischen  Standpunkt  vermuthen.  Diese  Erwartung 
ist  erfreulicherweise  durchaus  nicht  zutreffend.  Der  seither  verstorbene  Verfasser,  der 
eine  angesehene  Tuchfabrik  in  der  Nähe  Eeichenbergs  leitete,  und  der,  um  sich  über 
die  Verhältnisse  der  europäischen  Wollwarenfabrication  genau  zu  unterrichten,  eine  Studien- 
reise in  die  wichtigsten  Productionsgebiete  unternommen  hatte,  scheint  weit  mehr  von 
dem  Wunsche  erfüllt,  zuverlässiges  Material  zur  Beurtheilung  der  schwebenden  Fragen 
beizubringen,  als  dem  Leser  seine  individuelle  Meinung  aufzudrängen.  Dieser  in  der  zoll- 
politischen Literatur  leider  ziemlich  seltene  Vorzug  wird  im  Vereine  mit  der  zweifellosen 
Sachkunde  des  grossindustriellen  Kreisen  angehörenden  Verfassers  und  der  hervorragenden 
Bedeutung,  welche  der  Tuch-  und  Modewarenfabrication  im  österreichischen  Wirtschafts- 
leben ')  zukommt,  dem  vorliegenden  Werke  hoffentlich  auch  allenthalben  die  gebürende 
Beachtung  verschafft  haben  oder  noch  verschaffen. 

Die  Schrift  ist  in  12  Abschnitte  gegliedert,  von  denen  die  ersten  beiden  einem 
ansprechenden  historischen  Eückblicke  gewidmet  werden.  Die  Hindernisse,  welche  die 
Valutaschwankungen  der  industriellen  Entwicklung  in  den  Weg  legten,  werden  hiebei 
schlagend  nachgewiesen.  „Was  nützt  dem  österreichischen  Industriellen  ein  hoher  Zollsatz 
auf  sein  fertiges  Product,  wenn  Ereignisse,  wie  das  Sinken  des  Silberpreises  in  Amerika, 
einen  Valutasturz  bei  uns  herbeiführen,  der  jeden  Zolltarif,  jede  Preiscalculation  zur 
Unmöglichkeit  macht."  Der  Abschnitt  IV.  legt  die  Preis-,  Qualitäts-  und  Ursprungsver- 
hältnisse in  BetrefT  der  Wolle,  die  in  Oesterreich  zur  Verarbeitung  gelangt,  dar.  Auch 
nach  dieser  Hinsicht  wird  die  Wollindustrie  von  den  Valutaschwankungen  empfindlich 
berührt.  Sodann  wird  der  heutige  Stand  der  Tuch-  und  Modewarenfabrication  in  der 
Erzeugung  von  Herrenbekleidungsstoffen  in  Oesterreich  auseinander  gesetzt,  und  die 
Besprechung  der  inländischen  Productions-  und  Absatzverhältnisse  daran  angeschlossen. 
Der  Hauptplatz  der  österreichischen  Wollindustrie,  Brunn,  befasst  sich  mit  dem  ganzen 
grossen  Gebiete  der  Wollwarenfabrication.  Brunn  ist  nach  Ansicht  des  Verfassers  sogar 
imstande  in  Bezug  auf  die  „Haute -nouveaute^-Fabrication  von  Kammgarnwaren  mit 
Elbeuf  und  Huddersfield  siegreich  in  Wettbewerb  zu  treten.  Jägerndorf  und  Wiese 
decken  den  heimischen  Bedarf  nach  guter  und  billiger  Ware.  Bielitz-Biala  dagegen 
hat  sich  im  Orient  ein  beträchtliches  Absatzgebiet  zu  erringen  verstanden.  Reichenberg 
und  der  Reichenberger  Kammerbezirk  arbeiten  vorwiegend  glatte  Tuche  und  tuchartige 
Stoffe.  Wollfärbige  Palmerstons  werden  hier  so  vollendet  und  preiswert  ausgeführt,  dass 
kein  anderer  Fabriksplatz  der  Monarchie  die  Concurrenz  aufzunehmen  versucht.  Das 
Gleiche  gilt  von  Croises  und  Satins.  Auch  Tricots  behaupten  nach  den  Alpenländern 
einen  guten  Absatz.  Ausserdem  hat  sich  Reichenberg  der  Erzeugung  von  Officiers-Tuchen 
bemächtigt.  Innsbruck  und  Graz  haben  in  den  letzten  Jahren  eine  technisch  vortreff- 
lich ausgestattete  Lodenstoffindustrie  entwickelt. 

Zu  den  interessantesten  Theilen  des  Buches  gehört  wohl  der  Abschnitt  VII  über  Export 
und  Import.  Der  Verfasser  ertheilt  hier  den  österreichischen  Industriellen  aufgrund  sei- 
ner reichen  Erfahrung  eine  Reihe  von  Rathschlägen  über  die  Pflege  des  Exportes,  die 
von  eindringendstem  Sachverständnis  Zeugnis  ablegen  und  in  den  betheiligten  Kreisen 
gewissenhaft  befolgt  werden  sollten.  Einen  grossen  Eifer  hat  der  Verfasser  auch  auf  die 
Ermittelung  der  Lohnverhältnisse    in   den  europäischen  Wollindustriecentren    verwendet. 

*)  Der  Verfasser  theilt  für  die  gesammte  österreichische  Tuch-  und  Modewaren-Fabrication  folgende 
Ziflfern  mit:  Zahl  der  Unternehmungen  423,  Pferdekräfte  9205,  Fabriksarbeiter  aller  Kategorien  28.892, 
Productionsquantum  687.867  Stück,  Productionswert  64,978.560  fl.  (S.  55.) 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  I.  Heft.  13 


194  Literaturbericht. 

Diese  Erhebungen  haben  nach  seiner  Angabe  die  schwierigste  Aufgabe  der  Arbeit 
gebildet.  Ausser  den  Lohnverhältnissen  werden  auch  die  Länge  der  Arbeitszeit,  Bedeutung 
der  Kranken-  und  Unfallversicherung  der  Arbeiter,  Zollsätze  und  Kohlenpreise  vorgeführt. 
Unseres  Erachtens  dürfte  indes  die  auf  die  genannten  Ermittelungen  verwendete  Arbeit 
zu  der  Brauchbarkeit  derselben  in  keinem  befriedigenden  Verhältnisse  stehen.  Reichen 
doch  Lohnsätze,  Zollpositionen  und  Kohlenpreise  noch  lange  nicht  aus,  um  die  Produc- 
tionsbedingungen  eines  Industrieplatzes  vollständig  beurtheilen  zu  können.  Nun  muss 
aber  gegen  die  Lohnerhebungen  noch  der  Vorwurf  erhoben  werden,  dass  sie  ohne  jede 
Eücksichtnahme  auf  die  Arbeitsleistungen  der  Arbeiter  aufgenommen  worden  sind.  Was 
nützt  es  nun  zu  wissen,  dass  der  Jahresverdienst  einer  Weberin  am  mechanischen  Web- 
stuhle in  Troppau-Jägerndorf  250 — 35J  fl.,  in  Louviers  283  fl.,  in  Leeds  483  fl.  beträgt, 
w^enn  nicht  gleichzeitig  erwähnt  wird,  wie  viele  Webstühle  die  Weberin  bedient,  welche 
Leistungsfähigkeit  dem  Webstuhle  zukommt  u.  s.  w.?  Erst  wenn  dargethan  würde,  wie 
viel  an  Arbeitslohn  auf  den  Meter  ungefähr  gleichen  Stoffes  in  den  verschiedenen  Indu- 
striecentren entfällt,  wäre  ein  Vergleich  der  Productionsbedingung  wenigstens  in  Bezug 
auf  den  Arbeitslohn  möglich.  Deshalb  wären  weniger,  aber  brauchbarere  Angaben  am 
Platze  gewesen.  Auch  dem  letzten,  der  Arbeiterfrage  gewidmeten  Abschnitte  des  Werkes, 
kann  nicht  das  Lob  gespendet  werden,  auf  welches  die  übrigen  Theile  einen  Anspruch 
besitzen.  Die  Urtheile  des  Verfassers  werden  von  einem  exclusiven  und  nicht  einmal 
fortgeschrittenen  Arbeitgeberstandpunkte  gefällt. 

In  zollpolitischer  Hinsicht  hält  Trenkler  eine  Herabsetzung  der  Zölle  unter  den 
Tarif  vom  Jahre  1882  für  bedenklich.  Im  Falle  einer  engeren  zollpolitischen  Verbindung 
mit  dem  Deutschen  Eeiche  müsste  die  österreichische  Tuchindustrie  die  Eroberung  des 
süddeutschen  Terrains  versuchen,  um  den  Absatz,  der  durch  vermehrte  Einfuhr  deutscher 
Waren  verloren  gienge,  wieder  zu  gewinnen.  Doch  würde  eine  derartige  Verbindung  die 
österreichische  Industrie  einem  Krankheitsprocesse  aussetzen,  über  dessen  guten  oder 
schlimmen  Ausgang  niemand  ein  begründetes  Urtheil  abgeben  kann. 

Prof.  Dr.  H.  Herkner,  Freiburg  i.  B. 

Meusi  Dr.  Franz  Freih.  t.  Die  Finanzen  Oesterreiclis  Ton  1701—1740. 
Wien  1890,  Manz.  XIV  und  775  S. 

Thor  seil  Otto,  Materialien  zu  einer  Geschichte  der  österreichischen  Staats- 
schulden Yor  dem  18.  Jahrhundert.  Leipziger  Doctor-Dissertation  Greifswalde  1891. 117  S. 

Die  Finanzgeschichte  Oesterreichs  ist  keineswegs  reich  an  Bearbeitungen.  Abge- 
sehen von  einigen  wertvollen  Arbeiten  über  die  Finanzen  des  16.  und  17.  Jahrhunderts 
(Oberleitner,  Gindely,  Hirn)  und  den  neueren  Untersuchungen  über  die  Behördenorga- 
nisation  unter  Maximilian  I.  und  Ferdinand  I.  (Adler,  Eosenthai)  besitzt  die  finanzge- 
schichtliche Literatur  Oesterreichs  nur  die  Bruchstücke  einer  Geschichte  des  österrei- 
chischen Staatscredits-  und  Schuldenwesens  von  Schwabe  v.  Waisenfreund  (1860, 
1866),  die  Beiträge  zur  Geschichte  der  österreichischen  Finanzen  von  Hauer  (1848) 
und  die  materialreichen  aber  wenig  verarbeiteten  Darstellungen  zur  österreichischen 
Finanzgeschichte  von  d'Elvert.  Nur  in  grossen  allgemeinen  Zügen  hat  Beer  (die 
Finanzen  Oesterreichs  1877)  ein  Bild  der  Finanzen  Oesterreichs  im  18.  und  in  der  ersten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  gezeichnet,  während  ausserdem  nur  noch  einige  monogra- 
phische Arbeiten  von  Beckh-Widmanstetter,  Bidermann,  Birk,  Kaltenbäck,  Plencker 
und  Wolf  vorliegen. 

Bei  dieser  Sachlage  ist  die  vorliegende  Arbeit  von  Mensi  nicht  bloss  als  eine 
namhafte  Bereicherung  unseres  Wissens  freudig  zu  begrüssen,  sondern  auch  als  eine 
hervorragende  wissenschaftliche  Leistung  rückhaltslos  anzuerkennen.  Sie  umfasst  in  der 
Hauptsache  die  Österreichischische  Finanzgeschichte  in  den  ersten  40  Jahren  des  18.  Jahr- 
hunderts, greift  aber  zum  Theile  auch  in  die  frühere  Kegierungszeit  Leopold  I  zurück 
und  führt  anderseits  einige  der  wichtigsten  Momente  in  der  Geschichte  der  österrei- 
chischen Finanzverwaltung  bis  zum  Jahre  1749  fort,  in  welchem  Jahre  mit  der  Centra- 
lisation  der  gesammten  politischen  und  Finanzverwaltung  ein  bedeutsamer  Abschnitt 
dieser  Geschichte  erreicht  ist. 


Literaturb  eri  cht .  195 

Eine  der  tristesten  Epochen,  welche  die  an  ungünstigen  Verhältnissen  überreiche 
Geschichte  der  österreichischen  Finanzen  durchzumachen  hatte,  bildet  den  Vorwurf  der 
vorliegenden  Darstellung;  es  gehörte  von  vorneherein  ein  tüchtiges  Maass  von  Eesignation 
dazu,  gerade  eine  solche  Zeit,  welche  so  wenig  Lichtpunkte  darbietet,  zum  Gegenstande 
so  eingehender  Untersuchungen  zu  machen.  Aber  der  Verfasser  war  sich  bewusst,  dass 
gerade  in  dieser  Zeit  der  Schlüssel  zum  Verständnisse  aller  folgenden  Zustände  und  Vor- 
gänge im  österreichischen  Staatshaushalte  liegt.  Die  namenlose  Zerrüttung  der  Finanzen 
zu  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  ist  in  der  That  die  einzige  voUgiltige  Erklärung  für 
die  Erscheinung,  dass  die  österreichischen  Finanzen,  trotz  der  sprichwörtlich  uner- 
schöpflichen Hilfsquellen  des  Kaiserstaates  und  trotz  der  unleugbar  grossen  Fortschritte, 
welche  die  Ordnung  des  Staatshaushaltes  in  der  Theresianischen  Zeit  gemacht  hat,  doch 
nicht  zu  einer  günstigeren  Gesammtlage  am  Ende  des  Jahrhunderts  geführt  werden 
konnten.  So  hat  denn  Mensi  nicht  bloss  die  Finanzgeschichte  jener  Zeit  aufgehellt, 
welcher  er  unmittelbar  seine  Untersuchungen  zugewendet,  sondern  er  hat  zugleich  das 
Verständnis  für  die  folgende  Epoche  wirksam  vorbereitet.  Jede  weitere  Bearbeitung 
der  späteren  österreichischen  FinanzgeschicMe  kann  sich  nun  auf  festem  Boden  bewegen. 

In  gewissem  Sinne  kann  die  kleine  Schrift  von  0.  Thorsch  als  Ergänzung  zu  der 
Arbeit  von  Mensi  gelten,  wenn  sie  gleich  mit  derselben  weder  in  Hinsicht  auf  Reich- 
thum  und  Originalität  der  Naclirichten  noch  auf  die  Durchdringung  des  Stoffes  auf 
eine  Stufe  gestellt  werden  kann.  Während  das  Buch  von  Mensi  durchaus  auf  archiva- 
lischen  Forschungen  beruht  und  in  allen  seinen  Theilen  neue,  bedeutsame  Thatsachen 
vorführt,  ist  die  Schrift  von  Thorsch  nur  eine  Sammlung  von  Materialien  aus  den  bereits 
vorliegenden  Werken  über  österreichische  Finanzgeschichte.  Es  ist  aber  dennoch  eine 
verdienstliche  Arbeit  damit  geleistet,  da  sie  das  vielfach  zerstreute  Material  verständig 
und  übersichtlich  ordnet  und  so  gestattet,  die  bei  Mensi  mehr  nur  angedeuteten  älteren 
Finanzzustände  genauer  zu  beurtheilen  und  damit  auch  den  Untergrund  besser  zu 
erkennen,  auf  welchem  sich  die  von  Mensi  eingehend  geschilderten  Vorgänge  der  Finanz- 
geschichte des  Jahrhunderts  bewegen. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  von  einer  so  tiefeindringenden  Untersuchung  über 
die  Finanzen,  wie  sie  insbesondere  Mensi  angestellt  hat,  reiches  Licht  auch  auf  die  all- 
gemeinen Eeichszustände  und  insbesondere  auf  die  Verwaltung  der  Monarchie  fällt.  Die 
Bedeutung  der  österreichischen  Grossmachtstellung,  die  ganze  Grösse  und  Schwierigkeit 
des  Processes  der  Assimilierung  verschiedener  Völker  und  Gemeinwesen  zu  einem  ein- 
heitlichen Staate,  der  während  der  von  Mensi  geschilderten  Periode  noch  in  vollem  Zuge 
ist,  das  ungeheure  Problem  endlich,  die  vielfach  veralteten  und  unzulänglichen  Formen 
der  inneren  Verwaltung  auszubauen  und  mit  dem  neuen  Inhalt  einer  zielbewussten  und 
machtvollen  Wirtschafte-  und  Culturpolitik  zu  füllen,  —  alles  das  äussert  seinen  Einfluss 
auch  schon  in  dieser  Zeit  auf  das  Finanzwesen;  und  wenn  auch  das  Meiste  hievon  erst 
in  der  glücklichen  und  glorreichen  Eegierungszeit  der  grossen  Kaiserin  zu  einem  ersten , 
erfolgreichen  Abschlüsse  gekommen  ist,  so  darf  doch  auch  nicht  unterschätzt  werden, 
was  die  vorangehende  Zeit  an  Kraft  und  Opfern  für  die  Ziele  aufgewendet  hat. 

Unter  diesem  Gesichtspunkte  gehört  die  Schrift  von  Mensi  zu  den  bedeutendsten 
Werken  über  Oesterreichs  innere  Geschichte  überhaupt  und  wird  gewiss  in  der  frucht- 
barsten Weise  anregend  wirken  für  den  Ausbau  unserer  Verfassungs-  und  Verwaltungs- 
geschichte wie  für  eine  gerechte  Würdigung  der  welthistorischen  Mission  der  Monarchie. 

I'nama. 

Annuario  statistico  Italiauo  1889-90,  Eoma,  Bertero  1891.  Unter  den  zahl- 
reichen, wertvollen  Publicationen,  welche  die  italienische  Statistik  liefert,  nimmt  die 
vorliegende  einen  bedeutenden  Platz  ein.  Luigi  Bodio,  der  Leiter  und  —  man  darf 
wohl  sagen  —  der  Schöpfer  der  modernen,  wissenschaftlichen  Statistik  in  Italien,  hat 
mit  einer  geradezu  erstaunlichen  Energie  es  verstanden,  die  verschiedensten  Gebiete  des 
nationalen  Lebens  der  statistischen  Erfassung  zugänglich  zu  machen  und  die  öffentlichen 
Functionäre  des  Königreichs  in  den  Dienst  derselben  zu  stellen.  Seine  reichen  Kenntnisse 
und    seine    eigene    aussergewöhnliche    Arbeitskraft   haben    das    übrige    gethan,    um    die 

13* 


"1 96  Literaturbcriclit. 

italienische  Statistik  zu  dem  zu  machen,  was  sie  heute  ist,  ihr  einen  der  ersten  Plätze 
unter  den  Statistiken  Europas  zu  verschaffen.  Es  darf  dabei  aber  auch  nicht  verkannt 
werden,  dass  der  Feuereifer  der  neugeeinten  Nation,  sich  auf  dem  Gebiete  der  Wissen- 
schaften den  alten  Staaten  Europas  möglichst  ebenbürtig  an  die  Seite  zu  stellen,  ihm 
eine  aussergewöhnliche  Stütze  bot.  Insbesondere  die  Volkswirtschaftslehre  hat  unter 
Luigi  Cossas  Führung  in  den  letzten  Jahrzehnten  rapide  Fortschritte  gemacht  und  in 
vieler  Hinsicht  der  Statistik  die  Wege  geebnet.  Wie  Cossa  gewissermaassen  der  Schöpfer 
der  italienischen  Nationalökonomie  und  jedenfalls  ihr  eifrigster  Förderer  und  Führer 
geworden  ist,  so  müssen  wir  in  Bodio  den  Meister  der  italienischen  Statistik  verehren. 
—  Das  vorliegende  „Annuario"  bezeichnet  Bodio  in  seinen  „Indici  misuratori  pel 
movimento  economico  in  Italia"  als  Italien  in  Ziffern;  dieses  Wort  trifft  zu,  denn  alle 
statistisch  überhaupt  darstellbaren  Verhältnisse  des  Reiches  und  —  so  weit  möglich  — 
seiner  neuen  Schutzgebiete  sind  uns  compendiös  und  übersichtlich  vor  Augen  geführt. 
Die  Einleitungen  zu  den  einzelnen  Capiteln  bieten  uns  vielfach  erschöpfende  Darstellungen 
der  Erhebungsmethoden,  erläutern  uns  die  Tabellen,  charakterisieren  ihre  Bedeutung  und 
heben  die  wichtigsten  Thatsachen,  welche  sich  aus  den  ersteren  ergeben,  hervor.  Die 
Tabellen  selbst  sind  fast  immer  überaus  eingehend,  weisen  die  Erscheinungen  vielfach 
bis  ins  Detail  nach  und  reassumieren  dann  in  Summen  oder  Durchschnitten  die  Einzel- 
heiten. Von  besonderer  Wichtigkeit  für  die  Erkenntnis  der  Entwickelung  erscheinen  uns 
die  oft  eine  ziemlich  lange  Reihe  vorausgegangener  Jahre  umfassenden  Rückblicke,  die 
zwar  meist  nicht  in  feine  Details  eingehen,  aber  doch  überaus  markant  sind  und  die 
Hauptmomente  fast  in  jedem  Falle  kennzeichnen.  Dies  scheint  uns  nicht  nur  die  Benützung 
des  Annuario  wesentlich  zu  erleichtern,   sondern  auch    methodisch    sehr  richtig    zu    sein. 

Es  kann  nicht  die  Aufgabe  einer  einfachen  Anzeige  sein,  eine  genaue  Analyse  des 
vorliegenden,  grossartigen  Werkes  zu  bieten,  wir  beschränken  uns  daher  darauf,  einzelne 
Momente,  welche  uns  von  besonderem  Interesse  scheinen,  namhaft  zu  machen,  ohne 
hiemit  irgend  den  Anspruch  erheben  zu  wollen,  auch  nur  annähernd  alles  besonders 
Hervorstechende  bezeichnet  zu  haben.  Wir  übergehen  das  die  klimatischen  Verhältnisse 
behandelnde  Capitel,  obwohl  gerade  dieses  zu  den  interessantesten  gehört,  müssen  aoer 
auf  die  eingehende  Behandlung  der  Auswanderungsstatistik  in  dem  Flächenraum  und 
Bevölkerung  behandelnden  Abschnitte  verweisen  und  insbesondere  den  Umstand  hervor- 
heben, dass  zwischen  dauernder  und  zeitweiliger  Auswanderung  unterschieden  und  daneben 
die  Rückkehr  Ausgewanderter  besonders  in  Betracht  gezogen  wird.  Diese  Unterscheidungen 
sind  speciell  für  gewisse  Territorien  von  hoher  Wichtigkeit,  welche  alljährlich  einen  Theil 
ihrer  männlichen  Bevölkerung  an  das  Ausland  abgeben,  um  sie  dann  mit  Ersparnissen 
und  Erfahrungen  versehen  früher  oder  später  wieder  aufzunehmen.  Die  Statistik  der 
Gesundheits-  und  hygienischen  Verhältnisse  kann  in  Italien  mit  besonderer  Aufmerksam- 
keit gehandhabt  werden,  indem  die  Gemeindeärzte  gesetzlich  unter  Strafsanction  zu 
genauen,  periodischen  Mittheilungen  über  Todesursachen  u.  s.  w.  verhalten  sind.  Demnach 
umfasst  auch  dieses  wichtige  Untersuchungsobject  einen  ziemlich  grossen  Raum,  der  aber 
mit  überaus  interessanten  Nachrichten,  so  über  Nahrungs'  und  Wohnverhältnisse  der 
Bevölkerung,  ausgefüllt  ist.  Es  sei  uns  gestattet,  eine  erfreuliche  Thatsache  hervorzuheben, 
nämlich  die  sehr  erhebliche  und  stetige  Abnahme  der  Todesfälle  an  Pellagra,  jener 
furchtbaren  Seuche  der  Armut,  besonders  in  den  grössern  Orten.  Während  nämlich  im 
Jahre  1881  auf  10.000  Einwohner  4*8  Todesfälle  an  dieser  Krankheit  entfielen,  traten  im 
Jahre  1880  deren  nur  1-4  ein.  Dieses  Moment  scheint  uns  auch  von  socialpolitischem 
Interesse;  immerhin  überschritt  aber  die  Gesammtsumme  der  Todesfälle  an  dieser  Seuche 
für  das  ganze  Gebiet  des  Königreichs  noch  die  Zahl  von  3000. 

Die  ünterrichtsstatistik  ergibt  eine  bedeutende  Abnahme  der  Analphabeten  und 
gestattet  insbesondere  höchst  interessante  Einblicke  in  das  Fachschulwesen  des  Landes 
und  in  die  eigenthümlichen  Verhältnisse,  unter  denen  die  italienischen  Universitäten 
bestehen.  Gerade  der  letztere  Umstand  zeigt  uns  die  ausserordentliche  Wertschätzung, 
welche  man  in  Italien  für  den  wissenschaftlichen  Unterricht  hegt,  indem  nicht  einmal 
die  ungünstigsten  materiellen  Verhältnisse,  geringe   Frequenz  u.  s.  w.  selbst  Verhältnis- 


Literaturbericht.  197 

massig  kleine  Städte,  wie  Camerino  (Macerata),  Urbino  u.  s.  w.  abhalten,  kostspielige 
Universitäten  fortbestehen  zu  lassen. 

Wir  übergehen  nun  eine  "Reihe  von  Capiteln,  um  noch  einige  Momente  in  Betreff 
der  Statistik  des  Ackerbaues,  der  Industrie,  der  Löhne,  Preise  und  des  auswärtigen 
Handels  hervorzuheben.  In  Betreff  der  Agrarstatistik  sind  besonders  die  einleitenden 
Bemerkungen  von  hohem  methodologischen  und  thatsächlichen  Interesse;  wir  betonen 
insbesondere  die  Darlegungen  über  die  Art  der  Erhebung  und  die  bezüglichen  Anordnungen 
der  Eegierung,  andererseits  die  grossen  Fortschritte  in  der  Verbesserung,  hauptsächlich 
aber  in  der  Entsumpfung  des  Bodens,  in  dei  Anlage  von  Bewässerungseinrichtungen  und 
der  Eestriction  und  Anpflanzung  von  Waldungen.  Die  Fülle  der  Daten  würde  zu  ein- 
gehenderen Betrachtungen  verlocken,  wir  begnügen  uns  aber,  in  letzter  Reihe  nur  noch 
auf  die  bedeutende  Erhöhung  des  Viehstandes,  insbesondere  der  Rinderzahl  hinzuweisen, 
auf  ein  Moment  also,  welches  für  die  an  Italien  grenzenden  Staaten  von  besonderer 
Bedeutung  sein  dürfte;  wohl  selbstverständlich  ist  es,  dass  Hand  und  Hand  damit  eine 
erhebliche  Ausdehnung  des  künstlichen  Wiesenbaues  geht.  —  Die  Industriestatistik,  der 
bekanntlich  in  vielen  Staaten  ganz  besondere  Schwierigkeiten  im  Wege  stehen,  wird  in 
den  italienischen  ,, Annali"  monographisch  ausserordentlich  gefördert;  es  kann  daher  wohl 
nicht  Wunder  nehmen,  wenn  sie  auch  im  Annuario  eingehend  und  im  wesentlicnen 
einheitlich  behandelt  wird.  Wir  können  hier  nicht  umhin,  auf  die  bedeutende  Ausdehnung 
der  elektrischen  Beleuchtungsanlagen  zu  verweisen,  deren  es  im  Jahre  1889  bereits  in 
69  Gemeinden  gab  und  die  mehr  als  56.000  Glüh-  und  Bogenlampen  verwendeten. 
Hervorragendes  Interesse  scheint  uns  auch  die  Seidenindustrie  zu  bieten,  deren  Lage  in 
manchen  Theilen  Italiens  für  die  untern  Classen  der  ackerbauenden  Bevölkerung  von 
höchster  Wichtigkeit  ist,  weil  sie  fast  allein  ihnen  bares  Geld  in  die  Hände  bringt  und 
ihnen  die  Möglichkeit  bietet,  wenigstens  etwas  über  das  unvermeidlich  nothwendige 
hinaus  geniessen  zu  können.  Die  Erzeugung  der  Cocons  hat  seit  dem  Auftreten  der 
„Atrofia"  rasch  abgenommen,  in  den  letzten  Jahren  sich  aber  wieder  u.  zw.  über  das 
frühere  Ausmaass  gehoben;  im  grossen  und  ganzen  hat  sich  auch  die  Handelsbilanz  für 
Seide  gebessert,  so  dass  im  Jahre  1889  der  Wert  der  Einfuhr  von  dem  der  Ausfuhr  um 
239  Millionen  Lire  übertroffen  wurde. 

Die  Lohnstatistik  gibt  uns  allgemeine  Stundenlöhne  als  allgemeine  Jahresdurch- 
schnitte u.  zw.  so  wie  dieselben  von  erwachsenen  männlichen  Arbeitern  in  verschiedenen 
Kategorien  in  sieben  Fabriken  verschiedener  Art  bezogen  werden;  diesen  Löhnen  gegenüber 
sind  die  Durchschnittspreise  je  eines  metrischen  Centners  Weizen  gestellt  und  auf  Grund 
dieser  Parallele  die  Zahlen  der  Stunden  berechnet,  welche  ein  Arbeiter  dieser  sieben 
Fabriken  im  Durchschnitte  beschäftiget  sein  rauss,  um  eine  solche  Quantität  Weizen 
kaufen  zu  können;  diese  Stundenzahl  sank  vom  Jahre  1871—1889  u.  zw.  seit  dem  Jahre 
1877  ziemlich  stetig  von  183  auf  95. 

Bei  den  Detailuntersuchungen,  die  sich  auf  eine  Reihe  von  Fabriken  erstrecken, 
finden  wir  durchschnittliche  Tageslöhne  in  Betracht  gezogen.  Wenn  die  erstere  Art  der 
Darstellung  methodologisch  von  Interesse  ist  und  den  Stand  der  realen  Löhne  erkennen 
lassen  will,  finden  wir  in  der  zweiten  nicht  das,  was  uns  als  Ideal  einer  Lohnstatistik 
erschiene;  die  ausserordentlichen  Schwierigkeiten,  welche  sich  diesem  Ideale  in  den  Weg 
stellen,  mögen  auch  hier  ausschlaggebend  gewesen  sein  und  es  mit  sich  gebracht  haben, 
dass    man    sich    mit  dem  relativ  besten  begnügte. 

Die  Preisstatistik  wird  uns  in  zwei  Abschnitten  geboten,  wovon  der  eine  die  Preise 
verschiedener  Waren  nach  Maassgabe  der  Zollstatistik  und  ihre  Gestaltung  im  Laufe 
meist  einer  elfjährigen  Periode  bietet,  der  andere  aber  die  Preisgestaltung  der  Nahrungs- 
mittel auf  den  wichtigsten  Märkten  vorwiegend  im  Anschlüsse  an  das  Bolletino  setti- 
maniale  dei  prezzi  di  alcuni  dei  principali  prodotti  agrari  e  del  pane  darlegt;  die  allgemeinen 
Bemerkungen  zum  letztem  Abschnitte  reassumieren  mit  grosser  üebersichtlichkeit  den 
Inhalt  dor  Tabellen,   deren  letxte  einen  Rückblick  auf  neunzehn  Jahre  gewährt. 

In  Betreff  der  Statistik  des  auswärtigen  Handels  sei  insbesondere  auf  die  Gestaltung 
desselben,  insoweit    er  Frankreich    und  Deutschland   betraf,  verwiesen;    hat   der   letztere 


igQ  Literaturbericht. 

ungemein  zugenommen,  so  finden  wir  bei  der  Ausfuhr  nach  Frankreich  eine  ganz  erhebliche 
Abnahme,  welche  scharf  seit  dem  Jahre  1888  auftritt  und  deren  Grund  wohl  auf  der 
Hand  liegt. 

Die  Statistik  der  Keichs-,  Provinzial-  und  Communalfinanzen  ist  höchst  eingehend; 
um  aber  nicht  allzu  weitläufig  zu  werden,  wollen  wir  es  unterlassen,  auch  hier  einzelne 
Momente  hervorzuheben;  es  mögen  die  vorliegenden  Streiflichter  genügen,  um  das  vor- 
liegende „Annuario"  einigermaassen  zu  charakterisieren;  obwohl  dasselbe  nur  eine  Einzel- 
nummer aus  einer  fortlaufenden  Publication  darstellt,  kann  es  doch  auch  als  ein  einheit- 
liches Werk  betrachtet  werden. 

Eine  überaus  klare  Zusammenfassung  seines  Hauptinhaltes,  insoweit  derselbe  für 
die  ökonomische  Bewegung  bezeichnend  ist,  bietet  uns  die  nun  schon  in  zweiter, 
vermehrter  Auflage  unter  der  Aegide  der  k.  Akademie  der  Lincei  (Jgg.  CCLXXXVI) 
erschienenen  Schrift  B odios:  Di  alcuni  indici  misuratori  del  movimento  economico  in 
Italia",  Roma  1891,  durch  welche  Luigi  Bodio  die  gegenwärtigen,  wirtschaftlichen 
Zustände  seines  Vaterlandes  vielfach  unter  Heranziehung  der  Verhältnisse  anderer  Staaten 
in  einer  Jedermann  verständlichen  und  doch  so  weit  irgend  möglich,  erschöpfenden  und 
streng  wissenschaftlichen  Weise  meisterlich  darstellt.  Die  Einleitung  zu  dieser  Arbeit 
scheint  uns  vor  allem  beherzigenswert;  das  Schlusscapitel,  welches  die  jährliche  Ersparung 
und  den  Grad  des  Privatreichthums  in  Italien  im  Verhältnisse  zu  jenem  Frankreichs  und 
Englands  darlegt  (S.  118  ff.\  ist  von  hohem,  allgemeinem  Interesse.  Obwohl  diese  Schrift 
zunächst  sich  an  das  Annuario  anlehnt,  überschreitet  sie  doch  wieder  an  manchen  Punkten 
dessen  Eahmen  und  erlangt  dadurch  eine  selbstständige  Bedeutung  und  den  Charakter 
einer  originellen,  wissenschaftlichen  Leistung  von  ungewöhnlich  hohem  Werte. 

Wir  müssten  zu  vieles  wiedergeben,  wollten  wir  B odios  Werk  genauer  unter- 
suchen und  insbesondere  die  zahlreichen  für  den  theoretischen  Statistiker  wichtigen 
Ausführungen  hervorheben;  es  sei  uns  daher  gestattet,  uns  auf  eine  warme  Empfehlung 
der  „Indici  misuratori"  Jedermann  gegenüber,  der  sich  für  wirtschaftliche  und  sociale 
Probleme  interessiert,  zu  beschränken.  Schliesslich  sei  nur  noch  bemerkt,  dass  ein  Ver- 
gleich zwischen  den  im  „Annuario"'  einerseits  und  den  grossen  statistischen Publicationen 
anderer  Staaten  andererseits  beobachteten  wissenschaftlichen  Forschungs-  und  technischen 
Darstellungsmethoden,  der  zweifellos  höchstes  Interesse  bieten  würde,  durch  die  ^^Indici 
misuratori ^^  vielfach  erleichtert  und  in  hohem  Grade  fruchtbar  gemacht  wird. 

Schullern. 

Die  theoretische  Nationalökonomie  Italiens  in  nenester  Zeit.  Von  Dr. 
Hermann  von  Schullern- Sehr attenhofen,  Privatdocent  an  der  k.  k.  Universität  Innsbruck. 
Leipzig.  Duncker  &  Humblot.  1891.  IX.  und  214  S.  In  dieser  Schrift  unternimmt  es 
der  Verfasser  Mittheilung  zu  machen  über  die  neueste  Entwicklung  der  theoretischen 
Nationalökonomie  in  Italien.  Seine  Absicht  zielt  jedoch  nicht  darauf  ab,  dieselbe  kritisch 
zu  verarbeiten,  zu  widerlegen,  was  ihm  widerlegenswert  erscheint,  und  zu  stützen,  was 
er  für  eine  Bereicherung  der  Wissenschaft  hält;  sein  Plan  ist  vielmehr,  gleichsam  vom 
Standpunkte  der  Literatur-  und  Dogmengeschichte  aus,  zu  berichten  über  das,  was  sich 
aus  irgend  einem  Grunde  als  bedeutsam  darstellt,  sei  es,  weil  es  originell  ist,  sei  es, 
weil  es  für  eine  Beurtheilung  der  Stellung  der  neueren  italienischen  Theoretiker  zu  den 
schwebenden  Fragen  oder  aus  sonst  einem  Motive  Belang  und  Interesse  besitzt.  In 
diesem  Sinne  muss  daher  auch  der  Wert  seiner  Arbeit  geprüft  werden:  ist  die  Aufgabe 
selbst  eine  berechtigte,  hinlänglich  belangreiche  und  mit  welchem  Erfolg  ist  sie  gelöst 
worden?  Was  den  ersten  Punkt  anbelangt,  so  ist  dafür  der  Umstand  wohl  entscheidend, 
dass  die  neuere  theoretische  Nationalökonomie  Italiens  sehr  reich  und  in  lebendiger 
Entwicklung  begriifen,  aber  kaum  genügend  allgemein  bekannt  ist.  Man  hat  in  Italien  — 
wenn  es  gestattet  ist,  trotz  der  grossen  Verschiedenheiten  in  der  Individualität  der  einzelnen 
Forscher  von  allgemeinen  oder  doch  vorherrschenden  Charakterzügen  zu  sprechen  —  die 
überkommenen  Lehren  thunlichst  zu  verwerten  gesacht  und  sie  nicht  geringschätzig  über 
Bord  geworfen,  man  hat  sich  aber  auch  den  in  der  neuesten  Zeit  zu  Tage  getretenen 
Forschungen  und  grundlegenden  Ideen    durchaus  nicht  unzugänglich  erwiesen.     Auf  den 


Literaturbericht,  199 

gewissenhaftesten  Forscherfieiss,  auf  eine  genaue  Kenntnis  der  Literatur  der  einzelnen 
liänder  gestützt  haben  die  italienischen  Gelehrten  mit  Erfolg  an  der  Conservierung  des 
Guten  und  der  Assimilierung  des  Neuen  gearbeitet  und  ,dazu  Manches  aus  Eigenem 
gespendet.  Ihre  Schriften  haben  dabei  für  uns  ein  doppeltes  Interesse,  weil  in  ihnen 
vielfach  der  Einfluss  der  deutschen  und  österreichischen  Literatur  zu  Tage  tritt.  Die 
Aufgabe  daher,  auch  bei  uns  für  eine  erhöhte  und  verallgemeinerte  Kenntnis  der  italie- 
nischen Lehre  zu  wirken,  ist  daher  sicherlich  als  eine  glücklich  gewählte  zu  bezeichnen, 
die  Wissenschaft  der  politischen  Oekonomie  ist  und  soll  eine  durchaus  internationale  sein. 
Der  Verfasser  schildert  kurz  und  übersichtlich  den  Aufschwung  der  italienischen  National- 
ökonomie Italiens  in  der  Gegenwart  und  gedenkt  dabei  mit  Eecht  nachdrücklich  der 
massgebenden  Einflussnahme  L.  Cossas  bei  dieser  erfreulichen  Wendung.  Im  Übrigen 
verfolgt  Dr.  von  Schullern  sein  Ziel  nicht  durch  Einzeldarstellungen  von  Persönlichkeiten 
oder  Werken,  sondern  stellt  geordnet  nach  sachlichen  Gesichtspunkten,  nach  den  ver- 
schiedenen Materien,  wie  sie  die  traditionelle  Eintheilung  der  Lehrbücher  und  Leitfaden 
ergibt,  das  zusammen,  was  er  in  der  einschlägigen  neuesten  Literatur  an  Bemerkens- 
wertem findet.  Es  war  dies  wohl  der  einzige  Weg,  um  eine  Übersicht  des  Gebotenen  zu 
ermöglichen  und  den  Zusammenhang  bei  den  einzelnen  Mittheilungen  zu  wahren,  ohne 
in  Weitschweifigkeit  und  Wiederholungen  zu  gerathen.  Die  Darstellung  ist,  wie  schon 
am  Eingange  angedeutet,  eine  vorwiegend  referierende  mit  Auseinandersetzungen  über 
das  wechselseitige  Verhältnis  der  einzelnen  Lehren;  nur  hin  und  wieder  tritt  auch  eine 
sachlich-kritische  Bemerkung  auf.  Durch  diese  Anordnung  kann  das  Werk  Schullerns 
neben  seinem  eigentlichen  Hauptzweck  auch  dem  weiteren  dienen,  einen  raschen  Ein- 
blick in  den  Stand  der  Lehre  und  Forschung  in  Italien  über  einen  bestimmten  Punkt 
der  Theorie  zu  gewähren  und  damit  einen  nützlichen  Behelf  bei  wissenschaftlichen 
Arbeiten  abzugeben.  Bei  seiner  Berichterstattung  hat  sich  der  Verfasser  grosser  Kürze 
befleissigt,  was  zweifellos  die  Last  der  Arbeit  nur  erhöht  hat,  denn,  wenn  irgendwo,  so 
gilt  es  in  der  Wissenschaft,  dass  die  Mühe  nicht  mit  der  Länge,  sondern  mit  der  Kürze 
der  Darstellung  wächst.  Vielleicht,  dass  manchmal  eine  Lehre,  wenn  man  sie  so  auf 
ihren  präcisesten,  einfachsten  Ausdruck  reduciert,  minder  bedeutsam  und  charakteristisch 
erscheint,  als  sie  in  ihrem  ursprünglichen  Gewände  ist,  ausgestattet  mit  allen  Argumenten 
und  pointiert  durch  alle  Nuancen  —  ein  Mangel,  dem  aber  kaum  anders  abzuhelfen 
wäre  als  unter  Beeinträchtigung  der  grossen  Vortheile  der  Kürze  und  Übersichtlichkeit. 
Vielleicht  hat  auch  der  Verfasser  hin  und  wieder  eingehender  über  die  Behandlung 
gewisser  terminologischer  und  Schulfragen  referiert,  als  für  die  Beurtheilung  der  Strö- 
mungen in  der  wahrhaft  modernen  Nationalökonomie  erforderlich.  Dies  sind  aber  nur 
Kleinigkeiten,  bei  denen  Verschiedenheiten  der  Auffassung  wohl  möglich  sind  und  die 
jedenfalls  den  Wert  der  Schrift  nach  keiner  Richtung  hin  wesentlich  berühren  können, 
der  durch  ihre  Gründlichkeit  und  Objectivität  hinlänglich  gewährleistet  ist.  Der  Ver- 
fasser hat  sich  offenbar  mit  Liebe  an  seinen  Stoff  gemacht  und  ein  sehr  nützliches  Buch 
geschaffen,  welches  eben  so  wohl  willkommen  sein  muss  Demjenigen  der  sich  über  die 
neueste  Nationalökonomie  Italiens  überhaupt  nur  informieren  will,  als  Solchen,  die  auf 
das  Studium  der  Originalquellen  ausgehen  und  hierbei  den  Wert  eines  verlässlichen 
Wegweisers  zu  schätzen  Gelegenheit  haben  werden.  Dr.  von  Schullern  stellt  die  Weiter- 
führung seines  Unternehmens  —  das  übrigens  auch  jetzt  schon  einen  gedrängten  Anhang 
über  Wirtschaftsgeschichte  und  Statistik  enthält  —  durch  eine  Behandlung  der  Pflege 
auch  der  übrigen  Theile  der  politischen  Ökonomie  in  Italien  in  Aussicht;  möge  er  dies 
glücklich  zu  Stande  bringen  und  damit  eine  den  Lesern  seiner  gegenwärtigen  Schrift 
gewiss  sehr  wertvolle  Ergänzung  derselben  bieten.  Prof.  Victor  Mataja. 


ZEITSCHEIFTEN-ÜBERSIGHT. 

(Wir  theilen  an  dieser  Stelle,  vom  Januar  1892  angefangen,  den  Inhalt  jener  Fachzeitschriften  mit, 
welche  mit  uns  im  Austauschverhältnisse  stehen.     Die  Red.) 


Jahrbücher  für  Nutioiialdkoiiomie  und  htatistik,  hgg.  v.  Dr.  J.  Conrad.,  Dr.  L.  Elster,  Dr.  E. 
Loeuing  und  Dr.   W.   Lexis:   III.  f.  III.  B.  I.  Heft. 

Paarche;  Entwicklung  der  britischen  Landwirtschaft  unter  dem  Drucke  der  ausländischen  Con- 
currenz.  —  Below;  Die  Bedeutung  der  Gilden  für  die  Entstehung  der  deutschen  Städteverfassung.  National- 
ökonomische Gesetzgebung.  —  Loeningx  Die  Verwaltung  der  Stadt  Berlin  in  den  Jahren  1880—1888.  Miscellen, 
Recensionen. 

Vierteljahresschrift  für  Yolksvrirtschaft  Politik  und  Cultnrgeschichte,  hgg  v.  Karl  Braun, 
XXIX.  Jgg.  I.  1.  Heft. 

Held:  Studium  über  das  sogenannte  Staatsabstractum.  —  N.  S. :  Der  russische  Wechselcurs  im 
letzten  Jahrzehnt.  —  Haustnnnn  :  Das  Abzahlungsgeschäft  und  die  neuesten  Vorschläge  zu  seiner  Regelung,  III. 
Volkswirtschaftl.  Correspondenz,  Bücherschau. 

Zeitschrift  lür  das  Privat-  und  öffentliche  Recht  der  Gogennart,  hgg.  v.  Dr.  G.  S.  Grünhnt. 
XIX.  Bd.  I.  H.  Wien,  Holder,  1891. 

Meisseis:  Zur  Lehre  vom  Verzicht.  —  Kahane:  Die  Folgen  eines  ungerechten  Arrestes.  —  Frattckel : 
Ein  Vorschlag  für  die  Neugestaltung  des  Civilprocesses  in  Oesterreich. 

Journal  dos  Economistes.  R^dacteur  en  chef:  M.  G.  de  Molinari.  Librairie  Guillaumin  et  Cie., 
rue  Richelieu,  1-1.  Paris.  51  annee.  —  36  fr.  par  an  pour  la  France,  38  fr.  pour  les  pays  compris  dans 
rUnion  postale,  Piix  du  numero  :  3  fr.  50. 

Sommaire  du  numero  de  janvier  1892;  Le  march^  financier  de  1891.  —  Les  marines  marchandes  et 
la  protection.  —  Le  nouveau  projet  de  loi  sur  l'arbitrage  industriel  facultatif.  —  Revue  des  principales 
publications  de  l'etranger.  —  M.  Goschen  et  la  Banque  d'Angleterre.  —  Les  t^legraphes  en  Angleterre.  — 
Bulletin.  —  Societe  d'öconomie  politique  (r^union  du  5  janvier  1892).  --  Comptes  rendus.  —  Notices 
bibliographiques.  —  Chronique  economique. 

Revue  d'Ecanomie  Politique.  Herausgeber  :  P.  Cauwes  (Paris),  Ch.  Gide  (Montpellier),  E.  Schwiedland 
(Wien),  E.  Villey  (CaSn).  —  Monatlich  ein  Heft  im  Umfange  von  7  bis  8  Bogen  in  gr.  8";  Preis  des  Jahr- 
ganges 21   fr.  Paris,  L.  Larose  &  Forcel,  ^dit. 

Jännerheft  1892:  E.  Mahaimx  Emile  de  Laveleye.  —  Paul  Cauwes:  Les  nouvelles  compagnies  de 
colonisation  privilegiees.  —  A.  v.  Miaskowshi:  Les  origines  de  l'^conomie  politique.  —  Ch.  Favre:  La 
politique  sociale  en  Belgique.  —  V.  Jeans:  Histoire  et  effets  de  la  l^gislation  ouvriere  en  Angleterre.  — 
Ch.   Gide;  Chronique.  —  E.    Villey:  L(5gislation.  —  Bulletin  bibliographique,  etc. 

Annais  uf  the  American  Acadeni)'  of  pol.  and  soc.  science.  Vol.  II.  No.  4,  January  189:^.  Editor: 
E.    y.   James,  Assoc.  editors :  R.  P.  Falizner,   J.  H.  Kohinson. 

Dabney :  The  demand  for  the  public  regulation  of  industries.  —  Prichard:  The  study  of  municipal 
government.  -  Lewis:  Polit.  Organization  of  a  modern  municipality.  —  Lord;  International  arbitration.  — 
Huffcut;  Jurisprudence  in  American  Universities.  —  Rowe:  Instruction  in  Fiench  Universities.  —  Discussion, 
Proceedings  of  the  american  Academy.  —  Personal  notes,  Book  reviews  and  notes,  Miscellany. 

The  quarterly   Journal   of  Economics,  Harvard  University  Boston.  Vol.  VI.  No.  2,  January  1892. 

Macvane:  Capital  and  Interest.  —  Wright:  The  evolution  of  wage  statistics.  —  Biigram:  Comments 
on  the  „positive  theory  of  Capital".  —  Hill;  The  Prussian  income  tax.  —  Shaw:  Social  and  economic 
legislation  of  the  states  in  1891.  —  Notes  and  Memoranda. 

Giornale  degli  Economistl.  Direzione:  A.  de  Viti  de  Marco,  U.  Mazzola,  M  Patäaleoni,  A.  Zorli. 
Gennajo  1892.  Roma. 

X.  La  situazione  del  mercato  monetario«  —  Pareto:  Di  iin  errore  di  Cournot  nel  trattare  l'economi 
politica  colla  matematica.  —  La  Specie  e  le  razze.  —  De   Viti  de  Marco:  Nuova  politica  doganale.  —  Nota, 
Cronaca,  Corrispondenza. 


DER  GEBEAUCH  DES  AUSDRUCKES  „GESETZ" 
IN  DER  NATIONALÖKONOMIE. 


VON 


DR.  JAMES  BONAR. 
(Originalbeitract,  aus  dem  englischen  übersetzt  von  d«  f.  probst.) 


Vor  kurzem  noch  war  das  Wort  „Gesetz"  (law)  bei  englischen 
ökonomischen  Schriftstellern  willkürlich  für  beinahe  jede  Gleichförmigkeit 
im  Gebrauche.  Man  sprach  von  einem  „Gesetze  des  Angebotes  und  der 
Nachfrage"  so  gut  wie  von  einem  „Gesetze  des  laissez  faire"  etc.;  die 
„Gesetze",  welche  der  Nationalökonom  aufdeckte,  theilten  ihren  Namen 
mit  solchen,  die  er  selbst  vorzeichnete. 

Jetzt  sind  wir  vorsichtiger,  und  mit  Rücksicht  auf  die  Angriffe  der 
historischen  Nationalökonomen  (wie  Professor  Cunningham)  einerseits  und 
der  sogenannten  „praktischen"  Nationalökonomen  (wie  des  verstorbenen 
Professors  Bonamy  Price)  andererseits,  thun  wir  gut  daran,  unsere  eigenen 
Gedanken  über  den  Sinn,  in  welchem  wir  das  Wort  „Gesetz"  in  der  National- 
ökonomie zu  gebrauchen  gedenken,  zu  fixieren.  Auf  den  folgenden  Seiten 
hat  der  Verfasser  versucht,  dieses  Ziel  seinerseits  zu  verfolgen,  und 
sich  bemüht,  so  wenig  dogmatisch  zu  sein,  als  sich  mit  thunlichster 
Knappheit  verträgt. 

Der  älteste  und  gebräuchlichste  Sinn  von  „Gesetz"  im  allgemeinen 
ist  der  des  ausgesprochenen  Willens  eines  Gesetzgebers.  Vielleicht  haben  auch 
physische  „Gesetze"  ihren  Namen  der  Idee  verdankt,  dass  sie  den  Willen 
des  Weltschöpfers  darstellen.  Ohne  im  geringsten  über  diese  Anschauung 
zu  grübeln,  wird  der  Forscher  durch  sie  doch  nicht  der  Mühe  überhoben, 
die  gegenseitige  Beziehung  dieser  verschiedenen  Gesetze  in  der  Welt  zu 
ergründen.  Einige  Schriftsteller  (z.  B.  Sir  G.  C.  Lewis)  wollen  diesen 
Ausdruck  überhaupt  nur  im  juristischen  Sinne  gebrauchen  lassen,  was  aber 
dem  Spiachgebrauch  zuwiderläuft:  heutzutage  erweckt  das  Wort  „Gesetz" 
eher  die  Vorstellung  des  Laboratoriums  als  des  Gerichtshofes.  Wir  denken 
dabei  sofort  an  ein  Naturgesetz  in  dem  Sinne  eines  Gesetzes  der  Natur- 
wissenschaft, und  infolge  des  grossen  Fortschrittes  der  Naturwissenschaft  geht 
dies   so  weit,  dass  das  Publicum  beinahe    die  »Eifersucht   der  Naturforscher 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  11.  Heft.  14 


202  Bonar. 

theilt  und  dem  Bestreben  der  letzteren,  alle  „Gesetze"  für  den  Bereich  ihrer 
Wissenschaft  in  Beschlag  zu  nehmen,  nur  einen  geringen  Widerstand  ent- 
gegensetzt. 

Zwischen  diesen  Anwendungen  des  Wortes  „Gesetz"  besteht  ein  ver- 
bindendes Band.  Ein  Gesetz  ist  1.  eine  Allgemeinheit  und  nicht  eine 
Feststellung  (eventuell  eine  Vorschrift)  betreffs  einer  einzeln  en  Thatsache;  es 
ist  2.  eine  Feststellung  (bezw.  eine  Vorschrift)  betreffs  Bewegung  oder  Ver- 
fahren, nicht  einfach  eine  Beschreibung  von  Eigenschaften^).  Die  Fest- 
stellung, dass  die  drei  Winkel  eines  Dreiecks  zusammen  gleich  zwei  rechten 
Winkeln  sind,  und  die  Feststellung,  dass  die  Gefühle  der  Menschen  von 
ihren  Wünschen  und  ihrem  Wollen  verschieden  sind,  sind  eher  Beschrei- 
bungen und  Analysen  als  Gesetze.  Ein  Gesetz  fällt  unter  Schopenhauers  zu- 
reichenden Grund  des  Werdens,  im  Unterschied  von  dem  des  Seins.  (Vierfache 
Wurzel  Cap.  VI.  §  20).  Ohne  jede  metaphj^sische  Analyse  können  wir  3.  sagen, 
dass  in  der  Wissenschaft  ein  Gesetz  die  Feststellung  einer  Beziehung  von 
Ursache  und  Wirkung  ist,  und  zwar  nicht  von  allen  solchen  Ursachen, 
sondern  lediglich  4.  von  den  primären  und  allgemeinen  Causalitäts- 
beziehungen.  Dieser  letztere  ist  vielleicht  der  strittigste  Punkt,  da  die  zuletzt 
gemachten  Behauptungen  dazu  führen,  dass  der  Unterschied  zwischen  Gesetz 
und  Nicht-Gesetz  schliesslich  auf  eine  Frage  des  Grades  hinausläuft.  Die 
primären  und  allgemeinen  Beziehungen,  von  welchen  eine  immer  wachsende 
Zahl  von  secundären  und  accessorischen  Beziehungen  deduciert  werden 
kann,  werden  hier  als  Gesetze  bezeichnet.  Die  secundären  sind  Special- 
talle  der  primären:  sie  sind  Untersätze;  die  Frage  ist  nun,  ob  sie  trotzdem 
Gesetze  genannt  werden  sollen,  da  sie  ja  doch  immerhin  allgemein  und  an 
ihrem  Platze  giltig  sind. 

Wir  wollen  nun  zusehen,  wie  sich  diese  Sache  speciell  bei  der  National- 
ökonomie stellt.  Wirtschaftliche  Gesetze  sind  keine  Vorschriften.  Der 
Name  Gesetz  im  Sinne  von  Vorschrift  (z.  B.  das  Gesetz  des  laissez  faire) 
ist  aus  der  Nationalökonomie  am  besten  auszuschliessen,  da  man  sonst 
neben  dem  wissenschaftlichen  Gesetz,  wie  dies  oben  geschildert  ist,  das 
juristische  oder  statutarische  Gesetz  mit  einem  Ausdruck  bezeichnen  würde. 
Diese  beiden  Anwendungen  zuzulassen,  würde  der  Unklarheit  Vorschub  leisten. 

Wirtschaftliche  Gesetze  hängen  ab  von  Tendenzen  der  menschlichen 
Natur,  von  welchen  sich  primäre  Folgen  für  Dinge  herleiten,  die  mit 
dem  materiellen  Wohl  in  menschlichen  Gesellschaften  zusammenhängen, 
und  die  Feststellungen  dieser  Folgen  sind  wirtschaftliche  Gesetze. 

Es  wird  behauptet,  dass  sich  deren  zum  mindesten  zwei  auffinden 
lassen,  welche  genug  weittragend  und  ergiebig  für  die  Ableitung  von  Folge- 
rungen sind,  um  den  Namen  von  Gesetzen  zu  verdienen.  Sie  sind  so  evident, 
dass  sie  als  kindische  Gemeinplätze  erscheinen  könnten,-)  aber  so  weittragend 


')  Siehe  Rüinelin,  Reden  und  Aufsätze. 

2)  Vgl.  Jevons  Fortn.  Rev.  Nov.  1876.   „The  Future  of  Political  Economy",    und 
J.  N.  Keynes  „Log.  Method  of  Pol.  Ec."  Cap.  IX,  294—5. 


Der  Gebrauch  des  Ausdruckes  „Gesetz"  in  der  Nationalükonouiie.  203 

und  ergiebig,  dass  in  gewissem  Sinne  jede  wirtschaftliche  Untersuchung 
einen  Versuch  bildet,  dieselben  in  der  einen  oder  anderen  ihrer  Verhüllunsren 
zu  entdecken.  Das  eine  Gesetz  bezieht  sich  auf  die  Zwecke  der  menschlichen 
Handlungen,  das  andere  auf  die  Wahl  der  Mittel.  Das  erste  Gesetz  geht 
dahin,  dass  in  demselben  Augenblicke,  in  welchem  ein  Zweck  erreicht  ist, 
schon  wieder  ein  anderer  angestrebt  wird,  oder,  um  es  in  der  Sprache  der 
Hedoniker  auszudrücken :  in  dem  Momente,  in  dem  ein  Bedürfnis  befriedigt 
ist,  taucht  bereits  ein  anderes  auf.  Der  Wunsch  eines  menschlichen  Wesens 
nach  einer  gewissen  Classe  materieller  Güter  hat  eine  bestimmte  Grenze, 
sein  Wunsch  nach  solchen  Gütern  im  ganzen  jedoch  hat  keine  solche 
Grenze.  Dies  ist  das  Gesetz  der  Ausdehnung  der  Bedürfnisse. i) 

Das  zweite  besagt,  dass  die  Menschen  darnach  streben,  jene  Bahn  ein- 
zuschlagen, welche  ihnen  die  grössten  Erfolge  in  materiellen  Gütern  mit 
den  geringsten  Opfern  zusichert.  Von  zwei  Wegen  des  Gütererwerbs,  die 
sie  vor  sich  sehen,  werden  sie  lieber  den  einschlagen  wollen,  welcher  ihnen 
mehr,  als  den,  welcher  ihnen  w^eniger  verschafft.  Dies  ist  das  Gesetz  der 
Wirtschaftlichkeit  (economy).  Es  ist  nicht  ganz  analog  der  ethischen 
Tautologie,  dass  der  Mensch  von  zwei  Gütern  das  grössere  vorzieht,  denn 
wir  haben  in  dem  Urtheil  der  Gesellschaft,  welcher  das  Individuum  an- 
gehört, ein  Criterium,  um  zu  erkennen,  was  als  objectiv  ökonomisch  be- 
trachtet wird  und  was  nicht,  und  es  kann  deshalb  nicht  vorgeworfen  werden, 
dass  wir  den  ökonomischen  Weg  nur  aus  dem  Umstände  erkennen,  dass 
das  Individuum  ihn  vorzieht. 

Diese  zwei  Gesetze  sind  zw^eifellos  in  gewissem  Sinne  selbst  secundär, 
da  sie  von  zwei  Principien  der  menschlichen  Natur  abhängen,  welche  eine 
über  die  Sphäre  der  Nationalökonomie  hinausreichende  Anwendung  haben. 
Aber  innerhalb  dieser  Sphäre  scheinen  sie  primär  zu  sein;  sie  sind  primär 
im  Verhältnis  zu  allen  anderen  wirtschaftlichen  Principien. 

Diese  Gesetze  sind  keine  aprioristischen,  sondern  vielmehr  Ana- 
lysen der  menschlichen  Erfahrung  oder,  wenn  man  will.  Generalisierungen  aus 
der  Erfahrung;  aber  sie  sind,  ebenso  wie  die  Associationsgesetze  in  der  Psycho- 
logie, so  charakteristisch  für  den  Menschen,  wie  er  uns  aus  Geschichte  und 
Beobachtung  bekannt  ist,  dass,  wenn  man  sie  auf  irgend  eine  Gesellschaft 
von  Menschen  in  der  Vergangenheit,  Gegenwart  oder  Zukunft  nicht  anwenden 
könnte,  wir  das  Gefühl  hätten,  dass  diese  Gesellschaft  mit  Unrecht  eine 
menschliche  genannt  werde;  wir  würden  das  Gefühl  haben,  dass  wir  es  gar 
nicht  mit  einer  Gruppe  von  Menschen,  sondern  entweder  mit  Gottheiten 
oder  mit  niediigeren  Geschöpfen  zu  thun  hätten.  So  können  wir  auf  Grund 
deductiver  Schlüsse  behaupten,  dass  es  keine  menschliche  Gesellschaft 
geben  kann,  die  ausschliesslich  aus  Asceten  besteht.  Die  Existenz  einer 
Shakergemeinde  z.  B.  ist  kein  Gegenargument  gegen  das  Princip,  denn 
Shakergemeinden  sind  vorsätzlich  gebildete  Vereinigungen  von  Ausnahmen: 

J)  Prof  Marshall  hat  den  Ausdruck  „Ausdehnung  der  Thätigkeiten"  vorge- 
zogen. Letzteren  müssen  aber  doch  immer  Wünsche  resp.  Bedürfnisse  als  Bewegungs- 
grund und  Sporn  zugrunde  liegen. 

14* 


204  Bonar, 

—  der  gemeine  Mann,  „der  Mann  von  der  Strasse''  ist  weder  jetzt  ein  Ascet, 
noch  war  er  es  vor  3000  Jahren,  er  ist  es  weder  hier  noch  im  Orient, 
wenn  ihn  nicht  die  Noth  zum  Darben  zwingt,  oder  wenn  nicht  die  Abspannung 
eines  erschlaffenden  Klimas  in  Verbindung  mit  der  Unkenntnis  der  Mittel, 
es  sich  behaglich  zu  machen,  dahin  wirkt,  seine  Begehrlichkeit  zu  erstickend) 
Wenn  der  Historiker  in  den  Geist  einer  Epoche  eindringen  und  mehr  als 
ein  blosser  Chronikant  äusserer  Geschehnisse  sein  will,  muss  er  an  sein 
Werk  zum  mindesten  mit  einer  vorgefassten  Idee  herantreten,  dass  er 
nämlich,  wenn  er  sich  mit  den  Aegyptern  unter  den  Pharaonen,  mit  den 
Juden  unter  David  oder  den  Griechen  zur  Zeit  des  Perikles  befasst,  es 
mit  Menschen  zu  thun  hat,  welche  dieselben  Leidenschaften  haben  wie  wir 
selbst  —  welche  lachen,  wenn  sie  gekitzelt  werden,  und  bluten,  wenn  sie 
verwundet  werden,  und  sich  rächen,  wenn  ihnen  Unbill  widerfährt.  Andern- 
falls würde  unsere  Geschichte  nicht  eine  Geschichte  der  menschlichen 
Species  sein.  Sie  könnte  ein  Bericht  über  die  Entwicklung  der  Species 
Mensch  aus  einer  Species,  die  nicht  Mensch  war,  sein,  und  vielleicht  ein 
treuer  Bericht^);  menschliche  Geschichte  aber  wäre  sie  nicht.  Wenn  es  eine 
continuirliche  menschliche  Geschichte  gibt,  so  muss  es  auch  eine  Grundlage 
für  die  Identität  nicht  minder  geben  als  für  die  Verschiedenheit.  Und  gestützt 
auf  eben  diesen  identischen  Grundzug  können  wir  behaupten,  nicht  dass  es 
einen  „wirtschaftlichen  Menschen"  gibt,  sondern  dass  der  Mensch  ein  wirt- 
schaftliches Wesen  ist,  so  gut  als  er  ein  sociales  oder  politisches 
Wesen  ist.  Die  zwei  ersten  Principien  oder  Gesetze  seines  wirtschaftlichen 
Handelns  scheinen  mir  aber  die  zwei  oben  beschriebenen  zu  sein.  Es  wird 
gestattet  sein,  darüber  etwas  eingehender  zu  handeln. 

Der  Ausdruck  „Princip"  (principle)  ist  in  der  englischen  National- 
ökonomie älter  als  der  Ausdruck  „Gesetz"  (law).  Bei  den  Physiokraten 
wird  „Gesetz"  sehr  oft  gebraucht.  Dupont  de  Nemours  z.  B.  sagt  in  der 
Vorrede  zu  Quesnay^s  Maximes  generales  du  gouvernement  economique,  dass 
diese  Maximen  „die  natürlichen  und  unwandelbaren  Hauptgesetze  enthalten, 
die  zu  der  Ordnung  passen,  welche  offenbar  für  die  zur  Gesellschaft  ver- 
einigten Menschen  die  vortheilhafteste  ist".  (Daire  S.  78,  vgl.  364.)  Bei 
Nemours  und  Quesnay  deutet  der  Ausdruck  „Gesetz"  auf  eine  Vorschrift 
für  eine  richtige  Eegierung^);  alle  guten  menschlichen  Gesetze  sind  für  sie, 
gleich  den  physischen  Gesetzen,  nur  declaratorische  Aussprüche  über  das, 
was  bereits  die  Natur  bestimmt  hat  (Daire  S.  390);  —  bei  Turgot  jedoch 
(der  mit  den  Physiokraten  in  Verbindung  steht,  wenn  er  nicht  direct  zu 
ihnen    gehört)   finden   wir    eine   Anwendung    des   Ausdruckes,    die    keinem 


'^)  So  wenig  als  der  Mensch  ein  leidenschaftloses  Wesen  ist,  wenn  auch  einzelne 
Individuen  es  nahezu  sein  mögen,  und  wenn  auch  Umstände  eintreten  können,  welche 
seine  Leidenschalt  des  Antriebes  oder  der  Aeusserung  berauben. 

2)  Vgl.  aber  die  Artikel  über  „Hiatus"  etc.  im  Giornale  degli  Economisti,  Jhrg.  1891 
(Juni  bis  September). 

3)  So  bedient  sich  Nemours  (Daire  S.  375)  des  Ausdruckes  „die  natürlichen 
Wege  der  Vertheilung",  wo  spätere  Schriftsteller  „Gesetze"  gesagt  hätten. 


Der  Gebrauch  des  Ausdruckes  „Gesetz"  in  der  Nationalökonomie.  205 

Zweifel  Kaum  lässt.  Er  schreibt  (Eloge  de  Goiirnay,  am  Anfange):  „Um 
die  ursprünglichen  und  einzigen,  auf  die  Natur  selbst  gegründeten  Gesetze 
zu    erkennen,    durch    welche    sich    alle   im  Verkehr   vorkommenden    Werte 

das  Gleichgewicht  halten  u.  s.  w dazu  bedarf  es    des  Auges    eines 

Philosophen  und  eines  Staatsmannes." 

Wenn  wir  aber  zu  unseren  eigenen  Vorfahren  in  der  Nationalökonomie 
kommen,  können  wir  lange  in  Adam  Smith's  Schriften  blättern,  ohne 
darauf  zu  stossen,  dass  er  das  Wort  „Gesetz"  in  demselben  Sinne 
wie  seine  Nachfolger  gebraucht  hätte.  Er  spricht  von  den  „Umständen" 
und  von  den  „Principien",  welche  den  Verlauf  eines  oder  des  anderen 
Vorganges^)  bestimmen  —  und  von  den  „Regeln,  welche  die  Menschen 
natürlicherweise  beobachten "2);  und  wir  lesen  die  Ausdrücke  „fortwährend 
gravitierend",  „mit  beständiger  Tendenz",  „natürliche  Richtschnur",  „passt 
sich  natürlicherweise  an",  „vermehrt  sich  natürlicherweise"^)  u.  s.  w.  Malthus, 
mehr  als  sein  Meister  an  Naturforschung  gewöhnt,  spricht,  wenn  er  auch 
gelegentlich  „Principien"  sagt,  („Das  gi'osse  Princip"  des  Angebotes  und  der 
Nachfrage,  Essay  S.  34G)  auch  von  „Gesetzen". 

Ich  meine  nicht,  dass  Malthus,  wenn  er  von  dem  Gesetze  der  Bevölkerung 
spricht,  nothwendigerweise  über  Smith  hinausgeht,  da  er  es  hier  mit  einem 
gewissermaassen  physischen  Gesetze  zu  thun  hat;  sicherlich  aber  geht  er 
über  ihn  hinaus,  wenn  er  in  seiner  Nationalökonomie  von  den  „Gesetzen" 
spricht,  „welche  den  Gewinn  vom  Capital,  die  Geldzinsen,  die  Grundrente, 
den  Wert  der  Edelmetalle  in  verschiedenen  Ländern  u.  s.  w.  regeln" 
(1820,  S.  13);  ebenso  in  der  Abhandlung  über  die  Rente  (1815,  S.  22): 
„Die  Gesetze,  welche  das  Steigen  und  Fallen  der  Renten  beherrschen";  und 
wenn  er  sie  bezeichnet  als  „Gesetze,  welche  die  Bewegungen  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  regeln"  mit  Bezug  auf  Gegenstände,  mit  welchen  wir 
„täglich  und  stündlich  uns  befassen",  die  jedoch  „fortwährend  durch  mensch- 
lichen Einfluss  modificiert  werden".  Es  bedarf  kaum  der  Erwähnung,  dass 
Ricardo,  James  Mill  und  Mac  Culloch  kein  Bedenken  trugen,  den  fraglichen 
Ausdruck  zu  gebrauchen.-^)  Ricardo  spricht  in  seiner  ersten  Flugschrift 
(Bullion  1810,  S.  3  der  dritten  Ausgabe)  von  „Gold  und  Silber,  welche 
denselben  Gesetzen  gehorchen  wie  jede  andere  Ware".  Er  scheint  in  der 
That  der  erste  englische  Oekonom  gewesen  zu  sein,  welcher  das  Wort 
„Gesetze"  kühn  für  „Principien"  gebraucht  hat.  Er  beginnt  sein  Buch  über 
die  „Principien  der  Nationalökonomie  und  Besteuerung"  mit  der  Bezeichnung 


')  Z.  B.  der  Arbeitstheilung  I.  II.  6.  2.  (Mac  Culloch  ed.) 

2)  Er  gebraucht  diese  Ausdrücke  von  dem,  was  heutzutage  einige  die  „Preisgesetze" 
nennen  würden.  I.  IV.  13.  1. 

3)  I.  VIII.  36.  2. 

4)  Professor  Edgewoi-th  erinnert  mich  an  Burkes  Gebrauch  des  Wortes  in  „Thoughts 
and  Details  on  Scarcity"  1795:  „die  Arbeit  muss  allen  Gesetzen  und  Principien  des 
Handels  unterworfen  sein";  und  hinwiederum:  „durchbrechen  die  Gesetze  des  Verkehrs, 
welche  dio  Gesetze  der  Natur  und  folglich  die  Gottes  sind."  Nun  war  aber  Burke  kein 
Meister,  sondern  nur  ein  Jünger  in  der  Wirtschaftslehre,  und,  wie  Jünger  oft  thun, 
srienor  er  weiter  als  sein  Meister. 


206  Bonar. 

dieser  Principien  als  „Gesetze,  welche  die  Yertheilung  regeln"  (Vorrede, 
1817).  Erst  in  neuerer  Zeit  sind  wir,  und  zwar  mit  Kecht,  wieder  miss- 
trauisch  in  diesem  Punkte  geworden.  Selbst  Jevons  gebraucht  Ausdrücke  wie 
„Gesetz  des  Angebotes  und  der  Nachfrage"  (z.  B.  Pol.  Econ..  Vorrede 
zur  zweiten  Auflage,  S.  XXIX),  „Gesetze  des  menschlichen  Bedürfnisses" 
(Cap.  III.)  „Gesetz  des  Wandels  der  Nützlichkeit"  (ebdas.)  und  „Gesetz 
der  Gleichheit  (indifference)"  (Cap.  IV.);  und  wir  lesen:  (Cap.  IV.): 
„Die  ökonomischen  Gesetze,  welche  die  Führung  breiter  Massen  von  Indi- 
viduen darstellen,  werden  niemals  genau  die  Führung  jedes  Einzelindividuums 
repräsentieren";  —  „Durchschnittsgesetze"  könnten  nur  dann  auf  die  Indi- 
viduen angewendet  werden,  wenn  sie  „aus  der  Führung  der  Individuen  ab- 
geleitet wären",  die  alle  in  ihren  Begehrungen  und  in  ihren  Kräften  zur 
Erfüllung  derselben  übereinstimmen  (ebdas.). 

Ich  denke,  man  wird  finden,  dass  die  Oekonomen  jetzt  mit  dem  Ge- 
brauche des  Wortes  „Gesetz"  vorsichtiger  sind  als  Jevons  in  den  obcitierten 
Stellen.  Wir  sind  thatsächlich  zu  der  Erkenntnis  gelangt,  dass  nur  die  der 
menschlichen  Beeinflussung  am  wenigsten  unterliegenden  Principien  den 
Namen  von  Gesetzen  verdienen.  Beansprucht  kann  dieser  Name  werden  für 
das  Princip  der  Ausdehnung  der  Wünsche  nach  den  Gütern  und  für  das 
Princip  der  Erreichung  des  grössten  Erfolges  mit  dem  geringsten  Aufwände; 
und  ich  zweifle  sehr,  ob  wir  ihn  vielen  anderen  ertheilen  sollten,  ohne 
mindestens  einen  gewissen  Vorbehalt  daran  zu  knüpfen. 

Nehmen  wir  einmal  einen  Text  zur  Hand  wie  den  des  nun  schon  alten, 
wenn  nicht  veralteten  John  Stuart  Mill.  Wir  finden  da  zwei  Classen  von 
Gesetzen  —  die  Gesetze  der  Production,  welche  beinahe  vollkommen 
physischer  Natur  sind,  darunter  zum  Beispiel  das  Gesetz  der  abnehmenden 
Fruchtbarkeit  des  Bodens  und  das  Malthus'sche  Gesetz  selbst,  —  und  die 
Gesetze  der  Vertheilung.  welche  als  auf  menschliche  Einführung  zurück- 
gehend, aber  doch  nicht  ganz  dem  menschlichen  Willen  unterliegend 
beschrieben  werden,  z.  B.  die  Gesetze  des  Tausches,  der  Löhne,  des  Gewinnes. 
Das,  was  man  das  beständige  Element  bei  den  letzteren  (die  allein 
streng  ökonomisch  sind)  nennen  kann,  beruht  lediglich  auf  der  Wirkung  der 
beiden  oberwähnten  obersten  Principien.  Das  Problem  des  Nationaiökonomen 
besteht  zum  grossen  Theil  darin,  die  Art  und  Weise  genauer  zu  bezeichnen, 
in  welcher  jene  Principien  in  den  einzelnen  Phasen  der  menschlichen  Gesell- 
schaft zum  Durchbruch  gelangen,  wobei  natürlich  die  gegenwärtige  Phase 
für  uns  die  wichtigste  ist. 

Zum  Beispiel  das  biologische  Gesetz  (denn  ein  solches  ist  es  in 
Wirklichkeit,  und  kein  wirtschaftliches),  dass  alle  Lebewesen,  mit  Einschluss 
der  Menschen,  die  Tendenz  zeigen,  ihre  Zahl  bis  zur  Grenze  der  Existenz- 
möglichkeit zu  vermehren,  gewinnt  für  die  Nationalökonomie  ein  Interesse 
einfach  vermöge  der  engen  Beziehung  in  der  es  in  der  gegenwärtigen  mensch- 
lichen Gesellschaft  zu  jenen  zwei  obersten  Gesetzen  der  Wirtschaft  steht. 
Die  Ausdehnung  der  menschlichen  Wünsche  bewirkt,  dass  das  Begehren  nach 
Befriedigung  neuer  Wünsche  eine  Grenze  oder  Schranke  für  die  alten  Wünsche 


Der  Gebrauch  des  Ausdruckes  ^Gesetz"  in  der  Nationalökonomie.  207 

wird.  Wo  viele  concurrierende  Wünsche  vorhanden  sind,  wird  der  Sättigungs- 
punkt hei  jedem  einzelnen  von  ihnen  früher  erreicht  werden.  Illustriert 
wird  dies  durch  die  Wirkung  des  Steigens  des  durchschnittlichen  Comforts 
auf  das  Alter  der  Verheiratung  und  das  Wachsthum  der  Bevölkerung. 
Andrerseits  zeigt  sich  auch  das  Princip  der  Wirtschaftlichkeit  in  einigen 
Stadien  des  Anwachsens  der  Bevölkerung  wirksam.  Es  ist  möglich  (wie 
Malthus  selbst  dachte),  dass  das  biologische  Bevölkerungsgesetz  in  der 
Kichtung  positive  Dienste  geleistet  hat,  dass  es  einen  Antrieb  zu  stricterer 
Wirtschaftlichkeit  in  der  Anpassung  der  Mittel  an  die  Zwecke  gab.  Aehnliches 
tritt  ferner  zu  Tage  in  dem  Uebergange  vom  Nomadenthum  zum  Ackerbau, 
in  dem  Uebergange  zur  Wechselwirtschaft  und  weiter  in  allen  Einrichtangen, 
welche  eine  Vermehrung  der  ünterhaltsmittel  ohne  eine  entsprechend  starke 
Vermehrung  des  Arbeitsaufwandes  zum  Erfolge  haben.  Schliesslich  zeigt  es 
sich  in  dem  Bestreben,  lieber  ein  niedrigeres  Sterbepercent  als  ein  hohes 
Geburtenpercent  zu  haben  und  niclit  überflüssiger  Weise  Kinder  nur  zu 
dem  Zwecke  in  die  Welt  zu  setzen,  dass  sie  dann  vor  erreichter  Mann- 
barkeit wieder  sterben. 

Das  ist  ein  Beispiel,  wo  wirtschaftliche  Gesetze  mit  einem  biologischen 
zusammen  wirken.  Wir  wollen  nun  auf  gut  Glück  einige  Beispiele  heraus- 
greifen, wo  dieselben  in  secundären  wirtschaftlichen  Principien  wirken. 

1.  Wir  können  das  Princip  zum  Beispiel  nehmen,  dass  alle  Menschen 
gewohnheitsmässig  dahin  neigen,  die  Zukunft  im  Vergleich  mit  der  Gegen- 
wart zu  unterschätzen.  Dies  ist  kein  oberstes  Princip  von  gleichem  Rang 
mit  den  zwei  erwähnten;  denn  (wie  Dr.  Böhm-Bawerk  selbst  zugibt)  es  gilt 
nicht  für  alle  Gruppen  von  Menschen,  und  das  allgemein  oder  beständig 
Wahre  an  ihm  ist.  dass  es  sowohl  von  dem  Gesetze  der  Wirtschaftlichkeit 
als  von  dem  der  Ausdehnung  der  Wünsche  gedeckt  wird.  Denn  aus  den 
besagten  Gesetzen  geht  hervor,  dass  die  EiTeichung  irgend  eines  Zweckes 
(sei  es  nun  ein  naher  oder  ein  entfernter)  für  die  Verfolgung  eines  anderen 
Raum  schafft.  Wenn  die  näheren  Zwecke  gesichert  erscheinen,  ist  für 
entferntere  Platz. 

Andrerseits  ist  es  ein  beinahe  überall  realisiertes  allgemeines  Princip; 
und  es  kommt  dem  Range  oder,  wenn  man  will,  dem  Umfange  der  zwei 
ersten  Gesetze  so  nahe,  dass  es,  wie  ich  meine,  nicht  unbillig  ist,  ihm 
ebenfalls  den  Namen  eines  Gesetzes  zu  geben. 

2.  Das  Princip,  dass  die  Menschen  dahin  neigen,  die  Güter  gemäss 
ihrem  „  Grenznutzen "  zu  schätzen,  hat  ebenfalls  einen  Anspruch  auf  diesen 
Titel.  Doch  ist  es  nicht  primär.  Es  leitet  sich  von  dem  Gesetze  der 
Ausdehnung  der  Bedürfnisse  nicht  unter  allen  Umständen  und  für  alle 
Güter,  sondern  unter  der  Bedingung  ab,  dass  die  fraglichen  Zwecke  (oder 
zu  befriedigenden  Bedürfnisse)  realisiert  werden  a)  stufenweise  und 
h)  dass  die  Mittel  der  Realisierung,  die  Güter,  welche  das  Ziel  des  Wunsches 
ausmachen,  in  entsprechende  Abstufungen  theilbar  sind.  Es  gibt  Fälle 
(untheilbarer  Güter),  in  welchen  wir  nach  dem  totalen  und  nicht  nach  dem 
Grenznutzen    urtheilen.     Wir    haben    demnach    hier    mit    Gemeinsamkeit 


208  Bonar. 

(generality),  aber  nicht  mit  Allgemeinheit  (universality)  zu  thun.  Ueberdies 
haben  wir  hier  einen  Maasstab  für  Wirkungen,  während  uns  das  Gesetz 
der  Ausdehnung  der  Bedürfnisse  eine  Ursache  angibt,  und  zwar  eine, 
die  allgemeinhin  auf  alle  menschlichen  Gresellschaften  Anwendung  findet. 
Das  Princip  des  Grenznutzens  gilt  weiter  von  gewissen  Güterarten  zu 
allen  Zeiten  und  an  allen  Orten  und  bei  allen  Völkern.  Unter  seinen 
eigenen  Bedingungen  ist  es  vollkommen  gemeingiltig,  wo  immer  es  Menschen 
von  gleichen  Trieben  wie  die  unseren  und  eine  Welt  von  verschiedenen 
Güterarten  gibt,  so  wie  wir  sie  in  allen  Perioden  der  Geschichte  jederzeit 
gekannt  haben. 

Einige  historische  Oekonomen  sprechen  so,  als  ob  kein  auf  das 
menschliche  Leben  bezügliches  Princip  ein  Gesetz  sein  könnte,  weil,  wie  sie 
sagen,  die  Menschen  im  Gegensatze  zur  physischen  Natur  einem  beständigen 
Wechsel  unterliegen,  und,  im  Gegensatze  zur  Gravitation  und  chemischen 
Verbindung,  die  auf  den  Menschen  bezüglichen  Principien  in  der  Ver- 
gangenheit eine  Zeit  gehabt  haben,  in  welcher  sie  nicht  existierten  (als  es 
keine  Menschen  gab),  und  ein  solche  auch  in  der  Zukunft  haben  können. 
Dies  beweist  zu  viel.  Es  würde  daraus  folgen,  dass,  weil  die  Welt  nicht 
immer  Leben  enthielt,  die  auf  lebende  Wesen  bezüglichen  Principien  keine 
Gesetze  seien,  und  dass  es  daher  keine  „Gesetze"  der  Physiologie  und 
Biologie  gebe.  Wenn  man  aber  annehmen  müsste,  dass  Gesetze  die  Dinge, 
welche  sie  beherrschen,  früher  schaffen,  dann  giengen  wir  aller  Gesetze 
verlustig,  etwa  mit  Ausnahme  jener  Urprincipien,  auf  welche  die  astro- 
nomische „Nebularhypothese"  zurückleitet.  Mit  mehr  Berechtigung  kann 
man  argumentieren,  dass  Principien,  wie  das  biologische,  deswegen  nicht 
tiefer  an  Eang  stehen,  weil  sie  sich  auf  Gegenstände  beziehen,  die  in  eine 
spätere  Zeit  fallen  als  andere,  auf  welchen  die  späteren  aufgebaut  sind. 
Das  Haus  geniesst  ein  grösseres  Ansehen  als  die  Grundmauer,  obwohl  diese 
zuerst  gelegt  wird.  Das,  wozu  die  Entwicklung  uns  führt,  ist  siclierlich 
nichts  zufälligeres  als  das,  womit  die  Entwickelung  beginnt.  Sonst  müssten 
wir  auf  die  Idee  der  Gleichförmigkeit  der  Natur  verzichten  und  aller  mensch- 
lichen Wissenschaft  ein  Ende  machen. 

Zugleich  möge  man  beachten,  dass  Gesetze  von  der  Art  des  Gravita- 
tionsgesetzes vorzugsweise  Gesetze  sind,  weil  ihre  Realisierung  überall 
sichtbar  ist  und  offenbar  nie  gehemmt  oder  durchkreuzt  wird.  Ein  wirtschaft- 
liches Princip,  welches  wir  selten  in  Wirksamkeit  sehen,  dürfen  wir  nicht  als 
Gesetz  definieren;  sonst  würden  wir  unsere  Leser  verleiten  (da  sie  das  Wort 
„Gesetz"  mit  allgemeinen  und  einleuchtenden  Naturgesetzen  associiren) 
unsere  Principien  für  mehr  zu  halten,  als  sie  in  der  That  sind.  Professor 
Marshall  möchte  ein  sociales  Gesetz  definieren  als  „eine  Feststellung,  dass 
unter  gewissen  Bedingungen  bei  einer  socialen  Gruppe  ein  gewisser  Verlauf 
einer  Handlung  erwartet  werden  kann."  Wir  würden  dann  jenen  Namen  selbst 
der  Feststellung  geben  müssen,  dass,  wenn  der  Geschäftsgang  lebhaft  ist,  die 
Angehörigen  der  Trade  unions  striken,  um  sich  höherer  Löhne  zu  versichern. 
In  der  Praxis  aber  gibt  Professor  Marshall  dem  Worte  eine  weniger  weite 


Der  Gebrauch  des  Ausdruckes  „Gesetz"  in  der  Nationalökonomie.  209 

Anwendung.  Sein  Gesetz  der  Substitution  (dass  die  minder  kostspielige 
Productionsmethode  an  die  Stelle  der  kostspieligeren  gesetzt  wird)  ist  ein 
Fall  von  dem,  was  oben  das  Gesetz  der  Wirtschaftlichkeit  genannt  worden 
ist.  Professor  Marshall  betrachtet  es  als  einen  Specialfall  des  Gesetzes  des 
Ueberlebens  des  Tüchtigeren.  Jedenfalls  jedoch  würde  sich  dieses  Princip 
von  dem  Darwin'schen  Gesetze  insoferc  unterscheiden,  als  die  Annahme 
oder  Ablehnung  des  mehr  oder  minder  wirtschaftlichen  Verfahrens  (zuerst 
wenigstens)  immer  ein  überlegter  und  bewusster  Act  ist. 

Es  ist  auch  zu  beachten,  dass  die  primären  Principien  keine  speciellen 
Gesetze  der  Production,  Yertheilung  oder  Consumption  sind;  sie  haben 
auf  alle  drei  Bezug,  aber  sie  stehen  über  der  besagten  Unterscheidung. 
So  hängen  z.  B.  die  Gesetze  der  Gütervertheilung  sowohl  in  barbarischen 
als  in  civilisierten  Ländern  von  Voraussetzungen  ab,  die  nicht  wirtschaft- 
licher Natur  sind.  Wenn  die  Voraussetzungen  gegeben  sind, 
seien  sie  nun  CoUectiveigenthum,  Nicht-Eigenthum  oder  Privateigenthum,  so 
wird  der  Einfluss  der  Avirtschaftlichen  Gesetze  oder  vielmehr  des  Gesetzes  der 
Wirtschaftlichkeit  dem  gemäss  hervortreten^);  in  unserem  eigenen  Kegime 
wird  jener  Einfluss  hervortreten  in  den  Principien  des  Tausches,  in  den 
Principien  des  Angebotes  und  der  Nachfrage,  der  Preise,  der  Kosten  und 
der  Kente.  Wie  Mill  sagte  —  wenn  Leute  ein  Regime  adoptieren,  nehmen 
sie  die  Consequenzen  davon  auf  sich;  bei  dem  gegebenen  Regime  des  Privat- 
eigenthumes  müssen  gewisse  Formen  der  Wirtschaft  sich  ergeben,  ob  die 
Leute  sie  nun  wünschen  oder  nicht.  Es  gibt  kein  besseres  Beispiel  hiefür 
als  das  des  Geldes.  Gresham's  Gesetz,  wonach  gutes  Geld  vom  schlechten 
vertrieben  wird,  ist  so  alt  als  Aristophanes,  und  es  ist  einfach  das  Princip 
des  grössten  Erfolges  (oder  der  entsprechendsten  Zweckerfüllung)  mit  den 
geringsten  Kosten,  welches  sich  unter  speciellen  Bedingungen  von  Eigenthum 
und  Tausch  äussert. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  empfiehlt  es  sich  nicht,  wirtschaftliche 
Gesetze  so  enge  zu  formulieren,  dass  sie  sich  nur  auf  den  Geldverkehr 
und  auf  Geldpreise  beziehen. 2)  Wenn  man  sagt,  dass  der  Geldpreis  in  einem 
so  weiten  Sinne  verstanden  werden  könne,  dass  er  auch  noch  Fälle  des 
Tauschhandels  deckt,  so  ist  zu  erwidern,  dass  der  Ausdruck,  wann  möglich, 
sogar  noch  mehr  als  die  Fälle  des  Tauschhandels  decken  sollte.  Wenn  wir 
nicht  Bagehot  folgen  und  unsere  Nationalökonomie  auf  die  moderne  Gross- 
industrie beschränken  wollen,  müssen  unsere  Definitionen  ebenso  allgemein 
sein  als  unsere  Theorie  es  sein  will. 

Das  Streben,  die  Allgemeinheit  unserer  Definition  von  Gesetz  zu 
bewahren,  ist  nicht  unverträglich  mit  der  gebotenen  Beachtung  der  hypo- 
thetischen Natur  des  wirtschaftlichen  Gesetzes.  Es  liegt  (wie  „Probstein'' 
in  , Wie  es  Euch  gefällt'  sagt)  eine  grosse  Kraft  in  einem  „Wenn'';  und 
wenn  wir  sagen,  dass  ein  Gesetz  eine  Tendenz  constatiert,  so  sagen  wir,  es 

1)  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  bedürfte  die  berühmte  Unterscheidung  von 
Rodbertus  zwischen  wirtschaftlichen  und  historischen  Kategorien   einer  Beschränkung. 

2)  Professor  Marshall,  Principles  of  Political  Economy,  2.  Aufl.  I.  VI.  83. 


210  Bonar. 

constatiere  ein  „Wenn".  Dasselbe  ist  aber  nicht  allein  von  wirtschaftlichen, 
sondern  von  allen  Gesetzen  in  jeder  Wissenschaft  wahr.  Sie  alle  sind  Con- 
statierungen,  dass  unter  gewissen  Bedingungen  ein  gewisser  Verlauf 
der  Ereignisse  erwartet  werden  kann.  Wir  können  sogar  sagen ^),  dass  alle 
allgemeinen  Wahrheiten  nothwendige  Wahrheiten  sind;  ihre  Bedingungen 
bilden  einen  Theil  von  ihnen;  und,  mit  den  Bedingungen,  ist  eine  nicht  mehr 
noth wendig  als  eine  andere.'  Ich  habe  zugegeben,  dass  eine  Wahrheit  primärer 
sein  kann  als  eine  andre,  was  bedeutet,  dass  einige  allgemeine  Principieu 
die  Bedingungen,  von  welchen  andre  abhängen,  in  sich  schliessen  können; 
und  ich  habe  meiner  Ansicht  dahin  Ausdruck  gegeben,  dass  die  derivativen, 
da  sie  weniger  häufig  realisiert  und  vermuthlich  öfter  verdunkelt  und  durch- 
kreuzt werden,  besser  mit  einem  anderen  Namen  als  dem  eines  „  Gesetzes  ** 
zu  belegen  seien.  Es  versteht  sich  von  selbst  a  fortiori,  dass  ein  versuchs- 
weise angenommenes  allgemeines  Princip,  über  welches  der  Forscher  selbst 
noch  nicht  ganz  sicher  ist,  nicht  ein  Gesetz  genannt  werden  darf. 

Zum  Schlüsse  mag  die  Vorstellung  erwähnt  werden,  dass  in  der  Volks- 
wirtschaft jede  Nation  und  jede  Epoche  ihre  eigenen  Gesetze  haben  kann 
Marx  behauptet  etwas  Aehnliches  speciell  beim  Bevölkerungsgesetze;  „jeder 
historische  Productionsmodus  hat  sein  eigenes  Bevölkerungsgesetz"  (Cap.  I. 
656),  und  einige  deutsche  Nationalökonomen  sprechen  so,  als  ob  dies  bei 
allen  wirtschaftlichen  Gesetzen  gälte.  Ihr  Raisonnement  scheint  im  Grande 
folgendes  zu  sein:  Jeder  Fall,  den  man  nimmt,  ist  ein  concreter  und  kann, 
wie  andere  historische  Thatsachen,  nur  einmal  vorkommen.  Was  sich  einmal 
ereignet,  ist  verschieden  von  allem,  was  sich  wieder  ereignen  kann.  Ein 
neuer  Vorfall  ist  niemals  mit  einem  früheren  identisch,  und  so  scheint  man 
zu  schliessen,  dass  die  concreten  Verhältnisse  eines  Volkes  in  einer  Zeit 
immer  von  seinen  concreten  Verhältnissen  in  einer  anderen  Zeit  verschieden 
sein  werden.  Dieses  Argument  aber  beweist  zu  viel;  es  würde  beweisen, 
dass  man  nicht  bloss  an  Stelle  allgemeiner  wirtschaftlicher  Gesetze  für  eine 
specielle  Nation  und  Zeit  giltige  Gleichförmigkeiten,  sondern  an  Stelle  dieser 
letzteren  bloss  für  specielle  Districte,  ja  sogar  nur  für  einzelne  Individuen 
giltige  Gesetze  setzen  müsste,  und  zwar  aus  dem  Grunde,  weil  jeder  Mensch 
und  seine  Umgebung  von  allen  anderen  irgendwann  bestehenden  verschieden 
ist.  Wenn  aber  demnach  jeder  Mensch  ein  „Gesetz  für  sich  selbst"  sein 
müsste,  würden  wir  aller  Lehre  aus  der  Geschichte,  sowohl  moralischen 
als  politischen  Inhaltes,  ein  Ende  machen  und  den  wahren  Sinn  des 
Gesetzes  zerstören. 

Denn  die  obige  Vorstellung  von  Gesetz,  welche  auf  einer  Uebertreibung 
der  relativen  Giltigkeit  der  Wahrheit  und  der  Verschiedenheit  der  socialen 
Erscheinungen  unter  einander  beruht,  beraubt  das  Gesetz  seines  wesent- 
lichsten Merkmales,  der  Allgemeinheit.  Die  Feststellung  einer  Thatsache, 
die  nur  ein  einzigesmal  sich  ereignet,  wäre  kein  Gesetz.  Glücklicherweise 
ist  kein  Schriftsteller  im  Stande,  diese  Idee  consequent  durchzuführen.  Wo 


1)  Mit  Professor  T.  H.  Green,  Pliilos.  Works  II.  264,  etc. 


Der  Gebrauch  des  Ausdruckes  ,. Gesetz'*  in  der  Nationalökonomie.  211 

immer  eine  „  Unmöglichkeit '•  vorliegt  —  z.  B.  eine  erklärte  Unmöglichkeit, 
die  Löhne  herabzudrücken  bei  ungewöhnlicher  Verminderung  der  Arbeits- 
kräfte, oder  die  Preise  zu  erniedrigen  während  einer  Theuerung  —  gibt  es 
ein  Gesetz,  aus  welchem  die  Unmöglichkeit  stillschweigend  oder  zugestan- 
denermaassen  gefolgert  wird.  Marx  selbst  sucht  seine  Leser  zu  überzeugen, 
dass  die  Entwickelung  der  Industrie  einen  Lauf  verfolgt,  der  die  Gesell- 
schaft unvermeidlich  in  der  von  ihm  bezeichneten  Weise  verändern  muss. 
gerade  so  wie  er  sie  unvermeidlich  in  ihren  jetzigen  Zustand  brachte, 
eine  Behauptung,  welche  den  wirtschaftlichen  Ursachen  eine  unbedingtere 
Kraft  zuspricht,  als  für  dieselben  von  den  meisten  Xationalökonomen  bean- 
sprucht wird.  Bei  Thorold  Kogers  finden  sich  zahlreiche  Stellen,  die,  ohne 
es  zu  wollen,  für  seinen  heimlichen  Glauben  an  wirtschaftliche  Gesetze 
oder  allgemeine  Principien  Zeugnis  ablegen.  Hier  nur  eine  von  vielen;  sie 
bezieht  sich  auf  den  Anfang  des  XIV.  Jahrhunderts:  „Der  bündigste  Beweis 
für  eine  Hungersnoth  wird  geliefert,  denn  die  Löhne  erfuhren  eine  reelle 
und  bleibende  Erhöhung  infolge  eines  Mangels  an  Arbeitskräften,  der  sich 
durch  eine  beträchtliche  Zeit  hinzog  und  deshalb  eine  bleibende  Erhöhung 
der  Löhne  bewirkte;  denn  vorübergehende  Theuerung  drückt  die  Löhne 
eher."  (Six  Centuries  of  Work  and  Wages.  I.  Band,  S.  62.^) 

Xun  wird  man  aber  sagen,  dass  nicht  einmal  die  historischen  Oekono- 
men  (oder  ökonomischen  Historiker)  die  elementaren  allgemeinen  Prin- 
cipien des  Wertes  und  noch  weniger  die  oben  beschriebenen  elementarsten 
„Gesetze'-  bekämpfen.  Alsdann  würde  die  zwischen  uns  obschwebende  Frage 
sein  —  nicht:  gibt  es  allgemeine  Principien?  sondern:  sind  die  wirt- 
schaftlichen Gesetze  richtig  bestimmt  worden?  Der  Standpunkt  der  theo- 
retischen Nationalökonomen  ist  weit  davon  entfernt,  es  bei  dem  Glauben  an 
die  Unfehlbarkeit  ihrer  Vorgänger  bewenden  zu  lassen.  Im  Gegentheil,  wie  alle 
modernen  Forscher  halten  sie  sich  für  sehr  schlechte  Lerner,  wenn  sie 
nicht  mehr  wissen  als  ihre  Lehrer.  In  der  That  ist  der  entgegengesetzte 
Vorwurf  ganz  ebenso  oft  gegen  sie  erhoben  worden.  Sie  sind  jetzt  vielleicht 
einig  darüber,  dass  die  älteren  Nationalökonomen  den  primären  Gesetzen 
zu  wenig  und  den  secundären  zu  viel  Aufmerksamkeit  geschenkt  haben;  in 
anderen  Punkten  aber  haben  sie  nicht  zu  viel,  sondern  zu  wenig  Lust  ge- 
zeigt, sich  mit  einander  zu  vertragen. 

Es  wäre  aufrichtig,  hinzuzufügen,  dass  wir  übereinkommen  müssen  — 
uns  zu  scheiden  in  den  Abtheilungen  des  wirtschaftlichen  Werks,  dem  wir 
uns  zu  widmen  gedenken.  Wenn  die  Arbeitstheilung  den  getrennten  Ge- 
werben Aufschwung  verleiht,  so  ist  es  ein  Princip  der  menschlichen  Natur 
(und  zwar  ein  für  die  menschliche  Easse  vortheilhaftes,  wenn  auch  nur  von 
„secundärem  und  abgeleitetem«  Bang),  dass  jedermann  sein  eigenes  Gewerbe 
für  das  beste  hält;  und  das  ist  bei  den  Studien  eben  so  wahr  als  beim  Handwerk. 


1)  Wegen  einer  noch  bemerkenswerteren  „Deduction"  sehe  man  das  in  „Malthus 
and  His  Work"  136  (vgl.  238)  angeführte  Beispiel.  Es  dürfte  hier  die  Bemerkung  am 
Platze  sein,  dass  Koger's  Gebrauch  der  Deduction  durch  seine  Genossen,  die  Historiker, 
zu  einem  Beschwerdegrund  gegen  ihn  gemacht  worden  ist. 


ZUR  METHODE 
DER  HEUTIGEN  SOCIAL-WISSENSCHAFT, 


VON 


PROF.   V.  JOHN  (INNSBRUCK). 


„Die   unmittelbare    Beobachtung    der   wirtschaftlichen   Erscheinungen 

ist  die  Losung  der  heutigen  Wirtschaftswissenschaft Nothwendig  ist 

darum  die  geschichtliche  Erforschung  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  und 

die  Beschreibung  der  wirtschaftlichen  Zustände  das  Wichtigste Der 

Grund  hiefür  ist  derselbe,  aus  welchem  die  Naturwissenschaften  ihrer  Zeit 
die  Beschreibung  der  Thatsachen  und  Vorgänge  an  Stelle  von  aprioristischen 
Deductionen  gesetzt  haben."  Brentano:  „Die  classische  Nationalökonomie". 
1888.  S.  28.  ff. 

Aehnlich  erklärt  vor  nahe  hundert  Jahren  der  unsterbliche  Autor  der 
„Mecanique  Celeste":  „Appliquons  aux  sciences  politiques  et  morales  la 
methode  fondee  sur  l'observation  et  sur  le  calcul,  methode  qui  nous  a  si 
bien  servi  dans  les  sciences  naturelles".  Laplace,  Essai  philosophique  sur 
les  probabilites.  Edit.  1814. 

Und  der  Krämer  John  G-raunt  überreichte  bereits  1662  der  be- 
rühmten „Regalis  Societas"  Englands  seine  grundlegenden  sociabvissen- 
schaftlichen  Untersuchungen  unter  dem  Titel:  „Natural  and  political 
observations"  als  Analogen  der  naturwissenschaftlichen  Beobachtung 
der  gelehrten  Gesellschaft,  mit  der  ausdrücklichen  Berufung  auf  den  heut 
oft  citirten  Sir  Francis  Bacon,  welcher  seine  Discurse  ähnlichen  Inhalts 
ebenfalls  der  „Historia  Naturalis"  zugerechnet  habe. 

Der  geniale  Pettj^  bemerkt  hiezu  in  seiner  „Political  Arithmetic" 
von    1683    zielbewusst:    „The   Method   I   take    to    do    this,    is    not   very 

usual;  . I  have   taken   the    course   to    express  myself  in  Terms  of 

Number,  Weight  or  Measure;  to  use  only  Arguments  of  Sense,  and 
to  consider  only  such  Causes,  as  have  visible  Foundations  in  Nature". 

Aber  auch  der  grosse  Realist  des  classischen  Alterthums  bezeichnet 
in  seiner  Politik  (I.  1.)  bereits  als  den  trefflichsten  Weg  zur  Einsicht  zu 
gelangen,  die  Dinge  und  Verhältnisse  unmittelbar  zu  beobachten  und  das 


Zur  Methode  der  heutigen  Social-Wissenschaft.  213 

Zusammengesetzte  stets  bis  zu  dem  Einfachen  hinab  zu  verfolgen,  da  nur 
in  der  Scheidung  der  Elemente  der  schärfere  Blick  für  das  Wesen  und  die 
Verschiedenheit  der  Theile  gewonnen  werde.  Ist  doch  die  Politik  des 
Aristoteles,  dieser  „Granitunterbau  der  Staatswissenschaft  aller  Zeiten  und 
Völker'-  (Stahr),  nach  dem  eigenen  Zeugnis  ihres  Autors  nur  die  Synthese 
der  umfassendsten  Erfahrungserkenntnisse  aus  dem  heut  wenigstens  theil- 
weise  wieder  gewonnenen  Politienwerk,  dem  grossartigen  Muster  einer 
historisch  -  statistischen  Beschreibung  der  vorgeschrittensten  politischen 
Gemeinwesen  jener  Tage.  (Cf.  Nikom.  Ethik  X.  9.  27.  Pol.  V.;  theil weise 
auch  VI.  und  hiezu  meine  Gesch.  d.  Stat.  I.  18  ff.) 

Ja  selbst  ein  Plato  verlas  st  in  seinen  letzten  Werken  die  Höhen 
der  reinen  Speculation,  und  charakterisiert  seine  „ünteiTedung  über  die 
Gesetze"  als  die  Induction  aus  den  bestehenden  Verfassungen,  unter  steter 
Beachtung  der  natürlichen  Entwicklung  und  der  realen  Bedingungen  der 
zu  gründenden  Colonie.  „Klima,  Nahrung,  Tenitorium  und  alle  sonstigen 
„äussern-  Umstände  seien  jederzeit  in  ihrem  Einfluss  auf  das  körperliche 
und  geistig  -  sittliche  Gedeihen  der  Völker  zu  untersuchen".  Soweit  es 
einem  Menschen  möglich  ist,  solche  Dinge  zu  erforschen,  müsse  ein  ver- 
ständiger Gesetzgeber  dies  wohl  beachten,  und  erst  dann  versuchen,  seine 
Normen  aufzustellen.  (Gesetze,  V.  747.)  Gleichzeitig  wird  im  „Gorgias" 
von  dem  grossen  Gegner  der  Sophisten  in  IJebereinstimmung  mit  deren 
Grundanschauung  der  Gedanke  ausgesprochen,  dass  die  sociale  Organi- 
sation der  Menschen  eine  natürliche  Thatsache  sei,  welche  sich,  wenn  auch 
nicht  zufällig,  so  doch  spontan  früher  entwickelte  als  die  Verträge, 
Normativgesetze  und  Kunstwerke  der  Menschen,  darum  denselben  auch 
übergeordnet  erscheine;  ein  Gedanke,  dessen  tiefgreifende  methodologische 
Bedeutung  für  die  Socialwissenschaft  in  unseren  Tagen  durch  die  „Unter- 
suchungen" K.  Mengers  (S.  139  ff.  m.  Anh.  VII.  u.  V.)  wieder  nahe  gelegt 
worden  ist^). 

Dass  alle  Sokratiker,  von  Plato  und  Xenophon  bis  auf  Cicero  die 
ungeschriebenen,  „unreflectierten"  Gesetze  gleich  den  geschriebenen  in 
ihrem  letzten  Grunde  als  Ausfluss  des  göttlichen  Willens  betrachten,  ist 
für  die  methodologische  Seite  der  Frage  ohne  Bedeutung.  Diese  allein  aber 
ist  es,  welche  uns  hier  beschäftigt. 

In  dieser  Kichtung  ist  nun  gerade  die  Thatsache  von  Wichtigkeit, 
dass    die   von    der  realistischen  Kichtung    der  heutigen  Socialwissenschaft 


1)  In  der  Auffindung  der  Elemente  seines  begrifflichen  Wissens  konnte  auch  ein 
Plato  kein  anderes  als  das  durchaus  inductorische  Verfahren  seines  Lehrers  Sokrates 
verfolgen;  einzig  zur  Prüfung  und  Erhärtung  der  zusammenfassenden  Begriffe  ergänzte 
er  vielseitig  dieses  Verfahren  durch  die  hypothetische  Erörterung,  indem  er  aus  dem 
gewonnenen  Begriff  oder  Generellen  alle  denkbaren  Consequenzen  zieht  und  diese  auf 
ihre  Uebereinstimraung  mit  dem  bereits  Anerkannten  und  Thatsächlichen  untersucht. 
Dagegen  ist  ihm  die  Division  der  Gattungsbegriffe  nur  das  methodische  Hilfsmittel  zur 
Blosslegung  ihrer  logischen  Beziehungen  und  als  solches  von  ihm  durchaus  selbst  neu 
durchgeführt.   Vgl.  Windelband,  „Gesch.  der  antiken  Philos."  1888. 


214  Joli"- 

geforderte  „unmittelbare  Beobachtung  der  Wirklichkeit"  sowie  die  -ge- 
schichtliche Betrachtung  ihrer  Entwicklung-  nicht  nur  thatsächlich  geübt, 
sondern  in  klarem  theoretischen  Bewusstsein  ihres  logischen  Grundes  auch 
postuliert  wird,  so  lange  ein  wissenschaftliches  Denken  überhaupt  bekannt 
ist,  ganz  angemessen  der  Natur  des  Wissens  vom  Realen,  das  alle  ihm 
dienlichen  Obersätze  in  ihrem  letzen  Grunde  nur  aus  der  Wahrnehmung 
gewinnen  kann. 

Dass  aber  dieses  Wissen  vom  Realen,  die  empirische  Betrachtung  der 
Wirklichkeit  in  der  geistigen  Entwicklung  der  Menschheit  das  Prius,  das  Nach- 
denken über  das  Uebersinnliche  das  Posterius  ist,  das  zeigt  heute  unwiderleglich 
diemethodisch immer  tiefer eindringendepsychologischeBeobachtungdesKindes. 
wie  die  ethnographische  des  Naturmenschen  unserer  Tage.  (Cf.  Preyer,  „Die 
Seele  des  Kindes".  Julius  Lippert,  „ Culturgeschichte  der  Menschheit",  1886, 
und  die  dort  citirte  Literatur.)  Gleich  dem  heutigen  Naturmenschen  fand 
sich  auch  der  Urmensch  einzig  vor  der  Thatsache  seines  Daseins,  und  die 
einzige  Folgerung  aus  dieser  Thatsache  war  die  Sorge  für  des  Daseins  Er- 
haltung. Diese  Sorge  aber  liess  sich  ohne  Speculation  vermitteln;  wohnt  sie 
doch  als  Instinct,  als  Bedingung  der  Erhaltung  der  Art  selbst  dem  Thier 
inne.  In  wahrhaft  zwingender  Induction  weist  die  heutige  Culturgeschichte 
auf  dem  Grunde  „unmittelbarer  Beobachtung"  nach,  dass  bei  aller  Mannig- 
faltigkeit des  menschlichen  Instincts  und  einflussreicher  Sitte  und  ihrer 
geschichtlichen  Entwicklung  im  tiefsten  Grunde  immer  wieder  ein  und 
dasselbe  Princip  wirksam  ist.  welches  die  Sprache  zutreffend  mit  dem 
Namen  der  -Lebensfürsorge"  bezeichnet.^) 


')  Entstammen  doch  selbst  unsere  Religionsspeeulationen  dem  Vorstellungskreise 
dieser  gemeinen  Sorge  des  Menschen  um  die  Erhaltung  des  eigenen  Ich,  d.  i.  auch  der 
Erhaltung  der  eigenen  Seele  nach  dem  Tode;  denn  die  aus  der  Todeserscheinung 
erschlossene  primitive  Seelenvorstellung  führte  naturgemäss  zu  der  Vorstellung  eines 
Fortlebens  der  Seele  ausser  dem  Leibe.  An  die  Vorstellung  dieses  Fortlebens  schliesst 
sich  der  Wunsch  einer  Fürsorge  für  dieses  Leben  nach  dem  Tode.  Der  Cult  der  Seelen 
Verstorbener  ist  die  Bedingung  der  gesicherten  Pflege  der  eigenen  Seele  nach  dem  Tode. 
Nur  die  Formen  dieser  Fürsorge  sind  verschieden  —  je  nach  dem  Grade  und  der  Weise, 
in  welcher  die  primäre  Lebensfürsorge  und  die  culturelle  Entwickelung  selbst  vorge- 
schritten ist.  „Die  himmelhohen  Dome  mit  ihren  Chorcapellen,  Tausenden  von  Altären 
und  reichen  Messstiftungen,  die  überreichen  Klöster  mit  ihren  Schätzen,  ihren  Liegen- 
schaften und  ünterthanen,  unermessliche  Reichthümer  der  todten  Hand  neben  Hütten 
der  Armut  sind  nicht  minder  wie  in  Aegypten  die  Riesenpyramiden  neben  winzigen 
Wohnungen,  die  Säulentempel  neben  elenden  Lehmhütten  ebenso  viele  Zeugnisse,  wie 
sich  die  Fürsorge  vom  Diesseits  nach  dem  Jenseits  ablenkte,  wie  das  Leben  kargte  für 
denReichthum  des  Todes."  Lippert,  Culturgesch.  I.  30.  Der  Seelencult".  1880.  In  gleich 
überzeugender  Weise  legt  dieser  tief  eindringende  Forscher  auf  durchaus  inductivem  Wege 
die  Entwickelung  des  wissenschaftlichen,  des  „vernunftmässigen"  Denkens  aus  jenen 
Vorstellungen  klar,  welche  der  Cult  der  Seelen  der  Verstorbenen  als  Erscheinungsform 
der  Lebensfürsorge  dem  Menschengeiste  nahe  bringt.  „Zu  einem  selbständigen,  von  den 
gegebenen  Cultvorstellungen  losgelösten  Denken  über  die  Ursächlichkeit  der  Er- 
scheinungen gelangten  nach  der  uns  zugänglichen  historischen  Ueberliefening  voniehnilich 
die  Griechen;  u.  zw.  dies  auf  dem  Grunde  einer  grösseren  Welterfahrung,  gewonnen  durch 
den  Verkehr  dieses  Volkes  in  ausgedehnten  Erdräunien." 


Zur  Methode  der  heutigen  Social- Wissenschaft.  215 

Diese  Einheit  der  ersten  Antriebe  aber  erzeugte  mit  Nothwendigkeit 
die  Einheit  der  Denkgesetze. ^)  So  sind  denn  in  der  That  die  Grundformen 
des  Denkens  selbst,  die  Grundzüge  der  durch  ungezählte  Generationen 
vererbten  und  vervollkommneten  Logik  in  allen  Menschen  schliesslich  die- 
selben :  ja,  nach  den  Beobachtungen  der  heutigen  Naturwissenschaft  sind  die- 
selben schon  von  den  höher  entwickelten  Thiergattungen  mit  Erfolg  geübt.  Es 
ist  darum  auch  zwischen  dem  wissenschaftlichen  Verfahren  und  jenem  des 
täglichen  Lebens  kein  Wesens-  nur  ein  Gradunterschied,  nach  einem  treffenden 
Vergleich  Huxleys  ähnlich  jenem,  welcher  zwischen  der  Wage  des  Bäckers 
oder  Metzgers  und  der  fein  graduirten  des  Chemikers  und  dessen  Ver- 
fahren besteht.^)  Noch  weniger  sind  die  Gesetze  des  Denkens  andere 
bei  dem  naturforschenden  Menschen  als  bei  dem  speculativen.  Ist  doch 
das  Causalgesetz  selbst  nichts  als  die  Anwendung  des  logischen  Satzes  vom 
Grunde  auf  den  Inhalt  der  Erfahrung,  und  die  causale  Deduction  einzig 
die  Verbindung   von  Causalgesetzen    durch  Schlussoperationen,    in    w^elchen 

■)  „Dem  Urmenschen  gelten  in  seinem  sehr  beschränkten  Denken  nm-  die  Be- 
ziehungen des  eigenen  Ich  als  Gegenstand  der  Speculation;  und  diese  vermag  nur  in 
kindlich  oberflächlichster  Weise  die  Wahrnehmungen  des  Aeusserlichen  zu  verbinden",  „Was 
auf  solche  Weise  die  Urzeit  erschlossen  hat.  das  ist  dann  als  Thatsächliches  in  das 
geistige  Erbe  der  Menschheit  übergegangen;  und  in  der  eigenthümHchen  Art.  wie  der- 
artig erschlossene  und  vererbte  Vorstellungen  als  Factoren  der  Culturgeschichte  fort- 
wirkten, lange  nachdem  sie  durch  jüngere  Erkenntnisse  in  ihrem  Kern  vernichtet  waren, 
liegt  eines  der  interessantesten  Geheimnisse  der  Culturentwickelung,  welche  so  oft  neben 
starrer  Consequenz  der  Logik  auf  scheinbar  unlogischen  Sprüngen  zu  beruhen  scheint, 
die  uns  in  Erstaunen  versetzen."  Lippert  bezeichnet  diese  von  ihm  charakterisierte, 
bedeutsame  Erscheinung  als  das  Gesetz  der  „Compatibilität"  („Religionen"  S.  4.  „Cul- 
turgesch."  L,  79).  Der  scharfe  Beobachter  der  „Volksseele"  findet  in  diesem  Gesetz  den 
Schlüssel,  in  der  Entwicklung  der  Volksanschauungen  eine  Menge  oft  bis  zu  einem  Grade 
von  Possierlichkeit  überraschende  Sprünge  der  Volkslogik  zu  erklären,  und  zu  zeigen,  dass 
es  im  letzten  Grunde  doch  immer  nur  eine  und  dieselbe  Logik  in  allen  Köpfen  ist,  die, 
je  nachdem  ihr  Elemente  von  höchst  ungleichartiger  Herkunft  als  gleichwertig  geboten 
werden,  zu  Gestaltungen  gelangt,  welche  in  den  kritisch  untersuchten  Thatsächlichkeiten 
der  Natur  nicht  die  geringste  Basis  mehr  finden  können.  Der  genannte  Autor  erklärt,  in 
Erweiterung  eines  von  Max  Müller  in  der  Mythologie  gebrauchten  Ausdrucks  könne 
diese  „Incompatibilität"  auch  als  das  „Irrationelle"  in  der  Culturgeschichte  bezeichnet 
werden.  Als  ein  schlagendes  Beispiel  dieser  unlogischen  Vereinigung  von  durchaus  logisch 
abgeleiteten  Consequenzen,  Anschauungen,  Eechtsgrundsätzen  und  Gewohnheiten  aller 
Art,  abgeleitet  aus  einer  durch  das  fortschreitende  Erkennen  späterer  Generationen  als 
unrichtig  befundenen  „Thatsächlichkeit"  neben  der  bessern  Erkenntnis  des  richtigen  That- 
sächlichen  werden  von  Lippert  a.  a.  0.  die  geschichtlichen  Consequenzen  der  ursprüng- 
lichen, unrichtigen  Uranschauung  des  Wesens  der  Blutsverwandtschaft  aufgeführt,  welchen 
die  Fortübung  einzelner  Rechtsgewohnheiten  des  „MutteiTCchts"  entstammt,  trotzdem  die 
Erkenntnis  der  Gemeinsamkeit  des  Blutes  beider  Eltern  in  dem  Kinde  bereits  Genera- 
tionen aufgegangen  war.  (Culturgesch.  S.  80  ff.) 

-)  Der  populäre  Naturforscher  illustriert  diese  Wesensgleichheit  der  Methode  noch 
durch  den  Hinweis  auf  eine  Lustspielscene  M  o  1  i  e  r  e '  s,  in  welcher  der  Held  des  Stückes 
sich  zum  höchsten  Selbstbewusstsein  emporgetragen  fühlt,  als  man  ihm  sagt,  dass  er  sein 
ganzes  Leben  lang  „Prosa"  gesprochen  habe.  Cf.  Huxley,  „Ueber  unsre  Kenntnis  von 
den  Ursachen  der  Erscheinungen  in  der  organischen  Natur".  Sechs  Vorlesungen,  Uebers. 
V.  K.  Vogt,  1865. 


216  Jol^n. 

sich  die  ersteren  in  Erkenntnisgründe  für  die  empirischen  Erscheinungen 
umwandeln. 

Diese  Grundeinheit  der  Logik  erkannten  schon  die  Alten;  in  Con- 
sequenz  hievon  nicht  minder  richtig  auch  das  psychische  Wesen  der  „an- 
geborenen", der  „aprioristischen"  Ideen;  denn  nach  dem  hiefür  competenten 
Lotze  (Logik,  IL  Aufl.  S.  529),  verstanden  sie  darunter  die  natürliche 
Anlage  des  menschlichen  Geistes,  unter  den  immer  wiederkehrenden 
äussern  Einwirkungen  und  Bedingungen  bestimmte  Gewohnheiten  der 
Gedankenverknüpfung  mit  Nothwendigkeit  zu  entwickeln;  und  zwar 
dies  zuerst  als  eine  durchaus  unbewusste  Verfahrungsweise,  bis  schliesslich 
die  erwachende  Keflexion  die  zu  Tage  tretende  Kegelmässigkeit  des 
Verhaltens  selbst  zum  Gegenstande  des  Vorstellen s  erhebt,  die  bisher 
geübte  Praxis  der  theoretischen  Betrachtung  überweist. 

So  sind  denn  auch  Speculation  und  Empirie  nur  die  Theile  oder 
Grundformen  eines  und  desselben  Verfahrens,  getrennt  betrachtet  einzig 
für  die  Zwecke  der  theoretischen  Logik.  Bei  näherem  Zusehen  ergibt  sich 
die  Thatsache,  dass  schliesslich  alle  Vorsichtsmaassregeln,  durch  welche 
das  inductive  Verfahren  die  einzelnen  Schritte  seines  Weges  von  den  ge- 
gebenen Einzelwahrnehmungen  zu  den  allgemeinen  Gesetzen  zu  sichern 
sucht,  ihre  Wurzel  in  den  Einsichten  haben,  welche  die  deductive  Logik 
über  die  Umkehrbarkeit  und  Contraposition  der  Urtheile,  über  die  Triftig- 
keit der  Schlüsse  wie  über  die  Formen  des  Beweises  bietet.  Andererseits 
ist  die  Speculation,  diese  rein  geistige  „Anschauung"  des  Gemeinsamen, 
Generellen  einer  Gruppe  von  Einzelvorgängen  aus  der  unendlichen  Mannig- 
faltigkeit des  Individuellen,  Concreten  kein  „a  priori",  sondern  einzig  und 
allein  das  Schlussergebnis  der  Abstraction,  des  Absehens  vom  Verschiedenen 
des  der  „unmittelbaren"  Beobachtung  allein  zugänglichen  Singular-  nicht 
Massenphänomens  oder  Collectivums;  wie  Bacon  (Nov.  Organ.  Art.  95) 
treffend  erklärt:  „Die  Wahrnehmung  schafft  den  Stoff  des  Denkens,  dieses 
selbst  aber  vollzieht  erst  die  Keinigung  und  Aussonderung^  des  Allgemeinen 
aus  dem  besonderen  der  Erfahrung,  der  Biene  gleich,  welche  den  Saft  aus 
den  Blumen  zieht,  denselben  aber  durch  ihre  eigene  Kraft  behandelt  und 
verdaut";  eine  Thatsache,  welche  in  dem  Widerstreit  der  Meinungen  heute 
vielfach  übersehen  wird,  gerade  darum  auch  das  „punctum  litis"  abgibt, 
indem  eine  jede  sich  das  Verfahren  der  Biene  Bacons  allein  zuschreibt;  und 
doch  erklärt  der  klare  Denker  hiemit  auch  die  inductive  Forschung  nur  so 
weit  als  eine  fruchtbare,  soweit  sie  die  Geister  zu  deductiven  Erklärungen 
der  Einzelphänomene,  d.  i.  zur  Einsicht  in  das  typische,  generelle  Wesen 
und  die  gesetzmässigen  Zusammenhänge  des  Kealen  befähigt. 

Bei  aller  Anerkennung  der  Thatsache  einer  einheitlichen  Logik  und 
der  praktisch-psychischen  üntrennbarkeit  ihrer  Grundformen  darf  aber  nicht 
übersehen  werden,  dass  in  der  That  sowohl  im  Individuum  als  in  ganzen 
Völkern  und  Entwicklungsperioden  je  nach  natürlicher  Anlage  und  ge- 
schichtlichem Bildungsgange  die  Induction  über  die  Deduction  und  um- 
gekehrt diese  über  jene  das  üebergewicht  behaupten  könne.  Bedarf  es  doch 


Zur  Methode  der  heutigen  Social -Wissenschaft.  217 

hiefür  einzig  der  Erinnerung  an  Plato  gegenüber  dem  Schüler  Aristoteles; 
oder  als  Beispiel  aus  der  Eeihe  nächst  verwandter  Völker  der  Neuzeit  des  Hin- 
weises auf  die  vorwiegend  deductive  Literatur  Schottlands  im  17.  und 
18.  Jahrhundert  gegenüber  der  englischen  derselben  Periode.  Zwei  Nationen, 
welche  demselben  Keiche  angehören,  dieselbe  Sprache  sprechen,  als  un- 
mittelbare Nachbarn  unausgesetzt  mit  einander  verkehren,  zum  gi'össten 
Theil  dieselben  Interessen  pflegen,  dieselben  Bücher  lesen,  und  doch  dieser 
nahezu  unglaubliche,  durchgreifende  Widerstreit  der  Geistesrichtung! 
Buckle,  „Hist.  of  Civ.  11.  Ch.  6."  sieht  den  Grund  hievon  etwas  einseitig 
in  der  Theologie,  deren  rein  deductive  Beweisführung  den  schottischen  Geist 
jener  Periode  beherrscht.  Allerdings  lehrte  die  schottische  Theologie  geradezu, 
Gott  habe  seine  Wünsche  den  Menschen  durch  Syllogismen  mitgetheilt 
(Buckle,  1.  c).  So  blieb  denn  auch  das  inductive,  realistische  Denken  in 
Schottland  nahezu  unterdrückt;  und  als  endlich  in  der  zweiten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  auch  dort  eine  weltliche  Philosophie  und  Wissenschaft 
erwachte,  vermochte  es  selbst  der  Geist  eines  Hume  und  Adam  Smith,  ja 
selbst  ein  Phj^siker  Black  und  Leslie,  ein  Geologe  Hutton  u.  A.  nicht, 
sich  dem  Uebergewicht  der  deductiven  Denkrichtung  zu  entziehen,  ein  Beweis 
wie  mächtig  die  Denkübung  in  einer  bestimmten  Kichtung  allmählich  zur 
Denkgewohnheit  wird,  und  als  solche  den  Geist  gefangen  hält^). 

Buckle  findet  hierin  gerade  eine  Aehnlichkeit  schottischen  und 
deutschen  Geistes,  indem  der  letztere  ebenfalls  selbst  in  der  weltlichen 
Bewegung  des  18.  Jahrhunderts  nicht  inductiv  zu  werden  vermochte,  u.  zw. 
dies  aus  denselben  Gründen  wie  in  Schottland.  Daher  auch  die  so  merk- 
würdige Wechselwirkung  zwischen  schottischer  und  deutscher  Philosophie, 
wie  sie  in  Kant  und  Hamilton  zum  höchsten  Ausdruck  kommt.  Im 
strengsten  Gegensatz  hiezu  steht  England,  dessen  grösste  Denker  während  der 
150  Jahre  nach  dem  Tode  Bacons  vorwiegend  inductiv  verfahren.  Erst  im 
gegenwärtigen  Jahrhundert  zeigte  sich  auch  hier  mit  der  Wiedererweckung 
der  alten  Logik  ein  Hinneigen  zur  Deduction.  Buckle  bemerkt  hiezu:  „Mit 
Kecht,  denn  in  der  langen  Herrschaft  des  inductiven  Verfahrens  sind  wir 
zu  einer  Menge  allgemeiner  Sätze  gelangt,  welche  wir  nun  ohne  Gefahr 
deductiv  behandeln,  als  Vordersätze  neuer  Schlüsse  oder  Folgerungen  an- 
nehmen können". 

Denselben  Entwickelungsgang  zeigt  die  Literatur  Frankreichs,  angeregt 
von  der  Experimentalwissenschaft  Englands  aus  der  zweiten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts.  Und  in  Deutschland  scheint  nach  der  grossartigen  Ent- 
wickelung  der  Naturwissenschaften  seit  kaum  vier  Decennien  die  Besinnung 
auf  die  Gleichberechtigung  und  die  nothwendige  Mitherrschaft  des  deduc- 
tiven Verfahrens  selbst  in  den  Kreisen  der  hervorragendsten  Vertreter  der 
Induction  mehr  und  mehr  platzzugreifen.  Als  Beleg  hiefür  sei  einzig 
Wundt  angeführt,  welcher  in  seiner  Logik  (II.  242)  erklärt:  „Der  Mythus, 
dass  Bacon    der   giosse  Gesetzgeber   naturwissenschaftlicher  Methodik   ge- 


1)  Vgl.  hiezu  neuestens  H  a  s  b  a  c  h  „Untersuchungen  liber  A.  S  m  i  t  h". 

Zeitschrift  für  Volkswii  tschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  11.  Heft.  15 


218  John. 

vvesen  sei,  ist  zwar  allmählich  im  Verschwinden  begriffen.  Aber  die  durch 
diesen  Mythus  lebendig  gewordene  Vorstellung,  dass  die  Induction  das 
logische  Instrument  dei  Naturforschung  abgebe,  dem  sie  alle  ihre  Erfolge 
verdanke,  ist  noch  vielfach  geblieben.  Es  ist  dies  der  Irrthum,  dass  all  unser 
Wissen  einzig  und  allein  der  Erfahrung  entstamme:  darum  die  Forderung, 
nur  eine  möglichst  grosse  Zahl  fruchtbringender  Erfahrungen  zu  sammeln 
und  zu  ordnen;  das  Allgemeine,  das  Gesetz  ergebe  sich  daraus  von  selbst. 
Allein  die  Naturforschung  verfährt  thatsächlich  nicht  in  dieser  Weise, 
sondern  vorausgehend  aller  Sammlung  von  Thatsachen  ist  der  schon  von 
Galilei  nachdrücklich  hervorgehobene  Gedanke  rein  speculativen  Ur- 
sprungs, dass  alles  Geschehen  in  der  Natur  einfachsten  Kegeln  folge,  dass 
daher  jede  Untersuchung  von  Naturerscheinungen  von  möglichst  einfachen 
Annahmen  ausgehen  müsse." 

Gemeiniglich  wird  das  Ueberwiegen  der  Deduction  gerade  als  der 
durchgreifende  Unterschied  zwischen  der  antiken  und  der  modernen  Wissen- 
schaft überhaupt  angesehen,  indem  die  letztere  den  Gehalt  der  Wahr- 
nehmung so  vollständig  und  genau  als  möglich  wiederzugeben,  jeden 
Unterschied  derselben  im  Prädicat  möglichst  bestimmt  und  specialisiert 
zum  Ausdruck  zu  bringen  sucht.  Diese  von  der  modernen  Wissenschaft 
geforderte  Congruenz  der  Aussage  ist  allerdings  nur  denkbar,  wo  die 
Prädicate  begrifflich  auf  ein  mathematisch  darstellbares  Continuum  zurück- 
führbar sind,  und  ihren  Ausdruck  durch  das  Maass,  durch  möglichst  genaue 
Quantitätsdarstellung  gestatten;  soweit  ferner  unsere  Fähigkeit  reicht, 
kleinere  Unterschiede  wahrzunehmen  und  der  exacten  Messung  zu  unter- 
werfen. Erklärt  doch  Kant:  „Nur  so  viel  Mathematik  in  einem  Wissen, 
nur  so  viel  ist  Wissenschaft".  Und  von  den  Neuern  bemerkt  Herbert 
Spencer  in  seinen  „Principien  der  Psj^chologie",  (deutsche  Ausg.  Vetter, 
Cap.  VIII,  §  146):  „Alle  höher  entwickelte  Wissenschaft  besteht  im 
Wesentlichen  aus  quantitativer  Voraussagung;  sie  befasst  sich  mit  ge- 
messenen Kesultaten  ..." 

Diese  quantitative  Voraussagung  ist  nun  wohl  in  der  -exacten"  Eichtung 
der  Natur-  und  Socialwissenschaft  gegeben,  nicht  aber  in  der  historisch- 
statistischen oder  realistischen,  und  zwar  dies  trotz  der  Ziffernreihen  der 
statistischen  Forschung;  denn  das  Absehen  oder  „isolirende"  Abstrahieren  des 
Verschiedenen,  Variabein  gegenüber  dem  Constanten,  Generellen  in  den  be- 
obachteten Individual-Erscheinungen  ist  genau  ebenso  das  methodische 
Charakteristikon  der  exacten  oder  abstracten  Naturwissenschaft  wie  jenes  der 
Socialwissenschaft  gleicher  Richtung.  So  kann  denn  auch  einzig  diese  methodisch 
gleiche  Richtung  der  Socialwissenschaft  der  „exacten"  Naturwissenschaft  adae- 
quat  genannt  werden,  nicht  aber  die  „unmittelbare  Beobachtung  und  Be- 
schreibung" von  Massen,  von  Collectivis  oder  Summen  von  Individualfällen  und 
Phänomenen;  deren  Analyse  kann  allein  die  „arithmetische"  der  Statistik  er- 
geben, welche  einzig  Partialsummen,  und  in  letzter  Reihe  schliesslich  wiederum 
die  Individualfälle  oder  Erscheinungen  selbst  als  die  additiven  Elemente  aller 
Massenerscheinungen  liefern  kann;  niemals  aber  das  der  Gruppe  Gemeinsame, 


Zur  Methode  der  heutigen  Social-Wissenschaft.  219 

„Gattungsmässige",  „Begriffliche",  wie  dies  Lexis  klar  und  unwiderleglich 
sofort  an  der  Spitze  seiner  „Theorie  der  Massenerscheinungen "  entwickelt. 
Es  ist  dieser  Wesensunterschied  der  Individual-  und  Massenerscheinung  der 
Ausgangspunkt  für  die  fundamentale  logische  Verschiedenheit  der  Beobach- 
tung und  Analyse  wie  der  Ergebnisse  beider  methodischen  Richtungen, 
also  der  Cardinalpunkt  ihrer  logischen  Differenz,  in  dessen  U ebersehen  auch 
das  gänzlich  Aussichtslose,  Erfolglose  des  bisherigen  Streites  gegeben  war. 

Die  historisch-statistische  Richtung  übersieht  gemeiniglich,  dass  der 
.unmittelbaren"  Beobachtung  jederzeit  nur  das  „Individuum",  der  Einzelfall, 
zugänglich  ist,^)  dass  die  „exacte"  Naturwissenschaft  stricte  dort  zu  Ende 
ist,  wo  die  „systematische  Summen-  oder  Massenbeobachtung"  der  Statistik 
und  die  „CoUectivbeschreibung"  der  Geschichte  beginnt.  Beispiel  hiefür 
ist  die  Meteorologie  und  Physiologie.  Diese  Analyse  der  Individual- 
erscheinung,  des  Einzelfalles  als  des  Elementes  der  Summen-  oder  Massen- 
Phänomene  vollzieht,  wie  ja  die  realistische  Richtung  dies  gerade  als 
methodologischen  Grundfehler  hervorhebt,  einzig  die  „exacte"  oder  „ab- 
stracte"  Socialforschung  unserer  Tage.  Gleich  der  exacten  Naturwissenschaft 
geht  auch  die  exacte  Socialwissenschaft  in  ihrer  Methode  von  der  durch 
Logik  und  Psychologie  anerkannten,  darum  gänzlich  unbestreitbaren  That- 
sache  aus,  dass  das  generelle  Wesen  und  Gesetz  einzig  und  allein  im 
Einzelfall,  im  Individual-Phänomen  „concret"  wird,  somit  auch  allein  in  dieser 
Erscheinungsform  der  von  der  realistischen  Richtung  so  mit  Nachdruck  ge- 
forderten „unmittelbaren  Beobachtung"  im  strengen  Wortsinne  zugänglich 
ist;  dass  gerade  darum  beide  dieser  exacten  Wissenschaften  das  dieser 
Beobachtung  allein  zugängliche  Concrete,  z.  B.  die  Einzelwirtschaft,  das 
einzelne  Individuum  der  Thierwelt,  der  Pflanzen-  und  Gesteinswelt,  die 
einzelne  physikalische  Erscheinung  als  Object  ihrer  Beobachtung  und 
Analyse  betrachten.  Dass  im  Gebiete  der  Menschenwelt  Gesetz  und 
allgemeines  generelles  Wesen  nur  in  der  That  des  Individuums  zum 
Ausdruck  kommen  kann,  dass  die  Beobachtung  und  Analyse  dieses  Thuns 
des  Individuums  schliesslich  als  die  Analyse  einer  Willensäusserung 
auf  die  hier  wirksamen  psychischen  Kräfte  und  Elemente  treffen,  somit 
schliesslich  den  Charakter  der  psychologischen  Beobachtung  und  Analyse 
annehmen  muss,  das  liegt  jenseits  des  Willens  des  Socialforschers,  es  ist 
ihm  in  der  Natur  des  Objectes  gegeben  und  durch  dieselbe  bedingt. 

So  erklärt  Wundt,  Log.  II.  481:  „Die  Geisteswissenschaften  ruhen 
auf  der  Psychologie  als  ihrem  letzten  Fundament.  Zwar  werden  Geschichte 
und  Statistik  ihre  Thatsachen  ohne  Psychologie  zu  sammeln  vermögen; 
allein  jeder  Versuch  einer  Interpretation  derselben  muss  zu  psychologischen 
Motiven  seine  Zuflucht  nehmen."  Dasselbe  gilt  für  die  Analyse  und  die 
Anwendung  der  Wirtschafts-  und  Rechtsbegriff'e.  Die  Psychologie  bietet 
den  einzelnen  Geisteswissenschaften  die  Principien  und  die  Methoden,  die 
Gesichts-    und    Ausgangspunkte.     Nach    der    Natur    ihrer    Probleme    und 


')  F.  Wundt,  Log.  IL,  459:  „Die  System.  Begriffe  der  Biologie." 

15= 


220  Jo^»- 

Methoden  ist  die  Psychologie  geradezu  die  Brücke  zwischen  den  Natur- 
und  Geisteswissenschaften.  Dass  die  Geisteswissenschaften  heut  noch  aus- 
namslos  im  ersten  Stadium  ihrer  Entwicklung  stehen;  dass  ganz  besonders 
die  Psychologie  selbst,  deren  „Fundament",  kaum  ergriffen  ist  von  dem 
Strome  der  exact-empirischen  Forschung,  vermag  an  der  von  der  logischen 
Natur  dieser  Wissenschaft  vorgezeichneten  Aufgabe  nichts  zu  ändern.  „Was 
in  jedem  Augenblick  für  uns  psychologisch  die  grösste  Gewissheit  hat,  das 
gilt  uns  als  der  zuverlässigste  Punkt,  von  dem  aus  die  übrigen  schwan- 
kenden Gedanken  festzustellen  sind."  Lotze,  Log.  481.  Dagegen  weist 
Sigwart  in  seiner  eingehenden  Analyse  des  „Inductionsverfahrens"  (Log.  IL 
532  ff.)  der  Geschichte  das  gänzlich  unabänderliche  Geschick  zu,  dass  sie 
ihrem  wesentlichen  wissenschaftlichen  Charakter  nach  stets  bleiben  müsse, 
was  sie  immer  gewesen,  die  Erzählung  von  Thatsachen,  welche  in  ihrer 
individuellen  Gestaltung  unberechenbar,  in  ihrer  causalen  Verkettung  nur 
mit  Hilfe  jener  Erfahrungen  entwirrbar  wird,  die  wir  über  den  Zusamm^en- 
hang  von  Zwecken  und  Motiven,  über  die  Art,  wie  die  menschlichen 
Thätigkeiten    aus    dem  Innern    des  Menschen   hervorgehen,  da  machen,  wo 

uns    der   Zusammenhang   soweit   als    m.öglich    erschlossen   vorliegt." 

„Eine  Aufstellung  eigentlicher  Gesetze  kann  immer  nur  die  Thätigkeit  der 
wirksamen  Einheiten,  der  Individuen  betreffen,  und  muss  zu  ihrer  Basis  die 
Psychologie  haben." 

Es  ist  in  hohem  Grade  interessant,  wie  die  Berechtigung  der  psychi- 
schen Analyse  gegenüber  den  Erscheinungen  des  socialen  Lebens  gerade  von 
Schmoller  scharf  betont  wird.  So  in  seiner  Besprechung  der  methodo- 
logischen Ausführungen  bei  Knies,  welche  den  Gegensatz  der  Natur-  und 
Socialerscheinungen  in  dem  Moment  der  Entwickelung  finden.  In  der  Natur 
nach  Knies  allezeit  die  Wiederholung  des  Gleichen;  in  der  Menschenwelt 
eine  Entwickelung,  welche  diese  Wiederholung  des  Gleichen  geradezu  aus- 
schliesst.  Schmoller  sieht  den  Grundfehler  der  Argumentation  bei  Knies 
darin,  dass  er  diese  Unterscheidung  mit  der  Frage  der  Gesetzmässigkeit 
identificiere.  Auch  die  Natur  zeige  die  Thatsache  der  Entwickelung,  nicht 
bloss  jene  der  steten  Wiederholung;  es  bedürfe  hiefür  nur  des  Hinweises 
auf  die  von  Darwin  so  überreich  gebotenen  Belege;  aber  auch  in  der 
Natur  erfolge  die  Entwickelung  auf  dem  Grunde  strenger  Gesetzmässigkeit. 
Dasselbe  betont  Schmoller  gegen  Knies  in  der  socialen  Welt:  „Wenn 
also,  weil  die  Entwickelung  immer  neue  Combinationen  psychischer  und 
socialer  Kräfte  als  wirkende  Ursachen  auf  die  Bühne  der  Geschichte  führt, 
die  Erscheinungen  des  socialen  Lebens  jüngerer  Völker  nie  dieselben  sein 
können,  wie  die  älterer,  so  möchte  ich  diese  Thatsache  nicht  so  erklären, 
es  gebe  auf  diesem  Gebiete  nur  Gesetze  der  Analogie,  keinen  sich  immer 
•gleichbleibenden  Causalnexus;  ich  behaupte,  dass  wir  auch  auf  psychologi- 
schem Gebiete  einen  immer  gleichen  Causalnexus  annehmen  müssen; 
freilich  sind  die  psychologischen  Gesetze  der  Motivation  andere,  als  die 
Naturgesetze  der  äussern  Welt;  aber  der  Satz  der  Causalität  gilt  in  seiner 
unerbittlichen  Nothwendigkeit  für  beide  Gebiete  gleichmässig,  während  es 


Zur  Methode  der  heutigen  Social -Wissenschaft.  221 

bei  Knies  öfter  den  Anschein  habe,  als  ob  er  ihn  für  das  „personale 
Element"  historischer  Verursachung  leugnen  wollte.  Direct  thue  das  allerdings 
dieser  tiefe  Denker  auch  nicht,  doch  lasse  er  sich  über  die  psychologische 
Verursachung  nicht  näher  aus  ..."  Sofort  aber  rühmt  Schmoller  an 
Knies  auch  ganz  besonders  das  Feingefühl  für  die  psychischen  Massen- 
erscheinungen; gerade  hierin  zeige  er  sich  als  der  „echte"  Jünger  eines 
N  i  e  b  u  h  r  und  S  a  v  i  g  n  y,  als  der  theoretische  Begründer  der  historisch- 
psychologischen Nationalökonomie,  welcher  den  Gegensatz  derselben  zu  Adam 
Smith  und  Ricardo  nach  Seh  moller  noch  tiefer  fasste,  als  selbst 
Röscher  und  Hildebrand.  Die  Herbart-Lazaru s'schen  Gedanken 
über  Massenpsychologie,  verkörpert  in  dem  Volkspsychologen  Bastian, 
und  der  gänzlich  unfassbare  „National- Geist"  der  historischen  Rechtsschule 
scheinen  auch  Schmoller  zu  tief  ins  Blut  gegangen  zu  sein,  als  dass 
er  noch  rückhaltslos  die  kurz  vorher  betonte  Individual-Psychologie  zu 
schätzen  und  zuzugestehen  vermöchte,  dass  alle  Massen  endlich  nicht  nur  aus 
Elementen  bestehen,  sondern  durch  dieselben  auch  schliesslich  allein  be- 
stimmt und  charakterisiert  werden,  so  dass  eine  Einsicht  in  den  Zusammen- 
hang und  das  Wesen  von  Massen  aller  Art,  die  Collectiv-Phänomene  der 
socialen  Welt  nicht  ausgenommen,  einzig  im  Wege  der  Individualanalyse, 
im  Gebiete  der  Geisteswissenschaften  mit  Hilfe  der  Individual-Psychologie 
gewonnen  werden  kann. 

Dem  gegenüber  erklärt  der  jüngst  auf  den  Plan  tretende  Schüler  W. 
B  ö  h  m  e  r  t,  dass  gerade  die  Phänomene  der  Individual-Psychologie  keinerlei 
Messung,  mindestens  keine  Möglichkeit  einer  isolierten  Betrachtung  und 
hiemit  einer  experimentellen  Behandlung  bieten,  dass  darum  auch  keine 
ernste  Theorie  derselben  denkbar  sei.  („Stanley  Jevons  und  seine  Be- 
deutung für  die  Volkswirtschaftslehre  Englands."  Schmoller's  Jahrb.  1891.) 

Ganz  in  demselben  Sinne  äussert  sich  E.  Hasbach  in  seinen  von 
hohem  Standpunkt  ausgeführten  „Untersuchungen  über  Adam  Smith  und 
die  Entwickelung  der  politischen  Oekonomie"  (1891),  der  Fortsetzung  seiner 
vielseitig  anregenden  Studie  über  „die  philosophischen  Grundlagen  der  von 
Fran9ois  Q  u  e  s  n  a y  und  Adam  Smith  begründeten  politischen  Oekonomie" . 
Hasbach  erklärt  es  zwar,  mit  Nachdruck  als  ein  arges  Missverständnis, 
den  Vertretern  der  Induction  die  Thorheit  zuzumuthen,  sie  seien  gegen  die 
Anwendung  der  Deduction  als  solcher.  Einzig  die  sogenannte  Methode  der 
isolierenden  Abstraction,  ausgehend  von  angenommenen  Ursachen,  welche 
nothwendigerweise  mit  der  Wirklichkeit  nur  wenig  übereinstimmen,  nur 
diese  fälschlich  als  hypothetisch-deductives  Verfahren  bezeichnete  Methode 
müsse  die  realistische  Schule  bekämpfen,  weil  sie  von  Ursachen  ausgehe, 
welche  mit  der  Wirklichkeit  nur  wenig  übereinstimmen.  Als  wenn  die 
Collectiv-Phänomene  Staat,  Volk,  Gesellschaft  der  Geschichte,  oder  die 
Durchschnittswerte  der  Statistik,  oder  auch  nur  die  Generalisierungen  der 
Naturwissenschaften  als  „Realitäten"  bezeichnet  werden  könnten^);  oder  aber 


'j  F.  Wundt,  Log.  II.,  459  und  passim. 


222  Jol^»- 

die  bis  auf  die  Alten  zurückreichende  Logik  und  Ethik,  ebenso  die  Kechts- 
und  Staatswissenschaft,  ja  die  Psychologie  selbst  und  alle  Geisteswissen- 
schaften überhaupt  zur  Entstehung  und  Ausbildung  gekommen  wären,  wenn 
nicht  die  isolierende  Betrachtung  und  Behandlung  des  in  einer  jeden  der- 
selben maassgebenden  Grundtriebes  der  menschlichen  Natur,  das  „abstracto", 
im  strengen  Denken  vollzogene  Experiment  auf  dem  Grunde  der  Beobach- 
tung, der  „Experientia",  thatsächlichlich  ausgeführt  worden  wäre;  u.  zw. 
dies  unter  günstigeren  Bedingungen,  als  diese  Beobachtung  gegenüber  den 
Phänomenen  der  natürlichen  Welt  denkbar  ist;  denn  in  dieser  uns  äusser- 
lich  gegenüberstehenden  Welt  sind  wir  beschränkt  auf  die  Wahrnehmung 
und  Analyse  rein  äusserer  Merkmale;  in  den  Geisteswissenschaften  dagegen 
will  der  Mensch  sich  selbst  erkennen  lernen;  sein  eigen  Thun  und  Leben 
ist  der  Gegenstand  einer  wahrhaft  „unmittelbaren"  Beobachtung,  wie  sie 
von  der  realistischen  Eichtung  so  unablässig  gefordert  wird.^) 

K.  Menger  erklärt  nachdrücklichst:  „In  den  exacten  Social- Wissen- 
schaften sind  die  menschlichen  Individuen  und  ihre  Bestrebungen,  diese  letzten 
Elemente  unserer  Analyse  empirischer  Natur,  die  exacten  theoretischen 
Social- Wissenschaften  somit  in  grossem  Vortheil  gegenüber  den  exacten 
Naturwissenschaften",  deren  letzte  Elemente,  die  „Atome"  und  „Kräfte" 
durchaus  „unempirisch",  thatsächlich  nach  der  von  Hasbach  principiell 
zurückgewiesenen  Methode  der  „isolierenden"  Abstraction,  des  „hypothetisch- 
deductiven"  Verfahrens  gewonnen  sind.  Aus  diesen  „angenommenen" 
Ursachen  schreitet  auch  die  exacte  Naturforschung  zu  den  Wirkungen  vor, 
die  selbst  wiederum  ganz  nothwendi gerweise  mit  der  Wirklichkeit  nur  wenig 
übereinstimmen. "  ^) 

Betont  doch  schon  Knapp  in  seinem  geistvollen  Vortrag:  „Darwin 
und  die  Socialwissenschaften"  (Conrad's  Jahrb.  1872):  „Nicht  Aehnlichkeit 
der  Objecto,    sondern   der  Betrachtungsweisen   liegen    zwischen    der  Social- 


1)  „Der  Hauptsache  nach  obliegt  es  den  Geisteswissenschaften,  zu  beschreiben,  was 
durch  die  Menschen  geschieht;  sie  haben  ein  knappes,  geordnetes,  Uebersicht  und  Ueber- 
Jegung  förderndes  Inventar  der  mannigfaltigen  Lebensäusserungen  auszuarbeiten.  Insoweit 
berühren  sie  nirgends  etwas  Neues;  Alles,  worauf  sie  stossen,  ist  ein  Bekanntes,  muss 
von  irgend  Jemand  erlebt  sein,  in  irgend  Jemandes  Bewusstsein  schon  einmal  auf- 
geleuchtet haben.  Ihre  Hauptaufgabe  ist  es,  aus  Acten  des  Bewusstseins,  die  bisher 
vorzugsweise  dem  praktischen  Gefühl  vertraut  waren,  d.  h.  mit  Rücksicht  auf  immer 
wiederkehrende  Situationen  und  oft  herbeigeführte  Erfolge  vertraut,  und  hiebei  so  dunkel 
und  so  von  der  zufälligen  Erregung  abhängig  waren,  wie  das  Gefühl  selbst,  klar  gefasste, 
und  immer  gegenwärtige  Erkenntnisse  abzuleiten,  welche  dem  Verstände  endgiltig 
gesichert  sind."  v.  Wies  er,  „Ueber  den  Ursprung  und  die  Hauptgesetze  des  wirtschaft- 
lichen Wertes."  §  4. 

-)  Vgl.  K.  M  e  n  g  e  r,  „Untersuchungen  über  die  Methode  der  Social- Wissen- 
schaften". S.  54  mit  S.  157  und  Anm.  51;  in  Letzterer  ist  auch  der  von  der  realistischen 
Richtung  stets  wiederholte  Irrthum  A.  Comte's  zurückgewiesen,  dass  die  socialen 
Phänomene  gegenüber  den  natürlichen  die  „complicirteren",  die  Probleme  der  Social- 
wissenschaft  darum  die  schwierigeren  seien ;  nur  müsse  die  exacte  Methode  der  Natur- 
wissenschaften, unmittelbar  hier  durchaus  unanwendbar,  durch  die  exacte  „socialwissen- 
schaftliche"  ersetzt  werden. 


Zur  Methode  der  heutigen  Social -Wissenschaft.  223 

Wissenschaft  und  der  neuern  Zoologie;  und  nicht  Producte,  sondern  Vor- 
läufer der  Darwin 'sehen  Theorie  sind  die  Social  wissen  Schäften."  Sogar  die 
Schreibweise,  das  Princip  an  der  Spitze,  und  dann  ohne  Scheu  "vor  Wieder- 
holungen, die  Menge  der  Thatsachen  als  Beleg,  habe  Darwin  mit  Malthus 
gemein,   „der  seinerseits  wieder  sich  stark  an  Smith  anlehnt"  (1.  c.  S.  236). 

Gegen  den  trotz  aller  Widerlegung  seitens  der  Naturwissenschaft  und 
Logik  immer  wiederkehrenden  Einwurf  der  realistisch-empirischen  Schule, 
dass  die  Ergebnisse  des  exacten  Denkens  nicht  mit  der  vollen  Wirklichkeit 
übereinstimmen,  kann  abgesehen  von  Menger's  obcit.  Untersuchungen  auch 
Ueberweg  (Logik,  IIL  Aufl.  §.  84  Anm.)  aufgeführt  werden.  Derselbe  be- 
merkt gegen  die  geringschätzige  Art,  in  welcher  Hoppe  (Logik)  von  dem 
Denken  nach  dem  Schema  spricht:  „Mit  gleichem  Kecht  könnte  man  die 
mathematisch-mechanische  Betrachtung  als  einseitig  und  willkürlich  schelten, 
wenn  sie  untersucht,  was  aus  gewissen  „einfachen"  Voraussetzungen  folgt, 
und  dabei  von  andern  Datis  absieht,  von  welchen  jene  in  der  Wirklichkeit 
nicht  abgesondert  vorzukommen  pflegen;  wenn  sie  z.  B.  die  Bahn  und  die 
Stelle  des  Falles  eines  irgendwie  geworfenen  Körpers  nur  auf  Grund  der 
Gravitation  und  der  Beharrung  berechnet,  ohne  den  Miteinfluss  des  Luft- 
widerstandes zu  erwägen,  so  dass  die  concrete  Anschauung  das  Kesultat 
genauer  zu  bestimmen  scheint  und  über  die  Kechnung  zu  triumphieren  ver- 
mag: wollte  aber  die  mathematische  Mechanik  jenes  abstractive .  Verfahren 
nicht  üben,  so  würde  sie  die  Bewegungsgesetze  überhaupt  nicht  zu  erkennen 
vermögen  und  die  Wissenschaft  würde  aufgehoben  sein." 

Und  Wundt  weist  in  seiner  Logik  (IL  235  ff.)  sehr  eingehend  nach, 
dass  nicht  nur  die  alte  antike  Atomistik  ein  rein  speculatives  Gebäude  war, 
sondern  dass  ebenso  der  Grundgedanke  der  mechanischen  Physik  Galilei's 
ebensowenig  unmittelbar  und  ausschliesslich  der  Erfahrung  entnommen  ist, 
wie  die  Begriffe  der  Dynamis  und  Energie  bei  Aristoteles.  Ganz  in  der- 
selben Weise  seien  die  Atome  nur  eine  physikalische  Abstraction.  Und 
ebenso  noihwendig  führe  schon  der  erste  Schritt  der  Psychologie,  die  Ana- 
lyse unserer  Vorstellungen  darauf,  dass  die  einfachen  Vorstellungen,  diese 
Elemente  unseres  wirklichen  Vorstellens,  nur  ein  Product  psychologischer 
Abstraction  sind,  in  der  Erfahrung  nirgends  gegeben.  Welchen  Kechtsgrund 
habe  nun  die  Psychologie,  derartige  Abstracta  überhaupt  in  Kechnung  zu 
ziehen,  si^  als  Elemente  alles  wirklichen  erfahrungsgemässen  Vorstellens 
festzuhalten?  Hierauf  antworte  diese  Wissenschaft  mit  dem  Hinweis  auf  die 
neuere  chemische  Theorie ,  nach  welcher  die  chemisch-einfachen  Körper 
bereits  als  Verbindungen  gleichartiger  Elemente  erscheinen,  welche  chemischen 
Elemente  darnach  ebenfalls  niemals  in  isolirtem  Zustande  vorkommen, 
niemals  „real"  erscheinen,  trotzdem  aber  von  der  Theorie  consequent  als 
real,  als  wirklich  existent  angesehen  werden,  da  sie  Verbindungen  eingehen, 
welche  constante  Wirkungen  üben." 

Dieser  strenge  „Empirist"  resumirt  selbst  als  letztes  Ergebnis  seiner 
Analyse  der  gesammten  Erfahrungswissenschaft  nur  Abstractionen,  nicht 
Ergebnisse  realer  Zerlegung,  u.  zw.  dies  selbst  in  den  experimentellen  Wissen- 


224  Jobn. 

Schäften  e.  S.  „Ist  doch  der  Obersatz  derselben,  die  Vorstellung,  dass  die 
Aussenwelt  ihrem  Inhalt  sowohl  wie  ihrer  Form  nach  erst  das  Product  der 
Erfahrung  sei,  selbst  nur  eine  Annahme.  Ebenso  hypothetisch  ist  der  Satz 
der  genetischen  Theorie,  dass  unsere  Elementar-Vorstellungen  mit  den  reinen 
Empfindungen  identisch  seien." 

Man  niuss  sich  eben  auch  im  Gebiete  der  Geisteswissenschaften  mit 
der  nach  Lotze  in  unserem  psychischen  Mechanismus  begründeten  That- 
sache  befreunden,  dass  alle  unsere  theoretische  Einsicht,  unser  „exactes", 
gesetzmässiges  Wissen  seiner  logischen  und  psychologischen  Natur  nach 
ein  hypothetisches  ist,  dass  jede  exacte  Theorie  nur  erklärt,  was  „unter 
bestimmten  Voraussetzungen"  gesetzmässig  erfolgt,  ohne  zu  behaupten, 
dass  diese  Voraussetzungen  thatsächlich  eintreten,  oder  dass  alle  Variationen 
der  Voraussetzungen  verwirklicht  sind.  So  erklärt  die  mechanische  Theorie 
der  Gase,  dass,  wenn  ein  Körper  ein  Gas  ist,  er  unter  bestimmten  Gesetzen 
des  Druckes,  der  Wärmecapacität.  der  Wärmeausdehnung,  steht;  wie 
vielerlei  Gase  es  gibt,  wie  viele  chemische  Differenzen  derselben,  davon 
wird  durchaus  abgesehen:  diese  aufzuzählen  oder  zu  verfolgen  ist  nicht  die 
Aufgabe  der  mechanischen  Theorie  der  Gase. 

In  gleicher  Weise  muss  es  der  exacten  theoretischen  Nationalökonomie 
z.  B.  zustehen,  von  allen  nicht-wirtschaftlichen  Trieben,  Bestrebungen, 
Handlungen  des  Menschen  zu  abstrahieren,  einzig  die  wirtschaftliche  Seite 
des  menschlichen  Handelns  als  ihr  Untersuchungsgebiet  festzuhalten,  wenn 
sie  zum  Eange  einer  selbständigen  theoretischen  Wissenschaft  aufsteigen  will. 

Das  aber  ist  niemals  auf  dem  Wege  der  unmittelbaren  Beobachtung 
allein  möglich:  denn  da  die  Beziehung  der  sinnlich  wahrnehmbaren  Eigen- 
schaften, Grössenverhältnisse  und  Veränderungen  und  Vorgänge  auf  die  von 
unserem  Erkenntnisbedürfnis  postulierte  Einheitlichkeit  nur  durch  die 
räumliche  und  zeitliche  Synthese,  sowie  dujch  eine  Synthese  der  ver- 
schieden Empfindungsinhalte  zu  einem  Ganzen  denkbar  ist,  so  kann 
die  unmittelbare  Beobachtung,  die  Wahrnehmung  direct  jederzeit  nur  zur 
Beschreibung  der  Dinge  und  Phänomene  führen.  Das  allein  ist  es,  was  die 
Geschichte  zu  leisten  vermag;  die  Beschreibung  der  Ereignisse  und  That- 
sachen  in  ihrer  Entwickelung.  Dasselbe  gilt  aber  ebenso  für  die  Statistik; 
trotz  ihrer  täglich  anwachsenden  Ziffercolonnen  ist  diese  ebenfalls  nur  eine 
vorwiegend  descriptive  Hilfsdisciplin  der  Induction.  So  weist  Wundt, 
Log.  II.  582  ausführlich  nach,  wie  auch  die  Statistik  nur  zur  „quali- 
tativen Darstellung"  gelangt;  ebenso  wie  das  „Gesetz  der  grossen  Zahl" 
zwar  eine  Abstraction,  niemals  aber  ein  „Gesetz"  e.  S.  genannt  werden  dürfe. 
Lexis  führt  in  seiner  „Theorie  der  Massenerscheinungen"  aus,  wie  die 
statistischen  Zahlenreihen  zur  Darstellung  der  historischen  Entwicklung  einer 
speciellen  wirtschaftlichen  Erscheinung;  z.  B.  der  Kohlen-  und  Eisen- 
industrie, der  Baumwollfabrication  in  einem  Lande  und  Zeitraum  dienen; 
oder  dazu,  vermuthete  Beziehungen  zwischen  verschiedenen  Keihen  wirt- 
schaftlicher Erscheinungen  zu  bestätigen;  „auch  die  Volkswirtschaftslehre 
sieht    in    solchen    Nachweisen    nur    insofern    einen    Gewinn,    als    sie    den 


Zur  Methode  der  heutigen  Social -Wissenschaft.  225 

statistisch  beobachteten  Zusammenhang  aus  allgemeinen  Gründen  zu  er- 
klären vermag."  „Auch  zur  Messung  der  Abweichung  der  realen  wirtschaft- 
lichen Massenerscheinungen  von  den  durch  die  Theorie  gewonnenen  ab- 
stracten  Typen  derselben",  sei  die  Statistik  befähigt,  soweit  die*  im 
Wege  der  exacten  Forschung  gewonnenen  theoretischen  Einsichten  in 
den  gesetzlichen  Zusammenhang  der  socialen  Erscheinungen  der  Statistik 
überhaupt  als  Leitstern  dienen.  Es  wird  dieser  Mangel  einer  derartig  be- 
friedigend fundirten  Theorie  heut  ganz  besonders  schwer  vermisst  in  der 
Preis-  und  Lohnstatistik,  welche  von  der  Massen-  zur  Individualerhebung, 
von  dieser  zum  Durchschnitt  und  von  diesem  wieder  zur  Individualisierung 
schreitend,  bis  heut  vergebens  zu  wissenschaftlich  und  praktisch  befriedi- 
genden Einsichten  zu  gelangen  sucht. 

So  ist  es  wohl  erklärlich,  dass  selbst  in  den  nach  Geschichte  und 
Bildungsgang  durchaus  „realistischen"  Volkswirten  Amerikas  gerade  in 
diesen  Problemen  der  heutigen  Wirtschaftswissenschaft  sich  immer  mehr 
das  Bedürfnis  einer  befriedigenderen  theoretischen  Erkenntnis  der  so  viel 
verschlungenen  Zusammenhänge  dieser  Zeitfragen  geltend  macht.  So  bemerkt 
Professor  Clark:  „Bei  unserem  Forschen  nach  einem  Gesetz  des  Arbeits- 
lohnes ruht  unsere  Hoffnung  auf  Erfolg  einzig  darauf,  dass  wir  mit  einer 
erbai-mungslosen  („remorselessly")  theoretischen  Untersuchung  beginnen.  Es 
kommt  einmal  eine  Zeit,  um  auch  jene  „praktischen  Thatsachen"  zu  berück- 
sichtigen, welche  die  Wirksamkeit  der  abstracten  Gesetze  an  tausend 
Punkten  stören;  aber  diese  Zeit  ist  nicht  dann  gekommen,  wenn  das 
Object  der  Forschung  noch  das  fundamentale  Gesetz  selbst  ist.  Bei  der 
Erforschung  eines  noch  unbekannten  Gesetzes  müssen  die  störenden  Ein- 
flüsse vernachlässigt  werden.  Ist  das  Gesetz  gefunden,  dann  muss  man 
auch  diese  Einflüsse  beachten  und  messen." 

Aehnlich  Professor  Stuart  Wood  in  seiner  „Theory  of  Wages":  „Ich 
glaube,  dass  es  von  Vortheil  ist,  die  Wirkungen  verschiedener  Ursachen 
gesondert  zu  betrachten  und  jene  Tendenzen,  die  im  Leben  unentwirrbar 
zusammengemischt  erscheinen,  wenigstens  in  Gedanken  zu  sondern." 

Die  in  allen  Wissensgebieten  als  unerlässliches  Fundament  angestrebte 
exacte  theoretische  Erkenntnis  der  Zusammenhänge  auch  für  die  dem  Menschen 
zu  allernächst  liegenden  socialen  Phänomenen  zu  gewinnen,  dazu  ist  die  noch 
so  eifrig  gepflegte  Geschichte  und  Statistik  deshalb  nicht  befähigt,  weil 
beide  ihrer  methodologischen  Natur  nach  einzig  qualitative  Erkenntnisse 
des  Bestehencten  liefern,  beide  vornehmlich  descriptive  Wissenschaften  sind. 
Ebensowenig  aber  vermag  auch  die  noch  so  scharf  eindringende  Kritik  des 
Bestehenden  mit  den  geistvollsten  Ausblicken  auf  die  zukünftige  Gestaltung  der 
unbefriedigenden  Gegenwart  die  wissenchaftlich  klare,  fest  begründete  Theorie 
zu  ersetzen.  Kritik  wurde  zu  allen  Zeiten,  in  ganz  ausgezeichneter  Weise  schon 
von  den  Alten  an  den  socialen  Verhältnissen  und  Institutionen  geübt,  ohne 
dass  deshalb  schon  eine  tiefere  theoretische  Einsicht  gewonnen  worden  wäre. 
So  bemüht  sich  Xenophon  im  „Oikonomikos",  uns  den  Grund  klar  zu 
machen,    warum    bei    dem  Volke    der    Griechen    seinerzeit    die    handwerks- 


226  Jolm. 

massigen  Gewerbe,  die  vorwiegend  manuelle  Thätigkeit  des  Menschen  so 
missachtet  und  gemieden  war.  „Sie  zerstört  Gesundheit  und  Körper  ihrer 
Arbeiter,  denn  die  einen  müssen  ganze  Tage  am  Feuer  sitzen,  andere 
ebenso  lange  sich  an  feuchtkühlen  Orten  aufhalten  und  wieder  andere  be- 
ständig sitzen.  Sind  aber  die  Leiber  entkräftet  und  verunstaltet,  so  wird 
die  Seele  es  nicht  minder.  Und  woher  sollen  die  Handwerker  überdies  die 
Zeit  gewinnen  zu  ihrer  Bildung,  woher  die  Zeit  finden  für  ihre  Freunde." 

Und  mit  wahrhaft  souveräner  Verachtung  spricht  Cicero  (De  offic.  I.  42) 
vom  Handel.  „Wird  derselbe  im  Kleinen  betrieben,  ist  er  ein  schmutziges 
Geschäft;  gebietet  er  über  grosse  Mittel,  so  taugt  er  nicht  viel  mehr;  denn 
ohne    zu   lügen   und   zu  betrügen  machen    die  Kaufleute  keinen  Gewinn." 

Und  trotz  dieser  Kritik  besteht  Handel  und  Handwerk  bis  heute  wie 
ehedem;  trotz  des  sich  selbst  bewegenden  Weberschiffchens  sehen  wir  eine 
verhältnismässig  hohe  Quote  der  Menschheit  im  Dienste  der  Production  und 
des  intermediären  Stoffwechsels  gebunden;  ein  Beweis,  dass  Ausgangspunkt 
und  Endziel  aller  menschlichen  Wirtschaft  in  letzter  Keihe  durch  die  ewig 
gleichen,  unverwischbaren  Grundzüge  der  Menschennatur  einerseits  und  die 
Begrenztheit  der  uns  gegenständlichen  Natur  andererseits  streng  determinirt 
sind;  dass  darum  auch  die  letzten  Zusammenhänge  dieser  Wirtschaft  ihre 
typische,  exact  messbare  Entwickelung  aufzeigen  müssen,  welche  ebenso  das 
Problem  einer  exacten  theoretischen  Menschheitswissenschaft  bilden,  wie  die 
exact  messbaren  Causalzusammenhänge  im  Reich  der  natürlichen  Schöpfung 
sich  in  der  theoretischen  Naturwissenschaft  widerspiegeln.  Es  sind  deshalb  die 
in  dieser  Richtung  vielseitig  anregenden  neuesten  englisch -amerikanischen 
Publicationen,  so  ganz  vornemlich  die  „Principles  of  Political  Economy"  von 
Prof.  Marshall,  Patten's  Versuch  einer  Theorie  der  Consumtion  und  die 
hiemit  zusammenhängenden  Special-Untersuchungen  der  englisch-amerikani- 
schen Literatur^)  als  die  Fortbildung  der  von  K.  Menger  und  Stanley 
Jevons  neu  begründeten  exacten  theoretischen  Forschung  der  Socialwissen- 
schatt  freudig  zu  begrüssen. 


1)  Es  sei  hiefiir  nur  auf  den  reichen  Inhalt  des  von  Prof.  Edgeworth  (Oxford) 
redigierten  „Journal  of  the  British  Economic  Association,"  auf  die  aufstrebenden  „Annais 
of  the  American  Academy  of  Political  and  Social  Science"  und  die  hieher  gehörige 
Monographie-  und  Uebersetzungs-Literatur  hingewiesen. 


ÜBEE  MELIOßATIONSCREDIT  MIT  BESONDERER 
RÜCKSICHT  AUF  ÖSTERREICH.^) 

VON 

\ 
DK-  ALBIN  BRAF, 

PROF.  AN  DER   BÖHM.  UNIVERSITÄT  IN  PRAG. 


Das  Reichsgesetz  vom  30.  Juni  1884,  betreffend  die  Förderung  der 
Landescuitur  auf  dem  Gebiete  des  Wasserbaues,  hat  für  die  Entwickelung 
des  landwirtschaftlichen  Meliorationswesens  in  Oesterreich  einen  Wendepunkt 
gebildet,  indem  es  auf  fester  Grundlage  ein  System  öffentlicher  Beihilfen 
für  eine  Gruppe  der  wichtigsten  einschlägigen  Arbeiten  schuf.  Gleichwohl 
hat  dieses  Gesetz  —  selbst  mit  Zurechnung  desjenigen  über  die  unschäd- 
liche Ableitung  der  Gebirgswässer  —  nur  einen  Theil  eines  weit  umfassen- 
deren Programmes  zur  Ausführung  gebracht,  dessen  allgemeine  Umrisse  in 
den  Motiven  des  Regierungsentwurfes  entwickelt  worden  waren.  §  1  des 
Entwurfes  hatte  nämlich  eine  Classificierung  der  einschlägigen  Meliorationen 
vorgenommen  und  dabei  unterschieden :  Meliorationen  erster  Ordnung,  zu 
w^elchen  er  Regulierungen  von  Flüssen  in  erheblichen  Strecken  und  Ent- 
oder  Bewässerungen  grösserer  Landstriche  durch  bauliche  Herstellungen 
von  erheblichem  Aufwand  rechnete  —  Meliorationen  zweiter  Ordnung,  unter 
welche  namentlich  Herstellungen  im  Quellengebiet  zur  Hintanhaltung  von 
Abschwemmungen  und  Geschiebebewegungen,  locale  Schutzherstellungen  an 
Flüssen,  Regulierungen  von  kleinen  Gewässern  eingereiht  wurden  —  endlich 
Meliorationen  dritter  Ordnung,  „bei  welchen  das  öffentliche  Interesse  unmit- 
telbar nicht  berührt  erscheint,  wie  insbesondere  locale  Schutzbauten  und 
Ent-  oder  Bewässerungsanlagen  zum  Yortheile  einzelner  Grundcomplexe  oder 
Grundstücke,  mögen  sich  diese  Herstellungen  Meliorationen  höherer  Ord- 
nung anschliessen  oder  ein  selbständiges  Unternehmen  bilden." 


1)  Vorliegende  Abhandlung  enthält  die  Zusammenfassung  der  Ergebnisse  einer 
vom  Autor  im  Jahre  1890  zu  Prag  in  böhm.  Sprache  verüfFentlichten  ausführlichen  Mono- 
graphie über  Meliorationscredit. 


22S  B^''^f- 

In  Rücksicht  der  letztgenannten  Gruppe,  der  „Meliorationen  dritter 
Ordnung"  des  Entwurfs,  bemerkten  die  Motive,  da  sie  unmittelbare  Förde- 
rung derselben  aus  Staatsmitteln  für  unthunlich  hielten,  es  bleibe  „eine 
der  dankbarsten  Aufgaben  der  einzelnen  Länder  im  Anschlüsse  an  bereits 
bestehende  Landesanstalten  für  den  Bodencredit  oder  duich  selbständige 
Landesanstalten  oder  unter  Heranziehung  anderer  öffentlicher  Creditanstalten 
Einrichtungen  zu  treffen,  durch  welche  dem  Landwirte  ermöglicht  wird, 
thunlichst  billige,  unkündbare  und  in  angemessener  Weise  amortisierbare 
Darlehen  zur  Ausführung  solcher  Meliorationen  zu  erlangen,  eine  Aufgabe, 
mit  der  sich  bekanntlich  in  einigen  österreichischen  Ländern  bereits  befasst 
wird.  Sobald  —  heisst  es  weiter  —  die  Verhandlungen  in  dieser  Richtung 
eine  concretere  Gestalt  angenommen  haben  werden,  wird  allerdings  auch  an 
die  Regierung  und  Reichsgesetzgebung  die  Aufgabe  herantreten,  über  die 
Begünstigungen  schlüssig  zu  werden,  mit  welcher  solche  Darlehen  in  finan- 
zieller und  vielleicht  auch  in  civilrechtlicher  Hinsicht  ausgestattet  werden 
könnten." 

In  der  That  war  es  namentlich  dem  Beispiele  des  kurz  zuvor  erlassenen 
preussischen  Gesetzes  über  die  Errichtung  von  Landescultur-Rentenbanken 
zu  danken,  dass  alsbald  in  einigen  österreichischen  Ländern  Vorschläge  ge- 
macht wurden,  Landescultur-Rentenbanken  als  Landesanstalten  zu  gründen, 
So  zunächst  in  Vorarlberg  und  Steiermark.  Im  Vorarlberger  Landtage  brachte 
1881  Ritter  v.  TschavoU  einen  Entwurf^)  ein,  der  sich  wesentlich  an  das 
preussische  Muster  anlehnte;  dem  steiermärkischen  vom  Landesausschusse 
selbst  im  Jahre  1882  ausgearbeiteten  Entwürfe^)  diente  hauptsächlich  das 
ältere  sächsische  Gesetz  als  Vorbild.  In  beiden  Fällen  blieb  es  beinj  blossen 
Anlauf  und  nicht  günstiger  war  das  Schicksal  einer  im  Jahre  1887  im 
mährischen  Landtage  beschlossenen  Resolution  ^).  Erst  die  im  Jahre  1889 
ins  Leben  gerufene  böhmische  Landesbank  finden  wir  mit  speciellen  Ein- 
richtungen für  Meliorationscredit  ausgestattet.  Fast  gleichzeitig  hat  Ungarn 
—  durch  Gesetzartikel  XXX  vom  Jahre  1889  —  die  Grundlagen  zu  einer 
selbständigen  Organisation  des  Flussregulierungs-  und  Bodenmeliorations- 
credits  gelegt.  Es  ist  zu  gewärtigen,  dass  die  in  einigen  Ländern  unter- 
dessen durchgeführte  oder  in  Angriff  genommene  bessere  Regelung  des 
culturtechnischen  Dienstes,  die  zunehmende  Pflege  des  culturtechnischen 
Unterrichts  und  die  höhere  Dotierung  des  Meliorationsfonds  auch  auf  dem 
Gebiete  des  Meliorationscredits  zu  neuen  Versuchen  Anlass  geben  wird. 
Das  Studium  dieses  eminent  neuzeitlichen  Specialzweiges   der  Creditorgani- 


')  Veröffentlicht  unter  dem  Titel  „Die  Landescultur-Kentenbanken  ein  Mittel  zur 
Hebung  der  Bodeneultur"  von  Ritter  v.  TschavoU. 

-)  Steierm.  Landtag,  V.  Landtagsperiode,  IV.  Session,  Beil.  Nr.  19.  1882. 

^)  Mährische  Landtagsberichte  von  1887,  Z.  409  und  726.  —  Nach  §  7  des  neuen 
Statuts  der  mährischen  Hypothekenbank  i^vom  26.  Juni  1890)  kann  die  Hälfte  des 
Reservefondes  zu  Bardarlehen  an  Gemeinden,  Strassenausschüsse  und  Wassergenossen- 
schaften verwendet  werden.  —  Auch  die  galizische  Landesbank  kann  statutengemäss 
Meliorationsdarlehen  gewähren,  hat  aber  kein  besonderes  Regulativ  hiefür. 


üeber  Meliorationscreclit  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Oesterreich.  229 

sation  kann  also  gegenwärtig  für  Oesterreich  nicht  ohne  Interesse  und 
Nutzen  sein.  Zwar  wurde  er  bisher  von  der  Fachliteratur  wenig  beachtet. 
Allein  es  liegt  in  den  theilweise  schon  seit  Decennien  in  Wirksamkeit 
stehenden  fremdländischen  Institutionen  ein  reichhaltiges  und  belehrendes 
Material  vor,  das  nur  gesichtet  und  dienstbar  gemacht  werden  will.  Da  das 
wirtschaftliche  Wesen  des  Meliorationscredits  überall  das  Gleiche  bleibt,  so 
kann  man  auch  von  vorneherein  annehmen,  dass  die  diesem  Wesen  ent- 
springenden banktechnischen  Einrichtungen  überall  die  gleiche  Grundstructur 
aufweisen  Averden.  Die  bedeutendsten  Abweichungen  haben  ihre  Ursachen 
nicht  so  sehr  auf  wirtschaftlichem,  als  vielmehr   auf  rechtlichem  Gebiete. 

Der  Begriff  der  Bodenmelioration  wird  sowohl  in  der  technischen 
Fachliteratur,  als  auch  in  der  Legislation  in  verschiedenem  Umfange  ge- 
braucht. W^ährend  beispielsweise  die  Techniker  vielfach  geneigt  sind,  dabei, 
wenn  nicht  ausschliesslich,  so  doch  hauptsächlich  an  solche  Arbeiten  zu 
denken,  welche  mit  W^asserbauten  zusammenhängen,  gehen  die  beiden  eng- 
lischen Agricultural  Holdings  Acts  von  1875  und  1883  so  weit,  auch  die 
blosse  Düngung  mit  nicht  aufgelöstem  Knochenmehl,  gebrannter  Erde,  Kalk, 
Thon  u.  s.  w.  den  „improvements  of  land"  beizuzählen.  Allerdings  beziehen 
sich  diese  letztgenannten  Gesetze  lediglich  auf  die  Ersatzansprüche  des 
Pächters  wegen  vorgenommener  Bodenverbesserungen,  deren  Wiedererstattung 
aus  den  Erträgnissen  des  gepachteten  Objectes  ihm  durch  vorzeitige  Kündigung 
unmöglich  gemacht  wurde.  Soweit  Fragen  des  Meliorationscredits  in  Betracht 
kommen,  erscheint  der  Begriff  von  Bodenmeliorationen  allgemein  auch  in 
den  englischen  Gesetzen  enger  gefasst.  Die  dort,  sowie  in  den  ähnliche 
Zwecke  verfolgenden  Gesetzen  anderer  Staaten  aufgezählten  Meliorationsarten 
lassen  sich  charakterisieren  als  Capitalverwendungen,  welche  entweder  ganz  neue 
Quellen  des  Ertrags  schaffen  —  Urbarmachungen  bisher  ganz  unproductiven 
Bodens  —  oder  bei  bereits  Ertrag  lieferndem  Boden  eine  relativ  dauernde 
Grundlage  der  Ertragssteigerung  bewirken.  Allerdings  gäbe  der  Ausdruck 
„relativ  dauernd"'  noch  keine  genaue  Umgrenzung.  Man  wird  wohl  nicht 
fehlgehen,  wenn  man  ihn  dahin  näher  deutet,  dass  damit  Zeiträume  gemeint 
erscheinen,  welche  über  den  Umfang  der  bei  höchstintensiven  Feldbau- 
betrieben  vorkommenden  Turnusperioden  hinausgehen,  ja  in  der  Mehrzahl 
der  wichtigsten  Fälle  sich  über  eine  Keihe  derselben  erstrecken  i). 

Dabei  kann  die  „relativ  dauernde"  Ertragssteigerung  bewirkt  werden; 

1.  Durch  Einrichtungen,  welche  schädliche,  mehr  oder  minder  regel- 
mässig eintretende  Einflüsse  verhindern  (Schutzdeiche,  Thalsperren  u.  dgl.)  oder 


^)  Wenn  Pereis  in  seinen  sehr  belehrenden  „Abhandlungen  über  Culturtechnik" 
(Jena  1889,  S.  121)  von  der  Drainage  behauptet,  die  Dauer  derselben  könne  als  fast 
unbegrenzt  angesehen  werden,  so  gilt  das  freilich  nur  unter  den  dort  angeführten  zahl- 
reichen Voraussetzungen.  In  der  noch  weiter  unten  zu  berührenden  englischen  Enquöte 
vom  Jahre  1873  wurde  eine  Menge  Sachverständigerangaben  über  die  Durchschnittsdauer 
verschiedener  Meliorationsarten,  auch  der  Drainage,  niedergelegt.  Knauers  berühmt 
gewordener  Artikel  über  die  Drainage  in  Fühlings  „Neue  landw.  Zeitung"  (1868)  gibt 
die  Dauer  der  Drainageeinrichtungen  mit  20—30,  ja  bis  40  Jahren  an. 


230  Bräf. 

2.  durch  solche,  welche  bei  unveränderten  Bedingungen  des  Rohertrages 
eine  Ersparnis  der  Productionskosten  herbeiführen  (Transportcanäle,  Feld- 
oder Waldwege,  Holztriften)  oder  endlich 

3.  durch  Veranstaltungen,  welche  gleichzeitig  den  Roh-  und  Reinertrag, 
den  letzteren  der  Regel  nach  in  vergleichsweise  höherem  Maasse  steigern 
(Ent-  oder  Bewässerungen,  Bodenbereinigungen  u.  v.  a.). 

Auf  diese  Gesichtspunkte  wäre  wenigstens  eine  wirtschaftliche 
Classification  der  Bodenmeliorationen,  im  Gegensatze  zu  den  in  technischen 
Schriften  von  dem  betreffenden  Fachstandpunkte  aufgestellten,  zurückzu- 
führen. In  der  Wirklichkeit  werden  allerdings  Combinationen  der  hier  auf- 
gestellten Grundtypen  die  häufigsten  Fälle  bilden.  So  tendieren  beispiels- 
weise unsere  heutigen  Regulierungen  kleinerer  Wasserläufe  immer  mehr 
dahin,  das  Schutzmoment  mit  der  positiven  Ausnützung  des  Wassers  zu 
systematischen  Be-  oder  Entwässerungen  zu  verbinden  und  damit  jenem 
Ideale  rationeller  Wasserwirtschaft  näherzukommen,  welches  das  Endziel 
der  modernen  Culturtechnik  bildet. 

Wie  bei  jeder  Credituperation,  welche  auf  die  Verwendung  des  ent- 
liehenen Capitals  zur  Herstellung  stehender  Anlagen  abzielt,  die  nur  eine 
ratenmässige  Wiedererstattung  aus  den  laufenden  Erträgen  vieler  Betriebs- 
perioden ermöglichen,  so  gibt  es  auch  bei  dem  sog.  Meliorationscredit 
nur  eine  natürliche,  d.  i.  aus  seinem  Wesen  selbst  abgeleitete  Creditform, 
die  des  unkündbaren  Darlehens  mit  Annuitätstilgung,  welche  wiederum 
nach  der  bekannten  Grundregel  aller  Creditvermittlung  —  wenigstens  für 
die  diesen  Zweig  der  Activgeschäfte  fachmässig  betreibenden  Banken  — 
die  Beschaffung  des  nöthigen  Capitals  durch  Emission  unkündbarer  Obliga- 
tionen als  das  zweckmässigste  Mittel  erscheinen  lässt. 

Insoweit  keine  anderweitigen  Momente  in  Betracht  kämen,  könnte 
man  annehmen,  dass  für  die  Bedürfnisse  des  Meliorationscredits  unsere 
gewöhnlichen  Hypothekenbanken,  ja  selbst  andere  Creditinstitute  ausreichen 
würden,  soweit  sie  nur  in  der  Lage  wären,  unkündbare  Darlehen  mit  Annui- 
tätstilgung zu  bieten.  Bekanntlich  hat  auch  diese  Aufgabe  den  Gründern 
der  modernen  Bodencreditinstitute  vorgeschwebt;  viele  —  darunter  auch 
der  französische  Credit  foncier  —  haben  dies  selbst  in  ihren  Statuten  zum 
Ausdruck  gebracht.  Es  unterliegt  ja  keinem  Zweifel,  dass  dort,  wo  der 
Hypothekarcredit  in  einem  vollkommenen  System  des  Hypothekenrechtes 
und  einem  geordneten  Grundbuchwesen  feste  Stützen  findet,  dieser  Weg 
der  leichteste  und  billigste  sein  wird,  aber  nur  für  diejenigen  Creditbedürf- 
tigen,  deren  Bodenverschuldung  die  statutenmässige  Sicherheitsgrenze  der 
Hypothekenbank  noch  nicht  erreicht  hat.  Nun  hat  aber  in  unseren  Ländern 
die  Verschuldung  vielfach  diese  Grenze  schon  erreicht  oder  ist  derselben 
wenigstens  so  nahe  gekommen,  dass  kein  genügender  Spieh'aum  für  weitere 
neue  gleich  wohlfeile  Creditbenützung  verblieb. 

Neben  diesen  Fällen,  in  welchen  die  bestehenden  Bodencreditinstitute 
nicht  mehr  zugänglich  sind,  giebt  es  eine  zahlreiche  Gruppe  von  Melio- 
rationsunternehmungen, die  ganz  abgesehen  von  der  Höhe  der  bestehenden 


Ueber  Meliorationscredit  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Oesterreich.  231 

Grundverschuldung  die  Benützung  des  üblichen  Hypothekarcredits  u  n  z  w  e  c  k- 
massig  erscheinen  lassen.  Es  sind  dies  all  diejenigen,  welche  nur  durch 
genossenschaftliche  Vereinigungen  zahlreicher  kleiner  Landwirte  bewirkt 
werden.  Hier  muss  der  gesetzliche  Vorzug  einer  Reihe  der  letztfälligen 
laufenden  Jahresschuldigkeiten  vor  anderen  auf  nicht  privilegierten  Titeln 
beruhenden  Forderungen  und  solidare  Haftung  der  Betheiligten  als  hinrei- 
chende Garantie  erachtet  werden. 

Ganz  anderer  Art  sind  die  Schwierigkeiten,  welche  der  Benützung 
einfachen  Hypothekarcredits  zu  Meliorationszwecken  entgegenstehen ,  in 
Staaten ,  woselbst  entweder  die  Institution  öffentlicher  Grundbücher  in 
unserem  Sinne  gar  nicht  besteht  —  wie  in  England  —  oder  wo  die  Ent- 
wickelung  des  Hypothekarcredits  gelähmt  ist  infolge  der  Mängel  des  mate- 
riellen Hypothekenrechtes,  insbesondere  durch  übermässige  Abweichungen 
vom  Princip  der  zeitlichen  Priorität  (Frankreich,  Italien)  ^).  Hier  werden 
die  Hindernisse  geordneten  und  billigen  Hypothekarcredits  auch  zu  Hinder- 
nissen der  Entwickelung  des  Meliorationscredits. 

Aus  dem  Gesagten  erhellt,  dass  der  Credit  für  Meliorationszwecke 
—  soweit  für  die  Bedürfnisse  desselben  die  gewöhnlichen  Hypotheken- 
banken sich  nicht  eignen  oder  wo  sie  demselben  nicht  mehr  genügen 
können  —  besondere  auf  die  Eigenart  seines  Wesens  basierte  Einrichtungen 
erheischt.  Diese  Eigenart  beruht  aber  eben  darin,  dass  mit  Hilfe  des  Melio- 
rationsdarlehens eine  Ertragserhöhung  der  bezüglichen  Grundstücke  bewirkt 
werden  soll  und  —  bei  Voraussetzung  eines  tauglichen  Projectes  und  ent- 
sprechender Ausführung  —  auch  bewirkt  werden  kann.  Hierin  liegt  der 
natürliche  Ausgangspunkt  jedes  Meliorationscredits  und  der  wesentlichste 
Unterschied  des  letzteren  von  dem  gewöhnlichen  Bodencredit.  Für  jenen 
ist  der  beabsichtigte  Verwendungszweck  des  Darlehens  bestimmend,  dieser 
fragt  nach  demselben  gar  nicht;  jener  geht  von  dem  künftigen  von  der 
Verwendung  des  Darlehens  abhängenden  Werte  des  Pfandobjectes  aus, 
dieser  berücksichtigt  nur  schablonenmässig  die  Sicherheitsgrenzen  des  gegen- 
wärtigen: bei  jenem  muss  der  Gläubiger  die  Verwendung  des  Darlehens 
controlieren,  bei  diesem  geht  sie  den  Gläubiger  gar  nichts  an. 

Die  üebereinstimmung  zwischen  den  nothwendigen  Einrichtungen  des 
Meliorationscredits  und  der  üblichen  Organisation  des  Hypothekarcredits 
beschränkt  sich  also  lediglich  auf  den  Umstand,  dass  in  beiden  Fällen 
unkündbare  annuitätsmässig  zu  tilgende  Darlehen  gewährt  und  dem  ent- 
sprechend auch  die  Capitalbeschaffung  geregelt  wird.  At)er  es  folgt  wiederum 
aus  dem  Wesen  des  Meliorationscredits,  für  welchen  der  wirtschaftliche 
Zweck  des  Darlehens  maassgebend  ist,  dass  derselbe,  entgegen  der  schablonen- 
mässigen  Festsetzung  des  Abstattungszeitraums  bei  den  gewöhnlichen  Boden- 
creditinstituten.  in  der  Lage  ist,   auf  Grund  der  fachmännisch   berechneten  • 


1)  Die  misslichen  Verhältnisse  des  Grundpfandcredits  in  England  haben  neuestens 
in  dem  trefflichem  Buche  Polio cks  (Das  Recht  des  Grundbesitzes  in  England.  Uebers. 
von  Schuster  1889)  eine  für  den  Juristen  und  Volkswirt  gleich  anziehende  Behandlung 
gefunden.    Für  Frankreich    vgl.    Josse  au  Traite  du  Credit  Foncier.  3.  Ausg.  IL,  S.  42. 


282  Braf. 

bevorstehenden  Ertragserliöhung  den  Abzahliingstermin  jeweils  der  Indivi- 
dualität des  Falles  anzupassen.  Diese  Individualisierung  als  Befugnis  und 
Pflicht  der  über  die  Gewährung  des  Darlehens  entscheidenden  Organe  hat, 
wie  wir  sehen  werden,  in  der  That  in  einzelnen  der  betreffenden  Gesetze, 
nämlich  denjenigen  Englands  und  Preussens,  wirklich  Eingang  gefunden. 

Von  weit  belangreicherer  praktischer  Wichtigkeit,  als  die  letzterwähnte 
Frage,  sind  die  Erwägungen,  auf  welche  Weise  der  Thatsache,  dass  die 
Melioration  „die  Hypothek  bessere",  im  Interesse  günstiger  Darlehens- 
bedingungen Geltung  verschafft  werden  solle.  Die  Idee,  dass  die  Melioration 
selbst  „ein  neues  Pfand  schaffe",  hat  es  namentlich  den  zunächst  inter- 
essierten landwirtschaftlichen  Kreisen  mehr  oder  weniger  als  selbstverständ- 
lich erscheinen  lassen,  dass  dem  Meliorationsdarlehen  die  gesetzliche  Prio- 
rität vor  den  auf  der  meliorierten  Liegenschaft  bereits  haftenden  Hypotheken 
eingeräumt  werden  müsse.  Ein  Bericht  des  preussischen  Abgeordnetenhauses 
aus  der  Zeit  vor  der  Erlassung  des  Gesetzes  über  die  Landescultur-Kenten- 
banken  hatte  erklärt,  die  ganze  Institution  sei  ohne  die  obligatorische 
Priorität  der  Kentenbriefe  vor  allen  übrigen  Forderungen  ohne  durchgreifen- 
den praktischen  Wert.  Und  auch  in  Oesterreich  konnte  man  zur  Zeit,  als 
die  Gesetzvorlage,  betreffend  den  Eeichsmeliorationsfond,  den  Anlass  zu  den 
ersten  Berathungen  über  die  Organisierung  des  Meliorationscredits  gegeben 
hatte,  ähnlichen  Wünschen  begegnen  ^).  Aber  ebenso  lebhaft  wie  sie  von 
interessierter  Seite  gestellt,  wurden  diese  Begehren  von  Denjenigen  bekämpft, 
welche  die  grosse  Bedeutung  des  auf  den  strengen  Principien  der  Specia- 
lität.  Publicität  und  Priorität  aufgebauten  Hypothekenrechtes  für  das  moderne 
Schuldrecht  obenanstellen  und  in  dem  Kange  der  bisherigen  Hypothekar- 
gläubiger ein  erworbenes  Eecht  erblicken,  das  durch  die  Folgen  eines  Irr- 
thums  in  der  fachmännischen  Abschätzung  der  durch  die  Melioration  zu 
bewirkenden  Werterhöhung  bei  Gewährung  des  erwähnten  gesetzlichen  Vor- 
ranges geschädigt  würde.  Und  es  wurde  insbesondere  mit  grossem  Nach- 
druck hervorgehoben,  dass  wohl  der  Gläubiger  einer  kündbaren  Hypothekar- 
forderung die  Möglichkeit  habe,  sich  durch  rechtzeitige  Kündigung  gegen 
die  drohende  Kangseinbusse  und  das  hieraus  resultierende  Kisico  zu  schützen, 
dass  dieser  Ausweg  aber  der  ungeheuren  Summe  unkündbarer  Forderungen 
diverser  Creditinstitute  nicht  zu  Gebote  stehe  ^).  Einer  der  scharfsinnigsten 
modernen  Forscher  auf  dem  Gebiete  des  Creditwesens  —  Karl  K  n  i  e  s  ^)  — 
glaubte  diesen  Interessenzwiespalt  mit  Kücksicht  auf  die  damals  in  Preussen 
schwebenden  Verhandlungen  „billig  und  gerecht"  dadurch  zu  lösen,  dass 
er  —  in  Berücksichtigung  des  möglichen  Irrthums  in  der  Calculierung  der 


*)  So  beispielsweise  in  den  Verhandlungen  des  böhmischen  Landesciüturrathes  in 
den  Jahren  1881  und  1882. 

2)  Mit  Nachdruck  haben  die  auch  sonst  sehr  lehrreichen  Motive  zu  dem  preussischen 
Gesetzentwurfe  über  Landescultur-Rentenbanken  diesen  Umstand  betont,  indem  sie  hervor- 
hoben, dass  lediglich  in  Preussen  im  Jahre  1877  für  1260  Millionen  Mark  Schuldbriefe 
der  Bodencreditanstalten  in  Umlauf  waren. 

3)  Der  Credit.  IL  (Berlin  1879).  S.  312. 


Ueber  Meliorationscredit  mit  besonderer  Eücksicht  auf  Oesterreich.  233 

Werterhöhung,  andererseits  aber  in  der  Erwägung,  „dass  der  vor  der  Be- 
werkstelligung  einer  durch  allgemeine  Anerkennung  gebilligten  Melioration 
schon  vorfindliche  Gläubiger  doch  auch  keinesfalls  als  berechtigter  Anwärter 
auf  eine  Verstärkung  des  bisherigen  von  ihm  selbst  als  genügend  behan- 
delten Pfandgutes  anzusehen  ist"  —  den  Vorschlag  machte,  „die  gleiche 
und  volle  Parität  des  alten  und  des  neuen  Gläubigers  bezüglich  ihrer  hypo- 
thekarischen Sicherung"  zu  statuieren.  Etwas  Bestechendes  hat  dieser 
Compromissversuch  für  den  ersten  Blick  gewiss.  Allein  seine  Gerechtigkeit 
und  Billigkeit  ist  doch  anzuzweifeln.  K  n  i  e  s  hat  allerdings  seinen  Vorschlag 
nur  auf  die  Fälle  von  Meliorationen  beschränkt,  bei  welchen,  wie  bei  Cor- 
rectionen  von  Wasserläufen,  Anlagen  zur  Bewässerung  und  Entwässerung, 
Zusammenlegungen  von  Grundstücken  —  besondere  Voraussetzungen  gesetz- 
licher Zwangshilfe,  staatliche  Prüfung  der  Projecte  u.  s.  w.  platzgreifen. 
Allein  auch  solche  Fälle  schliessen  in  concreto  den  Irrthum  über  die  Trag- 
weite der  Werterhöhung  nicht  aus,  also  wenn  nicht  gerade  über  das  Ent- 
stehen des  , neuen  Pfandobjectes",  zum  mindesten  über  dessen  Umfang. 
Bestehen  grundsätzliche  Bedenken  gegen  die  Ueberwälzung  des  ganzen 
Risicos  einer  missglückten  Melioration  auf  den  alten  Gläubiger,  so  bestehen 
sie  auch  rücksichtlich  der  Ueberwälzung  des  halben.  Dass  demnach  der 
preussische  Gesetzgeber  auf  diese  Idee  der  Risicohalbierung  nicht  einge- 
gangen ist  aus  Gründen,  die  oben  angedeutet  worden  sind,  und  die  bei  der 
verwandten  Grundlage  des  Hypothekenrechtes  auch  für  Oesterreich  gelten, 
kann  ihm  nicht  zum  Vorwurf  gemacht  werden. 

England,  Frankreich  und  Italien  haben  sich  freilich  nicht  gescheut, 
unter  bestimmten  Cautelen  dem  Meliorationsdarlehen  den  Rangsvorzug  zu 
bewilligen.  Allein  gefade  rücksichtlich  dieser  Staaten  unterliegt  es  keinem 
Zweifel,  dass  die  Einräumung  des  Privilegiums,  welche  lediglich  die  Zahl 
der  schon  bestehenden  mannigfachen  gesetzlichen  Vorzugsrechte  vermehrt, 
dem  Geiste  ihres  Rechtes  nicht  widerstreitet,  dass  sie  aber  gleichzeitig 
unter  solchen  Verhältnissen  den  einfachsten  Weg  eröffnet  hat,  um  genügend 
sichere  und  daher  auch  billige  Meliorationsdarlehen  zu  erhalten. 

Und  in  der  That  ist  die  Billigkeit  des  Darlehens  dasjenige  Ziel,  um 
welches  sich  diese  ganze  Frage  dreht.  Alles  Interesse  an  der  Gewährung 
des  Vorrangs-Privilegiums  entspringt  nur  daraus.  Gelingt  es  daher  auf 
anderem  Wege,  dieses  eigentliche  Ziel  —  die  Wohlfeilheit  des  Darlehens  — 
zu  erreichen,  dann  kann  das  Problem  des  Meliorationscredites  auch  für 
solche  Länder  als  gelöst  betrachtet  werden,  welche  aus  Gründen  der  Rechts- 
ordnung Anstand  nehmen  müssen,  eine  Bresche  in  die  bewährten  Grund- 
festen ihres  materiellen  Hypothekenrechtes  zu  eröffnen. 

Ebenso,  wie  bei  der  Gründung  unserer  Landeshypothekenbanken  (ob- 
wohl sie  genau  umschriebene  Sicherheitsgrenz^en  für  ihre  Darlehen  aufstellen) 
in  der  Garantierung  ihrer  Pfandbriefe  von  Seiten  der  betreffenden  Länder  das 
wirksamste  Mittel  wohlfeilen  Credits  erblickt  wurde,  so  haben  auch  Preussen 
und  andere  deutsche  Staaten  bei  Organisierung  des  Meliorationscredits  diesem 
Mittel   vor   der   Alterierung   ihres  Hypothekenrechtes   den  Vorzug  gegeben. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  8ocialpolitik  und  Verwaltung.  II.  Heft.  -  -in 


234  B^-af. 

In  gesunden  agrarischen  Zuständen  bei  steigenden  Preisen  oder  wenig- 
stens nicht  ungünstigen,  genügend  stabilisierten  Absatzverhältnissen  liegt 
für  Gesetzgebung  und  Verwaltung  kein  Anlass  vor,  sich  um  die  entspre- 
chende Organisation  des  Meliorationscredits  in  höherem  Maasse  zu  inter- 
essieren, als  um  die  irgend  eines  anderen  Zweiges  des  Privatcredits.  Auf 
diesem  Standpunkte  des  nur  gewöhnlichen  Interesses 
steht  gegenwärtig  keiner  der  grossen  Culturstaaten  Eu- 
ropas. In  England  und  Preussen  gieng  der  gegenwärtigen  Organisation 
des  Meliorationscredits  die  unmittelbare  Unterstützung  landwirtschaftlicher 
Meliorationen  durch  Darlehen  aus  Staatsmitteln  voraus  ^),  auch  Frankreich 
war  in  den  ersten  Jahren  des  zweiten  Kaiserreichs  auf  diesen  Modus  bedacht. 
Als  jedoch  in  allen  diesen  Staaten  diese  Aufgabe  dem.  Privatcapital  über- 
wiesen wurde,  geschah  es  unter  Einräumung  so  wichtiger  Privilegien, 
genauer  Normierung  des  Verfahrens  und  der  Darlehensbedingungen,  sowie 
unter  so  weitgehender  öffentlicher  Controle  der  bezüglichen  Anstalten,  wie 
dies  nur  das  Vorhandensein  eines  eminent  öffentlichen  Interesses  an  der 
erleichterten  Befriedigung  eines  Individualbedürfnisses  gerechtfertigt  erscheinen 
lassen  kann.  Von  den  kleineren  deutschen  Staaten  stellten  sich,  abgesehen 
von  Sachsen,  welches  Preussen  vorangegangen  war,  auch  Baiern  und  Hessen 
auf  denselben  Standpunkt,  von  anderen  neuestens  Italien  und  Ungarn.  Für 
Deutschland  speciell  kann  diese  Erscheinung  gar  nicht  als  neu  angesehen 
werden.  Schon  nach  der  allgemeinen  Ablösung  der  bäuerlichen  Lasten,  als 
es  galt,  den  Uebergang  der  Bodenproduction  in  die  neuen  Bahnen  u.  A. 
auch  durch  zweckmässig  gebotenen  billigen  Credit  zu  erleichtern,  wurden 
dort  Bodencreditinstitute  mit  ähnlich  öffentlichem  Charakter  ins  Leben 
gerufen.  Ja,  man  hatte  schon  von  diesen,  wie  bereits  angedeutet  worden, 
diejenigen  Dienste  für  den  Productivcredit  des  Landwirtes  erwartet,  welche 
heute  den  Meliorantsbanken  als  Aufgabe  gesetzt  werden,  man  hatte  jene  in 
erster  Keihe  um  dieser  Dienste  willen  gegründet.  Und  ganz  denselben 
Charakter  „öffentlicher  Unternehmungen"  haben  die  in  Oesterreich  als 
Landesanstalten  gegründeten  Hypothekenbanken  erhalten.  Es  ist  aber  bekannt, 
dass  schon  die  älteren  und  mehr  noch  die  jüngeren  nicht  erst  der  Aufnahme 
neuer  Schulden,  insbesondere  der  Aufnahme  neuer  Darlehen  zu  Productiv- 


^)  England  hat  in  dem  für  seine  Landwirtschaft  kritischen  Momente,  als  es  daran 
gieng  die  Kornzölle  aufzuheben,  durch  ein  Gesetz  vom  Jahre  1846  (9  &  10  Yict.  c.  51) 
den  Betrag  von  2  Millionen  Pfund  Sterling  für  Grossbritannien  und  von  1  Million  Pfund 
Sterling  für  Irland  zu  Darlehen  für  Drainagezwecke  aus  Staatsmitteln  zur  Verfügung 
gestellt;  Irland  wurde  übrigens  bei  etwas  weiterer  Aufgabe  schon  durch  5  &  6  Vi  ct.  c.  89 
ähnlich  bedacht.  Ueber  den  Einfluss  der  Aufhebung  der  Kornzölle  auf  die  englische 
Landwirtschaft  vgl.  L.  de  Lavergne's  Essai  sur  l'economie  rurale  en  Angleterre, 
3.  Ausg.,  S.  185  und  auch  Brodrick  English  Land  and  english  Landlords,  S.  69.  In 
Preussen  wurde  der  1850  gegründete  Meliorationsfond  theilweise  auch  zu  Darlehenszwecken 
verw^endet  und  sein  im  Jahre  1853  aus  den  rückgezahlten  Geldern  gebildeter  Eückein- 
nahme-Meliorationsfond  wies  im  Jahre  1875,  dem  Jahre  der  vorgenommenen  Decentrali- 
sation  dieser  Fonde,  den  Betrag  von  über  9  Millionen  Mark  auf.  Details  hierüber 
enthalten  die  bereits  citierten  preussischen  Motive. 


Ueber  Melioration^ credit  mit  besonderer  Kücksiclit  auf  Oesterreicli.  235 

zwecken,  sondern  der  Uebernahme  bereits  bestandener  hypothekarischer  Lasten 
gedient  haben,  und  soweit  sie  neuen  Schuldaufnahmen  dienten,  hatten  diese 
wiederum  vielfach  nur  die  Begleichung  von  Kaufschillingsquoten,  von  Erb- 
theilen  und  Legaten  zum  Zwecke.  Nachdem  sich  die  von  conservativ-agra- 
rischer  Seite  proponierte  „Schliessung  der  Hypothekenbücher"  wenigstens 
innerhalb  der  unseren  Hypothekenbanken  als  statutenmässige  Sicherheits- 
grenzen gesetzten  Schranken  allmählich  von  selbst  vollzieht,  treten  eigent- 
lich die  modernen  Meliorationscreditinstitute  lediglich  in  die  Aufgabe  ein, 
welche  ursprünglich  den  Hypothekenbanken  zugedacht  war.  Da  nun  ferner 
die  herrschende  Krisis  der  Landwirtschaft  das  bei  der  seinerzeitigen  Grün- 
dung der  letztgenannten  Banken  so  maassgebend  gewesene  Interesse  an  der 
Erleichterung  des  landwirtschaftlichen  Productivcredits  —  hier  zunächst  des 
immobiliaren  —  neuerdings  belebt  und  potenziert  hat,  so  ist  es  begreiflich, 
weil  in  den  Umständen  selbst  begründet,  dass  auf  die  neuen  Meliorations- 
creditbanken  auch  der  „öffentliche"  Charakter  ihrer  Vorgängerinnen  mit 
allen  seinen  Consequenzen  übergeht. 

Wohl  könnte  man  den  Einwand  erheben  —  und  er  wird  zuweilen 
gemacht  —  ob  nicht  die  Ertragserhöhung  durch  Bodenmeliorationen  und 
somit  auch  die  Ermöglichung  derselben  durch  erleichterten  Meliorations- 
credit  nur  eine  Steigerung  der  ohnedies  drückenden  Concurrenz  am  land- 
wirtschaftlichen Productenmarkte  herbeiführen  müsse  und  daher  lieber  unter- 
bliebe. Allein  —  ist  es,  wie  doch  allgemein  anerkannt  wird,  eine  der 
Consequenzen  der  Krisis,  unserem  noch  zu  sehr  auf  die  Getreide-Erzeugung 
gerichteten  Ackerbau  andere  Richtungen  zu  geben  (Futterbau  für  ausge- 
dehnte und  bessere  Viehzucht,  Industrie-  und  Handelspflanzen  u.  s.  w.),  so 
wird  gerade  der  Melioration scredit  zur  nothwendigen  Bedingung  dieser  Um- 
gestaltung. Man  denke  übrigens  nur,  welch  bedeutenden  Antheil  an  den 
Meliorationsarbeiten  die  oben  erwähnten  Schutzeinrichtungen  haben.  Gerade 
bei  uns  stehen  sie  noch  im  Vordergrunde  der  Aufgaben.  Auch  sie  führen 
erhöhte  Erträge  herbei.  Den  Rath,  dieselben  aus  der  rein  doctrinären  Rück- 
sichtnahme der  herrschenden  drückenden  Weltconcurrenz  vorderhand  auch 
aufzuschieben,  dürfte  kaum  Jemand  wagen. 

IL 

Wir  wenden  uns  nach  dieser  Erörterung  zur  übersichtlichen  Darstel- 
lung der  in  einzelnen  europäischen  Staaten  bestehenden  Einrichtungen  für 
Meliorationscredit,  um  an  der  Hand  der  voranstehenden  Ausführungen  und 
der  praktischen  Muster  Schlussfolgerungen  für  0 esterreich  zu  gewinnen. 

Das  Ueberwiegen  des  Grossbesitzes  in  England^),  so  bedenklich 
es  auch  der  Socialpolitiker  finden  mag,  ist  von  wesentlichem  Vortheil  für 
den   Culturtechniker,    dem   übrigens    die    auf  umfangreichere  Improvements 


*)  Ausser  den  zum  Theile  im  Texte  citierten  Gesetzen  gibt  die  eingehendste  nach 
allen  Eichtungen  ungemein  lohnende  Belehrung  der  „Keport  from  the  Select  Committee 
of  the  House  of  Lords  on  the  improvement  of  Land."  1873.  395  Seiten  in  Folio.  Beige- 
schlossen sind  alle  einschlägigen  Formulare. 

16* 


236  Bräf. 

sich  beziehenden  Local  und  Private  Acts,  sowie  nicht  minder  einige  allge- 
meine Gesetze  —  wie  beispielsweise  die  Drainage  of  Land  Act  vom  Jahre 
1861  (24  &  25  Vict.  c.  133)  —  durch  die  gewährten  nöthigen  Zwangs- 
befugnisse das  fachgemässe  Vorgehen  erleichtern.  Hingegen  haben  die 
bekannten  verwickelten  Eigenthums Verhältnisse,  die  unsicheren  Pfandrechte 
und  das  vorherrschende  Pachtsystem  nicht  unwesentliche  Hindernisse  bereitet. 
Der  Gesetzgeber  hat  dieselben  abzuschwächen  versucht,  indem  er  die  Juris- 
diction in  dem  aus  Anlass  der  Aufnahme  eines  Meliorationsdarlehens  vor- 
zunehmenden Edictal verfahren  dem  Kanzlergerichte  —  High  Court  of  Chan- 
cery —  überwies,  das  nicht  nach  strengem  Eecht,  sondern  nach  Grundsätzen 
der  Billigkeit  entscheidet  ^),  indem  er  weiter  dem  Meliorationsdarlehen  das 
Vorrangsprivilegium  gewährte  und  schliesslich  —  allerdings  erst  in  letzter 
Zeit  durch  die  Agricultural  Holdings  Act  von  187c5  und  ihr  Amendement 
von  1883  —  dem  Pächter  unter  bestimmten  Voraussetzungen  Ersatzansprüche 
für  unternommene  Meliorationen  zugestand. 

Die  staatlichen  Meliorationsdarlehen  wurden  nach  der  Public  Money 
Drainage  Act  vom  Jahre  1846  (9  &  10  Vict.  c.  51)  bloss  für  die  Zwecke 
von  Drainagen  bewilligt,  welche  gerade  damals  nach  Wh  i  t  e  h  e  a  d  s  Erfindung 
der  Eöhrenpresse  im  Vordergrunde  des  Interesses  standen.  Dieses  Gesetz 
scliuf  das  Verfahren,  welches  mit  einzelnen  Moditicationen  noch  heute  beob- 
achtet wird.  Die  behördliche  Prüfung  der  Projecte,  die  Beaufsichtigung  der 
Ausführung,  die  Collaudierung  ausgeführter  Theile  der  Arbeit  behufs  An- 
weisung von  entsprechenden  Darlehensquoten  zur  Auszahlung  und  die  schliess- 
liche  Collaudierung  wurden  in  die  Hände  der  später  mit  der  Tithe  Commis- 
sion  und  der  Copyhold  Commission  zur  heutigen  Land  Commission  vereinigten 
Inclosure  Commission,  des  Fachorgans  für  Gemeinschaftstheiluugen  und 
Eiuhegungen,  übergeben. 

Bereits  durch  eine  Acte  aus  dem  Jahre  1849  (12  &  13  Vict.  c.  91) 
erhielt  die  General  Land  Drainage  and  Improvement  Company  das  Recht 
zur  Gewährung  von  Darlehen  unter  den  gleichen  Vortheilen,  welche  die 
staatlichen  genossen,  aber  für  einen  sehr  ausgedehnten  Kreis  von  Meliora- 
tionen. Ihr  folgten  im  Jahre  1853  die  Lands  Improvement  Company  (16  &  17 
Vict.  c.  154),  im  Jahre  1856  die  Scottish  Drainage  and  Improvement  Com- 
pany (19  &  20  Vict.  c.  70)  und  im  Jahre  1860  die  Land  Loan  and  En- 
franchisement  Company  (23  &  24  Vict.  c.  169)  -).  Einzelne  dieser  Gesell- 
schaften, so  z.  B.  die  erstgenannte,  übernehmen  auch  die  Verfassung  von 
Projecten  und  Ausführung  von  Meliorationsarbeiten,  selbst  wenn  auf  ihre 
Credithilfe  nicht  appelliert  wird.  Der  Kreis  von  Meliorationen,  auf  welche 
sie  Darlehen  gewähren,  ist  fast  bei  allen  der  gleiche,  sehr  ausgedehnte. 
Solche,    die    zufällig  in  ihren   Statuten   nicht  aufgezählt  sind,   übernehmen 


^)  Es  hat  nur  zu  entscheiden  „whether  in  his  opinion  it  will  be  beneficial  to  all 
persons  interested  in  the  land  to  which  such  application  shall  relate  that  such  advance 
shall  be  procured."  (Sect.  XX.  in  9  &  10  Vict.  c.  51;. 

2}  Einzelne  dieser  Acts  sind  durch  nachträgliche  Private  Acts,  von  deren  Auf- 
zählung wir  Umgang  nehmen,  theilweise  amendiert  worden. 


Ueber  Meliorationscredit  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Oesterreich.  237 

sie  seit  1864  auf  Grund  der  Improvement  of  Land  Act  (27  &  28  Vict.  c.  114), 
des  wichtigsten  allgemeinen  Gesetzes  Englands  über  Meliorationscredit  ^X 
welches  die  den  erwähnten  Gesellschaften  gewährten  Vortheile  unter  gleichen 
Bedingungen  dem  Private api^.al  überhaupt  einräumte. 

Wir  nehmen  Umgang  von  der  weitläufigen  Aufzählung  der  unter  das 
Gesetz  von  1864  fallenden  Meliorationsarten.  Es  mag  zur  Charakteristik 
genügen,  dass  neben  sämmtlichen  in  das  Gebiet  des  culturtechnischen 
Wasserbaues  fallenden  Arbeiten,  u.  a.  auch  Gemeinheitstheilungen  und 
Einhegungen,  Errichtung  von  dauernden  Feld-  und  Schienenwegen,  Herstel- 
lung von  Arbeiterwohnungen  und  Wirtschaftsgebäuden,  Schutzpflanzungen, 
Wasserrädern,  Sägen,  Mühlen,  Kalköfen,  Uferstapelplätzen  für  Vieh,  Ge- 
treide und  Dungstoffe  ausdrücklich  angeführt  erscheinen.  Ja  nicht  nur  Dar- 
lehen zur  Errichtung  landwirtschaftlicher  Schleppbahnen,  sondern  selbst  das 
Geldvorschiessen  an  Landwirte  behufs  Subscription  von  Actien  einer  für  die 
Ertragshebung  ihrer  Grundstücke  wichtigen,  über  diese  zu  führenden  öffent- 
lichen Eisenbahn  fallen  unter  den  Begriff  des  Meliorationsdarlehens  im  Sinne 
dieses  Gesetzes. 

Das  Verfahren  selbst  ist  gegenwärtig  folgendes :  Die  Landcommission 
prüft  das  mit  allem  nach  ihrem  Wunsch  vorzulegenden  Detail  ausgestattete 
Project  in  Bezug  auf  Ausführbarkeit,  Dauerhaftigkeit  und  ökonomische  Er- 
spriesslichkeit.  In  letzterer  Richtung  ist  die  günstige  Erledigung,  wie  nach 
dem  Gesetze  vom  Jahre  1846,  an  die  Bedingung  geknüpft,  dass  der  erwar- 
tete Jahresertrag  eine  höhere  Summe  verspreche,  als  die  Verzinsung  mit  der 
Tilgungsquote  beträgt.  Im  Falle  günstigen  Votums  wird  das  schon  erwähnte 
Edictalverfahren  eingeleitet,  welches  nach  dem  Gesetze  vom  Jahre  1864 
ausführlicher  geregelt  ist  als  nach  demjenigen  von  1846.  Nach  befriedigen- 
dem Abschluss  desselben  erlässt  die  Landcommission  die  provisorische  An- 
weisung (provisional  ordre),  welche  die  Bestimmung  hat,  als  „Titel  für  das 
absolute  Pfandrecht  nach  Genehmigung  der  ausgeführten  Melioration"  zu 
gelten  und  dieser  Titel  kann  durch  Indossament  auf  andere  Personen  über- 
tragen werden,  zunächst  also  auf  den  unmittelbaren  Gläubiger  des  Meliora- 
tionsdarlehens. Es  enthält  daher  die  provisional  ordre  alles  zur  Feststellung 
dieses  Anspruchs  Erforderliche,  insbesondere  die  Genehmigungsformel  für 
das  beabsichtigte  Meliorationswerk,  den  Höchstbetrag  des  zu  gewährenden 
privilegierten  Darlehens,  den  Zinsfuss  und  die  Tilgungsannuität.  Der  erstere 
darf  nicht  5  Proc.  überschreiten,  die  Tilgung  ist  nach  dem  Gesetze  vom 
Jahre  1864  höchstens  auf  25  Jahre  zu  vertheilen.  In  den  Statuten  der 
Gesellschaften  ist  diese  Frist  anders  bestimmt,  so  z.  B.  in  denjenigen  der  General 
Land  Drainage  and  Improvement  Company  auf  31  Jahre  bei  Hochbauten, 
sonst  auf  50.  Innerhalb  dieser  Grenzen  wird  die  Ab  Zahlungsfrist  nach  der 
Individualität  des  Falles  festgestellt.  Die  Sachverständigen  der  Enquete  vom 


1)  Ausser  diesem  Gesetze  kämen  noch  die  für  beschränkte  Zwecke  erlassenen  in 
Betracht,  nämlich :  die  Limited  Owners  Residences  Act  (1870),  die  Limited  Owners  Reservoirs 
Act  (1877),  zum  Theil  schon  die  University  and  Colleges  Estates  Act  v.  1858.  Auf  diese, 
weil  von  geringem  Belang,  gehen  wir  hier  nicht  weiter  ein. 


238  ,  Bi-af. 

Jahre  1873  haben  das  Bestreben  des  Parlaments  nach  Abkürzung  der  Frist 
gebilligt,  weil  es  zu  sparsamem  Vorgehen  zwinge.  Die  zunehmenden  Arbeits- 
preise haben  freilich  die  Kosten  gesteigert,  die  Möglichkeit  kurzer  Frist- 
setzung mit  hohen  Tilgungsquoten  erschwert,  und  dadurch  eine  Begünstigung 
den  Gesellschaften  gebracht,  welche  eine  längere  Frist  als  25  Jahre  ge- 
währen können. 

Die  provisional  ordre  hat  aber  noch  die  Avichtige  Bedeutung,  dass  ihr 
Inhaber,  sobald  mit  der  Ausführung  des  Werkes  begonnen  wurde,  dasselbe 
auch  gegen  den  Willen  des  Meliorationsführers  zu  Ende  führen  kann,  ausser 
es  würden  ihm  vom  letztern  alle  bisherigen  Auslagen  vergütet. 

Nach  Vollendung  des  Werkes  wird  die  „absolute  ordre"  erlassen, 
eventuell  auch  nach  Ausführung  einzelner  Partien  des  Werkes  absolute 
ordres  auf  Theile  der  Schuld.  Die  absolute  ordre  setzt  den  definitiven  Betrag 
der  Last,  welche  auf  die  ganze  meliorierte  Besitzung  oder  einen  gewissen 
Theil  derselben  mit  privilegiertem  Eange  gelegt  wird,  und  die  Tilgungs- 
modalitäten fest.  Der  privilegierte  Eang  gilt  nach  dem  Gesetze  vom  Jahre 
1864  für  die  ganze  Forderung.  Derselben  gehen  nur  die  Zehent-  und  Lehens- 
Ablösungsrenten,  sowie  staatliche  Forderungen  nach  der  Public  Money 
Drainage  Act  vom  Jahre  1846  voraus. 

Da  die  Improvement  of  Land  Act  vom  Jahre  1864  sich  auf  ein  be- 
stimmtes Credit  gewährendes  Subject  nicht  bezieht,  so  befasst  sie  sich  gar 
nicht  mit  der  Frage,  wie  der  Gläubiger  selbst  sich  das  nöthige  Geld 
beschafft.  Wohl  aber  die  Statuten  der  verschiedenen  Gesellschaften.  Es  ist 
den  letzteren  —  im  Unterschiede  von  derlei  Anstalten  in  anderen  Ländern  — 
vollkommen  freie  Wahl  belassen ;  aber  dafür  hat  der  Gesetzgeber  vorgesorgt, 
dass  sie  möglichst  viel  mit  eigenem  und  möglichst  wenig  mit  fremdem 
Capital  arbeiten.  So  darf  die  General  Land  Drainage  and  Improvement  Com- 
pany Schuldverschreibungen  nur  bis  zum  Betrage  eines  Drittels  ihres  ein- 
gezahlten Actiencapitals  emittieren,  bis  zur  Höhe  des  zweiten  Drittels  kann 
sie  es  nur  mit  Genehmigung  des  Board  of  Trade.  Die  Land  Improvement 
Company  darf  sogar  jeweils  nicht  mehr  emittieren,  als  die  Summe  der  Rück- 
zahlungen des  betreffenden  Jahres  beträgt. 

Die  Gesellschaften  sehen  sich  daher  veranlasst  —  um  weiter  arbeiten 
zu  können  —  ihre  Forderungen  durch  Cession  der  absolute  ordres  an  Privat- 
Capitalisten  zu  übertragen.  An  Nachfragenden  gibt  es  keine  Noth,  ins- 
besondere sind  es  die  Versicherungsgesellschaften,  welche  solche  Forderungen 
in  Partien  zu  10 — 30.000  Pfund  Sterling  zu  erwerben  pflegen  und  auf  diese 
Weise  gewissermaassen  ein  Glied  in  der  englischen  Organisation  des  Me- 
liorationscredits  geworden  sind^).  Allerdings  bedürfen  sie  nach  dem  Gesetze 
vom  Jahre  1864  der  Vermittlung  jener  Gesellchaften   nicht  mehr,    da   sie 


^)  So  hat  beispielsweise  die  Lands  Improvement  Company  bei  nur  30.000  Pfund 
Sterling  Actiencapital  bis  zum  Jahre  1873  mehr  als  3  Millionen  Pfund  Sterling-  an 
Meliorationsdarlehen  gewähren  können.  In  der  Enquete  vom  Jahre  1873  wurde  empfohlen, 
dass  Mündel-  und  Curatelsvermögen  (Trust  money)  zu  ähnlichen  Zwecken  verwendet 
würden. 


üeber  Meliorationscredit  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Oesterreich.  239 

auf  Grund  dieses  Gesetzes  Meliorationsdarlehen  direct  gewähren  können. 
Aber  sie  ziehen  es  vor.  durch  solche  Vermittlung  in  ein  fertiges  Verhältnis 
einzurücken. 

Nach  einer  uns  zur  Verfügung  gestellten  Zusammenstellung  der  Land- 
commission sind  bis  zu  Ende  des  Jahres  1887  unter  ihrer  Mitwirkung  im 
ganzen  15.421.956  Pfund  Sterling  an  Meliorationsdarlehen  gewährt  worden, 
davon  13,234.166  Pf.  St.  lediglich  für  Drainagen.  Die  Gesellschaften  fordern 
nur  den  für  langfristige  Darlehen  am  Geldmarkte  herrschenden  Zinsfuss; 
derselbe  betrug  in  den  letzten  Jahren  in  der  Kegel  über  4  Proc.  Sie  be- 
rechnen aber  für  die  Geldvermittlung  eine  Provision  gewöhnlich  von  5  Proc. 
des  Capitals.  Privatgelder,  vom  Meliorationsführer  unter  der  Improvement 
of  Land  Act  direct  aufgenommen,  pflegen  billiger  zu  sein. 

So  günstig  die  englischen  Kesultate  sind,  so  missglückt  ist  der 
französische  Versuch.  Zwei  Umstände  sind  es,  die  der  Entwicklung 
privater  Meliorationsunternehmungen  in  Frankreich  nicht  günstig  sind:  die 
bedeutende  Zersplitterung  des  Grundeigenthums  und  die  trotz  dieses  üm- 
standes  der  Bildung  von  wasserrechtlichen  Zwangsgenossenschaften  vom 
Gesetze  selbst  gar  zu  eng  gezogenen  Grenzen.  Lässt  doch  das  Gesetz  über 
die  (landwirtschaftlichen)  associations  syndicales  vom  Jahre  1865  —  dessen 
Eeform  mehrmals  fruchtlos  versucht  wurde  —  selbst  für  Irrigationen, 
Drainagen,  Betriebswege  und  , andere  landwirtschaftliche  Meliorationen  von 
öffentlichem  Nutzen"  lediglich  die  Bildung  von  sog.  associations  syndicales 
libres  zu.  Hätte  dies  schon  an  sich  auch  bei  guter  Organisation  der  Credit- 
hilfe  den  Erfolg  fraglich  gemacht,  so  haben  ihn  eben  Mängel  dieser  Organi- 
sation ganz  vereitelt. 

Durch  Gesetz  vom  Jahre  1856')  hat  der  Staat  100  Millionen  Francs 
zu  Darlehen  für  Drainagezwecke,  welche  mit  4  Proc.  verzinst  und  längstens 
in  25  Jahren  rückerstattet  werden  sollten,  zur  Verfügung  gestellt.  Bald 
wurde  jedoch  in  der  Erwägung,  dass  der  Staat  selbst  das  erforderliche  Geld 
auch  nur  im  Creditwege  sich  beschaffen  könnte,  die  Ausführung  dieses 
Vorhabens  vertragsmässig  dem  kurz  zuvor  gegründeten  Credit  foncier  über- 
tragen. Dieser  sollte  sich  das  nöthige  Capital  durch  besondere  Obligationen 
(obligations  du  drainage)  beschaffen,  deren  Zinsfuss  zunächst  auf  4  Proc. 
festgesetzt  wurde.  Der  Staat  sollte  der  Bank  nebst  0'45  Proc.  bei  sog.  er- 
gänzender H3^pothek  bloss  0*35  Proc.  Provision,  auch  die  Differenz  zwischen 
Pari  und  Emissionscurs,  wenn  letzterer  unter  Pari  steht,  ersetzen,  allerdings 
unter  Gegenaufrechnung  der  Differenz  bei  Emissionen  über  Pari.  Die  Ge- 
nehmigung der  Projecte  steht  einer  beim  Ministerium  des  Innern  gebildeten 
Commission,  die  Bewilligung  des  Darlehens  diesem  Ministerium  zu.  Das 
Verfahren  hat  sich  als  höchst  schleppend  und  theuer  erwiesen.  Von  1859 
bis  1888  wurden  überhaupt  nur  142  Gesuche  eingebracht,  davon  112  günstig 
erledigt,    aber    nur  70   im  Gesammtbetrage   von  1,742.986  Frcs.  realisiert. 

';  Dieses  und  alle  sonst  den  Gegenstand  betreffende  Gesetze,  Decrete,  Statuten, 
enthalten  in  der  officiellen  Sammlung:  Credit  foncier  de  France.  Statuts  et  legislation. 
I Paris.  Dupont.)  Auch  bei  Josseau  II.  587  u.  ff.,   dort  nuch  die  statistischen  Ausweise. 


240  Bräf. 

Die  in  der  Communalcredit-Abtheilung  des  Credit  foncier  in  seinem  eigenen 
Wirkungskreise  realisierten  Darlehen  an  associations  syndicales   haben  sich 
gleichfalls  in  engsten  Grenzen  gehalten.  Reformanträge,  wie  namentlich  der 
sehr  interessante  Bozerians  vom  Jahre  1882,  gelangten  nicht  zur  Erledigung. 
In  Deutschland  bestehen  dermalen  sechs  Meliorationsbanken.  Von 
diesen  existiert  die  Landescultur-Eentenbank  im  Königreiche  Sachsen  schon 
seit  1861  ^),  alle  übrigen  sind  neueren  Ursprungs  und  zwar  die  auf  Grund 
des   preussischen    Gesetzes   vom  13.  Mai  1879    gegründeten   Landescultur- 
Rentenbanken  der  Provinzen  Schlesien,    Schleswig-Holstein  und  Posen,    die 
Landescultur-Rentencasse    des    Grossherzogthums  Hessen  (gegründet  durch 
Gesetz  vom  20.  März  1880)  und  die  baierische  Landescultur-Rentenanstalt 
(Gesetz   vom  21.  April    1884).^)   Die    Entstehung   der    sächsichen    Anstalt, 
welche  ursprünglich  nur  Darlehen  zu  Wasserlaufsberichtigungen,   Ent-  und 
Bewässerungen   im    Sinne   des    Gesetzes   vom  15.  August    1855    gewährte, 
hieng   mit   der   Schaffung   dieses   letztgenannten    Gesetzes    zusammen;   das 
Gesetz  vom  1.  Juni  1872  hat  die  Wirksamkeit  der  Bank  lediglich  auf  Orts- 
entwässerungen und  bauplanmässige  Ortsstrassen  ausgedehnt.  Hingegen  hängt 
die  Entstehung  der  übrigen  angeführten  Anstalten,  welche  Darlehen  für  die 
mannigfaltigsten,  in  den  bezüglichen  Gesetzen  taxativ  aufgezählten  Meliorations- 
zwecke ^)  gewähren,    mehr   oder    weniger   mit   dem  Auftreten    der  landwirt- 
schaftlichen Krisis  zusammen.  Keine  von  sämmtlichen  diesen  Anstalten  hat 
ihre    eigene    selbständige   Bank  Verwaltung,    vielmehr   lehnen    sich    alle    an 
irgend  eine  andere  öffentliche  Anstalt  oder   eine  Staatsbehörde    an;    so    die 
sächsische  an  die  staatliche  Landrenten-  und  Altersrentenanstalt;  die  baierische 
an  die  Grundrentenablösungscassa;  die  schlesische  wird  mit  der  Provinzialhilfs- 
cassa  gemeinschaftlich  verwaltet  u.  s.  w.    In  Baiern  und  Sachsen  trägt  die 
Verwaltungskosten  ausschliesslich  der  Staat,  in  Preussen  und  Hessen  werden 
sie    durch    einen    geringen   Regiebeitrag   von    den    Schuldnern    ersetzt.    Die 
Capitalbeschaffung  wird   durchwegs    durch   Emission    unkündbarer   Schuld- 
briefe („Landescultur-Rentenscheine")  besorgt,    welche  nach  Maassgabe  der 
eingehenden  Tilgungsbeträge  verlost  werden,  und,  wie  schon  früher  erwähnt, 
die  Staats-  beziehungsweise  (in  Preussen)   die  Provinzialgarantie   gemessen. 
Der   Zinsfuss    dieser   Obligationen   muss    gleich    sein    dem    der    gewährten 
Meliorationsdarlehen,    in  Baiern   ist  letzteres   sogar  um   ^4  ^^oc.    billiger, 
welche  Differenz  der  Staat  aus    eigenem  begleicht.  Allgemein  sind  die  Ge- 
schäfte der  Anstalten  von  Gebüren  und  Stempeln  befreit,  ihre  Forderungen 
werden  im  Wege  der  politischen  Execution  eingebracht. 

*)  Gesetz  vom  26.  November  1861.  Ausdehnung  des  Wirkungskreises  durch  GesUz 
vom  1.  Juli  1872. 

2)  Die  bezüglichen  Gesetze  mit  Ausnahme  des  baierischen  abgedruckt  bei  Schober: 
Die  Landescultur-Eentenbanken  in  Preussen,  Sachsen  und  Hessen.  (Berlin  1887.  —  Im 
Anhang  das  Statut  der  schlesischen  Anstalt.);  das  baierische  bei  Haag:  Das  baierische 
Gesetz  vom  21,  April  1884,  die  Landescultur-Kentenanstalt  betreffend  (Nördlingen  1884). 

3)  In  Preussen  können  aber  die  Statuten  die  Gewährung  von  Darlehen  nur  auf 
einzelne  im  Gesetze  genannte  Meliorationsarten  beschränken.  So  sind  in  Schleswig- 
Holstein  die  Drainagen  ausgeschlossen. 


Ueber  Meliorationscredit  mit  besonderer  Eücksicht  auf  Oesterreich.  241 

Bedeutendere  Abweichungen  herrschen  zunächst  rücksichtlich  des 
Maasstabs  für  die  Höhe  des  Darlehens.  Sachsen  begnügt  sich  mit  dem 
allgemeinen,  lediglich  in  die  Ausführungsverordnung  aufgenommenen  Grund- 
satze, dass  die  Höhe  des  Darlehens  der  zu  bewirkenden  Ertragssteigerung 
entspreche.  Präciser  hat  Baiern,  und  zwar  im  Gesetze  selbst,  bestimmt, 
das  Darlehen  dürfe  nicht  gTösser  sein,  als  der  Betrag  der  vorausgesetzten 
Werterhöhung,  beziehungsweise  der  Kosten,  wenn  sie  geringer  sind  als 
jene.  Dafür  hat  aber  Baiern,  ebenso  wie  Hessen,  für  Einzelschuldner  die 
Berücksichtigung  der  Wertserhöhung  wesentlich  eingeengt  durch  die  Bestim- 
mung, das  Darlehen  müsse  innerhalb  der  ersten  Hälfte  des  g  e  g  e  n  w  ä  r  t  i  g  e  n 
Wertes  der  Liegenschaft  fallen.  Im  Gegensatze  davon  hat  Preussen,  unter 
Eesthaltung  der  Kosten  als  Maximalausmaass  des  Darlehens,  die  Sicherheits- 
grenze mit  Berücksichtigung  des  Wertzuwachses  normiert.  Als  Kegel  gilt 
für  den  Zeitpunkt  der  Bewilligung  des  Darlehens,  dass  dasselbe  innerhalb 
des  25fachen  Betrags  des  Catastralreinertrages  oder  „innerhalb  der  ersten 
Hälfte  des  durch  ritterschaftliche,  landschaftliche  oder  besondere  Taxe  der 
Landescultur-Rentenanstalt  zu  ermittelnden  Wertes  der  Liegenschaft"  zu 
fallen  habe.  Das  Darlehen  kann  darüber  hinaus  bis  zur  Hälfte  des  durch 
die  Melioration  zu  erzielenden  Mehrwertes  gewährt  werden,  u.  zw.  wieder 
in  der  Kegel  nur,  wenn  das  Werk  bereits  vollendet  ist;  bloss  wenn  es  sich 
um  Entwässerungs-  (Drainierungs)-  und  Bewässerungsanlagen,  Anlage  und 
Kegulierung  von  Wegen,  Waldculturen  und  Urbarmachungen,  endlich  um 
Errichtung  neuer  ländlicher  Wirtschaften  handelt  und  wenn  der  Wert  der 
Liegenschaft  durch  besondere  Taxation  der  Anstalt  selbst  ermittelt  wurde, 
kann  innerhalb  von  drei  Viertheilen  des  gegenwärtigen  Wertes  das  Darlehen 
im  voraus  bewilligt,  der  Kest  bis  zur  Hälfte  der  Wertserhöhung  aber  auch 
hier  nur  nachschussweise  ausgezahlt  werden  i). 

In  Bezug  auf  den  Abstattungstermin  ist,  wie  früher  schon  angedeutet 
wurde,  nur  im  preussischen  Gesetz  die  Fesstellung  nach  der  individuellen 
Natur  des  Falles  den  Bankorganen  mit  der  Weisung  anheimgegeben,  dass 
die  Amortisation  mit  dem  zweiten  Jahre  nach  Zuzählung  des  Darlehens  zu 
beginnen  und  mindestens  V2Proc.  jährlich  zu  betragen  habe;  bei  Drainagen 
aber,  daferne  sie  des  sofort  zu  erwähnenden  Yortheiles  theilhaftig  sein 
sollen,  muss  sie  mit  mindestens  4  Proc.  vorgeschrieben  werden. 

Eine  besondere  Sicherstellung  der  Forderung  wurde  für  öffentliche 
Genossenschaften,  da  ja  den  Mitgliedsbeiträgen  derselben  in  Bezug  auf 
Eintreibung  und  Vorrang  der  Charakter  öffentlicher  Abgaben  zuerkannt  ist, 
in  Preussen,  Hessen  und  Baiern  für  überflüssig  erachtet.  Xur  Sachsen  hat, 
obwohl  seine  Landescultur-Kentenanstalt  es  nur  mit  Gemeinden  und 
Genossenschaften  zu  thun  hat,  die  Eintragung  der  Theilschuldigkeiten  der 
Mitglieder  an  ihren  Liegenschaften  als  Keallast,  und  zwar  ohne  nach- 
zusuchende   Zustimmung    der    bereits    eingetragenen   Hypothekargläubiger, 


1)  Die  ausführlichen  Regeln  über  die  Ermittlung  des  Werts  der  Liegenschaften 
sind  den  Statuten  vorbehalten;  das  schlesische  (abgedruckt  bei  Schober  1.  c.)  hat  von 
dieser  Befugnis  ziemlich  strengen  Gebrauch  gemacht. 


242*  ^^^^• 

vorgeschrieben.  Für  Einzelschul  einer  ist  jedoch  auch  in  den  drei  vorgenannten 
Staaten  Sicherstellung  durch  Hypothek  oder  Grundschuld  vorgeschrieben. 
Ein  Vorzug  in  der  Kangordnung  schon  kraft  Gesetzes,  wie  in  England  und 
Frankreich,  wird  jedoch  den  Darlehen  nicht  gewährt.  Wohl  aber  gestattet 
Baiern  in  den  Theilen  rechts  des  Kheins  über  Ansuchen  des  Darlehens- 
werbers ein  Aufforderungs verfahren  einzuleiten,  mit  dem  Erfolge,  dass  die 
Rangsausweichung  der  bisherigen  Hypothekargläubiger  als  bewilligt  an- 
gesehen wird,  wenn  diese  binnen  gesetzter  Frist  ihren  Widerspruch 
schriftlich  oder  protokollarisch  nicht  anmelden.  Es  ist  dies  lediglich  eine 
Nachbildung  jenes  Aufforderungsverfahrens,  welches  das  preussische  Gesetz, 
jedoch  lediglich  rücksichtlich  von  Darlehen  zu  Drainagez wecken,  vor- 
geschrieben hat,  wenn  sich  der  Schuldner  zu  Tilgungsquoten  von  mindestens 
4  Proc.  jährlich,  also  zu  einer  ungemein  raschen  Abzahlung,  verpflichtet. 
Der  Kern  der  Sache  liegt  also  darin,  dass  dem  Dailehenswerber  die  oft 
sehr  schwierige  Aufsuchung  der  Hypothekargläubiger  und  nicht  minder  die 
beschwerlichen  Einzelverhandlungen  mit  denselben  um  die  Abtretung  der 
Priorität  erspart  und  bei  Mchtwiderspruch  ihre  Zustimmung  vom  Gesetze 
suppliert  wird.  Der  Erfolg  ist  immer  zweifelhaft;  selbst  die  Direction  der 
schlesischen  „Landschaft"  hat,  wie  Schober^)  mittheilt,  die  Zustimmung 
zur  Vorrangseinräumung  an  Drainagedarlehen  verweigert.  Da  aber  Baiern 
wie  Hessen  trotzdem  auf  der  ersten  Hypothek  bestehen,  und  dabei  die 
Sicherheitsgrenze  sehr  enge  ziehen,  so  haben  ihre  Meliorationsdarlehen  vor 
gewöhnlichen  Bodencreditanleihen  keinen  weiteren  Vorzug  als  etwa  den 
grösserer  Wohlfeilheit.  Ihnen  gegenüber  verdienen  aus  diesem  Grunde  die 
preussischen  Einrichtungen  den  Vorzug. 

Dass  der  Mangel  privilegierten  Forderungsranges  der  Wohlfeilheit  von 
Meliorationsdarlehen  in  Deutschland,  wenigstens  unter  den  gegenwärtigen 
Verhältnissen,  nicht  abträglich  ist,  erhellt  aus  dem  Umstände,  dass  es 
z.  B.  der  schlesischen  Anstalt  geglückt  ist  ihre  4-proc.  Obligationen  über 
Pari  zu  emittieren.  In  England  sind  zwar  Privatcapitalien  zu  Meliorations- 
darlehen nach  der  Improvement  of  Land  Act  oft  zu  noch  niedrigerem  Zinsfusse 
erhältlich,  wohl  aber  nicht  Bankcap Italien.  Die  Meliorationsdarlehen  sind  also 
dermal  in  Deutschland  nicht  theuerer  als  in  England.  Bei  den  heutigen 
Zuständen  des  öffentlichen  Credits  in  Deutschland  bildet  die  Staats-  be- 
ziehungsweise Provinzialgarantie  ein  gleich  wirksames,  wenn  nicht  wirk- 
sameres Mittel  für  niedrigen  Zinsfuss,  wie  die  erste  Hypothek. 

Eine  eigenthümliche  Stellung  nimmt  in  Bezug  auf  Meliorationscredit 
die  durch  Gesetz  vom  14.  Februar  1883  errichtete  Bodencreditanstalt  für 
Oldenburg  ein.^)  Diese  ist  eine  Hypothekenbank,  welche  gleichzeitig  befugt 
ist  Meliorations-  und  Communalcredit  zu  pflegen.  Die  Sicherheitsgrenze  ist 


5)  A.  a.  0.  S.  113-115. 

2)  Gesetz,  betreffend  die  Errichtung  einer  Bodencreditanstalt  für  das  Herzogthum 
Oldenburg,  vom  14.  Februar  1883,  dazu  die  beiden  Bekanntmachungen  des  Staats- 
ministeriums vom  26.  September  1883  betreffend  Ausführung,  Inkrafttreten  und  Geschäfs- 
regulativ. 


Ueber  Meliorationscredit  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Oesterreich.  243 

für  gewöhnliche  Hypothekardarlehen  mit  der  Hälfte  des  gegenwärtigen 
Wertes  festgestellt,  bei  Meliorationsdarlehen  geht  sie  darüber  hinaus  bis 
zur  Hälfte  des  abgesondert  zu  berechnenden  Wertzuwachses,  w^obei  der 
innerhalb  der  Hälfte  des  gegenwärtigen  Wertes  stehende  Darlehensantheil 
sofort,  der  Eest  nach  Maassgabe  des  Fortschreitens  der  Arbeit  ausgezahlt 
wird.  Die  Amortisierungsquote  —  für  gewöhnliche  Hypothekardarlehen  mit 
V2  Pi'oc.  jährlich  vorgeschrieben  —  muss  im  Falle  des  Meliorationsdarlehens 
höher  bestimmt  werden. 

Die  von  den  in  neuerer  Zeit  errichteten  deutschen  Meliorationsbanken 
bisher  erzielten  Resultate  entsprechen  nicht  ganz  den  ursprünglichen  Er- 
wartungen. ^)  Für  ein  abschliessendes  ürtheil  ist  ihr  Bestand  noch  zu  kurz; 
indessen  kann  bei  dem  umstände,  als  sich  ihre  Verwaltung  durchwegs  an 
die  anderer  öffentlicher  Institutionen  anschliesst,  auch  ein  geringer  Umfang 
ihrer  Geschäfte  ihren  Bestand  nicht  gefährden.  Fasst  man  sie  übrigens, 
wie  es  unsere  bereits  dargelegte  Meinung  ist,  als  eine  bei  der  wachsenden 
Belastung  des  Grund  und  Bodens  nothwendige  Ergänzung  der  Hypotheken- 
banken —  nothwendig  für  das  Gebiet  des  landwirtschaftlichen  Productiv- 
credits  —  auf,  so  kann  namentlich  aus  dem  heute  noch  relativ  geringen 
Umfange  ihrer  Geschäfte  kein  Einwand  gegen  ihre  Existenzberechtigung 
geschöpft  werden. 

In  vielen  Richtungen  ganz  orignell  sind  die  durch  das  italienische 
Gesetz  vom  23.  Jänner  1887  geschaffenen  Grundlagen  des  Meliorations- 
credits.'-)  W^ie  der  französische  Antrag  Bozerians  will  dieses  Gesetz 
sowohl  den  landwirtschaftlichen  Betriebs-  als  auch  den  Meliorationscredit 
regulieren;  wie  die  englische  Improvement  of  Land  Act  wendet  es  sich  an 
weite  Kreise  des  Capitals,  jedoch  mit  dem  Unterschiede,  dass  es  die  sofort 
näher  zu  erörternden  Vortheile  nur  Creditinstituten  gewährt.  Es  appelliert 
zunächst  an  die  bereits  bestehenden  sich  für  die  Aufgaben  des  credito 
agrario  einzurichten,  so  namentlich  an  die  Sparcassen,  Creditgenossen- 
schaften  und  Volksbanken,  an  die  monti  frumentari  und  monti  nummari, 
ja  es  schliesst  sogar  Notenbanken  nicht  aus.  Andererseits  strebt  es  aber 
auch  die  Bildung  neuer  landwirtschaftlicher  Creditgenossenschaften  für 
diesen  Zweck  an,  und  das  ist  eine  seiner  charakteristischesten  Seiten.  Diese 
Genossenschaften  sollen  auf  der  Basis  der  Selbsthilfe  als  associazioni  mutue 


1)  Die  sächsische  Anstalt  hat  von  1862  bis  1886  im  ganzen  11,298.887  Mark  an 
Darlehen  gewährt,  davon  7  Millionen  für  Entwässerungen.  Die  schlesische  hat  in  den 
ersten  sechs  Jahren  ihres  Bestandes  nur  etwas  über  1  Million  Mark,  die  baierische  in 
den  ersten  drei  Jahren  bloss  273.000  Mark  an  Darlehen  ausbezahlt,  (Für  Sachsen  nach 
dem  „Bericht  über  die  L.-C.-R.-B.  im  Königreich  Sachsen  während  ihres  25-jährigen 
Bestandes"  (Dresden  1886),  für  die  beidön  andern  Anstalten  nach  ihren  Ausweisen.) 

2)  Legge  23  gennaio  1887  (n.  4276  ser.  3  a).  Theilweise  araendiert  durch  das 
Gesetz  vom  26.  Juli  1888  (n.  5588  ser.  3  a).  Dazu  die  Ausführungsverordnung  vom 
8.  Jänner  1888  und  Specialregulativ  für  die  im  Text  zu  erwähnenden  cartelle  agrarie 
vom  27.  Mai  1889.  —  Abgedruckt  auch  bei  Errera,  Le  operazioni  di  credito  agrario 
(Verona  1889),  dort  die  Vorgeschichte;  dieselbe  kurz  auch  in  Sachs,  L'Italie,  ses  finances 
et  son  developperaent  economique  (Paris  1885). 


244  Bräf. 

ausschliesslich  von  Grundeigenthümern  gebildet  werden.  Als  erste  Be- 
dingung der  Concession  wird  aufgestellt,  dass  die  Gesammtheit  der  den 
Mitgliedern  einer  solchen  Genossenschaft  gehörenden  landwirtschaftlichen 
Grundstücke  nach  Abzug  der  darauf  haftenden  Hypothekarlasten  einen 
reinen  Wert  von  wenigstens  3  Millionen  Lire  repräsentiere. 

Der  Forderung  aus  gewährten  Meliorationscrediten  wird  bis  zum  Be- 
trage der  Werterhöhung  privilegierter  Bang  eingeräumt.  Die  Werterhöhung 
selbst  wird  durch  zwei  gerichtliche  Schätzungen  —  vor  Beginn  und  nach 
Vollendung  des  Werkes  —  sichergestellt,  wobei  den  bisher  eingetragenen 
Gläubigern  durch  Einleitung  eines  genau  geregelten  Edictalverfahrens  die 
Möglichkeit  geboten  wird,  gegen  das  Schätzungsergebnis  Einwendungen  zu 
erheben.  Genossenschaften,  die  rücksichtlich  der  Mitgliederbeiträge  den 
Vortheil  der  Verwaltungsexecution  geniessen,  werden  selbstverständlich  zur 
Leistung  hypothekarischer  Sicherheit  nicht  verhalten,  können  jedoch  die 
Mitgliederbeiträge  für  die  Schuldigkeiten  aus  dem  Meliorationsdarlehen  haftbar 
machen  (vincolare).  Sie  bedürfen  übrigens  zur  giltigen  Schuldcontrahierung 
der  Zustimmung  des  Provinzialausschusses,  welcher  die  Einstellung  der  Ver- 
zinsungs-  und  Tilgungsbeträge  in  ihr  Budget  erzwingen  kann. 

Die  Meliorationsarten,  für  welche  Credit  gewährt  werden  darf,  sind 
nur  zum  Theile  im  Gesetze  selbst  angeführt,  andere  können  nach  Anhörung 
des  staatlichen  Landwirtschaftsrathes  —  consiglio  di  agricoltura  —  im 
Yerordnungswege  bestimmt  werden,  was  bereits  geschehen  ist.^)  Die  Darlehen 
müssen  bar  zugezählt  werden.  Den  Zinsfuss  setzt  die  Eegierung  fest. 
Mittel  und  Wege  der  Capitalbeschaffung  sind  den  Banken  nicht  vor- 
geschrieben. Beabsichtigt  jedoch  ein  landwirtschaftlichen  Credit  betreibendes 
Institut  die  Capitalbeschaffung  durch  Emission  besonderer  Obligationen,  so 
braucht  es  hiefür  eine  besondere  Concession  und  muss  sich  den  besonderen 
Bedingungen  des  Gesetzes  fügen.  Die  in  Rede  stehenden  Obligationen  — 
die  cartelle  agrarie  —  können  nämlich  sowohl  für  die  Zwecke  des 
Meliorationscredits  als  auch  für  die  der  kurzfristigen  Betriebscredite 
emittiert  werden,  doch  haben  sich  beide  Arten  durch  Farbe,  Aufschriften 
und  Appoints  merkbar  zu  unterscheiden.  Der  emittierte  Gesammtbetrag 
darf  das  Fünffache  des  eingezahlten  eigenen  Fondes  (bei  nicht  ausschliess- 
lichem Agrarcreditbetrieb  des  für  diesen  vorbehaltenen  Capitals)  nicht  über- 
schreiten. Ganz  eigenthümlich  ist  der  Fortgang  der  Emission  reguliert. 
Die  Concession  zur  Emission  wird  nur  ertheilt,  wenn  die  Anstalt  den 
Nachweis  führt,  dass  sie  bereits  im  Besitze  von  hypothekarischen  Forde- 
rungen bis  zur  Höhe  eines  Drittheils  ihres  eigenen  eingezahlten  Fondes 
(beziehungsweise  des  für  landwirtschaftlichen  Credit  vorbehaltenen  Capitals) 
sei.  Ein  dieser  Summe  entsprechender  Betrag  der  Schuldbriefe  ist  als 
„scorta  permanente"  der  vorgenannten  hypothekarischen  Forderungen ^)  stets 
in  Reserve    zu   halten    (cartelle  in  cassa),   nur   für   hypothekarische  Forde- 

1)  In  der  citierten  Verordnung  vom  6.  Jänner  1888. 

2)  „  .  .  .  compiono  Tufficio  di  scorta  permanente"  heisst  es  bezüglich  ihrer  aus- 
drücklich im  §  7  des  Specialregulativs. 


Ueber  Meliorationscredit  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Oesterreich.  245 

rungen,  Avelche  über  diesen  Betrag  hinausgehen,  dürfen  Cartelle  emittiert 
werden  (cartelle  in  circolazione). 

Der  sehr  vielseitige  und  einschneidende  Einfluss  der  Kegierung  ist 
ungemein  umständlich  normiert,  namentlich  aber  verschärft  erscheint  die 
„vigilanza  governativa"  gegenüber  Creditinsti tuten,  welche  Cartelle  emittieren. 

Eine  Reihe  charakteristischer  Eigenthümlichkeiten  weist  auch  das 
ungarische  Gesetz  über  die  Flussregulierungs-  und  Bodenmeliorationsdarlehen 
vom  26.  Juni  1889  auf.*)  Aehnlich  wie  Frankreich  dem  Credit  foncier,  hat 
Ungarn  der  „Ungarischen  Bodencreditanstalt"  das  ausschliessliche  Recht 
übertragen,  unter  besonderen  Bedingungen  und  mit  bestimmten  Privilegien 
Darlehen  zu  gewähren:  1.  Für  Flussregulierungen,  2.  für  Bachregulierungen, 
üferschutz,  Trockenlegungen  von  Sümpfen,  Drainagen  und  Bewässerungen, 
daferne  das  Project  unter  Leitung  staatlicher  Landesculturorgane  verfasst  und 
unter  ihrer  Leitung  durchgeführt  wird.  Die  annuitätsmässig  zu  tilgenden, 
mit  4  Procent  verzinslichen  Darlehen  dürfen  höchstens  auf  50  Jahre  gewährt 
werden;  der  Maximalbetrag  derselben  wird  durch  die  bei  Flussregulierungen 
mit  dem  24-fachen,  in  den  übrigen  Fällen  mit  dem  16-fachen  Betrage  des 
Catastralreinertrages  normierte  Sicherheitsgrenze  bestimmt;  doch  kann  im 
Falle  der  Unzulänglichkeit  das  Darlehen  bei  Flussregulierungen  bis  zu 
50  Procent  des  Wertes  des  Inundationsgebietes  erhöht  werden. 

Die  Capitalbeschaffung  erfolgt  durch  die  ebenfalls  mit  4  Procent  ver- 
zinslichen „Regulierungs-  und  Meliorationspfandbriefe".  Die  Zuzählung  des 
Darlehens  geschieht  in  diesen  Obligationen ;  wenn  die  Anstalt  selbst  den 
Verkauf  besorgt,  hat  sie  es  für  Rechnung  des  Schuldners  ohne  eigenen 
Gewinn  zu  thun.  Zur  Deckung  ihrer  Kosten  kann  sie  aber  einen  Regie- 
beitrag von  höchstens  Vs  Pro cent  jährlich  vom  Schuldner  erheben. 

Geradezu  ohne  Beispiel  sind  die  Begünstigungen  und  Privilegien,  deren 
die  Darlehen  und  die  Pfandbriefe  theilhaftig  sind.  Die  laufenden  Zinsen- 
und  Tilgungsschuldigkeiten  bilden  eine  Reallast  mit  privilegiertem  Range 
gleich  nach  den  landesfürstlichen  und  Communal-Abgaben,  doch  gehen 
beim  Zusammentreffen  von  Flussregulierungs-  mit  anderen  Meliorations- 
darlehen erstere  vor.  Daran  reiht  sich  Gebürenfreiheit  aller  den  Abschluss 
des  Darlehens  betreffenden  Rechtsgeschäfte,  unbedingte  Abgabenfreiheit  der 
Schuldbriefe  und  ihrer  Coupons,  ja  sogar  Portofreiheit  für  die  Correspon- 
denzen  der  Bodencreditanstalt  in  Flussregulierungs-  und  Meliorations- 
angelegenheiten. Uebrigens  gesellt  sich  zum  Rangsprivilegium  der  Forde- 
rungen noch  eine  Art  umschriebener  Staatsgarantie;  die  Anstalt  kann  nämlich 
die  Eintreibung  der  Rückstände  unter  im  Gesetze  näher  ausgeführten  Be- 
dingungen durch  die  staatlichen  Organe  veranlassen,  welche  dann  ver- 
pflichtet sind,  nach  Ablauf  von  drei  Halbjahren  nach  dem  Verfallstermine 
„aus  beliebig  welcher  Staatseinnahmenquelle "  die  Forderung  der  Anstalt 
zu  bestreiten,    selbstverständlich   mit   Regress  gegen    den  Schuldner.     Eine 


^)  Die  deutsche  Uebersetzung  des  Gresetzestextes  in  der  vom  ungarischen  Ministerium 
des  Innern  publicierten  „Gesetzsammlung"  (1889.  S.  332  u.  flf.). 


246  Bräf. 

ganz  originelle  Einrichtung  bildet  der  10-procentige  Abzug,  welchen  die 
Anstalt  bei  Flüssigmachung  jeder  Darlehensrate  dem  Schuldner  zu  machen 
berechtigt  ist,  und  welchen  sie  in  Pfandbriefen  als  „Keservefond"  bewahrt, 
der  Eigenthum  des  Schuldners  bleibt,  jedoch  als  Garantie  für  seine  Yer- 
bindlichkeiten  der  Anstalt  gegenüber  dient. 

III. 

Wenn  wir  es  nunmehr  unternehmen,  auf  Grund  des  vorstehend  Dar- 
gestellten Schlussfolgerungen  für  die  Organisation  des  Meliorationscredits 
in  Oesterreich  zu  ziehen,  so  gehen  wir  hiebe!  von  dem  bereits  näher  ent- 
wickelten Grundsatze  aus,  dass  für  unsere  Verhältnisse  die  Regelung  des 
Meliorationscredits  als  eine  durch  den  gegenwärtigen  Stand  der  Boden- 
belastung gerechtfertigte,  durch  die  kritische  Lage  der  Landwirtschaft  be- 
sonders nothwendig  gewordene  Ergänzung  der  bestehenden  Organisation 
des  Bodencreditwesens  anzusehen  sei.  Es  hat  daher  folgerichtig  die  gleiche 
Behandlung,  welche  die  bestehenden  Hypothekenbanken  als  öffentliche 
Unternehmungen  gefunden  haben,  auch  auf  die  Organisation  des  Meliorations- 
credits Anwendung  zu  finden. 

Wir  gelangen  auf  dieser  Basis  zu  nachstehenden  Schlüssen: 

1.  Die  Schaffung  von  Institutionen  für  Meliorationscredit  in  Oester- 
reich hat  von  den  einzelnen  Ländern  auszugehen,  wobei  der  Kreis  von 
Meliorationen,  auf  welche  sich  die  Creditgewährungen  erstrecken  dürfen, 
nach  den  besonderen  Verhältnissen  und  Bedürfnissen  jedes  einzelnen  Landes 
zu  bestimmen  ist. 

2.  Mit  Rücksicht  auf  den  muthmaasslich  nicht  bedeutenden,  überdies 
—  erfahrungsgemäss  —  von  Jahr  zu  Jahr  äusserst  schwankenden  Umfang 
des  Creditbedürfnisses  empfiehlt  sich  die  Errichtung  eigener,  der  Vermittlung 
des  Meliorationscredits  ausschliesslich  dienender  Bankinstitute  unter  selb- 
ständiger Verwaltung  durchaus  nicht.  Vielmehr  ist  es  rathsam,  in  Ländern, 
welche  bereits  eigene,  als  öffentliche  Unternehmungen  organisierte  Hypotheken- 
banken besitzen,  die  Gewährung  von  Meliorationscrediten  —  ähnlich  wie  es 
das  Oldenburger  Beispiel  zeigt  —  in  den  statutenmässigen  Wirkungskreis 
dieser  Banken  einzubeziehen.  Nebst  der  grundsätzlichen  Eignung  spricht  die 
Verwandtschaft  der  banktechnischen  Operationen  dafür. '^)  Wo  weder  eine 
Hypothekenbank,  noch  ein  anderes  in  Bezug  auf  Geist  und  Richtung  der 
Verwaltung  verwandtes  Creditinstitut  vorhanden  ist,  dürfte  nach  Analogie 
des  baierischen  und  hessischen  Vorbildes  die  unmittelbare  Unterordnung 
unter  eine  öffentliche  Behörde,  hier  unter  die  Organe  der  autonomen  Landes- 
verwaltung, die  einfachste  Lösung   sein,  wobei   für   die  Entscheidung   über 


^)  In  Böhmen  wurde  allerdings  die  Gewährung  von  Meliorationscrediten  nicht  der 
Landeshypothekenbank,  sondern  der  neu  creierten  Landesbank  übergeben,  welche  berufen 
war  gewisse  Lücken  in  der  Creditorganisation  im  Lande  zu  beseitigen,  und  in  ihrer 
Communalcreditabtheilung  einen  Zweig  von  theilweise  verwandter  Technik  betreibt.  Sonst 
ist  ihre  Abtheilung  für  Meliorationscredit  nach  den  hier  im  Text  angeführten  Grundsätzen 
eingerichtet.  Das  Statut  ist  abgedruckt  im  Landesgesetzblatt  für  1889,  XIII.  Stück. 


üeber  Meliorationscredit  mit  besonderer  Eücksicht  auf  Oesterreich.  247 

Creditbewilligungen  fachmännische  Beiräthe  zugezogen,  die  Geldgebarung 
aber  gegen  Provision  einem  tauglichen  privaten  Creditinstitute  übertragen 
werden  könnte. 

3.  Genossenschaften,  welche  unter  die  Bestimmungen  des  Wassergesetzes 
fallen,  sowie  Gemeinden  und  Bezirke  als  Schuldner  sind  nicht  gebunden, 
hypothekarische    Sicherheit   zu   bestellen,  wohl   aber    private    Creditwerber. 

4.  Da  die  Einräumung  gesetzlichen  Vorranges  der  Meliorationsschuld 
auch  de  lege  ferenda  nicht  erwünscht  ist,  so  sind  die  Bedingungen  ge- 
nügender und  dabei  wohlfeiler  Creditbeschaffung  auf  anderem  Wege  zu 
bewirken,  nämlich: 

a)  durch  eine  in  bestimmtem  Verhältnis  zu  dem  Wertzuwachse,  welcher 
durch  die  Melioration  erzielt  werden  kann,  zu  statuierende  Erweiterung 
der  durch  die  Statuten  unserer  Landeshvpothekenbanken  normierten 
Einschuldungsgrenze;  ^) 

b)  durch  Uebernahme  der  Landesgarantie  —  ähnlich  wie  bei  den  Landes- 
hypothekenbanken —  für  die  behufs  nöthiger  Capitalbeschaffung 
emittierten  Obligationen.  (Vgl.  unten  Absatz  8.) 

5.  Die  Prüfung  der  Projecte  hat  durch  öffentliche  culturtechnische 
Organe  zu  geschehen:  nur  bei  Projecten,  für  welche  die  Subvention  nach 
dem  Reichsmeliorationsgesetze  bereits  bewilligt  ist,  kann  sie  gänzlich  ent- 
fallen. Die  projectmässige  Ausführung  der  Melioration,  sowie  während  der 
Tilgungsdauer  die  gehörige  Instandhaltung  derselben  ist  der  zeitweiligen 
Ueberwachung  durch  die  culturtechnischen  Organe  zu  unterwerfen.-) 

6.  Die  zulässige  Maximalhöhe  des  Darlehens  wird  innerhalb  der  ad  4 
lit.  a)  erwähnten  Schranken  durch  die  Kosten  des  Werkes  bestimmt,  welch 
letzteren  auch  die  Kosten  der  Vorarbeiten  (Projectverfassung,  Constituierung 
der  Genossenschaft  und  dgl.)  zugerechnet  werden  dürfen.  Bei  nach  dem 
Eeichsmeliorationsgesetze  subventionierten  Unternehmungen  bildet  der  durch 
die  Subvention  nicht  gedeckte  Kostenrest  den  zulässigen  Höchstbetrag  des 
Darlehens. 

7.  Die  Zeit  für  die  annuitätsmässige  Heimzahlung  des  Darlehens  wird 
nach  der  Individualität  des  jeweils    in  Frage   stehenden  Meliorationswerkes 

')  Bei  der  böhmischen  Landesbank  gilt  als  Normalregel  für  Meliorationsdarlehen, 
dass  die  Sicherheit  als  genügend  erachtet  wird,  „wenn  das  Meliorationsdarlehen  mit 
Zurechnung  der  auf  der  Hypothek  schon  bereits  eingetragenen,  der  Forderung  der  B^^nk 
in  der  Kangordnung  vorangehenden  Passiven  jene  Summe  nicht  übersteigt,  welche  zwei 
Drittheilen  des  24-fachen,  bei  ausschliessendera  oder  vorwiegendem  Waldbestande  des 
20-fachen  Betrags  des  Catastralreinertrags  der  den  Gegenstand  der  betreffenden  bücher- 
lichen Einlagen  bildenden  Grundstücke,  mit  Zurechnung  der  Hälfte  des in  sach- 
verständiger Weise  ermittelten  Betrages  der  Werterhöhung  gleichkommt."  Statt  des  nach 
dem  Catastralreineitrag  geschätzten  Wertes  kann  die  auf  Ansuchen  der  Partei  von  den 
Landesbankorganen  vorgenommene  oder  innerhalb  der  letzten  drei  Jahre  von  der  Hypo- 
thekenbank vorgenommene  Schätzung  zur  Grundlage  genommen  werden.  Es  ist  das  also 
die  übliche  Sicherheitsgrenze  der  böhmischen  Hypothekenbank  mit  Zurechnung  der  Hälfte 
der  Werterhöhung. 

2)  Nach  den  Statuten  der  böhmischen  Landesbank  wird  diese  Aufgabe  dem  cultur- 
technischen Bureau  des  Landesculturrathes  übertragen. 


248  Bräf. 

innerhalb  der  Grenzen  einer  statutenmässig  festgesetzten  Maximaldauer 
durch  das  bewilligende  Organ  bestimmt*).  Die  Zuzählung  des  Darlehens 
erfolgt  nach  Wahl  der  Verwaltung  entweder  in  Barem  oder  in  Schuld- 
verschreibungen (Abs.  8),  u.  zw.  abschnittweise  postnumerando  nach  Maass- 
gabe der  fortschieitenden  Ausführung  des  Werkes. 

8.  Die  Capitalbeschaffung  erfolgt  in  der  Regel  durch  Emission  un- 
kündbarer, nach  Verhältnis  der  Eückeinnahmen  verlosbarer  Obligationen. 
Der  Zinsfuss  dieser  Obligationen  ist  dem  der  Darlehen  gleich^):  zur  Be- 
streitung der  Verwaltungsauslagen  darf  vom  Schuldner  innerhalb  statuten- 
mässig festzusetzender  Schranken  ein  Regiebeitrag  gefordert  werden. 

Dass  bei  solcher  Regelung  die  Quellen  für  Reservefondsbildung  ziemlich 
eingeengt  sind,  kann  nicht  bestritten  werden.  Indessen  haben  die  Erfahrungen 
unserer  Hypothekenbanken  gezeigt,  dass  selbst  bei  so  eingeschränkter  Gewinn 
möglichkeit  die  allmähliche  Ansammlung  eines  Reservefondes  thunlich  ist, 
die  schliesslich  die  Beseitigung  des  Regiebeitrages    zur  Folge  haben  kann. 

Ein  Unterschied  wird  zwischen  den  westeuropäischen  Anstalten  für 
Meliorationscredit  und  unseren,  wenn  sie  nach  den  vorstehend  formulierten 
Grundsätzen  eingerichtet  werden,  zu  Ungunsten  dieser  letzteren  gewiss 
hervortreten.  Während  jene,  da  sie  ohne  Rücksicht  auf  sonstige  Verschuldung 
Meliorationsdarlehen  mit  Rangsvorzug  gewähren  dürfen,  selbst  dem  über- 
schuldetsten Gute  Meliorationen  ermöglichen  können,  werden  unsere  ihre 
Wirksamkeit  nur  auf  solche  private  Einzel wirte  als  Creditwerber  erstrecken 
können,  nur  solchen  zu  helfen  in  der  Lage  sein,  deren  Wirtschaften  noch 
nicht  über  jenes  Maass  belastet  sind,  welches  der  statutenmässigen 
Sicherheitsgrenze  unserer  Hypothekenbanken  entspricht.  Indes,  wir  müssen 
uns  aus  Gründen,  die  oben  erörtert  worden  sind,  damit  bescheiden.  In  der 
Praxis  wird  das  Uebel  nur  die  überschuldeten  Grosswirte  treffen,  die  kleinen 
meliorieren  erfahrungsmässig  nur  im  Genossenschaftskreise.  Hier  übt  diese 
Frage  keinen  Einfiuss.  Wohl  aber  liegt  die  Idee  nahe,  gerade  mit  Rücksicht 
auf  die  kleinen  Grundbesitzer  die  Ausdehnung  der  Vortheile,  welche  das 
Gesetz  den  öffentlichen  Wassergenossenschaften  in  Bezug  auf  die  ZAvangs- 
eintreibung  der  Beiträge  und  ihre  privilegierte  Stellung  im  Concurse  einräumt, 
auf  andere  Meliorationszwecke  verfolgende  Genossenschaften  in  nähere  Er- 
wägung  zu   ziehen,  wie  es  seinerzeit  der  böhmische  Landtag  angeregt  hat. 


^)  Nach  dem  Statut  der  böhmischen  Landesbank  hat  die  erste  Tilgungsquote 
mindestens  '/jVo  zu  betragen.  „Es  ist  jedoch  nicht  erforderlich,  dass  für  alle  Darlehen 
zu  Meliorationszwecken  das  nämliche  Tilgungsverhältnis  vorgeschrieben  werde;  vielmehr 
ist  in  jedem  Falle  darauf  zu  achten,  dass  die  Tilgung  des  Darlehens  dem  Zwecke,  zu 
welchem  das  Darlehen  gewährt  wurde,  entspreche." 

2)  Die  böhmische  Landesbank  emittiert  für  Meliorationsdarlehen  mit  länger  als 
fünfjährigem  Eückzahlungstermin  die  sog.  Meliorationsscheine,  welche  Landesgarantie 
gemessen.  Die  Höhe  des  Zinsfusses  und  Regiebeitrages   setzt   der  Landesausschuss  fest. 


BEITEAG  ZUE  DOGMEN-GESCHICHTE  DER 
SCHUTZZOLLIDEE. 


VON 


DR-  KOBERT    ZUCKERKANDL, 

PRIVAT-DOCENTEN   AN   DER  UNIVERSITÄT  WIEN. 


Vor  mehr  als  drei  Jahren  machte  mich  Professor  Karl  Meng  er 
auf  eine  kleine  unbekannte  Schrift  „Ueber  Zölle,  Handelsfreiheit  und 
Handels  vereine"  von  Dr.  Moriz  Julius  Franzi  aufmerksam,  die  zu 
Anfang  des  Jahres  1834  in  Wien  bei  Gerold  erschienen  ist.  Ich  fand  in 
ihr  einen  bemerkenswerten  Versuch,  die  Politik  des  Schutzes  der  nationalen 
Arbeit  theoretisch  zu  begründen.  Die  naheliegende  Vergleichung  mit  List's 
nationalem  System  ergab  manche  üebereinstimmung  und  manche  Ver- 
schiedenheit, und  schien  es  mir  nicht  gerechtfertigt  zu  sein,  dass  die 
Literaturgeschichte  Franzi  vergessen  hatte.  Keine  Zeit  ist  der  Aufgabe 
überhoben,  immer  wieder  das,  was  in  der  Literatur  fortleben  soll,  von  dem 
zu  sondern,  was  zur  ewigen  Ruhe  bestattet  werden  kann;  jede  Zeit  vollzieht 
diese  Scheidung  nach  ihrer  Einsicht  und  nicht  selten  irrig.  So  war  es,  wie 
ich  glaube  nicht  verdient,  dass  Franz Ts  Schrift  längst  als  literarischer 
Ballast  entfallen  ist.  Allerdings  hatte  sie  zum  Umschwung  in  der  Be- 
urtheilung  der  Freihandelslehre  nichts  beigetragen,  allein  dieser  Einwand 
ist  für  die  Dogmengeschichte  ohne  Bedeutung.  Denn  diese  hat  den  Beruf, 
das  erste  Auftauchen  und  jede  ernste  Wiederholung  eines  wissenschaftlichen 
Gedankens  zu  verzeichnen;  namentlich  sollte  ihr  daran  gelegen  sein,  in  der 
kleinen  Opposition,  die  sich  vor  List  gegen  die  A.  Smi tischen  Lehren 
gebildet  hatte,  keinen  Mann  zu  übersehen. 

Ich  hatte  anfänglich  bloss  die  Absicht,  einen  Auszug  aus  der  er- 
wähnten Schrift  FränzTs  zu  geben,  von  der  ich  annehmen  durfte,  dass  sie 
besonders  in  Oesterreich  interessieren  werde.  Da  sich  jedoch  eine  Ver- 
gleichung mit  List  nicht  vermeiden  liess,  so  war  es  nothwendig  beide  mit 
ihren  Vorgängern    zusammenzustellen.     Derart   ist   diese   Arbeit   unter   der 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  II.  Heft.  17 


250  #  Zuckerkandl. 

Feder  über  den  ursprünglichen  Kahmen  hinausgewachsen  und  ein  kleiner 
Beitrag  zur  Geschichte  der  Schutzzollidee  geworden.^) 

Die  Schrift  über  die  Zölle  theilt  uns  im  Vorworte  mit,  dass  dem  Ver- 
fasser, als  er  seine  Arbeit  vollendet  hatte,  die  Monographie  MaccuUoch's 
über  Handel  und  Handelsfreiheit  zukam.  Die  Durchlesung  derselben  habe 
ihn  in  der  üeberzeugung  bestärkt,  dass  bei  der  unbedingten  Forderung 
nach  Handelsfreiheit  die  Staaten  unter  gewissen  umständen  vorausgesetzt 
seien,  für  welche  jene  allerdings  richtig  sei,  dass  andere  Verhältnisse  andere 
Maassregeln  fordern  und  dass  „die  Strenge  des  Prohibitivsystems  für  den 
einen  Staat  ein  Druck,  für  den  anderen  aber  eine  schirmende  Mauer  werden 
kann.'-  Der  Zweck  der  Abhandlung  sei  der  Handelsfreiheit  und  dem 
Prohibitivsysteme  „ihr  bestimmtes  Gebiet  anzuweisen". 

In  einer  Einleitung  stellt  Franzi  fest,  dass  die  Theorie  und  die  Wirk- 
lichkeit sich  in  Bezug  auf  die  Handelspolitik  in  einem  auffallenden  Wider- 
spruche befinden.  Die  Erklärung  sucht  er  darin,  „dass  die  Sniith'sche 
Lehre  nur  aus  dem  Gesichtspunkte  der  Wirtschaftslehre  überhaupt  auf- 
gefasst  sei,  ohne  Rücksicht  auf  die  Lage,  in  der  sich  Eegierungen  ihren 
Völkern  gegenüber  befinden.  Aus  dem  Standpunkte  der  Weltwirtschaft,  wo 
man  alle  Völker  bloss  als  friedlich  verkehrende  Personen  mit  gleicher  In- 
dustriefähigkeit betrachtet,  ist  sie  unbestreitbar  wahr;  allein  aus  dem 
Gesichtspunkte  der  Industriepolitik  wird  sie  nie  allgemein  anwendbar  sein. 
Die  Industriepolitik  gibt  nämlich  die  Grundsätze,    nach    denen  Regierungen 

*)  Da  eine  Biographie  FränzTs  auch  bei  Wurzbach  nicht  vorkommt,  so  ver- 
öffentliche ich  nachstehend  die  wichtigsten  Daten  aus  dem  Leben  FränzTs,  die  mir 
dessen  Sohn  Herr  Dr.  Julius  Franzi  v.  Vesteneck  freundlichst  mitgetheilt  hat. 
Moriz  Julius  Franzi  wurde  am  26.  Juli  1806  zu  Klagenfurt  geboren  und  vollendete 
die  Studien  an  den  unteren  Schulen  und  der  Universität  in  Wien  mit  vorzüglichem 
Erfolge.  In  Graz  trat  er  die  Praxis  bei  den  Gerichten  an,  wurde  jedoch  alsbald,  am 
7.  Juli  1829,  als  Supplent  der  politischen  Lehrkanzel  Kudler's  an  die  Wiener  Hoch- 
schule berufen.  Am  16.  Mai  1831  zum  Doctor  der  Rechte  promoviert,  wurde  er  am 
24.  September  1832  zum  provisorischen  Professor  der  Statistik  an  der  Theresianischen 
Ritterakademie  ernannt,  in  welcher  Stellung  er  in  den  Jahren  1834  und  1835  auch  Vor- 
lesungen über  die  politischen  Wissenschaften  abhielt.  Im  Jahre  1835  wurde  er  zum 
definitiven  Professor  der  Statistik  ernannt.  Da  er  auch  über  europäisches  Völkerrecht 
und  die  österreichischen  Gefällsgesetze  Vorträge  hielt,  wurde  ihm  am  19.  Februar  1839 
am  Theresianum  die  Lehrkanzel  für  politische  Wissenschaften,  schwere  Polizeiübertretungen 
und  Cameralistik  übertragen.  Die  Vorträge  über  Statistik  hatte  er  abzugeben.  Im  Jahre 
1841  trat  Franzi  in  den  Finanzdienst.  Sein  Lehramt  gab  er  erst  auf,  als  er  am  2.  Mai 
1843  zum  Hofsecretär  bei  der  allgemeinen  Hofkammer  ernannt  worden  war.  Auf  Empfeh- 
lung des  Grafen  Taaffe  w^urde  Franzi  im  Jahre  1843  berufen.  Seiner  Majestät  dem 
jetzt  regierenden  Kaiser  Franz  Joseph  über  Statistik,  Natur-,  Staats-  und  Völkerrecht, 
österreichische  politische  Gesetzkunde,  Gefälls-  und  Finanzgesetzkunde  Vorträge  zu  halten. 
Dieselben  wurden  bis  zum  Jahre  1847  fortgesetzt;  in  den  Jahren  1847  und  1848  unter- 
richtete Franzi  auch  Ihre  kaiserlichen  Hoheiten*  die  Erzherzoge  Ferdinand  Max  und 
Karl  Ludwig  in  Statistik,  den  letzteren  überdies  in  Geographie  und  französischer 
Sprache.  Die  letzte  Unterrichtsstunde  fand  am  5.  October  1848  in  Schönbrunn  statt.  Im 
Jahre  1847  wurde  Franzi  zum  Regierungsrathe  befördert,  im  Jahre  1849  als  Ritter  der 
Eisernen  Krone  in  den  Adelstand  erhoben  (mit  dem  Piädicate  v.  Vesteneck).  Nachdem 
er  im  October  1850  zum  Leiter  der  Finanz-Landes-Direction  in  Innsbruck  ernannt  worden, 


Beitrag  zur  Dogmen-Geschicbte  der  Schutzzollidee.  251 

den  Wohlstand  ihres  Staates  ohne  Eücksicht  auf  das  Gedeihen  fremder 
Länder  .  .  .  begründen  und  befördern  sollen."  Da  die  Staaten  sich  in  un- 
gleichen politischen  und  finanziellen  Verhältnissen  befinden,  werden  sie  das 
nämliche  Ziel  auf  verschiedenen  Wegen  verfolgen  müssen.  Bei  jedem  Ge- 
sellschaftszweck,  „den  Privatkräfte  gar  nicht  oder  nicht  so  vollständig 
en*eichen,  beginnt  nach  den  Grundsätzen  der  Staatsweisheit  die  Thätigkeit 
der  Regierung"  so  z.  B.  wenn  der  Nationalwohlstand  durch  die  blosse 
Privatthätigkeit  der  arbeitenden  Glasse  nicht  vollständig  „erreicht"  werden 
kann:  „wenn  endlich  die  Gegenwart  nichts  besonderes  darbietet,  aber  die 
fernere  Zukunft  gewisse  Yortheile  zeiget,  so  wird  die  Weisheit  der  Regie- 
rung hier  ebenfalls  den,  mehr  die  nahen  Vortheile  beachtenden  Privaten 
vorauseilen  und  selbst  auf  Kosten  der  Gegenwart  künftigen  Generationen 
überwiegende  Yortheile  sichern."  Sind  nun  Prohibitivmaassregeln  zu  allen 
diesen  Zwecken  die  wirksamen  Mittel? 

Der  erste  Abschnitt  behandelt  die  Zölle  „als  Mittel,  die  Production 
im  Inlande  zu  heben".  Man  sagt  gewöhnlich,  die  Production  werde  sich  von 
selbst  heben,  wenn  Gewerbsgeschicklichkeit,  Capital  und  Hoffnung  auf 
Absatz  vorhanden  sind;  wenn  wir  trotzdem  die  Gewerbserzeugnisse  aus  dem 
Auslande  beziehen,  so  sei  dies  ein  Beweis,  dass  uns  „die  Naturanlage  für 
diesen  Productionszweig  fehlt."  Allein  um  im  Kampfe  mit  Erfolg  zu  be- 
stehen, müssen  alle  genannten  Vorbedingungen  zu  gleicher  Zeit  vorhanden  sein, 
überdies  müssen  die  Gegner  mit  gleichen  Waffen  kämpfen,  und  wenn  „unser 


wurde  er  im  Mai  1851  wieder  ins  Finanzministerium  zurückberufen,  und  im  selben  Jahre 
zum  Ministerialrathe,  dann  im  Jahre  1862  zum  Sectionschef  und  Generaldirector  der 
directen  Steuern  ernannt.  Es  wurden  ihm  in  seiner  Beamtenlaufbahn  vielfache  Beweise 
grossen  Vertrauens  zutheil;  so  wurde  er  in  den  Jahren  1848  und  1849  in  geheimen 
Missionen  nach  Petersburg  und  Warschau  entsendet,  er  war  Protokollführer  in  der  unter 
Vorsitz  des  Kaisers  abgehaltenen  Conferenz  der  Minister  und  Reichsräthe  über  das  soge- 
nannte Nationalanlehen,  im  September  1859  verfasste  er  im  Auftrage  des  Ministers 
Freiherrn  v.  Brück  den  Entwurf  eines  Statutes  für  den  verstärkten  Reichsrath,  seit 
August  1862  war  er  mit  der  Leitung  der  im  Finanzministerium  stattfindenden  Berathungen 
über  eine  neue  allgemeine  Classensteuer  betraut.  Am  29.  Juli  1865  wurde  Franzi  in 
Disponibilität  versetzt;  am  26.  October  1865  erfolgte  seine  Pensionierung.  Franzi  lebte 
von  da  ab  in  Zurückgezogenheit  auf  seinem  Gute  jSTeudegg  in  Krain.  Er  starb  am 
27.  März  1875  an  einer  Rippenfellentzündung  in  Wien. 

Bis  zu  seinem  Eintritt  in  den  Finanzdienst,  im  Jahre  1841,  Avar  Franzi  ein 
fleissiger,  vielseitiger  Schriftsteller.  Es  erschienen  von  ihm  in  der  Zeit  von  1834  bis  1841 
die  bereits  erwähnte  Schrift  über  die  Zölle,  ferner  ein  commentierender  Auszug 
aus  der  Zoll  -,  Staats  -  und  Monopolsordnung .  „des  österreichischen  Strafgesetzes 
über  Gefällsübel-tretungen  allgemeiner  Theil",  Wien  1838,  „Statistische  Uebersicht  der 
Eisenbahnen,  Canäle  und  Dampfschiffahrten  Europas  und  Amerikas",  Wien  1838,  endlich 
eine  Statistik;  der  erste  Band  ist  vom  Jahre  1838,  die  zwei  Abtheilungen  des  zweiten 
Bandes  sind  vom  Jahre  1839  und  die  drei  Abtheilungen  des  dritten  Bandes  vom  Jahre 
1841  datiert.  In  den  Jahren  1838  bis  1840  besorgte  er  die  Redaction  der  Wagnerischen 
Zeitschrift  für  österreichische  Rechtsgelehrsamkeit.  Nach  1841  hat  Franzi,  soviel  ich 
weiss,  nichts  mehr  im  Druck  erscheinen  lassen.  Von  diesen  Arbeiten  gehört  bloss  die 
Erstlingsschrift  über  die  Zölle  in  die  politische  Oekonomie,  die  „Statistik"  enthält  indessen 
noch  manche  Beziehungen  zu  dieser  Wissenschaft. 

17* 


252  Zuckerkandl. 

Rival  ein  Monopol  für  sich  hätte,  so  ist  für  unsere  Industrie  nur  dann 
Erfolg  zu  erwarten,  wenn  wir  ihr  gleichfalls  ein  Monopol  verschaffen". 
Prohibitivmaassregeln  sind  daher  erprobte  Helfer.  Sie  befördern  die  Gewerbs- 
geschicklichkeit,  „indem  sie  Gewerbe  künstlich  hervorrufen,  dadurch  eine 
Schule  für  Gewerbserfahrung  bilden  ...  Sie  befördern  auch  die  Ver- 
mehrung der  Capitale,  indem  sie  manchen  Gütervorrath  ...  der  neu- 
geschaffenen inländischen  Production  zuführen".  Die  Einwendung,  dass  das 
Capital,  welches  den  künstlich  hervorgerufenen  Gewerben  zufliesst,  bei 
ungestörtem  Gange  der  Dinge  sich  einer  zweckmässigeren  Productionsart 
zugewendet  hätte,  sei  unrichtig.  Denn  es  wird  dabei  vorausgesetzt,  dass 
bereits  alle  Arbeitskräfte  und  disponiblen  Gütervorräthe  für  die  Production 
gewonnen  seien,  während  die  meisten  Nationen  sich  in  diesem  blühenden 
Zustande  nicht  befinden.  „Wie  viele  Talente  sind  fast  in  jedem  Volke  un- 
benutzt, wie  viele  Gütermassen  todt,  wie  viele  Arme  müssig!  ...  Es  ist 
also  sehr  denkbar,  dass  die  Kegierung  die  bestehenden  Erwerbswege  schonen 
und  dennoch  durch  Schutzzölle  neue  hervorrufen  könne."  Wo  sich  diese  Voraus- 
setzung erfüllt  hat,  „da  wäre  es  thöricht,  aber  auch  unmöglich,  noch  durch 
Maassregeln  der  Kegierung  neue  Productionswege  hervorzurufen",  und  die  Re- 
gierung kann  nur  die  Aufgabe  haben,  das  Bestehende  zu  sichern,  wobei  Prohi- 
bitivmaassregeln das  beste  Mittel  sind.  „Nach  und  nach  erst  können  die  hier 
eine  ganz  entgegengesetzte  Tendenz  verfolgenden  Zölle  heruntergesetzt  werden, 
um  die  Nation  nicht  fortwährend  mit  einem  für  sie  kostspieligen  Productions- 
zweige  zu  belasten."  Wer  möchte  behaupten,  dass  in  den  amerikanischen 
Staaten,  in  Ostindien,  Russland  nicht  unendlich  viele  Keime  des  Wohl- 
standes noch  schlummern?  Warten,  „bis  sie  bei  freigelassenem  Verkehre 
entwickelt  werden,  heisst  die  Lage  der  verkehrenden  Völker,  die  Natur  des 
Menschen,  die  Macht  der  Gewohnheit,  das  gefährliche  Uebergewicht  der 
Nachbarn  verkennen,  heisst  mindestens,  sich  auf  viele  Decennien  hinaus 
jener  Vortheile  berauben,  die  schnellere  Entwickelung  vergegenwärtigen 
könnte."  Die  in  der  Industrie  hervorragenden  Länder  haben  sich  gleichsam 
in  die  Versorgung  der  consumierenden  Welt  getheilt,  und  sie  haben  bei 
freigelassenem  Verkehre  nicht  leicht  die  Concurrenz  eines  Anfängers  zu 
befürchten.  Werden  Prohibitivmaassregeln  ergriffen,  dann  kann  man  erst, 
„geschützt  gegen  die  bisher  erdrückende  Concurrenz,  mit  sicherem  Erfolge 
ein  Capital  für  industrielle  Production  verwenden";  den  Consumenten  wird 
dabei  allerdings  etwas  von  ihrem . Einkommen  abgenommen,  „um  durch  eine 
Zeitlang  den  Neubruch  zu  düngen  .  .  .  allein  der  endliche  Vortheil  ist 
ebenso  überwiegend,  wie  bei  einem  Menschen,  der  sich  bisher  tragen  Hess 
und  nun  durch  Anstrengungen  und  Kosten  selbst  gehen  lernt."  Wenn  durch 
das  Prohibitivsystem  der  äussere  Verkehr  wirklich  beschränkt  würde,  so 
müsste  der  innere  Verkehr  zunehmen.  Wenn  Amerika  statt  ein  Federmesser  aus 
England  um  einen  Dollar  zu  beziehen,  es  selbst  um  IV2  Dollar  zu  erzeugen 
unternimmt,  so  hat  es  einen  halben  Dollar  geopfert,  aber  einen  Messerschmied 
gewonnen.  „Ist  das  Opfer  der  Consumenten  dann  noch  -zu  gross,  wenn  man 
damit  nicht  bloss  die  Producte,  sondern  die  Producenten  selbst  sammt  ihren 


Beitrag  zur  Dogmen-Geschichte  der  Schutzzollidee.  253 

Familien  gewinnt?"  Es  wird  von  verschiedenen  Opportunitätserwägungen 
abhängen,  ob  man  die  freie  Concurrenz  zulassen  solle  oder  nicht.  „So  oft 
der  Verlust  am  äusseren  Absatz  durch  inneren  Verkehr  ersetzt  wird",  sind 
Zölle  einzuführen;  es  ist  unrichtig,  dass  die  Fabrikanten  dadurch  zu  Mono- 
polisten gemacht  werden,  es  wird  nur  ein  Monopol  an  Stelle  des  noch 
schädlicheren  der  fremden  Fabrikanten  gesetzt. 

Franzi  vergleicht  die  Prohibitivsysteme  mit  den  Erfindungsprivilegien: 
jene  werden  dem  ganzen  auflebenden  Gewerbsstande  ertheilt  und  statt  für 
10  für  80  bis  100  Jahre.  „Verewigen  will  auch  der  stärkste  Anhänger  des 
Prohibitivsj^stems  den  Zollsatz  nicht,  sondern  nur  die  Grenze  schliessen, 
bis  er  die  Concurrenz  aushält. "  Zölle  sind  einzuführen,  wenn  noch  viele 
Canäle  für  inländische  Production  und  Handel  unbenutzt  sind;  man  soll 
aber  die  Capitalien  und  Arbeitskräfte  nicht  in  naturwidrige  Productionen 
drängen.  „Nie  wird  es  aufhören,  die  schwere  Kunst  der  Kegierungen  zu 
sein,  ebensosehr  den  flüchtigen  Vortheil  des  Augenblickes  zu  ergreifen, 
als  die  fernste  Zukunft  zu  Käthe  zu  ziehen."  Handelsstaaten  wären  unklug, 
wenn  sie  ihr  Lebensprincip  durch  Prohibitivmaassregeln  beschränken  wollten. 
..Die  natürliche  Entwickelung  eines  Staates  fordert  Urproduction  —  Gewerbs- 
leute —  Handelsleute.  So  lange  eines  davon  fehlet,  ermangelt  die  Gesell- 
schaft eines  zu  ihrem  Wohlstande  nothwendigen  Elementes.  .  .  .  Alle  Ge- 
werbsarten können  selbst  in  einem  grossen  Staate  sich  nicht  mit  Vortheil 
finden;  viele  aber  und  zwar  die  wichtigsten  können  unter  jeder  Staatsform 
und  auf  jedem  Staatsgebiete  gedeihen,  und  die  Kegierungen  sollen  nicht 
früher  ruhen,  als  bis  sie  diese  Hauptgewerbsarten  auf  inländischen  Boden 
verpflanzt  und  erstarkt  sehen."  Es  mag  dann  immerhin  der  üeberschuss  zum 
Ankaufe  fremder  Luxuswaaren  verwendet  werden,  allein  das  natürliche  Ver- 
hältnis ist  erst  dann  hergestellt,  wenn  im  auswärtigen  Handel  hauptsächlicli 
Fabrikate,  nicht  aber  Urproducte  einerseits,  Fabrikate  andererseits  gegen 
einander  ausgetauscht  werden;  verkauft  ein  Land  seine  Kohproducte, 
so  „hat  freilich  jeder  Webstuhl  des  Auslandes  einen  Pflug  im  Inlande  in 
Bewegung  gesetzt  .  .  . ;  allein  der  ganze  oft  Millionen  betragende  Arbeits- 
lohn, Unternehmungsprofit  und  Capitalgewinn,  den  sich  das  Ausland  in 
unseren  ürproducten  zahlen  Hess,  ist  ein  Verlust  für  die  Nation,  der  erspart 
wird,  wenn  Fabrikate  gegen  Fabrikate  getauscht  werden,  weil  in  diesem 
Falle  mit  denselben  vorerst  eine  inländische  Fabrikantenclasse  genährt 
wurde  und  diese  dann  *imr  ihre  Ueberschüsse  gegen  fremde  Ueberschüsse 
umsetzte." 

Worin  liegt  das  Princip  für  Anfang  .und  Ende  des  Prohibitivsystemes  ? 
„Erst  dann  kann  man  mit  Prohibitivmaassregeln  anfangen,  wenn  das  Volk 
so  weit  auf  der  Bahn  der  Civilisation  vorgeschritten  ist,  dass  es  bereits 
ein  Bedürfnis  nach  den  Erzeugnissen  der  Mittelclasse  fühlet,  und  zweitens, 
auch  genug  Hände  und  Gütervorräthe  besitzt,  um  selbst  für  die  Verbesserung 
seiner  Lage  arbeiten  zu  können.  Bis  diese  beiden  Bedingungen  eintreffen, 
muss  .  .  .  freier  Verkehr  den  Trieb  erwecken,  Bildung  und  Sparsamkeit 
der  Kegierung  aber  die  Mittel   schaffen,  um   die    weitere  Entwicklung   vor- 


254  Zuckerkandl. 

zubereiten  .  .  .  Man  könnte  mit  vieler  Wahrheit  sagen,  dass  es  dann, 
wenn  ein  junger  Staat  anfängt,  G-etreide  und  Mehl  auszuführen,  auch  Zeit 
sei,  an  eine  weise  Anwendung  des  Prohibitivsystems  zu  denken."  Denn  die 
Staaten,  die  Urproducte  ^ausführen  und  Gewerbsartikel  einführen,  liefern 
damit  den  Beweis,  dass  sie,  ohne  an  der  Zahl  und  dem  Wohlstande  ihrer 
ürproducenten  zu  verlieren,  noch  überdies  eine  bedeutende  Gewerbsclasse 
in  ihrer  Mitte  aufnehmen  könnten.  Viele  Familien  würden  von  dem  was  aus- 
geführt wurde,  leben  und  die  IVEanufacturwaaren  erzeugen,  „wenn  die  Nation 
<iazu  erzogen  wäre."  Dem  Prohibitivsysteme  ein  Ende  zu  bereiten,  ist  der 
Regierung  erst  dann  möglich,  wenn  sie  die  Beruhigung  erhält,  dass  die 
Gewerbsindustrie  sich  von  selbst  ungehindert  und  kraftvoll  entwickeln  werde. 
Bei  dieser  Ueberzeugung  kann  man  die  Zölle  allmählich  herabsetzen  und 
endlich  „das  Gewerbswesen  emancipieren.  ...  So  sind  es  also  die  Umstände, 
die  über  die  Nothwendigkeit  oder  Nützlichkeit  des  Prohibitivsystemes 
entscheiden." 

Der  erste  Abschnitt  der  Schrift,  den  ich  zumeist  mit  den  Worten 
des  Verfassers  wiedergegeben  habe,  ist  der  wichtigste  und  längste.  Die  folgen- 
den vier  Abschnitte  sind  minder  bedeutsam.  Die  Ueberschriften  derselben 
lauten:  „Zölle  als  Mittel  die  Consumtion  zu  beschränken",  „Zölle  als  Be- 
steuerungsmittel", „Zölle  als  Mittel,  den  Gang  der  Industrie  und  des  Han- 
dels zu  übersehen",  „Zölle  als  Mittel,  bestehende  Industrie  zu  erhalten,  als 
Repressalien  und  bei  Handelsverträgen".  Von  einer  Wiedergabe  des  In- 
haltes sehe  ich  der  Kürze  wegen  ab.  In  einer  Schlussbemerkung  kommt 
der  Verfasser  zu  einer  bündigen  Wiederholung  seiner  Ansichten.  Er  erklärt, 
„dass  Zölle  unter  gewissen  Umständen  nöthig,  unter  anderen  wieder  nützlich 
sind,  und  dass  selbst  bei  den  industriöseren  Nationen  volle  Handelsfreiheit 
schwerlich  hergestellt  werden  dürfte,  wenn  jede  Regierung  den  Gesammt- 
vortheil  ihrer  Nation  vor  Augen  hält."  Die  bekannte  Aeusserung  Hamil- 
1 0  n's,  der  anscheinend  auch  N  e  b  e  n  i  u  s  beipflichtet,  dass  die  Freihandels- 
lehre A.  Smith's  an  sich  wahr,  aber  unausführbar  sei,  insolange  nicht 
alle  Regierungen  sich  darüber  einverstanden  hätten,  sei  unzutreffend:  nicht 
der  Wille  der  Regierungen,  „das  Lebensalter  des  Volkes,  seine  Entwicke- 
lung,  der  Geist  und  die  Wohlhabenheit  desselben,  seine  früheren  Schick- 
sale, politische  und  Elementarereignisse,  ferner  alle  diese  Umstände  bei 
allen  damit  in  Verkehr  tretenden  Völkern,  endlich  die  politische  Tendenz 
der  Regierung  überhaupt,  das  sind  die  Bedingungen,  von  denen  Handels- 
freiheit oder  Beschränkungen  abhängen".  Die  englischen  Anpreisungen  der 
Handelsfreiheit  machen  den  Eindruck,  als  wollte  England  verhüten,  dass 
andere  Staaten  jene  Maassregeln  treffen,  die  einst  England  gross  gemacht 
hatten.  „Allein  die  Wissenschaft  soll  nie  dem  einen  Lande,  und  wäre  es 
selbst  das  eigene,  sondern  nur  der  reinen  Wahrheit  dienen".  — 

Es  ist  unverkennbar,  und  tritt  wohl  auch  aus  dem  vorstehenden  Aus- 
zuge hervor,  dass  die  Ideen  FränzTs  denjenigen  List's,  wie  sie  im 
nationalen  System  der  politischen  Oekonomie  niedergelegt  sind,  sehr  nahe- 
stehen. Die  Tendenz  ist  die  nämliche,   und  es   lässt  sich  eine  weitgehende 


Beitrag  zur  Dogmen-Geschichte  der  SchutzzoUidee.  255 

U  eberein  Stimmung  in  der  Begründung  der  Lehre  nachweisen.  Beide  erklären, 
dass  die  Freihandelslehre  vom  Standpunkte  der  Weltwirtschaft  richtig  sei, 
aber  unanwendbar  und  unrichtig,  wenn  man  die  Umstände  der  Nationen 
und  Staaten  beachte.  Während  List  in  dieser  Beziehung  auf  die  zwischen 
dem  Individuum  und  der  Menschheit  stehende  Nation  hinweist,  die  die  volle 
Entfaltung  ihres  Könnens  anstrebe,  hält  sich  Franzi  mehr  an  den  Staat 
und  die  Regierung,  welche  die  Aufgabe  haben,  das  Beste  der  Staatsbürger 
zu  befördern,  und  dabei  vorsorglich  auch  die  Zukunft  in  Betrachtung  zu 
nehmen.  Beide  sind  darin  einig,  dass  nur  jene  Nation  oder  Gesellschaft, 
welche  neben  der  Urproduction  Handel  und  Industrie  besitzt,  den  möglichen 
Grad  der  Entwickelung  erreicht  hat,  von  Beiden  wird  die  Bedeutung  der 
Industrie  für  das  wirtschaftliche  und  geistige  Wohl  der  Völker  sehr  hoch  ver- 
anschlagt: Franzi  stellt  dies  mehr  als  ein  Axiom  hin,  während  List  diese 
Idee  mit  besonderer  Liebe  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Arbeitstheilung  und 
der  Conföderation  der  Beschäftigungen  darlegt.  Dass  der  Schutz  der  natio- 
nalen Arbeit  der  Nation  zunächst  Opfer  auferlegt,  war  beiden  klar,  nicht 
minder,  dass  der  endliche  Vortheil  sicher  sei.  List  beruft  sich  dabei  vor- 
wiegend auf  die  Erweckung  der  productiven  Kräfte  durch  den  Schutz  und 
stellt  diese  Lehre  der  Theorie  der  Werte  entgegen;  auch  Franzi  weist 
oft  genug  auf  den  Gewinn  an  Kräften  hin  (s.  §§  5,  16,  22  und  23),  doch 
sucht  er  auch  nachzuweisen,  dass,  wenn  die  Schutzpolitik  den  äusseren 
Verkehr  verlängert,  der  innere  Verkehr  steigen  müsse.  Beide  fassen  den 
Schutz  der  nationalen  Arbeit  als  eine  vorübergehende  Erziehungsmaassregel 
auf,  die  nur  in  bestimmten  Entwickelungszuständen  der  Völker  angemessen  sei, 
und  versuchten  für  Anfang  und  Ende  der  Schutzpolitik  ein  Princip  zu  finden. 
Beide  verweisen  auf  die  durch  die  Entwickelung  eigener  Industrien  herbei- 
geführte Unabhängigkeit  der  Nationen  und  Staaten  vom  Auslande,  beide 
denken  bei  der  Schutzpolitik  zunächst  an  die  „Hauptindustriezweige,  welche 
gleichsam  den  Stamm  des  Nationalwoblstandes  bilden",  das  heisst  „Artikel 
des  gemeinen  Verbrauches  erzeugen".  Beide  sind  nur  für  den  Schutz  jener 
Industrien,  für  welche  die  natürlichen  Grundlagen  vorhanden  sind. 

In  der  Polemik  gegen  das  Freihandelss3^stem  werden  die  einzelnen 
Argumente  mit  verschiedener  Ausführlichkeit  behandelt.  List  sucht  vor 
allem  den  Satz  zu  widerlegen,  dass  die  Production  nur  in  dem  Maasse  an- 
wachsen könne,  wie  das  Capital  (in  dem  von  der  „Schule"  angenommenen 
Sinne),  indem  er  darstellt,  dass  durch  die  Einführung  von  Industrien  viele 
in  einem  Agriculturstaate  nothwendig  nicht  benutzbare  natürliche  und 
geistige  Productivkräfte  geweckt  werden.  Franzi  entgegnet  seinerseits  auf 
die  Behauptung  der  Freihandelslehre,  dass  die  Production  durch  das  Capital 
begrenzt  werde,  und  dass  man  durch  Schutzmaassregeln  die  Production 
nicht  vermehrt,  sondern  nur  verändert,  indem  man  das  Capital  nöthigt,  den 
geschützten  Beschäftigungen  zuzufliessen  und  diejenigen,  die  nicht  geschützt 
sind,  zu  verlassen.  Er  ist  in  der  Widerlegung  dieses  Satzes,  wie  ich  glaube, 
sehr  glücklich,  indem  er  festzustellen  sucht,  dass  eine  Natjon,  welche  Eoh- 
producte  ausführt  um  fremde  Gewerbserzeugnisse  einzuführen,  dem  Auslande 


256  Zuckerkandl. 

die  wichtigsten  Productionsmittel  abgibt,  mit  deren  Hilfe  man  die  aus  dem 
Auslande  bezogenen  Waren  im  Inlande  herstellen  könnte. 

Ein  Fehler  der  Arbeit  FränzFs  liegt  darin,  dass  die  ungleiche  Wirk- 
samkeit und  Nützlichkeit  der  verschiedenen  Schutzmaassnahmen  nicht  unter- 
sucht wird;  es  werden  anscheinend  Prohibitionen,  Schutzzölle  und  Zölle 
unterschiedlos  empfohlen.  Der  Verfasser  hat  offenbar  nur  eine  Besprechung 
des  Principes  des  Schutzes  der  nationalen  Arbeit  beabsichtigt,  und  die  zur 
Durchführung  geeigneten  Mittel  nicht  untersuchen  zu  sollen  geglaubt.  Auch 
die  von  List  so  ausführlich  behandelte  Frage  des  Schutzes  der  Landwirt- 
schaft durch  Zölle  hat  Franzi  nicht  berührt,  üeberhaupt  ist  das  nationale 
System  List's  -viel  umfassender  und  reichhaltiger  als  die  kleine  Schrift 
Fränzl's.  Man  darf,  wenn  man  die  beiden  Arbeiten  vergleicht,  die  Verschieden- 
heiten nicht  übersehen,  welche  mit  Bezug  auf  die  Verfasser  und  die  Veran- 
lassungen und  Absichten  der  Veröffentlichung  vorliegen.  Franzi  war  im 
Jahre  1834-  ein  wissenschaftlicher  Anfänger,  der  sich  mit  seinen  in  bescheidenem 
Tone  vorgetragenen  Lehren  an  einen  kleinen  Kreis  von  Fachgenossen  wendete, 
um  sie  eines  Besseren  zu  belehren  und  für  seine  Ideen  zu  gewinnen.  Das 
nationale  System,  von  List  zur  Zeit  seiner  höchsten  Leistungsfähigkeit  ge- 
schrieben, sollte  sein  Hauptwerk  werden,  und  nicht  bloss  die  Freihandelslehre, 
sondern  das  ganze  System  der  Schule. widerlegen  und  durch  ein  neues  ersetzen. 

Nach  dieser  Vergleichung  Fränzl's  mit  List  ist  es  zur  richtigen 
W^ürdigung  beider  unerlässlich,  durch  Heranziehung  der  älteren,  geistes- 
verwandten Autoren  festzustellen,  was  sie  bloss  wiederholt  und  was  sie 
Neues  gefunden  haben.  Wollte  man  diese  Untersuchung  vollständig  durch- 
führen, so  müsste  man  freilich  sehr  weit  zurückgehen,  denn  der  Schutz  der 
nationalen  Arbeit  war  bekanntlich  der  Hauptgrundsatz  des  gewiss  nicht 
kosmopolitischen  Mercantilismus,  ja  er  ist  älter  als  seine  wissenschaftliche 
Vertretung:  denn  er  bildet,  da  er  der  menschlichen  Natur  congenial  ist, 
gleichsam  die  natürliche  Handelspolitik  jedes  aufstrebenden  Volkes,  während 
die  Freihandelslehre  eine  von  der  Wissenschaft  entdeckte  Theorie  ist,  deren 
Richtigkeit  den  Nationen  nicht  leicht  nachgewiesen  werden  kann.  Wenn 
sich  derart  in  der  älteren  Literatur,  vermengt  mit  vielen  Irrthümern,  ein- 
zelne der  Ideen  finden,  die  List  und  seine  Vorgänger  vertraten,  so  wäre 
doch  die  Annahme  irrig,  dass  es  diesen  leicht  gewesen  sei,  zu  ihren  Lehren 
zu  gelangen.  Im  Gegentheile,  es  war  in  den  ersten  40  Jahren  dieses 
Jahrhunderts  ebenso  schwer,  ein  Gegner  der  Freihandelslehre  zu  sein,  als 
es  hundert  Jahre  früher  schwer  war,  den  Schutz  der  nationalen  Arbeit  zu 
bekämpfen.  Ist  es  überhaupt  nicht  leicht,  sich  von  der  herrschenden  An- 
sicht loszumachen,  so  war  die  Aufgabe  im  vorliegenden  Falle  umso  grösser, 
als  die  Gegner  A.  Smith's  mit  Rücksicht  auf  dessen  eindringliche  Wider- 
legung des  Mercantilismus,  für  ihre  Lehren  eine  neue  theoretische  Grund- 
lage schaffen  mussten.  Diese  nun  ist  nur  allmählich  zustande  gekommen 
und  durch  die  wissenschaftlichen  Bemühungen  Vieler;  das  Hauptsächlichste 
aus  dieser  Entwickelung  möchte  ich  hier  nach  der  mir  zugänglichen 
Literatur  in  kurzer  Zusammenfassung  feststellen. 


Beitrag  zur  Dogmen-Geschichte  der  Schutzzollidee.  257 

Ueber  den  Beitrag,  den  die  Nationalökonomen  der  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika  zur  modernen  Lehre  vom  Schutze  der  nationalen  Arbeit  ge- 
liefert haben,  will  ich  mich  vor  allem  äussern,  wegen  der  Anregungen,  die 
List  empfangen  haben  mag,  während  er  in  den  Vereinigten  Staaten  ver- 
weilte. Die  einschlägige  Fachliteratur  ist  mir  zu  meinem  Bedauern  nicht 
in  genügendem  Maasse  zugänglich  gewesen,  und  ich  musste  mich  mit 
Mittheilungen  aus  zweiter  Hand  begnügen.  Das  VVichtigste  verdanke  ich 
in  dieser  Beziehung  einem  jungen  Forscher  aus  der  nordamerikanischen 
Union,  Herrn  Harry  J.  Furber,  der  in  seinem  noch  ungedruckten  Werke: 
„History  of  the  development  of  economic  theory  in  the  United  States", 
interessante  Beiträge  zu  dieser  Frage  liefern  dürfte. 

Schon  in  den  beiden  ersten  Jahrzehnten  dieses  Jahrhunderts  be- 
kannten sich  viele  Politiker  und  Nationalökonomen  der  Union  zu  dem  Satze 
Alexander  Hamilton's,  dass  jede  Nation  trachten  müsse,  selbst  für  die 
wichtigsten  Theile  ihres  Bedarfes  aufzukommen.  In  den  Discussionen  übei> 
die  Zolltariffrage  im  Jahre  1824  gab  einer  der  Führer  des  Protectionismus, 
Henry  Clay,  das  Schlagwort  vom  amerikanischen  System  der  politischen 
Oekonomie  aus,  eine  Benennung,  die  grosse  Volksthümlichkeit  erlangte, 
und  im  Titel  der  bekannten  Schrift  List's,  die  dieser  auf  Anregung 
IngersoU's  schrieb,  wiederkehrt.  Nicht  zu  übersehen  sind  in  Bezug  auf 
die  Entwickelung  der  Schutzzollidee  die  Arbeiten  Daniel  Kaymond's,  von 
dem  das  erste  systematische  Werk  über  Nationalökonomie  herrührt,  das  in 
Amerika  erschien.  Dieser  unterscheidet  in  seinen  „Thoughts  on  Political 
Economy"  (Baltimore  1820)  zwischen  individuellem  und  Nationalreichthum, 
ähnlich  wie  Lauderdale,  und  zwischen  private  und  political  economy;  das 
Princip  der  völligen  wirtschaftlichen  Freiheit  ist  nach  seiner  Meinung  mit 
den  Interessen  einer  Nationalökonomie  unvereinbar,  wenn  es  auch  für  eine 
auf  individualistischer  Grundlage  aufgebaute  Wirtschaft  Geltung  haben 
sollte.  Sehr  bemerkenswert  ist,  dass,  während  Eaymond  den  individuellen 
Eeichthum  als  Ueberfluss  an  materiellen  Gütern  bezeichnet,  er  den  National- 
reichthum definiert  als  die  „capacity  for  aquiring  the  necessities  and  com- 
forts  of  life",  womit  eine  Aeusserung  List's  nahezu  ganz  übereinstimmt. 
Die  Unterscheidung  der  für  die  Privat-  und  der  für  die  Nationalökonomie 
wichtigen  Maximen  wurde  damals  bereits  für  sehr  wichtig  gehalten;  sie  war 
Gegenstand  eines  wissenschaftlichen  Streites,  und  es  hat  insbesondere  der 
von  List  citierte  Cooper  sich  um  den  Nachweis  bemüht,  dass  dem  Be- 
griffe der  Nation  kein  existierendes  Ding  entspreche. 

Die  Schutzidee  findet  wichtige  Vertreter  in  der  französischen  Literatur 
und  sind  hier  besonders  vier  Forscher  zu  nennen:  Ferrier,  Chaptal, 
Ganiih  und  Louis  Say.  Ferrier  war  mit  seiner  Ueberschätzung  der 
Bedeutung  des  Geldes  ein  Mercantilist  im  landläufigen  Sinne  des 
Wortes.  Er  betrachtet  das  Geld  als  Quelle  des  Eeichthums,  und  nennt  es 
das  kostbarste  Capital,  weil  es  zur  Schaffung  und  Erhaltung  der  übrigen 
Capitalien  beiträgt.  Die  Ausfuhr  von  Geld  sei  ein  Uebel,  und  die  Völker 
müssten    daher    einen    Activhandel    anstreben    und    durch    Ausschliessung 


258  Zuckerkandl. 

fremder  Erzeugnisse  eine  grössere  Anzahl  von  Arbeitern  im  Inlande  unter- 
lialten.  Er  befürwortet  den  Zollscliutz  auch  als  dauernde  Maassregel. 
Ferrier  ist  noch  kein  moderner  Theoretiker  des  Schutzsystems.^) 

Chaptal,  der  Verfasser  des  höchst  verdienstvollen  Werkes  über  die 
französische  Industrie  stellt,  ohne  viel  in  theoretische  Auseinandersetzungen 
sich  einzulassen,  dar,  dass  die  Aufhebung  des  Schutzes,  den  die  französische 
Arbeit  geniesst,  den  Euin  des  heimischen  Wohlstandes  herbeiführen  würde, 
weil  die  ausländische  Concurrenz  unüberwindlich  sei,  dass  in  vielen  Fällen 
die  Production  nur  durch  den  staatlichen  Schutz  hervorgerufen  werden 
könne,  und  dass  dabei  zwischen  Eohproduction  und  industrieller  Production 
kein  Unterschied  zu  machen  sei.  Er  betont  die  Schwierigkeiten,  die  eine 
richtige  Schutzpolitik  wegen  der  zahlreichen,  einander  widerstreitenden 
Interessen  zu  überwinden  habe,  und  mahnt  mit  Kecht  zu  sorgfältiger 
Prüfung  der  jeweiligen  Sachlage,  sowie  zu  genauer  Abwägung  aller  erhobenen 
Ansprüche  und  betheiligten  Interessen.  )^ 

Durch  Schutzzölle  seien  die  Ungleichheiten  in  den  Gestehungskosten 
der  Producte  auszugleichen.  Verbote  könnten  nur  als  Repressalien  angesehen 
werden,  oder  um  einer  Production  über  die  Kinderjahre  hinwegzuhelfen.  Stellt 
sich  in  verlässlicher  Weise  heraus,  dass  ein  bisher  aus  dem  Auslande  bezogenes 
Gut  im  Inlande  hergestellt  werden  könne,  dann  seien  die  Zölle  allmählich  zu 
erhöhen,  und  man  könne  sogar  zu  Verboten  schreiten,  sobald  die  inländische 
Production  das  betreffende  Gut  herzustellen  begonnen  habe.  Das  Opfer  der 
Consumenten  sei  vorübergehend,  und  dem  Vaterlande  gebracht,  um  eine 
neue  Quelle  des  ßeichthums  zu  erschliessen;  die  inländische  Concurrenz 
drücke  die  Preise  alsbald  auf  das  entsprechende  Niveau  herab.  Er  verlangt 
endlich,  dass  jede  gute  Zollpolitik  stabil,  ja  unbeweglich  (immuable)  sein 
solle.  ^)  In  eine  Widerlegung  der  theoretischen  Grundlagen  der  Freihandels- 
lehre lässt  Chaptal  sich  nicht  ein. 

Ganilh  war  ein  origineller  Theoretiker  des  Schutzsystems.  Er  betont 
nachdrücklich  den  nationalen  Standpunkt  und  sondert  das  Gesammt-Interesse 
vom  Einzel -Interesse.  Der  Zweck,  den  ein  Volk  durch  die  Schutzpolitik 
anstrebe,  sei  „de  mettre  ä  Tabri  de  toute  concurrence  etrangere  les  facultes 
productives  de  son  sol,  le  travail  de  ses  classes  laborieuses,  et  le  placement 
de  son  capital  jusque  ä  ce  qu'ils  puissent  la  soutenir  avec  avantage  ou  du 
inoins  sans  perte."  Die  Unmöglichkeit  der  Concurrenz  mit  den  in  der 
Industrie  weiter  vorgeschrittenen  Staaten  wird  auch  von  ihm  bestätigt. 
Den  Einwand,  dass  die  Production  eines  Volkes  durch  dessen  Capital 
begrenzt  sei,  sucht  er  zu  widerlegen  durch  den  Hinweis  darauf,  dass  jede 
Nation  durch  die  bessere  Verwendung  ihres  Capitals  sich  bereichere  und  dass 
Handel  und  Industrie  dem  Capital  höheren  Gewinn  bringen,  als  die  Agri- 
cultur.  Man  könnte  also  durch  eine  veränderte  Verwendung  des  Capitals  die 
Industrien  fördern,  ja  sogar  schaffen.  Wenn  die  Nation  Mittel  hat,  um  die 

^)  Du  gouvemement  cousidere  dans  ses  rapports  avec  le  commerce,  1821,  2.  Ausgabe. 
3.  und  4.  Buch. 

2j  De  rindustrie  fraTi9aise,  1819,  2.  Band,  pag.  412  ff. 


Beitrag  zur  Dogmen-Geschichte  der  Schutzzollidee.  259 

Erzeugnisse  des  Auslandes  zu  bezahlen,  dann  kann  sie  immer  diesen  Theil 
ihres  Einkommens  zur  Begründung  von  Manufacturen  verwenden.  Er  geht 
noch  weiter  und  behauptet:  „le  capital  de  chaque  peuple  dans  son  etat  actuel 
lui  suffit,  pour  faire  fabriquer  dans  ses  manufactures  les  objets  qu'il  achete 
de  Tetranger  ....  chaque  pays,  .  .  .  par  le  seul  deplacement  de  la  partie  de 
son  revenu,  qu'il  affectait  au  paiement  des  produits  de  l'industrie  etrangere, 
peut  faire  fabriquer  les  memes  produits  dans  ses  manufactures".  Die  für  die 
heimischen  Erzeugnisse  zu  entrichtenden  höheren  Preise  seien  „le  levier 
de  la  production  plutöt,  que  la  recompense  du  producteur".  Aber,  und 
darin  erblickt  Ganilh  eine  von  ihm  beigebrachte  neue  Idee  „ces  privations 
seraient  absurdes,  si  elles  ne  devaient  jamais  produire  Teffet,  qu'on  s'en 
est  promis",  man  muss  also  den  Anordnungen,  welche  die  Einfuhr  hindern, 
eine  Grenze  setzen.^)  -|- 

Ich  glaube,  es  ist  nicht  schwer,  die  Mängel  dieser  Lehre  herauszu- 
finden; es  ist  sicherlich  unrichtig,  dass  jedes  Volk  die  materiellen  Mittel 
—  von  den  geistigen  ganz  abgesehen  —  besitzt,  um  das  selbst  zu  er- 
zeugen, was  es  aus  dem  Auslande  bezieht.  Auch  wird  nicht  dargelegt, 
wann  der  Schutz  beginnen  solle,  es  wird  nicht  zwischen  Agricultur-  und 
Industriestaaten  unterschieden,  sondern  Ganilh  verfällt  in  die  alt- 
mercantilistische  Maasslosigkeit,  wenn  er  sagt:  „le  veri table  interet  de  tous 
les  peuples  leur  impose  le  devoir,  de  gener  l'importation  des  produits  de 
rindustrie  etrangere,  quand  ils  sont  ä  meilleur  marche,  que  ceux  de  sa 
propre  Industrie;  ils  n'ont  pas  d'autre  moyen  pour  se  conserver  au  rang 
des  peuples  industrieux.  pour  ne  pas  retomber  dans  l'etat  inferieur  des 
peuples  agricoles."  Dieser  Grundsatz  würde  zur  Ausschliessung  fast  aller 
fremden  Gewerbserzeugnisse  führen,  zur  Aufhebung  der  internationalen 
Arbeitstheilung  auch  zwischen  Industrievölkern  und  zu  einer  zwecklosen 
Verschwendung  von  Arbeitskraft  und  Capital. 

Dieselbe  Maasslosigkeit  findet  man  auch  bei  Louis  Say.  Er  stellt  das 
Princip  auf,  der  auswärtige  Handel  solle  einer  Nation  nur  jene  Güter 
bringen,  die  sie  selbst  nur  schwer  erzeugen  könne.  Diese  gewiss  unrichtige 
Auifassung,  welche  die  Prohibition  unter  Umständen  als  eine  dauernde 
Staatseinrichtung  gelten  lässt,  beruht  auf  einer  interessanten  theoretischen 
Grundlage,  die  ich  weiter  unten  mittheilen  werde.  Schon  hier  möchte  ich 
jedoch  hervorheben,  dass  bereits  Say  die  Handelsgrundsätze  vom  kosmo- 
politischen und  vom  nationalen  Standpunkte  sondert,  und  überdies  .sehr 
eindringlich  darthut,  dass  nicht  alles,  was  dem  Interesse  des  Einzelnen 
entspricht,  deshalb  auch  schon  für  die  I^ation  nützlich  sein  müsse,  und 
dass  die  kluge  Wahrnehmung  des  eigenen  Vortheils  oder  die  geschickte 
Vermehrung  des  eigenen  Gewinnes  seitens  des  Einzelnen  keineswegs  stets 
auch  den  Wohlstand  der  Nation  erhöht.  2) 


')  La  theorie  de  l'Econ.  pol.  2.  Auflage,  1822,  2.  Band,  pag.  197  if. 
2)  Traite  elem.  de  la  richesse  individuelle  et  de  la  riehesse  publique,  1827.  Siehe 
insbesondere  Buch  2,  Ch.  IL,  pag.  193,  211  If. 


260  Zuckerkandl. 

Die  Untersuchungen  über  Handelspolitik  in  der  deutschen  Literatur 
sind  in  der  Zeit  nach  Beendigung  der  Freiheitskriege,  wie  bekannt,  aus 
den  unbehaglichen  wirtschaftlichen  Verhältnissen  herausgewachsen,  in  denen 
sich  Deutschland  damals  befand.  Die  Berichte  aus  jener  Zeit  stimmen  darin 
tiberein,  dass  die  nach  dem  Frieden  wiederangeknüpften  internationalen 
Handelsbeziehungen  der  deutschen  Production  eine  sehr  unerwünschte  Con- 
currenz  schufen,  indem  die  deutschen  Länder  besonders  durch  England  mit 
billigen  Erzeugnissen  überreich  versorgt  wurden.  Dieser  dem  Absätze  der 
deutschen  Producte  abträgliche  Wettbewerb  wurde  umso  schwerer  empfanden, 
als  England  selbst  sich  durch  Verbote  und  Zölle  abgesperrt  hatte  und  der 
Absatz  auf  deutschem  Boden  durch  zahlreiche  Mautschranken  der  Bundes- 
staaten behindert  wurde.  Die  nationale  Begeisterung  und  der  wieder  belebte 
Einheitsgedanke  forderten  auch  auf  dem  Gebiete  der  Handelspolitik  eine 
Annäherung  der  deutschen  Völker  und  eine  nach  aussen  imponierende 
Zusammenfassung  aller  Kräfte.  In  dieser  Bewegung  trat  Friedrich  List  zum 
erstenmale  vor  die  grosse  Oeffentlichkeit.  Seine  Ansichten  sind  im  „Organ 
für  Handel  und  Industrie"  niedergelegt.  Seine  zahlreichen  Beiträge  zu  dieser 
Zeitung  beweisen,  dass  List  damals  die  Grundzüge  seiner  späteren  Lehren 
noch  nicht  bekanntgab;  er  kämpfte  für  die  Beseitigung  der  Zollschranken 
in  Deutschland  und  für  ein  Ketorsionszollsystem  nach  aussen  und  zeigt 
sich  eher  als  Anhänger  der  Freihandelslehre  i).  Es  ist  unter  solchen  Um- 
ständen begreiflich,    dass    ein  Vertheidiger   des  Schutzsystems,   Hopf,    mit 


')  Es  wäre  leicht  dies  aus  dem  „Organ"  vielfältig  zu  belegen.  Ich  verweise  nur 
auf  zwei  Stellen,  die  von  List  selbst  herrühren.  „Immer  und  überall  hat  der  Handels- 
verein in  seinen  Eingaben  anerkannt:  das  höchste,  was  für  den  deutschen  Nahrungsstand, 
sowie  für  alle  Nationen  zu  wünschen  wäre,  sei  Handelsfreiheit  in  ganz  Europa,  in  der 
ganzen  Welt;  ein  deutsches  Mercantilsystem  sei  bloss  das  Mittel,  um  durch  Handels- 
verträge nach  und  nach  die  Anerkenntnis  dieses  Principes  herbeizuführen".  (Organ  f.  H. 
u.  J.,  Jahrg.  1820,  pag.  142.)  Ferner:  „So  sollte  —  meint  der  Handelsverein  —  und  wir 
zweifeln,  ob  es  einen  unbefangenen  mit  gesundem  Verstände  ausgestatteten  Menschen  in 
ganz  Deutschland  gibt,  der  dies  leugnet  —  so  sollte  Deutschland  das  Panier  der  allge- 
meinen Handelsfreiheit  aufstecken",  vorerst  aber  Eetorsionen  anwenden,  um  den  anderen 
Nationen  „die  Thorheit"  ihrer  Handelssysteme  begreiflich  zu  machen;  ein  europäischer 
Handelscongress  „soll  ein  gemeinsames  Handelssystem  feststellen,  welches,  indem  es  die 
möglichste  Freiheit  theils  schon  jetzt  zulässt,  theils  vorbereitet,  allen  Nationen  gleiche 
Vortheile  gewähren  wird."  (1.  c.  pag.  228.)  List  erklärt  seine  damalige  Haltung  als 
die  Frucht  eines  Compromisses  mit  den  leitenden  Persönlichkeiten  des  Handelsvereines. 
(Das  nationale  System  etc.  1841,  pag.  XIII.  if.)  Ich  möchte  hier  auch  noch  auf  einen  Beitrag 
^^Bemerkungen  über  das  Bestreben  des  deutschen  Handels-  und  Gewerbe -Vereines" 
aufmerksam  machen,  den  Eau  dem  „Organ"  lieferte.  (1.  c.  Nr.  14  ex  1819  u.  Nr.  19  ex 
1820.)  Es  wird  darin  ausgeführt,  dass  wenn  in  einem  Lande  „die  technischen  Erfordernisse 
eines  Gewerbes"  vorhanden  sind,  Einfuhrzölle  ein  „mächtiger  Sporn"  seien,  da  sie  atf  einige 
Zeit  Schutz  vor  ausländischer  Concun-enz  gewähren;  es  müsse  jedoch  immer  vorerst 
festgestellt  sein,  ob  dieses  Gewerbe  „dem  jetzigen  Zustande  des  Gewerbswesens  ganz 
entspreche,  ob  es  nicht  einträglichere  Anwendungen  von  Capital  und  Arbeit  gebe".  Es 
wird  femer  zur  Vorsicht  bei  Aufhebung  bestehender  Zölle  gemahnt,  und  constatiert,  die 
Erfahrung  habe  „längst  bewiesen",  dass  bei  günstigen  Verhältnissen  die  Gewerbe  durch 
Zölle  schnell  zu  vervollkommnen  sind. 


Beitrag  zur  Dogmen- Geschichte  der  Schutzzollidee.  261 

dem    „Organ"    (ohne    es    zu    nennen)    als    Vertreter    der    Freiliandelslehre 
polemisiert/) 

Der  Schutz  der  nationalen  Arbeit  wird  in  der  deutschen  Literatur 
lange  vor  dem  nationalen  System  mit  dem  Hinweise  darauf  unterstützt,  dass 
man  zwischen  einer  kosmopolitischen  und  einer  nationalen  Oekonomie  unter- 
scheiden müsse.  Man  findet  diesen  Gedanken  bei  Cancrin^):  „Politische 
Oekonomie  ist  uns  die  Wissenschaft  vom  Weltreichthum  überhaupt  (besser 
Weltökonomie):  Nationalökonomie,  wenn  sie  auf  ein  bestimmtes  Volk 
angewendet  wird."  Er  bezeichnet  das  „Universalgeschichtliche"  als  „herrliches 
Ueberheben  über  die  gemeine  Menschennatur,  in  der  Praxis  aber  für  die 
Masse  verderblich.  Jede  Menschenrasse  muss  in  ihren  Unterabtheilungen, 
jede  als  unabhängiges  selbständiges  Volk,  eigenthümlich  nach  allen  seinen 
Eigenheiten  und  Bedürfnissen  regiert  und  ausgebildet  werden,  denn  sonst 
gelangt  keine  zu  möglichster  Blüte  und  Consistenz.  Unabhängige  und 
gesicherte  Existenz  ist  also  der  Hauptzweck  eines  Volkes,  dem  auch  der 
Nationalreich thum  untergeordnet  werden  muss."  Alles  dort  zu  kaufen,  wo 
es  am  wohlfeilsten  ist,  widerspricht  dem  Postulate  der  Nationalunabhängigkeit, 
alles  selbst  zu  machen,  wäre  ein  anderes  irriges  Extrem.  Wenn  die  Industrie 
soweit  Lage  und  Klima  es  erlauben  .alle  eigenen  Bedürfnisse  des  Landes 
befriedigt",  befindet  sie  sich  in  natürlichen  Grenzen,  auch  wenn  sie  über  den 
Landesbedarf  pro duciert,  „um  diejenigen  unserer  Bedürfnisse  damit  zu  kaufen, 
in  deren  Erzeugung  uns  die  Natur  nicht  begünstigt  .  .  .  Etwas  ganz 
anderes  ist  es,  eine  Fabrication  bloss  für  andere  zu  bezwecken,  die  Städte, 
die  in  Eussland  sein  sollten,  in  England  zu  erkünsteln  ..." 

Eine  sehr  ausführliche  Empfehlung  des  Prohibitivsystems  gibt  Hopf.^) 
Seine  Arbeit  ist  von  patriotischem  Geiste  durchzogen  und  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  Deutschland  geschrieben.  Er  verlangt  im  Interesse  der 
Unabhängigkeit  des  Volkes  die  Prohibition  der  ausländischen  Erzeug- 
nisse; die  deutsche  Arbeit  gehe  ohne  Schutz  zugrunde.  Der  freie  Handel 
verhindere  sie  auch,  die  den  Eigen thümlichkeiten  des  Landes  entsprechenden 
Industriezweige  zu  entwickeln:  die  Handelsfreiheit  sei  wohlthätig  nur  für 
Nationen,  die  auf  der  gleichen  Höhe  der  Cultur  stehen,  anderenfalls  bedeute 
sie  einerseits  das  Verbleiben  auf  einer  niedrigeren  Culturstufe.  Durch 
Prohibitionen  werden  „die  inländischen  Fabriken  vor  allzu  früher  und  über- 
legener Zudringlichkeit    der   auswärtigen  Erzeugnisse   geschützt   und   ihnen 


•)  Auf  Seite  70  (der  noch  zu  erwähnenden  Schrift  Hopfs).  Die  Polemik  richtet 
sich  gegen  eine  Stelle  pag.  42  des  Organs,  Jahrg.  1819. 

■•^)  In  seinem  anonymen  Werke  „Weltreichthum,  Nationalreichthum  und  Staats- 
Avirtschaft"  etc.,  München  1821,  Seite  XI,  101  if.  Bei  einer  umfassenden  Darstellung  der 
Opposition  gegen  Smith  wäre  Adam  Müller  besonders  zu  beachten.  Aeusserungen 
über  Handelspolitik  finden  sich  „Elemente  der  Staatskunst",  Berlin  1809,  Bd.  I,  pag.  285, 
Bd.  II,  pag.  236,  240  und  Bd.  III,  pag.  4  u.  114. 

3)  Meinungen  von  der  Handelsfreiheit  und  dem  Prohibitivsystem  in  Beziehung  auf 
die  Industrie  in  den  deutschen  Bundesstaaten,  zur  endlichen  Entscheidung  dargestellt 
von  Heinrich  Friedrich  Hopf.  Wien  1823.  S.  bes.  pag.  48,  50,  55,  68,  77,  134,  141 
und  159. 


2(52  Zuckerkandl. 

Müsse  gelassen  .  .  .  sich  zur  Höhe  emporzuarbeiten,  auf  welcher  sie  fremde 
Concurrenz  nicht  mehr  zu  fürchten  haben."  Durch  diesen  Schutz  seien 
England  und  Frankreich  zu  ihren  Industrien  gelangt.  Die  „Aemulation"^ 
welche  durch  den  Freihandel  erzielt  werden  soll,  sei  zu  vergleichen  mit 
dem  „Bilde  eines  starken,  gesunden,  mit  allen  Waffen  versehenen  und  im 
Gebrauche  derselben  geübten  Mannes,  der  einen  Knaben  zum  Zweikampfe 
herausfordert."  Von  der  Handelsfreiheit  könnte  nur  dann  die  Kede  sein, 
„wenn  die  verschiedenen  Völker  der  Erde  aus  einer  Familie  beständen,  die 
nach  einerlei  Gesetzen  regiert  und  für  deren  Wohlstand  von  einem  Kegenten 
mit  väterlicher  Unparteilichkeit  gesorgt  würde."  Hopfs  Argumente  sind 
mehr  praktisch  und  patriotisch  als  theoretisch:  es  ist  in  dieser  Beziehung 
gewiss  bemerkenswert,  dass  er  den  freihändlerischen  Satz,  die  Einfuhr 
bewirke  erhöhte  Ausfuhr,  also  vermehrte  Nachfrage  nach  inländischen  Er- 
zeugnissen, derart  zu  widerlegen  sucht,  dass  er  einwendet,  die  vermehrte 
Production  erfordert  mehr  Capital,  „wo  kommen  nun  die  Capitale  her,  welche 
zur  Befriedigung  der  vermehrten  Nachfrage  erfordert  werden?"  Das  fragen, 
wie  bekannt,  die  Anhänger  A.  Smith's,  wenn  man  durch  Zölle  oder  Ver- 
bote Industrien  gründen  will. 

Als  Gegner  der  Freihandelslehre  sind  weiter  zu  nennen:  C.  T.  Frei- 
herr v.  Gans  und  P.  Kaufmann.  Sie  vertreten  eine  unrichtige  Geld- 
theorie, von  der  sie  anscheinend  zur  alten  Handelsbilanzlehre  und  zur 
Schutzpolitik  gelangt  sind.  Erwähnenswert  ist  indessen,  dass  beide  über- 
einstimmend leugnen,  die  Productivkraft,  die  das  erzeugte,  was  nunmehr 
aus  dem  Auslande  bezogen  wird,  werde  im  Inlande  lohnende  Beschäftigung 
finden.  Dies  könne  bloss  „in  Staaten  der  Fall  sein",  sagt  Gans,  „die  noch 
nicht  bedeutend  cultiviert  sind".  Es  wäre  für  den  Staat  nur  dann  zweck- 
mässig, aus  dem  Auslande  das  billigere  Gewerbserzeugnis  einzuführen, 
welches  bisher  im  Inlande  theurer  erzeugt  wurde,  wenn  feststünde,  dass 
durch  eine  anderweitige  Verwendung  der  Productivkraft  ein  Product  erzeugt 
Av erden  könnte,  „dessen  Vertausch  gegen  das  erstere  einen  üeberschuss 
zurücklässt."  Dies  sei,  nicht  der  Fall,  und  durch  die  Handelsfreiheit  wurden 
jene  Länder  am  meisten  leiden,  die  sich  durch  kluge  Staatsmaassregeln 
auf  den  höchsten  Gipfel  des  Nationalwohlstandes  hinaufgeschwungen  haben. ^) 
Kaufmann  setzt  überdies  auseinander,  dass  die  Concurrenz  mit  den  grossen 
Industriestaaten  unmöglich  ist,  er  ist  gegen  unbedingte  Handelsfreiheit, 
aber  auch  gegen  unbedingte  Einfuhrverbote.  Er  leugnet  gegen  die  Lehre 
A.  Smith's,  dass  bei  Anlegung  von  neuen  Industrien  eine  ältere  Production 
vernachlässigt  werden  müsse.  Seine  Ausführungen  in  dieser  Beziehung  sind 
geistreich,  und  ich  werde  noch  einmal  auf  sie  zu  verweisen  in  der  Lage  sein. 2) 

Der  Vollständigkeit  wegen  ist  auch  noch  Lips  zu  erwähnen-^),  der 
für   die  Prohibition    der   ausländischen  Waaren  in  Deutschland  eintritt,  an- 


*)  System  der  Staatswirtschaft.  Leipzig  1826.  pag.  43. 

J^)  Defaisa  Adami  Smithii  circa  bilanciam  mercatoriani  theoria.Heidelbergae  1827. 
pag.  5.  Untersuchungen  im   Gebiete  der  politischen   Oekonomie.    Bonn  1829.  pag.  82  ff. 
3)  Deutschlands  Nationalökonomie  etc.  Giessen  1830.  pag.  333  fP, 


Beitrag  zur  Dogmen-Gescliiclite  der  Schutzzolliclee.  263 

sclieinencl  um  durch  eine  derartige  Wiedervergeltung  zur  allgemeinen  Handels- 
freiheit zu  gelangen.  Seine  Darstellung  ist  nicht  ganz  klar.  Einerseits  preist 
er  die  Handelsfreiheit,  und  bezeichnet  das  Prohibitivsystem  als  verwerflich; 
es  sei  indessen  nothwendig,  solange  keine  allgemeine  Vereinigung  zur  gegen- 
seitigen Freiheit  des  Handels  stattfindet.  Unter  gewissen  Umständen  soll  das 
Prohibitivsystem  grosse  Yortheile  haben,  denn  es  diene  als  Stütze  einer  auf 
der  Stufe  der  Kindheit  befindlichen  Industrie.  Daneben  lesen  wir,  dass 
Verbote  das  unfehlbare  Mittel  seien,  „die  Handelsfreiheit  zu  erdringen", 
dass  sie  anzuwenden  sind,  „wie  sehr  auch  Geist  und  Herz  zur  Handels- 
freiheit sich  hingezogen  fühlen  mögen",  aber  auch  dass  die  Grundsätze  des 
Prohibitivsystems  Grundsätze  des  gesunden  Menschenverstandes  sind. 

Eine  hohe  Bedeutung  für  die  hier  in  Eede  stehenden  Lehren  ist  den 
Arbeiten  Johann  S  c  h  ö  n's  beizulegen.  Schon  in  seiner  ersten  grösseren 
Schrift  äussert  er  Bedenken  gegen  die  allgemeine  AuAvendbarkeit  der  Frei- 
handelslehre,  indem  er  die  Nothwendigkeit  betont,  wegen  der  inländischen 
Steuern  Zölle  auf  die  ausländischen  Waren  zu  legen  und  mit  Rücksicht 
auf  die  Unabhängigkeit  des  Staates  gewisse  Güter  selbst  mit  Opfern  im 
Inlande  zu  erzeugen').  In  einem  anderen  Werke  unterscheidet  Schön 
bereits  zwischen  einer  isolierten,  geselligen  und  staatsgesellschaftlicheu 
Oekonomie;  die  gesellige  Oekonomie  müsse  sich  zu  einer  staatsgesellschaftlichen 
erheben,  die  Nation  sei  gegen  das  Ausland  eine  geschlossene  Familie,  es 
gebe  deshalb  auch  einen  Nationaleigennutz.  Auf  dem  Gebiete  des  äusseren 
Handels  sei  es  Pflicht  der  öffentlichen  Gewalt  „Störungen  und  Erschütte- 
rungen der  Nationalökonomie,  die  durch  gefährliche  Concurrenz  ausländischei:. 
Producenten  entspringen"  hintanzuhalten  oder  zu  beseitigen.-) 

In  seinem  reifsten  Werke  hat  Schön  diese  Gedanken  genauer  aus- 
geführt, er  wiederholt  den  Begriff  der  staatsgesellschaftlichen  Oekonomie 
und  verv/eist  auf  den  Unterschied  zwischen  dem  gemeinen  Besten  und  dem 
„reinen  Privatwohl".  Die  Wirtschaft  der  Bürger  werde  durch  den  Staat 
nach  aussen  fesi  begrenzt,  und  zu  einem  abgerundeten  Ganzen  erhoben, 
„es  entsteht  ein  Staatsinteresse  den  Fremden  gegenüber  und  sohin  ein 
neuer,  aber  grossartiger  Eigennutz,  der  den  auswärtigen  Verkehr  nicht  unter- 
brechen, allein  doch  für  die  Interessen  der  Staatsgesellschaft  gefahrlos 
machen  darf".  Er  tritt  für  ein  „freies  Schutzsystem"  ein.  Jedes  Volk  solle 
die  Entfaltung  aller  seiner  Anlagen  und  Mittel  anstreben,  „es  muss  daher 
erlaubt  sein,  auch  auf  jene  Geschäfte  das  Auge  zu  richten,  die  von  den 
natürlichen  Verhältnissen  gar  nicht  ausgeschlossen  sind,  aber  doch  nur 
durch  Ueberwindung  gewisser  äusserer  oder  historischer  Hindernisse  an- 
getreten werden  können".  Mit  einem  industriell  weit  vorgeschrittenen  Volke 
sei  die  freie  Concurrenz  unmöglich,  es  müssen  daher  Anstalten  getroffen 
werden,  um  „das  Aufkommen  oder  Fortschreiten  der  zur  Blüte  der  Nation 
schlechterdings  nothwendigen  Industrien  gegen    eine  bloss  aus   historischen 

^)  Die  Staatswissenschaft,  geschichts  -  philosophisch  begründet.  Breslau  1831. 
pag.  267  f. 

■'»)  Die  Grundsätze  der  Finanz.  1832,  pag.  7  f. 


264  Zuckerkandl. 

Verhältnissen  lieiTülirende  Uebermacht  ausländischer  Concurrenz"  möglich 
zu  machen.  „Schutzzölle",  so  heisst  es  endlich,  „müssen  nichts  beabsichtigen, 
als  die  Ausgleichung  der  rein  historischen  und  jedenfalls  vorübergehenden 
in-  und  ausländischen  Verhältnisse."^) 

Aus  der  Zeit  zwischen  1834  und  1841  ist  endlich  noch  Schmitt- 
henner  sehr  bemerkenswert.  Er  unterscheidet  das  Weltinteresse  und  das 
nationale  Interesse,  jenem  entspreche  allein  die  absolute  Freiheit  des  Ver- 
kehres, diesem  häufig  die  Beschränkung  der  Freiheit.  Das  natioiiale  Wohl 
erfordert:  „1.  dass  die  Nation  streben  muss,  den  möglichst  grossen  Theil 
ihres  primären  Bedarfs  und  selbst  ihrer  Luxusmittel  im  Inlande  zu  erzeugen. 
Dies  hat  nämlich  nicht  nur  den  politischen  Vortheil,  dass  die  Selbständigkeit 
der  Nation  mehr  gesichert  wird,  sondern  auch  den  ökonomischen,  dass  die 
Arbeitsverdienste  und  Productionsgewinne  erhalten  werden  ...  2.  ebenso 
hat  der  Staat  weiter  zu  erstreben,  dass  er  möglichst  viele  Fabrikate  aus- 
und  dafür  die  Kohstoffe  einführe  .  .  .  Bei  völliger  Freiheit  des  auswärtigen 
Handels  kann  nicht  jeder  Staat  dieses  Ziel  erreichen;  eine  Nation  ist  oft  sogar 
nicht  einmal  imstande,  gleiche  Concurrenz  zu  halten  .  .  .  Aus  allem  diesem 
folgt  mit  unabweisbarer  Evidenz,  dass  in  der  Kegel  ein  Staat  seine  industriellen 
Interessen  nur  durch  ein  wohlberechnetes  und  wohlgeregeltes  Eestrictivs3^stem 
sichern  und  wahren  kann".  Es  wird  auf  die  Verschiedenheit  der  handels- 
politischen Praxis  und  Theorie  verwiesen,  die  .Unmacht"  sie  zu  erklären, beruhe 
zum  Theil  auf  der  der  Wissenschaft  mangelnden  Unterscheidung  .zwischen 
privatökonomischem,  nationalökonomischem  und  kosmopolitischem  Interesse"^). 

Versucht  man,  nach  den  bisher  dargestellten  Lehren  sich  den  Stand 
der  handelspolitischen  Doctrin  vor  Franzi  und  vor  List  klarzumachen, 
so  wäre  etwa  Folgendes  zu  sagen :  Man  wusste  vor  Franzi  und  vor  List, 
dass  die  Beseitigung  des  Schutzsystemes  einen  Theil  der  betreffenden  Nation 
schwer  schädigen  müsse,  und  man  wurde  nicht  müde  dies  immer  wieder 
zu  beweisen,  trotzdem  bereits  A.  Smith  eine  übereilte  Einführung  des  Frei- 
handels widerrathen  hatte.  So  wie  man  überzeugt  war,  dass  eine  Nation 
durch  die  Aufhebung  des  Schutzes  einen  Theil  ihrer  selbst,  nämlich  die 
gewerblichen  Producenten  verlieren  müsse,  so  glaubte  man  durch  die  Ein- 
richtung des  Schutzes  der  nationalen  Arbeit,  einer  bloss  mit  der  Koh- 
production  beschäftigten  Nation  eine  grosse  industrielle  Bevölkenmg  an- 
gliedern zu  können.  Man  hielt  es  für  unmöglich,  ohne  staatlichen  Schutz 
die  Industrie  grosszuziehen,  wegen  der  überwältigenden  Concurrenz  Englands, 
und  zweifelte  andererseits  nicht  daran,  dass  die  Production  unter  dem  Schutze 
rasch  gedeihen,  und  bald  zu  ebenso  billigen  Preisen  erzeugen  werde,  wie  das 
Ausland.  Letzteres  hatte  bekanntlich  auch  A.  Smith  gelehrt.  Aus  dieser 
Ueberzeugung  ergab  sich  die  Ansicht,  dass  der  staatliche  Schutz  nach  einer 
gewissen  Zeit  entbehrlich  sein  werde,  und  es  war  eine  Lehrmeinung  geworden, 
dass  er  nur  dann  berechtigt  sei,  wenn  er  sich  selbst  zu  beseitigen  vermöge. 


^)  Neue  Untersuchung  der  Nationalökonomie  etc.  Stuttgart  1835.  S.  bes.  pag.  250  ff. 
2)  Zwölf  Bücher  vom  Staate.  1.  Band,  1839,  §  483. 


Beitrag  zur  Dogmen-Geschichte  der  Schutzzollidee.  265 

Daraus  folgte,  dass  man  nur  jene  Productionszweige  schützen  solle,  für  welche 
die  natürlichen  Vorbedingungen  in  dem  betreffenden  Staate  gegeben  seien. 
Den  Schutz  verlangte  man  auch  mit  Kücksicht  auf  das  Interesse  der  Nation, 
welches  man  dem  des  Einzelnen  und  dem  der  Menschheit  entgegensetzte, 
indem  man  die  Welt-  und  die  Nationalökonomie  sorgfältig  trennte,  ferner  aus 
Gründen  der  Sicherheit  und  Unabhängigkeit  des  Staates.  Den  am  weitesten 
Vorgeschrittenen  erschien  der  allgemeine  Freihandel  als  das  Ideal,  das  man  am 
sichersten  erreiche,  wenn  jede  zurückgebliebene  Nation  sich  durch  einen 
zeitweiligen  Schutz  der  aufstrebenden  Industrie  auf  eine  höhere  Stufe  der 
wirtschaftlichen  Entwickelung  hinaufhebe.  Dabei  war  es  gelungen,  die 
Behauptungen  zu  widerlegen,  dass  die  Production  durch  die  Concurrenz 
des  Auslandes  in  allen  Fällen  gestärkt  werde,  und  dass  die  Wahrnehmung 
des  eigenen  Interesses  stets  das  allgemeine  Wohl  befördere. 

Bei  diesen  ihren  Ansichten  stützten  sich  die  Forscher  etwa  so  wie 
verständige  Praktiker  bloss  auf  Beobachtungen,  sie  wussten,  welche  Wirkungen 
der  Schutz  der  nationalen  Arbeit  oder  die  Einführung  der  Handelsfreiheit 
hatte  oder  haben  würde,  allein  die  tiefer  liegenden  Ursachen  dieser 
Wirkungen  waren  nicht  blossgelegt  worden,  es  fehlte  die  theoretische  Be- 
gründung des  Schutzsystems  ebenso,  wie  die  theoretische  Widerlegung  der 
Freihandelslehre.  Die  Hauptsätze  dieser  Doctrin:  die  Einfuhr  aus  dem  Auslande 
wird  durch  Ausfuhr  bezahlt,  wer  nicht  kaufen  will,  kann  nicht  verkaufen,  die 
Verhinderung-  der  Einfahr  vernichtet  die  Ausfuhr .  die  Production  ist  duroh 
das  Nation alcapital  begrenzt,  durch  die  Aenderung  der  Handelspolitik  wird 
das  Capital  nicht  geschaffen,  um  also  jene  Güter  zu  erzeugen,  die  man 
bisher  aus  dem  Auslande  bezogen  hatte,  muss  das  Capital  aus  anderen 
lohnenden  Beschäftigungen  herausgezogen  werden,  oder  der  jährliche  Zufluss 
an  Capital  ergiesst  sich  nicht  in  das  natürliche  Bett,  sondern  in  künstlich 
gegrabene  Canäle  —  waren  unwiderlegt. 

Zur  Beantwortung  dieser  Argumente  hat  nun,  wie  mir  scheint,  Franzi 
beigetragen,  durch  seine  bereits  oben  hervorgehobene  Lehre,  dass  der  Capital- 
begriff  bei  den  Anhängern  A.  Smith's  zu  eng  gefasst  sei.  Die  Nahrungs- 
mittel und  Rohstoffe  bilden  nach  seiner  Lehre  die  wichtigsten  Productions- 
mittel  und  eine  Nation  die  diese  ausführt,  um  Gewerbserzeugnisse  einzuführen, 
erhält  nur  das,  was  sie  abgegeben,  in  verarbeiteter,  condensierter  Gestalt 
wieder.  Es  fehlt  ihr  also  nicht  an  Capital  und  wenn  es  unbeschäftigte  Arbeits- 
kräfte gibt,  so  hat  sie  alles,  was  sie  benöthigt,  um  zum  mindesten  einen 
Theil  dessen,  was  sie  vom  Auslande  bezieht,  zunächst  selbst  zu  erzeugen.^) 


\)  Ansätze  dieser  Lehre  finde  ich  bei  Louis  Say:  „Nous  pensons  donc,  que  toute 
sortie  annuelle  de  produits  agricoles  de  premiere  necessite,  employe'e  ä  servir  de  paiement 
pour  des  produits  manufactures  etrangers,  est  en  veritable  perte  pour  TEtat  et  qu'en  con- 
sequence  Ton  doit  toujours  .  .  .  tächer  que  le  commerce,  en  demandant  les  produits 
industriels  ä  l'interieur  au  lieu  de  les  demander  ä  Texterieur,  fasse  jouir  les  nationaux  et 
non  Tetranger  des  produits  nationaux  agricoles."  1.  c.  pag.  212.  S.  auch  Ganilh  1.  c. 
pag.  201  „le  pays  qui  renonce  ä  ses  manufactures  livre  ses  matieres  premieres  ä  l'etranger  . .  . 
il  transporte  donc,  en  quelque  sorte,  ses  manufactures  ä  l'etranger. "   S.  ferner  pag.  244. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  II.  Heft.  18 


266  Zuckerkandl. 

Im  Jahre  1839  hat  List  dieselbe  Idee  in  der  klarsten  Weise  aus- 
gesprochen.^) . 

Betrachtet  man  nun  das  nationale  System  der  politischen  Oekonomie, 
so  ist  wohl  nicht  zu  verkennen,  dass  ein  grosser  Theil  nur  die  allerdings 
viel  eindringlichere  und  klarere  Wiederholung  älterer  Lehren  enthält,  die 
bereits  vor  dem  Jahre  1827  bekannt  waren,  in  welchem  List  zum  ersten- 
male  die  mit  seinem  Namen  verknüpften  handelspolitischen  Lehren  sammt 
ihrer  theoretischen  Begründung  in  seinen,  mir  leider  nicht  zugänglichen 
„  Outlines "  niedergelegt  haben  soll.  Die  Unterscheidung  zwischen  kosmo- 
politischer und  nationaler  Oekonomie,  die  erziehende  Kraft  des  Schutzes, 
dessen  vorübergehende  Nothwendigkeit  um  junge  Industrien  grosszuziehen, 
die  Unmöglichkeit  bei  Freihandel  Industrien  zu  begründen,  all  dies  war 
wenn  auch  nicht  so  tief  erfasst  wie  von  List,  bekannt.  Die  theoretische 
Bedeutung  des  nationalen  Systems  glaube  ich,  von  der  tieferen  Erfassung 
der  überkommenen  Theorien  abgesehen,  in  der  Lehre  von  den  productiven 
Kräften  zu  finden.  Nicht  als  ob  man  von  den  productiven  Kräften  vor  List 
nichts  gewusst  hätte.  Ich  bin  überzeugt,  es  war  der  wissenschaftlichen 
Nationalökonomie  nie  unbekannt,  welche  Wichtigkeit  für  die  Grütererzeugung 
den  in  der  Natur  und  im  Menschen  vorhandenen  Kräften  beizumessen 
sei  und  dass  Religion,  Cultur,  öffentliche  Sicherheit,  Rechtsordnung  auf 
die  Bereicherung  der  Nationen  den  grössten  Einfluss  nehmen.  Wie  wäre 
es  möglich,  an  den  Tauschwerten  zu  haften  und  die  erzeugenden  Kräfte 
zu  übersehen,  wenn  uns  die  flüchtigste  Beobachtung  zeigt,  dass  der 
grösste  Theil  der  Güterwelt  unausgesetzt  neu  geschaffen  werden  muss, 
da  er  nur  zur  raschen  Verzehrung  erzeugt  wird.  Es  wäre  leicht  all 
dies  durch  Citate  aus  A.  Smith  und  seinen  Anhängern  zu  beweisen. 
Nicht  darin  liegt  also  List's  Verdienst,  dass  er  den  (nicht  ganz 
richtig  gefassten)  Satz  aufgestellt  hat:  „die  Prosperität  einer  Nation  ist 
nicht  wie  Say  glaubt  umso  grösser,  je  mehr  sie  Reichthümer  d.  h. 
Tauschwerte  aufgehäuft,  sondern  je  mehr  sie  ihre  productiven  Kräfte  ent- 
wickelt hat,"  wohl  aber  darin,  dass  er  nachweist,  wie  bei  der  Begründung 
von  Industrien  durch  den  Schutz  ein  den  Verlust  an  Werten  weit  über- 
treffender Gewinn  an  productiven  Kräften  stattfinde.  Eine  Nation,  die  neben 
der  Rohproduction  auch  die  Industrie  zu  pflegen  beginnt,  erwirbt  höhere 
Intelligenz,  höhere  Cultur  und  grössere  Macht,  Güter  hervorzubringen,  sie 
benützt  zahlreiche,  sonst  nutzlose  Naturkräfte,  und  eine  weitgehende  Theilung 
der  Beschäftigungen  in  der  Rohproduction  und  in  der  Industrie  ermöglicht 
ein  weit  umfangreicheres  wirtschaftliches  Schaffen.  Die  Nation  entfaltet  alle 
ihre  Fähigkeiten,  jede  einzelne  wird  durch  Specialisierung  zur  Vollkommen- 
heit gebracht,  während  alle  Productivkräfte  harmonisch  zusammenwirken 
und  einander  fördern. 

Die  beredten  Auseinandersetzungen  List's  über  den  Gewinn  an  pro- 
ductiven Kräften  und  die  Conföderation  der  nationalen  Productivkräfte  sind 


^)  Das  Wesen  und  der  Wert  einer  nationalen  Gewerbsproductivkraft.   Gesammelte 
Schriften.  2.  Band,  pag.  121  ff. 


Beitrag  zur  Dogmen-Geschichte  der  Schutzzollidee.  267 

bekannt  und  erscheint  eine  Wiedergabe  derselben  hier  unnöthig.^)  Ich  will 
nur  beifügen,  dass  durch  diese  Lehre  sowie  durch  die  Einsicht,  dass 
Nahrungsmittel  und  Kohstoffe  die  ursprünglichen  Productionsmittel  sind,  aus 
denen  alle  anderen  Capitalien  entstehen,  die  Idee  vom  Schutze  der  natio- 
nalen Arbeit  eine  solide  theoretische  Grundlage  erhielt.  Erst  durch  sie 
kommt  in  die  Beobachtungen  über  die  Wirkungen  des  Schutzes  einer-  und 
des  Freihandels  andererseits  Zusammenhang,  erst  durch  sie  versteht  man 
die  Erscheinungen. 

Ist  die  vorstehende  Auffassung  richtig,  so  erscheint  der  Kuhm  List's 
auch  vom  dogmengeschichtlichen  Standpunkte  als  ein  voll  berechtigter, 
denn  die  Wissenschaft  verdankt  ihm  nicht  nur  die  klarste  Zusammen- 
fassung und  Vertiefung  des  Ueberkommenen,  sondern  eine  wichtige  Ver- 
mehrung ihres  Besitzstandes.  Doch  ist  der  dogmengeschichtliche  Standpunkt 
nicht  derjenige,  von  dem  aus  List  richtig  gewürdigt  werden  kann ;  er  hat 
sich  einerseits  als  Mann  der  That  die  grössten  Verdienste  erworben;  anderer- 
seits war  er  es  allein,  der  seinen  und  den  ihm  und  seinen  Vorgängern  gemein- 
samen Ideen  die  wissenschaftliche  Geltung  verschafft  hat.  Er  hatte  zu  viel  Er- 
fahrung, um  nicht  zu  wissen,  dass  die  Freihandelslehre  durch  eine  gelehrte, 
für  eine  kleine  Zahl  von  Fachgenossen  bestimmte  Abhandlung  nicht  erschütter 
werden  könne;  deshalb  wandte  er  sich  von  der  nach  seiner  Ueberzeugung 
übel  berathenen  Wissenschaft  an  die  besser  zu  unterrichtende  deutsche 
Nation,  und  sprach  zu  ihr  über  ihre  eigenen  Interessen  in  einer,  wenn 
auch  nicht  classischen,  so  doch  schönen  und  oft  hinreissenden  Sprache. 
Als  die  fachliche  Kritik  sich  mit  ihm  zu  beschäftigen  begann,  hatte  er 
seine  Sache  bei  der  Nation  bereits  gewonnen,  und  es  konnte  eine  all- 
mähliche ümstimmung  auch  der  wissenschaftlichen  Ansichten  nicht  aus- 
bleiben. 

Für  diejenigen  Forscher,  die  in  unserem  Jahrhundert  vor  dem  Er- 
scheinen des  nationalen  Systems  für  den  Schutz  der  heimischen  Arbeit 
eintraten,  genügt  dagegen  die  dogmengeschichtliche  Würdigung.  Von 
diesem  Standpunkte  aus  erscheint  es  mir  nicht  der  Sachlage  zu  entsprechen, 
dass  Franzi  vergessen  ist.  Dass  er  bei  seinem  Auftreten  keinen  Beifall 
fand,  ist  allerdings  begreiflich.  In  seiner  österreichischen  Heimat  herrschte 
zwar  das  Prohibitivsystem,  und  an  den  Universitäten  waren  die  „Grundsätze 
der  Polizei,  Handlung  und  Finanz"  von  Sonnenfels  das  vorgeschriebene 
Lehrbuch,  allein  die  meisten  damaligen  österreichischen  Lehrer  der  politi- 
schen Oekonomie  befanden  sich  in  der  Opposition,  sowohl  zur  heimischen 
Praxis  der  Handelspolitik,  als  zur  amtlich  gebilligten  Theorie  derselben, 
und   waren,    wie   ihre    Collegen   in   Deutschland,    Anhänger   A.    Smith's. 


^)  Eine  Andeutung  der  Theorie  der  productiven  Kräfte  finde  ich  bei  P.  Kaufmann: 
In  seiner  ersten  Schrift  sagt  er  „Commercii  restrictione  id  potissimum  spectatur,  ut  vis. 
otians,  seu  steriliter  agens  ad  res  quae  vel  necessariae  vel  utiles  sunt,  producendas 
incitatur  atque  intendatur".  In  der  zweiten  Schrift  wendet  er  sich  gegen  die  Ansicht, 
dass  die  Industrie  „eine  unveränderliche  Grösse"  sei,  mit  dem  Argumente,  dass  es  in  keinem 
Lande  an  menschlichen  und  Naturkräften  fehle,  die  zur  Industrie  verwandt  werden  könnten. 

18* 


2(38  Zuckerkandl. 

Freiherr  v.  Tomascliek,  dessen  Erinnerungen  bis  in  die  Zwanzigerjahre 
dieses  Jahrhunderts  zurückreichten,  erzählte  mir,  dass  die  Fachprofessoren 
damals  bereits  das  vorgeschriebene  Lehrbuch  nicht  mehr  genau  inne  hatten 
und  nicht  daran  dachten,  es  zur  Grundlage  der  Vorträge  zu  nehmen.  Eine 
Yertheidigung  der  Schutzpolitik  konnte  also  zu  jener  Zeit  bei  uns  nicht 
auf  günstige  Beurtheilung  hoffen.  Im  Falle  Franzi  übernahm  es  Kudler 
selbst,  die  veralteten  und  irrigen  Lehren  seines  Schülers  schonungsvoll  zu 
tadeln.^)  Wenige  Jahre  später  waren  Kudler's  wissenschaftliche  üeber- 
zeugungen  andere,  und  sein  Hauptwerk  zeigt,  was  mir  auch  Freiherr 
V.  Tomaschek  bekräftigte,  dass  List  mächtig  auf  ihn  eingewirkt 
hatte. ^)  Die  Erwartung,  dass  Kudler  nunmehr  sein  älteres  Urtheil  über 
Franzi  in  seinem  Lehrbuche  berichtigen  werde,  findet  der  Leser  indessen 
nicht  erfüllt. 

In  Deutschland  wird  Fränzl's  Schrift  in  den  ersten  zehn  Jahren  nach 
ihrem  Erscheinen  öfter  citiert,  so  von  Lotz,  von  Schmitthenner  und  von 
Ptau.^)  Auch  Eos  eher  nennt  sie  in  seinem  „Grundriss  zu  Vorlesungen  über  die 
Staatswirtschaft  nach  geschichtlicher  Methode"^),  auch  Mo  hl  in  seiner 
Polizeiwissenschaft^)  und  im  Staatslexikon  von  Kotteck  und  Welcker.'^) 
Eine  eingehende  Würdigung  des  Buches  fehlt  jedoch;  das  nationale  System 
verdunkelte  alle  älteren  Schriften,  die  sich  mit  demselben  in  der  Tendenz 
begegneten,  und  die  Vorgänger  List's  gewannen  deshalb  nichts  dabei,  dass 
sich  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  der  Handelspolitik  mit  sichtlichem 
Wohlwollen  für  den  Schutz  der  nationalen  Arbeit  zugewandt  hatte.  Auch 
die  Schriftsteller,  welche  sich  um  den  Nachweis  bemühten,  dass  das  nationale 
System  ein  Plagiat  sei,  erwähnen  Franzi  nicht.  Am  seltsamsten  ist  wohl 
das  üebersehen  Schmitthenner's,  der  im  Jahre  1843  die  Priorität  vor 
List  für  sich  auf  Grund  der  oben  angeführten  Stelle  in  sehr  starken  Aus- 
drücken in  Anspruch  nahm'j,  ohne  zu  bemerken,  dass  Franzi  und  Schön 
vor  ihm  dieselben  Gedanken  ausgesprochen  hatten.  Von  da  an  geräth  die 
Schrift  Fränzl's  immer  mehr  in  Vergessenheit,  Kautz  erwähnt  sie  noch 
in  seinem  mit  grossem  Fleisse  gearbeiteten  Werke  ^);  in  der  Geschichte 
der  deutschen  Nationalökonomie  von  Koscher,  in  den  Handbüchern  von 
Du  bring  und  Eisenhart,  in  der  umfassenden  Würdigung  List's  von 
Eheberg *^)  wird  sie  nicht  mehr  genannt. 


^)  Zeitschrift  für  österreichische  Eechtsgelehrsamkeit  etc.  1834.  pag,  349. 

2)  Die  Grundlehren  der  Volkswirtschaft.  Wien  1846.  2.  Theil,  §  142  ff. 

3)  Lotz,  Handbuch  1838.  2.  Band,  pag.  157  und  168;  Schmitthenner  1.  c. 
pag.  665;  ßau,  Volkswirtschftspfl.  3.  Aufl.  §  205  und  „Zur  Kritik  über  Friedr.  List's 
nationales  System",  1843,  pag.  7. 

*')  Erschienen  zu  Güttingen  1843,  pag.  65  und  150. 
s)  2.  Auflage,  2.  Band,  pag.  360. 
^)  Siehe  den  Artikel  „Gewerbe-  und  Fabrikswesen". 

■J)  Grundlinien  des  allgemeinen  und  idealen  Staatsrechtes,  pag.  365.  Anm.  1. 
^)  Die  geschichtliche  Entwickelung  der  Nationalökonomik  und  ihrer  Literatur.  Wien 
1860,  zweite  Abtheilung,  pag.  658. 

9j  Das  nationale  System  der  politischen  Oekonomie.  7.  Auflage,  1883. 


Beitrag  zur  Doginen-Geschichte  der  Schutzzollidee.  269 

Franzi  trägt  wohl  selbst  auch  Schuld  daran,  dass  er  vergessen  wurde, 
denn  er  hat  nach  Vollendung  seiner  Statistik  im  Jahre  1841  nichts  mehr 
publiciert.  In  dieser  wiederholt  er  seine  handelspolitischen  üeberzeugungen, 
nur  in  viel  stärkeren  Worten,  offenbar  ermuthigt  durch  den  Beifall,  den 
List  gefunden.  Er  meint,  seine  Schrift  „lieber  Zölle,  Handelsfreiheit  und 
Handelsvereine "  sei  um  sechs  Jahre  zu  früh  erschienen  und  gibt  der  Ge- 
nugthuung  Ausdruck,  dass  nunmehr  List  die  Ideen  jener  Abhandlung 
„adoptiert"  habe.^)  Die  Begründung  des  deutschen  Zollvereines  begrüsst  er 
mit  lebhafter  Freude  und  gewärtigt,  dass  Oesten-eich  sich  an  dessen  Spitze 
stellen  werde. 

Das  ist  eigentlich  das  letzte  Wort,  das  Franzi  über  Handelspolitik 
veröffentlicht  hat.  Seine  Beamtenlaufbahn  fällt  in  die  Zeit,  da  Oesterreich 
vom  Verbotssystem  allmählich  zu  einem  gemässigten  Schutzsystem  übergieng 
und  auch  ausserhalb  Oesterreichs  eine  mehr  dem  Freihandel  geneigte 
Zollpolitik  befolgt  wurde.  Den  Umschwung  in  der  Handelspolitik  im 
Jahre  1879  hat  Franzi  nicht  mehr  erlebt. 

r.  526. 


VERHANDLUNGEN  DER  GESELLSCHAFT 
ÖSTERREICHISCHER  VOLKSWIRTE. 


XXVII.   Plenapvepsammlung  vom  4.  Jänner   1892. 

-Uer  Präsident,  Herr  Sectionschef  von  Inama-Sternegg  eröffnet  die  Ver- 
sammlung mit  einer  Ansprache,  in  welcher  er  den  Abschluss  der  Handelsverträge 
als  jenes  Ereignis  feiert,  welches  Oesterreich  den  politisch  befreundeten  Mächten 
auf  eine  Eeihe  von  Jahren  hinaus  auch  handelspolitisch  nahe  rücke  und  welches 
mit  Vertrauen  in  die  handelspolitische  Zukunft  Oesterreichs  zu  blicken  erlaube. 
Nach  dieser  Ansprache  ertheilt  der  Präsident  Herrn  Prof.  Dr.  Ernst  Mischler 
das  Wort  zu  seinem  Vortrag  über:  „Die  österreichische  Steuerreform  und 
das  Finanzwesen  der  Selbstverwaltung."  Der  Herr  Vortragende  hob  zunächst 
hervor,  dass  das  heutige  Steuersystem  Oesterreichs  in  allen  seinen  Bestandtheilen 
eine  Einheit  zu  bilden  habe  und  dass  hiebei  nicht  nur  die  Staats-  sondern  auch 
die  Eeichs-  und  die  Steuern  der  Selbstverwaltungskörper  in  Betracht  kommen; 
die  letztern  schliessen  sich  an  die  directen  Staatssteuern  an,  sie  kommen  also  speciell 
im  Verhältnisse  zu  diesen  in  Betracht.  Nach  einer  eingehenden  historischen 
Betrachtung  der  Landes-,  Bezirks-  und  Gemeindehaushalte  gelangte  der  Vortragende 
zur  Untersuchung  der  Präge,  ob  mit  Eücksicht  auf  die  ständige  Fortentwickelung 
einer  lebensvollen  Selbstverwaltung  die  bisher  üblichen  Steuerzuschläge  noch 
Berechtigung  haben  oder  nicht;  aus  verschiedenen  Gründen  müsse  diese  Frage 
verneint  werden.  Was  hat  nun  an  die  Stelle  der  Zuschläge  zu  treten?  Angesichts 
des  Gesetzes  von  der  anwachsenden,  öffentlichen  Thätigkeit  müssen  auch  die 
öffentlichen  Einnahmen  beständig  zunehmen;  den  bezüglichen  Anforderungen  der 
Selbstverwaltungskörper  solle  nicht  durch  Zuschläge  zu  den  staatlichen  Steuern 
entsprochen  werden,  man  müsse  also  die  im  Staate  vereinigten  Steuern  qualitativ 
zwischen  dem  Staatsbudget  und  der  Selbstverwaltung  theilen  und  zwar  müssen  der 
letztern  vorwiegend  directe  Steuern  überwiesen  werden.  Zu  diesem  Zwecke  wären 
aus  der  heutigen  Einkommensteuer  nur  jene  Elemente  beizubehalten,  welche 
Ertragssteuer-Charakter  haben  ;  diese,  unter  eventueller  Erhöhung  der  Erwerbsteuer, 
würden  das  Staatssteuersystem  darstellen;  daneben  müsste  eine  eigentliche, 
progressive  Einkommensteuer  geschaffen  werden,  deren  Erträgnisse  der  Selbst- 
verwaltung zu  überweisen  wären.  Die  diesem  Systeme  anhaftenden  Schwierigkeiten, 
bestehend  in  der  Aufgabe,    die  für  die    Selbstverwaltung    aufzubringende    Summe 


XXVII.  Plenarversaramlung  vom  4.  Jänner  1892.  271 

von  SO  —  90  Millionen  Gulden  zwischen  den  verschiedenen  Körpern  auseinander- 
zusetzen und  die  vielfach  in  den  Gebieten  verschiedener  Selbstverwaltungskürper 
liegenden  Steuerquellen  entsprechend  nach  aliquoten  Theilen  zuzuweisen,  seien 
unschwer  zu  überwinden;  die  Yortheile  für  den  Staat  und  die  Steuerträger  seien 
dagegen  sehr  erheblich;  dieselben  bestehen  hauptsächlich  in  der  Klärung  der 
Sachlage  für  den  Staat  und  die  Steuerträger,  in  der  nun  möglich  werdenden 
Eücksichtnahme  auf  die  Arten  der  Einkommensquellen,  in  der  Erhöhung  des 
Zusammengehörigkeitsgefühles  innerhalb  eines  Selbstverwaltungskörpers  und  in  der 
Möglichkeit,  den  stets  wachsenden  Aufgaben  der  Selbstverwaltung  gerecht  zu 
werden.  Natürlich  können  übrigens  die  Selbstverwaltungskörper  neben  der  Ein- 
kommensteuer auch  noch  andere  Steuern  erheben. 

lieber  diesen,  in  seinen  wesentlichsten  Punkten  skizzierten  Vortrag  entspann 
sich  eine  lebhafte  Debatte,  welche  Herr  Gustav  v.  Fächer  mit  der  Piemerkung 
eröffnete,  dass  das  proponierte  Steuersystem  eine  ausserordentliche  Erhöhung  der 
unproductiven  ümlegungs-  und  Einhebungskosten  verursachen  und  überdies  für 
den  Steuerträger  eine  erhebliche  Complication  seiner  Leistungen  für  öffentliche 
Körperschaften  hervorbringen  würde;  während  es  ganz  unerfindlich  sei,  warum  die 
Ertragssteuern  mehr  für  den  Staat,  die  Einkommensteuer  dagegen  mehr  für  die 
Selbstverwaltungskörper  passend  sein  sollen,  liege  es  auf  der  Hand,  dass  das  den 
Steuerzuschlägen  anhaftende  Odium  mit  dem  Augenblicke  schwinden  würde,  in 
welchem  eine  neue,  gerechte  Besteuerung  in  Kraft  träte  und  eine  gerechte 
Basis  schüfe. 

Der  letztern  Anschauung  pflichtet  auch  Herr  Eudolf  Au  spitz  bei,  welcher 
überdies  ausführt,  wie  viel  angemessener  es  wäre,  die  Ertragssteuern,  resp.  einen 
Theil  derselben,  den  Selbstverwaltungskörpern  und  die  progressive  Personal- 
einkommensteuer dem  Staate  zuzutheilen,  u.  zw.  dies  schon  wegen  der  grossen 
Schwierigkeiten,  welche  mit  der  Eepartierung  der  letztern  auf  die  einzelnen  Körper 
unvermeidlich  verbunden  wären;  die  Personaleinkommensteuer  müsste  im  Wege 
eines  Abkommens  mit  den  Landesvertretungen  von  allen  Zuschlägen  befreit  werden 
und  würde,  da  sie  überdies  in  niedrigem  Ausmaasse  auferlegt  werden  müsste, 
niemals  auch  nur  annähernd  80  —  90  Millionen  ergeben. 

Nach  einigen  Bemerkungen  des  Eedners  über  die  Ausgestaltung  der  übrigen 
Gemeindesteuern  replicierte  Herr  Dr.  Mischler  zunächst  gegen  Herrn  Auspitz, 
indem  er  insbesondere  die  von  demselben  bezweifelte  Möglichkeit,  80  —  90  Millionen 
mit  der  Personaleinkommensteuer  zu  erzielen  und  die  Zuweisung  dieser  an  die 
Selbstverwaltung  und  der  Ertragsteuern  an  den  Staat  verfocht;  eine  Zuweisung 
der  Ertragsteuern  an  die  Selbstverwaltung  im  Sinne  des  Herrn  Auspitz  sei 
praktisch  nicht  durchführbar,  schon  deswegen  nicht,  weil  eine  Grenze  zwischen 
Dorf  und  Stadt  nicht  gezogen,  daher  z.  B.  die  Grundsteuer  dem  einen  und  die 
Hauszinssteuer  der  anderen  nicht  ohne  weiteres  zugetheilt  werden  könne.  Herrn 
V.  Pacher  gegenüber  bemerkt  Prof.  Mischler,  dass  eine  ideale  Basis  für  Steuer- 
zuschläge dort  undenkbar  sei,  wo  Länder,  Bezirke  und  Gemeinden  damit  machen 
können,  was  sie  wollen. 

Der  Herr  Vorsitzende  sprach  sohin  dem  Herrn  Prof.  Mischler  den  Dank 
aus  und  schloss  die  Versammlung. 


272  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

XXVIII.   Plenarversammlung  vom   18.  Jänner  1892. 

Der  Gegenstand  der  28.  Plenarversammlung  war  eine  Discussion  über  die 
Arbeiter-Ausschüsse  und  Einig'iingsämter  betreffenden  österreichischen  Gesetz- 
entwürfe. Nach  Eröffnung  der  Versammlung  durch  den  Präsidenten,  Sectionschef 
V.  Inama-Stern egg,  ergriff  Her  Ludwig  Stross  das  Wort. 

Derselbe  führt  zunächst  aus,  worin  der  Zweck  der  Eegierungsvorlage  gelegen 
sei;  es  sollen  Lohnkämpfe  möglichst  vermieden,  wenn  aber  einmal  unvermeidlich 
geworden,  in  möglichst  ruhige  Bahnen  geleitet  werden;  auf  administrativem  Wege 
sei  dieses  Ziel  nicht  zu  erreichen,  es  müsse  daher  die  Gesetzgebung  eine  ent- 
sprechende Organisation  einführen;  charakteristisch  für  den  vorliegenden  Gesetz- 
entwurf sei  das  dabei  beabsichtigte  Verhältnis  zwischen  Arbeiter  und  Unternehmer 
und  die  obligatorische  Einführung  der  Arbeiterausschüsse;  in  erster  Eeihe  wäre 
hervorzuheben,  dass  der  Unternehmer  nicht  einmal  an  den  Ausschuss-Sitzungen 
theilzunehmen  das  Eecht  habe,  sowie,  dass  die  Ausschüsse  keine  bestimmte  Com- 
petenz  haben ;  diese  Umstände  stellen  den  Wert  der  Ausschüsse  in  Frage,  die 
auch  nur  pro  forma  Beschwerden  vorbringen  können  und  denen  vielfach  die 
erforderliche,  insbesondere  technische  Sachkenntnis  fehlen  dürfte.  In  der  zweiten 
Richtung  hält  Eedner  die  Einwürfe  schon  mit  Rücksicht  auf  die  vom  Vereine  für 
Socialpolitik  gesammelten  Gutachten  für  unbegründet;  es  sei  auch  die  Befürchtung 
unbegründet,  dass  die  obligatorischen  Ausschüsse  anders  als  facultative  func- 
tionieren  v.'ürden. 

Die  Genossenschaften  seien  ebenso  gegen  das  Interesse  der  Arbeiter,  wie 
gegen  jenes  der  Unternehmer;  auch  die  territoriale  Organisation  sei  schädlich; 
dagegen  müssen  die  Einigungsämter  als  wünschenswert  bezeichnet  werden,  schon 
deswegen,  weil  jene  von  den  streitenden  Parteien,  welche  sich  w^eigern,  an  der 
Verhandlung  theilzunehmen,  oder  sich  dem  Schiedsgerichte  zu  unterwerfen,  des- 
wegen dem  öffentlichen  Urtheile  anheimfallen,  weil  in  diesem  Falle  eine  öffent- 
liche Bekanntmachung  stattfinden  müsse.  Sei  alledem  aber,  wie  ihm  wolle, '  der 
Weg  der  gesetzlichen  Organisation  sei  einmal  beschritten  und  das  allein  habe  den 
grössten  Wert. 

Herr  Gustav  v.  Fächer  begrüsst  die  Vorlage,  insoweit  sie  zunächst  die 
Arbeiterausschüsse  betrifft,  mit  Freuden,  denn  durch  dieselben  werde  zwischen 
Arbeitgeber  und  -Nehmer  ein  modernes  Eechtsverhältnis  begründet;  allerdings 
seien  die  Verhältnisse  in  verschiedenen  Ländern,  ja  von  Unternehmung  zu  Unter- 
nehmung sehr  verschieden;  in  jedem  Falle  sollte  nicht  das  Verhältnis  des  Lohn- 
kampfes als  der  Angelpunkt  des  Verhältnisses  zwischen  Arbeiter  und  Unternehmer 
hingestellt  werden.  Es  sei  gut,  dass  die  Unternehmer  oder  Delegierte  derselben 
im  Ausschusse  nicht  Zutritt  haben,  weil  sonst  die  Arbeiter  das  Vertrauen  in  die 
Ausschüsse  verlieren  würden  und  es  sei  auch  gut,  dass  nicht  zu  jugendliche 
Elemente  in  die  Ausschüsse  gelangen  können. 

Es  wäre  räthlich,  die  Arbeiterausschüsse  zunächst  nicht  obligatorisch  ein- 
zuführen, dadurch  habe  man  Zeit  Erfahrungen  zu  gewinnen  und  vermeide  man 
das  Misstrauen,  welches  mit  Zwangsmaassregeln  verbunden  sei;  es  sollen  der- 
artige Ausscliüsso  freiwillig,  aber  möglichst  rasch  und  energisch  gebildet  werden. 


XaYIII.  Plenarversammlung  vom  18.  Jänner  1892.  273 

Herr  Yicedirector  Wittelshöfer  finJel:  im  Eeg-iernngsentwiirfe  die  Bethäti- 
guiig  eines  Theiles  des  socialen  Eeformprogrammes  der  Conservativen,  dessen  Ziel 
es  sei,  den  freien  Arbeitsvertrag  halbwegs  zustande  zu  bringen,  u.  zw.  dadurch, 
dass  man  die  schwachen  Kräfte  corporativ  organisiere.  Durch  die  Ausschüsse  aber 
könne  dieses  Ziel  nicht  erreicht  werden,  denn  der  Unternehmer  habe  immer  die 
Mittel  zur  Hand,  pflichteifrige  Arbeiterausschüsse  zu  entlassen;  verschiedene 
Umstände  bringen  es  mit  sich,  dass  .aus  der  ganzen  Institution  die  Arbeitgeber 
grössere  Vortheile  ziehen,  als  die  Arbeiter  u.  zw.  schon  deswegen,  weil  die  oft 
für  das  Unternehmen  ungeschulten  Unternehmer  -durch  den  Verkehr  mit  den 
Arbeiterdelegierten  leicht  den  erforderlichen  Einblick  in  technische  Einzelheiten 
erlangen  und  weil  sie  überdies  das  Odium  ihrer  Maassregeln  auf  den  Ausschuss 
vrerden  überwälzen  können.  Auch  die  Trennung  der  Arbeiterschaft  in  locale 
Gruppen  sei  gegen  deren  Interesse ;  das  würden  die  Arbeiter  selbst  bald  erkennen. 
Ausserdem  aber  werde  sich  aus  der  Durchführung  des  Kegierungsentwurfes  nicht 
einmal  eine  wirkliche  Vertretung  der  Arbeiter  ergeben;  die  Altersgrenze  allein 
schon,  welche  für  die  "Wahlberechtigung  festgestellt  werde,  bilde  eine  Engherzig- 
keit; die  ganze  Idee  müsse  ernst  durchgeführt  werden  und  nicht  wie  beabsichtigt  sei. 

Xach  einer  Entgegnung  des  Herrn  v.  Fächer  ergreift  der  Eeichsraths- 
abgeordnete  Pernerstorfer  das  Wort. 

Er  glaubt,  dass  in  der  vorliegenden  Streitfrage  selbst  beim  grössten  Wohl- 
wollen immer  die  Classeninteressen  zu  Worte  kommen;  man  wolle  im  Sinne  der 
Conservativen  die  Arbeiterschaft  von  oben  herab  organisieren;  die  Engherzigkeit 
des  vorliegenden  Gesetzentwurfes  werde  aber  mit  dem  Classenbewusstsein  der 
Arbeiter  in  Conflict  gerathen  müssen;  die  letztern  würden  seine  Fesseln  sprengen, 
oder  ihn  für  ihre  Zwecke  ausnützen.  Aus  dem  Statute  des  industriellen  Clubs 
müsse  die  Doppelaufgabe  der  Ausschüsse,  für  die  Sparsamkeit  der  Arbeiter  zu 
sorgen  und  ihre  Sittlichkeit  zu  überwachen,  unbedingt  gestrichen  werden;  die 
Altersgrenze  dürfe  mit  Kücksicht  auf  die  speciellen  Verhältnisse  des  Arbeiter- 
standes nicht  so  hoch  gestellt  werden,  wie  beabsichtigt  ist;  in  jedem  Falle 
involviere  der  Gesetzentwurf  den  innern  Widerspruch,  dass  man  von  den  Arbeitern 
die  Delegierung  erfahrungs-  und  wissensreicher  Männer  fordere  und  ihnen  anderer- 
seits jedes  selbständige  Auftreten  unmöglich  mache;  dieses  Gesetz  werde  also, 
wenn  der  politischen  Freiheit  gegenübergestellt,  von  den  Arbeitern  gewiss  nicht 
gewählt  w^erden;  die  politische  Freiheit  zu  erlangen,  dazu  solle  der  Unternehmer 
dem  Arbeiter  verhelfen;  wenn  er  das  thue,  werde  sich  das  Verhältnis  beider 
v/enigstens  leidlicher  gestalten. 

Dr.  Victor  Adler  findet  es  bedauerlich  und  bezeichnend,  dass  die  Dis- 
cussion  über  das  vorliegende  Thema  so  wenige  Unternehmer  herbeigelockt  habe; 
dieselben  glauben  eben  in  den  Handelskammern  und  durch  ihre  übrigen  Gut- 
achten bereits  ihre  Pflicht  gethan  zu  haben  und  fühlen  sich  im  übrigen  vor 
dem  Zustandekommen  des  Gesetzes  sicher;  übrigens  sei  der  Entwurf  nur  für  die 
Unternehmer  und  in  ihrem  Interesse  gemacht,  man  müsse  daher  staunen,  dass 
es  Leute  dieser  Classe  gebe,  die  ihn  bekämpfen  und  nicht  mit  Freuden  einen  so 
billigen  Ausweg  ergreifen.  So  wie  die  Arbeiterausschüsse  gedacht  seien,  müssen  sie 
als  wertlos  bezeichnet  werden,  weil  man  durch  die  politischen  Behörden  die  freie 


274  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

Organisation  der  Arbeiter  allerseits  behindere ;  vielleicht  würden  die  Arbeiter  seiner- 
zeit etwas  aus  ihnen  machen.  Wenn  die  Unternehmer  so  sehr  davor  zurückscheuen, 
dass  die  Arbeiter  den  Lohnvertrag-  besprechen,  so  sei  das  sehr  eigenthümlich ; 
auch  perhorresciere  man  es,  dass  die  Arbeiterausschüsse  obligatorisch  gedacht 
seien;  man  solle  doch  berücksichtigen,  dass  man  auch  Unternehmern,  die  sehr  häufig 
nicht  im  Sinne  des  Gesetzes  handeln,  gar  manches  befehlen  sollte. 

Die  Genossenschaften  wären  von  grösserer  Wichtigkeit,  weil  sie  allein  sub- 
sidiär als  Grundlage  einer  Organisation  dienen  könnten.  Die  Einigungsämter  seien 
wertlos,  weil  hinter  jenen  Mitgliedern  derselben,  die  Arbeiter  wären,  keine  Macht 
stehe,  die  ihrem  Votum  Nachdruck  verleihen  könnte,  u.  zw.  solange  als  keine 
Organisation  der  Arbeiterschaft  bestehe.  Es  sei  die  Hoffnung  der  Arbeiterschaft, 
dass  es  ihr  gelingen  werde,  die  herrschenden  Classen  dazu  zu  zwingen,  dass 
sie  ihr  die  politische  Freiheit  einräumen. 

Der  Herr  Abgeordnete  Schwab  glaubt,  man  solle  am  guten  Willen  jener, 
welche  den  Gesetzentwurf  acceptieren,  nicht  zweifeln;  er  selbst  sei  nicht  davon 
überzeugt,  dass  derselbe  das  Einvernehmen  zwischen  Unternehmern  und  Arbeitern 
fördern  werde;  das  geschähe  höchstens  dann,  wenn  die  Arbeiterausschüsse  nur 
als  das  unterste  Gebilde  in  der  Organisation  betrachtet  würden,  als  der  Boden, 
auf  dem  sich  die  Parteien  gegenseitig  nähern  könnten;  dies  aber  könne  von  oben 
herab  nicht  geschehen,  er  sei  daher  ein  Gegner  der  obligatorischen  Ausschüsse; 
die  Einigungsämter  dagegen  würden,  weil  in  ihnen  beide  Theile  vertreten  seien 
und  ein  unparteiischer  Obmann  an  der  Spitze  stehe,  maassgebende  Urtheile  zu 
fällen  in  der  Lage  sein. 

Nach  diesen  Ausführungen  unterbrach  der  Vorsitzende  die  Verhandlung, 
welche  in  der 

XXIX.   Plenanversammlung  vom   25.  Jänner  1892 
fortgesetzt  wurde.  Die  Discussion  wurde  durch  eine  eingehende  Polemik  des  Herrn 
V.  Pacher  gegen  die  Herren  Pernerstorfer  und  Dr.  Adler  eröffnet. 

Er  sagt,  der  Unternehmer  solle  allerdings  dem  Arbeiter  zeigen,  wie  er  um 
denselben  Betrag  eine  bessere  Befriedigung  seiner  Lebensbedürfnisse  erzielen 
könne  und  in  dieser  Weise  die  Arbeiter  zu  sparsamer  Lebensführung  anleiten; 
dass  daran  gedacht  worden  sei.  den  Arbeiterausschüssen  eine  gewisse  Ueber- 
wachung  der  Sittlichkeit  der  Arbeiter  anzuvertrauen,  möge  inopportun  sein,  es  sei 
aber  gewiss  nicht  lächerlich;  im  übrigen  genüge  zur  Erfüllung  der  Aufgabe  eines 
Arbeiterausschusses  entwickelter  Verstand  und  guter  Wille;  ein  Widerspruch 
zwischen  den  Aufgaben  der  Arbeiterausschüsse  und  dem  von  Herrn  Pernerstorfer 
hervorgehobenen  Mangel  an  politischer  Bewegungs-  und  Organisationsfreiheit  der 
Arbeiter  bestehe  also  nicht.  Wenn  dann  Dr.  Adler  Ziele  verfolgen  sollte,  welchen 
durch  die  Förderung  des  guten  Einvernehmens  zwischen  Arbeiter  und  Unter- 
nehmer nicht  entsprochen  werde,  dann  sei  sein  Eingreifen  in  diese  Discussion 
überhaupt  nicht  förderlich  gewesen  und  es  höre  sich  jede  weitere  Erörterung  von 
selbst  auf. 

Herr  Dr.  Ferdinand  Schmid  bespricht  die  principielle  Bedeutung  der 
Regierungsvorlage    und    fragt    dann,    ob    die    Arbeiterausscliüsse    facultativ    oder 


XXIX.  Plenarversammlung  vom  25.  Jänne?  1892.  275 

obligatorisch  sein  sollen.  Es  ist,  sage  Dr.  Sclimid,  consequent  und  logisch,  wenn 
die  Eegiening  die  Arbeiterausschüsse  als  obligatorisch  bezeichnet,  sie  sind  ein 
Mittel  zur  Förderung  des  guten  Einvernehmens,  wer  dieses  will,  muss  auch  das 
Mittel  annehmen;  überdies  seien  die  Ausschüsse  ohne  grosse  Gewerksorganisation 
für  die  Unternehmer  gar  nicht  gefährlich;  endlich  habe  man  bis  zur  Durchführung 
der  staatlichen  Organisation  6  — 10  Jahre  Zeit,  durch  freiwillige  Errichtung  von 
Ausschüssen  zuvorzukommen.  Die  Theilnahme  an  der  Verwaltung  der  Wohlfahrts- 
einrichtungen gehör«  nicht  in  die  erste  Eeihe  der  Aufgaben  der  Ausschüsse;  das 
Kecht,  Beschwerden  vorzubringen,  dürfe  nicht  unterdrückt,  die  Aufgabe,  die  Sitt- 
lichkeit der  Arbeiter  zu  überwachen,  müsse  so  umschrieben  werden,  dass  das 
Privatleben  der  Arbeiter  nicht  unter  eine  Art  Polizeiaufsicht  gerathe;  die  Alters- 
grenze für  das  Wahlrecht  sei  annehmbar;  die  Bestimmung,  dass  eine  gewisse 
Beschäftigungsdauer  Voraussetzung  des  passiven  Wahlrechts  sei,  wäre  dagegen 
zu  beseitigen,  da  die  vielfachen  Ursachen  der  Wanderbewegung  unter  den  Arbeitern 
dabei  unbeachtet  bleiben  würden.  Es  dürfte  gut  sein,  dass  die  Unternehmer  keinen 
Theil  an  den  Berathungen  des  Ausschusses  haben  sollen,  dagegen  sollte  man 
Unternehmer,  die  mit  der  Errichtung  der  Ausschüsse  säumen,  strenger  bestrafen 
können,  als  vorgesehen  sei;  wenn  die  Arbeiter  sich  weigern,  die  Wahl  vorzu- 
nehmen, könne  man  allerdings  nichts  thun.  Bedenken  verursache  die  Bestimmung, 
dass  Arbeiterausschüsse  in  allen  „fabriksmässigen"  Betrieben  zu  errichten  seien, 
weil  der  Sinn  des  Wortes  „fabriksmässig"  nicht  feststehe;  man  hätte  ähnlich, 
wie  die  Commission  des  deutschen  Eeichstages  vorgehen  und  somit  alle  Betriebe 
mit  einer  bestimmten  Anzahl  von  im  Lohn  oder  gegen  Gehalt  beschäftigten 
Personen  einbeziehen  sollen.  Die  Mandatsdauer  von  1 — 3  Jahren  sei  zu  kurz, 
auch  weise  der  Entwurf  manche  Lücken  auf. 

Die  Absicht  der  Eegierung,  die  genossenschaftliche  Organisation  auszu- 
dehnen, errege  mit  Eücksicht  auf  die  bisherigen  Erfahrungen  Erstaunen;  man 
werde  vielleicht  in  den  Genossenschaften  ein  Auskunftsmittel  für  Vermeidung  der 
Arbeiterkammern  vermuthen  und  glauben,  dass  sie  nur  errichtet  seien,  um 
Jemanden  zu  haben,  der  die  Kosten  der  Einigungsämter  trage. 

Nachdem  der  Eedner  die  Verschiedenheiten  zwischen  den  Entwürfen  des 
Handels-  und  des  Ackerbauministers  hervorgehoben  hatte,  fasste  er  seine  An- 
schauung dahin  zusammen,  dass  der  vorliegende  Entwurf  ein  bedeutsamer  Schritt 
der  Eegierung  sei,  aber  in  seinen  Einzelheiten  mancher  Verbesserungen  bedürfe. 

Herr  Eudolf  Auspitz  wendet  sich  gegen  Herrn  Dr.  Adler;  er  sieht  in 
den  gegebenen  Verhältnissen  das  Ergebnis  einer  auf  Grund  der  die  Menschennatur 
beherrschenden  Gesetze  sich  von  selbst  vollziehenden  Entwickelung,  die  nach 
beständiger  Verbesserung  hinstrebe,  aber  nicht  sprungweise  erfolge.  Es  sei 
wünschenswert,  dass  die  Organisationsbestrebungen  der  Arbeiter  gef(3rdert  werden, 
der  Uebereifer  der  Polizei  dagegen  sei  selbst  für  die  Unternehmer  keineswegs 
erwünscht;  bei  ruhigem  Gewährenlassen  entwickle  sich  die  Intelligenz  der  Arbeiter 
und  sei  ein  einträchtiges  Zusammenwirken  derselben  mit  den  anderen  Bevölkerungs- 
classen  für  die  Zukunft  eher  zu  hoffen,  als  wenn  man  ängstliche  Eepression  übe. 

Da  aber  überall  dort,  wo  eine  homogene,  nicht  fluctuierende  Berufsarbeiter- 
schaft   fehle,    kein    Mensch    Arbeiterausschüsse    mit    erspriesslicher  Wirksamkeit 


276  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

schaffen  könne,  da  also  solche  Ausschüsse  jedenfalls  vielfach  auf  dem  Papier  sein 
würden,  müsse  man  die  ganze  Angelegenheit  schon  aus  Achtung  vor  der  G-esetz- 
gebung  doppelt  überlegen.  Die  Genossenschaften  haben  nirgends  Anklang  gefunden, 
damit  aber  verschwinde  auch  jede  Basis  für  die  Einigungsämter. 

Herr  Sigmund  Man  dl  spricht  sich  als  „Jungliberaler"  für  die  obligatorischen 
Arbeiterausschüsse  aus;  ihm  sei  die  sociale  Trage  eine  Frage  des  Ausgleichs 
zwischen  widerstreitenden  Interessen  im  Eahmen  der  bestehenden  Gesellschafts- 
ordnung; ein  solcher  Ausgleich  sei  nur  möglich  aufgrund  von  Verzichtleistungen; 
da  solche  freiwillig  nicht  erfolgen,  müsse  der  Staat  eingreifen.  Redner  plaidiert 
für  die  im  Gesetze  vorgesehene  Altersgrenze  für  die  Wahlberechtigung. 

Dr.  V.  Adler  erklärt  auf  die  Frage  des  Herrn  v.  Fächer,  dass  er  und 
seine  Parteigenossen  das  Einvernehmen  zwischen  Arbeitern  und  Unternehmern 
nicht  fördern  wollen ;  weil  die  Vorlage  dieses  Einvernehmen  fördern  könnte,  wünsche 
er  sie  nicht,  sollten  aber  die  Unternehmer  trachten,  sie  zum  Gesetze  zu  machen 
u.  zw.  je  eher,  je  lieber,  später  dürfte  ein  den  Unternehmern  so  günstiges  Gesetz 
nicht  mehr  erzielt  werden  können;  dieses  Einvernehmen  sei  aber  dasselbe,  welches 
zwischen  dem  Gefangenen  und  dem  Kerkermeister  bestehe;  sein  Bestand  aufgrund 
der  Existenz  von  Arbeiterausschüssen  würde  den  Unternehmern  aber  immerhin 
das  Mittel  bieten,  jede  andere  Vertretung  der  Arbeiter  hinauszuwerfen. 

Die  Genossenschaften  werden  von  den  Unternehmern  bekämpft,  obwohl 
gerade  sie  es  wären,  was  den  Arbeitern  in  Oesterreich  nützen  könnte;  die  Mit- 
glieder der  ArbeiterausscMsse  wären  immer  in  der  Atmosphäre  ihres  individuellen 
Betriebes;  in  der  Genossenschaft  aber  lernen  die  Arbeiter  ihre  Lage  und  sich 
selbst  als  Proletarier  erkennen,  weil  sie  in  die  freie  Luft  kommen;  das  sei  es, 
was  die  Unternehmer  fürchten. 

Redner  tadelt  schliesslich  am  Gesetze  noch,  dass  in  demselben  auf  dio 
Hausindustrie  keinerlei  Rücksicht  genommen  sei,  wiewohl  gerade  für  diese  die 
geplante  Organisation  nothwendig  w^äre. 

Der  Herr  Vorsitzende,  Sectionschef  v.  Inama-Sternegg,  resümierte  sodann 
noch  die  Ergebnisse  der  Discussion  und  schloss  hierauf  die  Versammlung. 


XXX.   Plenapvepsammlung  vom   7.   März  1892. 

Nach  Eröffnung  der  Versammlung  durch  den  Herrn  Vorsitzenden,  Sections- 
chef V.  Inama-Sternegg,  ergreift  Prof.  Dr.  Victor  Mataja  das  Wort  zu  seinem 
Vortrage  über  „Hausier-  und  Abzahlungsgeschäfte".  Er  führt  aus,  dass  der  Hausier- 
handel desw^egen  vom  stabilen  Handel  bekämpft  w^erde,  w^eil  er  seinen  Concur- 
renten  darstelle;  trotzdem  aber  dürfe  der  Hausierhandel  weder  eingeschränkt,  noch 
gar  beseitigt  werden,  wenn  nicht  das  allgemeine  Interesse  dies  fordere.  In 
Gegenden  mit  geringer  Bevölkerung  und  mangelhaftem  Verkehre  sei  der  ambulante 
die  ökonomischeste  Form  des  Handels,  hier  also  dürfe  er  auch  nicht 
beschränkt  werden;  anders  verhalte  es  sich  in  Gegenden  mit  höherer  Cultur  und 
in  grösseren  Städten.  Trotzdem  sehen  mr,  dass  der  Hausierhandel  gerade  in 
Niederösterreich  ausserordentlich  stark  auftritt,  während  er  in  Galizien  und  in  der 
Bukowina    einen    geringen    Percentsatz    des  Gesammthandels    bildet;    seine  Kraft 


XXX.  Plenarversammlung  vom  7.  März  1892.  277 

schöpft  in  diesem  Palle  der  Hausierhandel  aus  der  Anwendung  einer  niedrigem, 
kaufmännischen  Moral  und  einer  bedenklichen  Verfahrensweise  im  Geschäftsbetriebe, 
sowie  daraus,  dass  er  sich  durch  den  Tiefstand  seiner  Ansprüche  an  Lebens- 
genuss  concurrenzfähig  macht.  Wenn  im  Streite  zwischen  beiden  Arten  des  Handels 
sich  der  Nationalökonom  und  Socialpolitiker  auf  die  Seite  des  sesshaften  Kauf- 
mannes stellt,  geschieht  dies,  weil  er  der  Verkümmerung  geistiger  und  körperlicher 
Kräfte  vorbeugen  will;  aus  diesem  Titel  aber  rechtfertigt  sich  nur  die  Beschrän- 
kung, nicht  die  Aufhebung  des  Hausierhandels;  grosse  Städte  kann  man  aller- 
dings mit  dem  einen  Vorbehalte  für  den  Hausierhandel  sperren,  dass  man  gewissen 
localen  Bedürfnissen  durch  ausnahmsweise  Ertheilung  von  Licenzen  auch  ferner- 
hin nachkommen  werde,  denn  auch  in  Städten  kann  der  Hausierhandel  unter 
Umständen  und  für  gewisse  Warengattungen  rationell  sein.  Hie  einschlägigen 
Bestimmungen  müssen  in  jedem  Falle  so  gestaltet  werden,  dass  ihre  Einhaltung 
leicht  controliert  werden  kann.  Der  vorliegende  Eegierungsentwurf  erv/eist  sich 
in  dieser  letztern  Eichtung  nicht  als  vollständig  genügend;  sein  Kern  liegt  darin, 
dass  grössere  Gemeinden  gegen  den  Hausierhandel  im  Verordnungswege  geschlossen 
werden  können;  die  Einschränkung  dieser  Bestimmung  auf  grössere  Orte  ist 
schon  deshalb  gerechtfertigt,  weil  gerade  in  solchen  der  mittlere  und  kleine 
Handel  ohnehin  schon  durch  Consumvereine  und  durch  den  Grosshandel  in  die 
Enge  getrieben  wird. 

Wenn  man  radicale  Maassregeln  gegen  den  Hausierhandel  ergreift,  so 
geschieht  dies  nicht,  um  die  Schwachen  den  Starken  zu  opfern,  sondern  deswegen, 
damit  der  Handel  in  rationelle  Bahnen  gelenkt  werde;  natürlich  werden  indivi- 
duelle Interessen  dabei  ab  und  zu  verletzt  werden,  die  Anwendung  entsprechender 
Mittel  würde  aber   gewiss   den  Uebergang  in  die  neuen   Verhältnisse   erleichtern. 

Anders  verhält  es  sich  mit  den  Abzahlungsgeschäften,  von  denen  hier  nur 
der  Eatenhandel  in  Betracht  kommt;  dieser  ist  sehr  bedenklich,  weil  er  zu 
unbedachten  Anschaffungen  verleitet  und  der  auf  Credit  angewiesene  Käufer  nicht 
imstande  ist,  sein  Interesse  nachdrücklich  genug  zu  vertreten.  Die  Gesetzgebung  soll 
also  trachten,  unbedachte  Käufe  möglichst  zu  erschweren  und  zwischen  Käufer 
und  Verkäufer  ein  gesundes  Eechtsverhältnis  herzustellen.  In  der  ersteren  Eich- 
tung muss  besonders  dem  Agentenunwesen  u.  zw.  hauptsächlich  dort  vorgebeugt 
werden,  wo  es  sich  um  den  Verkauf  von  Luxusgegenständen  handelt.  §  5  des 
Eegierungsentwurfes  hat  diesem  Gesichtspunkte  in  beschränkter  Weise  Eechnung 
getragen,  indem  er  das  Aufsuchen  von  Bestellungen  von  Ort  zu  Ort  und  die 
Einladung  zu  Eatengeschäften  nur  in  solchen  Fällen  gestattet,  in  welchen  Gegen- 
stände in  Frage  kommen,  welche  für  die  Wirtschaft  oder  den  Geschäftsbetrieb  des 
präsumtiven  Käufers  dienlich  sind.  Die  Frage,  ob  eine  höhere  Anzahlung  festzusetzen 
sei  und  man  dem  Käufer  gegen  Zahlung  eines  Eeugeldes  das  Eücktrittsrecht 
zugestehen  solle,  mag  allerdings,  wenigstens  im  einzelnen,  streitig  sein.  In  Betreff 
der  zweiten  Gefahr,  welche  darin  besteht,  dass  drückende,  die  Eechtsverfolgung 
erschwerende  Klauseln  und  Bestimmungen  in  den  Eatenvertrag  aufgenommen 
werden,  ist  darauf  zu  achten,  dass  gegentheilige ,  gesetzliche  Maassnahmen 
erfahrungsgemäss  sehr  leicht  umgangen  werden  können;  man  wird  also  entweder 
ganz  genau  fixieren   müssen,   was  erlaubt  und  was  verboten  ist,    oder  man  muss 


278  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volltswirte. 

der  staatlichen  Aufsichtsbehörde  einen  sehr  Aveiten  Spielraum  ihrer  Ingerenz 
einräumen. 

Damit  übrigens  die  ganze  Frage  vollständige  Klärung  finde,  muss  man  auch 
den  Kleinhandel  und  das  Kleingewerbe  —  am  besten  im  Wege  einer  mündlichen 
Enquete,,  die  weit  besser  functionieren  würde,  als  eine  schriftliche,  und  welche 
die  Aufgabe  hätte,  die  thatsächlichen  Verhältnisse  nach  allen  Eichtungen  auf- 
zudecken, —  ja  sogar,  schon  der  Gerechtigkeit  Avegen,  auch  die  Hausierer  und 
Katenhändler  zu  Worte  kommen  lassen;  erst  dann  wird  es  möglich  sein,  ein 
Gesetz  zu  schaffen,  das  eine  gewisse  Dauer  verspricht. 

Nach  diesen  mit  grossem  Beifalle  aufgenommenen  Ausführungen  schliesst 
der  Vorsitzende,  da  sich  Niemand  zur  Discussion  meldet,  die  Versammlung. 


DAS  GESETZ,  BETEEFFEND  BEGÜNSTIGUNGEN 
FÜR  NEUBAUTEN  MIT  AEBEITERWOHNUNGEN. 


EINGELEITET  VON 


DR.   GUSTAV    GEOSS. 


-Lis  kann  nicht  die  Aufgabe  einer  Einleitung  zu  dem  im  Titel  bezeichneten 
Gesetz  vom  9.  Februar  1892  sein,  die  ganze  Bedeutung  der  Wohnungsfrage  zu 
erörtern.  Es  ist  ja  in  zahllosen,  theils  selbständigen,  theils  in  verschiedenen 
Zeitschriften  und  Sammelwerken  erschienenen  Publicationen  die  Wohnungsfrage 
in  der  erschöpfendsten  Weise  erörtert  worden,  und  es  kann  kein  Zweifel  darüber 
bestehen,  dass  dieselbe  von  der  einschneidendsten  Bedeutung  für  die  ganze  Ent- 
wickelung  unserer  gesellschaftlichen  und  socialen  Verhältnisse  ist. 

Die  Zusammendrängung  grösserer  Arbeitermengen  in  den  Grosstädten  und 
in  einzelnen  Industriecentren  hat  natürlicherweise  ein  wesentliches  Missverhältnis 
zwischen  Angebot  und  Nachfrage  an  Wohnungen  hervorgebracht.  Aber  nicht  nur, 
dass  thatsächlich  die  vorhandenen  Wohnungen  kleineren  Umfanges  nicht  für  den 
Bedarf  ausreichen,  wird  dieses  Missverhältnis  noch  gesteigert  durch  den  Wohnungs- 
wucher, welcher  nur  zu  häufig  von  Hausbesitzern  und  noch  mehr  von  Wohnungs- 
inhabem  im  Wege  der  Aftermiete  und  der  Aufnahme  von  Bettgehern,  jener 
unglücklichsten  Classe  der  überhaupt  Wohnenden,  betrieben  wird.  Es  liegt  auf 
der  Hand,  dass  eine  gründliche  Aenderung  dieser  Verhältnisse  nur  eintreten 
könnte  durch  eine  wesentliche  Erhöhung  des  Einkommens  der  unteren  Schichten 
der  Bevölkerung,  insbesondere  der  Industriearbeiter,  durch  eine  solche  Erhöhung 
des  Standard  of  life,  welche  auch  den  unteren  Classen  eine  vollkommene  Befrie- 
digung des  Wohnungsbedürfnisses  ermöglichen  würde.  Allein  die  Lösung  dieser 
Frage  liegt  in  weiter  Ferne,  und  es  wäre  ein  grober  Fehler,  sich  auf  eine  solche 
Lösung  verlassend,  andere  Versuche  zur  Besserung  der  Wohnungsverhältnisse, ' 
welche  ebenso  in  ökonomischer,  als  auch  in  hygienischer  und  ethischer  Hinsicht 
für  die  Arbeiterschaft  von  der  verderblichsten  Wirkung  sind,  zu  unterlassen. 

Insoweit  die  öffentliche  Gewalt  überhaupt  die  Lösung  dieser  Frage  in  die 
Hand  nimmt,  müssen  in  erster  Eeihe  sanitätspolizeiliche  Maassregeln  getroffen 
werden,  durch  welche  die  den  Gesundheitszustand   ihrer  Bewohner,    sowie    deren 


280  Gross. 

Kaclikommenscliaft,  aufs  schwerste  bedrohenden  Wohnungen  beseitigt  würden. 
Dass  in  dieser  Beziehung  auch  bei  uns  in  Oesterreich  unendlich  viel  zu  thun 
bleibt,  dass  die  Gemeinden,  welchen  die  Sanitätspolizei  obliegt,  dieselbe  nur  zu 
häufig  arg  vernachlässigen,  braucht  kaum  erv.ähnt  zu  vrerden;  auch  muss  die 
Schallung  sanitätsi)olizeilicher  Gesetze,  durch  welche  in  dieser  Beziehung  Wandel 
geschaffen  wird,  als  dringend  wünschenswert  bezeichnet  werden.  Keineswegs 
darf  man  sich  aber  der  Täuschung  hingeben ,  dass  sanitätspolizeiliche 
Maassregeln  allein  genügen  würden,  um  eine  Besserung  herbeizuführen.  Xicht 
mit  der  Beseitigung  schlechter  Wohnungen  allein  kann  diese  Besserung  herbei- 
geführt werden;  wenn  man  sich  darauf  beschränken  würde,  ungesunde  Wohnungen 
vollkommen  zu  beseitigen  oder  ihre  Benützung  zu  verbieten,  UeberfüUung  von 
Wohnungen  durch  polizeiliche  Maassregeln  zu  verhindern,  so  würde  das  Kesultat 
sein,  dass  der  Wohnungsmangel  sich  noch  empfindlicher  gestalten  würde,  dass 
jenes  Missverhältnis  zwischen  dem  Einkommen  der  Arbeiter  und  den  für  eine 
entsprechende  Wohnung  unumgänglich  nothwendigen  Auslagen,  ein  noch  empfind- 
licheres werden  würde,  abgesehen  davon,  dass  solche  sanitätspolizeiliche  Maass- 
regeln nicht  wohl  ohne  ein  oft  empfindliches  Eingreifen  in  die  privaten  Ver- 
hältnisse der  Bewohner  möglich  wären. 

Das  Ziel  einer  Action  zur  Verbesserung  der  Wohnungsverhältnisse  von  Seiton 
der  öffentlichen  Gewalt  muss  vielmehr  auch  darin  gesucht  werden,  die  vorhandenen, 
für  Arbeiter  passenden  Wohnungen  zu  vermehren,  sei  es,  dass  die  Unternehmer 
verhalten  oder  wenigstens  angeeifert  werden,  solche  Wohnungen  in  genügendem 
Ausmaasse  herzustellen,  sei  es  dass  Gemeinden,  gemeinnützige  Vereine,  Genossen- 
schaften und  sonstige  Gesellschaften  diese  Aufgabe  übernehmen. 

Das  vorliegende  Gesetz  soll  durch  die  Erleichterung  der  in  Oesterreich 
ausserordentlich  drückenden  Lasten  der  Hauszinssteuer  einerseits  die  Baulust  der 
ervrähnten  Factoren  anspornen,  andererseits  aber  auch  die  heute  unverhältnismässig 
hohen  Mietpreise  herabdrücken.  Ist  es  ja  doch  eine  unbestrittene  Thatsache,  dass 
heute  kleine  Wohnungen  in  gleicher  Lage  sich  nicht  nur  relativ  zum  Einkommen 
-der  Mieter,  sondern  auch  im  Verhältnisse  ihres  Ausmaasses  bedeutend  höher 
stellen,  als  Wohnungen  mittleren  oder  gar  grösseren  Umfanges  in  gleicher  Lage, 
und  wenige  Zinshäuser  dürften  eine  so  hohe  Eente  abwerfen,  als  die  an  den 
Peripherien  grosser  Städte*  gelegenen,  ausschliesslich  von  Arbeitern  bewohnten 
Zinskasernen. 

Der  durch  das  Gesetz  eingeschlagene  Weg  ist  nicht  neu.  Wenn  wir  auch 
von  der  in  England  für  kleine  Wohnungen  allgemeinen  Steuerbefreiung  und 
Steuerermässigung  absehen,  so  ist  ein  ganz  ähnliches  Verfahren  eingeschlagen 
worden  durch  das  belgische  Gesetz  vom  9.  August  1889,  welches  in  den  Steuer- 
befreiungen bedeutend  weiter  geht  als  das  vorliegende  Gesetz.  Dieses  hat  eine 
lange  parlamentarische  Lebens-  oder  vielmehr  Leidensgeschichte  hinter  sich, 
welche  beweist,  wie  unendlich  schwer  es  selbst  heute  noch  ist,  in  unseren  consti- 
tutionellen  Staaten  socialpolitische  Maassregeln  zur  Durchführung  zu  bringen,  auch 
dann,  wenn,  dieselben  weder  dem  Staate,  noch  den  Unternehmern  wesentliche 
Opfer  auferlegen.  Das  Gesetz,  wie  es  heute  vorliegt,  ist  entsprungen  aus  einem 
ursprünglich  schon  im  Jahre  1883  von  den  Abgeordneten  Hermann  und  Port- 


Das  Gesetz,  betreiFend  Begünstigungen  für  Neubauten  mit  Arbeiterwohnungen.     281 

heim  eingebrachten  Antrage,  welcher  eine  Befreiung  von  der  Hauszinssteuer  nicht 
nur  für  Arbeiterwohnungen,  sondern  für  kleine  Wohnungen  überhaupt  anstrebte. 
Da  dieser  Antrag  nicht  zur  Behandlung  im  Hause  gelangte,  wurde  derselbe  im 
Jahre  1885  in  der  10.  Session  des  Abgeordnetenhauses  von  den  Abgeordneten 
Mauthner  und  Winterholler  wiederaufgenommen;  in  dieser  Session  wurde  der 
Antrag  wenigstens  im  Ausschusse  berathen,  und  der  Bericht  an  das  Haus  erstattet. 

Bei  dieser  Ausschussberathung  wurde  bereits  eine  wichtige  Einschränkung 
in  der  Weise  vorgenommen,  dass  die  Steuerbefreiung  nicht  für  alle  kleinen 
Wohnungen,  sondern  ausschliesslich  für  Gebäude  mit  Arbeiterwohnungen  wirksam 
werden  sollte.  Jener  Ausschussbericht  gelangte  aber  nicht  im  Plenum  des 
Hauses  zur  Berathung,  so  dass  der  Antrag  beim  Beginn  der  11.  Session  im 
Frühjahre  des  Jahres  1891  von  denselben  Antragstellern  neuerdings  eingebracht 
wurde  und  dann  im  Herbste  desselben  Jahres  im  Abgeordnetenhause  zur  Be- 
handlung gelangte,  wobei  der  Schreiber  dieser  Zeilen  die  Ehre  hatte  als  Bericht- 
erstatter des  Steuerausschusses  zu  fungieren.  Nach  einigen  Differenzen  zwischen 
den  beiden  Häusern  des  Eeichsrathes,  welche  schon  ein  neuerliches  Scheitern  des 
Gesetzes  befürchten  Hessen,  konnte  dasselbe  endlich  im  Februar  dieses  Jahres 
zur  Allerhöchsten  Sanction  vorgelegt  werden. 

Was  nun  den  Inhalt  des  Gesetzes  betrifft,  so  ist  der  Umfang,  in  welchem' 
die  Steuerbefreiung  gewährt  werden  soll,  ein  sehr  beschränkter.  Nicht  nur  sind 
alle  andern,  als  Arbeiterwohnungen  im  engsten  Sinne  des  Wortes,  von  den 
Begünstigungen,  welche  das  Gesetz  gewährt,  ausgeschlossen,  sondern  es  w^erden 
auch  nur  solche  Gebäude  der  Steuerbefreiung  theilhaftig  werden,  welche  entweder 
von  Gemeinden  und  gemeinnützigen  Vereinen,  oder  von  aus  Arbeitern  gebildeten 
Genossenschaften  für  ihre  Mitglieder,  oder  endlich  von  Arbeitgebern  für  ihre 
Arbeiter  errichtet  werden.  Bei  den  grossen  Schwierigkeiten,  welche  naturgemäss 
die  Bildung  von  Baugenossenschaften  aus  dem  Kreise  der  Arbeiter  haben  muss, 
kommt  diese  Kategorie  leider  kaum  in  Betracht.  Hingegen  wurden  andere,  als 
streng  gemeinnützige  Vereine,  also  insbesondere  Actiengesellschaften,^  ebenso  wie 
Unternehmer,  welche  für  nicht  bei  ihnen  in  Arbeit  stehende  Arbeiter  Wohngebäude 
errichten,  durch  das  Gesetz  ausgeschlossen.  Die  Tendenz  der  letzteren  Einschrän- 
kung, welche  verhindern  soll,  dass  die  Arbeiterwohnung  zum  Gegenstände  der 
Speculation  gemacht  werde,  ist  gewiss  vollkommen  zu  billigen.  Es  mag  aber 
zweifelhaft  sein,  ob  nicht  durch  die  im  Gesetze  normierte  Beschränkung  des 
Mietzinses,  und  durch  eine  mögliche  Beschränkung  der  Dividende,  wenigstens 
die  Actiengesellschaften  in  den  Eahmen  des  Gesetzes  hätten  einbezogen  werden 
können.  Sind  doch  die  Erfahrungen,  die  man  in  anderen  Ländern  und  namentlich 
in  Frankreich  mit  Actiengesellschaften  zur  Erbauung  von  Arbeiterwohnungen, 
welche  dort  vielfach  vom  Staate,  den  Departements  und  Gemeinden  unter- 
stützt w^urden,  gemacht  hat,  im  grossen  und  ganzen  sehr  günstig  gewesen. 
Auch  darf  nicht  verkannt  werden,  dass  es  gemeinnützigen  Vereinen  im  engsten 
Sinne  des  Wortes  nur  schwer  gelingen  wird,  die  zur  Erbauung  von  Wohngebäuden 
in  grösserem  Umfange  erforderlichen  Mittel  aufzutreiben. 

Das  Ausmaass  der  für  Arbeiter  Wohnungen  zu  gewährenden  Steuerfreiheit 
bildete  eine  der  vielen  Klippen,  welche  das  Gesetz  während  seiner  parlamentari'- 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  II.  Heft.  19 


282  Gross. 

sehen  Leidenslaufbahn  zu  umschiffen  hatte.  Vor  allem  ergaben  sich  Meinungs- 
verschiedenheiten über  die  Dauer,  für  welche  die  Steuerfreiheit  zu  gewähren  wäre. 
Während  die  Antragsteller  ursprünglich  eine  Dauer  von  30  Jahren  in  Aussicht 
genommen  hatten  —  die  allgemeine  Steuerfreiheit  für  Neubauten  dauert  heute 
zwölf  Jahre  —  erklärte  die  Eegierung  anfangs,  nur  auf  eine  Befreiung  von  20 
Jahren  eingehen  zu  können,  so  dass  endlich  im  Compromisswege  die  Dauer  der 
Steuerfreiheit  für  Neubauten  mit  24  Jahren  fixiert  wurde. 

Noch  grössere  Schwierigkeiten  bot  die  Lösung  der  Frage,  ob  und  in 
welchem  Umfange  auch  die  kleineren  Zwangs-Gesammtwirtschaften,  Länder,  Be- 
zirke und  Gemeinden  hinsichtlich  ihrer  Zuschläge  zu  den  Staatssteuern  zur 
Gewährung  einer  Begünstigung  heranzuziehen  seien.  Ursprünglich  gieng  die  Absicht 
dahin,  die  Staatssteuern  überhaupt  nicht  in  Vorschreibung  bringen  zu  lassen, 
wodurch  auch  die  Erhebung  von  Zuschlägen  zu  denselben  ausgeschlossen  ge- 
wesen wäre.  Dieser  Standpunkt  wurde  auch  von  der  Eegierung,  welche  die 
Meinung  vertrat,  dass  die  Lösung  der  Wohnungsfrage  in  erster  Keihe  Sache  der 
Local-Gesammtwirtschaften  sei,  getheilt.  Allein  gegen  eine  solche  Fassung  des 
Gesetzes  machten  sich  nicht  nur  —  wie  so  häufig  in  Oesterreich  —  staatsrecht- 
liche Bedenken  geltend,  indem  befürchtet  wurde,  dass  dadurch  die  Autonomie 
der  „Königreiche  und  Länder"  verletzt  werden  könnte,  sondern  es  wurde  auch 
namentlich  darauf  hingewiesen,  dass  die  Gemeinden,  denen  aus  der  Erbauung 
neuer  Wohnhäuser  häufig  grosse  Kosten  für  Herstellung  von  Strassen,  Canälen, 
Wasserleitungen,  namentlich  aber  von  Schulen  erwachsen,  die  Zuschläge  zu  den 
Steuern  für  solche  Gebäude  nicht  entbehren  können.  Demgemäss  hat  auch  das  Ab- 
geordnetenhaus anfangs  den  Standtpunkt  vertreten,  dass  die  Gemeindezuschläge 
durch  das  Gesetz  in  keine*-  Weise  berührt  werden  sollen,  und  erst  infolge  einer 
im  Herrenhause  vorgenommenen  Abänderung  des  §  1  des  Gesetzes,  wurde  die 
heutige  Textierung  angenommen,  nach  welcher  das  Gesetz  überall  dort  in  Wirk- 
samkeit tritt,  wo  im  Wege  der  Landesgesetzgebung  die  Landes-  und  Bezirks- 
zuschläge zu  den  vom  Staate  erlassenen  Steuern  gleichalls  nachgesehen  werden, 
und  eine  Ermässigung  der  Gemeindezuschläge  eintritt,  deren  Ausmaass  der 
Landesgesetzgebung  überlassen  bleibt.  Es  kann  demnach  der  Fall  eintreten,  und 
er  wird  auch  ziemlich  wahrscheinlich  eintreten,  dass  das  Gesetz  nur  in  einigen 
Provinzen  Oesterreichs  Geltung  erlangt^). 

Im  übrigen  sind  jene  Bestimmungen  des'  Gesetzes  die  wichtigsten,  welche 
das  Ausmaass  der  herzustellenden  Wohnungen  und  den  Mietpreis  hiefür  be- 
stimmen. Bei  der  Fixierung  des  Ausmaasses  wurde  sowohl  auf  Wohnungen,  welche 
bloss    ein    einziges   Gelass   enthielten,    als    auch    auf  Wohnungen    mit   mehreren 


1)  Allerdings  wurden  bei  der  soeben  (am  3.  März  1892)  eröffneten  Session  der 
Landtage  in  den  meisten  Landtagen  Gesetzentwürfe  eingebracht,  nach  welchen  für  alle 
von  dem  Gesetze  begünstigten  Gebäude  die  vollkommene  Befreiung  von  den  Landes-  und 
Bezirksumlagen,  sowie  eine  50percentige  Ermässigung  der  Gemeindeumlagen  eintritt. 
Trotzdem  bleibt  aber  abzuwarten,  in  welchen  Landtagen  diese  Vorlage  zum  Gesetze  er- 
hoben werden  wird,  umsomehr,  als  zu  befürchten  steht,  dass  auch  hier  sich  mehrfach 
jene  Tendenzen  geltend  machen  werden,  welche  eine  Betheiligung  der  Gemeinden  gänzlich 
perhorrescieren. 


Das  Gesetz,  betreffend  Begünstigungen  für  Neubauten  mit  Arbeiterwohnungen.     283 

Eäumen  Rücksiclit  genommen.  Die  besondere  Berücksichtigung  von  Wohnungen 
mit  einem  einzigen  Gelasse  erschien  deshalb  nothwendig,  weil  ja  heute  thatsäch- 
lich  in  grossem  Umfang  solche  Wohnungen  bestehen  (in  Wien  allein  20.827,  welche 
Anzahl  durch  die  Einbeziehung  der  Vororte  noch  in  ganz  unverhältnismässigem 
Maasse  erhöht  worden  ist)  und  eine  plötzliche  Aenderung  in  dieser  Beziehung, 
wenn  auch  höchst  erstrebenswert,  so  doch  kaum  für  erreichbar  angesehen  werden 
kann.  Auch  war  zu  berücksichtigen,  dass  kinderlose  Ehepaare  und  vollends  ledige 
Arbeiter  sich  schwerlich  beim  heutigen  Standard  of  life  der  Arbeiter  dazu  ent- 
schliessen  werden,  eine  grössere  Wohnung  zu  nehmen,  dass  also,  wenn  blos  für 
Wehnungen,  die  aus  einem  oder  gar  mehreren  Zimmern  und  Küche  bestehen, 
Vorsorge  getroffen  würde,  die  Bettgeherwirtschaft  nach  wie  vor  florieren  würde. 
Wenn  auch  nicht  behauptet  werden  kann,  dass  durch  die  Schaffung  einzelner 
Zimmw,  welche  nach  ihrem  Umfang  und  nach  ihrem  Preis  den  Bedürfnissen 
einzelner  Arbeiter  entsprechen,  jener  Krebsschaden  wirklich  beseitigt  werden 
wird,  so  musste  doch  die  Möglichkeit  geboten  werden,  hier  eine  Bessemng 
eintreten  zu  lassen.  Die  Fixierung  des  Minimalansmaasses  für  die  Wohnungan  mit  15, 
beziehungsweise  40  m"^  ist  keinesfalls  zu  niedrig  gegriffen,  und  werden  Wohnun- 
gen von  40  w^  Fläche  wohl  heute  in  den  seltensten  Fällen  von  Arbeiterfamilien 
benützt  werden, '  ja  dieses  Minimalausmaass  ist  auch  bedeutend  grösser,  als  das 
Ausmaass,  welches  in  den  in  neuerer  Zeit  von  verschiedenen  Seiten  angefertigten 
Normalplänen,  so  namentlich  in  dem  Normalplane  des  „Deutschen  Vereines  für 
Armenpflege"  in  Aussicht  genommen  wurde.  Die  Hinzufügang  von  Maximalaus- 
maassen  für  die  Wohnungen  mag  auf  den  ersten  Blick  in  Erstaunen  setzen.  Der 
Grund  für  die  Festsetzung  solcher  Maxima  liegt  darin,  dass  man  bei  einzelnen 
Zimmern  grössere  Schlafsäle  für  eine  beträchtliche  Anzahl  von  Arbeitern  ver- 
meiden wollte,  während  das  Maximalausmaass  für  andere  Wohnungen  lediglich 
von  fiscalischen  Eücksichten  dictiert  wurde,  da  die  Eegierung  befürchtete,  dass 
ohne  ein  solches  Maximalausmaass  auch  andere  als  Arbeiterwohnungen  an  den 
Wohlthaten  des  Gesetzes  participieren  könnten,  was  vermieden  werden  sollte. 

Eine  ursprünglich  in  Aussicht  genommene  Einschränkung  bezüglich  des 
Umfanges  der  zu  erbauenden  Häuser  wurde  später  fallen  gelassen.  Diese  Be- 
schränkung hätte  den  Zweck  gehabt,  dass  die  zu  erbauenden  Häuser  vollständig 
oder  doch  nahezu  den  Charakter  von  Cottages  haben  sollten.  So  wünschenswert 
es  nun  auch  erscheinen  mag,  dem  Arbeiter  Wohnungen  dieser  Art  j^eizustellen, 
so  muss  doch  für  die  heutige  Zeit  und  die  heutigen  Wohnverhältnisse  es  als  ein 
unerreichbares  Ideal  bezeichnet  werden,  jeder  Arbeiterfamilie  ihr  eigenes  Haus 
zu  verschaffen,  ganz  abgesehen  davon,  dass  durch  das  Cottage-System  —  wenn 
es  durchgeführt  würde  —  die  Freizügigkeit  der  Arbeiter  in  noch  weit  höherem. 
Maasse  beschränkt  würde,  als  dies  durch  anderweitige,  von  Unternehmern  bei- 
gestellte Wohnungen  der  Fall  ist.  Die  Herstellung  grösserer  Gebäude  mit  Arbeiter- 
wohnungen ist  nicht  nur  weit  ökonomischer,  es  können  auch  in  diesen  Gebäuden 
bei  entsprechender  Veranlagung  der  Pläne  vielfache  Vortheile  geboten  werden, 
welche  bei  einzelnen  isolierten  Häuschen  nicht  erreichbar  sind,  üeberdies  zeigen 
ja  thatsächlich  die  neuesten  Erfahrungen,  die  man  mit  dem  Cottage-System  viel- 
fach und  insbesondere  in  dem    einst  so   viel   gerühmten   und  berühmten  M  ü  h  1- 

19* 


284  Gross. 

hausen  gemacht  hat,  dass  dort  das  Cottage-System  nicht  etwa  dahin  geführt 
hat,  jeder  Arbeiterfamilie  ihr  selbständiges  Heim  zu  verschaffen,  sondern,  dass 
nur  eine  Minderheit  von  Familien  solche  Häuser  erwerben  kann,  und  dass  dann 
Aftermiete  und  Bettgeherwirtschaft,  verbunden  mit  der  rücksichtslosesten  Aus- 
beutung durch  die  Vermieter  und  der  denkbar  ärgsten  Ueberfüllung,  sich  noch 
in  schlimmerer  Weise  geltend  machen,  als  bei  Arbeiterkasernen. 

Die  wichtigste  und  unseres  Wissens  auch  ganz  originelle  Bestimmung  des 
Gesetzes  enthält  der  §  5,  durch  welchen  für  die  Wohnungen  in  den  begünstigten 
Häusern  nach  dem  Ausmaasse  ein  Maximalzins  bestimmt  wird.  Es  war  bezeich- 
nend für  den  gewaltigen  Umschwung,  der  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten  in 
unseren  volkwirtschaftlichen  Anschauungen  vollzogen  hat,  dass  das  Princip, 
welches  darin  zum  Ausdruck  gelangt,  von  keiner  Seite  eine  Anfechtung  erfahren 
hat,  während  wahrscheinlich  vor  noch  nicht  langer  Zeit  eine  solche  gesetzliche 
Bestimmung  als  ein  unerhörter,  absolut  unzulässiger  Eingriff  in  das  freie  Getriebe 
der  Volkswirtschaft  u.  s.  w.  erklärt  worden  wäre.  Man  hat  sich  aber  heute  bereits 
vollkommen  mit  dem  Gedanken  vertraut  gemacht,  dass  die  öffentliche  Gewalt 
nicht  allein  berufen  ist,  im  wirtschaftlichen  Verkehre  Schutz  gegen  Rechtsbruch  zu 
gewähren,  sondern  auch  bestimmend  selbst  in  die  Preisbildung  einzugreifen.  Die 
Feststellung  eines  Maximalzinssatzes  war  hier  umso  nothwendiger,  als  die  heute 
bestehenden  von  Unternehmern  erbauten  Arbeiterwohnungen  nur  allzuhäufig  den 
grellsten  Beweis  dafür  erbringen,  dass  den  Unternehmern  bei  der  Herstellung 
solcher  Wohnungen  nicht  so  sehr  das  Wohl  ihrer  Arbeiter  als  ihre  pecuniären 
Vortheile  am  Herzen  liegen.  Das  Interesse  des  Unternehmers  erfordert  oft  ge- 
bieterisch die  Herstellung  von  Arbeiterwohnungen,  wenn  er  überhaupt  Arbeiter 
für  sein  Unternehmen  bekommen  und  erhalten  will,  weil  eben  sonst  die  aus  der 
Fremde  zugezogenen  Arbeiter  überhaupt  kein  Unterkommen  finden  würden.  Und 
nur  zu  häufig  benützt  der  Unternehmer  dennoch  die  Gelegenheit,  um  aus  den 
erbauten  Arbeiterwohnungen  beträchtliche  Mietzinse  zu  ziehen,  welche  sogar  eine 
Verzinsung  des  Anlage capitals  von  mehr  als  67o  ergeben.  Sind  uns  doch  Fälle 
bekannt,  wo  in  den  Arbeiterwohnungen  einer  Actiengesellschaft  für  1  m^  bewohn- 
bare Fläche,  nicht  in  Wien,  sondern  auf  dem  flachen  Lande,  Zinse  von  2  —  3  fl., 
ja  noch  mehr,  gezahlt  werden. 

Bei  der  Festsetzung  der  gestatteten  Maximalzinse  mussten  zwei  Gesichts- 
punkte maassgebend  sein.  Dieselben  sollten  einerseits  zu  dem  erforderlichen  Bau- 
capitale  in  einem  solchen  Verhältnisse  stehen,  dass  eine  massige  Verzinsung 
desselben,  sowie  die  langsame  Amortisation  ermöglicht  werde,  andererseits  aber 
auch  so  bemessen  werden,  dass  einem  Arbeiter  mit  ortsüblichem  Taglohn  die 
Möglichkeit  geboten  werde,  für  sich  und  seine  Familie  eine  entsprechende 
Wohnung  zu  erlangen,  ohne  eine  unverhältnismässig  hohe  Quote  seines  Einkommens 
dafür  verwenden  zu  müssen. 

Begreiflicherweise  müsste,  wenn  alle  einzelnen  Verhältnisse  berücksichtigt 
werden  sollen,  dieser  Maximalzins  fast  für  jeden  Ort  in  einer  anderen  Höhe 
bestimmt  werden.  Die  Schwierigkeiten  einer  solchen  verschiedenartigen  Bemessung 
bestimmten  aber  den  Ausschuss  des  Abgeordnetenhauses  und  dieses  Haus  selbst, 
sich  darauf  zu  beschränken,    drei  Kategorien  von  Zinsen  nach  der  Bevölkerungs- 


Das  Gesetz,  betreffend  Begünstigungen  für  Neubauten  mit  Arbeiterwohnungen.     285 

anzaM  der  betreffenden  Orte  zu  schaffen,  ohne  sich  in  eine  nähere  Unterscheidung 
einzulassen.  Ohne  sich  zu  verhehlen,  dass  an  vielen  Orten  diese  Zinse  nicht  ent- 
sprechend sein  würden,  dass  dieselben  vielleicht  vielfach  zu  hoch  erscheinen 
würden,  glaubte  man  doch  besser  diesen  Weg  einschlagen  zu  sollen,  als  den,  die 
Festsetzung  der  Zinse  etwa  localen  Behörden  zu  überlassen,  weil  in  diesem  Fallo 
sehr  leicht  der  übermächtige  Einfluss  des  Unternehmers  sich  geltend  machen 
könnte.  Um  die  Bedeutung  dieser  Zinse  richtig  zu  verstehen,  darf  man  eben  nicht 
vergessen,  dass  es  sich  nur  um  Maximalzinse  handelt,  welche  hoffentlich  nur 
selten  erreicht  werden,  und  welche  namentlich  in  den  von  Gemeinden  und 
gemeinnützigen  Vereinen  erbauten  Häusern  schwerlich  werden  angewendet  werden 
müssen. 

Was  nun  die  voraussichtliche  Wirkung  des  Gesetzes  betrifft,  so  darf  wohl 
—  selbstverständlich  vorausgesetzt,  dass  die  Landtage  ehestens  die  betreffenden 
Bestimmungen  im  Gesetzeswege  erlassen  —  der  Hoffnung  Ausdruck  gegeben 
werden,  dass  das  angestrebte  Ziel,  eine  ausgiebige  Vermehrung  der  für  Arbeiter 
verfügbaren  W^ohnungen  herbeizuführen,  durch  dieses  Gesetz  wesentlich  befördert 
wird.  Durch  die  abnorm  hohe  Hauszinssteuer  haben  sich  dermalen  auch  viele 
ihren  Arbeitern  wohlwollende  Unternehmer  von  der  Herstellung  von  Wohnungen 
abhalten  lassen,  weil  sie  den  Arbeitern  mit  Eücksicht  auf  die  hohe  Steuer  nur  zu 
solchen  Mietpreisen  hätten  Wohnungen  bieten  können,  welche  die  Mietpreise 
in  anderen,  freilich  in  keiner  Weise  entsprechenden  Wohngebäuden  beiweitem 
übersteigen.  Vollends  dürfte  das  Gesetz  von  jenen  Unternehmern  in  Anwendung 
gebracht  werden,  welche  den  Arbeitern  die  Wohnung  als  einen  Theil  des  Lohnes 
gewähren,  beziehungsweise  in  Anrechnung  bringen.  Vor  einer  Uebervortheilung 
beziehungsweise  vor  einer  allzuhohen  Anrechnung  der  Wohnung  ist  aber  der 
Arbeiter  auch  in  diesem  Falle  durch  die  Festsetzung  des  Maximalzinses  geschützt. 
Abzuwarten  bleibt,  in  welchem  Umfange  es  gelingen  wird,  die  Gemeinden  und 
die  gemeinnützigen  Vereine  für  die  Sache  zu  interessieren.  Unzweifelhaft  gehört 
es  zu  den  wichtigsten  Aufgaben  der  Gemeinde,  hier  nicht  blos  regelnd,  rathend, 
helfend,  unterstützend,  sondern  auch  direct  selbstthätig  einzugreifen.  Durch  dieses 
Gesetz  wird  den  Gemeinden  die  Möglichkeit  geboten,  dies  ohne  grosse  materielle 
Opfer  in  einer  auch  den  Arbeitern  entsprechenden  Weise  zu  thun.  Und  schon  der 
Umstand,  dass  sich  unter  den  Antragstellern  der  Bürgermeister  einer  unserer 
grössten  Lidustriestädte  befindet,  berechtigt  zu  der  Hoffnung,  dass  die  Gemeinden 
auch  thatsächlich  von  dieser  Möglichkeit  Gebrauch  machen  werden.  Dabei  kann 
selbstverständlich  jedoch  nur  von  grossen  Gemeinwesen  die  Kede  sein,  nicht  von 
jenen  Landgemeinden,  welche  durch  die  zufällige  Placierung  einer  oder  mehrerer 
Fabriken  in  denselben,  plötzlich  eine  grosse  Arbeiterb evölkerung  erhalten.') 

Die  Thätigkeit  gemeinnütziger  Vereine  in  dieser  Kichtung  wird  nur  dann 
eine  nennenswerte  sein  können,  wenn  dieselben  von  Seiten  unserer  Geldinstitute 
die  entsprechende  Unterstützung  finden.  Bei  der  vielfachen  Inanspruchnahme 
unserer    wohlhabenden    und    Mittelkreise    zu    wohlthätigen    und    gemeinnützigen 


1)  Während  des  Druckes  ist  erfreulicher  Weise  im  Wiener  Gemeinderathe  bereits  ein 
Antrag  auf  Erbauung  von  Arbeiterwohnhäusern  durch  die  Gemeinde  eingebracht  worden. 


286  Cr'^OSS. 

Zwecken  ist  es  wohl  ausgeschlossen,  in  diesen  Kreisen  etwa  im  Wege  der 
Sammlung  die  immerhin  beträchtlichen  Kosten  für  die  Erbauung  von  grossen 
Arbeiterw^ohnungen  aufzubringen.  Es  ist  dies  aber  auch  nicht  nothwendig,  da  ja 
eine  massige  Verzinsung  des  Anlagecapitals  fast  vollkommen  gesichert  erscheint, 
und  es  wird  demnach  die  Aufgabe  unserer  haute  finance  und  unserer  G-eldinstitute 
sein,  den  sich  bildenden  Vereinen  zum  Zweck  der  Ausführung  die  nöthigen 
Capitalien  zur  Verfügur.g  zu  stellen.  Dass  dies  auch  wirklich  geschehe  darf  wohl 
umso  eher  erhofft  w^erden,  als  denn  doch  endlich  unter  unseren  Industriellen 
und  Einanzmännern  langsam  das  Verständnis  für  die  socialen  Aufgaben  des 
privaten  Grosscapitales  aufzudämmern  beginnt,  und  als  überdies  die  Klagen  über 
Mangel  an  entsprechenden  Anlagegelegenheiten  für  grosse  Capitalien  sich  immer 
mehren  und  die  Unlust  der  Capitalbesitzer  sich  in  grösserem  Umfange  an  indu- 
striellen Unternehmungen  zu  betheiligen,  noch  immer  in  vollem  Maasse  vorhanden  ist. 
Unter  allen  Umständen  aber  kann  das  Gesetz,  selbst  wenn  sein  Erfolg  hinter  den 
bescheidensten  Erwartungen  zurückbleiben  sollte,  doch  insoferne  als  ein  social- 
politisches  Ereignis  bezeichnet  werden,  als  dadurch  zum  erstenmale  auch  in  Oester- 
reich  das  Princip  anerkannt  wird,  dass  die  Zwangsgesammtwirtschaften  sich  an 
der  Lösung  socialer  Fragen  nicht  nur  durch  Gesetzgebungs-  und  Verwaltungs- 
maassregeln  sondern  auch  durch  materielle,  wenn  auch  zunächst  nur  negative 
Leistungen  zu  betheiligen  haben. 

Gesetz  vom  9.  Februar  1892,  E.-G.-B.  Kr.  37,  betreffend  Begünstigungen 
für  Neubauten  mit  Arbeiterwohnungen. 

Mit  Zustimmung  beider  Häuser  des  ßeichsrathes  finde  Ich  anzuordnen, 
wie  folgt: 

§  1.  Von  der  auf  dem  kaiserlichen  Patente  vom  23.  Februar  1820  beru- 
henden Hauszinssteuer,  sowie  von  der  nach  §  7  des  Gesetzes  vom  9.  Februar  1882 
(E.-G.-Bl.  Xr.  17)  von  steuerfreien  Gebäuden  zu  entrichtenden  Steuer  sind  nach 
Maassgabe  der  Bestimmung  des  §  2  dieses  Gesetzes  jene  Wohngebäude  befreit, 
welche  zu  dem  Zwecke  erbaut  werden,  um  ausschliesslich  an  Arbeiter  vermietet 
zu  werden  und  dtnselben  gesunde  und  billige  Wohnungen  zu  bieten,  und  zwar 
wenn  solche: 

a)  von  Gemeinden,  gemeinnützigen  Vereinen  und  Anstalten  für  Arbeiter; 

b)  von  aus  Arbeitern  gebildeten  Genossenschaften  für  ihre  Mitglieder; 

c)  von  Arbeitgebern  für  ihre  Arbeiter  errichtet  werden. 

Diese  Steuerbefreiung  tritt  nur  in  jenen  Königreichen  und  Ländern  in 
Kraft,  in  welchen  den  bezeichneten  Neubauten  im  Wege  der  Landesgesetzgebung 
auch  die  Befreiung  von  allen  Landes-  und  Bezirkszuschlägen,  sowie  eine  Er- 
mässis^ung  der  Gemeindezuschläge  zu  den  genannten  Staatssteuern  für  die  ganze 
Dauer  der  staatlichen  Steuerbefreiung  gewährt  wird. 

§  2.  Die  Steuerfreiheit  erstreckt  sich  auf  24  Jahre  vom  Zeitpunkte  der 
Vollendung  des  Gebäudes. 

§  3.  Gebäude,  welche  Wohnungen  enthalten,  deren  Fussboden  unter  der 
Strassenoberfläche  liegt,  sind  von  dieser  Steuerfreiheit  ausgeschlossen. 


Das  Gesetz,  betreffend  Begünstigungen  für  Neubauten  mit  Arbeiterwohnungen.     287 

§  4.  Der  bewohnbare  Eaum  einer  einzelnen  Wohnung  darf,  wenn  dieselbe 
nur  ein  einziges  Gelass  enthält,  nicht  weniger  als  15  und  nicht  mehr  als  30  m^, 
bei  Wohnungen,  welche  aus  mehreren  Eäumen  bestehen,  nicht  weniger  als  40  und 
nicht  mehr  als  75  m^  betragen. 

Von  den  in  den  §§  3  und  4  vorgezeichneten  speciellen  Bedingungen 
können  die  Erbauer  ganz  oder  theilweise  entbunden  werden,  wenn  der  zweck- 
entsprechende und  gemeinnützige  Charakter  der  Bauführungen  in  anderer  Weise 
sichergestellt  ist. 

§  5.  Der  jährliche  Mietzins  für  1  m^  bewohnbaren  Raumes  darf  höchstens 
betragen: 

a)  in  Wien  1   fl.   75  kr.  öst.  W.; 

b)  in  Orten  mit  mehr  als  10.000  Einwohnern  1  fl.   15  kr.  ö.  W.; 

c)  in  allen  anderen  Orten  80  kr.  ö.  W. 

§  6.  Die  durch  dieses  Gesetz  gewährten  Begünstigungen  erlöschen,  wenn 
die  Bestimmungen  der  §§  1,  3  oder  4  ausseracht  gelassen  werden,  oder  wenn 
die  betreffenden  Gebäude  auf  andere  Weise  als  durch  Erbgang  an  Personen 
übertragen  werden,  welche,  wenn  sie  selbst  den  Bau  unternommen  hätten,  keinen 
Anspruch  auf  die  Begünstigung  dieses  Gesetzes  gehabt  hätten. 

Im  Falle  der  eingeforderte  Mietzins  die  im  §  5  festgesetzte  Höhe  über- 
schreitet, so  hat  der  Vermieter  bei  dem  erstmaligen  Ueberschreiten,  sowie  im 
erstmaligen  Wiederholungsfalle  eine  Geldstrafe  zu  entrichten,  welche  das  Zehn- 
fache des  zu  viel  eingehobenen  Zinses  beträgt;  tritt  der  Fall  einer  solchen 
Ueberschreitung  jedoch  zum  drittenmale  ein,  so  erlöschen  die  durch  dieses  Gesetz 
gewährten  Begünstigungen. 

§  7.  Die  Begünstigungen  dieses  Gesetzes  haben  für  jene  Bauten  Geltung, 
welche  bis  zum  Ablaufe  des  zehnten  Jahres  nach  Beginn  der  Wirksamkeit  des- 
selben fertiggestellt  sind. 

§  8.  Im  übrigen  bleiben  die  Bestimmungen  des  Gesetzes  vom  25.  März  1880 
(E.-G.-Bl.  Nr.  39),  betreffend  die  Steuerfreiheit  von  Neu-,  Zu-  und  Umbauten, 
unverändert  in  'Geltung,  und  sind  für  das  Verfahren  nach  dem  vorliegenden 
Gesetze  gleichfalls  maassgebend. 

Die  Verhängung  der  im  §  6  angedrohten  Geldstrafe  steht  gleichfalls  den 
Steuerbehörden  erster  Instanz  unter  Berücksichtigung  des  Gesetzes  vom  19.  März 
1876  (R.-G.-Bl.  Nr.  28)  zu. 

Diese  Geldstrafe  fällt  dem  Armenfonde  derjenigen  Gemeinde  zu,  in  welcher 
die  befreiten  Wohngebäude  gelegen  sind. 

Die  im  §  4  vorgesehene  theilweise  Entbindung  von  den  Bestimmungen 
des  Gesetzes  bleibt  dem  Finanzminister  vorbehalten. 

§  9.  Mit  dem  Vollzuge  dieses  Gesetzes  sind  der  Finanzminister  und  der 
Minister  des  Innern  beauftragt. 


DIE  STATISTIK  AUF  DKEI  INTEENATIONALEN 
COMEESSEN  DES  JAHRES  1891. 


VON 
DR.  GEOKG  V.  MAYR. 


Zunächst  hat  es  wohl  den  Anschein,  als  führe  nur  der  äussere  Umstand 
meiner  persönlichen  Anwesenheit  auf  den  drei  Congressen,  von  denen  im  weiteren 
die  Kede  sein  soll,  zu  einer  zusammenfassenden  Betrachtung  ihrer  Bedeutung  für 
die  statistische  Forschung.  Eine  nähere  Untersuchung  aber  ergibt,  dass  in  dem 
persönlichen  Moment  nur  der  äussere  Anstoss  zu  einer  auch  innerlich  berechtigten 
Zusammenfassung  liegt.  Zu  diesem  Behufe  möge  ein  kurzer,  allgemeiner  Blick 
auf  die  Wandlungen  gestattet  sein,  welche  die  Technik  des  Lernens  und  Lehrens 
der  längst  der  Schule  Entwachsenen  in  der  Neuzeit  erfahren  hat. 

Man  würde  sich  irren,  wollte  man  glauben,  nur  die  Technik  des  eigentlich 
zunftmässigen  Unterrichts  in  der  Schule  —  auf  ihren  sämmtlichen  Stufen,  von 
der  Elementarschule  bis  zur  Hochschule  —  habe  in  der  Neuzeit  Veränderungen 
erfahren.  Fast  mehr  noch  war  dies  der  Fall  bei  dem  Lernen  und  Lehren  der 
längst  der  Schule  Entwachsenen,  welches  die  Fortbildung  all  unseres  Wissens 
vermittelt.  Die  Individualform  dieses  Lernens  und  Lehrens,  wie  sie  in  der  Haupt- 
sache durch  die  Fachliteratur  vermittelt  wird,  hat  insofern  eine  eigenartige  Aus- 
gestaltung erfahren,  als  das  ein  grösseres  Wissensgebiet  in  abgeschlossener  Form 
betrachtende  Buch  gegenüber  dem  rascheren  und  lebendigeren  Gedankenaustausch, 
welchen  die  Fachzeitschrift  vermittelt,  als  Lehr-  und  Lernmittel  der  activen 
Mitglieder  der  Wissenschaftspflege  stark  in  den  Hintergrund  gedrängt  ist,  während 
hinwiederum  der  Fachzeitschrift  in  mancher  Beziehung  seitens  der  Tagespresse 
eine  nicht  unbedeutende  Concurrenz  gemacht  wird. 

Noch  bedeutungsvoller  erscheint  die  Veränderung  der  Technik  des  Lernens 
und  Lehrens  auf  dem  gesammten  Gebiete  der  Förderung  der  Wissenschaft,  welche 
das  Auftreten  der  Collectivform  des  Lernens  und  Lehrens  neben  der  alther- 
gebrachten Individualfoi*m  veranlasst  hat.  In  gewissem  Sinne  macht  sich  in  der 
Vielzahl  der  Mitarbeiter  an  einer  Zeitschrift,  oder  an  einem  gross  angelegten  Hand- 
buch schon  eine  Hinneigung  zu  collectiver  wissenschaftlicher  Arbeit  geltend. 
Immerhin    aber    ist    dies    nur    äusserlich,    in    einem    gewissen    formellen    Sinne 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  289 

zutreffend;  von  einer  wirklichen  geistigen  Zusammenarbeit  Mehrerer  ist  dabei  nicht 
die  Rede;  es  handelt  sich  nur  um  ein  Nebeneinander,  oft  auch  um  ein  Gegen- 
einander der  Ansichten  innerhalb  des  gemeinschaftlichen  äusseren  Eahmens  der 
buchhändlerischen  Unternehmung.  Nicht  bloss  formelle,  sondern  auch  wirkliche, 
materielle,  geistige  Zusammenarbeit  ist  dagegen  der  —  wenn  auch  nicht  immer 
voll  erreichte  —  Zweck  der  neuzeitlichen  wissenschaftlichen  Congresse.  Mag  auch 
mancher  wackere  Anhänger  der  alten  Individualmethode  nicht  gerade  mit  gün- 
stigem Blick  auf  sie  herabsehen,  die  Congressa  sind  eine  bedeutungsvolle  neue 
Betriebsform  der  Geistesarbeit  geworden,  welche  an  Bedeutung  die  historische 
Urform  der  geistigen  Zusammenarbeit  innerhalb  eines  enggeschlossenen  zünftigen 
Kreises,  wie  sie  in  den  Akademien  verkörpert  ist,  überragt.  Unterstützt  durch  die 
Hilfsmittel  des  modernen  Verkehrs  ist  diese  Co  operativform  der  geistigen  Arbeit, 
wenn  auch  in  ihren  Einzelheiten  mannigfaltigen  Umgestaltungen  unterworfen, 
für  die  Zukunft  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel  der  Fortbildung  der  Wissenschaft. 
Ihre  sachliche  Kraft  schöpfen  die  wissenschaftlichen  Congresse  gegenüber  der 
durch  die  strenge  geistige  Zurückgezogenheit  unter  allen  Umständen  hochwertigen 
In  di  vi  dualform  des  Lernens  und  Lehrens  aus  zwei  Umständen,  erstens  aus  der 
Stärkung  der  Beziehungen  der  Träger  der  wissenschaftlichen  Strebungen,  welche 
aus  der  Anknüpfung  persönlicher  Bekanntschaft  und  dauernder  Pflege  derselben 
sich  ergibt,  und  zweitens  aus  der  Bedeutung,  welche  nach  der  Natur  der  geistigen 
Zusammenarbeit,  dem  lebendigen  Wort  im  Gegensatz  zum  Gedruckten  zufällt.  Es 
ist  eine  naturgemässe  Eeaction  gegen  die  UeberfüUe  des  Gedruckten,  mit  welchem 
wir  überflutet  werden,  wenn  wir  uns  nach  all  der  Leetüre,  mit  der  wir  uns  in 
11  Monaten  des  Jahres  gequält  haben,  im  zwölften  an  dem  mündlichen  Gedanken- 
austausch auf  einem  wissenschaftlichen  Congresse  erfrischen. 

Auch  die  wissenschaftlichen  Congresse  aber  folgen  dem  Entwickolungsgesetz 
der  Arbeitstheilung.  Aus  -den  wenigen  allumfassenden  Congressen,  die  sich  zuerst 
hervorgethan  haben,  ist  eine  immer  reichere  Fülle  von  Congressen,  zumeist  mit 
specielleren  Aufgaben  erwachsen,  wenn  auch  daneben  die  zusammenfassenden 
allgemeinen  Congresse  ebensowenig  ihre  Bedeutung  ganz  verloren  haben,  als  das 
wissenschaftliche  Compendium  neben  der  Fachzeitschrift.  Auch  bei  der  Statistik 
hat  sich  das  Monopol  der  vormaligen  allgemeinen  statistischen  Congresse  nicht 
als  haltbar  erwiesen.  Wenn  auch  zweifellos  äussere  Umstände  von  Einfluss  darauf 
gewesen  sind,  dass  gerade  der  statistische  Congress  in  Budapest  von  1876  der 
letzte  dieser  Congresse,  und  die  Versammlung  der  permanenten  Commission  in 
Paris  im  Jahre  1878  die  letzte  dieser  Versammlungen  war,  so  sind  es  schliesslich 
doch  auch  innere  Gründe  gewesen,  welche  gegen  die  Monopolisierung  geistiger 
Zusammenarbeit  in  statistischen  Angelegenheiten  durch  den  statistischen  Congress 
sprachen. 

So  gross  die  Vorurtheile  sind,  mit  welchen  die  Statistik  zu  allen  Zeiten  zu 
kämpfen  hatte,  und  mit  welchen  sie  auch  heute  noch  kämpft,  das  Interesse  an  der 
Statistik,  und  was  noch  wichtiger  ißt,  das  sachliche  Bedürfnis  nach  Pflege  der 
Statistik  ist  in  der  Neuzeit  gewaltig  gestiegen.  Ohne  Zweifel  hat  der  social- 
politische  Zug  der  neueren  Zeit  das  wichtigste  Ferment  für  die  Erkenntnis  dieses 
Bedürfnisses  nach  Statistik  geliefert;  beachtenswert  ist  auch  die  Anlehnung,  welche 


290  ^ayr. 

die  hygionisclien  Bestrebungen  an  statistische  Forscliung  suchten.  Mit  dieser  Ver- 
aligemeinung des  wissenschaftlichen  Interesses  an  der  Statistik  ist  die  ausschliess- 
liche Behandlung  statistischer  Probleme  auf  einem  Congresse  nicht  gut  vereinbar. 
So  finden  wir  denn  auch  thatsächlich  seit  längerer  Zeit  verschiedenartige  Congress- 
arbeit  auf  diesem  Gebiete,  theils  in  besonders  der  Statistik  gewidmeter  Zusammen- 
arbeit, theils  in  äusserlicher  Yeibindung  solcher  statistischer  Geistesarbeit  mit 
anderweitiger  Zusammenarbeit,  theils  endlich  als  innerlichen  Bestandtheil  der  auf 
ein  bestimmtes  sociales  Problem  gerichteten  internationalen  Zusammenarbeit.  Diese 
dreierlei  Arten  von  statistischer  Zusammenarbeit  finden  sich  auf  den  drei  Congressen 
des  Jahres  1891  vertreten,  welche  den  Gegenstand  der  nachfolgenden  Betrachtung 
bilden  sollen.  Eine  besonders  der  Statistik  gewidmete  Zusammenarbeit  war  die 
Versammlung  des  internationalen  statistischen  Instituts  in  Wien,  in  äusserlicher 
Verbindung  mit  anderweitiger  Zusammenarbeit  erscheint  der  internationale  demo- 
graphische Congress  in  London,  und  als  Typus  einer  Sonderbehandlung  statistischer 
Fragen  aus  Anlass  der  internationalen  Erörterung  eines  socialpolitischen  Problems 
stellt  sich  die  Besprechung  der  Statistik  der  Arbeiterversicherung  auf  dem  inter- 
nationalen Unfall-Congresse  in  Bern  dar.  Es  möge  gestattet  sein,  die  für  die 
Statistik  bedeutsamen  Arbeiten  dieser  Congresse  nach  der  Zeitfolge  der  Abhaltung 
der  Congresse  zu  besprechen  und  demgemäss  zuerst  den  Londoner,  dann  den  Berner 
und  zuletzt  den  Wiener  Congress  in  Betracht  zu  ziehen. 

\.   Internationaler  demographischer  Congress  in    London  vom 
10.  bis  17.  August  1891. 

Im  grossen  Rahmen  der  mannigfaltigen  Fragen,  mit  welchen  die  Congresse 
für  Hygiene  und  Demographie  sich  beschäftigt  haben,  stellt  das  demographische 
Gebiet  ein  geschlossenes  Ganzes  dar,  das  zwar  auch  innerlich  manchen  Zusammen- 
hang mit  hygienischen  Problemen  hat,  in  der  Hauptsache  aber  doch  nur  mehr 
äusserlich  mit  den  hygienischen  Aufgaben  zusammengeschweisst  ist,  und  dem- 
gemäss auch  insofern  äusserlich  abgesondert  erscheint,  als  in  den  grossen 
Gesammtcongress  noch  ein  besonderer  „demographischer  Congress"  einge- 
schlossen ist.  Dieser,  vorzugsweise  aus  Vertretern  der  Statistik  und  Volkswirtschaft 
bestehend,  ist  nichts  anderes  als  ein  vorzugsweise  mit  Fragen  der  ßevölkerungs- 
und  Wirtschaftsstatistik  beschäftigter  Congress,  welcher  allerdings  in  London  noch 
mehr  als  früher,  insbesondere  als  in  Wien,  in  der  Selbständigkeit  seiner 
Erscheinung  und  Wirksamkeit  unter  dem  Drucke  der  reichgegliederten  Massen- 
concurrenz  der  verschiedenen  hygienischen  Sectionen  des  Congresses  stand. 

Dies  fand  schon  darin  seinen  Ausdruck,  dass  die  im  übrigen  ganz  vortreff- 
liche und  ausführliche  Eröffnungsrede  des  Prinzen  von  Wales  der  Demographie 
überhaupt  gar  nicht  erwähnte.  Der  Prinz  beschränkte  sich  keineswegs  auf  die 
üblichen  Begrüssungsphrasen,  sondern  schilderte  in  eingehender  sachlicher  Dar- 
legung die  Bedeutung  der  Hygiene  für  das  öffentliche  Wohl  und  insbesondere  für 
die  Verbesserung  der  Lage  der  arbeitenden  Classen.  Die  Rede  war  unverkennbar 
von  manchen  Tropfen  socialpolitischen  Oels  durchdrungen,  daneben  spielte  auch 
die  Befriedigung    über    die    ausserordentlich    grosse    Zahl    (weit    über  2000)    der 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  291 

Theilnehmer,  sowie  namentlich  über  die  zahlreiche  Betheiligung-  aus  dem  indischen 
Kaiserreich  eine  Kulle.  Der  Gedankengang  seiner  Eede  kehrte  immer  wieder  zu 
dem  socialpolitischen  Programme  möglichster  Förderung  der  „öffentlichen"  oder 
der  „nationalen"  Gesundheit  zurück,  und  innerhalb  des  Rahmens  dieser  Strebungen 
ganz  besonders  zur  Frage  der  Förderung  der  gesundheitlichen  Entwicklung  der 
arbeitenden  Classen  namentlich  in  den  gewaltigen  Centren  der  modernen  Bevöl- 
kerungsanhäufung und  in  den  Gebieten  der  aufs  höchste  gesteigerten  industriellen 
Thätigkeit.  Von  der  „Demographie"  aber  war  in  der  Rede  des  Prinzeu  überhaupt 
nicht  die  Rede;  sie  wurde  in  der  Eröffnungssitzung  nur  von  Körösi  (Budapest) 
einigermaassen  zur  Geltung  gebracht,  der  in  zutreffender  Weise  hervorhob,  dass 
England  als  Mutterland  der  Demographie  angesehen  werden  müsse,  da  gerade 
vor  etwa  200  Jahren  durch  Graunt,  Betty  u.  s.  w.  der  Wissenszweig  geschaffen 
worden  sei,  welchem  heute  neben  der  Hygiene  die  Arbeitsthätigkeit  des  Congresses 
gewidmet  sei. 

Das  Arbeitsprogramm  des  Londoner  demographischen  Congresses  stellte  sich, 
nachdem  man  an  Ort  und  Stelle  zur  Arbeit  versammelt  war,  als  ausserordentlich, 
reichhaltig  heraus,  viel  reichhaltiger,  als  nach  dem  vorher  zur  Versendung 
gelangten  vorläufigen  Programm  zu  erwarten  w^ar.  Für  die  vier  Verhandlungstage 
des  demographischen  Congresses  (oder  der  demographischen  Section  des  Congresses 
für  Hygiene  und  Demographie)  waren  nicht  weniger  als  30  Vorträge  und  Referate 
auf  das  Programm  gesetzt.  Einzelnes  kam  zwar,  theils  wegen  Abwesenheit  der 
Berichterstatter,  theils  wegen  des  störenden  Einflusses  der  sonstigen  Congress- 
arbeit  in  Wegfall;  die  Fülle  des  Stoffs  war  aber  immerhin  noch  eine  übergrosse 
und  dadurch  der  Discussion,  welche  neben  den  Vorträgen  das  eigentlich  belebende 
Element  der  Congresse  bildet,  einigermaassen  der  Boden  entzogen.  In  gleicher 
Richtung  wirkte  die  neben  sehr  massiger  Kenntnis  fremder  Sprachen  bei  den 
Engländern  entschieden  obwaltende  Vorliebe  für  das  Verlesen  ausführlicher  „Papers" 
in  Verbindung  mit  der  Erwartung,  dass  sich  daran  keine  oder  nur  eine  weniger 
tief  eindringende  Erörterung,  vor  allem  aber  —  selbst  da  wo  nicht  wissenschaft- 
liche Fragen,  sondern  Fragen  der  praktischen  Einrichtung  der  Stoffbeschaffung 
erörtert  werden  —  keine  Abstimmung  irgend  welcher  Art  knöpfen  werde.  Wenig 
förderlich  für  den  Gedankenaustausch  im  Schooss  des  Congresses  war  es  auch, 
dass  entgegen  der  ursprünglich  kundgegebenen  Absicht  nur  kurze  Auszüge  aus 
den  Referaten  gedruckt  zur  Vertheilüng  gekommen  waren  (Abstracts  of  papers, 
communicated  to  the  seventh  international  Congress  of  hygiene  and  demography. 
Printed  by  Eyre  and  Spottiswoode,  Her  Majesty's  Printers).  Die  Referate  selbst, 
welche  gleich  den  Auszügen  daraus  von  den  Berichterstattern  behufs  Drucklegung 
eingefordert  worden  waren,  wurden  denselben,  wenigstens  soweit  sie  nicht  aus 
England  waren,  bei  Beginn  des  Congresses  zu  deren  Ueberraschung  zurückgestellt, 
so  dass  bedauerlicherweise  diese  Referate  den  Congressmitgliedern  bei  der 
Berathung  nicht  vorlagen.  Merkwürdigerweise  war  bezüglich  einer  grossen  Zahl 
von  Referaten,  welche  in  englischen  Händen  lagen,  ein  anderes  Verfahren  einge- 
schlagen worden.  Auch  diese  Referate  waren  zwar  vor  der  Verhandlung  nicht 
gedruckt  vertheilt,  aber  sie  wurden  mehrfach  bei  der  Verhandlung  selbst  unter 
die  anwesenden  Zuhörer  (in  provisorischem  Fahnendruck)  vertheilt.  Das  Verständnis 


292  Mayr. 

der  oft  recht  flüchtigen  Paper-Lesung  wurde  dadurch  für  die  Zuhörer  erleichtert; 
es  wäre  aber  erwünscht  gewesen,  dass  Gleiches  auch  bei  ausländischen  Referaten 
geschehen  wäre.  Es  scheint,  dass  die  Sprachenfrage  hier  unerwartete  Schwierig- 
keiten bereitet  hat.  Auch  bei  den  Verhandlungen  selbst  hat  die  Theilnahmslosigkeit 
fast  aller  englischen  Mitglieder  gegen  das  in  anderer  als  in  englischer  Sprache 
Vorgebrachte  manche  wissenschaftliche  Verständigung  erschwert. 

Wie  unter  diesen  Schwierigkeiten  gleichwohl  eine  Anzahl  beachtenswerter 
Anregungen  auf  verschiedenen  Gebieten  der  Statistik  sich  ergeben  hat,  wolle  aus 
folgender  üebersicht  entnommen  werden. 

a)  Bevölkerungsstatistik. 

Hier  ist  vor  allem  des  Präsidenten  der  demographischen  Section  Francis 
Galton  „Opening  address"  zu  nennen.  In  geistreicher  Weise  behandelte  dieselbe 
zwar  nicht  abgeschlossene  Ergebnisse,  aber  beachtenswerte  Zielpunkte  der 
Eorschungen  auf  dem  Gebiete  der  exacten  Bevölkerungslehre ;  oder  wie  er  es 
selbst  bezeichnete,  gewisse  Punkte  der  demographischen  Forschung,  welche  zu 
dem  grossen  Problem  der  zukünftigen  Verbesserung  der  menschlichen  Rasse 
gehören.  Seine  Ausführungen  gipfelten  in  der  Untersuchung  der  Frage,  wie  einer- 
seits die  menschlichen  Generationen  der  verschiedenen  Rassen  zu  verschiedenen 
Zeiten,  unterstützt  durch  die  Factoren,  welche  die  Abstufung  der  Fruchtbarkeit 
bedingen,  sich  geschichtlich  über  den  Erdball  verbreitet  haben,  und  wie  anderer- 
seits eine  Aussicht  sich  eröffnet,  bei  sorgfältiger  Auswahl  des  für  die  Civilisation 
und  Cultur  der  Tropen  geeigneten  Menschenstocks  im  ganzen  eine  Verbesserung 
der  Erdbevölkerung  herbeizuführen. 

Diese  „Rassenverbesserung"  als  praktischer  Zweck  bildet  den  deutlichen 
praktischen  Hintergrund  der  vorhergehenden  theoretischen  Erörterungen  über  die 
relative  Fruchtbarkeit  der  verschiedenen  Classen  und  Rassen  und  über  deren 
Tendenz,  einander  unter  gegebenen  Umständen  aufzusaugen  und  zu  ersetzen.  Im 
einzelnen  beschäftigte  er  sich  weiter  namentlich  mit  der  Frage,  in  wie  weit  die 
Entwickelung  der  Menschheit  in  einem  gegebenen  Lande  günstig  oder  ungünstig 
durch  die  besondere  Civilisationsform  dieses  Landes  beeinflusst  werde,  sodann 
mit  Erörterungen  über  Veränderungen  des  Stärkeverhältnisses  der  einzelnen  Rassen 
und  über  die  Rassenverpflanzung.  Bedeutungsvoll  für  den  Statistiker  ist  die  von 
Galton  ausgesprochene  Aufforderung  die  Untersuchungen  über  die  Fruchtbarkeit 
nicht  bloss  auf  die  grossen  Gesammtzahlen  für  die  einzelnen  Nationen  zu 
beschränken,  sondern  sie  mehr  ins  Detail  zu  führen,  namentlich  in  dem  Sinne, 
dass  das  Maass  der  erblichen  Beständigkeit  der  verschiedenen  socialen  Schichten 
klar  gelegt  würde.  Dabei  scheint  er  auf  die  Untersuchung  der  Extreme  dieser 
Schichten  besonderes  Gewicht  zu  legen. 

Ein  wichtiges  Capitel  bevölkerungs-  und  socialstatistischer  Forschung  wurde 
durch  William  Ogle,  den  Chef  der  amtlichen  Bevölkerungsstatistik  von  England 
und  Wales,  Dr.  Farr's  Nachfolger,  berührt.  Er  hielt  einen  Vortrag  über  Sterb- 
lichkeit in  Beziehung  zum  Beruf.  Die  Messung  der  Sterblichkeit  weiter  zu 
erstrecken  als  auf  die  Ermittlung  der  Todesraten  oder  besonderen  Sterbeziffern 
einiger   Hauptberufsarten,   jedoch   mit   Berücksichtigung    des  Altersaufbaues   der 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  293 

Lebenden  und  Gestorbenen,  lag  nicht  in  seiner  Absicht.  Das  grundsätzliche 
Erfordernis,  dass  man  die  Untersuchung  der  Sterblichkeit  der  einzelnen  Berufs- 
gruppen nach  Altersclassen  der  Lebenden  wie  der  Gestorbenen  abstufen  müsse, 
brachte  er  richtig  zur  Geltung;  seine  eigene  Ausführung  desselben  aber  konnte 
nicht  befriedigen.  Um  nämlich  zu  seiner  vergleichenden  Sterblichkeit  der  männ- 
lichen Personen  von  25  bis  65  Jahren  in  verschiedenen  Berufszweigen  zu  gelangen, 
begnügte  er  sich  mit  der  Ermittlung  der  Todesraten  für  nur  zwei,  viel  zu  weit 
gegriffene  Altersclassen,  nämlich  von  25  bis  45,  und  von  45  bis  65  Jahren, 
indem  er  weiterhin  für  Bemessung  der  relativen  Höhe  der  Sterblichkeit  die  inner- 
halb dieser  zwei  Altersclassen  gefundene  Todesrate  nach  Maassgabe  der  verhältnis- 
mässigen Vertretung  der  beiden  Altersgruppen  in  dem  lebenden  Bestand  der 
betreffenden  Altersclasse  ins  Gewicht  fallen  Hess.  (So  glaube  ich  wenigstens  die 
Erklärung,  welche  Ogle  gibt,  auffassen  zu  dürfen,  wenn  er  sagt,  dass  die  Eaten 
der  erwähnten  beiden  Altersclassen  „have  been  in  each  case  applied  to  a  male 
Population  in  which  those  under  and  those  over  45  bore  a  certain  fixed  Pro- 
portion to  each  other.")  Ausser  der  ungenügenden  Abstufung  der  Altersverhält- 
nisse, welche  eigentlich  einjährig,  mindestens  aber  fünfjährig  hätte  in  Betracht 
gezogen  werden  müssen,  erweckt  die  anscheinend  unsystematisch  und  ungleich- 
artig getroffene  Auswahl  der  Berufsgruppen  Bedenken.  Namentlich  ist  durchaus 
unklar,  in  wie  weit  bei  verschiedenen  Berufsarten  nur  Selbständige,  oder  nur 
Gehilfen  und  Arbeiter,  oder  beide  Gruppen  zusammen  berücksichtigt  sind.  Auch 
die  Schwierigkeit  einer  durchaus  gleichmässigen  Unterscheidung  der  lebenden  und 
der  sterbenden  Bevölkerung  nach  dem  Beruf,  wobei  namentlich  der  Umstand  ins 
Gewicht  fällt,  dass  die  erstere  an  einem  einzigen  Stichtag  eines  Jahres,  die 
letztere  fortlaufend  durch  eine  Eeihe  von  Jahren  ermittelt  wird,  erweckt  bei 
Ogle  keine  Scrupel.  Das  Zahlenmaterial,  welches  den  Berechnungen  zugrunde 
liegt,  stammt  bezüglich  der  Sterbefiüle  aus  den  Jahren  1880,  1881  und  1882; 
als  die  dem  Sterben  Ausgesetzten  sind  die  bei  dem  Census  von  1881  Ermittelten 
behandelt. 

Ogle  legte  überhaupt  —  dabei  offenbar  der  Verbindung  der  Hygiene  mit 
der  Demographie  besondere  Kechnung  tragend  —  geringeres  Gewicht  auf  die 
Darlegung  der  statistischen  Methode  seiner  Berechnungen  und  deren  sorgsame 
Kritik,  als  auf  die  Verwertung  der  gefundenen  Zahlenergebnisse  für  die  prak- 
tische Frage  der  Aufspürung  der  vermuthlichen  Ursachen  einer  gesteigerten  Sterb- 
lichkeit. Diese  Ursachen  zerlegte  er  in  folgende  7  Hauptgruppen:  1.  Arbeit  in 
gedrückter  und  eingeengter  Haltung,  namentlich  wenn  damit  Druck  auf  die  Brust 
verbunden  ist  und  die  Thätigkeit  des  Herzens  und  der  Lunge  beeinträchtigt  wird, 
2.  die  Action  besonderer  Gifte  oder  angreifender  Stoffe,  3.  Uebermaass  der  Arbeit, 
der  körperlichen  wie  der  geistigen,  4.  Arbeit  in  eingeschlossenen  Bäumen  und 
in  verdorbener  Luft  (muthmaasslich  eine  der  Hauptursachen  der  Sterblichkeits- 
erhöhung),  5.  Uebermaass  im  Trinken,  6.  Unfallgefahren,   7.  Staubeinathmung. 

Nach  Ogle  gab  zunächst  Bertillon  (Paris)  einiges  über  ähnliche  — 
allerdings  nur  für  die  Pariser  Bevölkerung  —  in  Frankreich  durchgeführte  Unter- 
suchungen bekannt,  zu  deren  Erläuterung  eine  Reihe  von  graphischen  Darstellungen 
zur  Vertheilung  gelangte.    Dabei   unterliess  Bertillon   nicht  die   Schwierigkeiten 


294  Majr. 

zu  betonen,  welche  sowohl  die  Unterscheidung  nach  dem  Beruf  als  die  Ermittlung 
der  Todesursachen  bietet.  Noch  ernstlicher  geschah  dies  von  Milliet  (Bern), 
welcher  in  zutreffender  Weise  von  „Optimisten"  und  „Pessimisten"  unter  den 
Statistikern  sprach.  Dass  er  die  englischen  Statistiker,  insbesondere  Ogle  bezüglich 
seiner  Berechnungen  über  die  Abstufung  der  Sterblichkeit  nach  Berufsarten  zu 
den  Optimisten  zähle,  bemerkte  er  nicht  ausdrücklich;  nach  dem  oben  über  die 
Ogle'sche  Berechnungsweise  Angegebenen  ergibt  es  sich  aber  von  selbst.  Ein 
unerwartetes  Ferment  in  die  bis  dahin  mehr  bevölkerungs-  als  socialstatistisch 
angehauchte  Discussion  brachte  der  französische  Socialist  Yaillant,  indem  er  als 
erste  und  entscheidende  Ursache  der  höheren  Sterblichkeit  der  arbeitenden  Classen 
die  Arbeitsüberhäufung  geltend  machte  und  den  förmlichen  Antrag  stellte,  dass 
der  Congress  sich  für  den  allgemeinen  achtstündigen  Arbeitstag  aussprechen  möge. 
Damit  brachte  er  den  Präsidenten  Francis  Galton  in  gewaltige  Verlegenheit; 
denn  unter  die  statutarische  Bestimmung,  dass  über  wissenschaftliche  Fragen  nicht 
abgestimmt  werden  dürfe,  war  die  Ablehnung  dieses  Antrages  nicht  zu  bringen. 
Da  es  sich  hier  nicht  um  eine  statistische  Frage  handelt,  steht  es  mir  nicht  zu, 
näher  auf  die  Verhandlungen  über  Vaillant's  Antrag  einzugehen.  Ich  bemerke 
nur,  dass  man  schliesslich  nach  Prüfung  der  Sache  im  Gresammt-Comite  des 
Congresses  den  Ausweg  dahin  fand,  den  Vaillant'schen  Antrag  abzulehnen,  da- 
gegen zu  beschliessen,  dass  die  Frage  der  Dauer  der  Arbeitszeit  und  des  Einflusses, 
welchen  dieselbe  auf  die  Gesundheit  des  Arbeiters  hat,  auf  die  Tagesordnung  des 
nächsten  Congresses  (also  des  für  1894  in  Budapest  in  Aussicht  genommenen 
Congresses)  gesetzt  werden  solle. 

Zu  einer  eingehenden  Debatte  über  Ogle's  und  Bertillon's  Ausführungen 
fehlte  die  Grundlage  eines  vorher  den  Mitgliedern  zugänglichen  Eeferates.  Hervor- 
gehoben sei  hier  Böhmert's  Eingreifen,  welcher  sich  entschieden  auf  die  Seite 
der  „Pessimisten"  stellte.  Ihm  dienen  die  grossen  Zahlen  der  allgemeinen  Sterb- 
lichkeitsstatistik nur  dazu,  die  Eichtung  weiterer  Forschungen  anzudeuten,  nament- 
lich insofern  sie  es  ermöglichen  die  besonders  gefährdeten  Berufe  zu  erkennen.  Die 
Ursachenerforschung  aber  —  aufweiche  gerade  Ogle  mit  besonderer  Vorliebe 
eingegangen  war,  möchte  er  erst  von  weiterer,  allerdings  mühsamer,  Einzel- 
forschung abhängig  machen.  Die  möglichst  weitgreifende  Verbreitung  solcher 
Einzelforschungen  im  Sinne  der  Le  Play'schen  Schule  befürwortet  er  auf 
das  wärmste. 

War  auch  die  Debatte  über  den  Zusammenhang  zwischen  Sterblichkeit  und 
Beruf  nicht  sehr  fruchtbar,  so  ist  doch  die  Behandlung  dieses  Gegenstandes  auf 
dem  Londoner  demographischen  Congresse  darum  dankenswert,  weil  sie  eine 
Mahnung  an  die  amtliche  Statistik  vieler  Länder  enthält,  der  Sammlung  der 
Nachweise  über  die  Berufszugehörigkeit  der  Bevölkerung  und  insbesondere  der 
statistisch-technischen  Ausbeutung  dieser  Nachweise  grössere  Aufmerksamkeit  zu- 
zuwenden als  diese  zur  Zeit  der  Fall  ist.  Ein  „Caeterum  censeo",  welches  gegen- 
über jeder  Völkszählung  zu  verkünden  wäre,  müsste  dahin  gehen:  Keine  Erfragung 
einer  Thatsache  ohne  entsprechende  Auszählung  der  constatierten  thatsächlichen 
Verhältnisse,  also  keine  Ermittlung  von  Beruf  und  Erwerb  ohne  gleichzeitige 
Herstellung  einer  Berufsstatistik!  Leider  wird  hiegegen  sehr  vielfach  gefehlt;  auch 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  295 

in  Deutschland,  wo  die  grossartige  berufsstatistische  Erhebung  von  1882  ein  so 
kostbares  Vergleichsmaterial  bot,  hat  man  leider  auf  eine  Ausnützung  der  Auf- 
zeichnungen von  1890  über  die  Berufsverhältnisse  für  die  Zwecke  der  Eeichs- 
statistik  verzichtet.  Eine  weitere  specielle  Mahnung,  welche  sich  aus  der  Belebung 
des  Interesses  an  der  Ermittlung  der  Lebensgefährdung  der  verschiedenen  Berufe 
ergibt,  geht  dahin,  keine  Berufsstatistik  ohne  weitgehende  Combination  mit 
Altersabstufungen  vorzunehmen.  Die  deutsche  Berufsstatistik  von  1882  hat  eine 
Reihe  von  Altersclassen  berücksichtigt,  die  österreichische  Auszählung  der  Volks- 
zählungsergebnisse von  1890  thut  das  Gleiche.  Es  wäre  zu  wünschen,  dass  man 
mindestens  probeweise,  für  einzelne  besonders  abgrenzbare  und  interessante 
Berufsgruppen  noch  weiter  gienge,  und  bei  Lebenden  wie  Gestorbenen  die  Com- 
bination mit  den  einzelnen  Lebensjahren  zur  Durchführung  brächte. 

Mit  einer  Specialfrage  auf  dem  Gebiete  der  Forschungen  über  die  Einflüsse, 
welche  die  Leblichkeit  der  Generationen  bestimmen,  beschäftigte  sich  Körösi  in 
seinem  Vortrag  über  den  Einfluss  des  Alters  der  Eltern  auf  die  Leblich- 
keit der  Kinder.  Körösi  hatte  in  zweckmässiger  Weise  dafür  gesorgt,  dass 
sein  Vortrag  gleichzeitig  gedruckt,  und  zwar  in  englischer  Sprache,  zur  Ver- 
theilung  gelangte.  Indes  war  es  nicht  möglich  im  Eahmen  der  sich  anschliessen- 
den Debatte,  tiefer  in  das  Materielle  seiner  Forschungsweise  einzugehen.  Es 
wurde  nur  im  allgemeinen  bemerkt,  dass  Eubin-Wertergaard  ähnliche  Unter- 
suchungen angestellt  hätten  (auf  die  übrigens  Körösi  selbst  in  einer  Anmerkung 
verwiesen  hatte),  wie  auch  Böckh  für  Berlin.  In  sachlicher  Beziehung  wurde 
kurz  hervorgehoben,  dass  eine  Vertiefung  der  Untersuchung  durch  Unterscheidung 
socialer  Hauptgruppen  der  Bevölkerung  geboten  erscheine.  Der  Vorsitzende, 
Francis  Galton,  bei  welchem  durchwegs  eine  starke  Hinneigung  zu  natur- 
wissenschaftlicher Betrachtungsweise  sieb  geltend  machte,  meinte,  man  solle  die 
in  Frage  stehenden  Untersuchungen  durch  analoge  Beobachtungen  bei  Hausthieren 
ergänzen.  Wäre  die  Körösische  Brochüre  (On  the  influence  of  the  age  of 
parents  on  the  vitality  of  their  children  Budapest  1891)  früher  in  den  Händen 
der  Mitglieder  gewesen,  so  würde  wohl  auch  gegen  die  gesammte  Methode  seiner 
Ermittlungen  und  Berechnungen  mancher  Widerspruch  sich  erhoben  haben.  Dass 
sein  Material  nicht  massenhaft  genug  ist,  wenigstens  vorerst,  hebt  er  selbst 
hervor.  Ausserdem  aber  möchte  ich  zwei  Bedenken  zum  Ausdruck  bringen.  Der 
Gedanke,  die  Todesursachen  der  innerhalb  der  ersten  zehn  Lebensjahre  gestorbenen 
Kinder  in  „uterine"  und  „extrauterine",  d.  h.  solche,  welche  allenfalls  noch  auf 
die  mütterliche  Constitution  zurückgeführt  oder  nicht  zurückgeführt  werden  können, 
zu  unterscheiden,  verdient  alle  Anerkennung.  Dagegen  scheinen  mir  die  Schwierig- 
keiten unterschätzt,  welche  seiner  Ausführung  entgegenstehen.  Wenn  für  irgend 
ein  Alter,  so  sind  gerade  für  das.  jugendliche,  und  insbesondere  für  das  erste 
Kindesalter  die  Diagnosen  der  Todesursachen  durchaus  unzuverlässig  und  ver- 
schwommen, selbst  da,  wo  ärztliche  Hilfe  geleistet  worden  war,  während  in  den 
Fällen,  wo  keine  ärztliche  Behandlung  platzgegriffen  hatte,  die  Verhältnisse  noch 
ungünstiger  liegen.  Abgesehen  aber  hievon  bietet  auch  die  Einreihung  selbst 
correct  festgestellter  Todesursachen  in  die  eine  oder  die  andere  von  den  zwei 
Hauptgruppen  grosse  Schwierigkeit.    Ich    greife   die  „Atrophie"   heraus.    Körösi 


296  Mayr. 

rechnet  sie  zu  der  uterinen  Gruppe;  für  die  allerjüngsten  Kinder,  etwa  während 
des  ersten  Lebensmonats  mag  dies  im  allgemeinen  zutreffen.  Im  weiteren  Verlauf 
des  Kindeslebens  aber  wird  die  Atrophie  mehr  und  mehr  als  Folge  nicht  einer 
schwachen  mütterlichen  Constitution,  sondern  der  Vernachlässigung  der  Ernährung 
des  Kindes,  also  als  eine  echte  „extrauterine"  Todesursache  auftreten.  Man  sehe 
nur,  welchen  gewaltigen  Antheil  diese  Todesursache  an  der  hohen  Kindersterb- 
lichkeit in  Süddeutschland  hat;  daraus  auf  eine  entsprechende  kindergefährdende 
Constitution  der  Mütter  zu  schliessen,  wäre  ein  grosser  Trugschluss. 

Das  zweite  Bedenken  gründet  sich  darauf,  dass  Körösi  vorerst  nur  die 
verhältnismässige  Betheiligung  gewisser  Todesursachen  in  Betracht  zieht,  und  nicht 
die  Intensität  der  Lebensbedrohung  an  sich.  Das  wird  allerdings  nach  Gewinnung 
des  bei  der  Volkszählung  von  1890  erhobenen  zur  Berechnung  dieser  Lebens- 
bedrohung erforderlichen  Grundmaterials  besser  werden.  Dann  wird  Körösi  wohl 
selbst  dazu  kommen,  auf  die  Todesursachenunterscheidung  geringeres  Gewicht  zu 
legen,  dafür  aber  mit  um  so  grösserer  Sorgsamkeit  die  Grade  der  allgemeinen 
Lebensbedrohung  der  Kinder,  abgestuft  nach  den  Altorsverhältnissen  der  Eltern, 
uns  vorzuführen. 

Als  Anregung  zu  Sonderforschungen  auf  dem  zweifellos  interessanten  Gebiete 
des  Einflusses  der  elterlichen  Altersverhältnisse  auf  die  Kinder  sind  auch  die 
vorläufigen  Forschungen  Körösi' s,  wenn  sie  auch  erhebliche  methodische  Be- 
denken gegen  sich  haben,  immerhin  von  Interesse.  In  dieser  Beschränkung  sind 
auch  seine  Schlussfolgerungen  entgegenzunehmen,  in  welchen  er  alte,  weltbekannte 
Klugheitsregeln  in  das  Gewand  exact  begründeter  statistischer  Wahrheiten  kleidet, 
so  z.  B.,  dass  Mädchen  nicht  vor  20  Jahren  heiraten,  alte  Männer  nicht  zu 
junge  Mädchen  heiraten,  weibliche  Wesen  von  30  bis  35  Jahren  Männer  über 
50  Jahre  heiraten  sollten,  u.  s.  w. 

Die  tiefergehende  Nutzanwendung,  welche  ich  aus  der  Erörterung  der  vor- 
bezeichneten Fragen  für  die  Statistik  ziehe,  geht  dahin,  dass  man  allen  Grund 
hat,  der  emsigen  Thätigkeit  Dank  zu  wissen,  mit  welcher  in  einigen  der  bedeu- 
tendsten communalstatistischen  Aemter  die  filigranartig  verschlungene  Forschung 
nach  den  innersten  Zusammenhängen  bevölkerungsstatistischer  Vorgänge  gefördert 
wird.  Können  auch  nicht  alle  diese  Probleme  der  grossen  Massenerprobung  durch 
das  Material  ganzer  Länder  unterstellt  werden,  so  werden  sich  doch  im  Laufe 
der  Zeit  einzelne  Gesichtspunkte  der  Forschung  als  so  bedeutungsvoll  heraus- 
stellen, dass  auch  die  amtliche  Bevölkerungsstatistik  der  Staaten  nicht  wird 
umhin  können,  denselben  Rechnung  zu  tragen. 

Ein  beachtenswertes  Beispiel  sorgsamer  Sonderbehandlung  der  Statistik 
einer  speciellen  Todesursache  lieferte  Alfred  Haviland  mit  seinem  Vortrag  über 
den  Einfluss  von  Thon-  und  Kalkformationen  auf  die  medicinische 
Geographie,  erläutert  an  Nachweisen  über  die  geographische  Verbreitung  des 
Krebses  bei  Frauen  in  England  und  Wales.  Der  Vortrag  wurde  durch  zahlreiche 
Cartogramme  erläutert;  das  Material  umfasste  die  Jahre  1851  —  60  und  1861  —  70; 
das  Jahrzehnt  1871  —  80  war  ausser  Betracht  gelassen,  weil  das  „Kegistrar- 
General's  Supplement"  für  dasselbe  in  einer  vom  Vortragenden  lebhaft  bedauerten 
Abweichung  von  dem  durch  Dr.  Farr  seinerzeit  befolgten  Muster  —  die  Trennung 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1881.  297 

der   Geschlecliter    bei   Anfülirung   der   Todesursachen  in   den  630  Eegistrierungs- 
Districten  unterlassen  hat. 

Das  Resultat  der  Forschungen  Havilands  geht  dahin,  der  Kalksteinfor- 
mation eine  geringere  Krebshäufigkeit  zuzuschreiben,  vrobei  jedoch  zu  bemerken 
ist,  dass  solches  für  das  Jahrzehnt  1861 — 70  bei  im  ganzen  gesteigerter  Sterb- 
lichkeit der  Weiber  an  dieser  Krankheit  viel  weniger  hervortritt,  so  dass  man 
fast  vermuthen  möchte,  es  würde  für  1871 — 80  bezw.  1881 — 90,  wenn  für  diese 
Jahrzehnte  aus  den  Nachweisen  der  Einzelberichte  des  Registrar  General  über 
die  Todesursachen  in  den  Registrierungs-Grafschaften,  ein  allerdings  nicht  ganz 
vergleichbares  Material  zusammengesucht  wird,  der  Unterschied  noch  weiter  ver- 
schwinden. 

Es  ist  indessen  nicht  meine  Absicht  auf  diese  Specialfrage  hier  weiter  ein- 
zugehen ;  sondern  nur  daraus  Veranlassung  zu  nehmen  im  allgemeinen  die 
Mahnung  an  die  Vertretet',  insbesondere  der  amtlichen  Statistik  auf  sorgsame 
Pflege  des  geographischen  Details  der  Statistik  zu  erheben.  Die  Sache  ist  aller- 
dings mühsam  und  bringt  nicht  die  rasche  und  willkommene  Ernte,  wie  eine 
Berücksichtigung  grosser  Durchschnittsverhältnisse  ganzer  Länder,  aber  die  lang- 
sam reifende  Ernte  liefert  hier  schliesslich  doch  die  wissenschaftlich  wertvollere 
Frucht.  Als  langjähriger  Befürworter  der  „geographischen  Methode"  der  Statistik 
auch  zu  jener  Zeit,  da  ich  in  der  Lage  war,  derselben  in  amtlichen  statistischen 
Arbeiten  für  Bayern  Folge  zu  geben,  darf  ich  wohl  noch  einen  Augenblick  hiebe! 
verweilen.  Es  ist  mir  nämlich  darum  zu  thun,  klarer  als  ich  es  früher,  insbeson- 
dere auch  zuletzt  in  meiner  „Gesetzmässigkeit  im  Gesellschaftsleben''  gethan  habe, 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  in  welcher  Weise  in  der  statistischen  Methodologie  das 
geographische  Moment  Berücksichtigung  finden  solle. 

Meines  Erachtens  thut  man  gut,  die  geographische  Betrachtungsweise  einer- 
seits, und  die  statistisch-geographisehe  Methode  andererseits  zu  unterscheiden. 
Geographische  Betrachtungsweise  liegt  dann  vor,  wenn  man  die  Beobachtungs- 
ergebnisse in  räumlicher  Hinsicht  derart  zusammenfasst,  dass  sie  nicht  nach 
administrativen  Grenzen,  sondern  nach  geographisch  von  einander  sich  abhebenden 
Gebieten  oder  Zonen  gruppiert  sind;  hier  sind  topographische,  hydrographische, 
geognostische  und  ähnliche  Gebietsbildungen  in  Frage.  Was  ich  jetzt  „statistisch 
geographische"  Methode  nenne,  habe  ich  zuerst  theoretisch  behandelt  in  der 
Zeitschrift  des  k.  bayer.  statistischen  Bureau,  Jahrg.  1871.  (Zur  Verständigung 
über  die  Anv.endung  der  „geographischen  Methode"  in  der  Statistik.  Eine  Vor- 
studie zu  dem  internationalen  statistischen  Congresse  in  St.  Petersburg.)  Das  Wesen 
dieser  Methode  besteht  darin,  dass  an  Stelle  der  Benützung  blosser  Haupt- 
Durchschnittsergebnisse  grösserer  administrativer  Bezirke  die  eigenartige  geogra- 
phische Gestaltung  der  verschiedenen  Abstufungen  einer  statistisch  beobachteten 
concreten  Thatsachenerscheinun^*  ermittelt  wird.  Hiezu  ist  es  nöthig  zu  kleineren, 
und  zwar  „möglichst  kleinen"  aber  nicht  „zu"  kleinen  Raumabschnitten  bei  der 
statistischen  Materialverwertung  herabzusteigen.  Dann  prüft  man,  ob  bei  diesem 
Verfahren  eine  Xebeneinanderlagerung  grösserer  oder  kleinerer  räumlicher  Complexe 
mit  gleichen  oder  ähnlichen  Erscheinungsabstufungen  sich  zeigt.  Ist  dies  der  Fall, 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  II.  Heft.  20 


298  Majr. 

dann  erweist  sich  die  statistisch-geographische  Methode  als  wirksames  Reagens. 
Die  neuen  Complexe,  die  man  so  findet,  sind  also  keine  festen  geographischen 
Bezirke  im.  gewöhnlichen  Sinn,  sondern  je  nach  dem  concreten  statistischen  Ob- 
ject  wechselnde  „statistische  Bezirke  in  geographischer  Lagerung."  Auch  hier  ge- 
bietet das  praktische  Bedürfniss  den  Anschluss  an  die  kleinsten  Verwaltungsbezirke, 
doch  mag  man  immerhin  bei  besonders  interessantem  Grenzverlauf  der  statistischen 
Bezirke  noch  weitere  Localforschung  behufs  genauerer  Bestimmung  des  Grenzzugs 
machen.  Zu  ihrem  vollen  Wert  als  statistisches  Eeagens  kommt  die  statistisch- 
geographische Methode,  wenn  man  die  für  eine  gegebene  Thatsachenerscheinung 
festgelegten  speciellen  statistischen  Bezirke  benützt,  um  für  die  gleichen  Bezirke 
in  der  ihnen  eigenen  Abstufung  Yergleichungsmaterial  zusammenzustellen.  Bei 
diesen  gegenständlichen  Yergleichungen  kommt  man  dem  am  nächsten,  was  das 
Experiment  in  der  Naturwissenschaft  leistet.  Auf  dem  Gebiete  der  für  die  Cau- 
salitätserforschung  wichtigen  Gruppierung  der  erkannten  Thatsachen  leistet  die 
statistisch-geographische  Methode  bedeutendes. 

Im  Zusammenhang  mit  der  Frage  der  allgemeinen  Sterblichkeit  stand  der 
Vortrag  über  die  Tauglichkeit  tropischer  Hochländer  für  europäische 
Besiedelung  von  E.  Felkin,  Lehrer  der  tropischen  Krankheiten  an  der 
medicinischen  Schule  von  Edinburg.  Es  darf  jedoch  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass 
gerade  die  statistischen  Grundlagen  des  Referates,  welche  die  Beurtheilung  der 
Gesundheitsverhältnisse  lediglich  auf  die  allgemeine  Sterbeziffer,  und  zwar  vielfach 
nur  nach  Ermittlungen  für  kurze  Zeiträume  gründeten,  nicht  unanfechtbar  waren. 
Der  Referent  hatte  sich  zur  Aufgabe  gestellt,  die  Höhenzonen  zu  bestimmen, 
innerhalb  deren  Europäern  nicht  bloss  eine  vorübergehende  Acclimatisierung, 
sondern  eine  intensive  und  dauernde  Angewöhnung  an  das  Klima  ermöglicht 
würde,  so  dass  sie  im  Stande  wären,  ständig  dort  zu  leben,  zu  arbeiten  und 
Familien  zu  begründen  und  erhalten.  Das  Schlussergebnis  der  Meinung  des 
Referenten  ist,  dass  bei  einer  Höhe  von  4000  Fuss  erst  die  Wahrscheinlichkeit 
das  bezeichnete  Ziel  zu  erreichen  beginnt  und  zwar  nur  für  Portugiesen,  Spanier 
und  Italiener.  Für  die  Briten  und  Norddeutschen  (von  den  anderen  Deutschen, 
den  Oesterreichern,  Franzosen  u.  s.  w.  war  merkwürdigerweise  überhaupt  nicht 
die  Rede!)  verlangte  Referent  sogar  eine  Höhenlage  von  6000  bis  10.000  Fuss, 
und  auch  da  müsste  noch  der  Ansiedlungspunkt  sorgfältigst  unter  Berücksichtigung 
aller  gesundheitlichen  Vorsichtsmaassregeln  ausgesucht  werden.  Die  eigentlich 
typischen  Höhenzonen  für  die  Besiedelung  der  Tropen  durch  die  Briten  und  die 
Norddeutschen  seien  die  Lagen  zwischen  5000  und  7000  Fuss. 

Zu  der  darauf  folgenden  Debatte  hatten  sich  namhafte  Hygieniker  namentlich 
aus  dem  am  Colonialbesitz  interessierten  Holland  (Ov  erb  eck -Meyer  und  Stock- 
fish)  eingefunden,  welche  gegenüber  der  sehr  generalisierenden  und  pessimistischen 
Auffassung  des  Referenten  eine  mehr  optimistische  Auffassung  vertraten.  Für  die 
statistische  Seite  der  Frage  fiel  bei  der  im  übrigen  sehr  interessanten  Debatte 
wenig  ab;  ich  darf  deshalb  nicht  näher  darauf  eingehen;  doch  hebe  ich  hervor, 
dass  Ov  erb  eck -Hey  er  auf  die  in  den  holländischen  Colonien  beobachtete  zeit- 
liche Abnahme  der  Sterblichkeit  hinwies,  und  dass  Cl.  Markham  in  interessanter 
Weise  über  die  Beobachtungen  berichtete,  Avelche   aus  Indien  und  Amerika  über 


Die  Statistik  aui  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  299 

die  Fortpflanzung  weisser  Familien  durci  eine  Reihe  von  Generationen  in  den 
Tropen  vorliegen.  Milliet  fand  Anlass  der  Behauptung  des  Referenten  über  die 
vermeintliche  Krankheitslosigkeit  der  schweizerischen  Hochthäler  entgegenzutreten, 
und  Knapp  schloss  sich  als  „Historiker"  den  Optimisten  an;  auch  Europa  sei, 
wenn  man  die  Jetztzeit  beispielsweise  mit  jener  des  Tacitus  vergleiche,  sanitarisch 
sehr  verbessert  worden,  nicht  durch  hygienische  Congresse  und  deren  Beschlüsse, 
sondern  durch  die  Cultur;  wie  in  Europa  der  Anbau  sich  zugleich  zur  Assanierung 
gestaltet  habe,  so  dürfe  man  auf  eine  Assanierung  der  Tropen  durch  bewusste 
Culturthätigkeit  erwarten. 

War  das  letzterwähnte  Thema  auch  nur  zum  kleineren  Theil  ein  statistisches, 
so  diente  es  doch  dazu,  nach  zwei  Richtungen  das  Interesse  an  statistischer 
Specialforschung  zu  beleben,  erstens,  insoweit  die  Sterblichkeitsstatistik  der  Colonien 
in  Frage  kommt,  welcher  —  bei  der  hohen  wissenschaftlichen  und  praktischen 
Bedeutung  derselben  —  der  höchste  Grad  der  Durchbildung  zu  wünschen  ist,  und 
zweitens,  insofern  es  sich  um  Sonderstudien  über  die  Gestaltung  der  Sterblichkeit 
nach  der  Höhenlage  bei  uns  handelt.  Damit  ist  ein  umfassendes  Problem  eigen- 
artiger Anwendung  der  geographischen  Methode  der  Statistik  gestellt,  wobei  die 
Höhenzonen  die  unter  besondere  Beobachtung  zu  stellenden  geographischen 
Bezirke  bilden. 

Auf  das  Gebiet  der  Wanderungen  führte  ein  sehr  beachtenswerter  Vor- 
trag über  zeitweilige  Wanderungen  zu  Arbeitszwecken  von  Raven- 
stein,  welcher  in  der  statistischen  Literatur  über  das  Wanderungswesen  durch 
seine  Veröffentlichungen  über  die  „Laws  of  migration"  im  Journal  der  Londoner 
Statistischen  Gesellschaft  vortheilhaft  bekannt  ist.  (Der  zweite  Theil  dieser  Aus- 
führungen ist  im  Juiiiheft  1889  des  Journal  of  the  Royal  Statistical  Society 
erschienen.)  Ravenstein  charakterisierte  die  drei  verschiedenen  Gruppen,  in  welche 
er  die  Wanderungen  überhaupt  theilt,  folgendermaassen.  Die  erste  Gruppe  um- 
fasst  die  zeitweiligen  Wanderungen  von  kurzer  Dauer;  es  handelt  sich  bei  diesen 
um  die  nach  Jahres-  oder  Betriebszeiten  sich  richtende  Weg-  und  Rückwanderang 
Die  zweite  Gruppe  bilden  die  zeitweiligen  Auswanderungen  von  längerer,  mehr- 
jähriger Dauer,  bei  welchen  aber  durchweg  die  Absicht  der  Rückwanderung  noch 
besteht.  Die  dritte  Gruppe,  auf  welche  in  dem  Vortrag  nach  dessen  Begrenzung 
grandsätzlich  nicht  weiter  eingegangen  wurde,  sind  die  dauernden  Auswanderungen, 
bei  welchen  eine  Rückwanderungsabsicht  nicht  vorliegt.  Zu  den  beiden  Formen 
der  zeitweiligen  Auswanderung  gab  Ravenstein  eine  Reihe  interessanter  Bei- 
spiele; von  besonderem  Interesse  waren  die  Mittheilungen  über  einen  ansehn- 
lichen Exodus  von  städtischer  Bevölkerung  aus  London  nach  den  benachbarten 
Grafschaften  gelegentlich  der  Ernte,  insbesondere  von  Früchten  aller  Art  und  von 
Hopfen.  Ravenstein,  der  übrigens  durch  Geburt  Deutschland  angehört,  zeigte 
sich  auch  als  Kenner  der  einschlägigen  deutschen  Verhältnisse.  Eine  social- 
politische  Frage  besonderer  Art,  welche  gleichfalls  gestreift  wurde,  bezieht  sich 
auf  die  Einfuhr  von  Arbeitermassen,  welche  auf  einer  niedereren  Stufe  der  Lebens- 
haltung und  Bildung  stehen,  z.  B.  der  Kulis.  Ravenstein  betonte  hiebei,  dass 
eine  derartige  Zuwanderung  unenv^ünscht  sein  und  bleiben  müsse;  eine  wichtige 
Voraussetzung  der  Zweckmässigkeit  der  Zufuhr   fremder  Arbeitermassen  bilde  die 

20* 


300  ^^^y^'- 

annähernde  Gleichartigkeit  des  Wesens  und  Charakters  der  einheimischen  und  der 
zugeführten  Arbeitermassen. 

In  der  Debatte  machte  der  bekannte  englische  Statistiker  Mouat,  welcher 
lange  Zeit  seines  Lebens  in  Indien  vervreilt  hatte,  einige  Bemerkungen  über  die 
Kulifrage,  hob  aber  hervor,  dass  er  nicht  in  der  Lage  gevresen  sei,  das  ein- 
schlägige Material  zur  Sitzung  mitzubringen,  weil  der  Eavenstein'sche  Bericht 
leider  vorher  den  Mitgliedern  des  Congresses  im  Druck  nicht  zugegangen  sei. 
Dieser,  auch  sonst  allgemein  hervortretende  Mangel  an  genügender  technischer 
Vorbereitung  der  Congressarbeiten  beeinträchtigte  überhaupt  die  Berathungen  in 
erheblichem  Maasse.  Nachdem  noch  sonst  von  englischer  Seite  einige  Bemerkungen 
zur  Sache  gemacht  waren,  von  denen  insbesondere  jene  von  Grimshaw,  Eegistrar- 
General  von  Irland,  über  die  irische  Ausvranderungsfrage  beachtenswert  waren, 
ergriff  Eichmond  Mayo  Smith  vom  Columbia-College  in  New- York  —  bekannt 
durch  sein  treffliches  Buch  „Emigration  and  Immigration,  New-York  1890"  —  das 
Wort  zu  einer  interessanten  Kennzeichnung  des  nordamerikanischen  Standpunktes 
in  der  Einwanderungsfrage.  Er  erkannte  an,  dass  Nordamerika  seine  ganze  heutige 
Grösse  in  der  Hauptsache  der  Einwanderung  schulde,  meinte  aber  doch,  dass 
die  zahlreichen  schlimmen  Elemente,  welche  unter  den  Einwanderern  sich  befinden, 
ernste  Sorge  bereiten  müssten.  Dabei  nahm  er  nicht  bloss  auf  die  dauernde 
Einwanderung  aller  Art  aus  anderen  Welttheilen  Bezug,  sondern  auch  auf  die  zeit- 
weilige Einwanderung  aus  Canada  nach  den  östlichen  Staaten  der  Union.  Er 
meinte,  durch  die  Gestaltung,  v.^ eiche  heute  die  Einwanderung  in  die  Vereinigten 
Staaten  gewonnen  habe,  trete  eine  bedenkliche  Verschiebung  der  wirtschaftlichen 
und  socialen  Verhältnisse  ein.  Die  auf  die  amerikanische  Demokratie  zuge- 
schnittenen „socialen  Arrangements"  würden  in  der  unerwünschtesten  Weise  über 
den  Haufen  geworfen  und  in  wirtschaftlicher  Beziehung  biete  die  billige  fremde 
Arbeit  keine  genügende  Compensation  für  die  in  den  Kauf  zu  nehmenden 
geringeren  Charaktereigenschaften  der  Arbeiter.  Nachdem  Eaven stein  noch  betont 
hatte,  dass  man  über  den  heutigen  Zustand  der  englischen  Landarbeiter  nicht 
genügend  unterrichtet  sei  und  demgemäss  die  Vornahme  einer  besonderen 
parlamentarischen  Untersuchung  hierüber  befürwortet  hatte,  nahm  Knapp 
Anlass,  darauf  hinzuvreisen ,  dass  in  Preussen  derartige  Untersuchungen  fort- 
während —  zwar  nicht  in  der  officiellen  Form  einer  parlamentarischen  Enquete, 
aber  halbofficiell  durch  das  Hinausschicken  von  Beamten  und  jungen  Gelehrten 
zum  Zwecke  der  Untersuchung  der  Verhältnisse  an  Ort  und  Stelle  vorgenommen 
werden.  Dabei  wies  er  namentlich  auf  die  bezüglichen  Specialarbeiten  über 
die  Sachsengängerei  und  über  die  Zustände  in  den  östlichen  preussischen 
Provinzen  hin. 

Die  Behandlung  der  Wanderungsstatistik  auf  dem  Londoner  Congresse  war 
dazu  angethan,  das  Interesse  an  dem  sorgsamen  Ausbau  derselben,  an  welchem 
es  übrigens  in  unserer  socialpolitisch  veranlagten  Zeit  ohnedies  nicht  fehlt,  ernst- 
lich aufzufrischen.  Man  wird,  wenn  man  sich  eine  Gewissenserforschung  auf 
diesem  Gebiete  der  Statistik  angelegen  sein  lässt,  dazu  kommen,  dass  man  einer- 
seits eine  gründliche,  zu  den  kleinen  Verwaltungsbezirken  herabsteigende  Aus- 
beutung   der    Gebürtigkeitsstatistik    befürwortet    und    andererseits    in    Erwägung 


Die  Statistik  auf  drei  inlernatioiialeii  Congressen  des  Jahres  1891.  301 

nimmt,  in  welcher  Weise  die  bisher  von  der  amtlichen  Statistik  noch  sehr  yer- 
nachlässig'ten  zeitweiligen  Wanderungen  erfasst  werden  können.  Eine  gute  Gebürtig- 
keitsstatistik  hält  die  dauernden  Effecte  des  Wanderwesens  sehr  gut  fest:  recht 
wünschenswert  wäre  es  dabei  die  Ergebnisse  unserer  Winterzählungen  gelegentlich 
durch  jene  einer  Sommerzählung  ergänzen  zu  können.  Was  aber  die  zeitweiligen 
kurzdauernden  Wanderungen  anlangt,  so  wird  man  überlegen  müssen,  wie  mittelst 
Erfassung  am  Wegvranderungs-  und  Zuwanderungsplatz,  vielleicht  auch  einiger- 
maassen  durch  Feststellung  auf  dem  Wanderzuge  selbst  mittelst  der  Eisen- 
bahnverkehrs-Statistik eine  möglichst  genaue  zahlenmässige  Feststellung  jener 
eigenartigen  Wanderbewegungen  möglich  ist,  deren  wirtschaftliche  und  sociale 
Bedeutung  als  notorisch  angesehen  werden  kann. 

Ein  ansehnlicher  Theil  der  Verhandlungen  des  Londoner  demographischen 
Congresses  war  somatologischen  Erörterungen  verschiedenster  Art  gewidmet, 
bei  welchen  die  Grenze  zwischen  naturwissenschaftlicher  Einzelbeobachtung  und 
statistischer  Massenbeobachtung  nieht  immer  streng  eingehalten  wurde.  Ausser  dem 
wissenschaftlichen  Interesse  an  Feststellung  menschlicher  Körperverhältnisse  trat 
dabei  auch  das  praktische  Interesse  der  Verwaltung  insbesondere  der  Strafrechts- 
pflege in  den  Vordergrund.  Man  beschäftigte  sich  nämlich  vor  allem  mit  der 
Frage,  wie  es  zu  ermöglichen  ist,  die  Identificierung  einer  Person  aufgrund 
vorgängiger  somatologischer  Feststellungen  auch  bei  massenhaft  zu  bevrältigendem 
Material  in  sicherer  Weise  durchzuführen.  Dies  war  auch  die  Frage,  mit  welcher 
der  Präsident  des  demographischen  Congresses,  Francis  Galton,  sich  selbst  in 
eingehender  Weise  beschäftigt  hatte.  Nach  seiner  Ansicht  bildet  die  Gewinnung 
von  Abdrücken  der  Hautzeichnungen  der  Finger  das  beste  Mittel  der  Identi- 
ficierung. Dem  gegenüber  vertrat  der  Pariser  Communalstatistiker  Bertillon  das 
von  seinem  Bruder  erfundene  und  seitdem  weithin  (insbesondere  in  Amerika) 
zur  Anwendung  gelangte  „Bertillon'sche  System"  der  Identificierung,  welches  auf 
einer  sinnreichen  Combination  der  Photographie  mit  einer  Auswahl  von  Messungen 
bestimmter,  möglichst  unveränderlicher  und  genau  messbarer  Körpertheile  beruht. 
Es  wäre  vorlockend,  hier  näher  auf  die  «Darlegung  dieses  Identificierungsverfahrens 
einzugehen;  da  ich  mir  aber  die  Bedeutung  des  Congresses  für  die  „Statistik" 
zu  erörtern  vorgenommen  habe,  trage  ich  Bedenken;  denn  diese  zu  praktischen 
Zwecken  vorgenommenen  Körpermessungen  stehen  nur  in  entferntem  Zusammen- 
hang mit  der  Beschaffung  von  Material  für  die  Statistik  als  Wissenschaft  der 
exacten  Gesellschaftslehre. 

Gleiches  gilt  von  einigen  weiteren  somatologischen  Erörterungen,  die  sich 
zum  Thoil  ganz  in  die  unstatistische  Einzelbeobachtung  verloren.  Einigermaassen 
statistischen  Charakter  trugen  die  Vorträge  von  Warner  über  physische  Be- 
schaffenheit von  Schulkindern  und  die  locale  Vertheilnng  der  Bedingungen 
mangelhafter  Entwicklung,  und  von  Miss  Fowke  über  die  physischen  Zu- 
stände armer  Kinder,  welche  auswärts  (d.  h.  nicht  in  Arbeitshäusern)  ver- 
pflegt werden.  Die  erstere,  auf  50.000  Schulkinder  sich  beziehende  Special- 
untersuchung wird  bei  dem  Ausbau  exacter  schulhygienischer  Beobachtungen, 
welche  in  Zukunft  ein  selbstverständliches  Correlat  des  Schulzwanges  bilden 
werden,  mit  Nutzen  verwertet  werden  können. 


302  Mayr. 

b)  Wirtschaftliche  Statistik. 

Wirtschaftliche  Fragen  finden  in  England  allseitig  Beachtung.  Es  war  daher 
zu  erwarten,  dass  sie  auch  unter  den  Yerhandlungsgegenständen  des  demo- 
graphibchen  Congresses  nicht  fehlen  würden.  In  der  That  kam  Verschiedenes^ 
was  dem  wirtschafts-  und  socialpolitischen  Gebiet  angehört,  zur  Sprache;  aber 
nur  vereinzelt  handelte  es  sich  dabei  um  statistische  Angelegenheiten,  möge  man 
nun  die  statistische  Methode  oder  die  Darlegung  statistischer  Ergebnisse  im  Auge 
haben.  Auf  diese  wirtschaftspolitisch  interessanten  Verhandlungen  über  das  Spar- 
wesen in  England,  über  die  Gewinnbetheiligung  in  England,  die  Hausindustrie  in 
Kussland,  welche  statistisch  keine  Ausbeute  bieten,  einzugehen,  habe  ich  hier 
keine  Berechtigung.  Das  Gleiche  gilt  von  den  hochinteressanten  nicht  ohne 
Leidenschaftlichkeit  durchgeführten  Debatten  über  die  indische  Fabriksgesetzgebung 
insbesondere  über  das  (genügende  oder  ungenügende?)  Maass  des  dortigen 
Arbeiterschutzes  in  Bezug  auf  Frauen  und  Jugendliche. 

Ein  einziger  von  den  hier  einzureihenden  Berathungsgegenständen  trug 
einen  zweifellos  statistischen  Charakter;  er  war  zugleich  derjenige,  welcher  über- 
haupt zu  einer  eingehenderen  sachlichen  Beschlussfassung  des  Londoner  demo- 
graphischen Congresses  Anlass  gab.  Es  handelt  sich  dabei  um  meine  Anträge 
über  die  socialstatistische  Ausbeute  der  Arbeiterversicherung  (was 
merkwürdigerweise  mit  „Insurance  societies  of  the  working  classes"  übersetzt 
worden  war). 

Auf  dem  demographischen  Congresse  in  Wien  (1887)  war  auf  meinen 
Antrag  beschlossen  worden,  die  Entwicklung  der  Statistik  der  Arbeiterversicherung 
zunächst  den  einzelnen  Staatsverwaltungen  zu  überlassen  und  von  Aufstellung 
eines  internationalen  Programmes  der  demographischen  Anforderungen  an  diese 
Statistik  zur  Zeit  abzusehen. 

Zugleich  war  ich  vom  Congress  beauftragt  worden,  die  Einrichtungen  der 
Arbeiterversicherung  und  insbesondere  die  Gestaltung  des  dabei  im  Kohen  und 
in  der  Verarbeitung  anfallenden  demographischen  Materiales  an  Massenbeobach- 
tungen international  zu  studieren  und  das  Ergebnis  dieser  Studien  fortlaufend 
zur  Kenntnis  des  demographischen  Congresses  zu  bringen.  Diesem  Auftrage  habe 
ich  durch  einen  Bericht')  an  den  Londoner  Congress  entsprochen,  welcher 
bezüglich  der  Statistik  der  öffentlich-rechtlichen  Arbeiterversicherung  nicht  mehr 
auf  dem  Standpunkte  der  Vorschläge  von  1887,  welche  dilatorischer  Natur 
gewesen  waren,  steht.  Ich  war,  nachdem  nunmehr  die  ölf entlich-rechtliche  Kranken- 
und  Unfallversicherung  in  Deutschland  und  in  Oesterreich  seit  einiger  Zeit  in 
Geltung  gewesen  war,  zu  der  Auffassung  gelangt,  dass  das  allgemeine  über  die 
engeren  Kreise  der  Staatsverwaltung  hinausgehende  Interesse  an  einer  guten 
Ausgestaltung  der  Socialstatistik  ein  so  bedeutendes  sei,  dass  die  zuständige 
öffentliche  sachverständige  Meinung  in  diesen  Dingen  eben  so  berechtigt  wie  ver- 
pflichtet sei,  darüber  sich  zu  äussern,  was  an  socialstatistischen  Hauptergebnissen 
füglich  erwartet  werden   dürfe,    nachdem   der   entscheidende  Hauptschritt  —  das 


')  Derselbe  ist  mit  gerinoren  Aenderungen  abgedruckt  im  Allgemeinen  statistischen 
Archiv.  II.  Jahrg.  I.  Halbb.  (1892)  Tübingen.  Laupp.  S.  127  u.  ff 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  303 

zwangsweise  Eingreifen  des  Staates  zur  Vermittlung  der  Versicherung  —  einmal 
geschehen  und  damit  die  Erfassung  zahlreicher  socialstatistisch  bedeutsamer 
Thatsachen  sichergestellt  ist. 

Gleichwohl  erachtete  ich  es  aber  auch  jetzt  noch  nicht  für  angezeigt,  ein 
in  alle  Einzelheiten  eingehendes  Programm  für  eine  internationale  Statistik  der 
öffentlich-rechtlichen  Arbeiterversicherung  vorzulegen.  In  zwei  Beziehungen  glaubte 
ich  mir  vielmehr  eine  Beschränkung  auferlegen  zu  sollen.  Als  üebergang  aus  der 
Keserve,  in  welcher  sich  der  Wiener  Congress  gehalten  hatte,  schien  es  mir 
zunächst  angezeigt  von  weitgehenden  Detailvorschlägen  abzusehen,  und  nur  einige 
wenige  Zielpunkte  zu  bezeichnen,  welche  als  socialstatistische  Früchte  der  Arbeiter- 
versicherung  in  Aussicht  zu  nehmen  wären.  Auch  hiebei  behielt  ich  wohl  im 
Auge,  dass  es  sich  um  Ziele  eines  Strebens  handelt,  von  dem  nicht  zu  erwarten 
ist,  dass  es  sofort  und  allenthalben  die  nicht  unbedeutenden  Hindernisse  seiner 
Durchführung  zu  übervrinden  im  Stande  sein  werde.  Eine  zweite  Beschränkung 
schien  mir  dahin  angezeigt,  dass  nicht  das  gesammte  Gebiet  der  öffentlich-recht- 
lichen Arbeiterversicherung  sondern  nur  jenes  der  Kranken-  und  Unfallversicherung 
ins  Auge  zu  fassen  wäre,  da  die  öffentlich-rechtliche,  zwangsweise  geregelte 
liivaliditäts-  und  Altersversicherung  bis  dahin  nur  in  Deutschland  und  auch  da 
nur  kurze  Zeit  in  Geltung  war. 

Bei  meinen  Vorschlägen  behielt  ich  im  übrigen,  entsprechend  dem  schon 
in  Wien  eingeschlagenen  Verfahren,  in  erster  Linie  die  öffentlich-rechtliche 
Arbeiterversicherung,  wie  sie  unter  Zuhilfenahme  einer  staatlichen  Zwangsgesetz- 
gebung zuerst  in  Deutschlnnd  eingeführt  wurde,  im  Auge.  Die  formulierten  Vor- 
schläge, welche  mein  Bericht  enthielt,  bezogen  sich  auf  die  Einrichtung  sowohl 
der  socialstatistischen  Nachweisungen,  welche  sich  direct  aus  einer  wohl- 
geordneten Buchführung  der  Versicherungsanstalten  ergeben,  als  auch  der 
indirect,  insbesondere  auf  dem  Gebiete  der  Lohnstatistik,  anfallenden  Nachweise 
solcher  Art. 

In  ersterer  Hinsicht  betonte  ich  namentlich  die  Nothwendigkeit,  sowohl 
den  Bestand  an  Versicherten,  als  derjenigen  für  welche  die  Versicherung  wirksam 
geworden  ist,  nach  Geschlecht,  Alter,  Civilstand,  Beruf  nachzuweisen.  Auch 
bezeichnete  ich  es  als  wünschenswert,  dass  die  einzelnen  Krankheiten  nach  einigen 
Hauptaltersgruppen  und  mit  Berücksichtigung  der  Kalenderzeit  des  Krankheits- 
eintritts und  der  Dauer  der  Erkrankung  nachgewiesen  v/ürden.  Besondere  Vor- 
schläge widmete  ich  weiter  der  fortlaufend  zu  erhebenden  eingehenden  Unfalls- 
statistik. Was  die  indirect  anfallenden  Nachweise  anlangt,  so  sollte  die  Herstellung 
der  Lohnstatistik  dadurch  ermöglicht  werden,  dass  die  Unternehmer  verpflichtet 
v.erden  Lohnzahlungslisten  aufzustellen  und  einzureichen,  welche  die  Dauer  der 
Beschäftigung  jedes  einzelnen  Arbeiters  in  einem  gegebenen  Zeitabschnitt  und 
den  Betrag  des  demselben  im  ganzen  gezahlten  Lohnes  nachweisen;  dazu  empfahl 
ich  zur  Gewährleistung  der  Vollständigkeit  und  Genauigkeit  der  Nachweise 
die  Bildung  gemischter  Ausschüsse  (Arbeitgeber  und  Arbeitervertreter)  zur  Be- 
gutachtung der  Lohnlisten.  Bezüglich  der  Methode  der  statistisch-technischen 
Ausbeutung  des  in  den  Lohnzahlungslisten  niedergelegten  Urmaterials  empfahl  ich 
die    UebertrafiTunfiT    der   Individualan i^aben    auf  Zählkarten    und    die    statistisch- 


304  ^i^}-^- 

technische  Verarbeitung  der  Zählkarten  bei  einem  staatlichen  Arbeitsamt.  In 
einem  Anhang  erörterte  ich  sodann  weiter  die  Frage,  wie  entsprechende  Nach- 
weise der  vorbezeichneten  Art  auch  in  solchen  Ländern  zu  beschaifen  wären,  in 
welchen  die  günstigen  Voraussetzungen  der  allgemeinen  obligatorischen  Arbeiter- 
versicherung nicht  gegeben  sind. 

Die  Discussion  dieser  Anträge  litt,  soweit  insbesondere  die  Antheilnahme 
englischer  Mitglieder  des  Congresses  in  Frage  kam,  unter  einem  offenbar  vor- 
handenen Missverständnis,  dessen  Beseitigung  jedo&h  nicht  ganz  gelang.  Bei  den 
übrigen  wirtschafts-  und  socialpolitischen  Fragen,  welche  im  Congress  zur  Be- 
handlung gekommen  waren,  hatte  man  in  erster  Linie  mit  den  materiellen  Streit- 
punkten, z.  B.  des  Arbeiterschutzes,  sich  beschäftigt  und  die  Frage  der  formellen 
statistischen  Eegistrierung  war  ganz  in  den  Hintergrund  getreten.  Diese  Stimmung 
wirkte  auch  bei  der  Besprechung  meiner,  doch  ausschliesslich  der  letzteren  Sich- 
tung angehörigen  Anträge  nach.  Es  ist  nach  dem  Lihalt  der  in  der  Debatte 
gefallenen  Aeusserungen  nicht  zu  bezweifeln,  dass  namentlich  unter  den  englischen 
Congressmitgliedern  vielfach  die  Ansicht  bestand,  als  beabsichtigte  ich  ein  Votum 
des  Congresses  für  die  Zweckmässigkeit  der  staatlich  geleiteten  obligatorischen 
Arbeiterversicherung  zu  erzielen,  während  ich  doch  nur  für  den  Fall  des  Bestandes 
einer  solchen  Einrichtung  gewissermaassen  die  statistischen  Consequenzen  ziehen 
wollte.  Nur  hieraus  im  Zusammenhang  mit  der  Abneigung  der  Engländer,  sich 
irgendwie  di;irch  ein  Votum  zu  binden,  ist  es  zu  erklären,  dass  schliesslich  bei 
der  Abstimmung  über  meine  Anträge  eine  Anzahl  von  englischen  Mitgliedern  des 
Congresses  sich  der  Abstimmung  enthielt.  Sie  motivierten  durch  den  Mund  von 
Sir  Eawson  ihre  Enthaltung  damit,  dass  sie  nicht  genügend  informiert  seien, 
uni  über  den  ins  Detail  eingehenden  Antrag  abzustimmen;  ich  konnte  meinerseits 
hiezu  bemerken,  dass  es  nicht  an  mir  liege,  vrenn  bloss  der  Wortlaut  der  Anträge 
und  nicht  auch  der  ausführliche,  dieselben  erläuternde  Bericht  zur  Kenntnis  der 
Congressmitglieder  gekommen  sei. 

Bei  den  Congressmitgliedern,  welche  anderen  Nationen  angehörten,  machte 
sich  eine  ähnliche  Befangenheit  wie  bei  den  englischen  nicht  geltend.  Der  Grund- 
gedanke meiner  Vorschläge  fand  hier  allgemeine  Billigung  und  wurden  im  Ein- 
zelnen theils  Ergänzungs-  theils  Beschränkungsvorschläge  gebracht.  Der  schwei- 
zerische Arbeiters ecretär  Greulich  und  v.  Juraschek  (Wien)  befürworteten 
Erweiterung  des  Schemas  der  Statistik  der  Krankenversicherung,  insbesondere 
durch  Nachweis  der  Dauer  der  Berufszugehörigkeit  und  der  Stellung  im  Beruf, 
sowie  bezüglich  der  Lohnhöhe.  Milliet  dagegen  wollte  die  Ermittlung  der 
Ursachen  von  Betriebsunfällen  gestrichen  wissen;  auch  wurde  mehrfach  das 
Verlangen  der  Bearbeitung  des  Materials  gerade  bei  einem  „staatlichen"  Arbeits- 
amt beanständet.  Aufgrund  dieser  verschiedenen  Anregungen  einigte  ich  mich 
mit  V.  Juraschek  und  Milliet  zu  einem  gemeinschaftlichen  Antrag,  welcher 
auch  am  letzten  Tage  der  Verhandlungen  des  demographischen  Congresses  An- 
nahme fand. 

Hienach  empfiehlt  die  demographische  Section  des  VII.  internationalen 
Congresses  für  Hygiene  und  Demographie  die  Aufnahme  und  Bearbeitung  folgen- 
der socialstatistischer  Daten: 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  305 

I.  In  Ländern  mit  allgemeiner  öffentlich-rechtlicher  Arbeiter- 
versicherung: 

1.  Hinsichtlich  der  Krankenversicherung:  Xachweis  aller  Versicherten 
nach  Geschlecht,  Alter,  Civilstand  und  Beruf.  Es  ist  der  gegenwärtige  Beruf,  die 
Stellung  im  Berufe,  die  Dauer  der  Zugehörigkeit  zu  demselben,  der  eventuell 
vorher    zuletzt    ausgeübte  Beruf  und    die  Dauer    Aer  Versicherung  nachzuweisen. 

*     Von    den    Erkrankten    und    Verstorbenen    ist    nachzuweisen:    Art    der  Er- 
krankung, Zeit  des  Krankheitseintritts,  Dauer  der  Krankheit,  Todesursache. 

2.  Hinsichtlich  der  Unfallversicherung  sind  dieselben  Daten  zu  liefern, 
nur  ist  anzugeben  statt  der  eventuellen  Erkrankung  der  eventuelle  Eintritt  eines 
Unfalls;  letztere  sind  zu  unterscheiden  nach  der  Grösse  der  Verletzungen  und 
deren  Folgen,  der  Art  der  Verletzungen  und  der  verletzten  Körpertheile,  der  Zeit 
des  Unfalleintrittes,  den  Betriebseinrichtungen  und  Vorgängen,  bei  welchen  sich 
die  Unfälle  ereignet  haben. 

3.  Hinsichtlich  der  Lohn  Statistik  sind  Lohnzahlungslisten  einzurichten 
mit  Angabe  der  Dauer  der  Beschäftigung  jedes  Arbeiters  und  des  ausbezahlten 
Lohnes  für  die  Berichtszeit. 

4.  Die  Nachweisung  ist  individuell  und  fortlaufend  zu  führen.  Eine 
Berichterstattung  hat  halbjährlich  stattzufinden. 

5.  Die  Bearbeitung  soll  central  bei  einem  Arbeitsamte  erfolgen, 
welches  die  Arbeiter  und  Unternehmer  zur  Mitwirkung  bei  Aufnahme  und  Cor- 
rectur  der  Daten  heranzuziehen  hat. 

IL  In  Ländern,  in  welchen  keine  öffentlich-rechtliche  Versicherung  existiert, 
sollen  analoge  Daten  beschafft  werden. 

Der  Beschluss  zu  II.  ist  etwas  sehr  summarisch  ausgefallen;  meine  Vor- 
schläge hatten  etwas  näher  auf  die  Sache  eingehend,  folgendermaassen  gelautet: 
„II.  Arbeiterversicherungsv.'esen  ausserhalb  der  öffentlich-rechtlichen 
Zwangsversicherung:  a)  Soweit  Staatsanstalten  in  Frage  sind,  kann  das 
Programm  zu  I.  ohne  weiteres  angewendet  werden,  b)  Im  übrigen  ist  in  erster 
Linie  erwünscht,  dass  die  Versicherungsanstalten  aller  Art,  welche  der 
Arbeiterversicherung  dienen,  durch  Gesetz  verpflichtet  werden,  nicht  bloss 
rechnungsmässige  Darlegungen,  sondern  auch  statistische  Nachweise  (eventuell 
unter  Bezeichnung  der  Hauptpunkte  im  Gesetz)  zu  liefern.  Hiebei  kommt  neben 
Androhung  von  Rechtsnachtheilen  auch  die  eigentliche  Strafandrohung  in  Betracht. 
c)  Soweit  die  Voraussetzung  zu  b)  nicht  erreichbar  ist,  bleibt  nur  der  Weg  des 
Ersuchens  des  Staats  an  die  Versicherungsanstalten  um  freiwillige  Lieferung 
der  oben  bezeichneten  statistischen  Nachweise,  wobei  allerdings  auf  Vollständig- 
keit und  Gleichmässigkeit  derselben  nicht  zu  rechnen  ist.  Auch  zu  der  knappen 
Fassung  des  Beschlusses,  welcher  dahin  geht,  dass  die  Bearbeitung  des  (aus  der 
Arbeiterversicherung  anfallenden)  Materials  central  bei  einem  Arbeitsamte  erfolgen 
solle,  möchte  ich  hier  einige  Bemerkungen  einschalten.  Der  Vorschlag,  die 
Bearbeitung  bei  einem  „Arb^itsamte"  vornehmen  zu  lassen,  hat  zur  Voraussetzung, 
dass  eine  derartige  besondere  Institution,  welche  ressortmässig  alle  Fragen  der 
Arbeit  in  den  Kreis  ihrer  Wirksamkeit  zu  ziehen  hat,  in  einem  gegeben  Lande 
überhaupt    besteht.     Ist    solches    nicht    der    Fall,    dann    wird     die     statistische 


306  ^^^y^- 

Bearbeitung"  des  aus  der  Arbeiterversicherung  entfallenden  Materials,  v.'onn  eine 
besondere  Centralbehörde  besteht,  welche  ausschliesslich  mit  Arbeiterversicherungs- 
Angelegenheiten  beschäftigt  ist,  zweckmässig  dieser  Centralbehörde,  bezw.  einer 
statistischen  Abtheilung  derselben  anzuvertrauen  sein.  Fehlt  dagegen  eine  solche 
Behörde,  dann  wird  das  allgemeine  statistische  Centralamt  als  das  berufene 
Organ  der  statistischen  Bearbeitung  des  Stoffes  erscheinen.  Wenn  nicht  die 
besondere  ressortmässige  Beschäftigung  eines  Arbeitsamtes  allgemeiner  Katur  oder 
eines  besonderen  Versicherungsamtes  eine  specielle  Bürgschaft  für  sorgsame 
Pflege  auch  der  an  diese  primäre  Eessortthätigkeit  anschliessende  secundäre 
Thätigkeit  verbürgt,  ist  der  Bearbeitung  des  Materials  an  der  allgemeinen  stati- 
stischen Centralstelle,  als  Eegel,  der  Vorzug  vor  anderweitiger  Art  der  Bearbeitung 
zu  geben.  In  diesem  Sinne  habe  ich  mich  in  meinem  Referat  für  den  Londoner 
Congress,  und  noch  etwas  ausführlicher  in  der  darauf  bezugnehmenden  Erörterung 
im  Allgemeinen  Statist.  Archiv  ^)  geäussert. 

Seit  auf  dem  Londoner  demographischen  Congresse  die  im  Vorstehenden 
kurz  berührten  Verhandlungen  über  die  socialstatistische  Ausbeute  der  Arbeiter- 
versicherung stattgefunden  haben,  ist  das  öffentliche  Interesse  an  der  Arbeits- 
und Arbeiterstatistik  allenthalben  bedeutend  in  Zunahme  begriffen.  Für  Deutsch- 
land kommt  namentlich  in  Betracht  die  bevorstehende  Wirksamkeit  der  gemäss 
Erklärung  des  Ministers  v.  Bötticher  in  der  Eeichsrathssitzung  vom  13.  Januar 
1892  dem  kaiserlichen  statistischen  Amte  beizuordnenden  Commission  für  Arbeiter- 
statistik, deren  Wirksamkeit  —  wenn  auch  zunächst  nur  in  ganz  allgemeinen 
Umrissen  —  aus  dem  inzwischen  (am  24.  März  1892)  dem  Eeichstag  vorgelegten 
„Regulativ  für  die  Errichtung  einer  Commission  für  die  Arbeiterstatistik"  vorher- 
gesehen werden  kann.  Unter  dem  reichen  Studienmaterial,  welches  diese  Commission 
in  der  Literatur  des  Auslands,  insbesondere  in  den  Leistungen  bestehender 
Arbeitsämter  —  vorab  der  nordamerikanischen  —  vorfinden  wird,  dürften  auch 
die  oben  berührten  Verhandlungen  des  Londoner  Congresses  eine  wenn  auch 
bescheidene,  so  doch  immerhin  beachtenswerte  Stellung  einnehmen. 

c)  Allgemeines  über  Methode  und  Technik  der  Statistik. 

Hieher  ist  zu  rechnen  ein  Vortrag  von  Prof.  Földes  (Budapest)  über  die 
Methode  der  Untersuchung  bei  Erforschung  von  Ursachen  periodi- 
scher demographischer  Erscheinungen.  Der  Vortrag,  welcher  u.  A.  den 
Antheil  der  inductiven  nnd  der  deductiven  Forschung  bei  der  Lösung  der  in 
Frage  stehenden  Probleme  behandelte,  lag  im  Druck  nicht  vor.  Hiewegen  und 
mit  Eücksicht  auf  den  Eaum,  welchen  ich  für  den  Londoner  Congress  bereits  in 
Anspruch  genommen  habe,  ist  es  mir  leider  nicht  möglich,  näher  auf  denselben 
einzugehen. 

Grosses  Interesse  erweckte  in  der  Versammlung  eine  Mittheilung  v.  Jura- 
schek's   über    die    in  Wien    zur  Ausbeutung    des  Volkszählungs  -  Materials    ver- 

*)  Ueber  Sammlung  und  Verwertung  des  durch  die  Arbeiterversicherung  gebotenen 
socialstatistischen  Materials.  Allg.  Stat.  Archiv.  II.  Jahrg.  1891/92.  L  Halbb.  S.  127  u. 
ff.  insbes.  149  ii.  151. 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  o07 

wendete  elektrische  Zählmaschine.  Es  war  ursprünglich  in  Aussicht 
genommen,  dass  der  Amerikaner  Hollerith  die  von  ihm  erfundene,  bei  der 
Bearbeitung  der  Censusergebnisse  in  den  Vereinigten  Staaten  benützte  elektrische 
Maschine  demonstrieren  sollte.  Da  aber  Hollerith  ausgeblieben  war,  so  trat  v. 
Juraschek  (Wien)  mit  einer  dankenswerten  trefflichen  Mittheilung  über  die 
Einrichtung  und  Wirksamkeit  einer  ähnlichen  verbesserten  Maschine  ein,  welche 
in  Wien  hergestellt  worden  ist,  und  dort  zur  Auszählung  des  Materials  der 
Bevölkerungsaufnahme  benützt  wird.  v.  Juraschek  erläuterte,  wie  die  Ueber- 
tragung  der  Einzelangaben  der  Volkszählungsliste  für  jede  einzelne  Person  auf 
eine  besondere  Karte  mittelst  Durchlochung  derselben  an  der  für  die  betreffende 
Individualangabe  bestimmten  Stelle  stattfindet,  wobei  durch  sinnreiche  Com- 
binationen  mehrfacher  Lochungen  die  Zahl  der  erforderlichen  Lochplätze  auf  den 
geringstmöglichen  Betrag  zurückgeführt  ist.  Weiter  erläuterte  er  sodann,  wie  die 
gelochten  Karten  mittelst  der  Elektricität  und  unter  analoger  Anwendung  eines 
dem  Jacquard-Webstuhl  eigenen  Princips  mittelst  eines  Systems  von  Zähluhren 
einer  ausserordentlich  raschen  und  sicheren  Auszählung  unterworfen  werden.  Es 
knüpfte  sich  hieran  eine  sehr  belebte  Discussion,  namentlich  Dank  dem  sach- 
kundigen Eintreten  des  deutschen  Elements  auf  dem  Gebiete  der  statistischen 
Technik.  Ausser  dem,  was  für  und  wider  die  elektrische  Auszählung  vorzubringen 
ist,  kam  auch  die  Technik  der  Gewinnung  des  Urmaterials  selbst  —  Zählkarte, 
Zählbüchlein,  Zählungsliste  —  zur  eingehenden  Erörterung.  Eine  Ausgleichung 
der  widerstrebenden  Anschauungen  der  Anhänger  der  „Zählungsliste"  und  der 
„Zählkarte"  hat  dabei  ebensowenig  stattgefunden,  wie  im  Kreise  der  amtlichen 
deutschen  Statistiker,  die  hierin  auch  bei  der  jüngsten  deutschen  Volkszählung 
in  zwei  Heerlager  getrennt  waren.  Dass  die  Anhänger  der  Zählungsliste,  welche 
in  der  Zählkarte  eine  von  der  Tagesmode  überschätzte  Verkünstelung  des  Volks- 
zählungs-Erhebungsformulars  sehen,  durch  die  bedeutende  Aussicht,  welche  die 
elektrische  Auszählung  eröffnet,  einen  namhaften  Bundesgenossen  gewonnen  haben, 
liegt  auf  der  Hand.  Da  nämlich  die  Individualisierung  zu  Auszählungszwecken  auf 
besonderen  Lochkarten  vorgenommen  werden  muss,  möge  man  das  Urmaterial 
wie  immer  gesammelt  haben,  so  liegt  gar  kein  Grund  mehr  vor,  an  Stelle  der 
bequemeren  listenmässigen  Verzeichnung  der  Angaben  für  sämmtliche  Haushaltungs- 
mitglieder in  Einem  Erhebungsformular  die  Zersplitterung  dieser  Angaben  in  die 
mühseliger  auszufüllenden  Zählkarten  treten  zu  lassen. 


II.  Internationaler  Congress,  betreffend  Unfälle  bei  der  Arbeit,  in  Bern 
vom  21.  bis  26.  September  1891. 

Dieser  Congress  war  vortrefflich  vorbereitet.  Unter  den  mehr  als  20 
Referaten,  welche  auf  der  Tagesordnung  standen,  überwogen  die  thatsächlichen 
Mittheilungen  über  den  Stand  der  Unfallgesetzgebung  und  die  Statistik  der  Unfälle 
und  der  Unfallversicherung  in  den  verschiedenen  Ländern.  Die  Berichte  lagen  mit 
wenigen  Ausnahmen  gedruckt  vor  und  bildeten  für  sich  eine  wertvolle  Ueber- 
sicht  des  augenblicklichen  Standes  der  Gesetzgebung  über  Unfälle  und  Unfall- 
versicherung,   sowie  der  Wirksamkeit  dieser  Gesetzgebung.    Neben  den  thatsäch- 


308  Majr. 

liehen  Mittheilungen  nahmen  in  den  Berichten  auch  allgemeine  "wirtschafts-  und 
socialpolitische  Erwägungen,  insbesondere  über  die  Grenze  der  Action  des  Staates 
auf  dem  Gebiete  der  Unfallfürsorge  einen  erheblichen  Eaum  in  Anspruch.  Dadurch 
ist  eine  beachtenswerte  Ueberschau  der  verschiedenen  Grundauffassungen  vom 
reinen  Manchesterthum  bis  zu  dem  sorgsamst  ausgebildeten  „Staatssocialismus" 
geboten  worden.  Auf  diese  Statistik  der  Meinungen  einzugehen,  bin  ich  hier  nicht 
befugt.  Dagegen  will  ich  die  wichtigeren  von  den  Mittheilungen  über  unfall- 
statistisches Material  der  verschiedenen  Länder  hier  erwähnen,  welche  bereits  in 
Bern  gedruckt  vorlagen,  ausserdem  aber  auch  in  dem  mit  dankenswerter  Be- 
schleunigung noch  im  Jahre  1891  erschienenen  Bericht  über  die  Verhandlungen  i) 
enthalten  sind.  Die  in  Betracht  kommenden  Mittheilungen  sind  folgende: 

Dr.  Bödiker,  Präsident  des  Eeichsversicherungsamts  in. Berlin:  Die  Gestal- 
tung der  Unfallversicherung  in  Deutschland. 

Dr.  Jul.  Kahn,.  Inspector  im  versicherungstechnischen  Departement  des 
k.  k.  Ministeriums  des  Innern  in  Wien:  Ueber  die  Arbeiter-Unfallversicherung  in 
Oesterreich. 

Dr.  Guillaume,  Directeur  du  bureau  federal  de  statistique  ä  Berne:  La 
statistique  des  accidents   en  Suisse,    but,  Organisation  et  etat  actuel  des  travaux. 

Fred.  H.  Whymper,  Inspecteur  gdneral  des  fabriques  de  Sa  Majeste, 
Ministere  de  Tlnterieur,  Londres:  De  quelques  accidents  survenus  dans  les  fabri- 
ques de  la  Grande-Bretagne. 

Westerouen  van  Meeteren,  President  de  Tassociation  nMerlandaise 
pour  la  prevention  des  accidents  ä  Amsterdam :  Les  caisses  d'enterrement 
(i'assurance  des  frais  funeraires)  en  Hollande. 

Aber  nicht  bloss  durch  diese  thatsächlichen  Mittheilungen  über  Unfall-  und 
Unfallversicherung  -  Statistik  bot  der  Berner  Congress  statistisches  Interesse; 
noch  wichtiger  ist,  dass  auf  demselben  auch  die  Frage  der  Unfallstatistik 
selbst  principiell  erörtert  worden  ist.  Wir  haben  hier  einen  jener  praktischen 
Belege  vor  uns,  welche  das  im  Eingang  dieses  Artikels  über  die  Verallgemeinung 
der  statistischen  Interessen  Gesagte  erhärten.  Die  allgemeinen  statistischen 
Congresse  vermögen  das  Monopol  der  Erörterung  statistischer  Fragen  nicht  zu 
behaupten;  naturgemäss  wird  die  Erörterung  von  Einzelfragen  statistischer  Natur 
mehr  und  mehr  von  den  Specialisten  übernommen,  welche  nicht  in  erster  Linie 
auf  Bereicherung  unseres  statistischen  Wissens  um  seiner  selbst  willen  ausgehen, 
sondern  welche  Vorbereitung  praktischer  Maassnahmen  der  Gesetzgebung  oder 
Verwaltung  durch  statistische  Grundlagen  erleichtern  und  die  Ergebnisse  solcher 
Maassnahmen  an  Hand  der  exacten  Massenbeobachtung  der  Statistik  prüfen  wollen. 
Der  Statistiker  als  solcher  hat  allen  Grund  sich  des  Entstehens  solcher'  neuer 
Heerde  statistischen  Wissensdrangs  zu  freuen;  er  kann  sicher  sein,  dass  gerade 
bei  solchen  Bestrebungen  die  Berücksichtigung  alles  sachlich  Bedeutsamen  am 
besten    gewährleistet    ist,    während   allerdings    für    die    Technik   der    Thatsachen- 


')  Congres  international  des  accidents  du  travail.  2.  Session,  tenue  ä  Berne  du 
21  aa  26  Septembre  1891.  Piapports  et  proces  verbaux,  publies  par  les  soins  du  comite 
suJssö  d'ort'anisation.  Berne  1891. 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  309 

Beobachtung-  und  der  Nutzbarmachung-  des  Beobachteten  die  Mitwirkung  des 
allgemein  statistisch  gebildeten  Fachmannes  von  Nutzen  sein  wird. 

Mit  der  Frage  der  Gestaltung  der  Unfallstatistik  beschäftigten  sich  zwei 
dem  Berner  Congress  vorgelegte  Referate: 

Felix  Jottrand,  Ingenieur  ä  Bruxelles:  Les  bases  de  la  statistique 
des  accidents  du  travail. 

Octave  Keller,  Ingenieur  en  chef  des  mines,  ancien  President  de  la 
societe  de  statistique  de  Paris:  Conditions  d'une  statistique  rationelle  des 
accidents  du  travail. 

Der  Bericht  von  Jottrand  macht  zunächst  in  zutreffender  Weise  auf  die 
zw^ei  Gruppen  praktischer  Zwecke  aufmerksam,  w^elche  der  Unfallstatistik  zugrunde 
liegen  können.  Es  kann  sich  darum  handeln  die  Ursachen  der  Unfälle  zu  ent- 
hüllen, um  die  Wiederkehr  derselben  möglichst  zu  verhindern,  oder  es  kann  die 
Bestimmung  des  Risico  in  Frage  sein,  welches  der  Arbeiter  läuft,  um  danach 
die  Versicherung  auf  sicherer  Grundlage  einzurichten.  Für  den  ersteren  Zweck 
käme  eigentlich  die  Schwere  des  Unfalls  kaum  in  Betracht;  hier  komirit  es  auf 
die  Kenntnis  der  Unfall  veranlassenden  Vorrichtung,  der  falschen  Handhabung, 
der  Unvorsichtigkeit,  die  dabei  im  Spiele  war,  an. 

Dagegen  ist  für  die  Frage  der  Schadloshaltung,  der  Versicherung,  die 
Schwere  des  Falls  das  entscheidende  Element.  Alle  Unfälle  zur  Feststellung  zu 
bringen,  auch  jene  mit  nur  minimalen  Folgen,  darf  man  nicht  hoffen.  Referent 
meint,  man  solle  die  Grenze  etwa  bei  sechswöchentlicher  Arbeitsunfähigkeit  ziehen; 
erst  w^enn  man  hierüber  einig  sei,  könne  man  die  Statistik  verschiedener  Länder 
vergleichen.  Weiterhin  zieht  derselbe  namentlich  diejenigen  Momente  in  Betracht, 
welche  vom  Standpunkt  der  Versicherungsfrage  bedeutungsvoll  sind.  Hier  wird 
zunächst  die  als  Grundlage  der  Berechnung  erforderliche  Ermittlung  des  Arbeiter- 
stands in  Erörterung  genommen.  Dass  die  Ergebnisse  der  nur  nach  längeren 
Zwischenräumen  wiederkehrenden  allgemeinen  Volkszählungen  nicht  brauchbar 
sind,  ist  klar;  es  kommt  darauf  an  den  effectiven  Arbeiterbestand  des  Jahres 
kennen  zu  lernen  und  zwar  nicht  bloss  die  Zahl  der  überhaupt  beschäftigt 
gewiesenen  Arbeiter,  sondern  auch  die  Zahl  der  von  ihnen  geleisteten  Arbeitstage. 
Referent  meint,  es  würde  für  die  Arbeitnehmer  überhaupt  einfacher  sein,  nur  die 
Zahl  der  Arbeitstage  statt  der  oft  schwankenden  Zahl  der  beschäftigten  Arbeiter 
nachzuweisen.  Bezüglich  der  Gruppierung  der  Nachweise  legt  weiterhin  der 
Referent  ganz  besonderes  Gewicht  darauf,  dass  dieselbe  nicht  nach  „Industries" 
also  nach  Industriezweigen,  sondern  nach  den  „professions",  den  „metiers",  also 
nach  der  concreten  Beschäftigungsart  erfolge,  so  dass  die  Arbeiter,  welche  die 
gleiche  Art  der  Arbeit  betreiben,  zusammengefasst  werden  und  nicht  die  Betriebs- 
stätten, an  welchen  mehr  oder  minder  ähnliche  Industrien  betrieben  werden.  Der 
Referent  macht  auch  positive  Vorschläge,  32  solcher  Beschäftigungsarten  zu  unter- 
scheiden, in  deren  Kritik  hier  nicht  eingegangen  werden  kann.  —  Ich  möchte 
hiezu  bemerken,  dass  diese  Frage  von  einer  allgemeinen,  weittragenden  Bedeutung 
ist  und  in  gleicher  Weise  wichtig  ist  für  die  allgemeine  Gewerbestatistik,  w^elche 
im  allgemeinen  in  neuerer  Zeit  unverdientermaassen  in  Vernachlässigung  gefallen 
zu  sein  scheint.    Ich    mochte    dabei    —    handle  es  sich  nun    um  die  allgemeine 


310  Mayr. 

Gewerbestatistik  oder  um  die  besondere  Materialsammlnng  für  Zwecke  der 
vergleichenden  Unfallstatistik  nicht  soweit  gehen,  nur  die  Gleichartigkeit  der 
Beschäftigungsweise  ohne  Rücksicht  auf  den  Industriezweig,  in  welchem  sie  statt- 
findet, in  Betracht  zu  ziehen,  wohl  aber  möchte  ich  die  Beschäftigungsweise  als 
Untereintheilungsgrund  für  die  im  übrigen  auseinanderzuhaltenden  hauptsächlichen 
Industriegruppen  verwendet  sehen. 

In  allgemeinerer  Weise,  als  dieses  in  dem  vorbezeichneten  Referate  von 
Jottrand  geschehen  ist,  behandelt  Keller  in  seinem  Bericht  über  die  Bedin- 
gungen einer  rationellen  Statistik  der  Arbeitsunfälle  die  Frage  der  Unfallstatistik. 
Er  hält  die  Länder  mit  und  ohne  obligatorischer  Arbeiterversicherung  streng  aus- 
einander und  betont,  dass  da,  wo  keine  derartige  Yersicherungsorganisation  bestehe, 
die  gesammelten  Nachweise  in  der  Regel  rein  „technischer"  Natur  seien,  welche 
nur  den  Anforderungen  der  auf  die  Unfallverhütung  bezüglichen  Untersuchungen, 
keineswegs  aber  jenen  der  Versicherung  entsprächen. 

Die  vollständige  Statistik  der  Unfälle  zerlegt  Keller  in  folgende  Gruppen: 

Die  Grundlage  bildet  die  „allgemeine  Statistik",  welche  die  jährliche 
Ermittlung  der  Zahl  der  Unfälle  und  der  Zahl  der  Opfer  begreift  mit  Unterscheidung 
nach  der  Art  der  Beschäftigung  und  der  Zahl  der  Personen,  welche  solche  ausüben. 

Um  diese  allgemeine  Statistik  gruppieren  sich  nach  Keller's  Auffassung 
verschiedene  ergänzende  Statistiken  von  besonderer  Art,  nämlich: 

1.  Die  „technische  Statistik",  welche  die  materiellen  Ursachen  der  Unfälle 
kennen  lehrt  und  alle  Nachweise  liefert,  welche  der  Unfallverhütung  dienlich  sind; 

2.  die  „moralische  Statistik",  welche  die  moralischen  Ursachen  der  Unfälle 
—  grobes  und  leichtes  Versehen,  des  Arbeitgebers,  des  Arbeiters,  eines  Dritten, 
Zufall,  unbestimmte  oder  unbekannte  Ursachen  —  nachweist; 

3.  die  „medicinische  Statistik",  welche  die  auf  die  Art  der  Verletzungen 
und  ihrer  Folgen  bezüglichen  Nachweise  umfasst.  Dazu  könnten  weiter  sonstige 
hygienische  und  demographische  Ermittlungen  über  die  persönlichen  Verhältnisse 
der  Opfer,  über  Arbeitsdauer  u.  s.  w.  gerechnet  werden; 

4.  „die  „Versicherungs-"  oder  specielle  „Finanzstatistik",  mit  den  Nach- 
weisungen über  Lohnbezüge  als  Ausgangspunkt  der  Beitragserhebung  und  über 
die  Entschädigungsleistungen.  Sie  entnimmt  der  durch  die  technische  und  medi- 
cinische Statistik  ergänzten  allgemeinen  Statistik  die  Nachweise  zur  genauen 
Ermittlung  der  Gefahrcoefficienten. 

Ausserdem  will  Keller  noch  eine  „ökonomische  Statistik"  der  Unfälle  con- 
struieren,  und  darunter  alle  Untersuchungen  begreifen,  welche  darauf  abzielen,  die 
im  Jahreslauf  vorgekommenen  Unfälle  auf  die  Menge  der  geleisteten  Arbeit  zu 
beziehen.  Man  sieht,  dass  es  sich  hiebei  nicht  um  eine  neue  Thatsachenfest- 
stellung,  sondern  nur  um  eine  Combination  der  Ergebnisse  der  Unfallstatistik  mit 
solchen  der  wirtschaftlichen  Productionsstatistik  handelt. 

Eine  so  eingehende  Unfallstatistik  allgemeiner  Art  hält  Keller  nur  da 
für  möglich,  wo  eine  staatlich  organisierte  Arbeiterversicherung  besteht;  eine  ver- 
gleichende Unfallstatistik  will  er  überhaupt  nur  als  Zukunftsaufgabe  in  Aussicht 
genommen  wissen.  Als  zvrei  besondere  Wünsche  bezeichnete  Keller  bei  dem 
mündlichen   Vortrag    seiner   Anschauungen    folgende :     1)    die    Feststellung    des 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  311 

Grades  der  Erfahrung  des  Arbeiters  mittelst  Angabe  der  Zahl  der  Monate  oder 
Jahre,  während  welcher  er  die  fragliche  Beschäftigung  bereits  ausgeübt  hat; 
2)  die  besondere  zusammenfassende  Hervorhebung  der  Massenunfälle,  welche  als 
„Katastrophen"  zu  bezeichnen  sind. 

Dass  der  Eeferent  Keller  die  Möglichkeit  der  Erzielung  einer  Alles  um- 
fassenden Unfallstatistik  unmittelbar  in  Zusammenhang  mit  der  staatlichen  Orga- 
nisation der  Arbeiterversicherung  gebracht  hatte,  war  gar  nicht  nach  dem 
Geschmacke  der  auf  dem  Berner  Congress  sehr  stattlich  vertretenen  französischen 
Privat-Yersicherungsgesellschaften,  welche  ja  gerade  darum  so  zahlreich  erschienen 
waren,  um  auf  dem  Congress  im  anscheinenden  Kampfe  gegen  das  deutsche 
System  der  Arbeiterversicherung  das  ihnen  seitens  ihres  eigenen  Handelsministers 
gebotene  sehr  ähnliche  System  zu  untergraben.  Es  ist  deshalb  nicht  zu  ver- 
wundern, dass  in  der  Debatte  alsbald  der  Director  der  „Preservatrice"  in  Paris, 
Marestaing,  das  Wort  ergriff,  um  die  staatliche  Aufgabe  der  Ermittlung  der 
Unfallstatistik  für  den  von  ihm  principiell  allein  als  zulässig  erachteten  Stand- 
punkt des  freien  Waltens  der  Privat-Versicherungsthätigkeit  zu  formulieren.  Die 
einzige  Aufgabe,  vrelche  dem  Staate  zufällt,  besteht  nach  seiner  Meinung  darin; 
durch  Gesetz  oder  Verordnung  dafür  zu  sorgen,  dass  die  Privat-Versicherungs- 
anstalten  in  den  Stand  gesetzt  würden,  gute  „cadres  statistiques"  aufzustellen. 
Dieses  Resultat  wäre  leicht  zu  erreichen,  wenn  man  die  Betriebsunternehmer 
verpflichten  würde,  regelmässig  Tag  für  Tag  in  den  Abrechnungsregistem  zur 
"Verzeichnung  zu  bringen:  die  Namen  der  beschäftigten  Arbeiter,  die  Zahl  der 
effectiv  von  denselben  geleisteten  Arbeitstage,  den  auf  diese  Arbeitstage  treffenden 
Lohn,  sämmtliche  Unfälle,  welche  vorkommen.  Soweit  sollte  der  Staat  helfen ; 
die  Statistik  hätte  dann  der  Versicherer  aufzustellen. 

Dieser  Vorschlag  eines  Mannes  der  Privatversicherung  ist  in  mehrfacher 
Hinsicht  von  Interesse.  Ich  möchte  hier  nur  den  Umstand  hervorheben,  dass 
auch  bei  einem  principiell  so  entschiedenen  Gegner  des  Staatssocialismus  doch 
der  Gedanke  durchschlägt,  dass  eine  gewisse  Publicität  des  Productionsprocesses 
unter  unseren  modernen  socialen  Verhältnissen  zur  Nothwendigkeit  wird.  Der 
Unternehmer  soll  über  die  Arbeitsverwendung  Detailnachweise  bekannt  geber, 
welche  ehedem  zu  den  Betriebsgeheimnissen  gehörten.  Dieser  Zug  nach  der 
Publicität  des  privaten  Wirtschaftslebens,  nach  einer  gewissermaassen  öffentlich- 
rechtlicheren Qualification  desselben  ist  für  unsere  neuzeitliche  Entwickelung 
charakteristisch.  Etwas  Aehnliches  liegt  in  dem  Beifall,  welche  eine  sehr  ins 
Einzelne  gehende  Einkommens-Erklärung  zu  Besteuerungszwecken  findet.  Damit 
v/ird  die  Einkommenserzielung  ähnlich  in  das  Licht  einer  relativen  Publicität 
gerückt  wie  der  wirtschaftliche  Productionsprocess  bei  gründlicher  Organisation 
einer  öffentlich-rechtlichen  Arbeiterversicherung. 

Im  weiteren  Verlauf  der  Debatte  über  die  Unfallstatistik  wurde  namentlich 
auf  Anregung  Guillaume's,  des  Directors  des  eidgen.-statistischen  Bureaus,  die 
schwierige  Frage  der  Classification  der  Berufsthätigkeit  besprochen.  Zu  einem 
materiellen  Beschlüsse  gelangte  die  Versammlung  nicht.  Die  Bedeutung  der 
Erörterungen  der  Unfallstatistik  auf  dem  Berner  Congress  liegt  in  der  sachkundigen 
Anregung  der  verschiedenen    im  Vorstehenden  kurz  bezeichneten  Gesichtspunkte. 


312  Mayr. 

Dass  nicht  sofort  in  der  Sache  selbst  Beschluss  gefasst,  sondern  noch  weiteres 
Studium  derselben  vorbehalten  wurde,  zeigt  die  Vorsicht,  mit  welcher  eine  aus 
so  zahlreichen  Sachverständigen  bestehende  Versammlung,  an  die  namentlich  in 
Betreff  der  Unterscheidung  der  Beschäftigung  so  schwierige  Frage  der  Unfall- 
statistik herangetreten  ist. 

Der  dilatorische  Beschluss  der  Versammlung  lautet:  „Der  Congress 
bestätigt  seinem  permanenten  Comite  den  Auftrag,  das  Studium  über  die  einheit- 
liche Anlage  einer  internationalen  Unfallstatistik  fortzusetzen,  und  verbindet  damit 
die  Einladung,  diese  Anlage,  gegebenenMls  im  Einvernehmen  mit  dem  inter- 
nationalen statistischen  Institut,  dem  internationalen  Ausschuss  für  Gesundheits- 
pflege und  Demographie  und  anderen  ähnlichen  Corporationen,  dem  nächsten 
Congresse  vorzulegen,  um  dadurch  eine  internationale  Verständigung  über  die 
jener  Statistik  zugrunde  zu  legenden  Normen,  wie  beispielsweise  der  Namens- 
bezeichnung der  Todesursachen  und  der  Berufsarten,  herbeizuführen.'' 

III.  Versammlung  des  internationalen   statistischen  Instituts  in  Wien 
vom  28.  September  bis  3.  October  1891. 

Die  Versammlung  des  internationalen  statistischen  Instituts  in  Wien  bildete 
weitaus  den  bedeutungsvollsten  Ausdruck  der  internationalen  Pflege,  welche  die 
Statistik  im  Jahre  1891  gefunden  hat.  Statutenmässig  hat  das  Institut  die  För- 
derung sowohl  der  administrativen  als  der  wissenschaftlichen  Statistik  im  Auge. 
Dieser  Doppelaufgabe  ist  es  auch  bei  seinen  Wiener  Verhandlungen  in  hervor- 
ragendem Maasse  gerecht  geworden;  denn  Theorie  und  Praxis  der  Statistik,  die 
wissenschaftlich  beschauliche  Vertiefung  in  einzelne  Probleme  wie  die  Agitation 
für  die  methodisch  und  technisch  zutreffende  Ausgestaltung  bestimmter  Massen- 
Beobachtungen,  haben  bei  den  —  stofflich  fast  übermässig  reichhaltigen  —  Ver- 
handlungen des  Instituts  eine  gleich  liebevolle  Berücksichtigung  gefunden.  Für 
solche  Arbeit  konnte  auch  nicht  leicht  ein  geeigneterer  Boden  als  jener  von  Wien 
gefunden  werden,  wo  in  Fortführung  und  kräftiger  Weiterentwicklung  verdienst- 
voller älterer  Bestrebungen  der  jetzige  Leiter  der  amtlichen  Statistik  Oesterreichs 
V.  Inama-Sternegg  die  fruchtbringende  Verbindung  der  Theorie  und  Praxis 
der  Statistik  durch  die  That  erweist  und  die  Erhaltung  des  Werkes,  welches  er 
begründet  hat,  durch  die  Heranbildung  eines  trefflichen  zielbewussten  Nachwuchses 
junger  Statistiker  sichergestellt  hat.  In  der  Begrüssungsrede  des  Ministers  Dr. 
Freiherrn  v.  Gautsch  fand  die  Sachlegitimation  Oesterreichs  zur  Beherbergung 
des  statistischen  Instituts  knappen,  zutreffenden  Ausdruck.  Er  hob  hervor,  dass 
Oesterreich  das  Verdienst  in  Anspruch  nehmen  dürfe,  die  hohe  Bedeutung  der 
Statistik  längst  erkannt  zu  haben;  die  ältesten  Spuren  statistischen  Unterrichts 
an  den  Universitäten  führten  vielleicht  nach  Wien,  wo  der  Humanist  Conrad 
Celtis,  der  Lehrer  des  Kosmographen  Sebastian  Münster,  über  den  politischen 
Zustand  des  alten  Deutschen  Reiches  Vorlesungen  gehalten  habe;  im  17.  Jahr- 
hundert hätten  die  Mercantilisten  Becher,  Hornik  und  Schröder  theoretisch 
und  praktisch  für  die  Durchdringung  der  Verwaltung  mit  statistischem  Wissen 
erfolgreich    gewirkt,    und    im  18.  Jahrhundert    seien   von    bedeutenden  Männern, 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  313 

wie  Justi  und  Sonnenfels,  mächtige  Anregungen  zur  Pflege  der  Statistik  aus- 
gegangen, so  dass  die  Studienordnung  für  die  Juristen  schon  damals  auf  die 
Statistik  in  vollstem  Maasse  Bedacht  genommen  habe.  Allseitiger  aufrichtigster 
Zustimmung  war  der  Minister  sicher,  wenn  er  im  Anschluss  hieran  bemerkte,  dass 
noch  bis  vor  kurzem  eines  der  verdientesten  Ehrenmitglieder,  Freiherr  v. 
Czoernig,  gewesen  sei,  der  mit  Eecht  als  der  Begründer  der  administrativen 
Statistik  in  Oesterreich  bezeichnet  w^erde,  und  dass  seine  Nachfolger  sich  bemühen, 
jene  grossen  Traditionen  der  österreichischen  Statistik  zu  pflegen,  w^elche  auf  ihn 
zurückreichen. 

In  zutreffender  Weise  charakterisierte  der  Minister  die  Aufgabe  der  Statistik 
im  allgemeinen  und  die  Wirksamkeit  des  statistischen  Instituts  im  besonderen. 
,, Unter  denjenigen  Wissenschaften,  welche  dem  öffentlichen  Leben  und  der  Ver- 
waltung nahestehen,  nimmt  die  Statistik  eine  hervorragende  Stellung  ein.  Mit 
Consequenz  erzieht  sie  zur  Selbstbetrachtung,  zur  Ordnung  und  Gewissenhaftigkeit 
in  den  Dingen  des  öffentlichen  Lebens.  Mit  Unparteilichkeit  fasst  sie  die 
Erscheinungen  des  Volkslebens  in  einem  Bilde  zusammen,  lehrt  das  Wichtige  vom 
Unwichtigen,  das  Bleibende*  vom  Vorübergehenden  unterscheiden  und  so  die 
ungeheure  Mannigfaltigkeit  der  Thatsachen  sicher  beherrschen;  sie  entwickelt  ihre 
Reihen  durch  die  Jahre  und  Jahrzehnte  hindurch  und  zeigt  die  regelmässige 
Wiederkehr  der  Erscheinungen,  die  Constanz  und  den  Wechsel  der  Lebens- 
bedingungen auf,  ja  sie  weist  uns  vielfach  die  voraussichtliche  Gestaltung  der 
nächsten  Zukunft!"  Die  Bestrebungen  des  Instituts  kennzeichnete  der  Minister 
dahin,  dass  gelehrte  Forschung  und  praktisch-statistische  Arbeit  auf  dem  Boden 
des  Instituts  sich  verbinden,  nicht  nur  um  sich  gegenseitig  in  ihren  Bestrebungen 
zu  fördern  und  zu  ergänzen,  sondern  auch  um  zu  beweisen,  dass  zwischen  Wissen- 
schaft und  Praxis  keinerlei  Gegensatz,  sondern  die  vollste  Identität  der  Interessen 
besteht.  Ausserdem  aber  pflege  das  Institut  auch  den  idealen  Gedanken  einer 
internationalen  Einheit  cultureller  Interessen,  und  sei  bestrebt,  denselben  im 
Dienste  einer  vom  streng  wissenschaftlichen  Geiste  durchdrungenen  Verwaltungs- 
statistik zu  verwirklichen. 

Die  Versicherung  des  Ministers,  dass  die  k.  k.  Eegierung  der  Thätigkeit 
des  Instituts  lebhafte  Aufmerksamkeit  entgegenbringe  und  dessen  Berathungen 
mit  den  besten  Wünschen  begleite,  hatte  durch  die  vorerwähnte  wohlerwogene 
sachliche  Begründung  doppelten  Wert  erlangt.  Im  Interesse  der  Statistik  ist  es 
gelegen,  dass  die  Auffassung  vom  Wesen  und  der  Bedeutung  derselben,  welche 
der  österreichische  Unterrichtsminister  bei  diesem  feierlichen  Anlasse  sich  zu  eigen 
gemacht  hat,  von  recht  vielen  seiner  Eessortcollegen,  in  grossen  wie  in  kleineren 
Staaten,  und  namentlich  auch  von  deren  vortragenden  Käthen  getheilt  werden 
möge.  Nicht  bloss  die  Empfindung  des  Dankes,  welchen  ich  als  Mitglied  des 
Instituts  schulde,  sondern  auch  die  praktische  Erwägung  des  Nutzens  möglichst 
weiter  Verbreitung  der  goldenen  Worte  des  Ministers  Freiherrn  v.  Gautsch 
waren  mir  Anlass,  dieselben  hier  ausdrücklich  zu  erwähnen. 

Was  nun  die  Arbeiten  des  Instituts  auf  der  Wiener  Versammlung  anlangt, 
so  lassen  sich  dieselben  in  folgende  vier  —  der  Bedeutung  nach  allerdings  sehr 
ungleichmässige  —   Gruppen  zerlegen: 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  11    Heft.  21 


314  Mayr. 

1.  Wissenschaftliche  Vorträge,  welche  neue  Methoden  oder  Ergebnisse 
Torführten ; 

2.  Praktisch-kritische  Erörterungen  statistischer  Leistungen  unter  allgemeinen 
Gesichtspunkten  mit  Nutzanwendungen  für  die  Handhabung  statistischer  Methoden; 

3.  Mittheilungen  über  den  Stand  der  Statistik  in  einzelnen  Ländern  und 
über  statistische  Bestrebungen  anderweitiger  Vereinigungen; 

4.  Vorschläge  über  die  Zielpunkte  und  die  Einrichtung  der  statistischen 
Massenbeobachtung  auf  ihren  einzelnen  Erscheinungsgebieten. 

Die  Hauptarbeit  fiel  auf  die  zweite  und  auf  die  vierte  Gruppe.  Es  möge 
desshalb  gestattet  sein,  vorab  der  auf  die  zwei  anderen  Gruppen  fallenden 
Erörterungen  zu  gedenken  und  dann  etwas  näher  auf  den  Hauptinhalt  der  Wiener 
Arbeit  des  Instituts  —  die  wissenschaftlichen  Vorträge  und  die  Einzelvorschläge  zu 
statistischen  Erhebungen  —  einzugehen. 

Als  eine  praktisch-kritische  Erörterung  statistischer  Leistungen  unter 
allgemeinen  Gesichtspunkten  mit  Nutzanwendung  für  die  Handhabung  statistischer 
Methoden  darf  ich  wohl  den  Vortrag  bezeichnen,  welchen  ich  „über  die  zweck- 
mässige Einrichtung  der  statistischen  Veröffentlichungen"  gehalten 
habe.  Ich  habe  dabei  sowohl  den  sachlichen  Inhalt  der  Veröffentlichungen,  als 
die  formelle  Einrichtung  derselben  in  Betracht  gezogen.  Leitender  Grundsatz  ist 
mir  in  der  ersteren  Hinsicht,  dass  die  Veröffentlichungen  den  Bedürfnissen  sowohl 
der  nationalen  als  der  internationalen  Statistik  entsprechen  müssen.  Die  rationelle 
Veröffentlichung  steht  mit  der  rationellen  Ausbeutung  des  Urmaterials  in  Zu- 
sammenhang;  ein  Hauptgrundsatz  der  letzteren  sollte  sein,  dass  nichts  erfragt 
und  ins  Urmaterial  gebracht  wird,  was  nicht  auch  gründlich  und  allseitig  aus- 
gebeutet wird.  Im  Einzelnen  habe  ich  sodann  namentlich  den  Zusammenhang 
zwischen  der  Materialausbeutung  und  der  Gestaltung  der  Veröffentlichung  insoweit 
behandelt,  als  die  äusserlich-sachliche  Gliederung  der  zeitlichen  und  räumlichen 
Verhältnisse  in  Betracht  kommt.  Dabei  hatte  ich  der  Vorfrage  centralisierter  oder 
decentralisierter  Bearbeitung  des  Urmaterials  eine  besondere  Erörterung  zu  widmen, 
weil  diese  für  das  Maass  des  geographischen  Details,  welches  schliesslich  in  den 
Veröffentlichungen  berücksichtigt  werden  sollte,  von  Einfluss  ist;  insbesondere  lege 
ich  darauf  Gewicht,  dass  bei  centralisierter  Ausbeutung  auch  den  statistischen 
Bedürfnissen  der  Local-  und  Verwaltungsbehörden  Rechnung  getragen  wird,  deren 
Interessierung  an  der  Statistik  und  ihren  Ergebnissen  von  Wichtigkeit  ist.  Wenn 
sich  hiebei  ergibt,  dass  in  den  detailgeographischen  Nachweisen  weiter  gegangen 
werden  sollte,  als  dies  vielfach  der  Fall  ist,  so  bin  ich  des  Einwurfs  der  sog. 
„Praktiker"  aus  den  Kreisen  der  Bureaukratie,  dass  ein  solches  Verfahren  zu 
umständlich  und  zu  kostspielig  sei,  gewärtig.  Darauf  erwidere  ich  Folgendes: 
Es  kommt  gar  nicht  darauf  an,  dass  jede  Seite  der  statistischen  Tabellenwerke 
alsbald  bei  ihrem  Erscheinen  einen  Interessenten  und  Leser  finde,  aber  darauf 
kommt  es  an,  in  diesen  Quellenwerken  für  alle  Zeit  die  Ergebnisse  der  Buch- 
führung über  das  menschliche  Gesellschaftsleben  documentarisch  niederzulegen. 
Und  was  die  Kosten  anlangt,  so  ist  darauf  zu  vein^-eisen,  dass  auch  die  sorg- 
samste —  auf  detailgeographische  Nachweise  in  vollem  Umfange  eingehende  — 
statistische  Veröffentlichung   in   ihrem   Kostenbetrag    immer    nur    einen    kleinen 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.      "      315 

Betrag  der  Ausgaben  und  geldwerten  persönlichen  Opfer  darstellt,  welche  durch  die 
Sammlung  und  Bearbeitung  des  ürmaterials  hervorgerufen  sind.  Ein  Knickern  mit 
Druckkosten  ist  deshalb  eine  Sparsamkeit  am  unrechten  Ort,  welche  in  Verschwen- 
dung umschlägt;  denn  verschw^endet  ist  ein  grosser  Theil  des  Aufwandes  für  die 
statistische  Erhebung  und  Bearbeitung,  wenn  eine  lückenhafte  Veröffentlichung 
nur  ein  ungenügendes  Bild  der  an  sich  zutreffend  erhobenen  Zustände  und 
Erscheinungen  bietet.  —  Unter  dem  Begriff  der  „formellen  Einrichtung"  der 
Veröffentlichungen  habe  ich  zusammengefasst  und  erörtert:  1.  was  sich  darstellt  als 
technische  und  wissenschaftliche  Zuthat  zu  dem  Tabellenwerke;  2.  was  Bezug  hat 
auf  die  Erscheinungszeit  der  Veröffentlichung,  3.  auf  die  literarischen  Organe 
und  4.  auf  gewisse  rein  äusserliche  Formen  der  Pablicationen. 

Zu  praktisch-kritischen  Erörterungen  einer  wichtigen  Erscheinung  auf  dem 
Gebiet  der  statistischen  Technik  gab  die  Vorführung  der  elektrischen  Zähl- 
maschine durch  Dr.  Eauchberg,  den  verdienstvollen  Unterchef  der  fabrika- 
torischen  Ausbeutung  des  österreichischen  Volkszählungsmaterials,  einen  allen 
Mitgliedern  des  Instituts  hocherwünschten  Anlass.  Dr.  ßauchberg  erstattete  nicht 
nur  einen  durch  Vorführung  einer  Zählmaschine  unterstützten,  auch  für  den  Nicht- 
techniker  w^ohl  verständlichen  Vortrag  in  einer  allgemeinen  Versammlung  des 
Instituts,  sondern  er  führte  auch  die  Gesammtheit  der  durch  die  elektrische  Aus- 
zählung gekrönten  Ausbeutungsarbeiten  einzelnen  Gruppen  der  Mitglieder  an  der 
Amtsstelle  noch  besonders  vor.  Auch  konnte  derselbe  Sonderabdrücke  seines  im 
„Allgemeinen  Statistischen  Archiv"  II.  Jahrgang  1891/92,  Halbb.  I.  (Tübingen, 
Laupp)  enthaltenen  Artikels  „Die  elektrische  Zählmaschine  und  ihre  Anwendung, 
insbesondere  bei  der  österreichischen  Volkszählung"-  zur  Verfügung  stellen.  Für 
Manchen  von  den  Theilnehmern,  insbesondere  für  die  Leiter  grosser  statistischer 
Aemter,  an  welchen,  wie  in  England,  noch  nach  der  alten  Strichelmethode 
gearbeitet  wird,  war  die  Kenntnisnahme  von  den  technischen  Fortschritten  des 
Ausbeutungsverfahrens,  wde  sie  ihnen  in  Wien  wurde,  in  gewissem  Sinne  eine  wirk- 
liche Offenbarung.  Ueber  die  ausserordentliche  sachliche  Bedeutung  des  Verfahrens 
bestand  kaum  ein  Widerstreit  der  Meinungen;  dagegen  wurde  mehrfach  der 
Wunsch  nach  genauer  Prüfung  des  Kostenpunktes  laut.  Der  Abschluss  der  öster- 
reichischen Auszählung  des  Volkszählungsmaterials  wird  bald  wohl  auch  in  dieser 
Hinsicht  die  gewünschten  Nachweise  bieten. 

Die  Entgegennahme  von  Mittheilungen  über  den  Stand  der  Statistik 
in  einzelnen  Ländern  ist  die  Wiederaufnahme  eines  bei  den  älteren  statistischen 
Congressen  eingehaltenen  Verfahrens.  Dieselbe  erscheint  zweckmässig  unter  der 
Voraussetzung,  dass  sie  in  der  Kegel  in  der  Üeberreichung  gedruckter  Berichte 
besteht,  und  nur  ausnahmsweise  —  wenn  wirklich  merkwürdige  Vorgänge  im 
Bereich  der  amtlichen  Statistik  eines  Landes  zu  berichten  sind  —  mündlich 
erfolgt.  Diesmal  erfolgten  Mittheilungen  von  Manos  und  Djuvara  über  die 
amtliche  Statistik  von  Griechenland  bezw.  Kumänien.  Zu  erAvähnen  ist  ferner 
die  sachlich  besonders  interessante  Mittheilung  von  Gould  über  den  Fort- 
schritt der  Arbeitsstatistik  in  den  Vereinigten  Staaten  aufgrund  einer  von  ihm 
eingereichten  Denkschrift  „The  progress  of  Labour  Statistics  in  the  United  States, 
by  E.  E.  L.  Gould,  Ph.  D.,  Statistical    Expert,    United    States    Departement    of 

21* 


016  ^layr. 

Labour."  Er  führt  darin  u.  A.  aus:  In  den  Vereinigten  Staaten  ist  zuerst  officiell 
die  Nützlichkeit  der  Statistik  bei  der  Erforschung  von  „labour  probleras"  aner- 
kannt worden.  Das  Bureau  für  Arbeitsstatistik  von  Massachusetts  wurde  1869 
gegründet.  In  den  letzten  22  Jahren  sind  ein  nationales  Arbeitsdepartement  und 
25  staatliche  Bureaus  ins  Leben  gerufen  M^orden.  Eine  dem  Berichte  beigefügte 
Uebersicht  gibt  Aufschluss  über  Organisation,  Befugnisse  und  Pflichten  dieser 
Behörden.  Als  günstige  Bedingungen  für  die  Wirksamkeit  der  arbeitsstatistischen 
Aemter  führt  Gould  den  Umstand  an,  dass  in  den  Vereinigten  Staaten  die 
arbeitenden  Classen  im  allgemeinen  wohlorganisiert  und  intelligent  seien.  Die 
Führer  der  Arbeiterbewegung  strebten  durchweg  danach,  ihre  Bestrebungen 
durch  den  Nachweis  bestimmter  festgestellter  Thatsachen  und  nicht  etwa  durch 
Erwägungen  „theoretischer  Gerechtigkeit"  zu  begründen.  Ein  zweiter  wichtiger 
Umstand  sei  der,  dass  die  amerikanischen  Unternehmer  viel  weniger  geheimnis- 
krämerisch (secretive)  und  viel  geneigter  zur  Ertheilung  von  Aufschlüssen  über 
ihre  eigenen  Interessen  und  jene  ihrer  Arbeitnehmer  seien  als  in  anderen  Ländern. 
Namentlich  habe  die  Erfahrung  sie  gelehrt,  dass  Manches,  was  als  Geschäfts- 
geheimnis angesehen  werden  mag,  diese  Eigenschaft  verliert,  sobald  es  unpersön- 
lich wird  und  die  Quelle  der  betreffenden  Information  nicht  mehr  identificiert 
werden  kann.  Dem  Takt  von  CaroU  D.  Wright,  dem  Chef  des  Arbeitsdeparte- 
ments, ist  es  namentlich  zu  danken,  dass  Unparteilichkeit,  Ehrlichkeit  und  Achtung 
vor  gewährtem  Vertrauen  den  Verdacht  entwaffnet  und  bereitwillige  Mitarbeit 
gewonnen  haben.  Für  die  weitere  Ausbeutung  der  statistischen  Aemter  war  ferner 
—  ausser  den  bereits  erwähnten  Umständen  —  die  Thatsache  wirksam,  dass 
die  ermittelten  Thatsachen  ohne  irgend  eine  „particular  advocacy''  dargelegt  wurden 
und  dass  die  Erfahrung  gezeigt  hatte,  dass  die  fraglichen  Behörden  in  nutz- 
bringender Weise  die  Gesetzgebung  beeinflusst  und  ein  besseres  Verständnis 
zwischen  Capital  und  Arbeit  befördert  hatten.  —  Von  16  Aemtern  liegen  Nach- 
weise über  den  Betrag  ihrer  Ausgaben  (ausschliesslich  der  Drucksosten  für  die 
Berichte)  im  ersten  Jahr  der  Gründung  und  für  das  laufende  Jahr  (1891)  vor; 
dieselben  betragen  97.200,  bezw.  290.470  Dollar.  Gould  ist  der  Ansicht,  dass 
die  bedeutende  Zunahme  dieser  Beträge,  welche  beim  Centralamt  (Departement 
of  labour)  allein  25.000  auf  168.270  Dollar  beträgt,  die  zunehmende  öffentliche 
Ueberzeugung  ausdrücken,  dass  die  verantwortliche  statistische  Erforschung  die 
Speculation  bei  der  Behandlung  der  sogenannten  socialen  Probleme  ersetzen  müsse. 
Weiter  geht  Gould  auf  die  im  Lauf  der  Zeit  eingetretene  Verbesserung  der 
Arbeiten  der  Bureaux  ein.  In  der  ersten  Zeit  habe  gewissermaassen  mehr  der 
Interviewer  als  der  Statistiker  gewaltet;  erst  allmählich  sei  eine  statistische  Con- 
centration  auf  eine  geringere  Zahl  wichtiger  Punkte  eingetreten.  Zur  Verbesserung 
der  Ermittlungen  hätten  namentlich  die  Jahresversammlungen  der  Vorstände  bei- 
getragen. —  Es  werden  jährlich  nind  130.000  Bände  „labour  reports"  in  den 
Vereinigten  Staaten  gedruckt.  Was  geschieht  mit  all'  dieser  Literatur?  Davon 
gehen  etwa  70  Procent  direct  in  die  Hände  der  arbeitenden  Classen  über,  der 
Best  geht  an  Zeitungen,  öffentliche  Bibliotheken,  Abgeordnete,  Professoren  und 
Lehrer,  Juristen,  Geistliche,  Industrielle.  Zu  bemerken  ist,  dass  in  den  Ver- 
einigten Staaten  die  „public  documents"  auf  Verlangen  umsonst  abgegeben  werden. 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  317 

Man  nimmt  an,  dass  die  Leute,  die  das  Interesse  zeigen,  sie  zu  verlangen,  die- 
selben auch  lesen.  Aus  den  Verhandlungen  in  den  gesetzgebenden  Körpern,  in  der 
Presse,  auf  dem  Lehrstuhl  und  innerhalb  der  Arbeiterorganisationen  geht  hervor, 
dass  der  Inhalt  der  Berichte  mehr  und  mehr  bekannt  wird.  Gould  berührt  als- 
dann im  Einzelnen  die  durch  die  Arbeitsämter  vorbereiteten  Fortschritte  der 
Gesetzgebung  und  betont  besonders  das  durch  dieselben  begründete  öffentliche 
Zutrauen,  so  zwar,  dass  sie  als  Erzieher  des  „public  sentiment"  angesehen  werden 
können.  —  Als  die  bemerkenswerteste  Leistung  des  Arbeitsdepartements  ist  die 
auf  nahezu  dreijähriger  Untersuchung  in  Amerika  und  Europa  beruhende  Ermitt- 
lung der  Productionskosten  bei  einigen  hauptsächlichen  Industriezweigen  mit 
Nachweis  des  Verhältnisses  der  Kosten  der  Arbeit  zu  den  gesammten  Productions- 
kosten, sowie  des  Erw^erbs  und  der  Kosten  des  Lebensunterhalts  der  Arbeiter. 
Die  Nachweise  sind  direct  von  den  Experten  aus  den  Büchern  von  einigen 
hundert  amerikanischen  und  mehr  als  100  europäischen  Etablissements  entnommen. 
(Hievon  ist  inzwischen  erschienen  die  Ermittlung  für  die  Eisen-  und  Stahlindustrie 
mit  Einschluss  des  Rohmaterials  derselben  als  Sixth  annual  Report  of  the  Com- 
missioner  of  Labor  1890.  Washington  1890.   1404  S.   8«.) 

Bei  der  grossen  Bedeutung,  welche  die  Frage,  nicht  mehr  der  Einrichtung 
überhaupt,  sondern  der  zweckmässigsten  Einrichtung  arbeitsstatistischer  Unter- 
suchungen gerade  in  neuester  Zeit  auch  für  die  europäischen  Länder  gewonnen 
hat,  glaubte  ich  nicht  unterlassen  zu  sollen,  auf  den  knappen,  aber  doch  viel- 
fach   interessanten    Bericht    Gould's    in  Vorstehendem    etwas    näher   einzugehen. 

Zu  den  Mittheilungen  über  statistische  Ereignisse  in  den  einzelnen  Ländern 
gehört  auch  jene,  welche  Bateman  über  die  Fortschritte  der  auf  Verein- 
heitlichung der  Handelsstatistik  des  gesammten  britischen  Reichs 
gerichteten  Bestrebungen  machte.  Bisher  stand  die  Verschiedenartigkeit  der 
Handelsausweise  einer  vergleichenden  Zusammenstellung  des  Mutterlandes,  der 
Colonien  und  sonstigen  Besitzungen  gegenüber.  Eine  vom  Colonial  office  berufene 
Commission  versucht  Abhilfe  hiefür  aber  ohne  ein  Eingreifen  in  die  Systematik 
der  verschiedenen  Handelsausweise  lediglich  mittelst  Aufstellung  so  weit  greifender 
Kategorien,  dass  sie  aus  den  Specialnachweisen  entnommen  werden  können.  Es 
sollen  nämlich  bezüglich  der  vorzugsweise  in  Betracht  kommenden  Waren- 
classification  nur  unterschieden  werden:  I.  Lebende  Thiere,  Nahrungsmittel, 
Getränke,  mit  Einschluss  der  Narcotica;  IL  Rohstoffe  der  Industrie  a)  Textile, 
b)  Metalle,  c)  Andere;  III.  Fabrikate  a)  Textile,  b)  Metalle,  c)  Andere.  IV.  Edel- 
metalle. Halbfabrikate  liess  man  geflissentlich  bei  Seite,  das  Halbfabrikat  soll 
im  Ausfuhrland  als  Fabrikat,  im  Einfuhrland  als  Rohstoff  zählen.  Diese  summa- 
rische Unterscheidung  werde  voraussichtlich  in  den  Kroncolonien,  und  wohl  auch 
in  der  grösseren  Zahl  der  autonomen  Colonien  angenommen  werden.  Bateman 
wollte  dieses  System  auch  für  die  internationale  Handelsstatistik  empfehlen,  stiess 
aber  auf  den  Widerspruch  der  handelsstatistischen  Commission  des  Instituts.  Es 
liegt  auf  der  Hand,  dass  eine  derartig  summarische  internationale  Handelsstatistik 
nur  von  sehr  geringem  Werte  wäre. 

Unter  den  Mittheilungen  ist  endlich  Juraschek's  Bericht  über  den  Lon- 
doner demographischen  Congress  hervorzuheben,  in  welchem  er  namentlich 


318  ^^y^- 

auf  die  Bedeutung  der  dort  von  mir  vorgeschlagenen  sorgsamen  statistischen 
Ausbeutung  des  Materials  der  Arbeiterversicherung  hinwies.  Bei  den  künftigen 
Versammlungen  des  Instituts  wird  vermuthlich  der  Berichterstattung  über  den 
Stand  der  Statistik  in  den  verschiedenen  Ländern  ein  breiterer  Baum  zufallen, 
denn  es  gelangte  in  der  Schlusssitzung  ein  Antrag  von  Cheysson  zur  Annahme, 
dass  für  jedes  Land  ein  Berichterstatter  zu  bestimmen  sei,  welcher  über  die 
Fortschritte  der  Statistik  in  seinem  Yaterlande  berichten  solle. 

Als  eine  Mittheilung,  welche  sich  auf  die  Erweiterung  des  Interessenten- 
kreises der  Statistik  durch  literarische  Bemühung  bezieht,  erscheint  Levasseur's 
Darlegung  über  die  Einführung  gewisser  Hauptergebnisse  der  Statistik  in  den 
Secundär-  und  Elementarunterricht.  Zur  Veranschaulichung  legte  er  die  von  ihm 
bearbeiteten  „Precis  geographiques"  vor,  welche  Frankreich,  Europa  und  die 
Erde  behandeln,  nebst  dem  dazu  gehörigen  statistischen  Atlas.  Die  Frage  des 
statistischen  Unterrichts  in  den  Volks-  und  Mittelschulen  kam  im  übrigen  nicht 
weiter  zur  Sprache. 

Ich  komme  nunmehr  zu  den  beiden  Hauptgruppen  der  Verhandlungen  des 
statistischen  Instituts  bei  der  Wiener  Versammlung,  zu  den  wissenschaftlichen 
Vorträgen  und  zu  den  praktisch-statistischen  Einzelvorschlägen.  Es 
würde  den  mir  hier  billigerweise  zuzugestehenden  Kaum  überschreiten,  wollte  ich 
eine  vollständige  Darlegung  des  Inhalts  dieser  Verhandlungen  versuchen.  Auch 
wäre  ich  dazu  wegen  der  Zersplitterung  der  Commissionsarbeit  in  zahlreiche 
gleichzeitig  tagende  Comite's  gar  nicht  imstande.  Ich  glaube  den  Wünschen  der 
Leser  dieser  Zeitschrift  am  besten  zu  entsprechen,  wenn  ich  es  versuche  eine 
nach  Hauptzweigen  der  Statistik  geordnete  Hauptübersicht  dessen  zu  geben,  was 
in  beiden  Eichtungen  geleistet  ist,  unter  Vorbehalt,  auf  einige,  insbesondere  volks- 
wirtschaftlich bedeutsame  Einzelheiten  etwas  näher  einzugehen. 

a)  Wissenschaftliche  Vorträge. 
1.  Bevölkerungsstatistik.  An  Bedeutung  obenan  steht  der  Vortrag  von 
Prof.  Lexis  über  die  Elemente  der  demographischen  Forschung.  Im 
Anschluss  an  die  Thatsache,  dass  ausser  den  ursprünglich  allein  beachteten 
administrativen  Zwecken  bei  den  Aufzeichnungen  über  den  Stand  und  die  Bewegung 
der  Bevölkerung  mehr  und  mehr  auch  wissenschaftliche  biologische  und  socio- 
logische  Gesichtspunkte  sich  geltend  machen,  bezeichnet  Lexis  die  Frage  nach 
dem  Ideal  demographischer  Forschung  nicht  mehr  als  verfrüht.  Ein  solches  Ideal 
ergibt  sich  aus  gewissen  leitenden  Vorstellungen  der  demographischen  Statistik. 
Im  mittleren  Menschen  Quetelets  besitzt  man  eine  solche  Vorstellung  für  den 
Stand  der  Bevölkerung,  insbesondere  für  anthropometrische  Thatsachen.  Dieser 
für  das  statistische  Gebiet  anwendbare  Typus  reicht  aber  nicht  für  das  dynamische 
aus.  Hier  dient  der  „demographische  Lebenslauf  des  abstracten  Menschen^  als 
leitende  Vorstellung.  Jeder  Mensch  kann  eine  Eeihe  von  Lebensphasen  durch- 
laufen, für  deren  Eintritt  eine  bestimmte  Wahrscheinlichkeit  besteht.  Diese  Eeihe 
von  Wahrscheinlichkeiten  bildet  den  specifischen  Ausdruck  des  demographischen 
Lebenslaufs.  Die  nähere  sachliche  Beweisführung  gab  Lexis  für  den  demographischen 
Lebenslauf    des    weiblichen    Geschlechts,    welches    mehr    statistisch    bedeutsame 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  319 

Stadien  durchläuft  als  das  männliche  (Geburt,  Yerehelichung,  Niederkunft,  Witwen- 
schaft, Wiederverehelichung,  Tod).  Die  Veröffentlichung  des  vom  Vortragenden  frei 
und  zum  Theil  mit  Abkürzungen  gegebenen  Vortrags  im  Bulletin  des  Instituts 
verspricht  hochinteressant  zu  werden,  sowohl  um  des  sachlichen  Inhalts  willen, 
als  auch  wegen  der  grundlegenden  klaren  Darlegung  der  Methode  der  Messung 
aller  Veränderungserscheinungen  des  menschlichen  Lebenslaufs.  Sorgsam  ent- 
worfene graphische  Darstellungen,  deren  Wiedergabe  im  Bulletin  wohl  auch 
erwartet  werden  darf,  dienten  zur  erwünschten  Erläuterung  der  grundlegenden 
theoretischen  Betrachtung  des  Vortragenden. 

Körösi   verbreitete    sich    über    die  Fruchtbarkeit    der  Ehen   und  die 
Vitalitätsverhältnisse    der    Kinder,    sowie    über    die    in  Budapest  bei   der 
Geburtsstatistik  eingeführten  Eeformen.  Ogle  beschäftigte  sich  damit,  einen  rasch 
vergleichbaren    Ausdruck    der    allgemeinen   Trauungs-,  Geburts-   und 
Sterbeziffern  zu  finden;  gleiches  erstrebt  Körösi  speciell  bezüglich  der  letzteren 
Ziffer,  welche    übrigens  auch    Ogle  vorzugsweise  interessiert.    Davon  ausgehend, 
dass  die  ungleichartige  Zusammensetzung  verschiedener  Bevölkerungen  nach  Alter 
und  Geschlecht  die  Vergleichbarkeit  der  in  gewöhnlicher  Weise  auf  den  Gesammt- 
bevölkerungsstand  berechneten  Trauungs-,  Geburts-  und  Sterbeziffern  beeinträchtigt, 
gleichwohl  aber  ein  kurzer  einfacher  Ausdruck   an  Stelle  einer  Eeihe  von  beson- 
deren,   nach    Alters-    und    Geschlechtsgruppen    abgestuften    Ziffern    solcher    Art 
erwünscht   ist,    wird    vorgeschlagen,    sich    über  eine  „Standard -Bevölkerung"    zu 
verständigen,  deren  bestimmtes  Geschlechts-  und  Altersverhältnis  allen  Vergleichs- 
berechnungen   zugrunde    zu    legen  wäre.    Es  würde    demnach   für  jedes  einzelne 
Land  die  für  die  einzelne  Geschlechts-  und  Altersclasse  sich  ergebende  besondere 
Sterbeziffer    berechnet,    und    daraus    unter    Zugrundelegung    der    angenommenen 
Geschlechts-    und    Aitersclassenvertheilung    die    allgemeine  Sterbeziffer   berechnet 
werden,  welche  man  bisher  einfach  aus  der  Vergleichung  der  Sterbefälle  mit  der 
affectiven  Gesammtbevölkeruug  gefunden  hat.  Ogle  schlägt  die  Gesammtbevölkerung 
einer  Anzahl  von  Staaten  Europas  als  Standard-Bevölkerung  vor.  Es  ist  nicht  zu 
leugnen,   dass  diese  Berechnungsweise,  vorausgesetzt,   dass   eine  genügend  grosse 
Zahl  von  Altersclassen  gebildet  wird,  wohl  geeignet  ist,  die  Sterbeziffer,  insoweit 
man  —  und    das    thun  ja  ganz    besonders    die  Engländer  —  geneigt  ist,   ohne 
weiteres   darin   einen  Maassstab  der  grösseren  oder  geringeren  Lebensgefährdung 
zu    sehen,    zu    verbessern,    insoferne    dadurch    die    Unterschiede   in   der  Lebens- 
bedrohung der  Gesammtbevölkerung,    welche  nicht  von  der  Gefährdung   der  ein- 
zelnen Geschlechts-    und  Altersclassen,    sondern    lediglich  von  der  verschiedenen 
Vertretung    der  letzteren  herrühren,    eliminiert  werden.    Durch  diese  modificierte 
Berechnungsweise  wird    übrigens  für    gewisse    allgemeine  Betrachtungen   anderer 
Art    die    übliche    Berechnung    der  allgemeinen  Trauungs-,    Geburts-  und  Sterbe- 
ziffern   ebensowenig    überflüssig    gemacht,    als  für  ein  tieferes  Eindringen  in  das 
Wesen  der  Bevölkerungsbewegung  eine  sorgsame  Berechnung  zahlreicher  besonderer 
Geburts-,    Trauungs-    und    Sterbeziffern    für    die    verschiedensten   Bevölkerungs- 
gruppen—  nicht  bloss  für  jene  nach  Geschlecht  und  Alter  —  entbehrt  werden  kann. 
Ein    eigenartiges    Interesse    bot    die  Mittheilung  Bouffet's,    des  Directors 
der  Departemental-    und    Communalv  er  waltung    im  französischen  Ministerium  des 


320  ^^y^- 

Innern,  über  die  letzte  französische  Volkszählung.  Dadurch  kam  nämlich 
die  das  französische  Yolkszählungsvresen  beherrschende  Zwiespältigkeit  der  Eessorts 
des  Ministeriums  des  Innern  und  des  Handelsministeriums  zum  Ausdruck.  Letzterem 
fällt  als  dem  statistischen  Ressort  die  schli essliche  Benützung  der  Yolkszählungs- 
Ergebnisse  für  die  Zwecke  der  allgemeinen  Statistik  zu;  auf  die  Durchführung 
der  Zählung  selbst  hat  es  keinen  unmittelbaren  Einfluss;  aber  ebensowenig  steht 
ihm  die  statistisch-technische  Ausbeutung  des  ürmaterials  zu.  Die  ganze 
Erhebung  und  das  ganze  Depouillement  wird,  sowohl  für  die  Zwecke  des  Mini- 
steriums des  Innern  fpopulation  legale)  als  des  Handelsministeriums  (population 
de  fait  in  ihren  verschiedenen  Gliederungen)  lediglich  durch  die  Organe  des 
Ministeriums  des  Innern,  die  Präfecten  und  die  Bürgermeister  nach  altmodischer 
Weise  besorgt  und  zvrar  auch  jetzt  noch,  nachdem  für  die  Erhebung  das  moderne 
Formular  der  Individualzählkärte  gewählt  ist.  Dass  der  Vertreter  der  eigentlichen 
Bureaukratie  auf  die  feineren  demographischen  Feststellungen  nicht  gut  zu 
sprechen  ist,  begreift  man;  selbst  dem  Verlangen  einiger  Präfecten,  die  undelicate 
Frage  nach  dem  Alter  der  Gezählten  zu  unterdrücken,  steht  er  sympathisch 
gegenüber.  Diesen  restrictiven  Bestrebungen  muss  der  Statistiker  entschieden 
gegenübertreten,  wenn  dies  auch  in  Wien  seitens  Vannacque's,  des  Vertreters 
der  französischen  Generalstatistik,  wohl  deshalb  nicht  geschah,  weil  man  es  nicht 
für  ziemlich  hielt,  Gegensätze  amtlicher  französischer  Vertreter  offen  zum  Ausdruck 
zu  bringen.  Was  dagegen  Bouffet  über  die  Unvollkommenheiten  der  Zählungs- 
durchfiihrung  und  insbesondere  über  die  Nothwendigkeit  der  Vermehrung  der 
Zahler  und  einer  verbesserten  Organisation  derselben  vorbrachte,  düvfte  allseitiger 
Zustimmung  sicher  sein.  Gleiches  gilt  von  den  Ausführungen  über  die  Unzweck- 
mässigkeit  der  Einrichtung  der  statistisch-technischen  Ausbeutung,  nach  welcher 
noch  heute  in  Frankreich  die  Ausfüllung  spaltenreicher  Concentrationsformulare 
den  Bürgermeistereien  und  deren  Summierung  den  Präfecturen  zufällt,  wie  es  in 
Deutschland  in  der  Hauptsache  seit  Jahrzehnten  nicht  mehr  geschieht.  Bezüglich 
der  Frage  der  Centralisation  der  Ausbeutun2:sarbeit  machte  es  den  Eindruck,  als 
sei  Bouffet  mit  dem  Gedanken  nach  Wien  gekommen,  die  Errichtung  von 
statistischen  Bureaux  bei  den  einzelnen  Präfecturen  zu  befürvrorten,  und  als  habe 
erst  das,  was  er  in  Wien  von  den  centralen  Leistungen  eines  Eeichsbureau 
gesehen  hatte,  ihn  zu  dem  schliesslichen  „persönlichen"  Votum  einer  Centralisation 
der  Ausbeutungsarbeiten  für  ganz  Frankreich  bewogen,  worin  ihm  übrigens  nur 
zugestimmt  werden  kann.  Ein  Stächelchen  gegen  die  Pariser,  unter  Bertillon's 
treft'licher  Leitung  stehende  Communalstatistik,  brachte  Bouffet's  Schlusswort, 
indem  er  dem  allenfalsigen  Erstaunen  darüber,  dass  er  über  die  Pariser  Volks- 
zählung gar  nichts  gebracht  habe,  mit  der  Bemerkung  begegnete,  dass  Bertillon 
ihm  nicht  ä  temps  den  verlangten  Bericht  erstattet  habe.  Doch  bemerkte  Bouffet 
—  etwas  auffallend  herablassend  —  weiter,  dass  er  diese  Verzögerung  verzeihe 
und  zum  Beweis  dafür  erkläre,  dass  die  Zählung  in  Paris  trotz  der  grossen 
Schwierigkeiten  unter  den  besten  Umständen  erfolgt  sei  und  dass  dieser  Erfolg  dem 
Eifer  und  der  geschickten  Leitung  des  Chefs  des  statistischen  Dienstes  der  Stadt 
Paris  zu  danken  sei.  —  Nach  Allem  kann  man  nur  wünschen,  dass  das  ganze 
französiche  Volkszählungswesen  einer  gründlichen  Reform  unterstellt  werden  möge. 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  321 

2.  Moraistatistik.  Hier  kommt  nur  der  Vortrag  von  Földes  (Budapest) 
über  die  „Statistik  der  Eecidivität  in  Ungarn"  in  Betracht.  Földes  hat 
in  jüngster  Zeit  eine  Arbeit  über  „Einige  Ergebnisse  der  neueren  Criminal Statistik" 
in  der  Zeitschrift  für  die  gesammte  Strafrechtswissenschaft  (Band  XI,  Heft  5  u.  6) 
veröffentlicht,  welche  auf  gründlicher  Literaturkenntnis  fusst  und  eine  sehr 
beachtenswerte  Durchsprechung  aller  criminalstatistisch  wichtigen  Gesichtspunkte 
enthält.  In  dem  Vortrag  über  die  Kückfälligkeit  in  Ungarn  hat  er  sich  einen, 
nach  sachlichem  Inhalt,  wie  nach  dem  herangezogenen  statistischen  Belegmaterial 
ziemlich  eng  bemessenen  Ausschnitt  aus  dem  Gesammtgebiet  der  criminalstatisti- 
sehen  Untersuchungen  gewählt.  Er  konnte  dabei  an  das  specielle  Interesse  anknüpfen 
welches  die  internationale  criminalistische  Vereinigung  auf  ihrer  Herbstversammlung 
von  1891  zu  Christiania  für  den  Ausbau  der  Rückfälligkeitsstatistik  bekundet 
hatte.  Das  Material  seiner  speciellen  Betrachtungen  hat  er  nicht  der  ungarischen 
Statistik  der  Strafrechtspflege  im  engeren  Sinne,  sondern  der  ungarischen  Gefangnis- 
statistik  entnommen;  in  den  Einzelheiten  der  Durchführung  sind  in  knapper 
Uebersicht  alle  criminalpolitisch  wie  socialogisch  wichtigeren  Zielpunkte  der 
statistischen  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  Eückfälligkeit  zur  Geltung  gebracht. 

3.  AVirtschaftliche  Statistik.  Zuerst  sei  des  Altmeisters  Engel  Vortrag 
über  die  statistische  Tragweite  des  Familienbudgets  erwähnt.  Derselbe 
stellt  sich  nur  als  eine  vorläufige  Mittheilung  über  die  von  Engel  bewirkte 
statistische  Ausbeutung  von  Haushaltungs-Rechnungsbüchern  dar,  welche  ihm  von 
3278  Familien  (mit  rund  18.000  Personen)  aus  allen  Ständen  vertrauensvoll  zur 
Benützung  überlassen  wurden.  Es  handelt  sich  dabei  nicht  etwa  bloss  um  sog. 
„Arbeiterbudgets"  ;  denn  es  sind  dabei  Jahres-Haushaltsausgaben  von  300  bis 
300.000  Mark  vertreten.  Der  Vortrag  Engel's  enthielt  nur  einige  kurzgefasste 
vorläufige  Mittheilungen  über  die  Technik  der  Aufarbeitung  des  von  ihm  gesam- 
melten Materials  und  über  einzelne  dabei  hervortretende  Schwierigkeiten.  Bezüglich 
der  materiellen  Ergebnisse  bemerkte  er  nur,  dass  bei  Ordnung  der  nach  Ein- 
nahme-und  Ausgabegliederungen  geordneten  Tabellen,  gleichsam  von  selbst  das  auf 
den  grossen  Zahlen  beruhende  Gesetz  der  Ausgaben  erwachse ;  dieses  Gesetz 
lehre  zugleich,  wie  viel  bei  gegebenen  Mitteln  für  jedwede  Familie  von  einer  oder 
der  anderen  Einheitenzahl  für  die  verschiedenen  Bedürfnisse  des  Lebens  aus- 
gegeben werden  könne  und  dürfe;  nicht  minder  gebe  dieses  Gesetz  Aufschluss, 
welche  Kosten  die  Erziehung  und  Auferziehung  des  einzelnen  Menschen  in  den 
verschiedensten  Vermögensclassen  verursache.  Engel  hat  eine  vollständigere 
Darlegung  der  Ergebnisse  seiner  Untersuchungen  im  Bulletin  de  l'Institut  in 
Aussicht  gestellt,  welcher  man  mit  grossem  Interesse  entgegensehen  darf.  Die 
Neuzeit  beeilt  sich  durch  die  exacte  Massenbeobachtung  der  privaten  Einzelwirt- 
schaften eine  Lücke  der  Erkenntnis  auszufüllen,  welche  gegenüber  der  durch  die 
Finanzstatistik  gebotenen  Kenntnis  des  Haushalts  der  öffentlichen  Einzelwirt- 
schaften als  besonders  empfindlich  erscheinen  musste.  Es  es  nicht  zu  bezweifeln, 
dass  auf  der  statistischen  Grundlage  dieser  Massenbeobachtungen  der  privaten  Einzel- 
wirtschaften allmählich  in  der  Wirtschaftslehre  als  Gegenstück  zur  Finanzwissen- 
schaft als  der  Wissenschaft  vom  öffentlichen  Haushalt  sich  eine  neue  Disciplin, 
die  Wissenschaft  vom  Privathaushalt,  ausbilden  wird. 


322  Mayr. 

Ein  treffliches  Beispiel    einer    sorgsam    ausgestalteten   secundärstatistischen 
Arbeit  bildet  die  in  Frankreich  an  die  neue   Ermittlung   und  Einschätzung 
des    Gebäudebestandes    angeknüpfte    statistische    Darlegung    der    Ergebnisse 
dieser,  zunächst  nicht  um  der  Bereicherung  statistischen  Wissens  sondern  gewisser 
Steuerreformzwecke  willen  durchgeführten  Ermittlungen.  Staatsrath  Boutin,  General- 
director  der  directen  Steuern  und   des   Catasters  im  Finanzministerium,   zugleich 
eifriges  Mitglied  der  Pariser  statistischen  Gesellschaft  gab  in  formgewandter  Eede 
einen    üeberblick     der    in    wirtschafts-statistischer   Hinsicht    sehr    interessanten 
Ergebnisse    der  unter   seiner  Leitung  in  ganz  Frankreich  in  nicht  viel   mehr  als 
zwei  Jahren  (August  1887    bis  Xovember  1889)    durchgeführten  Erhebung.    Das 
Bulletin  des  Instituts  wird  die  vollständige,  mit  einigen  tabellarischen  Nachweisen 
ausgestattete    Boutin'sche    Zusammenstellung    bringen,    von  welcher   der  Eedner 
beim  mündlichen  Vortrag  Einzelnes  in  Wegfall  bringen  musste.    Man  wird   diese 
Arbeit    auf   lange    hinaus  als  ein  Musterbild    von    dem   ansehen  dürfen,  was  bei 
ernsthafter    Zusammenarbeit    administrativen    und    statistischen    Sinnes    aus    dem 
Urstoff  einer  fiscalischen  Erhebung  gemacht  werden  kann.  Darin  liegt  die  weiter- 
greifende methodologische  Bedeutung  dieser  Arbeit;    denn   noch   ausserordentlich 
viel   ungenützter   wirtschaftsstatistischer   Stoff   steckt   in    den    massenhaften  Auf- 
zeichnungen unserer  Steuerveranlagungs-   und  Steuererb ebungsbehürden  aller  Art. 
Die   nächste    dringende    Aufgabe,    welche   anwächst,    wird  in  Oesterreich   wie  in 
Preussen    die    gründliche    Ausgestaltung    einer,    an   die   zu  beschliessende,  bezw. 
beschlossene   Steuerreform    anknüpfenden  Einkommensteuer  -  Statistik    sein.     Was 
speciell    die  von  Boutin  behandelte  Statistik  der  Gebäude-Ermittlung  und  -Ein- 
schätzung  anlangt,    so  mag   noch    darauf   aufmerksam   gemacht  sein,    dass  eine 
ganz    ähnliche    Arbeit,    wie   sie   in  Frankreich  von  1887   bis  1889  durchgeführt 
wurde,  in  Elsass-Lothringen  —   wo    im  übrigen    noch    die    französische    Grund- 
besteuerung in  Geltung  ist  —  unmittelbar  bevorsteht.  Durch  das  kürzlich  erlassene 
Gesetz   vom   6.  April  1892,    betr.    Abänderung   des  Gesetzes    über    die   Bereini- 
gung des   Catasters,  die  Ausgleichung  der  Grundsteuer  und   die  Fortführung  des 
Catasters   vom  31.  März  1884   ist  bestimmt,    dass  alsbald    eine  Neueinschätzung 
der  Gebäude  unabhängig  von  der  Catasterbereinigung   stattzufinden  hat.   Zugleich 
sind  eingehende  Bestimmungen  über   die  Grundsätze   getroffen,    nach  welchen  die 
Einschätzung   zu    erfolgen    hat.    Man  darf  wohl  annehmen,   dass  an  die  dadurch 
veranlasste,    gleichfalls    auf   etwa    zwei  Jahre  veranschlagte  Yerwaltungsthätigkeit 
sich    eine   ähnliche   wirtschaftsstatistische  Ausnützung    des  Materials   anschliessen 
wird  wie  in  Frankreich. 

Von  den  an  Boutin's  Vortrag  anknüpfenden  Erörterungen  ist  hervorzu- 
heben eine  eingehende,  sachkundige  Darlegung  von  John  (Innsbruck)  über  die 
Nothwendigkeit  bei  der  Gebäude  Statistik  auf  die  Ennittlung  der  im  Bau 
begriffenen  Gebäude  Rücksicht  zu  nehmen,  und  zwar  nicht  bloss  gelegentlich 
einer  nach  längeren  Zwischenräumen  wiederkehrenden  einmaligen  Aufnahme, 
sondern  mittelst  fortlaufender  Eegistrierung  der  gesammten  Bauthätigkeit. 

Eine  Keihe  interessanter  wirtschaftsstatistischer  Speciali täten  sind  in  dem 
gedruckt  eingereichten,  von  Vannacque  im  Auszug  verlesenen  Aufsatze  von 
Neymarck  über   die  A'ertheilung  der  französischen  Ersparnisse  auf  französi- 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  323 

sehe  und  ausländische  Mobiliar  werte  enthalten.  Die  vrissenschaftlich  noch 
wenig  gepflegten  Gebiete  der  Bursenstatistik  und  der  Statistik  der  Staats- 
schuld, bei  letzterer  mit  thunlichster  Berücksichtigung  der  geographischen 
Yertheilung  der  Eenteninscriptionen,  werden  hier  in  beachtenswerter  Weise 
betreten ;  daran  schliessen  sich  allgemeine  wirtschaftspolitische  und  hochpolitische 
Betrachtungen.  In  den  Schlussergebnissen  wird  die  Xothwendigkeit  eines  inter- 
nationalen öffentlichen  Finanzrechts  betont  und  auf  den  Zusammenhang  des 
bedeutenden  französischen  Mobiliarvermögens  mit  der  Friedensliebe  des  Landes 
hingewiesen. 

Auf  dem  Gebiete  der  Arbeiterstatistik  hielt  Dr.  Ogle  einen  fgl eichzeitig 
gedruckt  vorgelegten)  Vortrag,  den  er  selbst  bezeichnete  als  „Bemerkungen  über 
de-n  Civilstand,  die  Familie,  die  Wohnung  und  den  Mietzins  bei  der  arbeitenden 
Classe  in  London  und  über  das  Verhältnis  zwischen  dem  Mietbetrag  und  den 
Löhnen".  Wir  haben  es  bei  der  Ermittlung,  deren  summarische  Ergebnisse  Dr.  Ogle 
vorführte,  offenbar  mit  einem  Versuche  noch  aus  der  Zeit  der  systemlosen  arbeits- 
statistischen Erhebungen  zu  thun.  Das  Material  wurde  vor  etwa  vier  Jahren  von 
Eegierungs wegen  (durch  welche  Behörde?  gibt  Ogle  nicht  an)  in  der  Art 
gesammelt,  dass  in  vier  verschiedenen  Districten  Londons,  welche  vorzugsweise 
von  Arbeitern  bewohnt  sind,  Karten  mit  gewissen  vorgedruckten  Fragen  an  die 
Arbeiterfamilien  und  einzeln  lebende  Arbeiter  vertheilt  wurden.  Wie  viel  Karten 
zur  Vertheilung  kamen,  ist  nicht  gesagt;  dagegen  erfahren  wir,  dass  29.451 
Karten  ausgefüllt  eingesammelt  werden  konnten,  wovon  8008  oder  nicht  weniger 
als  27  Proc.  auf  ausser  Arbeit  stehende  Arbeiter  trafen  (diese  hatte«  wohl  am 
meisten  Zeit  zur  Ausfüllung  der  Karten!).  Die  Karten  wurden  keinerlei  Prüfung 
unterworfen,  sondern  einfach  zusammengestellt;  die  wichtige  Frage  nach  dem 
Lohn  scheint  lediglich  in  der  —  nunmehr  allseitig  verworfenen  —  Form  der 
Erfragung  von  Wochendurchschnittslöhnen  gestellt  worden  zu  sein.  Ogle  hat 
selbst  in  das  Material  kein  besonderes  Vertrauen,  meint  aber  demselben  doch 
einen  gewissen  negativen  Vorzug  zuschreiben  zu  dürfen,  weil  in  den  ungeprüften 
Karten  die  Lage  der  Arbeiter  vermuthlich  keinesfalls  zu  ungünstig  erscheine,  da 
eine  Tendenz  zur  Uebertreibung  der  Ausgaben  und  zur  Unterschätzung  der  Ein- 
nahmen vorgelegen  haben  dürfte.  Man  muss  sich  nur  über  die  Unempfindlichkeit 
der  dieses  Material  bearbeitenden  Stelle  wundern,  welche  nicht  einmal  mittelst 
Stichproben  eine  Prüfung  darüber  anstellte,  ob  ihre  vorbezeichnete  deductive  Ver- 
muthung  denn  auch  inductiv  haltbar  Aväre.  Auch  bei  der  Ogle'schen  Schluss- 
zusammenfassung der  Kesultate,  z.  B.  bei  der  Ermittlung  eines  Hauptdurchschnitts- 
lohns (der,  nebenbei  bemerkt,  einen  recht  geringen  socialstatistischen  Wert  hat) 
laufen  noch  manche,  in  der  optimistischen  englischen  Statistik  unserer  Tage 
übrigens  nicht  selten  anzutreffende,  recht  anfechtbare  Hypothesen  mit  unter.  Man 
darf  hienach  die  Schlussergebnisse  Ogle's  nur  unter  grossen  Eeserven  annehmen 
und  in  ihnen  mehr  blosse  Fragenanreger  als  Fragenlöser  erkennen.  In  diesem 
Sinne  mögen  dieselben  hier,  zugleich  zur  Charakterisierung  der  ganzen  Ogle'schen 
Studie,  aufgeführt  sein: 

Wenn  die  ungeprüften  Angaben  der  Londoner  Arbeiter  als  wahr  angenom- 
men werden,   ergibt  sich: 


324  ^fay^- 

1.  Dass  der  Arbeiter  sehr  zeitig  heiratet  und  foli,4ich  eine  starke  Familie 
zu  unterhalten  hat,  da  auf  einen  Verheirateten  drei  hei  ihm  lebende  Kinder 
treifen ; 

2.  dass  das  durchschnittliche  Wocheneinkommen  der  in  Arbeit  stehenden 
Männer  aus  allen  Quellen  26*19  Schilling  oder  Mark  (13*09  Gulden,  32-74 
Francs)  beträgt; 

3.  dass  von  dieser  Einnahme  etwa  23*5  Proc.  auf  Hausmiete  treffen,  wobei 
sich  das  Verhältnis  umgekehrt  zur  Höhe  des  Einkommens  gestaltet; 

4.  dass  die  Wohnungsverhältnisse  sich  so  gestalten,  dass  in  der  Kegel 
1*65  Personen  auf  1  Zimmer  treifen; 

5.  und  dass  die  Wohnungskosten  im  Mittel  in  der  Woche  für  ein  Zimmer 
2*19  Schilling  oder  Mark  (1*10  fl.,  2*74  Frcs.)  und  für  eine  Person  1*33  Schilling 
oder  Mark  (1*16  fl.,   1*66  Frcs.)  betragen. 

Ueber  die  Statistik  der  professione»llen  Syndicate  und  Arbeiter- 
verbände in  Frankreich  hielt  Turquan,  der  Chef  des  Bureau  für  allgemeine 
Statistik  einen  Vortrag.  Er  konnte  dabei  die  durch  die  Gesetzgebung  geförderte 
bedeutende  Zunahme  aller  S3ndicate,  sowohl  der  Arbeitgeber  als  der  Arbeit- 
nehmer, nachweisen. 

Eine  interessante  Specialität  war  auch  der  durch  graphische  Darstellungen 
in  sinnreicher  Weise  veranschaulichte  Vortrag  von  Foville,  dem  Chef  des 
statistischen  Bureaus  im  französischen  Finanzmin-isterium' über  die  französischen 
Münzenzählungen  von  1878,  1885  und  1891.  Es  wird  der  Bestand  an  Münzen 
bei  allen  öffentlichen  Cassen  und  bei  jenen  Creditan stalten  ermittelt,  welche  sich 
dazu  bereit  erklären.  Daraus  ergeben  sich  für  Frankreich  ungefähr  20.000  Er- 
hebungsstationen. Die  Zählung  findet  an  demselben  Tage,  zu  derselben  Stunde 
aufgrund  eines  einheitlichen  Formulars  statt.  Gold-  und  Silbermünzen  werden 
getrennt  nachgewiesen.  In  allen  diesen  Punkten  unterscheidet  sich  die  französische 
Münzenzählung  nicht  wesentlich  von  ähnlichen  Erhebungen  wie  sie,  zum  Theil 
sogar  alljährlich,  auch  anderwärts,  insbesondere  in  Deutschland  stattfinden.  Eine 
beachtenswerte  Eigenartigkeit  der  französischen  Münzenzählungen,  welche  denselben 
ein  besonderes  statistisches  Interesse  verleiht,  liegt  darin,  dass  auch  die  Nationa- 
lität und  das  Prägungsjahr  der  Münzen  ermittelt  und  in  den  statistischen  Ueber- 
sichten  nachgewiesen  sind.  Dadurch  wird  es  im  Zusammenhang  mit  den  Nachweisen 
über  die  Ausprägungen  gewissermaassen  möglich  eine  Art  Absterbeordnung  der 
Münzen,  wenigstens  soweit  die  Circulation  im  Inlande  in  Frage  ist,  aufzustellen. 
Als  wesentlichste  Hauptergebnisse  führte  Foville  folgende  an:  1.  In  den  Jahren 
1891  und  1885  machte  der  Goldumlauf  69  Proc,  der  Silberumlauf  31  Proc. 
der  gesaramten  Circulation  aus;  2.  im  Jahre  1885  machte  das  fremde  Gold 
10*14  Proc,  im  Jahre  1891  31  Vo  Pi'oc  des  gesammten  Umlaufs  aus;  3.  unter 
den  silbernen  Courantmünzen  (5-Frankenstücke)  waren  im  Jahre  1885  29  Proc, 
im  Jahre  1891  31^/2  Proc.  fremden  Gepräges;  4.  es  ist  wahrscheinlich,  dass  in 
Frankreich  im  ganzen  4  Milliarden  Franken  in  Gold  französischen  und  fremden 
Geprägs  und  2^,'^  Milliarden  Silbermünzen  (Courantmünzen  und  ihre  Untertheilungen) 
oder  im  ganzen  6V2  Milliarden  Franken  in  Münze  vorhanden  sind. 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jalires  1891.  325 

b)  Praktiscli-statistische   Einzelvorschläge. 

AYas  bisher  von  den  Verhandlungen  des  internationalen  statistischen  Instituts 
in  Wien  erörtert  worden  ist,  war  so  geartet,  dass  es  eine  active  Zusammenarbeit 
der  gelehrten  Gesellschaft  nicht  erforderte,  sondern  vorzugsweise  nur  eine  receptive 
Thätigkeit  derselben  in  Anspruch  nahm.  Noch  aber  ist  eine  wichtige  G-ruppe  der 
Verhandlungen  zu  erwähnen,  bei  welcher  recht  eigentlich  die  geistige  Zusammen- 
arbeit der  Mitglieder  in  den  Vordergrund  tritt.  Es  handelt  sich  um  die  auf  das 
Gebiet  der  praktischen  Statistik  sich  erstreckenden  Vorschläge  über  die  Ziel- 
punkte und  die  Einrichtung  der  statistischen  Massenbeobachtung  auf  ihren 
einzelnen  Erscheinungsgebieten.  Die  Zusammenarbeit  der  Mitglieder  in  dieser 
Hinsicht  hat  die  Hauptstätte  ihrer  Wirksamkeit  in  den  zahlreichen  Commissionen 
gefunden,  welche  theils  von  früheren  Sessionen  übernommen,  theils  in  Wien 
neugebildet  worden  waren.  Die  weitgehende  Arbeitstheilung,  welche  hiedurch  für 
die  Commissionsarbeit  erzielt  war,  hat  ihre  guten,  aber  auch  ihre  bedenklichen 
Seiten,  und  fast  will  mir  scheinen  als  hätten  bei  der  Wiener  Versammlung  des 
Instituts  die  letzteren  überwogen.  Die  Vielheit  der  Commissionen  hat  es  ermöglicht 
in  verhältnismässig  kurzer  Zeit  zahlreiche  Verhandlungsgegenstände  zur  Erledigung 
zu  bringen.  Dagegen  hatte  dieselbe  ein  vielfaches  Nebeneinandertagen  der  ver- 
schiedenen Commissionen  und  damit  für  manches  Mitglied  die  Unmöglichkeit  zur 
Folge  bei  Verhandlungen,  die  ihm  an  sich  grosses  Interesse  geboten  hätten, 
Theil  zu  nehmen,  wenn  es  durch  die  Verhandlungen  in  einer  anderen  Commission 
gebunden  war.  Mancher  sachkundige  Beitrag  zu  den  A'erhandlungen  ist  dadurch 
unterdrückt  worden,  was  meines  Erachtens  um  so  bedauerlicher  ist,  als  die  grosse 
Fülle  der  Vorarbeit,  welche  für  alle  Einzelfragen  theils  theoretisch  durch  die 
älteren  statistischen  Congresse,  theils  praktisch  durch  die  Statistik  der  verschiedenen 
Länder  geleistet  ist,  Gefahr  läuft  nicht  durchwegs  vollständig  gewürdigt  zu 
werden,  wenn  in  den  Commissionen  nur  eine  kleine  Zahl  von  Mitgliedern  mit- 
arbeitet. Mir  kommt  es  vor,  als  empfehle  es  sich  für  die  nächste  Versammlung 
des  Instituts  ein  gleichzeitiges  Tagen  verschiedener  Commissionen  zu  vermeiden. 
Demgemäss  wäre  die  Zahl  der  Verhandlungsgegenstände  stark  einzuschränken. 
Weiters  möchte  ich  empfehlen  über  alle  diese  Gegenstände  vor  der  Berathung 
in  der  Commission  eine  vorläufige  Besprechung  im  Plenum,  gewissermaassen  eine 
erste  Lesung  eintreten  zu  lassen,  und  dieselben  erst  dann  je  nach  Bedürfnis  an 
die  Commission  zu  verweisen.  Dadurch  wird  in  sachlicher  Hinsicht  die  möglichs 
vollständige  Hervorhebung  aller  in  Betracht  kommenden  Gesichtspunkte  gefördert 
und  in  persönlicher  Beziehung  der  Vortheil  erzielt,  dass  alle  Diejenigen,  welche 
für  den  concreten  Gegenstand  nach  Maassgabe  der  Vorerörterung  sich  zu 
interessieren  veranlasst  fühlen,  alsdann  bei  den  Commissionsverhandluiigen  sich 
einfinden  werden.  Diese  sachliche  Verstärkung  der  Plenar-  und  Commissions- 
arbeit während  der  Tagung  des  Instituts  scheint  mir  wichtiger,  als  die  grund- 
sätzlich angenommene  Fortdauer  der  Commissionsthätigkeit  zwischen  den  einzelnen 
Tagungen,  welche  an  der  räumlichen  Trennung  der  Commissionsmitgiieder  fast 
unüberwindliche  Hindernisse  findet. 

Im  Folgenden  soll   zum  Abschluss  der  Erörterungen  über  die  Wiener  Ver- 
handlungen des  internationalen  statistischen  Instituts  ein  Blick  auf  die  wichtigeren 


326  ^layr. 

Beschlüsse  auf  dem  Gebiet  praktisch-statistischer  Eiiizelvorschläge  geworfen 
werden.  Dabei  wird  es  Billigung  finden,  wenn  über  jene  Punkte,  bei  welchen 
man  zu  bestimmten  Vorschlägen  sich  noch  nicht  zu  einigen  vermochte,  über  welche 
deshalb  die  Arbeit  des  Instituts  zunächst  noch  fortgesetzt  werden  soll,  hier 
nur  ganz  kurz  berichtet  wird. 

1.  Bevölkerungsstatistik.  Am  bedeutungsvollsten  sind  die  vom  Institut 
gefassten  Beschlüsse  über  den  internationalen  Austausch  der  auf  die 
Statistik  der  Staatsfremden  bezüglichen  Nachweise.  Vorschläge  hierüber 
waren  von  v.  Inama-Stern egg  nach  zwei  Eichtungen  erstattet,  sowohl  hin- 
sichtlich des  Austausches  der  für  die  Fremden  gelegentlich  der  Volkszählungen 
erwachsenen  Individual-Anschreibungen  als  hinsichtlich  der  Individualaufzeichung 
der  Aus-  und  Einwanderer  in  den  Ein-  und  Ausschiffungshäfen.  Den  internationalen 
Austausch  von  Copien  der  Zählkarten  oder  der  Zählungslisten-Einträge  der 
Volkszählung  zu  beantragen,  war  gerade  v.  Inama-Sternegg  in  hervorragender 
Weise  befugt,  nachdem  0 esterreich  mit  gutem  Beispiele  vorangegangen  ist  und 
sich  bereit  erklärt  hat  Individual-Karten  über  die  bei  der  Zählung  ermittelten 
Staatsfremden  selbst  solchen  Staaten  zur  Verfügung  zu  stellen,  welche  keine 
Keciprocität  gewähren.  Auch  im  Deutschen  Reich  ist  bei  der  Volkszählung  von 
1890  in  den  vom  Bundesrath  über  die  Bearbeitung  der  Ergebnisse  derselben 
getroffenen  Bestimmungen  zum  erstenmal  die  Anordnung  getroffen  worden,  dass 
seitens  der  mit  der  Ausbeutung  des  Volkszählungsmaterials  betrauten  einzel- 
staatlichen statistischen  Aemter  über  die  ortsanwesenden  Reichsausländer  sowie 
über  die  im  Reichsauslande  geborenen  deutschen  Reichsangehörigen  Abschriften 
aller  in  den  Zählungsformularen  (Zählkarten  oder  Zählungslisten)  enthaltenen 
persönlichen  Angaben  unter  Beifügung  des  Staats,  des  Bezirks,  der  Gemeinde 
und  des  Orts  der  Zählung  anzufertigen  und  dem  kaiserlichen  statistischen  Amt 
bis  zum  31.  December  1892  zu  übersenden  sind.  Schon  nach  der  Zählung  von 
1885  hatte  die  Reichsverwaltung  sich  veranlasst  gesehen,  auswärtigen  Regierungen 
auf  ihr  Ansuchen  Mittheilungen  über  deren  im  Reichsgebiet  gezählte  Angehörige 
zu  machen;  nachdem  inzwischen  mit  einer  Reihe  fremder  Regierungen  Abreden 
behufs  Austausches  solcher  Mittheilungen  getroffen  waren,  erwies  sich  die  oben 
erwähnte    bundesräthliche  Anordnung  als  nothwendig. 

AVas  das  Institut  hinsichtlich  des  Austausches  der  Individual-Zählungs- 
Ergebnisse  befürwortet,  ist  demnach  nichts  absolut  neues;  der  AYert  des  Beschlusses 
liegt  in  der  Befürwortung  einer  Verallgemeinung  des  zAvischen  einzelnen  Staaten 
bereits  eingeführten  A^erfahrens  und  in  dem  AVunsch,  dass  es  den  Bemühungen 
der  Diplomatie  gelingen  möge,  darüber  eine  besondere  internationale  Convention 
zustande  zu  bringen.  Erst  bei  allgemeiner  Durchführung  dieses  Austausches 
findet  der  volle  social-statistische  AVert  der  darin  liegenden  Internationalisierung 
gewisser  Elemente  der  Bevölkerungsstatistik  seinen  Ausdruck.  Erst  wenn  man  die 
gesammte,  in  allen  AA^elttheilen  ausser  dem  Heimatstaat  lebende  Staatsangehörige 
Bevölkerung  kennt,  kann  man  für  einen  gegebenen  Staat  die  volle  Summe  der 
ihm  öffentlich-rechtlich  zugehörigen  Bevölkerung  ermitteln.  Dabei  bietet  es  social- 
und  wirtschaftsstatistisches  Interesse  Aveiterhin  den  Aufenthalt  dieser  ausser  den 
Staatsgrenzen  lebenden  Staatsangehörigen  im  geographischen  Detail  sowohl   seiner 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  327 

ausländischen  Aufenthalts-  wie  seiner  inländischen  Geburtsbezirke  nachweisen  zu 
können.  Aus  der  ersteren  Betrachtung  ergibt  sich  die  Eigenartigkeit  der  inter- 
nationalen Expansivkraft  einer  Bevölkerung,  während  die  zweite  Betrachtung 
eine  wichtige  Ergänzung  zu  den  Xachweisungen  über  das  Maass  der  Nachwuchs- 
liefemng  in  den  einzelnen  Landestheilen  bietet,  welche  aus  einer  sorgsam 
bearbeiteten  nationalen  Gebürtigkeitsstatistik  entnommen  werden  können.  Voll- 
ständig ist  die  Betrachtungsweise  letzterer  Art  dann,  wenn  man  —  wie  dies 
in  den  deutschen  bundesräthlichen  Bestimmungen  vorgesehen  ist  —  nicht  bloss 
auf  die  rechtlichen  Ausländer  sondern  auch  auf  die  lediglich  der  Gebürtigkeit 
nach  dem  Ausland  Zugehörigen  Rücksicht  nimmt.  In  Wien  kam  das  Gebürtigkeits- 
verhältnis  nicht  in  diesem  ergänzenden  Sinne  sondern  nur  subsidiär  zur  Sprache, 
derart,  dass  in  jenen  Ländern,  in  welchen  die  Staatsangehörigkeit  überhaupt  nicht 
ermittelt  werde,  der  Anstausch  nach  Maassgabe  der  Feststellungen  über  die 
Gebürtigkeit  erfolgen  solle. 

Bezüglich  des  Inhalts  der  auszutauschenden  Individual-Nachweise  machte 
sich  bei  der  Commissionsberathung  mehrseitig  die  Auffassung  geltend,  dass  die 
Aufführung  der  Namen  unterbleiben  müsse;  man  fürchtete  einerseits  für  das  Asyl- 
recht, anderers  its  glaubte  man,  dass  im  Falle  der  Uebermittlung  auch  der 
Namen  der  Anreiz  für  solche  Fremde,  welche  sich  eine  Gesetzesverletzung  vorzu- 
werfen hätten,  der  Zählung  sich  zu  entziehen,  grösser  wurde.  Dem  letzteren 
Gesichtspunkte  ist  einige  Berechtigung  nicht  abzusprechen;  für  die  Statistik  — 
und  nur  deren  Bedürfnisse  sind  hier  in  Frage,  kommt  es  auf  die  Namen 
in  diesem  Falle  überhaupt  nicht  an.  Ein  weiteres  Zeichen  der  Aengstlichkeit,  mit 
welchem  die  Commission  an  die  Frage  herantrat,  liegt  darin,  dass  sie  die  Angabe 
des  Zählungs„orts"  strich.  Dies  ist  statistisch  nicht  unbedenklich,  weil  dadurch 
der  genauere  geographische  Nachweis  über  die  Versendung  von  Menschenmaterial 
nach  dem  Ausland,  namentlich  auch  unter  dem  Gesichtspunkt  seiner  Ueberweisung 
an  städtische  oder  ländliche  Bevölkerung,  überhaupt  nach  den  verschiedenen 
Agglomerationsgruppen,  geschädigt  werden  kann.  Mir  scheint  dieser  restrictive 
Beschluss  sachlich  nicht  gerechtfertigt. 

Bemerkt  sei  schliesslich  noch,  dass  man  den  allgemeinen  internationalen 
Kartenaustausch  nicht  für  alle,  sondern  jeweils  für  die  am  Abschlüsse  der  Jahr- 
zehnte stattfindenden  Volkszählungen  befürwortete. 

Bezüglich  der  überseeischen  Auswanderung  wird  befürwortet,  dass  die 
Hafenbehörden  namentliche  Verzeichnisse  der  Angehörigen  der  verschiedenen 
Staaten  aufstellen,  mit  Angabe  des  Geschlechts,  des  Alters,  der  Nationalität,  der 
Geburtsprovinz  und  des  Berufs,  und  diese  in  regelmässigen  Zeitabschnitten  den 
betreffenden  Staaten  zukommen  lassen.  Dieser  Beschluss,  welcher  ohne  grosse 
Mühe  durchführbar  ist  und  bei  seiner  Durchführung  wesentlich  zur  Verbesserung 
der  Aus-  und  Einwanderungsstatistik   beitragen   würde,   ist   durchaus   zu  billigen. 

Ein  Schmerzenskind  der  Bevölkerungs-  wie  der  wirtschaftlichen  Statistik 
bildet  seit  lange  die  angemessene  Erfassung  der  Berufsgliederung  der  Bevölkerung. 
Die  socialpolitischen  Bestrebungen  der  Neuzeit  haben  diese  —  wie  man  ein- 
gestehen muss  —  von  der  theoretischen  wie  praktischen  Statistik  etwas  ver- 
nachlässigte Aufgabe  mit  Wucht   in  den  Vordergrund    gerückt.    Es   war    deshalb 


328  ^^r- 

sehr  daiikeswert,  dass  Bertillon  diese  Frage,  v.elclie  auch  auf  dem  Berner 
ünfallcoiigress  gestreift  worden  war,  aufgenommen  und  den  Entvrurf  einer 
Komenclatur  der  Berufe  (professi'ons)  vorgelegt  hatte.  Den  praktischen 
Bedenken,  welche  gegen  eine  zu  reichhaltige  Gliederung  erhoben  werden  und  den 
theoretischen  Angriffen,  welchen  eine  zu  summarische  Unterscheidung  ausgesetzt 
ist,  glaubte  er  dadurch  Rechnung  tragen  zu  sollen,  dass  er  dreierlei  Ausgaben 
seiller  Nomenclatur  mit  verschiedener  Reichhaltigkeit  der  Gliederung  vorlegte, 
vrobei  die  .  minder  gegliederte  jeweils  durch  Zusammenziehung  verschiedener 
Positionen  der  reicher  gegliederten  sich  ergab.  So  ergaben  sich  Schemate  von 
456,  196  mid  65  Rubriken.  Damit  sollte  jedoch  eine  bestimmte  Einschränkung 
der  nationalen  Unterscheidungen  nicht  verbunden  sein,  dieselben  sollten  sich  nur 
als  einreihungsfähig  in  die  vorgeschlagenen  Schemata  erweisen.  Bei  der  Commissions- 
berathung  konnte  man  sich  jedoch  nur  zur  Empfehlung  der  allgemeinen  Principien 
der  vorgeschlagenen  Eintheilung  entschliessen,  und  wollte  vorerst  noch  Meinungs- 
äusserungen der  verschiedenen  „statistischen  Verwaltungen ''  und  „internationalen 
Comites"  einholen.  Zu  einem  positiveren  Beschlüsse  kam  man  auch  im  Plenum 
nicht,  nur  liess  man  die  ausdrückliche  Einvernahme  der  permanenten  Comites 
(d.  i.  des  demographischen  und  des  Unfallcongresses)  fallen.  Ein  Beschluss  in 
der  Sache  ist  hienach  nicht  erzielt  und  bleibt  die  Aufstellung  einer  Xomenclatur 
der  Berufe  (wozu  etwas  hastig  auch  noch  jene  der  Todesursachen  gefügt  wurde!) 
weiterhin  Aufgabe  der  Arbeiten  des  Instituts,  insbesondere  der  speciellen  hiefür 
gebildeten  Commission.  Die  Sache  ist  von  höchster  Wichtigkeit;  zu  ervrägen  vräre, 
ob"  nicht  der  sehr  schwer  zu  erreichenden  allgemeinen  Verständigung  durch 
Sonderverständigung  einzelner  Staaten  vorzuarbeiten  vräre.  Am  meisten  Anlass 
wäre  angesichts  der  Verwandtschaft  der  socialpolitischen  Action  in  dieser  Hin- 
sicht zu  einer  Specialverständigung  zwischen  Deutschland  und  Oesterreich-Ungarn 
gegeben.  Die  fragliche  Nomenklatur  hat  ja  nicht  bloss  für  die  Volkszählungen 
sondern  für  zahlreiche  andere  Zweige  der  Statistik,  nämlich  überall  da  Bedeutung, 
wo  die  Klarlegung  gesellschaftlicher  Erscheinungen  irgendwie  von  näherem  Ein- 
gehen auf  die  Berufsverhältnisse  der  Bevölkerung  abhängig  ist.  Keinen  Zweig  der 
Statistik  gibt  es,   in  welchem  dies  nicht  mehrfällig   der  Fall  wäre. 

Die  Bedenken,  welche  gegen  die  Verwendung  der  allgemeinen  Sterbeziffer 
(Verhältnis  der  Sterbfälle  zur  Gesammtbevölkerung)  als  Maasstab  der  Gesundheits- 
verhältnisse bestehen,  sind  jedem  Sachkundigen  wohl  bekannt;  gleichwohl  macht 
sich  das  Bedürfnis  nach  einem  einfachen  kurzen  Ausdruck  für  die  Salubritäts- 
verhältnisse  geltend.  Ganz  besonders  gilt  dies  für  die  vergleichende  Statistik  der 
Grosstädte,  wo  einerseits  die  störenden  Elemente  besonders  stark  vertreten  sind 
(anormale  Altersclassen-  und  Geschlechtsvertheilung,  Belastung  mit  Sterbefällen 
der  zu  Heilungszwecken  zugezogenen  Kranken)  und  andererseits  das  Interesse 
fortlaufender  Constatierung  der  Gesundheitsverhältnisse  —  damit  aber  auch  der 
gegenseitige  Xeid  auf  günstige  Zahlen  —  nicht  bloss  vom  wissenschaftlichen 
Standpunkte  aus  sondern  auch  aus  praktischen  geschäftlichen  Erwägungen 
(Fremdenanziehung!)  stark  entwickelt  ist. 

Wir  sehen  deshalb  die  Statistiker  der  Grosstädte  wie  der  Städte  überhaupt 
und  auch  die    Statistiker    solcher   Länder,  in   welchen    wie    in   England    auf   die 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  329 

allgemeine  Sterbeziffer  besonderer  Wert  gelegt  wird,  allenthalben  am  AVerk  ange- 
messene Correcturen  der  allgemeinen  Sterbeziffern  vorzunehmen,  welche 
deren  Yergleichbarkeit  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Eisicos,  welches  die 
einzelnen    Alters-    und  Geschlechtsclassen  laufen,  zu  gewährleisten  geeignet  sind. 

Die  eine  Weise  dieser  Correcturversuche  besteht  in  der  oben  gelegentlich 
eines  Vortrages  von  Ogle  bereits  erwähnten  von  diesem  und  von  Körösi  gleichzeitig 
befürworteten  Zugrundelegung  einer  „Standard-Bevölkerung"  mit  angenommener 
fixer  Altersclassen-  und  Geschlechtsvertheilung.  Dieser  Vorschlag  hat,  wenn  man 
auf  eine  „Salubritätsziffer"  ausgeht,  entschiedene  Berechtigung.  Das  Institut  hatte 
darüber  im  Schoosse  der  Commission  einen  lehrreichen  Gedankenaustausch,  kam 
aber  nicht  zu  definitiver  Entscheidung. 

Dagegen  wurde  ein  Beschluss,  der  übrigens  inzwischen  bereits  literarische 
Anfechtung  erfahren  hat,  in  der  zweiten  Eichtung  der  Correcturversuche  gefasst, 
welche  sich  auf  Entlastung  der  städtischen  Sterblichkeit  von  den  ihr  bei  Eück- 
schlüssen  auf  die  Gesundheitsverhältnisse  mit  unrecht  zur  Last  gelegten  Todes- 
fälle beziehen,  und  mit  welchen  sich  namentlich  eingehende  Vorschläge  Erben's 
(Prag)  beschäftigt  hatten.  Es  wurde  beschlossen,  dass  in  den  Grosstädten  die 
Berechnung  der  Sterbeziffer  auf  zw^eierlei  Art  erfolgen  solle:  a)  Mittelst  Ver- 
gleichung  der  thatsächlichen  Sterbfälle  mit  der  factischen  Bevölkerung,  b)  mittelst 
Ausschluss  der  Personen,  welche  von  aussen  krank  in  die  Hospitäler  gekommen 
sind,  sodann  der  Irrenhäuser,  Gebäranstalten  und  Gefängnisse,  dagegen  mit 
möglichstem  Einschluss  der  Stadtbewohner,  welche  auswärts  sterben  (unter  Angabe 
der  Zahl  der  letzteren).  —  Ich  halte  jeden  derartigen  Versuch  einer  mehr  oder 
minder  verkünstelten  Eichtigstellung  der  allgemeinen  Sterbeziffer  für  bedenklich; 
nur  bezüglich  der  von  aussen  in  die  Krankenanstalten  der  Stadt  gebrachten  und 
dort  Verstorbenen  scheint  mir  eine  abgesonderte  Behandlung  der  Sterbefrequenz 
gerechtfertigt. 

üeber  anthropometrische  Fragen  war  auf  Veranlassung  des  Altmeisters 
Engel  von  E.  Uhlitzsch,  wissenschaftlicher  Hilfsarbeiter  im  königl.  sächs.  statist. 
Bureau  eine  Denkschrift  ausgearbeitet,  welche  unter  beachtenswerter  Behandlung^ 
insbesondere  der  Vererbungsfrage  schliesslich  in  dem  Vorschlage  gipfelte  einen 
„internationalen  Verein  für  Anthropometrie"  durch  eine  anthropometrische  Abtheilung 
beim  internationalen  Institut  zu  errichten.  Es  ist  ein  eigenartiges  Zusammen- 
treffen, dass  Engel  gerade  wie  Quetelet  in  seinem  höheren  Lebensalter  für 
diese  vom  Gebiet  der  gesellschafts-wisseuschaftlichen  Forschung  engeren  Sinns 
etwas  weiter  abliegenden  Fragen  besonders  Interesse  zeigt.  Zu  einer  sachlichen 
Verhandlung  über  die  verschiedenen  anthropometrischen  Fragen  kam  man  in 
Wien  übrigens  nicht.  Man  begnügte  sich,  das  anthropometrische  Comit^  mit  der 
vorläufigen  Ausarbeitung  eines  Planes  anthropometrischer  Untersuchungen  zu  beauf- 
tragen, welche  sich  auf  die  verschiedenen  Länder  und  die  verschiedenen  Ver- 
zweigungen des  menschlichen  Lebens  beziehen  sollen. 

2.  Moralstatistik.  Ueber  die  Statistik  der  Strafrechtspflege  hatte 
der  unermüdliche  Bodio  einen  trefflichen  Orientierungs-Bericht  erstattet.  Er 
knüpfte  an  die  älteren  Arbeiten  der  statistischen  Congresse  an,  und  bezeichnete 
es  in  zutreffender  Weise  als  Schattenseiten  derselben,  dass  man  einerseits  bezüglich 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  II.  Heft.  22 


330  ^^3'^- 

des  Maasses  der  geforderten  Nachweise  über  das  richtige  Maass  hinausgegangen 
sei,  andererseits  aber  die  wichtige  Frage  der  Methode  der  Erhebung  vielfach 
vernachlässigt  habe.  (Tür  die  Verhandlungen  des  Petersburger  Congresses  von 
1872  trifft  allerdings  letzteres  wohl  nicht  zu.)  Aus  Anlass  der  Bearbeitung 
seines  Keferats  hat  Bodio  eine  Anfrage  bei  den  wichtigsten  statistischen  Aemtern 
veranlasst,  deren,  in  ausführlicher  üebersicht  zusammengestellte  Ergebnisse  seiner- 
zeit im  Kechenschaftbericht  über  die  Wiener  Versammlung  mit  grossem  Interesse 
werden  entgegengenommen  werden.  Die  wichtigsten  Punkte  aus  Bodio's  Eeferat, 
dem  auch  die  Commission  und  das  Plenum  beitraten,  sind  folgende: 

Der  Wunsch  nach  Herstellung  einer  international  vergleichenden  Nomen- 
clatur  der  Delicte  wird  erneuert.  —  Es  wird  betont,  dass  in  der  Criminalstatistik 
in  das  volle  Detail  der  Gliederung  der  abgeurtheilten  Reate  eingegangen  werden 
müsse.  In  den  Ausführungen  des  Berichts  tritt  Bodio  der  in  der  deutschen 
Criminalstatistik  durchgeführten  Auffassung  bei,  dass  die  für  die  Constatierung 
der  Thatsachen  entscheidende  Einheit  nicht  jene  des  Falles  auch  nicht  des 
Delicts  sondern  des  beschuldigten  Individuums  sein  solle.  Doch  will  er  keine  so 
ausschliessliche  Beschränkung  auf  die  abgeurtheilten  Personen  und  Delicte,  wie 
die  deutsche  Statistik  sie  bietet,  sondern  daneben  auch  noch  eingehende  Nach- 
weise über  die  überhaupt  constatierten  Reate,  wenn  auch  für  dieselben  ein 
Thäter  nicht  zur  Aburtheilung  zu  bringen  war.  —  Bezüglich  der  Methode  wird 
die  in  Italien  nach  deutschem  Muster  eingeführte  Zählkarte  als  Urmaterial  für 
die  wichtigsten  criminal-statistischen  Nachweise,  neben  gleichzeitiger  fortlaufender 
Anschreibung  sonstiger  wissenswerter  Vorgänge  bei  den  Gerichten  und  die 
centralisierte  Ausbeutung  der  Zählkarten,  empfohlen.  Aus  den,  im  übrigen  nicht 
sehr  eingehenden  Commissionsverhandlungen  ist  zu  entnehmen,  dass  in  Frankreich, 
dessen  Criminalstatistik  seit  vielen  Jahrzehnten  in  wesentlich  unveränderter  Art 
aber  durchwegs  nach  decentralisiertem  System  bearbeitet  wird,  anscheinend  wenig 
Aussicht  auf  Annahme  des  rationelleren  deutsch-italienischen  Systems  der  Urmaterial- 
Gewinnung  besteht.  —  Als  Zeitpunkt  der  Erfassung  der  criminal-statistischen 
Momente  wird,  gleichfalls  nach  deutschem  Muster,  der  Eintritt  der  Rechtskraft 
des  Urtheils  empfohlen.  —  Bezüglich  der  für  die  Abgeurtheilten  zu  constatierenden 
Individualnachweise  soll  es  bei  den  hierüber  vom  Institut  im  Jahre  1889  gefassten 
Beschlüssen  verbleiben.  —  Als  Specialnachweise,  welchen  aus  criminal-politischen 
Rücksichten  besondere  Berücksichtigung  zugewendet  werden  sollte,  werden 
bezeichnet:  die  Wirkungen  der  gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Behandlung 
der  Rückfälligen,  die  Untersuchungshaft  und  die  Dauer  der  Voruntersuchungen; 
in  den  Ausführungen  des  Referats  nimmt  Bodio  auch  Anlass  der  Strebungen  der 
Internationalen  criminalistischen  Vereinigung  und  ihres  ausgezeichneten  Vor- 
kämpfers, des  Prof.  Liszt  in  Halle  zu  gedenken.  Endlich  soll  in  den  Jahres- 
veröffentlichungen der  Aenderungen  der  Gesetzgebung  Erwähnung  gethan  und  ein 
Nachweis  über  die  Zuständigkeit  der  Gerichte  gegeben  werden. 

3.  Bildungsstatistik.  Levasseur  als  Geograph  und  Statistiker  ebenso 
eifrig  wie  vielseitig,  hat  über  die  Statistik  des  Primärunterrichts  der  Ver- 
sammlung des  Instituts  eine  ausführliche  Arbeit  vorgelegt,  welche  unter  der 
Bezeichnung  „Rapport"  zugleich    den  Versuch    einer    eingehenden  internationalen 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  331 

Statistik  des  Volksschulunterrichts  enthält.  Von  demselben  lagen  allerdings  in 
Wien  selbst  nur  die  Conclusionen  vor,  der  Eechenschaftsbericht  aber  wird  die 
Levasseur'sche  Arbeit  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  und  damit  eine  dankens- 
werte Bereicherung  unseres  internationalen  Wissens  über  das  Yolksschulwesen 
einer  grossen  Zahl  europäischer  Länder  (14)  bringen.  Der  erste  Theil  des 
Levasseur'schen  Berichtes  behandelt  der  Reihe  nach  die  Statistik  des  Primär- 
unterrichts für  die  einzelnen  Staaten  unter  gleichzeitiger  Berücksichtigung  der 
geschichtlichen  und  legislativen  Entwicklung,  der  Regelung  der  Schulbehörden, 
der  Finanzen  und  der  Unterrichtsmethoden,  und  mit  Aufführung  der  einschlägigen 
statistischen  Publicationen.  Im  zweiten  Theil  des  Berichtes  gibt  Levasseur : 
1.  eine  Yergleichung  der  in  den  verschiedenen  Staaten  angewendeten  statistischen 
Methoden,  2.  eine  Yergleichung  der  statistischen  Ergebnisse,  3.  formulierte  Anträge 
zur  internationalen  IJnterrichtsstatistik.  Die  Yergleichung  der  statistischen  Ergeb- 
nisse schliesst  sich  eng  an  den  ersten  Theil  der  Levasseur'schen  Arbeit  an. 
Auf  die  Ergebnisse  dieses  Yersuchs  einer  internationalen  Unterrichtsstatistik  möchte 
ich  hier  nicht  eingehen;  dagegen  scheint  es  mir  angezeigt,  das  Interesse  weiterer 
Kreise  auf  jene  Ausführungen  des  Levasseur'schen  Berichts  zu  leiten,  welche 
ein  bisher  noch  ziemlich  vernachlässigtes  Capitel,  nämlich  Methode  und  Technik 
der  Unterrichtsstatistik  betreffen.  Solche  Ausführungen  kritischer  Art  enthält  der 
oben  erwähnte  Abschnitt  des  Levasseur'schen  Berichts  über  die  Yergleichung 
der  in  den  einzelnen  Staaten  angewendeten  Methoden.  In  dankenswerter  Weise 
geht  Levasseur  auf  die  gerade  bei  der  Unterrichtsstatistik  bisher  vielfach  unter- 
schätzte Frage  der  correcten  Beschaffung  des  Urmaterials  ein.  In  lehrreicher  Weise 
behandelt  er  das  Wesen  der  Schulmatrikeln  und  Schulregister,  die  Bedeutung 
der  staatlichen  Einflussnahme  (in  statistischer  Hinsicht)  auf  die  Privatschulen,  die 
Begrenzung  des  Yolksschulbegriffs  und  die  Classificierung  der  Schularten.  Geradezu 
meisterhaft  sind  die  Ausführungen  über  die  Schwierigkeiten  der  Ermittlung  von 
Lehrkraft  und  Lernmasse,  d.  i.  des  Bestandes  an  Lehrern  und  Schülern.  Was 
insbesondere  die  Ermittlung  der  Schülerzahl  anlangt,  so  führt  Levasseur  9  ver- 
schiedene Arten  derselben  an  und  fasst  sein  Urtheil  schliesslich  dahin  zusammen, 
dass  für  sich  allein  keine  einzige  dieser  Ermittlungsarten  genüge,  sondern  dass 
man  mehrere  Ermittlungsweisen  combinieren  müsse.  Die  Zahl  der  während  des 
Jahres  überhaupt  Eingeschriebenen  bezeichnet  das  Maximum  des  Schülerbestandes ; 
man  soll  aber  diese  Ermittlung  beibehalten,  obwohl  dieser  Bestand  über  dem 
Betrag  der  wirklich  in  der  Schule  gewesenen  Kinder  steht,  denn  alle  anderen 
Methoden  (durchschnittliche  Präsenz,  Präsenz  an  einem  Stichtag  u.  s.  w.)  ergeben 
einen  zu  geringen  Bestand. 

Die  positiven  Yorschläge  Levasseurs  auf  dem  Gebiete  der  internationalen 
Unterrichtsstatistik,  welche  auch  vom  Plenum  gebilligt  wurden,  sind  folgende: 

Die  Statistik  des  Elementarunterrichts  soll  von  allen  Staaten  periodisch, 
wenigstens  alle  5  Jahre,  veröffentlicht  werden.  Als  wesentliche  Bestandtheile 
dieser  Statistik  sollen  unbeschadet  weiterer  Sondernachweise  der  einzelnen  Staaten, 
angesehen  werden: 

1.  Die  Ausgaben  für  Unterrichtszwecke,  mit  Unterscheidung  der  Quellen 
(Gemeinde,  Provinz,  Staat); 

22* 


382  ^^y^- 

2.  Zahl  der  gewöhnlichen  Primarschulen,  sowie  möglichst  auch  der  ergän- 
zenden Schulen,  sowohl  der  Fortbildungsschulen  für  die  mehr  als  12  Jahre  alten 
Kinder,  als  der  Anstalten  für  Kinder  unter  6  Jahren,  mit  Unterscheidung  von 
Privat-  und  öffentlichen,  Knaben-,  Mädchen-  und  gemischten  Schulen. 

3.  Lehrerzahl,  mit  angemessenen  Unterscheidungen  nach  den  Anstalten,  an 
denen  sie  wirken  und  nach  ihrer  Qualification. 

4.  Schülerzahl  mit  Geschlechtsunterscheidung,  und  zwar  möglichst  die 
Gesammtzahl  der  im  Lauf  des  Jahres  und  der  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkt 
(December)  Eingeschriebenen,  nach  Schularten  unterschieden. 

5.  Bildungsgrad  der  Eecruten  und  wenn  möglich  der  Brautleute. 

4.  Wirtschaftliche  Statistik.  Die  wirtschaftlichen  Probleme  haben  bei 
den  Erwägungen  der  Wiener  Versammlung  des  Instituts  über  praktisch-statistische 
Vorschläge  die  erste  Stelle  eingenommen.  Dass  dabei  auch  Fragen  der  Arbeiter- 
statistik, insbesondere  der  Lohnstatistik  zur  Erörterung  kamen,  entspricht  dem 
Zuge  der  Zeit,  der  in  dieser  Hinsicht  auch  schon  das  Programm  dos  Londoner 
demographischen  Congresses  beeinflusst  hatte.  Zu  keiner  Zeit,  wie  gerade  jetzt, 
war  das  Wachsthum  der  Ueberzeugung  von  der  ünentbehrlichkeit  umfassender 
arbeitsstatistischer  Erhebungen  ein  so  bedeutendes,  wie  jetzt.  Thatsächlich  ist  in 
der  Spanne  Zeit,  welche  seit  dem  Herbste  1891  verflossen  ist,  dieses  Wachsthum 
wiederum  ein  so  bedeutendes  gewesen,  dass  die  Berührung  der  einschlägigen 
Probleme  auf  der  Wiener  Versammlung  des  Instituts  kaum  mehr  als  Voll- Ausdruck 
des  Verlangens  nach  arbeiterstatistischen  Erhebungen  angesehen  werden  kann, 
wie  solches  seitdem  ein  allgemein  empfundenes  und  auch  parlamentarisch  aner- 
kanntes geworden  ist.  Immerhin  aber  ist  ein  Rückblick  auf  die  bezüglichen 
Strebungen  des  Instituts,  wie  sie  hauptsächlich  durch  die  Arbeit  des  „Comitö  du 
travail"   dargestellt  sind,  auch  jetzt  noch  von  Literesse. 

Zunächst  sei  jedoch  der  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Statistik  des 
Grundeigenthums  gedacht.  Bei  den  einschlägigen  Commissionsberathungen  kamen 
verschiedene  interessante  Gesichtspunkte  zur  Erwägung,  ich  habe  aber  gerade  als 
Theilnehmer  an  diesen  Verhandlungen  den  Eindruck  gewonnen,  dass  bei  der  weit- 
gehenden Arbeitstheilung  im  Institut  keine  genügende  Gewähr  dafür  gegeben 
war,  dass  die  verhältnismässig  kleine  Zahl  von  Mitgliedern,  die  sich  zur  Berathung 
zusammenfand,  innerhalb  der  kurzen  Berathungsfrist  die  aufgeworfenen  Fragen 
vollständig  und  mit  Kenntnis  des  früher  von  den  statistischen  Congressen  darüber 
Beschlossenen  erörtern  würde.  Die  Commission  erachtet  übrigens  ihre  Arbeiten 
nicht  für  abgeschlossen,  will  dieselben  vielmehr  durch  die  Einbeziehung  von 
folgenden  drei  Fragen  ei-^'eitern:  I.Statistik  der  Bodenpreise,  2.  Gebäudestatistik, 
8.  Statistik  der  Grund-  und  Gebäudestenern.  Die  Punkte,  deren  Berücksichtigung 
—  mit  Zustimmung  des  Plenums  —  für  die  vom  Institut  befürw'ortete  Grund- 
eigenthums-Statistik  besonders  empfohlen  werden,  betreffen  a)  die  Classificierung 
des  Grund  und  Bodens  nach  der  Qualität  der  Eigenthümer  (individuelles  oder 
■  collectives  Eigenthum,  letzteres  politischer,  socialer  oder  ökonomischer  Natur), 
b)  die  Statistik  der  Bodenpreise  (Quellen:  namentlich  Besitzänderungssteuern; 
ausserdem   besondere  Enqueten,  Wertanschläge    der   directen   Steuergesetzgebung, 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  333 

Wertbestimmungen  von  Banken  oder  durch  landwirtschaftliche  Gesellschaften), 
c)  Gebäudestatistik.  Darauf  bezügliche  Mittheilungen  sollen  im  Bulletin  abgedruckt 
werden;  dieses  wird  beispielsweise  eine  solche  von  Sindenbladh  für  Schweden 
bringen  (Note  sur  la  valeur  des  propridtes  foncieres  en  Snede). 

Ueber  die  Arbeiten  des  ^yComite'  du  travail",  welches  sich  mit  der  Statistik 
der  Löhne  und  den  Lohnzahlungsmethoden  beschäftigte,  sei  Folgendes 
hervorgehoben. 

Böhmert  hatte  sachlich  sehr  eingehende  Vorschläge  über  die  Ermittlung 
der  Lohnverhältnisse  der  Arbeiter  vorgelegt.  Das  Material  der  Lohnstatistik  sollte 
durch  die  Ausfüllung  von  Zählkarten  für  die  einzelnen  Betriebe  und  für  alle 
einzelnen  beschäftigten  Arbeiter  erfolgen.  Die  Arbeiter-Zählkarte  hatte  nicht 
weniger  als  17  Eubriken  behufs  Aufnahme  der  Individualangaben,  wovon  die 
letzten  über  die  lohnstatistische  Ermittlung  insofern  hinausgriffen,  als  auch  der 
Nebenberuf  und  das  Einkommen  daraus,  der  Grund-,  Haus-  und  Hausthierbesitz, 
die  Höhe  der  gezahlten  Miete  und  der  Erlös  aus  Aftervermietang,  erfragt  werden 
sollte.  Diese  eingehenden  Erhebungen  aber  wollte  Böhmert  nicht  als  dun'-h- 
greifende  Massenbeobachtung,  sondern  als  typische  Einzelbeobachtungen  durch- 
geführt. Zur  Befürwortung  der  Detaüvorschläge  Böhmert's  konnte  sich  die 
Arbeitscommission  des  Instituts  nicht  entschliessen ;  dagegen  wurden  aus  denselben 
einige  Grundgedanken  filtriert,  welche  schliesslich  unter  Beeinflussung  durch  den 
Gang  der  Discussion  in  der  Commission  und  im  Plenum  von  letzterem  zum 
Beschluss  erhoben  wurden.  Dieselben  zeigen  meines  Erachtens  in  stärkerem  Maasse 
noch  Spuren  der  von  der  eigentlichen  durchgreifenden  Massenbeobachtung 
abgewendeten  Vorschläge  Böhmert's  als  es  nach  dem  Inhalt  der  eingehenden 
Vorberathungen,  insbesondere  für  jene  Länder,  in  welchen  die  moderne  Arbeiter- 
schutz- und  Arbeiterversicherungs  -  Gesetzgebung  eine  gewisse  —  wenn  auch 
nur  dem  Staate  gegenüber  begründete  —  Publicität  von  Productionsvorgängen, 
insbesondere  auf  dem  Gebiete  des  Lohnzahlungswesens,  zur  Folge  hat,  zu  erwarten 
gewesen  wäre. 

Bei  der  Commissionsberathung  kamen  verschiedene  principielle  Gesichts- 
punkte zur  Sprache.  Der  vorstehend  erwähnte  Gegensatz  der  durchgreifenden 
Massenbeobachtung  und  der  monographisch  ausgestalteten  Einzelbeobachtung 
wurde  mehrfach  erörtert.  Man  hat  dabei  den  Eindruck,  dass  eine  erhebliche 
Anzahl  von  Mitberathem  sich  nur  darum  bei  typischer  Einzelbeobachtung  beruhigen 
zu  dürfen  glaubte,  weil  man  die  Möglichkeit  bezweifelte,  mangels  ausdrücklicher 
gesetzlicher  Grundlage,  von  Seite  der  Unternehmer  zutreffende  Aufschlüsse  zu 
erhalten.  Optimisten  —  und  zwar  aufgrund  wohlbegründeter  Erfahrung  —  waren 
in  dieser  Hinsicht  eigentlich  nur  die  Amerikaner,  als  Vertreter  der  Pessimisten 
kann  der  Franzose  Cheysson  angesehen  werden,  welcher  deshalb  die  Unter- 
suchungen bei  den  staatlichen  oder  den  staatlich  überwachten  Betrieben  begonnen 
sehen  möchte,  im  übrigen  die  bezüglich  der  Erfassungsfahigkeit  der  Löhne  in 
Deutschland  und  Gestenreich  durch  die  Arbeiterversicherung  gebotenen  günstigen 
Bedingungen  —  von  welchen  Böhmert,  der  sich  nur  für  seine  monographischen 
Darstellungen  interessierte,  ganz  geschwiegen  hatte  —  in  zutreffender  Weise 
hervorhob. 


334  Mayr. 

Bezüglich  des  Objectes  der  Beobachtung  fand  Böhmert  die  verdiente 
allseitige  Zustimmung  für  sein  seit  Jahren  mit  anerkennenswerter  Beharrlichkeit 
festgehaltenes,  auch  in  der  Praxis  seiner  lohnstatistischen  Einzelforschungen  fest- 
gehaltenes Verlangen,  dass  nicht  „sogenannte  Durchschnittslöhne",  sondern  nur 
wirklich  gezahlte,  aus  den  Lohnbüchern  nachweisbare  Löhne  bestimmter  Arbeiter 
zu  erheben  und  zur  Grundlage  statistischer  Darstellungen  zu  nehmen  seien. 

Bezüglich  des  Umfangs  der  Fragestellung  hat  sich  das  Institut  vorläufig 
.einer  Meinungsäusserung  enthalten;  die  Böhmert'sche  Detaillierung  der  Frage- 
stellung wurde  allseitig  für  wirkliche  Massenbeobachtungen,  welche  die  Mehrheit 
offenbar  w^oUte,  wenn  sie  ihre  einschlägige  Meinung  auch  nicht  formulierte,  als 
zu  weit  gehend  erachtet.  Es  liegt  in  dieser  Hinsicht  vorerst  ein  non  liquet  vor. 
Es  ist  dies  zu  bedauern;  denn  gerade  diese  Frage  hat  bei  dem  allseitigen  Auf- 
schwung des  Interesses  für  die  Arbeiterstatistik  eine  sehr  actuelle  Bedeutung.  Es 
ist  schade,  dass  die  Uebersetzung  des  Programms  der  Wiener  Versammlung  des 
Instituts  nicht  gestattet  hat  die  Frage  der  Arbeiterstatistik  gründlich  zu  erledigen. 
Hätte  man  zuerst  die  Angelegenheit  einer  Vorbe'sp rechung  im  Plenum  unterworfen, 
und  dann  in  der  Commission  mit  der  Detailarbeit  sich  beschäftigt,  so  hätte  man 
vielleicht  auch  über  den  Umfang  der  Fragestellung  sich  verständigen  können. 

Auch  bezüglich  der  Methode  der  Erfragung  enthielt  sich  das  Institut  einer 
durchgreifenden  Meinungsäusserung  zur  Sache,  doch  sind  immerhin  zwei  Momente 
beachtenswert,  nämlich  die  Betonung  der  Zweckmässigkeit  einer  Mitbetheiligung 
der  Arbeiter  und  der  Hinweis  auf  den  Anhalt,  welchen  die  Einrichtung  öffentlich- 
rechtlicher Arbeiterversicherung  ^)  bietet. 

Sehr  ausführliche  Erörterung  fand  in  der  Commission  die  Frage,  ob  die 
Bearbeitung  der  Lohnstatistik  besonderen,  neu  zu  schaffenden  Arbeitsämtern  zu 
übertragen  sei  oder  ob  es  sich  empfehle,  die  bestehenden  statistischen  Bureaux 
damit  zu  beauftragen.  Leider  fand  diese  Frage  im  Plenum  nicht  die  wünschens- 
werte specielle  Berücksichtigung;  wäre  sie  nicht  im  Zusammenhang  der  Gesammt- 
beschlüsse  zur  Sache,  sondern  für  sich  aufgeworfen  worden,  so  hätte  sie  wahr- 
scheinlich noch  manche  gewichtige  Meinungsäusserung  von  Sachkundigen  hervor- 
gerufen, welche  in  der  Commission  nicht  anw^esend  sein  konnten.  In  der  Commission 
sprachen  sich  hervorragende  Vertreter,  sowohl  der  staatswissenschaftlichen  Theorie 
(z.  B.  Schmoller),    wie    der    statistischen  Praxis    (Engel,    Böhmert)    für    die 


')  Der  hierauf  bezügliche  Satz  V.  der  Beschlüsse  (siehe  unten)  wurde  erst  auf 
meinen  Antrag  im  Plenum  in  die  von  der  Commission  vorgeschlagenen  Resolutionen 
eingefügt.  Leider  hatte  ich  den  Commissionsberathungen  nur  kurze  Zeit  beiwohnen  können, 
ersah  also  erst  aus  der  Feststellung  der  Commissionsbeschlüsse,  dass  die  Bedeutung  des 
Materials  der  Arbeiterversicherung  ganz  unerwähnt  geblieben  war,  obgleich  doch  der  Referent 
Böhmert  erst  kurz  vorher  in  London  bei  dem  demographischen  Congress  zu  dem  hierauf 
bezüglichen  eingehenden  Beschluss  des  Congresses  mitgewirkt  hatte.  Der  Zusatz  den  ich 
beantragte  fand  allseitige  Zustimmung;  Cheysson,  welcher  neben  B  ö  h  m  e  rt  als 
Referent  in  französischer  Sprache  fungierte,  hat  denselben  nachträglich  —  wie  ich  aus 
den  durch  B  o  d  i  o's  Güte  mir  zur  Verfügung  gestellten  Bürstenabzügen  des  Compte-Rendu 
ersehe  —  unter  die  Commissionsanträge  selbst,  unter  ganz  zutreffender  Motivierung  auf- 
genommen. —  Der  thatsächliche  Sachveraalt  ist  aus  dem  Sitzungsbericht  ersichtlich, 
welcher  in  der  „Wiener  Zeitung"  vom  2.  October  1891  abgedruckt  ist. 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  335 

besonderen  Arbeitsbureaux  aus.  Die  Sache  selbst  ist  zu  wichtig,  als  dass  ich  sie 
materiell  hier  am  Schlüsse  einer  ohnedies  schon  zu  lange  gewordenen  Bericht- 
erstattung über  internationale  Congressarbeit  erledigen  könnte;  wie  ich  im  allge- 
meinen zur  Sache  stehe,  ist  aus  meinen  oben  erörterten  Anträgen  auf  dem  Londoner 
demographischen  Congress  ersichtlich.  Für  die  augenblicklich  in  verschiedenen 
Ländern  schwebende  Frage  der  besten  Organisation  der  Arbeiterstatistik  ist  jeden- 
falls der  hierüber  in  Wien  stattgehabte  Gedankenaustausch  von  Interesse,  um  so 
mehr  ist  —  ich  wiederhole  dies  —  zu  bedauern,  dass  er  wegen  vielfacher 
Abhaltung  von  Mitgliedern  durch  anderweitige  Commissionsarbeit  sich  nicht  so 
erschöpfend  gestalten  konnte,  als  es  an  sich  wünschenswert  gewesen  wäre. 

Bei  dem  hohen  Interesse,  welches  sich  an  alle  Fragen  der  Lohnstatistik 
knüpft,  wird  es  Billigung  finden,  wenn  ich  im  nachstehenden  den  Wortlaut  der 
Beschlüsse  des  Instituts  mittheile: 

„Das  internationale  statistische  Institut,  auf  den  Bericht  der  Arbeits- 
commission, in  Anerkennung  der  täglich  wachsenden  Nothwendigkeit  einer  guten 
Lohnstatistik, 

I.  ist  der  Ansicht, 

a)  dass  es  zur  Aufstellung  dieser  Statistik  nicht  genügt,  die  Durchschnittslöhne 
zu  ermitteln,  sondern  dass  die  jedem  Arbeiter  wirklich  gezahlten  Löhne 
zu  erheben  sind; 

b)  dass  man  sich  nicht  damit  begnügen  darf,  Tages-  oder  Wochenlöhne  zu 
ermitteln,  sondern  dass  man  auch  den  Betrag  der  während  des  Jahres  (oder 
während  einer  Campagne  bei  den  mit  Unterbrechungen  arbeitenden  Betrieben) 
empfangenen  Löhne  und  die  Zahl  der  Arbeitsstunden  im  Tag  und  der 
Arbeitstage  im  Jahr  feststellen  muss; 

c)  dass  es  ausserdem  angemessen  ist  der  verschiedenen  Lohnzahlungsmethoden 
und  ihrer  Ergänzungen  zu  gedenken. 

n.  Das  Institut  empfiehlt  solche  Statistiken  fortzusetzen  oder  zu  unter- 
nehmen, für  bestimmte  als  Typen  betrachtete  Betriebsstätten  und  sie  zu  ergänzen 
durch  Familien-Monographien,  mit  Budgets  der  Einnahmen  und  Ausgaben,  nach 
der  Methode  und  dem  Schema  bereits  vorliegender  geschätzter  Publicationen,  damit 
die  Ergebnisse  vergleichbar  werden. 

ni.  Bezüglich  der  Auswahl  der  Betriebsstätten  empfiehlt  das  Institut  sich 
gleichzeitig  an  diejenigen,  welche  vom  Staat,  der  Provinz  oder  den  Gemeinden 
verwaltet  oder  überwacht  sind,  und  an  diejenigen  Privatbetriebe  zu  wenden,  deren 
Unternehmer  bereit  sind,  einer  solchen  Untersuchung  sich  zu  unterziehen  und  die 
zugleich  Vertrauen  verdienen. 

IV.  Das  Institut  empfiehlt  überall,  wo  es  möglich  ist,  die  Arbeiter  selbst 
an  dieser  Statistik  zu  interessieren  und  sie  dazu  in  gewissem  Maasse  heran- 
zuziehen. 

V.  In  den  Ländern,  in  welchen  obligatorische  Arbeiterversicherung  besteht, 
empfiehlt  das  Institut,  für  die  allgemeine  Lohnstatistik  die  aus  Anlass  der 
Versicherungs-Verwdltung  erwachsenden  Nachweise  zu  verwerten. 


336  ^ay^- 

VI.  Das  Institut  spricht  endlich  den  Wunsch  aus 
a)  dass  die  gelehrten  Gesellschaften,  welche  sich  die  methodische  Ausarbeitung 
solcher   Statistiken    und    Monographien    zum    Zwecke    setzen,    sich    in   den 
verschiedenen  Ländern  verbreiten  möchten; 
b)  dass  die  Eegierungen  Arbeitsämter,  ähnlich  jenen  in  den  Vereinigten  Staaten, 
einsetzen   möchten,    insoweit   solche    noch  nicht  bestehen,   sei  es,  dass   sie 
ganz  neu  als  specielle  Organe  geschaffen  werden,   sei  es,   dass  die  Organi- 
sation bestehender  statistischer  Bureaux  dafür  verwertet  wird. 
Nicht   bloss  mit   dem   Preis   der    Arbeit,   sondern   auch    mit  den   Preisen 
im   allgemeinen    und    deren    Statistik    hat   man    sich  in  Wien   beschäftigt, 
allerdings    nicht   in   so    concreter   in  positive  Vorschläge    auslaufender  Weise    als 
es  bei  der  Lohnstatistik  der  Fall  war.  Das  schon  früher  vom  Institut  niedergesetzte 
Comitö  der  Preise    hatte    einen  Vorbericht  erstattet    und  darin  über  verschiedene 
literarische  Leistungen  von  Griffen,  Foville,  Levasseur,  v.  Inama-Sternegg, 
Körösi,  Grub  er,    sowie    des  Arbeitsbureaus  von  Massachusetts    berichtet.    Zwei 
Engländer    (Martin  und  Palgrave)    waren  die  Berichterstatter;    es    ist    deshalb 
nicht  zu  verwundern,  dass  der  in  England  besonders  eifrig  gepflegten  Ermittlung 
der  sog.  „Index  numbers",  die  einen  möglichst  unveränderlichen  Sach-Preismesser 
bilden    sollen,    in    hervorragender  Weise    gedacht    wird.    Bei    den    einschlägigen 
Commissionsverhandlungen    in  Wien    traten    die   historischen  Preisuntersuchungen 
in  den  Vordergrund,  insbesondere  gelangte  eine  Denkschrift  von  Grub  er,  welche 
Untersuchungen  über  die  historische  Statistik  der  Preise  in  Italien  enthält,  zur  Ver- 
lesung. Dieselbe  wird  im  Eechenschaftsbericht  erscheinen.  Auch  erhielten  die  Mitglieder 
die  Tabellen  eines  von  v.  Inama-Sternegg's  veranlassten,  noch  nicht  im  Druck 
erschienenen  Quellenwerks  über  „Preise,  Löhne,  Kaufkraft  des  Geldes".  Das  Comite 
beschloss  seine  Arbeiten  fortzusetzen;  in  sachlicher  Hinsicht  empfiehlt  es  —  was 
auch  das  Plenum  billigte  —  den  Statistikern   bei   allen  Preisuntersuchungen   auf 
die    Währungs-    und  Münzfragen    besondere    Eücksicht    zu    nehmen,    damit    ent- 
schieden  werden    könne,    welche    von    den    Gold-    oder    Silbennünzen    zu    einer 
gegebenen  Zeit  hervorragenden  Einfluss  auf  die  Preisbildung  geübt  haben. 

lieber  die  sonstigen  Arbeiten  des  Instituts  auf  wirtschaftsstatistischem 
Gebiete  glaube  ich  mich  kurz  fassen  zu  sollen. 

Dass  auf  dem  Gebiete  der  vergleichenden  Handelsstatistik  die  Vor- 
schläge des  Engländers  Bateman  keinen  Anklang  fanden,  ist  bereits  oben 
dargelegt  worden.  An  positiven  principiellen  Beschlüssen  über  diesen  Gegenstand 
sind  zu  verzeichnen  1.  ein  Votum  für  primäre  Ermittlung  der  Handelswerte  durch 
Declaration  der  Betheiligten  unter  Belassung  der  officiellen  Wertermittlungen  zur 
Controle,  da  wo  solche  bestehen;  daran  ist  der  Wunsch  gereiht,  dass  die 
Durchführung  und  Controle  dieses  Systems  durch  internationale  Vereinbarungen 
geregelt  werde;  2.  die  Erklärung,  dass  es  geboten  sei,  so  genau  als  nur  immer 
möglich  die  Länder  der  ursprünglichen  Herkunft  und  der  letzten  Bestimmung  der 
Waren  zur  Verzeichnung  zu  bringen.  Mit  diesen  Beschlüssen  hat  die  Commission 
über  vielumstrittene  Principienfragen  —  allerdings  sehr  im  Gegensatze  zu  den 
Anschauungen  ihres  Referenten  Bateman  —  Stellung  genommen,  und  das 
Plenum  hat  sich  ihr  angeschlossen. 


Die  Statistik  auf  drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891.  337 

Zu  Erörterungen  im  Schoosse  der  Commissionen,  jedoch  nicht  zu  speciellen 
Beschlussfassungen  des  Instituts  führten  der  Bericht  Cheysson's  über  das 
Binnenverkehrswesen  und  jener  Kiaer's  über  die  Schiffsmessungs- 
methoden. 


Die  üebersicht  der  internationalen  Zusammenarbeit,  welche  der  Statistik  auf 
drei  internationalen  Congressen  des  Jahres  1891  gewidmet  worden  ist,  lässt 
darüber  keinen  Zweifel,  dass  die  amtlichen  und  privaten  Statistiker  der  wissen- 
schaftlichen Welt  eine  grosse  Anzahl  von  Eisen  im  Feuer  haben  und  dass  sie 
ernstlich  bemüht  sind,  daraus  für  Praxis  und  Wissenschaft  brauchbare  Gebilde  zu 
gestalten.  Ein  solcher  Ueberblick  mannigfaltiger  Strebungen  ist  meines  Erachtens 
geeignet,  die  Ueberzeugung  zu  festigen,  dass  die  Statistik  allen  entgegenstehenden 
Definitionen  zum  Trotz  im  Begriffe  ist,  sich  zu  einer  exacten  Gresellschaftslehre 
im  weitesten  Sinne  des  Wortes,  aber  doch  mit  festgeschlossenem  Forschungs- 
und  Wissensgebiete  zu  entwickeln. 


DIE  ÖSTERREICHISCHE  WÄHRUNG S-EXüUllTE. 


VON 


PROF.  VICTOR  MATAJA. 


im  Zoll-  und  Handelsbündnisse  zwischen  den  Eeichsrathsländern  und 
Ungarn  in  der  Fassung  vom  27.  Mai  1887  hatten  sich  die  beiderseitigen  Regie- 
rungen laut  Art  Xn  verpflichtet,  „unmittelbar  nach  Abschluss  des  Zoll-  und 
Handelsbündnisses  eine  Commission  einzusetzen,  zum  Zwecke  der  Berathung  jener 
vorbereitenden  Maassregeln,  welche  nothwendig  sind,  um  beim  Vorhandensein 
einer  günstigen  finanziellen  Lage  die  Herstellung  der  Barzahlungen  in  der 
Monarchie  zu  ermöglichen."  Nachdem  sich  der  Zusammentritt  der  Commissionen 
—  wie  man  nach  der  dem  Artikel  XII  zutheil  gewordenen  Auslegung  sagen 
muss  —  durch  längere  Zeit  verzögert  hatte,  was  nach  einer  im  Jahre  1889 
geführten  Xeitungsfehde  zu  urtheilen  auf  das  Conto  von  Ungarn  zu  setzen  ist, 
erschien  jetzt  der  Zeitpunkt  für  jene  Verhandlungen  gekommen  und  am  8.  März 
1.  J.  versammelfen  sich  in  Wien  und  Budapest  die  von  den  beiderseitigen  Finanz- 
ministern berufenen  Commissionen  zur  ersten  Sitzung.  Das  den  Commissionen 
vorgelegte  Questionnaire  enthielt  folgende  Fragepunkte,  über  welche  die  einzelnen 
Experten  der  Reihe  nach  einvernommen  wurden : 

1.  Welche  Währung  soll  bei  Regelung  der  Valuta  zur  Grundlage  ge- 
nommen werden? 

2.  Soll  für  den  Fall  der  Annahme  der  Goldwährung  auch  ein  contingen- 
tierter  Umlauf  von  Courant-Silber  zulässig  sein,  und  in  welcher  Höhe? 

3.  Wäre  ein  gewisser  Umlauf  von  jederzeit  gegen  Courantgeld  einlöslichen, 
nicht  mit  Zwangscours  ausgestatteten,  unverzinslichen  Staatscassascheinen  zulässig, 
und  unter  welchen  Bedingungen? 

4.  Welche  Grundsätze  wären  für  die  Umrechnung  des  bestehenden  Guldens 
in  Gold  zur  Richtschnur  zu  nehmen? 

5.  Welche  Münzeinheit  wäre  zu  wählen? 

Wie  man  aus  diesem  Fragebogen  ersieht,  handelte  es  sich  —  entsprechend 
der  seit  Abschluss  des  Zoll-  und  Handelsbündnisses  gereiften  Situation  —  nicht 
mehr  um  Berathungen  über  vorbereitende  Maassnahmen  im  eigentlichen  Sinne 
des  Wortes,  sondern  über  die  Grundlagen  des  künftigen  Währungswesens,  wes- 
halb   man    auch    kurzweg    von    der    „Währungs-Enquete"  sprach.    Aufgabe    des 


Die  österreichische  Währungs-Enquöte.  339 

Folgenden  ist  es,  die  Ergebnisse  der  österreichischen  Enquete,  bei  welcher 
35  Personen  verschiedener  Berufskreise  (neben  Universitätsprofessoren  und 
Publicisten  insbesondere  Vertreter  des  Handels,  der  Industrie,  der  Landwirtschaft 
und  namentlich  des  Bankwesens)  erschienen  waren  und  die  ihre  Verhandlungen, 
bei  welchen  stets  der  Finanzminister  Dr.  Steinbach  selbst  den  Vorsitz  geführt 
hatte,  am  17.  März  scliloss,  so  zusammenfassend  wie  nur  möglich  zu  resümieren.^) 
Vorangeschickt  sei  nur  noch,  dass  der  Enquete  drei  ganz  vortrefflich  ausgearbeitete 
Publicationen  (Denkschrift  über  den  Gang  der  Währungsfrage  seit  dem  Jahre  1867 
—  Denkschrift  über  das  Papiergeldwesen  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie  — 
Statistische  Tabellen  zur  Währungsfrage  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie, 
sämmtlich  verfasst  im  k.  k.  Finanzministerium)  vorlagen,  deren  Wert  allseitig 
gewürdigt  wurde  und  denen  sich  dann  auch  noch  eine  „Deutsche  Uebersetzung 
der  von  dem  kön.  ungar.  Finanzministerium  der  für  den  8.  März  1892  einbe- 
rufenen Valuta-Enquete  vorgelegten  .statistischen  und  synoptischen  Tabellen" 
anschloss. 


Will  man  den  Verlauf  der  Enqueteverhandlungen  kurz  charakterisieren,  so 
ist  vor  allem  hervorzuheben,  dass  sie  sich  zu  einer  grossen  Kundgebung  für  die 
Valutaherstellung  gestalteten,  zu  einer  Manifestation  des  Vertrauens  in  die  Macht- 
und  Hilfsquellen  des  Staates  und  seine  gegenwärtige  Finanzverwaltung,  das  Unter- 
nehmen mit  Aussicht  auf  glücklichen  Erfolg  beginnen  und  durchführen  zu  können. 

Die  Nachtheile  des  heutigen  Geldwesens  von  Oesterreich-Ungarn  sind  eben 
so  einleuchtend,  dass  nicht  leicht  ein  Sachkundiger  gegen  die  Umgestaltung  des- 
selben auftreten  kann;  bezeichnend  dafür  ist  auch  der  Umstand,  dass  in  der 
Enquete  verhältnismässig  nur  sehr  wenig  über  die  Misslichkeiten  der  gegen- 
wärtigen Geldordnung  gesprochen  wurde,  gleichsam  als  wäre  eine  weitere  Er- 
örterung darüber  überflüssig.  Mmerhin  wollen  wir  hier,  um  auch  dem  in  die 
österreichischen  Geldverhältnisse  weniger  Eingeweihten  das  Verständnis  der 
■Währungsverhandlungen  zu  erleichtern,  die  hauptsächlichsten  Nachtheile  andeuten. 
Oesterreich-Ungarn  befindet  sich  gegenwärtig,  was  seine  Währung  betrifft,  im 
Zustande  voller  Isoliertheit,  indem  durch  die  1879  erfolgte  Einstellung  der  freien 
Prägung  und  die  Erhebung  des  Silberguldens  auf  einen  Seltenheitswert  (da  der 
Metallwert  desselben  sich  bei  einem  Londoner  Silberpreis  von  40  und  dem  Cours  auf 
London  von  119,  was  ungefähr  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  —  Anfang  April  — 
entspricht,  auf  rund  76  kr.  österr.  Währ,  stellt)  jeder  Zusammenhang  selbst  mit 
fremder  Silberwährung,  insoweit  eine  solche  noch  besteht,  abgeschnitten  ist: 
weder  kann  sich  fremde  Münze  in  österreichische,  noch  österreichische  in  fremde 
(wegen  des  künstlichen  Wertes  der  ersteren)  verwandeln.  Der  Verkehr  ist  erfüllt 
von  uneinlöslichem  Papiergeld,  in  Staats-  und  Banknoten  bestehend,  ein  Credit- 
geld  gleichsam   zur   zweiten  Potenz   erhoben,   da   es   ein  Geld,    den  Silbergulden, 


*)  Zur  leichteren  Vergleichung  mit  den  Originalausführungen  werden  in  Klammem 
die  bezüglichen  Seitenzahlen  der  „Stenographischen  Protokolle  über  die  vom 
8.  bis  17.  März  1892  abgehaltenen  Sitzungen  der  nach  Wien  einberufenen 
Währungs-Enquete-Commission"  (Wien,  1892)  beigesetzt. 


340  Mataja. 

vertritt,  der  auch  seinerseits  keinen  ausreichenden  Metallwert  in  sich  trägt,  ein  Ver- 
hältnis, das  sich  je  nach  Entwicklung  der  Silberfrage  sogar  leicht  noch  erheblich 
verschlimmeni  könnte.  Oesterreich-Ungarn  ist  der  Möglichkeit  beraubt,  Disparitäten 
der  Zahlungsbilanz  durch  Geldsendungen  auszugleichen,  beziehungsweise  einzuziehen. 
(Prof.  Carl  Menger,  197.)  Auch  rechtlich  gibt  der  heutige  Zustand  zu  verschiedenen 
ernsten  Bedenken  Anlass,  wie  der  ebengenannte  Experte  überzeugend  ausführte  (198): 
die  freie  Silberprägung  ist  1879  durch  einfachen  Auftrag  der  beiderseitigen  Finanz- 
ministerien an  die  Münzstätten  eingestellt  worden  und  es  besteht  kaum  ein 
Zweifel,  dass  die  Eegierungen  die  Wiederaufnahme  der  Prägungen  auf  dem  näm- 
lichen Wege  wieder  einzuführen  vermöchten;  in  der  Hand  jedes  einzelnen  der 
beiden  Finanzministerien  ist  es  daher  gelegen,  eine  Verschiebung  des  Geldwertes 
—  nach  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  von  circa  25  Proc.  —  zu  provocieren. 
Selbstverständlich  könnte  dasselbe  Resultat  auch  durch  ausgiebige,  finanziell 
zunächst  einträgliche  Silberausprägung  auf  Rechnung  des  Staates  entstehen  und 
sei  immerhin  daran  erinnert,  dass  trotz  mancher  warnenden  Stimme  (darunter 
derjenigen  der  österreichisch-ungarischen  Bank)  selbst  in  normalen  Zeiten  die  Aus- 
prägung eines  bestimmten  Silberquantums  für  staatliche  Rechnung  nicht  unter- 
lassen wurde,  eines  Quantums,  das  freilich  nicht  gross  genug  war  um  eine 
fühlbare  Einwirkung  auf  den  Verkehrswert  des  Geldes  zu  äussern.  Bietet  ferner 
das  heutige  Geldwesen  vermöge  des  grossen  Bestandes  an  uneinlöslichem  Papiergeld 
beim  Eintritt  gewisser  Eventualitäten  die  Gefahr  einer  Wiederkehr  des  Silberagios 
dar,  so  ist  auch  das  nicht  zu  übersehen,  dass  es  auf  der  anderen  Seite  aber  auch 
der  ruhigen  normalen  Entwickelung  der  Volkswirtschaft  nicht  genügt,  indem  dem 
steigenden  Geldbedarf  des  Verkehrs  keine  wachsende,  und  zwar  genau  den  Bedürf- 
nissen desselben  angepasste,  weil  sich  selbstthätig  regulierende  Geldmenge  zur 
Verfugung  steht.  Bisher  wurde  Abhilfe  getroffen  theils  durch  die  erwähnten  Silber- 
ausprägungen, theils  (1887)  durch  eine  Revision  der  Bankstatuten,  theils  durch 
Erweiterung  des  Staatsnotenumlaufes  auf  Kosten  der  sogenannten  Salinenscheine 
(Ges.  vom  24.  December  1867).  Alle  diese  Maassnahmen  sind  aber  der  Natur  der 
Sache  nach  auf  die  Dauer  unzulänglich,  indem  eine  starke  Silberausprägung  sich 
aus  verschiedenen  Gründen  höchst  bedenklich  darstellen  würde,  einer  weiteren 
Erleichterung  der  Deckungsvorschriften  für  die  Banknoten  doch  sicherlich  enge 
Grenzen  gezogen  sind  und  einer  Vermehrung  der  Staatsnoten  über  den  ohnehin  bald 
erreichten  Maximalbetrag  von  412  Millionen  niemand  das  Wort  reden  kann. 
Thatsächlich  weist  auch  jetzt  schon  die  österreichische  Valuta  eine  belangreiche 
Wertsteigerung  auf,  indem  sie  sich  nicht  nur  losgelöst  hat  vom  Preisrückgang 
des  Silbers,  sondern  seit  1887  auch  wesentlich  dem  Gold  gegenüber  gewonnen 
hat,  in  welcher  Bewegung  nach  aufwärts  nur  in  der  letzten  Zeit  ein  Rückschlag 
eingetreten  ist,  bei  dem  aber  sicherlich  gewisse,  ausserhalb  der  gewöhnlichen 
Marktbewegung  gelegene  Einflüsse  in  Hinblick  auf  die  bevorstehende  Valuta- 
regelung ins  Spiel  kommen,  wie  wiederholt  bei  der  Enquete  bemerkt  wurde  (61, 
137,  232,  266,  275).  Oesterreich  ist  eben  auch  bei  der  allergünstigsten  Bilanz 
des  auswärtigen  Verkehrs  gegen  Einströmen  fremden  Geldes  zur  Behinderung  des 
Fallens  der  Wechselcourse  abgeschlossen.  Bei  der  Enquete  hat  Dr.  Hertzka  die 
jährliche  Wertzunahme  des  österreichischen  Geldes,  von  Störungen  abgesehen,  auf 


Die  österreichische  Währungs-Enquöte,  341 

IY2  Proc.  geschätzt  und  bemerkt,  dass  beiläufig  in  einem  Menschenalter  der 
Wechselcours  auf  London  etwa  auf  60  (statt  gegenwärtig  circa  119)  stehen 
würde  (96).  —  Diese  Annahme  mag  ja  viel  zu  weit  gehen  und  den  möglichen 
Hemmnissen  dieser  Wertsteigerung  nicht  genügend  Rechnung  tragen,  aber  die 
Richtigkeit  des  Princips^)  scheint  mir  schon  durch  die  bisherige  Erfahrung 
bestätigt.  (Vergl.  jedoch  Prof.   Menger,   214).     Endlich  sei  noch  auf  ein  inter- 

^)  Der  Annahme  einer  voraussichtlichen  Wertsteigerung  des  österreichischen  Geldes 
bei  normaler  Entwickelung  der  Volkswirtschaft  infolge  der  Unthunlichkeit,  die  Menge 
des  Geldes  auf  rationelle  Weise  mit  dem  steigenden  Bedarf  in  üebereinstimmung  zu 
bringen,  wird  wohl  der  Hinweis  auf  die  Silberausprägung  und  die  Banknotenemission 
entgegengesetzt.  Was  erstere  anbelangt,  so  wird  aber  wohl  Niemand,  so  bald  die 
Yalutaregelung  überhaupt  nicht  aufgegeben  oder,  wenn  aufgeschoben,  in  einer  geradezu 
unübersehbaren  Weise  erschwert  werden  soll,  einer  fortgesetzten  starken  Neuemission 
von  Silbergulden  das  Wort  reden  können.  Was  die  vermehrte  Ausgabe  von  Banknoten 
anbetriift,  so  ist  daran  zu  erinnern,  dass  nach  dem  für  das  Notenwesen  angenommenen 
Contingentierungsprincip  die  Bank  nur  das  Recht  besitzt,  steuerfrei  eine  metallisch  nicht 
gedeckte  Summe  von  200  oder  genau  gesagt  von  230  Mill.  Gulden  zu  emittieren,  d.  i. 
ohnehin  schon  so  viel  wie  sämmtliche  deutsche  Notenbanken  zusammen  (385  Mill.  Mark). 
Angenommen,  dass  es  nicht  opportun  ist,  das  Contingent  überhaupt  oder  gar  wesentlich 
zu  erweitern,  bliebe  somit  nur  ein  Mittel  übrig,  den  Notenumlauf  zu  steigern,  d.  i.  eine 
dieser  Steigerung  correspondierende  Erhöhung  des  Barschatzes.  Diese  Erhöhung  wäre 
wiederum  möglich  durch  Aufnahme  von  Silbergulden  in  denselben  (was  dann  keine 
eigentliche  Vermehrung  des  GeldvoiTathes  bedeuten  könnte,  da  dem  Verkehre  eine  äqui- 
valente Menge  anderen  Geldes  dadurch  entzogen  würde),  von  ungeprägtem  Silber  (was 
eine  nur  illusorische  Notendeckung  wäre),  endlich  von  Gold.  Berechnet  man  die  Gold- 
deckung mit  einem  hinter  dem  jeweiligen  Course  zurückbleibenden  Wert,  so  verliert  die 
Bank  bei  der  Mehremission  von  Noten,  weil  sie  dann  ein  höherwertiges  Capital  in  ihren 
Gassen  verschliessen  muss,  als  sie  hiefür  an  Noten  ausgeben  kann.  Gestattet  man  eine 
Notenemission  nach  Maassgabe  des  Courswertes  des  hinterlegten  Goldes,  dann  würde  die 
Bank  aus  der  Mehremission  zwar  noch  immer  nichts  gewinnen,  aber  doch  wenigstens 
nichts  direct  verlieren;  es  wäre  dies  aber  ein  Verfahren,  das  auf  berechtigten  Wider- 
spruch stossen  und  bei  jeder  Coursänderung  das  Deckungsverhältnis  der  Noten  alterieren 
würde.  Thatsächlich  ist  auch  der  übrigens  durch  besondere  Verhältnisse  seinerzeit  hervor- 
gerufene Bestand  an  Gold  (und  Golddevisen)  seit  Langem  ein  stabiler.  Der  Geldbedarf 
der  Monarchie,  deren  Geschäftsleben  zunimmt,  in  welcher  das  Papiergeldwesen  dem 
Giro-  und  Checkverkehr  ein  nicht  zu  unterschätzendes  Hemmnis  bereitet  und  weite  Kreise 
sich  erst  der  eigentlichen  Geldwirtschaft  erschliessen,  ist  aber  naturgemäss  ziemlich  rasch 
wachsend.  Es  betrug,  wenn  wir  die  drei  charakteristischen  Jahre  1878  (Vorjahr  der 
Einstellung  der  freien  Silberprägung),  1887  (Tiefstand  der  österreichischen  Valuta  gegen 
Gold)  und  1891  hervorheben: 

Der  Banknotenumlauf  Metallschatz  davon  Silber 

(einschl.  Golddevisen) 
Ende  1878  288-8  165'4  86-5  Mill.  Gulden 

„      1887  391-1  224-3  145-1 

„      1891  455-2  245-9  166-6 

Der  niederste  Stand  des  Banknotenumlaufes  war  im  Jahre 
1888  346-1  Mill.  Gulden 
1891  392-8       „ 
mit  einer  Metalldeckung  (nach  Abzug  der  im  Besitze  der  Bank  befindlichen  Staatsnoten) 
von  65-68,  beziehungsweise  62-73%,  was  deshalb  erwähnt  sei,  weil  der  Banknotenumlauf 
Ende  1891  verhältnismässig  hoch  war,  jedoch  nicht  der  höchste   dieses   Jahres,  welcher 
vielmehr  466'7  Millionen  Gulden  betrug. 


342  Mataja. 

essantes,  der  Charakterisierung  unseres  Geldwesens  dienendes  Detail  aufmerksam 
gemacht,  welches  der  Experte  v.  Lindheim  (138)  beibrachte:  die  französische 
Börsenkrise  von  1882  äusserte  sich  kräftiger  auf  die  österreichischen,  als  auf  die 
französischen  Effecten,  so  empfindlich  ist  der  Geldmarkt  in  Betreff  der  öster- 
reichischen "Werte. 


Der  Staatsnotenamlauf  war 

Ende  1878     364     Mill.  Gulden 

„     1887     337-4     „ 

„  1891  378-8  „ 
Der  Staats-  und  Banknotenumlauf  ergibt  zusammen  noch  nicht  vollständig  die 
wirkliche  Vermehrung  des  Geldumlaufes,  indem  jenes  neu  ausgeprägte  Silber,  welches 
nicht  in  die  Bank  geströmt  ist  und  damit  eine  Erhöhung  der  Notenemission  bewirkte, 
sondern  sich  im  Verkehre  erhielt,  soweit  es  nicht  bloss  zur  Deckung  von  Abgängen  durch 
Verluste,  Einschmelzung  etc.  diente,  noch  in  Anschlag  zu  bringen  wäre;  wir  kennen  diese 
Ziffer  jedoch  nicht  und  wissen  bloss,  dass  weit  mehr  ausgeprägt  worden  ist,  als  die  Ver- 
mehrung des  Silberschatzes  der  Bank  ausmacht.  Lassen  wir  daher  das  Silber  ganz  bei 
Seite  und  beschränken  wir  uns  bloss  darauf,  die  Banknotenvermehrung  voll  in  Rechnung 
zu  stellen  ohne  Abzug  für  die  aus  dem  Verkehre  geschöpfte  Vermehrung  des  Silber- 
schatzes der  Bank,  so  war    der  Bank-  und  Staatsnotenumlauf  zusammen : 

Ende  1878    652-8  Mill.  Gulden 

,,      1887    728-5       „ 

„  1891  834-0  „ 
was  in  den  dreizehn  Jahren  (immer  abgesehen  von  einer  Vermehrung  des  Silbergeldes 
im  Verkehre)  einen  Geldzuwachs  von  181-2  Mill.  Gulden  ergibt,  der  namentlich 
1887—1891  rapid  gewesen  ist.  Die  Epoche  nach  1887  bis  1891  ist  auch  jene  der  wesent- 
lichen Besserung  der  österreichischen  Valuta  gegenüber  dem  Gold.  Während  nun  in 
Ländern  mit  geordneter  Währung  eine  Geldknappheit  und  relative  Geldvertheuerung  im 
Vergleiche  zum  Ausland,  was  sich  an  günstigen  Wechselcoursen  zeigt  (die  ja  nichts 
anderes  sind  als  der  Ausdruck  des  Wertverhältnisses  des  Geldes  in  einem  Staate  zu  dem  in 
einem  andern)  zu  Edelmetallströmungen  und  damit  zu  einem  Ausgleich  führt,  ist  dies 
hinsichtlich  Oesterreich-Ungarns  ausgeschlossen;  dieselben  Umstände,  die  anderswo  zu 
einer  massigen  Abweichung  der  Wechselcourse  vom  Paristande  und  Vermehrung  des 
Metallbesitzes  führen,  bewirken  hier  eine  namhafte  Steigerung  des  Geldwertes,  die  sich 
in  einer  wesentlichen  Aenderung  der  Wechselcourse  (und  deren  hier  nicht  näher  zu 
erörternden  Folgen)  äussert.  Wird  dort  der  Geldbesitz  extensiv,  so  wird  er  hier  intensiv 
gesteigert.  Wenn  nun  das  in  Oesterreich-Ungarn  seit  1878  (über  die  allerletzte  Zeit  siehe 
die  Bemerkung  oben  im  Texte)  der  Fall  war  trotz  der  namhaften  Vermehrung  des  Geld- 
besitzes selbst,  so  zeugt  das  für  die  Stärke  der  Tendenz,  welche  bewirkt  hat,  dass  die 
österreichische  Valuta  1878 — 91,  wenn  auch  nicht  gänzlich  unabhängig  vom  Silberpreis 
geworden  (s.  Enquete,  213)  doch  den  Rückgang  desselben  überwunden  und  sich  sogar 
gegenüber  dem  Gold  positiv  gehoben  hat.  Sollte  der  Geldbedarf  in  der  Folge  gleichmässig 
weiter  steigen,  so  könnte  allerdings  auch  beim  Fortbestände  der  gegenwärtigen  Währung 
noch  durch  weitere  Erleichterungen  der  Bankstatuten  eine  Abhilfe  geboten  werden;  ob 
aber  diese  Erleichterungen  rationeller  Weise  in  genügendem  Maasse  gewährt  werden 
können,  ist  sehr  zu  bezweifeln. 

Die  Annahme,  dass  die  österreichische  Valuta  bei  ihrer  Abgeschlossenheit  voraus- 
sichtlich auch  in  Zukunft  an  Wert  steigen  werde,  wird  auch  von  praktischen  Finanzmännern 
getheilt.  (Elbogen  77,  Lieben  126).  —  Diese  Erörterungen  haben  selbst  wenn 
es,  wie  zu  hoffen,  jetzt  glückt  die  Valutaoperation  durchzuführen,  kein  blosses  theo- 
retisches Interesse,  weil  sie  dazu  dienen,  die  Nothwendigkeit  der  Valutaregelung 
zu  begründen,  und  später  für  die  Abwehr,  von  bei  solchen  Gelegenheiten  nie  fehlenden 
Recriminationen  von  Wert  sein  können. 


Die  österreichische  Währungs-Enquete.  343 

Nach  dieser  kleinen  Abschwieifung'  gelangen  wir  zur  eigentlichen  Aufgabe 
der  Währungs-Enquete:  zur  Formulierung  der  wünschenswerten  Reform. 

Erste  Frage.  Welche  Währung  soll  bei  Regelung  der  Valuta  zur 
Grundlage  genommen  werden? 

Hier  finden  wir  das  bemerkenswerte  Resultat,  dass  einstimmig  nicht  nur 
die  Valutaregelung  überhaupt,  sondern  auch  der  üebergang  zur  Goldwährung 
empfohlen  wurde.  Es  ist  zwar  richtig,  dass  mehrere  Enquete-Mitglieder  von 
Besorgnissen  der  Bevölkerung  gegenüber  der  Valutaherstellung  zu  berichten  wussten, 
so  aus  Böhmen,  Galizien,  Oberösterreich  (35,  40,  65,  68,  192),  aber  immerhin 
gelangte  keiner  zu  einem  schlechtweg  ablehnenden  Votum  und  gerade  ein  Experte, 
den  man  srewissermaassen  als  einen  Vertreter  der  Landbevölkerung  ansehen  kann, 
Abt  Schachinge r,  erklärte  unter  grossem  Beifall  der  Versammlung,  dass  er  zwar 
als  Gegner  der  Goldwährung  gekommen,  es  aber  infolge  der  gehörten  Darlegungen 
nicht  mehr  sei  (66). 

Allerdings  zeigte  sich  auch  eine  kleine  bimetallistische  Schilderhebung,  zum 
Theile  aber  so  gedämpft,  dass  man  hierin  kaum  mehr  als  eine  Reminiscenz  an 
frühere  Zeiten  erblicken  kann,  so  beim  Eisenwerksbesitzer  Bondy  (36).  Ener- 
gisch wurde  jedoch  der  bimetallistische  Standpunkt  durch  Prof.  v.  Milewski 
aus  Krakau  vertreten,  wenngleich  auch  dieser  in  seinen  praktischen  Conclusionen 
zur  Einführung  der  Goldwährung  (freilich  der  hinkenden  Währung,  wie  jedoch  viele 
Vertreter  der  Goldwährung  überhaupt)  gelangte  (175  ff.,  186),  nur  eingeschränkt 
durch  die  von  ihm  allerdings  an  die  Spitze  gestellte  Forderung  eines  Versuches, 
eine  bimetallistische  Vereinigung  zu  Stande  zu  bringen.  (Ausserdem  bekannten 
sich  als  Bimetallisten  Prof.  Pilat  aus  Lemberg  und  Dr.  Nava,  Generalsecretär 
der  ersten  österr.  Sparcasse  in  W^ien,  191  und  229).  Prof.  v.  Milewski,  welcher 
bereits-  als  Schriftsteller  in  der  Währungsfrage  hervorgetreten  ist^),  löste 
die  schwierige  Aufgabe,  in  einer  der  Goldwährung  so  zugeneigten  Versammlung 
die  Absichten  und  Anschauungen  der  Bimetallisten  darzulegen,  in  ausgezeichneter 
fesselnder  Weise  und  mit  jener  Sachkenntnis,  welche  eben  die  langjährige  eifrige 
Beschäftigung  mit  dem  Währungsproblem  verleiht.  Sein  Auftreten  gereichte  der 
Enquete  entschieden  zum  Vortheil,  sowohl  im  Interesse  der  Klarstellung  des 
complicierten,  vielfach  unterschätzten  Währungsproblems  als  auch  durch  die 
rückhaltslose  Betonung  der  Schwächen  der  monometallischen  Lösung  dieser  Frage, 
die  zu  kennen  und  zu  mirdigen  gerade  bei  einem  Versuch  in  letzterer  Richtung 
hohe  praktische  Bedeutung  hat.  Referent  will  die  eingehenden  und  gehaltvollen 
Ausführungen  Milewski 's  gewiss  nicht  in  ein  paar  Zeilen  kritisieren  und  sie 
damit  als  abgethan  ansehen,  es  wäre  dies  ein  grobes  unrecht;  aber  immerhin 
will  er  den  Eindruck  nicht  verhehlen,  dass  es  ihm  wünschenswert  erschienen 
wäre,  wenn  dem  kritischen,  gegen  die  Goldwährung  gerichteten  Theile  des  Vor- 
trages eine  gleich  eindrucksvolle  positive  Ausführung  über  die  Durchführbarkeit 
der  internationalen  Doppelwährung  ohne  Beschränkung,  beziehungsweise  Monopo- 
lisierung der  Silbei-production  und    ohne    Gefährdung    des  Geldwertes    durch    die 

1)  Stosunek  wartocsi  zlota  do  srebra.  (Das  Wertverhältnis  zwischen  Gold  und 
Silber).  Krakau  1891.  Eine  kurze  Inhaltsangabe  daraus  in  deutscher  Sprache  findet  sich 
im  Anzeiger  der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Krakau,  Januar  1891. 


344  Mataja. 

bedingungslose  Einführung  der  ungeheuren  Silbermassen  in  das  Courantgeld  gefolgt 
wäre.  Möge  bezüglich  des  letzten  Punktes  nur  an  die  Bemerkung  des  Bimetallisten 
Pierson  erinnert  werden:  „Die  nüchterne  Wahrheit,  welche  man  auf  Grund 
der  Erfahrung  feststellen  muss,  ist,  dass  Wertverminderung  des  Geldes  noch 
nachtheiliger  wirkt  als  Werterhöhung"  (Grondbeginselen  ni.  und  Leerboek  I. 
550).  Eine  eigentliche  schrittweise  Bekämpfung  der  Ausführungen  Milewski's 
erfolgte  bei  der  Enquete  nicht;  Prof.  Meng  er  nahm  jedoch  Anlass  seine  Stellung 
gegenüber  dem  internationalen  Bimetallismus  zu  kennzeichnen.  Die  Durchführung 
desselben  unter  den  heutigen  Verhältnissen  würde  nach  ihm  ein  bisher  in  keiner 
Weise  erprobtes  Experiment  darstellen,  er  würde  die  Gefahr  eines  Sturzes  des 
allgemeinen  Geldwertes  und  einer  dauernden  Tendenz  desselben  zum  Sinken 
erzeugen,  und  sprach  sich  Menger  demgemäss  nur  für  internationale  Maass- 
nahmen  zur  Beseitigung  oder  doch  Milderung  der  Uebelstände  der  aber  doch 
Ton  überwiegenden  Yortheilen  begleiteten  Goldwährung  (insbesondere  in  Betreff 
der  Zulassung  von  auf  kleinere  Wertstufen  lautenden  Banknoten  und  eines 
contingentierten  Silbercourantumlaufes)  aus.  (200). 

Umgekehrt  hielten  die  eingehendsten  Plaidoyers  zu  Gunsten  der  Gold- 
währung die  Experten  Benedikt,,  Herausgeber  der  „Neuen  freien  Presse"  (15  fg.) 
und  Hertzka,  der  Verfasser  „Freilands"  etc.  (93  fg.),  während  die  anderen 
Experten  zumeist  nur  einzelne  Punkte  der  Währungsfrage  berührten. 

Wie  schon  bemerkt,  herrschte  ein  dem  Währungs Wechsel  sehr  günstige 
Stimmung.  Einzelne  Experten  sahen  sich  sogar  veranlasst  ausdmcklich  den  gegen- 
wärtigen Zeitpunkt  als  einen  für  die  Reform  sehr  günstigen  zu  bezeichnen.  So 
verwies  Handelskammerrath  v.  Lindheim  auf  die  geordnete  Finanzlage  des 
Eeiches,  den  niedrigen  Zinsfuss  der  Gegenwart,  die  günstige  Gestaltung  der 
gegenwärtigen  Handelsbilanz  (137);  man  sehe  auch  die  Ausfühningen  von  Thors ch 
(272),  welcher  Experte  vermöge  seiner  hervorragenden  Stellung  im  Edelmetall- 
handel grosse  Beachtung  verdient,  die  von  Zgurski,  Director  der  galizischen 
Landesbank,  über  die  Entwicklung  seiner  Heimatprovinz,  Galiziens  (68),  von  Prof. 
Bräf  (Prag)  gegen  die  Hinausschiebung  der  Reform  (40)  und  A.  Freilich  fehlte 
es  auch  nicht  an  Stimmen,  welche  zurückhaltender  klangen.  Hierher  gehört 
insbesondere  Nava,  Generalsecretär  der  ersten  österr.  Sparcasse,  welcher  das 
heutige  sog.  Goldagio  zu  hoch  fand,  und  glaubte,  es  sei  mit  der  Währungs- 
reform lieber  zuzuwarten,  bis  dieses  Agio  gesunken  sei.  (228,  235).  Taussig, 
Director  der  Bodencreditanstalt  und  Präsident  der  österr.-ungar.  Staatseisenbahn- 
Gesellschaft,  war  der  Ansicht,  dass  es  zweckmässig  wäre,  die  Action  zu  theilen 
und  vorerst  die  Herstellung  der  metallischen  Grundlage  für  die  Währung,  sowie 
die  Fundierung,  nicht  die  Einziehung  der  im  Umlaufe  befindlichen  Staatsnoten 
in  Angriff  zu  nehmen,  die  Lösung  der  Frage  der  Aufnahme  der  Barzahlungen 
jedoch  und  der  damit  zusammenhängenden  Probleme  einem  Zeitpunkt  zu  über- 
lassen, in  welchem  der  erste  Theil  der  Action  durchgeführt  oder  wenigstens  m 
seiner  Durchführung  vollständig  gesichert  sein  wird  (259,  260). 

Insbesondere  kehrte  die  Frage,  ob  und  inwieweit  der  gegenwärtige  Zeit- 
punkt als  günstig  für  die  Reform  zu  gelten  habe,  bei  Erörterung  der  Verhält- 
nisse für  die  Goldbeschaffung  wieder.     Viele  Experten  sahen  die  Lage  hiefür 


Die  Österreichische  Währungs-Enquete.  345 

als  sehr  günstig  an.  Der  Director  des  Wiener  Bankvereines,  Bauer,  erklärte 
auf  Grund  verlässlicher  Informationen  von  Finanzmännern  Deutschlands,  Englands 
und  Frankreichs,  welche  auf  dem  internationalen  Edelmetallmarkte  eine  hervor- 
ragende Stellung  einnehmen,  dass  die  Beschaffung  jener  Groldmenge,  welche 
zur  Einführung  der  Goldwährung  in  Oesterreich-Ungarn  nothwendig  ist,  ohne 
ernste  Schwierigkeiten  durchgeführt  werden  kann,  dass  dieser  Theil  der  Operation 
bei  besonnenem,  vorsichtigem,  schrittweisem  Vorgehen  nirgends  auf  ernstliche 
Hindernisse  stossen  wird  (4).  Benedikt  verwies  auf  die  Währungsgeschichte  der 
jüngsten  Zeit,  welche  ergebe,  dass  so  viele  Staaten  in  der  Lage  waren,  sich  das 
Gold  zu  beschaffen,  ohne  dass  eine  heftige  Störung  des  Weltmarktes  oder  eine 
Krise  eingetreten  wäre;  warum  sollte  gerade  für  0 esterreich  ein  Goldmangel 
bestehen?  (20)  Elbogen,  Präsident  der  Anglo-österreichischen  Bank,  bemerkte, 
dass  im  praktischen  Leben  Fälle  vorkämen,  wo  Gold  leichter  zu  haben  sei  als 
Silber,  wie  das  Beispiel  der  Valutaregulierung  in  Italien  beweise,  wo  das  bezüg- 
liche Consortium  genöthigt  war  an  die  italienische  Kegierung  das  Ersuchen  zu 
richten,  einen  grösseren  Theil  der  Summe,  welche  es  in  Silber  zu  liefern  hatte, 
in  Gold  liefern  zu  dürfen  (73).  Am  weitesten  gieng  Hertzka,  welcher  die  Frage 
der  Goldbeschaffung  eine  durchaus  österreichische  nannte,  von  welcher  die  ganze 
übrige  Welt  nichts  gewusst  habe.  Noch  niemals  sei  es  einem  Volke  eingefallen, 
in  Zweifel  zu  setzen,  ob  es  sich  Gold  verschaffen  könne,  wenn  es  dasselbe  zu 
bezahlen  in  der  Lage  war.  Die  Anleihe  werde  doch  in  Europa  aufgelegt  und  da 
bekomme  man  gar  nichts  anderes  als  Gold.  Wenn  in  der  That  auf  ausländischen 
Geldplätzen  vorübergehend  Angst  vor  der  Valutaoperation  vorhanden  gewesen  sei^ 
so  habe  dies  auf  einem  Missverständnis  beruht:  man  habe  sich  dort  gar  nicht 
vor  der  Goldbeschaffung,  sondern  vor  der  Silberabstossung  gefürchtet  (97 — 102). 
Vorsichtiger  als  diese  Stimme  klang  die  des  Experten  Ritter  v.  Mauthner, 
Director  der  Creditanstalt.  Er  glaubte,  dass  die  Chancen  der  Monarchie,  einen 
Platz  unter  der  Golddecke  zu  gewinnen,  kaum  günstiger  werden  dürften  als 
sie  heute  sind.  England,  Deutschland,  Frankreich  und  Belgien,  führte 
er  weiter  aus,  sind  gegenwärtig  mit  Gold  gesättigt,  die  Währungspolitik  der 
nordamerikanischen  Union  ist  eine  solche,  dass  seit  längerer  Zeit  sich  mehr  oder 
minder  ein  reichlicher  Goldstrom  nach  Europa  ergiesst,  andere  Staaten,  die  der 
südeuropäischen  Halbinseln,  haben  zwar  den  dringenden  Wunsch  ihren  Gold- 
bestand zu  stärken,  doch  machen  es  ihre  Verhältnisse  höchst  unwahrscheinlich, 
dass  sie  in  absehbarer  Zeit  als  Concurrenten  auf  dem  Geldmarkte  erscheinen, 
Russland  wird  bei  dem  grossen  Ausfall  in  seinem  Export  dieses  und  höchst 
wahrscheinlich  auch  des  künftigen  Jahres  den  grössten  Theil  seiner  bestehenden, 
allerdings  bedeutenden  Goldguthabungen  im  Ausland  zur  Bezahlung  der  Zinsen 
seiner  grossen  Goldschuld  verwenden  müssen.  Die  Goldbeschaffung  ist  weder,  wie 
die  Einen  sagen,  eine  keinerlei  Schwierigkeiten  bietende  einfache  Bankoperation,  noch, 
wie  man  vor  kurzem  im  Ausland  gesagt  hatte,  eine  Unmöglichkeit.  Die  ersten  fünfzig 
bis  hundert  Millionen  Gulden  werden  so  leicht  beschafft  werden,  wie  die  Optimisten 
es  glauben,  dann  werden  die  Schwierigkeiten  beginnen.  Fraglich  ist  es  natürlich 
nicht,  dass,  wie  gesagt  wurde,  wenn  jemand  ein  Guthaben  bei  der  Bank  von 
England  besitzt,  er  sich  gegen  dieses  Guthaben  Gold  beschaffen  kann.  Es  besteht 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  II.  Heft.  23 


346  Mataja. 

aber  die  Frage,  ob  die  Bank  von  England  nicht  mächtig  genug  ist,  um  uns  zu 
hindern,  uns  das  Gutliaben  in  der  nöthigen  Höhe  zu  beschaffen.  Die  Lage  der 
auswärtigen  Effectenmärkte  ist  heute  nicht  so,  dass  über  diese  Frage  kein  Zweifel 
bestehen  kann.  Vor  einigen  Jahren  verschlangen  wirklich  die  Effectenmärkte, 
beziehungsweise  das  Publicum,  gierig  alles,  was  man  ihnen  vorsetzte;  so  steht  aber 
die  Sache  heute  nicht  mehr  und  die  Bank  von  England  mit  ihrer  den  Weltmarkt 
beherrschenden  Zinsfusspolitik  ist  ein  Factor,  mit  dem  man  ernstlich  rechnen 
muss.  Die  Operation  muss  also  zielbewusst  in  Angriff  genommen  und  dem  Aus- 
lande Beruhigung  gew^ährt  werden,  dass  man  seine  Interessen  nicht  rücksichtslos 
beiseite  schieben  will  (163,   164). 

In  ähnlicher  Weise  wurde  vielfach  die  Nothwendigkeit  vorsichtigen,  all- 
mählichen Vorgehens  betont  (21,  60,  73,  204,  226,  240,  248).  Menger  verwarf 
insbesondere  das  Argument  (127,  138),  dass,  weil  sogar  Länder  wie  Eumänien  und 
die  Türkei  sich  das  nöthige  Gold  zu  ihrer  Valutareform  verschaffen  und 
erhalten  konnten,  auch  Oesterreich-Ungarn  dies  zu  thun  vermöchte.  Umgekehrt, 
meinte  er,  gerade  weil  Oesterreich  gross  und  diesen  Staaten  überlegen  ist  und 
seine  Nachfrage  daher  ganz  andere  Quantitäten  Gold  betrifft,  sei  seine  Aufgabe 
unendlich  schwieriger.  Gold  könne  man  freilich  wie  jede  andere  Ware  kaufen, 
wenn  man  es  bezahlen  kann;  aber  hier  handle  es  sich  um  eine  besondere 
Ware,  um  Gold  zu  einer  Münzregulierung,  das  nicht  theurer  werden  darf, 
andernfalls  man  nicht  schon  jetzt  die  Wertrelation  fesstellen  dürfe  (203). 

Wie  viel  Gold  wird  Oesterreich-Ungarn  brauchen?  Die  Frage  ist 
natürlich  anders  zu  beantworten,  je  nachdem  man  den  Goldbetrag  ins  Auge 
fasst,  welchen  der  Staat  zu  beschaffen  haben  wird,  um  die  gegenwärtigen  Geld- 
zeichen einzulösen,  oder,  wenn  man  den  Bedarf  der  künftigen  Geldcirculation 
veranschlagen  will.  In  beiden  Fällen,  die  nicht  von  allen  Experten  klar  genug 
auseinandergehalten  wurden,  kommt  jedoch  in  Betracht,  wie  man  sich  den 
künftigen  Bestand  an  Scheidemünze  und  die  Frage  des  Silbercourants  sowie  der 
Staatscassenscheine  geordnet  denkt.  Hahn,  Generaldirector  der  Länderbank, 
bezeichnete  eine  Summe  von  400  Mill.  Gulden  (ohne  den  heutigen  Goldbestand 
der  Bank)  als  diejenige,  bei  der  man  mit  Beruhigung  die  Barzahlungen  auf- 
nehmen könne  (83).  Dub,  Procurist  des  Hauses  Eothschild,  dem  angesichts 
dieser  Stellung  mit  besonderer  Aufmerksamkeit  zuzuhören  aller  Anlass  vorhanden 
war,  fand  eine  Summe  von  400  Mill.  Gulden  für  zu  gering,  besonders  mit  Kück- 
sicht  auf  den  Umstand,  dass  sich  gerade  im  Anfang,  W'O  das  Publicum  noch 
nicht  daran  gewöhnt  ist,  für  seine  Banknoten  Gold  zu  erhalten,  der  Andrang  an 
den  Bankcassen  heftiger  gestalten  wird;  er  glaubte,  dass  mindestens  50  Mill. 
Pfund  Sterling,  vielleicht  600  Mill.  Gulden  neue  Währung,  einschhesslich  dessen, 
was  sich  im  Lande  befindet,  nicht  zu  hoch  geschätzt  wäre,  um  allen  Eventualitäten 
gerecht  zu  werden  (83).  Menger  gelangte  zur  gleichen  Ziffer  von  600  Mill., 
zog  jedoch  von  diesem  Erfordernis  den  Goldbesitz  der  beiden  Kegierungen  und 
der  Bank  =  54.000  Kilo  ab,  so  dass  er,  den  künftigen  Goldgulden  mit 
0*6  Gramm  Feingold  angenommen,  die  Beschaffung  von  306.000  Kilo  Gold  für 
nöthig  hielt,  d.  i.  je  nach  der  Schätzung  des  monetarischen  Goldvorrathes  der  Welt 
der  sechzehnte  oder  achtzehnte  Theil  desselben  (202).  Lindheim  sprach  von  einem 


Die  üsterreiclnsclie  Währungs-Enquete.  347 

Goldbedarf  von  500  MilL,  wovon  noch  der  Bestand  der  Bank  und  die  bereits 
angeschafften  Goldmengen  in  Abgang  kämen  (138),  Pfeiffer,  Präsident  des 
Giro-  und  Cassenvereines,  von  500  Mill.  ohne  einen  solchen  Abzug  (240). 
Hertzka  bezifferte  das  Valutaanlehen  mit  312  Mill.  Gulden  im  Maximum,  den 
Goldbetrag  zur  Etablierung  der  Goldvaluta  insgesammt  auf  500  Mill.  Gulden  der 
neuen  österr.-ung.  Währ.  (100,   101.) 

Vieles    wurde    auch    über    die    Frage    der    Golderhaltung    vorgebracht. 
Professor  Sax  (Prag)   machte,   um   in   diese  Frage   grössere  Klarheit   zu   bringen, 
eine   sorgsame  und   interessante  Berechnung   über   Oesterreich-Ungarns  Zahlungs- 
bilanz.    Mit  Kücksicht    auf    die  Handelsbilanz,    den    muthmaasslichen  Besitz    des 
Auslandes  an  österreichischen  und   ungarischen  Effecten,    das  Frachtgeschäft  etc. 
gelangte  er  zu  dem  Schlüsse,  dass  Oesterreich-Ungarn  eine  active  Zahlungsbilanz 
besitze,  deren  Saldo  mindestens  35,  wahrscheinlich  aber  40  bis  50  MilL  Gulden 
betrage    (249 — 253,    siehe    die    kleine    Richtigstellung:    268,    wo    von    35    bis 
40  Mill.  Activsaldo  die  Eede  ist).  Taussig  polemisierte  gegen  diese  Aufstellung; 
er  selbst  nahm   die  Verschuldung  Oesterreich-Ungarns   ans  Ausland  mit  4  Milli- 
arden an  (ungerechnet  die  Privatverpflichtungen,  aber  auch   ohne  Abzug  für  den 
inländischen   Besitz    an    fremden    Papieren)    eine  Schuld,    deren  Verzinsung  und 
theilweise  Amortisation  jährlich   eine   so   grosse   Ziffer  in  Anspruch   nimmt,   dass 
man    sich    über  die  gegen  optimistische  Anschauungen   geäusserten  Zweifel  nicht 
allzuleicht   hinwegsetzen    darf   (259,  268).     Benedikt    bemerkte  hingegen,  dass 
der    Saldo    der   Handelsbilanz    mehr    als    200    Mill.    Gulden    ausmachen    dürfte 
(gemäss  dem  Ergebnis  von  1890   und   einer  Correctur   an   den  officiellen  Ziffern) 
und    meinte,    dass    dieser    Saldo    mehr    als    hinreichend    sei,    um    die    aus    der 
Zahlungsbilanz     i.     e.     S.     erwachsenden    Verpflichtungen     zu     erfüllen.      Dass 
Oesterreichs  Bilanz   im   ganzen  activ  sei,  folgerte  er  daraus,  dass  es  eine  grosse 
Aufnahmsfähigkeit   für    seine    Effecten    besitzt    und    somit    Schulden    zurückzahlt, 
ohne  dass  der  Wechselcours  eine  steigende  Tendenz  verräth.  Ein  Land  mit  activer 
Zahlungsbilanz  habe  aber  die  Frage  der  Goldbehauptung  nicht  zu  fürchten  (23,  24). 
Auch   jene  Vorstellung,    dass    das   Ausland,    welches  Forderungen  an  Oesterreich 
besitzt,  durch   Eealisierung  derselben  stets  die  Kraft  habe,    das   Gold  an  sich  zu 
ziehen,    wurde  von  Benedikt  verworfen.  Die  Eückströmung   der  Effecten,   meint 
er,  ist  nichts  anderes  als  der  Verkauf  derselben.  Man  kann  aber  nur  dann  verkaufen, 
wenn  ein  Käufer  vorhanden  ist.  Mit  anderen  Worten,  das  Maass  der  Eückströmung 
richtet    sich    nicht    allein    nach    dem    Passivsaldo    der    Zahlungsbilanz,    sondern 
auch    nach     der    Aufnahmsfähigkeit     des     Inlandes,     d.    h.     nach     der     Summe 
des  für  Effectenkäufe  verfügbaren  Capitals  und  Credits.  Sind  die  Verhältnisse  im 
Schuldnerlande  derart,  um  Misstrauen  und  damit  eine  Tendenz  zur  Eückströmung 
zu   erzeugen,    so  werden   aber   aus  den  gleichen  Ursachen,  welche  in  dieser  Hin- 
sicht   auf    das   Ausland    einwirken,    sich    Capital    und    Credit    des    Inlandes    für 


')  Diese  Correctur  an  den  officiellen  Ziffern,  welche  gar  nicht  zu  beanständen  ist, 
beruHt  auf  der  Erwägung,  dass  in  den  amtlichen  Ausweisen  die  Ausfuhr  zu  niedrig,  die 
Einfuhr  zu  hoch  bewertet  erscheine.  Dieser  Fehler  mache,  wie  Benedikt  bemerkte, 
nach  den  Untersuchungen  des  deutschen  statistischen  Amtes  25  Procent  des  Wertes  aus, 
er  wolle  jedoch  einen  viel  niedrigeren  Schlüssel  anlegen. 

23* 


gj^g  Mataja. 

Effectenkäiife  verringern.  Die  Verkaufslust  des  Auslandes  und  die  Kauflust  des 
Inlandes  bewegen  sich  in  der  Regel  im  verkehrten  Verhältnisse  (21,  22). 
Hertzka  behandelte  auch  die  Golderhaltung  mit  jener  Entschiedenheit,  welche 
gar  nicht  einmal  eine  Frage  erkennt,  wo  andere  Leute  sich  den  Kopf  zerbrechen. 
Es  ist  nicht  möglich,  sagte  er,  dass  ein  Goldstück  von  dort,  wo  es  eine  höhere 
Tauschkraft  hat,  dorthin  geht,  wo  es  eine  geringere  besitzt;  es  ist  nicht  möglich, 
dass  ein  Goldstück  dort  eine  höhere  Tauschkraft  hat,  wo  man  es  minder  noth- 
wendig  bedarf.  Man  kann  uns  zum  Ankauf  unserer  Schuldtitres  nicht  nöthigen, 
man  verkauft  sie  uns  auch  nur,  wenn  wir  einen  höheren  Preis  dafür  bieten,  als 
das  Ausland.  Wie  kann  man  sich  aber  vorstellen,  dass  ein  von  Zahlmitteln  ent- 
blösster  Geldmarkt  freiwillig  der  beste  Käufer  seiner  eigenen  Titres  sein  werde? 
Und  das  müsste  ja  sein,  damit  Gold  abströmt,  es  müsste  hier  weniger  kaufen 
als  im  Auslande.  Wenn  thatsächlich  unser  Aussenhandel  einmal  passiv  werden 
sollte,  so  werden  wir  das  Plus  der  Importwaren  mit  dem  bezahlen,  was  wir 
entbehren  können,  entbehren  müssen,  und  Gold  wird  dies  —  abgesehen  von  dem 
Falle,  wo  eine  vorübergehende  Flutwelle  davon  zu  viel  hereingeführt  hat,  was 
wieder  bald  abgeschwemmt  wird  —  insolange  nicht  sein,  als  nicht  die  Gold- 
production  bei  uns  einen  ganz  besonderen  Aufschwung  nehmen  sollte  (103,  104). 
Diese  günstige  Auffassung  wurde  jedoch  nicht  allgemein  getheilt.  Elbogen 
machte  darauf  aufmerksam,  dass  ausser  jenen  Forderungen,  die  nur  durch  Ver- 
kauf zu  begeben  sind,  auch  laufende  Credite  von  Kaufleuten,  von  Industriellen, 
besonders  in  London,  bestehen,  die  in  Zeiten  der  Krisis  sehr  leicht  plötzlich 
gekündigt  und  im  Laufe  sehr  kurzer  Zeit  mobilisiert  werden  können  (74). 
Meng  er  trat  insbesondere  jener  Argumentation  entgegen,  welche  aus  der  Ver- 
sicherung, dass  zum  Kaufe  zwei  Personen  gehören,  Beruhigung  gegen  die  Gefahr 
der  Goldentziehung  durch  Eückströmen  der  Effecten  schöpfen.  So  lange  es,  be- 
merkte er,  eine  öffentliche  Börse  in  Wien  gibt  und  die  Effecten  einen  Cours 
haben,  kann  man  doch  beliebige  Quantitäten,  wenn  auch  zu  gesunkenen  Coursen, 
verkaufen.  Es  könnte  höchstens  geschehen,  dass  die  Papiere  so  sehr  im  Preise 
sinken,  dass  das  Ausland  nicht  weiter  seinen  Vortheil  darin  fände,  die  Papiere 
zurückzusenden;  aber  eine  solche  Eventualität  will  man  doch  nicht  durch  eine 
Valutaregulierung  herbeiführen  (204).  Auch  Mauthner  hatte  Einwendungen  gegen 
die  genannte  Anschauung  vorgebracht  und  namentlich  auf  in  Italien  und  Spanien 
gemachte  Erfahrungen  verwiesen  (165,  166).  Immerhin  wurden  also  nur  Schwierig- 
Keiten,  niemals  jedoch  eine  Unmöglichkeit  der  Goldbeschaffung  und  Goldbehauptung 
angenommen. 

Zweite  Frage.  Soll  für  den  Fall  der  Annahme  der  Goldwährung 
auch  ein  contingentierter  Umlauf  von  Courant-Silber  zulässig  sein, 
und  in  welcher  Höhe? 

Hierüber  waren  die  Ansichten  sehr  getheilt. 

Die  Frage  war,  wie  wiederholt  bemerkt  wurde,  vor  allem  eine  solche  nach 
der  Verwendung  des  vorhandenen  Silbervorrathes.  Dieser  selbst  ist  aber  nicht 
genau  bekannt;  sicher  sind  nur  zwei  Ziffern:  der  Besitz  der  Bank  (Ende  1891: 
166^2  Mill.  Gulden,  wobei  es  jedoch  nicht  ganz  klar  gestellt  ist,  ob  und  in 
welchem  Maasse  ungemünztes  Silber  darin  enthalten  ist)  und  der  österreichischen 


Die  österreichische  Währungs-Enquete.  349 

Staatscassen  (1890:  7*4  Mill.,  wobei  dann  noch  die  zu  übernehmenden  Vereins- 
thaler  im  Werte  von  13  Mill.  zu  berücksichtigen  sind).  Unbekannt  ist,  was  der 
ungarische  Staat  besitzt  und  was  sich  beim  Publicum  —  in  Umlauf  oder  thesauriert 

—  befindet.  Je  nach  der  Höhe  der  acceptierten  Schätzung  mussten  dann  begreif- 
licherweise auch  die  Vorschläge  in  Betreff  der  Verwendung  des  Silbers  variieren, 
wobei  dann  auch  noch  der  Umstand  in  Betracht  kommt,  dass  die  Aufnahms- 
fähigkeit des  Verkehrs  für  das  Silbergeld  infolge  der  überlieferten  Papierwirtschaft 
unerprobt  ist  und  daher  auch  einer  sehr  abweichenden  Beurtheilung  zugänglich 
ist.  Vielfach  nahm  man  die  beim  Publicum  befindliche  Menge  Silbercourantmünze 
mit  circa  30  Mill.  Gulden  an.  Der  Generaldirector  der  Nordbahn  Jeitteles 
berechnete  sie  hingegen  mit  circa  83  Mill.  (84),  Lieben,  Banquier  und  Mitver- 
fasser der  auf  mathematischer  Methode  beruhenden  „Theorie  der  Preise'*,  nahm 
sie  mit  45  Mill.  an  (285),  Menger  sprach  von  35  Mill.  in  Umlauf  und  25  Mill. 
als  thesauriert.  Nach  letzterem  kämen  insgesammt  270  Mill.  Gulden  Silber 
(einschliesslich  der  bestehenden  Scheidemünze  von  nominell  38 V3  Mill.,  umge- 
rechnet nach   dem  wirklichen  Metallgehalt)   in  Betracht.  (207).     Hertzka  nahm 

—  gleichfalls  einschliesslich  der  Vereinsthaler,  aber  ohne  Scheidemünze  —  einen 
Silbervorrath  von  210  Mill.  Gulden  an.  (106). 

Selbstverständlich  treten  bei  Beantwortung  der  zweiten  Frage  noch  andere 
Momente  ins  Spiel,  insbesondere  bedeutsam  ist  die  Auffassung  hinsichtlich  der 
Staatscassenscheine.  Allgemein  wurde  ferner  bei  dieser  und  der  folgenden  Frage 
die  Nothwendigkeit  gefühlt,  die  Summe  der  heute  im  Verkehr  befindlichen  kleineren 
Geldzeichen  nicht  zu  restringieren. 

Für  die  Einführung  des  Silbercourants  waren  bei  gewissen  Experten  — 
nämlich  den  Anhängern  der  Doppelwährung  —  principielle  Envägungen  aus- 
schlaggebend. Milewski  war  überhaupt  der  Ansicht,  dass  nur  das  Allernöthigsto 
zu  thun,  das  heisst  das  Gold  in  die  Währung  aufzunehmen  sei  und  das  Silber- 
courant  als  volles  Courantgeld  in  der  Währung  beizubehalten  wäre,  jedoch  nicht 
unter  Contingentierung  des  jetzigen  Umlaufs,  sondern  unter  Contingentierung  auf 
den  Kopf  der  Bevölkerung,  damit  die  Möglichkeit  einer  Vermehrung  der  Umlaufs- 
mittel im  Falle  eines  nicht  genügenden  Zuflusses  von  Gold  in  Zukunft  gegeben 
sei.  (186).  Der  Experte  Zgurski  glaubte,  dass  durch  die  Beibehaltung  des 
Silbercourants  doch  nicht  alle  Brücken  gegenüber  einer  möglichen  internationalen 
Einführung  der  bimetallistischen  Währung  abgebrochen  seien  (welche  er  zwar  nicht 
ausdrücklich  vertrat,  sondern  nur  als  eine  offene  discussionsfähige  Frage  bezeich- 
nete), und  nahm  gleichfalls  eine  Contingentierung  per  Kopf  5  —  8  fl.  an  (70,  72), 
welche  Anschauung  auch  die  Zustimmung  des  Bimetallisten  Prof.  Pilat  fand  (193). 

Bei  den  anderen  Experten,  welche  den  bimetallistischen  Standpunkt  nicht 
theilten,  waren  natürlich  die  auf  eventuelle  Doppelwährung  abzielenden  Rücksichten 
nicht  maassgebend. 

Aber  schon  darüber  waren  die  Ansichten  getheilt,  ob  dieser  Frage  überhaupt 
eine  grosse  Tragweite  baizumessen  sei  oder  nicht.  Während  manche  Experten 
nämlich  das  Silbercourant  heftig  bekämpften,  bemerkte  Prof.  Sax,  dass  er  dieser 
Frage  nicht  jene  principielle  Bedeutung  beizumessen  vermöge,  welche  ihr  nach 
mancher  Seite  zukömmt;    es   sei   einfach  unvermeidlich,    ein   solches  Courantsilber 


350  l^M^]^. 

einzuführen,  und  zwar  weil  Niemand  sagen  könne,  wie  gross  der  Bedarf  Oester- 
reicli-Ungarns  an  Scheidemünze  bei  der  Metallwährung  sein  werde.  Man  müsse 
also  experimentell  vorgehen  und  neben  der  Scheidemünze  das  noch  erübrigende 
Silberquantum  als  Courantgeld  contingentieren.  Bedürfe  der  Verkehr  dieses  Silbers 
nicht,  so  bleibe  dasselbe  einfach  in  der  Bank  und  erleichtere  ganz  wesentlich 
die  Notendeckung;  sei  aber  im  Verkehr  Bedarf  vorhanden,  so  werde  er  dieses 
Silber  *  allmählich  aus  der  Bank  an  sich  ziehen  (253).  Prof.  Menger  wiederum 
schlug  folgende  Combination  vor:  Behufs  Verwertung  des  vorhandenen  Silbervor- 
rathes  Erhöhung  der  Scheidemünze  auf  den  Betrag  von  170  Mill.  Gulden,  mehr 
könne  der  Verkehr  nicht  ertragen;  daneben  eine  nur  mit  der  Zunahme  der 
Beölkerung  etwa  zu  erhöhende  Maximalsumme  100  Mill.  Silbercourant,  welche 
jedoch  durch  Staatsnoten  in  Appoints  zu  1  und  5  fl.  ersetzt  werden  können,  je 
nachdem  der  Verkehr  mehr  von  der  einen  oder  der  anderen  Geldsorte  benöthige. 
Die  Bank  sei  dann  vollkommen  dagegen  gesichert,  viel  Courantsilber  aufgenöthigt 
zu  erhalten,  da  das  Publicum  die  kleinen  Noten,  beziehungsweise  das  Silber- 
courant, welches  jederzeit  in  Noten  umgewandelt  werden  kann,  dringend  brauchen 
wird  (208,   209,   219). 

Unter  den  Gegnern  des  Silbercourants  sei  zunächst  v.  Lucam,  der  bekannte 
ehemalige  Generalsecretär  der  österreichischen  Notenbank,  genannt.  Er  besorgte, 
dass  das  Silber  immer  weiter  geschoben  werde  auf  irgend  eine  Person,  die  sich 
der  Annahme  durchaus  nicht  entziehen  könne,  und  das  sei  die  Notenbank.  Es 
werde  auch  keinen  günstigen  Eindruck  auf  die  Bevölkerung  machen,  wenn  sie 
in  kurzer  Zeit  nach  Uebergang  zur  Goldwährung  thatsächlich  aber  Silber  erhalte; 
auch  sei  mit  Eücksicht  auf  die  bestehenden  Verhältnisse  zu  erwägen,  dass  es 
um  keine  Eecriminationen  zu  erwecken,  in  manchen  Landestheilen,  z.  B.  in  Ungarn, 
schwierig  sein  werde,    für  die  Bank  mit  Silberzahlungen  aufzutreten  (147,   148). 

"VVie  man  sieht,  war  es  insbesondere  streitig,  ob  man  zweckmässiger  Weise 
der  Bank  das  Halten  eines  Metallvorrathes  in  Silbercourant  zumuthen  könne. 
Dafür  seien  noch  einige  Beispiele  beigebracht.  Experte  v.  Hahn,  Generaldirector  der 
Länderbank,  sprach  sich  für  die  vorläufige  Belassung  von  Silbercourant  aus, 
welches  am  zweckmässigsten  in  den  Barschatz  des  Noteninstitutes  aufzunehmen 
wäre,  wo  dasselbe  in  der  Eegel  deponiert  bleiben  solle.  Man  könne  wohl 
annehmen,  dass  dieser  Silbercourant  ein  Fünftel  des  Bankschatzes  repräsentieren 
dürfe,  ohne  die  Solidität  der  Währung  zu  gefährden.  Der  Umtausch  des  Courant- 
silbers  gegen  Gold,  wenn  auch  innerhalb  eines  längeren  Zeitraumes,  wäre  nie 
•gänzlich  aus  dem  Auge  zu  verlieren.  (80).  Experte  Elbo gen  war  zwar  im 
Principe  für  möglichst  reine  Goldwährung,  glaubte  aber  immerhin,  dass  von  den 
zunächst  zu  erhaltenden  Silbergulden  die  Bank  einen  Theil,  der  aber  sechs  Procent 
der  Banknoten  nicht  überschreiten  dürfe,  sich  in  den  Metallschatz  solle  einrechnen 
dürfen  {76),  Benedikt  wollte  nach  Durchführung  der  Maassregeln,  welche  noth- 
wendig  sind,  um  die  Einlösung  des  Papiergeldes  in  Gold  vorzubereiten  und  zu 
sichern,  und  nach  Aufnahme  der  Barzahlungen  in  Gold  den  Umlauf  von  Courant- 
silber als  nicht  zulässig  angesehen  wissen,  indem  er  auf  die  Gefahr  eines  Gold- 
agios, auf  die  Discontopolitik  als  das  richtige  Mittel  gegen  den  Goldexport  und 
die   Geringfügigkeit  des  Silbervorrathes  verwies,  der  bei  Ausprägung  von  Scheide- 


Die  östeiTeichische  Währungs-Enquete.  351 

münze  im  Betrage  von  4  fl.  pr.  Kopf  d.  i.  160  Mill.  und  Ertlieilung  der 
Gestattung  an  die  Bank,  einen  bescheidenen  Betrag  Silbermünze  in  die  metallische 
Bedeckung  einzurechnen,  etwa  bis  zu  20  Mill.  (was  sich  schon  dadurch  recht- 
fertige, dass  auch  die  Bank  mit  Scheidemünze  zu  bewerkstelligende  Theilzahlungen 
zu  leisten  und  zu  empfangen  habe),  also  bei  einem  monetären  Silberstand  von 
180  Mill.  im  Wesentlichen  d.  i.  bis  auf  30  Mill.  erschöpft  sei,  eine  Summe, 
die  nicht  von  solcher  Bedeutung  wäre,  um  auf  die  Währungspolitik  irgendwelchen 
Einfluss  zu  üben  oder  finanziell  stark  ins  Gewicht  zu  fallen.  (27.  —  Ueber  die 
Schätzung  des  Silbervorrathes  s.  oben).  In  einem  ähnlichen  Sinne  erklärte 
Lieben,  dass  der  beste  Schutz  der  Währung,  die  beste  Garantie  der  Gold- 
erhaltung in  der  möglichsten  Eeinheit  der  Währung  gelegen  sei,  und  sprach  sich 
auch  gegen  die  Anwendbarkeit  der  französischen  Prämienpolitik  in  Oesterreich 
aus  (128);  auch  Hertzka  wandte  sich  gegen  die  hinkende  Währung  und  die 
Prämienpolitik  (106)  und  auch  Bräf  sprach  sich  gegen  letztere  aus  (42).  Anders 
über  das  Verhältnis  von  Bankpolitik  und  Silber  dachte  Dr.  Bunzl,  Verfasser  der 
mit  Recht  geschätzten  Schrift  „Die  Währungsfrage  in  Oesterreich-Ungarn"  (Wien, 
1887).  Er  glaubte,  dass  ein  massiges  Silbercontingent  nicht  absolut  unvereinbar 
sei  mit  der  Stabilität  der  Währung,  sowie,  dass  der  vorhandene  Silbervorrath  zu 
gross  sei  um  gänzlich  als  Scheidemünze  Verwendung  finden  zu  können;  daneben 
machte  er  darauf  aufmerksam,  dass  Oesterreich  von  Ländern  umgeben  sei,  welche 
in  der  Lage  sind,  ihren  Goldschatz  im  äussersten  Falle  vermittelst  des  Silbers 
zu  vertheidigen,  und  er  nicht  wisse,  ob  Oesterreich  sich  von  vorneherein  stark 
genug  fühle,  um  einer  solchen  ultima  ratio  für  den  äussersten  Fall  entrathen  zu 
können  (51,  52). 

Manche  Experten  wollten  das  Silborcourantgeld  zwar  bis  auf  weiteres,  doch 
nicht  auf  immer,  als  dauernde  Institution  zulassen.  Director  Bauer  fasste  das 
Bedenken  gegen  das  Silbercourant  in  dem  Satze  zusammen:  die  Währungsfeinheit 
der  Wechsel  auf  dem  internationalen  Markte  darf  nicht  angezweifelt  werden, 
d.  h.  das  Verhältnis  zwischen  Gold  und  Silber  muss  derart  sein,  dass  dem 
Abflüsse  des  Goldes  keinerlei  Schwierigkeit  bereitet  werden  muss;  er  glaubte  ein 
Contingent  von  HO  Millionen  Silbercourant  sei  hiermit  vollständig  verträglich 
und  könne  provisorisch  beibehalten  werden;  bis  eine  Conjunctur  die  Abstossung 
ermögliche;  die  Eegierung  solle  diesfalls  freie  Hand  behalten  (ähnlich  wie  gemäss 
Artikel  15  des  deutschen  Münzgesetzes)  und  wäre  die  Silbermünze  möglichst  in 
die  Bank-  und  Staatscassen  zu  bannen  (7  —  9).  Zu  einer  ähnlichen  Conclusion 
—  die  Eegierungen  sollten  nach  Analogie  des  citierten  Artikels  15  ermächtigt 
sein,  die  vorläufig  noch  als  Courantgeld  zu  belassenden  Silbergulden  als  Scheide- 
münze zu  erklären  —  gelangte  Director  v.  Mauthner,  jedoch  mit  der  Modi- 
fication,  dass  das  Silber  als  ein  schwer  realisierbares  Circulationsmittel  nicht  in 
den  Staatscassen  zu  concentrieren,  sondern  thunlichst  in  den  Verkehr  gebracht 
werden  sollte;  da  der  Silberbestand  viel  geringer  sei  als  der  deutsche,  so  werde 
auch  die  Regierung  mit  jener  Erklärung  nicht  so  lange  zu  zögern  brauchen,  wie 
dies  in  Deutschland  der  Fall  sei  und  wäre  überhaupt  so  rasch  wie  nur  möglich 
zur  reinen  Goldwährung  zu  übergehen.  Ueberhaupt  schien  diesem  Experten  die 
hinkende  Währung    nicht   empfehlenswert;    sie    habe    noch   nicht   eine    Probe    in 


352  Mataja. 

stürmisclien  Zeiten  bestanden  und  werde  sie  auch  nicht  bestehen  (167,  168). 
Auch  die  Experten  Taussig  (261)  und  Thorsch  (275)  erklärten  sich  für  die 
provisorische  Belassung  der  Silbergulden  als  Courantgeld,  wobei  beide,  wenn 
auch  in  abweichender  Form,  eine  Vermehrung  der  Scheidemünze  auf  Kosten  der 
Silbergulden  in  Aussicht  nahmen.  Prof.  Mataja  (Innsbruck)  sprach  sich  gegen 
die  dauernde,  das  ist  über  die  Möglichkeit  der  Umgestaltung  in  Scheidemünze 
oder  sonstige  Verwertung  hinausreichende  Einführung  eines  Silbercourants  wegen 
der  demselben  anhaftenden  Schwächen  aus  (155).  W.  F.  Warhanek,  Schriftsteller  und 
Redacteur  des  „Fremdenblatt",  empfahl  vorläufig  bis  zur  Aufnahme  der  Gold- 
barzahlungen durch  die  Bank,  den  Silbergulden  mit  voller  Zahlkraft  in  Circulation 
zu  belassen;  bis  zur  Aufnahme  der  Goldbarzahlungen  werde  die  Erfahrung  ein 
zuverlässiges  Urtheil  gestatten,  ob  überhaupt  ein  Courantsilber  möglich  sei;  wenn 
es  thunlich  wäre,  sollte  man  mit  Rücksicht  auf  die  freie  Discontopolitik  der  Bank 
die  anderweitige  Verwendung  des  Silbers  in  Aussicht  nehmen  (282).  Aehnlich 
sagte  V.  Dimmer,  Vicepräsident  der  Handelskammer  und  Börsedeputation  in  Triest, 
dass  die  Frage,  ob  das  Courantsilber  transitorisch  oder  dauernd  zu  belassen  sei, 
am  besten  noch  offen  bleibe,  wogegen  ein  Maximum  für  die  Verbindlichkeit  der 
Zahlungsannahme  in  Silber  zu  bestimmen  wäre  —  ein  Zusatz,  welcher  freilich 
dem  Begriffe  des  Courantgeldes  widerstrebt  (56). 

Die  Gegner  des  Silbercourants  hielten  sich  regelmässig  schadlos  durch  die 
Annahme  eines  sehr  weiten  Scheidemünzumlaufes.  Lucam  glaubte  den  ganzen 
Silbervorrath  von  250  Mill.  Gulden  im  Maximum  der  Scheidemünze  zuweisen  zu 
können,  indem  auch  das  erst  einen  Betrag  von  5^/4  fl.  per  Kopf  ergebe,  von 
welchem  man  nicht  einmal  mit  Bestimmtheit  sagen  könnte,  dass  er  unter  den 
Verhältnissen  der  Goldwährung  ausreichen  würde  (148).  (Bei  seiner  Berechnung 
werden  die  nach  dem  45  Gulden-Fuss  ausgeprägten  Silbergulden  mit  der  jetzigen 
Scheidemünze,  von  welcher  75  fl.  aus  500  Gramm  hergestellt  werden,  nach 
dem  Nominalwert  addiert;  auch  ist  nicht  angegeben,  ob  die  neue  Scheidemünze 
mit  dem  Feingehalt  der  alten  oder  anders  ausgeprägt  werden  soll.  Wäre  ersteres 
der  Fall,  so  würden  die  angenommenen  250  Mill.  natürlich  weit  mehr  an  Scheide- 
münze ergeben,  nämlich  416 Y2  Mill.).  Lindheim  machte  darauf  aufmerksam, 
dass  die  Manipulation  mit  Hartgeld  schwerfälliger  sei  als  die  mit  Noten  und 
der  Verkehr  daher  in  Zukunft  eine  grössere  Menge  kleinerer  Geldzeichen  als 
jetzt  benöthigen  werde;  er  glaube  daher,  dass  sich  auch  ohne  Courantsilber 
keine  grossen  überschüssigen  Silbermengen  ergeben  dürften.  (140).  Einig  war 
man  darüber,  dass  die  künftige  Scheidemünze  auch  höherwertige  Stücke  — 
namentlich  auch  halbe  Gulden  —  zu  enthalten  haben  werde.  Den  Umlauf  von 
Scheidemünze  glaubte  man  auch  dadurch  befördern  zu  sollen,  dass  die  Annahme- 
pflicht gegen  die  jetzige  Bestimmung  (nur  bis  zu  2  fl.  unter  Privaten)  erweitert 
werde;  so  Juraschek,  Regierungsrath  bei  der  statistischen  Central-Commission, 
welcher  die  Ziffer  von  100  fl.  nannte  (120),  Mattus,  Director  der  böhmischen 
Landesbank  (48),  Lindheim  (141)  u.  A.  Wiederholt  wurde  ferner,  was  eine  recht 
wohlthätige  Verwendung  eines  Theiles  des  Silbers  darstelle,  die  bessere  Aus- 
stattung der  kleinen  Münze,  als  es  jetzt  der  Fall  ist,  empfohlen  (Juraschek,  120, 
Warhanek,  284),  auch  mit  dem  Zusätze,  dass  unter  der  schlechten  Beschaffenheit 


Die  österreichische  Währungs-Enquete.  353 

der  gegenwärtigen  Scheidemünze  besonders  die  unteren  Schichten  der  Bevölkerung 
leiden  (Mataja,  I57j.  Mehrfach  wurde  auf  die  Klagen  über  die  Spärlichkeit  der 
kleinen  Münze  verwiesen  (z.  B.  129,   156). 

In  verschiedenen  Formen  tauchte  endlich  der  Vorschlag  auf,  Silbercertifi- 
cate  auszugeben,  d.  h.  Bescheinigungen  über  hinterlegtes  Silber,  selbstverständlich 
mit  dem  Eechte  des  Inhabers,  jederzeit  das  Silber  selbst  zu  beheben.  Man 
glaubte  damit  indirect  ein  grosses  Quantum  Silber  für  die  Geldcirculation  dienst- 
bar machen  zu  können,  ohne  dem  Verkehr  eine  übermässige,  ihm  unbequeme 
und  ungewohnte  Menge  von  Metall  aufnöthigen  zu  müssen.  Hertzka  sprach  die 
Vermuthung  aus,  es  würden  sich  etwa  100  Mill.  Certificate  neben  30  Mill.  Silber- 
gulden (die  er  als  jetzt  schon  im  Verkehr  befindlich  annahm)  und  50  Mill.  unter- 
wertig  ausgeprägter  Halbguldenstücke  in  Umlauf  bringen  lassen  (107).  Silber- 
certificate  im  Betrage  von  fünf  Gulden,  meinte  Lieben,  werden  wahrscheinlich 
ein  dringendes  Verkehrsbedürfnis  bilden;  sollte  ihre  Emission  beliebt  werden,  so 
wäre  diese  der  Bank  zu  übertragen,  sei  es  commissionsweise  oder  in  anderer 
Eorm  (130).  Generalsecretär  Dr.  Nava  empfahl  wiederum  folgende  Lösung: 
Das  gegenwärtige  Silbercourantgeld  behält  diesen  Charakter  bis  zum  Zeitpunkte 
der  allfällig  erfolgten  Anschaffung  des  zum  Ersätze  desselben  genügenden  Gold- 
vorrathes,  worauf  es  dann  als  Scheidemünze  zu  gelten  haben  wird;  bis  zu  jenem 
Zeitpunkte  wären  durch  Courantsilber  vollständig  zu  bedeckende  und  stets  ein- 
lösliche Silbercertificate  der  Bank  bis  zur  Höhe  von  120  Mill.  Gulden  im 
Umlauf  zu  halten  (228).  Des  Vorschlages  Mengers  wurde  schon  oben  Er- 
Avähnung  gethan. 

Sofort  zu  Silberverkäufen  zu  schreiten  wurde  in  der  Enquete  nicht  ange- 
rathen.  Man  betonte,  dass  gerade  dies  das  Ausland  beunruhen  und  gegen  die 
Valutareform  einnehmen  würde  (7,  52,  76,  120,  141,  u.  ö.).  Professor  Menger 
sprach  sogar  von  einer  Pfiicht  der  internationalen  Moral,  dass  kein  Staat  gegen- 
wärtig mit  Silberverkäufen  vorgehe  (207).  Selbst  Lieben,  der  in  seinem  1887  an 
die  Wiener  Handels-  und  Gewerbekammer  über  die  Valutafrage  erstatteten  geschätzten 
Referate  noch  den  Verkauf  des  überschüssigen  Silbers  in  Aussicht  genommen 
hatte,  glaubte  jetzt  mit  Rücksicht  auf  das  Ausland  von  solchen  Verkäufen  ab- 
sehen zu  sollen  (128).  Sofern  also  einzelne  Experten  nach  ihren  Vorschlägen 
mit  überschüssigem  Silber  zu  rechnen  hatten,  dachten  sie  nur  an  eine  allmähliche, 
je  nach  den  sich  darbietenden  Conjuncturen  vorwärts  schreitende  Abstossung. 

Dritte  Frage.  Wäre  ein  gewisser  Umlauf  von  jederzeit  gegen 
Courantgeld  einlöslichen,  nicht  mit  Zwangscours  ausgestatteten, 
unverzinslichen  Staatscassascheinen  zulässig,  und  unter  welchen 
Bedingungen  ? 

Begreiflicherweise  steht  diese  Frage  in  einem  innigen  Zusammenhang  mit 
der  vorhergehenden,  theils  weil  beide  Erleichterungsmittel  der  finanziellen  Seite 
der  Valutaoperation  betreffen,  theils  weil  sowohl  die  Zulassung  von  Silbercourant 
wie  die  Ausgabe  von  Staatscassenscheinen  eine  Schwächung  der  Goldcirculation 
bedeutet  und  bei  der  Lösung  der  Aufgabe  in  Betracht  kommt,  wie  dem  Ver- 
kehre Ersatz  für  die  gegenwärtigen  kleinen  Geldzeichen  zu  bieten  sei.  In  Ver- 
bindung   mit     diesen    Gesichtspunkten    steht    auch     die    Erwägung,    dass    durch 


354  Mataja. 

Herstellung  von  Surrogaten  für  das  Gold  der  Goldbedarf  Oesterreich-Üngarns  und 
damit  auch  die  Einwirkung  der  Valutaregelung  auf  den  Edelmetallmarkt  gemindert 
werde.  (Yrgl.  Menger,  205;  umgekehrt  hatte  Bräf  in  Betreff  der  Zulassung  des 
Silbercourants  den  Gedanken  abgewiesen,  dass  diese  zu  einer  Verminderung  der 
Goldbeschaffung  dienen  solle,  40.) 

Die  Majorität  der  Enquetemitglieder  war    der  Emission  von   Cassascheinen 
günstig  gesinnt  und  zeigte   sich   eine    ausgeprägte  Vorliebe   für  kleine   Appoints 
derselben;    sie  wurden    zumeist   dazu    ausersehen,    die  Lücke   in   der    Stückelung 
zwischen  der  Siibermünze  einerseits,  der   Goldmünze   und  der  Banknote  anderer- 
seits   auszufüllen.    In    diesem    Sinne    fanden    namentlich    die    Fünfguldenscheine 
Anhänger.     Selbst    Benedikt,    welcher   principiell    den   Wert    der   Einheit    des 
Papiergeldes  und  des  dadurch   gewährleisteten  Einflusses   der  Notenbank  auf  die 
Eegulierung   des   Geldmarktes   betonte,   welcher  leiden    müsste,   wenn  neben    der 
Banknote  noch  Staatsnoten  existierten,   auf  deren  Ausströmung  und  Eückströmung 
die   Bank    nur    indirect    einzuwirken  vermöchte,    befürwortete    die    Emission    von 
100  Mill.  Gulden  in  Scheinen   ä   5   fl.,   weil  die   kleineren   Noten  vom  Verkehre 
aufgesaugt  werden,  am  schwersten  zu  concentrieren  und  gleichsam  als  Waffe  gegen 
die  Discontopolitik  der  Bank  zu  gebrauchen  sind  28,  29).  Die  Schätzungen  darüber, 
welcher  Betrag   zu   emittieren   sei,  beziehungsweise   bequem  im  Verkehr  erhalten 
vrerden  könne,   wichen  wesentlich  von   einander  ab;  abgesehen  von  der  beliebten 
Ziffer    von     100    Mill.  finden  wir  als  Minimum  die  Schätzung  von  50 — 60  Mill. 
(Grosshändler  Dutschka    62),    als   Maximum    die   von    120    Mill.    (Mattus  48.) 
Wenn  ferner,  wie  schon  gesagt,  sehr  häufig  die  Emission  von  Fünfguldenscheinen 
empfohlen  wurde,  so  war  doch  die  Bevorzugung   gerade   dieser   Stückelung  nicht 
die  ausschliesslich   dominierende.     Auch   andere   Appoints   fanden  ihre  Vertreter. 
So  sprachen  sich  für  die  Ausgabe   von  Fünfzigguldenscheinen   aus:  Bondy,  mit 
dem  Zusätze   „vielleicht  etwas  darunter"  und  der  Motivierung,  dass  im  Wege  der 
Münzprägung  zwar  für  die  gegenwärtigen  Ein-   und   Fünfguldennoten,  nicht  aber 
für  die  Fünfzigguldennoten  Ersatz   geboten   werden   könne  (37),  Mattus,  der  in     c 
einem    ähnlichen    Gedankengung    darauf    verwies,    dass    die    Einguldennoten    in 
Silber,    die    Fünfguldennoten    in    Gold    einzulösen    wären    und    daher    noch    die 
Fünfzigguldennoten  (Ende  1891  im  Betrage  von  156  Mill.  in  Umlauf)  erübrigen 
(48).  Lindheim  glaubte,    dass    100   Mill.   Eeichscassenscheine  in  der  Form  von 
Fünf-,   Zwanzig-   und  Fünfundzwanzig-Guldennoten   einem  Bedürfnis   entsprechen 
würden    (141).    Juras chek    nahm  für   die    von    ihm   befürworteten,    durch  das 
Gold-   und   Silbergeld   der    Staatscassen  voll   gedeckten   Cassenscheine  von  nicht 
über  100  Mill.  kleine  Appoints,  etwa  von  fünf  Neugulden  (das  ist  im  Werte  von 
2Y2  fl.  der  gegenwärtigen   Währung)    in  Aussicht  (121).     Hahn  war,  ebenfalls 
mit  Bücksicht  auf  die  Bedürfnisse  des  A^erkehrs,  für  die  Ausgabe  von  100  Mill. 
Cassenscheine  zu  Ein  und  Fünf  Gulden  (80).  Menger,  welcher  die  Cassenscheine 
in  Zusammenhang  mit  dem  Silbercourant  gebracht  hatte  (s.  bei  Frage  2),  betonte, 
dass  das  Papiergeld  ein  vom  Verkehr  vielleicht  doch  nur  schwer  zu  entbehrendes 
ümlaufsmittel  sei,   dass   es  nothwendig   sein  werde,  dem  üebermaass   an  Silber- 
münze durch  Staatsnoten  entgegenzuwirken,  dass  viele  Verkehrsacte  mit  Hartgeld 
sich  nur  schwer  durchführen  lassen ;    den  Mangel  kleiner   Notenappoints   würde 


Die  österreichische  Währungs-Enquete.  355 

bei  Geldsendungen  durch  die  Post  nicht  nur  der  kleine,  sondern  ebenso  auch 
der  grosse  Verkehr  schwer  empfinden,  welcher  die  kleinen  Appoints  zur  Ergänzung 
der  grösseren  in  Banknoten  zu  versendenden  Beträge  bedürfe;  zu  wählen  wären 
Xoten  zu  Fünf  und  selbst  ein  gewisses  Quantum  von  Noten  zu  Ein  Gulden, 
jedenfalls  aber  Appoints,  die  von  denen  der  Banknoten  genügend  weit  entfernt 
sind  und  auch  nicht  auf  den  nämlichen  Betrag  wie  die  Hauptgoldmünzen  lauten 
(205,   209). 

Theilweise  wurde  auch  die  Frage  der  zur  Einlösung  der  Staatscassenscheine 
bereit  zu  haltenden  Mittel  behandelt.  Bald  hielt  man  keine  besondere  Deckung 
für  nothwendig,  sondern  meinte,  dass  die  staatlichen  Cassabestände  überhaupt 
ausreichten,  so  Abt  Schachinger  (67).  Andere  glaubten  eines  speciellen 
Deckungsfondes  nicht  entrathen  zu  können,  welchen  Bauer  (11)  mit  der  Hälfte, 
Bräf  mit  mindestens  einem  Drittel  der  Emissionssumme  bezifferte  (43).  Ueber 
Vorschläge  zur  Ausgabe  voll  bedeckter  Cassenscheine  (Silbercertificate)  siehe  oben 
bei  Frage  2.  Menger  machte  darauf  aufmerksam,  dass  die  Deckungsmodalitäten  in 
einem  Lande,  in  welchem  die  Goldwährung  besteht,  wesentlich  andere  sein 
müssen,  als  in  einem  Lande  mit  Silberwährung,  indem  dort,  wo  man  mit  Zehn- 
guldenstücken zahlen  muss,  der  Zudrang  des  Publicums  zu  den  Einlösungscassen 
etwas  ganz  anderes  bedeutet,  als  wo  man  etwa  mit  Viertelgulden  zahlen  kann 
(209).  Hertzka  sprach  sich  gegen  die  Ansicht  aus,  die  Deckung  von 
Noten  nach  Procenten  der  Emission  zu  bestimmen;  bei  geringem,  dem  Bedarf 
des  Verkehres  entsprechendem  Umlauf  könne  der  Deckungsfond  auf  ein  Minimum 
sinken,  bei  übermässiger  Emission  nütze  auch  eine  procentual  hohe  Deckung 
nichts,  da  eben  die  überschüssigen  Noten  zurückströmen.  Selbst  ein  vollbedeckti-r 
Umlauf  von  Staatsnoten  involviere  für  die  Bank  den  Nachtheil,  dass,  wenn  zuviel 
Papiergeld  im  Verkehr  vorhanden,  dieses  zurückströmt  und  damit  der  Bankschatz 
etwa  in  jenem  Ausmaassc  vi  mindert  wird,  welches  sich  bei  gleichmässiger  Auf- 
theilung  der  überschüssigen  Noten  auf  die  Ziffern  des  Bank-  und  des  Staats- 
notenumlaufes ergibt.  In  ihrer  Wirkung  auf  die  Reserve  der  Bank  komme  also 
jede  wie  immer  geartete  Staatsnotenemission  einer  Vermehrung  des  Banknoten- 
umlaufes gleichzuachten  (108,   109). 

Gegen  die  Cassenscheine  wurde  insbesondere  der  moralische  Effect,  die 
Gefahr  einer  missverständlichen  Auffassung  ins  Treffen  geführt.  Wie  Lieben 
bekannt  gab,  hatte  er  in  keinem  Punkte  seines  im  Jahre  1887  erstatteten,  oben 
erwähnten  Referates  so  viele  Anfechtungen  erfahren,  wie  hinsichtlich  der 
dort  ausgesprochenen  Zulassung  von  Staatsnoten  (in  einem  massigen  Betrage  von 
50 — 100  Mill.).  Er  müsse  sich  jetzt  gegen  die  Staatsnoten  erklären,  zunächst 
desshalb,  weil  man  mit  dem  Misstrauen  im  Inlande  und  im  Auslande  zu  kämpfen 
hätte;  dann  bestimme  ihn  aber  noch  unsere  dualistische  Verfassung,  indem  man 
nicht  einmal  zwei,  sondern  drei  Noten  emittierende  Stellen  hätte  —  er  könne 
sich  aber  nicht  vorstellen,  wie  drei  Emissionsstellen  gleichzeitig  nebeneinander 
wirtschaften  sollen,  ohne  die  Politik  der  Bank  wesentlich  zu  schädigen,  ja  gerade 
zu  gefährden  (128,  130).  Dass  das  Staatspapiergeld  auch  in  seiner  veränderten 
Form  Misstrauen  gegen  die  Festigkeit  der  Valutaregelung  erwecken  werde, 
betonten    auch    die    Experten    Zgörski    (70),    Elbogen    (76),    Jeitteles   (88). 


356  Mataja. 

Umgekehrt  sprach  Mataja  die  Ansicht  aus,  dass  ein  so  handgreiflicher  Unterschied 
vorhanden  sei  zwischen  den  300 — 400  Mill.  unbedeckten  Staatsnoten,  die  mit 
unbeschränktem  Zwangscours  versehen  und  nirgends  einlösbar  sind,  und  einer 
ungleich  geringeren  Menge  von  Staatscassenscheinen,  welche  einlösbar  und  ohne 
Zwangscours  sind,  so  dass  dieser  Unterschied  über  kurz  oder  lang  der  Bevölkerung 
doch  zum  deutlichen  Bewusstsein  kommen  müsste  (155).  Auch  hinsichtlich  des 
zweiten  Punktes  der  oben  wiedergegebenen  Aeusserung  Liebens  herrschte  in  der 
Enquete  keine  Einstimmigkeit:  wie  es  scheint,  nahm  die  Mehrzahl  der  Experten 
die  Staatscassenscheine  nach  Art  der  gegenwärtigen  Staatsnoten  als  zwischen  den 
Eeichsrathsländern  und  Ungarn  „gemeinsam"   an.  (Siehe  auch  Bräf,  43.) 

Luc  am,  welcher  sich  ebenso  wie  gegen  das  Silbercourant  auch  gegen  die 
Staatscassenscheine  aussprach,  bemerkte,  dass  in  der  Versagung  des  gesetzlichen 
Zwangscourses  noch  keine  Garantie  gegen  die  moralische  Nöthigung  liege,  dieses 
Geld  anzunehmen;  im  Verkehre  spiele  der  Buchcredit  noch  eine  ganz  absurde 
EoUe  und,  wenn  säumige  Schuldner  mit  Cassenscheinen  zahlen  wollten,  werde  der 
Gläubiger,  froh  darüber,  überhaupt  etwas  zu  bekommen,  nach  den  angebotenen 
Cassenscheinen  greifen  müssen;  auch  die  Bank  selbst  werde  sich  dem  nicht  ent- 
ziehen können  (149).  Ganz  entgegengesetzt  dachte  Meng  er:  das  Publicum 
werde  die  kleinen  Staatsnoten  dringend  festhalten,  weil  sie  dem  Bedarf  des  Ver- 
kehres entsprechen,  die  Bank  hätte  demnach  auch  gar  nicht  zu  besorgen,  dass 
ihr  zu  grosse  Mengen  zuströmen,  beziehungsweise  die  erhaltenen  nicht  leicht 
anbringen  zu  können  (219). 

Mehrfach  wurde  ausgeführt,  dass  der  Staat  keinen  rechten  finanziellen  Vor- 
theil  aus  der  Ausgabe  von  Cassenscheinen  hätte,  da  diese  den  Wert  des  Bank- 
privilegiums  und  somit  die  Höhe  der  von  der  Bank  hiefür  zu  gewärtigenden 
Gegenleistung  beeinträchtigten  (Elbogen,  77,  Sax,  254);  diese  Anschauung  wurde 
umgekehrt  mit  dem  Hinweis  bekämpft,  dass  die  Cassenscheine  ja  nie  von  der 
Bank  aufgenommen  zu  werden  brauchen.  (Warhanek,   282.) 

Endlich  sei  noch  des  Vorschlages  von  Hertzka  gedacht,  dass  ein 
eiserner  Vorrath  von  beispielsweise  100  Mill.  Gulden  in  den  Staatscassen  in 
Form  von  Cassenscheinen  angelegt  werde,  welcher,  von  sehr  vorübergehenden 
Fluctuationen  abgesehen,  gar  niemals  in  den  Verkehr  gebracht  würde;  es 
würde  von  grosser  Bedeutung  sein,  wenn  in  der  Stunde  der  Gefahr  die  Staats- 
verwaltungen in  der  Lage  wären,  ohne  ein  Gesetz  einzubringen,  ohne  zu  alar- 
mieren, über  eine  Reserve  verfügen  zu  können  (HO).  Dem  gegenüber  machte 
Juras chek  die  Einwendung,  dass  ein  solches  Geld  sofort  bei  Erscheinen  dem 
grössten   Misstrauen  begegnen  würde  (121). 


Wie  man  sieht,  wurde  beim  zweiten  und  dritten  Fragepunkt  eine  Fülle 
von  Combinationen  versucht,  entsprechend  der  Mannigfaltigkeit  der  Interessen, 
welche  sich  an  jene  Punkte  knüpfen.  Die  Erfordernisse  eines  glatten  Bank- 
verkehres, die  Ansprüche  des  Publicums,  Rücksichten  auf  die  Staatsfinanzen  — 
dies  alles  kommt  hier  ins  Spiel.  Nicht  zu  vergessen  ist  die  leidige  Nothwendigkeit, 
mit  jenen  Eventualitäten  rechnen  zu  müssen,  welche  nun  einmal  sich  für  einen  in 


Die  österreichische  Währungs-Enquete.  357 

der  Mitte  Europas  gelegenen  Staat  ergehen  können.  Mögen  wir  auch  noch  so 
wünschen  und  glauben,  dass  die  Zeit  ferne  sei,  wo  wir  jene  Ordnung  des  Credit- 
geldes  als  die  beste  ansehen  müssen,  welche  den  Stürmen  einer  politischen 
Verwicklung  am  besten  trotzt  und  am  ehesten  eine  Erweiterung  gestattet,  ohne 
sogleich  das  ganze  Geldwesen  in  Unordnung  zu  bringen,  mögen  wir  dies  also 
immerhin  thun,  so  dürfen  wir,  da  eine  Währungsreform  doch  nicht  bloss  für  ein 
paar  Jahre  geschieht,  doch  nicht  auch  nur  die  entferntesten  Möglichkeiten  ver- 
gessen. Darnach  kann  man  auch  fragen:  was  empfiehlt  sich  mit  Eücksicht  auf 
jene  Eventualität  besser,  erhöhter  Scheidemünzumlauf  oder  das  sich  leicht  an 
einzelnen  Punkten  anhäufende  Silbercourantgeld,  wie  weit  kann  die  Menge  unter- 
wertigen  Geldes  gehen,  wäre  es  alarmierender,  wenn  ein  schon  bestehender 
kleiner  Staatscassenscheinumlauf  vermehrt  oder  wenn  bisher  noch  gar  nicht  im 
Verkehr  befindliche  Cassenscheine  neu  emittirt  würden  etc.?  Lassen  wir  indes 
die  Politik  bei  Seite  und  beschränken  wir  uns  darauf,  nur  noch  die  Erwägung 
ohne  weitere  kritische  Conclusionen  anzuschliessen,  dass  die  Bequemlichkeit  der 
verschiedenen  Geldsorten  ein  ziemlich  relativer  Begriff  ist.  Wer  hätte  nicht 
schon  die  Erfahrung  gemacht,  dass  sich  Ausländer  in  Oesterreich  über  die 
unbequemen  papierenen  Zettel  beklagen  und  ihre  heimische  Münze  anpreisen?  Wer 
hätte  nicht  bei  einigermaassen  längerem  Aufenthalt  im  Ausland  an  sich  selbst 
erprobt,  wie  man,  sobald  man  nur  an  ein  fremdes  Geld  gewöhnt  ist,  es  auch 
bequem  zu  finden  anfängt?  Selbst  den  französischen  Soustücken  gewinnt  man 
nach  einigem  Gebrauch  gute  Seiten  ab  und  findet  sie  beispielsweise  beim  Zählen 
handlicher  und  übersichtlicher  als  die  an  sich  gewiss  bequemeren  kleinen 
österreichischen  Kreuzer.  Man  darf  daher  wohl  darauf  vertrauen,  dass  Manches, 
das  heute,  weil  ungewohnt,  auch  sehr  unbequem  erscheint,  in  Zukunft  einem 
freundlicheren  Urtheil  begegnen  werde. 

Vierte  Frage.  Welche  Grundsätze  wären  für  die  Umrechnung 
des  bestehenden  Guldens  in  Gold  zur  Richtschnur  zu  nehmen? 

Die  Frage  der  Eelation  gestaltete  sich  zu  der  am  meisten  controversen  — 
begreiflicherweise,  da  es  sich  hierbei  nicht  nur  um  eine  Divergenz  der  Anschauungen, 
sondern  auch  um  Interessengegensätze  handelt.  Die  hauptsächlichsten  hierbei 
verhandelten  Streitfragen  waren  die  folgenden : 

1.  Wann  ist  die  Eelation  festzustellen? 

Experte  D immer  befürwortete,  dass  die  Umrechnung  jener  Zeit  überlassen 
werde,  in  welcher  die  Barzahlungen  aufgenommen  werden  und  folglich  auch  alle 
Vorkehrungen  dazu  getroffen  sein  müssen;  dies  allein  würde  den  Sitten  und 
Bedürfnissen  des  Geschäftsverkehres  entsprechen  (56).  Lieben  war  für  die 
Fixierung  der  Eelation  nach  dem  Course  jenes  Tages,  an  dem  der  Uebergang  zur 
neuen  Währung  erfolgt,  und  zwar  um  einen  plötzlichen  Courssprung  zu  vermeiden. 
Die  Eelation  könne  unmöglich  so  lange  in  Schwebe  bleiben,  bis  die  Barzahlungen 
aufgenommen  werden;  es  gehe  aber  auch  nicht  an,  dass  bei  der  Einbringung 
der  Währungsvorlage  schon  ein  Cours  ausgesprochen  werde,  welcher  dann  bei 
den  wochenlangen  Berathungen  hin-  und  hergezogen  werde,  was  den  Geldmarkt 
in  peinlicher  Weise  irritieren  müsste.  (Lieben  gestaltete  seinen  Vorschlag  positiv 
dahin  aus,    dass    der  Tagescours    am  Tage    der   dritten  Lesung  im  Herrenhause 


358  Mataja. 

zur  Ausfüllung  der  inzwischen  offen,  bleibenden  Ziffer  diene,  eine  Annahme, 
über  deren  staatsrechtliche  Durchführbarkeit  eine  Auseinandersetzung  stattfand. 
131 — 136).  Fabrikant  Schoeller  (Brunn)  wollte  principiell  den  Cours  am  Tage  des 
Währungswechsels,  d.  i.  der  Aufnahme  der  Barzahlungen,  aus  praktischen  Gründen 
aber  den  Durchschnittscours  der  Periode  1879  —  91,  und  wenigstens  unter 
Umständen  die  Periode,  deren  Durchschnittscours  er  als  maassgebend  ansah,  bis 
zum  Tage  der  Aufnahme  der  Barzahlungen  ausgedehnt  wissen,  woraus  folgt,  dass 
auch  dieser  Experte  dann  an  keine  frühere  Festsetzung  der  Relation  dachte 
(125,    1261 

Gegen  D immer  wurde  eingewendet,  dass  an  dem  Tage  der  Aufnahme 
der  Barzahlungen  der  neue  Gulden  schon  feststehen  müsse,  folglich  nicht  erst 
dann  bestimmt  werden  könne  (57\ 

Nava  hielt  jene  Eelation  für  die  entsprechende,  welche  sich  zwischen 
österr.  Währung  und  dem  Warencourse  der  Devise  London  an  jenem  Börsentage 
ergibt,  welcher  der  Sanctionierung  des  Gesetzes  über  die  Einführung  der  Gold- 
währung unmittelbar  vorangeht  (228). 

Menger  stand  auf  dem  Standpunkt,  dass  .  die  Umrechnung  am  zweck- 
mässigsten  nach  Beschaffung  der  erforderlichen  Goldmenge  und  nach  eingetre- 
tenem Gleichgewichtszustande  auf  dem  Edelmetallmarkte  vorgenommen  w^erde; 
Motiv  dieses  Vorschlages  war  die  Erwägung,  dass  die  Valutaherstellung  selbst  von 
Einfluss  auf  den  Goldwert  im  Sinne  einer  Steigerung  desselben  sein  werde.  Für 
den  Fall,  als  entgegen  dieser  Ansicht  die  sofortige  Feststellung  der  Eelation 
angenommen  würde,  schlug  Menger  auch  hiefür  einen  Berechnungsmodus  vor 
(215,  222). 

Gegen  die  Hinausschiebung  der  Feststellung  der  Eelation  wurden  jedoch 
mancherlei  Bedenken  geäussert.  Elbogen  erklärte  es  für  eine  grosse  Wohlthat, 
wenn  die  in  Aussicht  genommene  Eelation  baldigst  bekannt  W'ürde,  w^eil  dadurch 
dem  Treiben  der  Speculation  immerhin  eine  gewisse  Grenze  gesetzt  würde  (77). 
Jeitteles  machte  (gegenüber  dem  Vorschlag  Liebens)  auf  die  gegenwärtig  herr- 
schende Beunruhigung  aufmerksam  und  betonte,  dass  es  vom  Standpunkt  der 
Bevölkerung  höchst  wünschenswert  wäre,  wenn  der  Zeitpunkt  für  die  Bekanntgabe 
der  zwischen  beiden  Eegierungen  getroffenen  Vereinbarung  möglichst  nahe  gerückt 
wäre  (136).  Siehe  auch  Lindheim  (142). 

Offenbar  sind  auch  die  Schwierigkeiten  nicht  zu  verkennen,  welche  es  mit 
sich  brächte  eine  Währungsreform  in  Angriff  zu  nehmen,  an  der  zwei  Eegierungen 
und  zwei  Parlamente  betheiligt  sind,  und  dabei  einen  solchen  überaus  streitigen 
Cardinalpunkt  der  Eeform  wie  die  Feststellung  der  Eelation  vorläufig  unausge- 
tragen  zu  lassen.  (Vrgl.  die  Bemerkung  Benedikts,  32).  So  wenig  daher  auch 
die  principielle  Eichtigkeit  der  Annahme,  den  Goldwert  des  gegenwärtigen  Guldens 
erst  nach  erfolgter  Beobachtung  des  Einflusses  der  Goldbeschaffung  auf  den  Wert 
des  Goldes  selbst,  erschüttert,  ja  auch  nur  bekämpft  wx)rden  war,  giengen  die 
Verhandlungen  der  Enquete  im  Wesentlichen  doch  in  der  Voraussetzung  vor 
sich,  dass  die  Eelation  sofort  zur  Fesstellung  gelangen  werde. 

2.  Auf  der  einen  Seite  wurde  als  der  schlechthin  leitende  Gedanke  bei  der 
Umrechnung  des  gegenwärtigen  Guldens  in  Gold  das  Princip  der  Continuität 


Die  österreichische  Währungs-Eiiquete.  359 

des   Geldwertes    aufgestellt;    auf   anderer    Seite   hielt  man   eine    gewisse  Ver- 
schiebung für  opportun. 

Im  ersteren  Sinne  sprach  sich  Director  Bauer  aus:  Der  wichtigste  Gesichts- 
punkt für  die  Feststellung  der  Eelation  ist  die  Continuität,  die  möglichst  geringe 
Veränderung.  Der  Schuldner  soll,  soweit  irgend  möglich,  genau  dasselbe  schuldig 
bleiben,  der  Gläubiger  dasselbe  zu  fordern  haben  wie  früher.  Niemand  darf  die 
Empfindung  einer  Veränderung,  einer  Ungerechtigkeit  haben  (13).  Oder  wie 
Benedikt  sehr  scharfsinnig  sagte:  Jene  Eelation  wird  die  beste  sein,  welche 
nach  ihrer  Declarierung  den  allergeringsten  Eindruck  auf  die  wirtschaftliche  Lage 
ausüben  wird  (32j.  3Iataja  suchte  darzuthun,  dass  die  Folgen  einer  Aenderung 
des  Geldwertes  weit  über  das  Verhältnis  von  Gläubiger  und  Schuldner  hinaus- 
reichen, und  wegen  der  Ungleichmässigkeit,  mit  der  sich  die  einzelnen  Preise 
der  Waren  und  Dienstleistungen  einer  solchen  Aenderung  anpassen,  mannig- 
fache Verschiebungen  in  den  Einkommens-  und  Vermögens-Verhältnissen 
sich  ergeben  müssteu  (157 — 161).  Auch  die  Ausführungen  Mengers  waren  im 
Wesentlichen  im  Sinne  des  Princips  der  Continuität  des  Geldwertes  gehalten, 
indem  alle  von  ihm  vorgeschlagenen  Correcturen  an  dem  Uebergangscours,  mit 
einer  später  zu  erwähnenden  Ausnahme,  nur  den  Zweck  haben,  den  Wert  des 
heutigen  Geldes  richtig  zu  bestimmen  und  diesen  Wert  im  künftigen  Goldgelde 
unverändert  fortzusetzen. 

Andere  wollten,  wie  schon  gesagt,  absichtlich  eine  wenn  auch  kleine  Ver- 
schiebung aus  Opportunitätsrücksichten  eintreten  lassen  z.  B.  eine  Abrundung 
behufs  leichterer  Umrechnung  in  die  Markwährung  (Lindheim,  142)  etc.;  dominierend 
war  hier  der  Wunsch  nach  einer  „Abrundung  der  Relation  nach  unten, "^^  auf 
deutsch:  einer  absichtlichen  Erhöhung  des  Goldgehaltes  des  Guldens.^) 

In  diesem  Sinne  äussertv^.n  sich  die  Experten:  Dub  (58),  Dutschka  (62), 
Elbogen  (78),  Jeitt  eles  (90),  Juraschek  (122),  Lindheim  (142),  Nava  (285) 
u.  A.  Als  Grund  dafür  wurde  namentlich  angeführt,  dass  die  Valutaverbesserung 
im  Auslande  und  bei  der  Bevölkerung  eine  gute  Stimmung  für  die  Währungsform 
hervorrufen,  beziehungsweise  ein  umgekehrtes  Verfahren  verstimmen  würde,  was 
bei  Umstände,  als  jetzt  Oesterreich  an  den  auswärtigen  Geldmarkt  werde  appellieren 
müssen,    von   grossem  Belang  sei.^)    Director  v.  Taussig   hielt    seinerseits    die 

')  Nimmt  man  beispielsweise  den  Cours  der  Devise  London  (10  Pfund  Sterling) 
mit  118 V'o  an,  so  würde  eine  Abrundung  nach  unten  bedeuten,  die  Umrechnung  vorzu^ 
nehmen  als  wäre  der  Cours  etwa  118,  der  Goldgehalt  des  neuen  Guldens  würde  sich 
also  erhöhen,  da  schon  118  und  nicht  erst  118 73  genügten  um  10  Pfund  Sterling  zu 
kaufen  und  umgekehrt.  Die  Abrundung  nach  oben  z.  B.  auf  119  würde  zur  Folge  haben, 
dass  119  und  nicht  US^/j  erforderlich  wären  um  10  Pfund  Sterling  zu  ergeben.  Der 
Abrundung  nach  unten  entspricht  der  sogen,  schwere,  der  nach  oben  der  sogen,  leichte 
Gulden  —  lauter  undeutliche,  aber  häufig  gebrauchte  Schlagworte. 

2)  Anmerkungsweise  will  ich  erwähnen,  dass  Oesterreich-Ungarn  ein  Schuldner  ist. 
wie  man  nicht  leicht  einen  zweiten  finden  wird.  Es  hat  künstlich,  d.  h.  durch  die  Ein- 
stellung der  freien  Silberprägung  den  Wert  des  geschuldeten  Gegenstandes  erhöht  und 
geht  jetzt  daran,  diesen  also  künstlich  gestützten  Wert  definitiv  zu  stabilisiren  und  sich 
damit  für  alle  Zukunft  der  Gelegenheit  zu  berauben,  durch  blosse  Ausübung  eines  unbe- 
streitbaren Rechtes,  d.  i.  der  Münzprägung,  seine  Schuldenlast  bedeutend  zu  erleichtern. 


360  Mataja. 

unteren  Classen  durch  eine  Entwertung  des  Geldes  am  empfindlichsten  berührt 
und  glaubte  auch,  dass  eine  den  Schuldnern  bei  der  Währungsumwandlung  unter 
welchen  Titel  immer  zugewendete  Erleichterung,  welche  von  den  Grläubigern  als 
ein  Unrecht  empfunden  würde,  ersteren  keinen  wahren  Vortheil  einbrächte;  denn 
je  gesicherter  sich  das  Capital  in  einem  Lande  fühle,  desto  massiger  würden 
seine  Ansprüche  (265). 

Energisch  sprachen  sich  gegen  die  absichtliche  Erhöhung  des  Goldwertes 
des  Guldens  bei  der  Umrechnung  als  eine  sehr  un zweckmässige,  der  Gerechtigkeit 
widerstreitende  Begünstigung  des  Geldbesitzes  und  der  Gläubiger  des  Staates 
sowohl  als  von  Privaten  Mataja  (157,  161)  und  Milewski  (188)  aus,  ersterer 
auch  betonend,  dass  ein  zu  schwerer  Gulden  den  Goldabfluss  erleichtern  müsste. 

Während  das  Interesse  des  mobilen  Capitals  mit  seinen  in  der  Vergangen- 
heit ausgemachten  festen  Bezügen  auf  eine  Steigerung  des  Geldwertes  hinleitet, 
ist  begreiflicherweise  der  Standpunkt  der  Landwirtschaftskreise  —  Schuldner  des 
ersteren  —  ein  anderer.  In  der  That  empfahl  Zgorski  gerade  als  Agrarier  die 
„Abrundung  nach  oben"  (d.  h.  die  Annahme  eines  höheren  in  österr.  Währ, 
ausgedrückten  Goldcourses,  wodurch  der  Goldgehalt  des  Guldens  sänke).  Er  be- 
gründete diese  Abrundung  mit  Billigkeitsrücksichten  und  insbesondere  dem  Umstand, 
dass  sich  infolge  der  Yalutaregelung  der  Goldpreis  steigern  werde  (71).  Letzteres 
Motiv  gehört  eigentlich  nicht  mehr  in  das  Capitel  der  absichtlichen  Aenderungen 
des  Geldwertes  und  führt  bereits  hinüber  zum  folgenden  Punkte. 

3.  Soll  bei  der  gegenwärtigen  Feststellung  der  Eelation  dem 
voraussichtlichen  Einfluss  des  Währungswechsels  auf  den  Goldwert 
Rechnung  getragen  werden? 

Zgorski  hatte,  wie  eben  erwähnt,  schon  die  Berücksichtigung  des  steigenden 
Goldpreises  bei  Feststellung  der  Eelation  empfohlen,  weit  entschiedener  noch  that 
dies  Milewski.  Unter  nachdrücklichem  Hinweis  auf  die  durch  die  neue,  in  Hinblick 
auf  die  Beschränkheit  des  Goldvorrathes  ins  Gewicht  fallende  Nachfrage  nach 
Gold  zu  gewärtigende  Wertsteigerung  desselben  und  auf  die  im  deutschen  Reiche 
gemachte  Erfahrung  befürwortete  er,  bei  der  Bestimmung  der  Relation  die  infolge 
der  Währungsreform  vorauszusehende  Steigerung  des  Geldwertes  im  reellen  Maasse 
zu  berücksichtigen  (187).  Seinen  Ausführungen  schloss  sich  Pilat  an  (195). 
Aehnlich  empfahl  dann  auch  nach  Besprechung  der  Vorgänge  im  deutschen 
Reiche  Menger  (sofern  nicht  die  Relation  erst  nach  der  Beschaffung  des  Goldes 
bestimmt  würde,  was  er  in  erster  Linie  befürwortete,  s.  oben  Punkt  l)  der  voraus- 
sichtlichen  Einwirkung    der   Valutaregulierung    auf   den  Goldwert  und  der  allge- 


Dass  man  dann  noch  obendrein  bei  dieser  Umrechnung,  dieser  Stabilisierung  selbst  mehr 
als  nöthig  geben  solle,  ist  ein  etwas  eigenthümliches  Verlangen,  begreiflich  hingegen, 
dass  dann  das  Ausland  und  das  auf  feste  Renten  gesetzte  Capital  guter  Stimmung  wären. 
Dahingestellt  will  ich  es  sein  lassen,  ob  es  praktisch  wäre,  um  (wenn  dies  überhaupt 
der  Fall  sein  sollte !)  ein  neues  Anlehen  von  ein  paar  hundert  Millionen  günstiger  unter- 
zubringen, sich  eine  Schuldenlast  von  mehreren  Milliarden  drückender  zu  machen.  Richtig 
scheint  mir  aber  jedenfalls,  dass  das  Interesse  des  auswärtigen  Gläubigers  vor  allem  die 
Feststellung  einer  solchen  Relation  fordert,  welche  das  Zustandekommen  und  die  glück- 
liche Durchführung  der  Währungsreform  thunlichst  sichert. 


Die  österreichische  Währungs-Enquete.  361 

meinen  Tendenz  des  Goldwertes  zum  Steigen  durch  die  Annahme  eines  dem  Fein- 
gewichte nach  leichteren  Goldguldens  Rechnung  zu  tragen  (215). 

Die  nämliche  Behauptung,  welche  man  bei  Milewski  ruhig  passieren  Hess, 
führte,  nachdem  sie  auch  von  Menger  aufgenommen  worden  war,  zu  einer  nach- 
drücklichen Polemik. 

Taussig  (220)  wendete  ein,  dass  bei  einer  Veranschlagung  der  Zukunft  denn 
doch  eine  Täuschung,  etwa  auch  durch  ein  unvorgesehenes  Ereignis,  wie  z.  B. 
die  Entdeckung  neuer  Goldfelder,  unterlaufen  könne,  und  warf  die  Frage  auf, 
wie  dann  die  nachträgliche  Sanierung  des  Irrthums  möglich  wäre  (vergl.  auch 
seine  Antwort  auf  eine  Frage  Milewskis  272).  Menger  bemerkte  hierauf,  dass 
allerdings  die  Berücksichtigung  der  Zukunft  immer  etwas  Arbiträres  an  sich 
habe,  dass  man  aber  doch  nicht  drohende  Gefahren  bloss  desshab  ganz  über- 
sehen dürfe,  weil  sie  sich  vielleicht  nicht  ganz  sicher  realisieren.  Habe  man 
unparteiisch  und  nach  bestem  Ermessen  gehandelt,  so  sei  man  gegen  Vorwürfe 
gesichert  auch  dann,  wenn  ein  besonderer  Zufall  die  Berechnung  zu  einer  irrigen 
mache  (220). 

4.  Ist  bei  Feststellung  der  Relation  die  gegenwärtige  Wert- 
gestaltung als  maassgebend  anzusehen  oder  ist  auch  der  Vergangen- 
heit Rechnung  zu  tragen? 

Auch  hierüber  wurden  gegensätzliche  Aeusserungen  abgegeben. 

Bondy  sprach  von  einer  Berücksichtigung  der  im  Laufe  der  Jahre  ein- 
gegangenen Verpflichtungen  bei  Feststellung  der  Relation  (37).  Mersi  glaubte, 
dass  nicht  allein  das  thatsächliche  Agio  maassgebend  sein  könne,  und  erinnerte 
daran,  dass  die  Warenpreise  nicht  sofort  den  Schwankungen  des  Agio  folgen 
(174).  Milewski  sprach  sich  überhaupt  dagegen  aus,  dass  die  gerechte  Relation 
allein  aus  den  Wechselcoursen  ermittelt  werden  könne.  Die  Preise  des  täglichen 
Lebens,  besonders  des  Kleinverkehrs,  passen  sich  den  Wechselcoursen  nicht  sofort 
an.  Wenn  man  also  die  Kaufkraft  des  Guldens  gerecht  ermitteln  will,  kann  man 
sich  nicht  ausschliesslich  an  die  Wechselcourse  allein  halten,  man  muss  daneben 
die  Kaufkraft  des  Guldens  im  Innern  berücksichtigen,  wofür  die  Preis-  und 
Lohnstatistik  eine  Basis  bietet  (188.  —  Bei  der  Festsetzung  der  Relation  handelt 
es  sich  um  die  Umrechnung  des  gegenwärtigen  Geldes  in  Gold;  wie  zu  diesem 
Zwecke  die  Preis-  und  Lohnstatistik,  d.  i.  die  Preise  der  Waren  und  Dienst- 
leistungen im  gegenwärtigen  Gelde  zu  verwerten  wären,  darüber  wurde  von 
Milewski  eine  nähere  Angabe  nicht  gemacht).  Vgl.  auch  Taussig  (266), 
Warhanek  (283). 

Umgekehrt  sprachen  andere  dem  Werte  der  Vergangenheit  principiell  jene 
Bedeutung  ab;  nur  die  gegenwärtige  Wertgestaltung  (natürlich  richtig  bemessen!) 
solle  in  die  Wagschale  fallen.  So  Menger  (211),  Dutschka  (62),  Mataja 
(157,  158).  Selbstverständlich  gehören  hierher  auch  die  Vertreter  der  Umrech- 
nung nach  dem  Momentcourse  (s.  u.j. 

5.  Der  actuelle  Wert  als  maassgebend  angesehen,  wie  ist  er 
richtig  zu  bestimmen? 

Ist  der  Cours  eines  bestimmten  Tages  oder  etwas  weniger  schroff  gesagt 
einer  bestimmten  ganz  kurzen  Epoche  der  Umrechnung  zugrunde  zu  legen? 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung  II.  Heft.  24 


362  Mataja. 

Für  einen  solchen  Moment-  oder  Augenblickscours  sprachen  sich  aus : 
Bauer  (im  Interesse  möglichst  geringer  Veränderung  —  s.  oben  Punkt  2  —  keine 
Durchschnittsrechnung,  sondern  Festsetzung  der  Kelation  nach  dem  möglichst 
unbeeinflussten,  thatsächlichen  Stand  der  Wechselcourse,  13);  Lieben  (nach  dem 
Course  jenes  Tages,  an  dem  der  Uebergang  zur  neuen  AVährung  erfolgt,  131, 
s.  auch  oben  Punkt  1);  Lindheim  (Tagescours  vor  dem  Währungswechsel,  142); 
Nava  (228)  s.  oben  Punkt  1  u.  A.  In  Betreff  der  von  manchen  dieser  Experten 
empfohlenen  Abrundungen  wurde  auch  schon  früher  bei  Punkt  2  Erwähnung  gethan. 

Andere  Experten  waren  hingegen  der  Ansicht,  dass  auch  der  actuelle  Wert 
nicht  zutreffend  aus  dem  Course  eines  einzelnen  Tages  erkannt  werden  könne, 
dass  dieser  Cours  also  keinen  befriedigenden  Ausdruck  des  Wertverhältnisses 
abgebe.  Sie  waren  der  Ansicht,  dass  auch  der  actuelle  Wert  nur  richtig  durch 
eine  gewisse  Berücksichtigung  der  Vergangenheit  bestimmt  werden  könne. 

Hier  taucht  also  die  Frage  wieder  auf,  ob  und  wie  die  Vergangenheit  in 
Betracht  zu  ziehen  sei,  jedoch  nicht,  weil  ihr  eine  selbständige  Bedeutung  zu- 
erkannt wird,  sondern  als  methodisches  Hilfsmittel  zur  richtigen  Bestimmung  des 
Gegenwartswertes.  Praktisch  liegt  der  Unterschied  hievon  darin,  dass  nicht  die 
Vergangenheit  als  solche  in  Betracht  kommt,  sondern  nur  insoweit,  als  sie  ein 
Mittel  zur  Erkenntnis  der  sich  in  einem  einzelnen  Course,  in  dem  Course  der 
Uebergangszeit,  vorfindenden  Zufälligkeiten  oder  absichtlicher  Einflüsse  abgeben 
kann;  demnach  ist  auch  die  in  die  Rechnung  einzubeziehende  Epoche  nicht  nach 
einer  eigenen  Bedeutung  derselben,  sondern  ihrem  methodischen  Werte  nach 
zu  wählen. 

Hier  muss  ich  jedoch  bemerken,  dass  mir  die  meisten  Begründungen,  welche 
für  die  Durchschnittsberechnung  ins  Treffen  geführt  wurden,  nicht  so  klar 
erscheinen,  um  sie  mit  voller  Beruhigung  in  obige  Kategorie  oder  die  früher  be- 
sprochene —  der  Berücksichtigung  der  Vergangenheit  als  solcher  —  einzureihen, 
gleichwie  es  auch  zumeist  schwer  fällt  herauszufinden,  welche  präcisen  Gesichts- 
punkte dafür  als  maassgebend  angesehen  wurden,  um  gerade  diese  und  keine  andere 
Epoche  als  vorgeschlagen  der  Durchschnittsrechnung  zugrunde  zu  legen.  Aehnlich 
war  auch  der  Eindruck  bei  anderen  Experten,  woraus  man  dann  auch  eine  Einwen- 
dung gegen  die  Durchschnittsrechnung  überhaupt  schöpfte.  „Bei  dem  Durchschnitts- 
cours",  sagte  Jeitteles  (89),  „greift  der  Eine  auf  eine  sehr  lange,  der  Andere 
auf  eine  mittlere,  der  Dritte  auf  eine  kurze  Periode  zurück.  Einer  der  Herren 
Experten  hat  sogar  den  Durchschnitt  von  drei  Jahren  gewählt  mit  Ausschluss  der 
letzten  Jahre  1891  und  1892.  Er  will  die  Eelation  ermitteln  im  Durchschnitte  der 
Jahre  1888  bis  1890;  einer  der  Herren  Experten  wählte  den  Umrechnungscours 
der  letzten  Monate.  Alle  diese  Verschiedenheiten  in  den  Anschauungen  zeigen, 
dass  der  durchschnittliche  Cours  keine  innere  Berechtigung  hat.  Ich  habe  den 
Eindruck  gewonnen,  dass  jeder  der  Herren  Experten,  der  einen  Durchschnittscours 
für  die  Eelation  erforderlich  erachtete,  sich  zuerst  eine  Eelation  als  zweckmässig 
ausgedacht  hat . . .  und  dann  haben  sie  eine  Durchschnittsperiode  gesucht,  die 
dieser  Eelation  entspricht." 

Menger  gebürt  das  Verdienst,  allein  eine  präcise  Abgrenzung  und  Begrün- 
dung der  gewählten  Periode  für  die  Durchschnittsrechnung  behufs  Ausgleichung  der 


Die  österreichische  Währungs-Enquete.  3(33 

Zufälligkeiten  etc.,  geliefert  zu  haben.  Er  verwies  darauf,  dass  zwischen  der  jeweiligen 
Handelsbilanz  und  dem  jeweiligen  in  Gold  ausgedrückten  Werte  der  Valuta  ein 
gewisser  Parallelismus  bestehe  und  dass  daher  die  Periode  für  die  Durchschnitts- 
rechnung so  zu  wählen  sei,  dass  sie  nicht  bloss  Zeiten  sehr  günstiger  Handelsbilanz 
umfasse,  wie  es  der  Fall  wäre,  wenn  bloss  die  letzten  Jahre  in  Betracht  gezogen 
würden.  Ihm  schien  daher  die  Periode  1884  bis  1891  den  gerechtesten  Durch- 
schnitt zu  ergeben  (212 — 215,  221\  Auch  Mataja  betonte,  dass  die  Course  der 
Vergangenheit  nicht  kraft  eigenen  Eechts,  sondern  nur  insoweit  inEechnung  kommen, 
als  sie  Hilfsmittel  zur  richtigen  Beurtheilung  der  Gegenwart  abgeben  (159). 

Uebrigens  wurden  auch  Zweifel  an  der  Verwendbarkeit  der  Durchschnitts- 
rechnung im  obigen  Sinne,  d.  h.  zur  Eichtigstellung  der  Gegenwartscourse 
geäussert.  Benedikt  sagte  nämlich:  „Es  ist  kein  Zweifel  dass  das  Gelingen  der 
Valutaregelung  in  hohem  Maasse  von  der  richtigen  Wahl  der  Eelation  abhängig 
ist,  und  dass  diese  richtige  Wahl  dann  am  leichtesten  möglich  ist,  wenn  der 
Wechsel  der  Währung  sich  nach  einer  Periode  relativer  Stetigkeit  des  öster- 
reichischen Geldwerts  vollzieht.  Nach  einer  Periode  grösserer  oder  gar  heftiger 
Schwankungen  besteht  die  Gefahr,  dass  die  Verhältnisse  des  Augenblicks  das 
richtige  Urtheil  über  den  von  Zufällen  und  Einflüssen  unabhängigen  Wert  des 
österreichischen  Geldes  in  Gold  erschwert.  Gegen  dieses  üebel  bietet  aber  die 
Durchnittsrechnung  kein  Heilmittel,  denn  es  handelt  sich  bei  der  Eelation  niemals 
darum  zu  untersuchen,  wie  das  Verhältnis  des  Österreichischen  Geldes  zum  Gold 
als  W^are  gewesen  ist,  sondern  immer  darum,  wie  es  factisch  ist.  Ist  diese 
Untersuchung  durch  äussere  Einflüsse  und  plötzliche  Veränderungen  erschwert,  so 
wird  man  aus  der  Durchschnittsrechnung  nicht  erfahren,  ob  das  Eesultat  mit  den 
Constanten  Factoren,  welche  den  österreichischen  Geldwert  bestimmen,  harmoniert, 
und  wenn  die  Durchschnittsrechnung  mit  denselben  nicht  harmoniert,  so  wird  die 
Eelation  zur  Gefahr  und  zum  Unrecht".  (31.) 

6.  Ist  bei  Feststellung  der  Eelation  künftigen  Ereignissen 
Eechnung  zu  tragen? 

Hierher  gehört  zunächst  jene  schon  früher  (Punkt  3)  erwähnte  Forderung,  dass 
die  durch  den  Währungswechsel  selbst  bewirkte  Steigerung  des  Goldwertes  berück- 
sichtigt werde.  Dieser  Wunsch  selbst  ist  nur  ein  Ausfluss  des  Verlangens,  dass 
die  Continuität  des  Geldwertes  nicht  beeinträchtigt  werde. 

Nicht  auf  diesem  Princip  beruhend  ist  jedoch  die  Ansicht  Menger's,  dass 
in  Erwägung  des  Umstandes,  dass  je  niedriger  der  Silberpreis  im  Durchschnitte 
der  Jahre,  um  so  tiefer  im  allgemeinen  der  Goldwert  des  österreichischen 
Guldens,  auch  der  künftige  Goldgulden  etwas  leichter  auszuprägen  sei,  sobald  — 
was  nach  seinem  Dafürhalten  richtig  —  dem  Silberpreis  die  Tendenz  zum  Sinken 
zugeschrieben  wird  (213)^);  ebenso  glaubte  er  (auch  abgesehen  von  dem  Einflüsse 


^)  Dieser  Forderang  möchte  ich  principiell  entgegentreten.  Gegen  das  Verlangen, 
es  sei  schon  jetzt  bei  der  Eelationsfeststellung  dem  Steigen  des  Goldwertes  infolge 
der  Währungsreform  Eechnung  zu  tragen,  Hesse  sich  freilich  das  Bedenken  erheben, 
dass  damit  —  weil  die  Goldanschaffungen  selbst  und  damit  auch  deren  Einwirkung 
auf  den  Goldpreis  erst  später  erfolgen  —  zunächst  eine  Eeduction  des  Goldwertes  erzielt 
würde,  die  sich  erst  in  der  Folge  durch  die  allmähliche  Goldvertheuerung  ausgliche.   Diese 

24* 


364  Mataja. 

des  Währungswechsels  selbst  auf  den  Wert  des  Groldes)  der  allgemeinen  Tendenz 
des  Goldwertes  zum  Steigen  billigerweise,  insbesondere  mit  Eücksicht  auf  die 
Schuldner,  durch  Bestimmung  eines  etwas  leichteren  Goldgehaltes  des  neuen 
Guldens  Rechnung  tragen  zu  sollen  (213,  215). 

Endlich  sei  noch  erwähnt,  dass  einige  Experten  hinsichtlich  der  Eelations- 
feststellnng  bestimmte  ziffermässige  Vorschläge  machten,  selbstverständlich  unter 
Anwendung  der  von  ihnen  für  die  Umrechnung  aufgestellten  Grundsätze.  Der 
neue  Gulden  hätte  nun  an  Gold  zu  enthalten: 

nach  Bondy  zwischen  80  und  84  derzeitige  Goldkreuzer  (38), 

nach  Elbogen  nahe  dem  Cours  215  Francs  ziz  100  fl.  (78), 

nach  Hertzka  2  Francs  10  Centimes  (114), 

nach  Juraschek  86  Goldkreuzer  (122), 

nach  Milewski  wären  2  Fr.   10  C.  noch  viel  zu  hoch  (188), 

nach  Menger  2  Fr.  5  C.  (noch  ohne  Berücksichtigung  der  für  die  künftige 
Wertsteigerung  des  Goldes  zu  machenden  Abrundung,  213), 

nach  Thor  seh  höchstens  nach  dem  Course  58  fl.  =  100  Mark  (276). 

Im  Gegensatze  zu  jenen  Experten  befanden  sich  solche",  welche  überhaupt 
glaubten,  keine  präcisen  Bestimmungen  machen  zu  können,  so  beispielsweise 
Luc  am,  welcher  sagte:  bei  der  Umwandlung  soll  der  neue  Gulden  dem  gegen- 
wärtigen möglichst  nahe  kommen,  unter  billiger  Berücksichtigung  der  verschiedenen 
Interessen  (151);  Warhanek:  bei  der  Umrechnung  sei  die  Coursbewegung  der 
letzten  Zeit  seit  Inangriffnahme  der  Vorarbeiten  für  die  Valutaregulierung  zugrunde 
zu  legen,  jedoch  der  eigentliche  Umrechnungssatz  unter  Berücksichtigung  der 
verschiedenen  Interessen  nach  Maassgabe  der  Staatsraison  zu  fixieren  (283), 
und  Andere.  Mauthner  glaubte,  dass  allerdings  in  letzter  Linie  die  Bestimmung 
der  Relation  unter  Besücksichtigung  aller  einschlägigen  Verhältnisse  den  beiden 
Eegierungen  überlassen  bleiben  müsse;  wesentliche  Aenderungen  der  Wechselcourse 
durch  speculative  Einflüsse  wären  nach  ihm  nicht  in  Anschlag  zu  bringen  (171). 

Fünfte  Frage.  Welche  Münzeinheit  wäre  zu  wählen? 

Allgemein  wurde  von  einem  Uebergang  zu  einer  fremden  Währung,  dem 
Franc-    oder   Marksystem,    abgesehen.    Die  Gründe  für  diese  ablehnende  Haltung 


Einwendung  trifft  aber  gar  nicht,  sonderu  stärkt  nur  den  Hauptstandpunkt  Menger's 
(s.oben  Punkt  1),  dass  nämlich  die  Relation  erst  nach  erfolgter  Goldbeschaffung  vorgenommen 
werde.  Dem  Verlangen  hingegen  einer  Minderung  des  Goldguldens  aus  dem  Titel  des 
weiteren  Preisfalles  des  Silbers  kann  ich  mich  jedenfalls  nicht  anschliessen.  Erstens 
scheint  mir  jener  Preisfall  nicht  die  vorausgesetzte  Wirkung  zu  üben,  sondern  umgekehrt 
wahrscheinlicherweise  die  österreichische  Valuta  gegen  Gold  zu  steigen,  wofür  die 
Periode  1878 — 1891  angerufen  werden  kann,  indem  sich  eben  der  Wert  dieser  Valuta 
nicht  lediglich  nach  dem  Silber  und  dessen  Preisrückgang  richtet,  sondern  noch  andere 
und  mächtigere  Kräfte  ins  Spiel  kommen  (vgl.  die  früheren  Ausführungen)  und  zweitens 
glaube  ich,  dass  selbst  wenn  die  Wertverminderung  der  österreichischen  Valuta  wirklich 
wahrscheinlich  wäre,  dies  kein  Grund  dafür  wäre  den  Goldgulden  leichter  als  den  gegen- 
wärtigen Verhältnissen  entsprechend  auszuprägen.  Wertänderungen  des  Geldes  erzeugen 
unverdiente  Verluste  und  Gewinne  und  sind  daher  gewöhnlich  ein  Uebel,  es  kann  daher 
nur  einen  Vortheil  bedeuten,  wenn  wir  ihnen  durch  einen  Währungswechsel  entgehen, 
nicht  aber  besitzen  wir  einen  Anlass,  sie  im  Wege  der  Relationsfeststellung  auch  in  die 
neue  Währung  hinüberzuretten. 


Die  österreichische  Währungs-Enquete.  365 

vraren :  Die  Schwierigkeiten  bei  der  Umrechnung  nach  erfolgtem  Währungswechsel ; 
das  Wertverhältnis  der  fremden  Münzen  untereinander,  welches  doch  nur  den 
Anschluss  an  eines  der  Systeme  möglich  mache;  die  Wechselcourse  stünden  auch 
dann  nicht  auf  Pari,  es  blieben  also  auch  dann  nicht  dem  grossen  Verkehr 
complicierte  Eechnungen  erspart ;  die  Goldmünzen  könnten  leichter  abfliessen  oder 
abgenützte  Münzen  anderer  Länder  leichter  eindringen.  (13,  33,  59,  78,  215  u.  ö.) 

Im  übrigen  theilten  sich  die  Stimmen  fast  gleichmässig  für  eine  Münz- 
einheit im  Werte  des  heutigen  Guldens  oder  der  Hälfte  desselben;  mehrere 
Experten  sprachen  sich  hierbei  freilich  ziemlich  unentschieden  aus,  während 
andere  wiederum  sehr  entschieden  in  dem  einen  oder  dem  andern  Sinne  auftraten. 

Das  Hauptargument  für  die  Beibehaltung  des  alten  Guldenwertes  bildete 
wohl  die  Eücksicht  auf  die  Continuität  der  Verhältnisse,  der  Wunsch,  angesichts 
der  ohnehin  unvermeidlichen  Veränderungen  nicht  ohne  zwingenden  Grund  Hand 
anzulegen  an  bestehende  Einrichtungen  und  den  üebergang  so  bequem  und 
leicht  wie  nur  möglich  zu  gestalten.  (Vrgl.  68,   78,  82,  91  u.  ö.) 

Abgesehen  davon  gab  es  für  die  Erhaltung  des  gegenwärtigen  Guldenw^ertes 
noch  Gründe  zweierlei  Art;  erstens  erachtete  man  diesen  Guldenwert  an  sich  für 
eine  passende  Wertgrösse  für  die  Münzeinheit  und  zweitens  bezeichnete  man  die 
an  die  Herabsetzung  auf  die  Hälfte  geknüpften  Erwartungen  für  eine  Illusion. 

In  ersterer  Hinsicht  ist  namentlich  auf  die  Aeusserung  Mengers  zu  ver- 
weisen. Derselbe  bezeichnete  den  Gulden  für  die  Goldwährung  als  eine  geradezu 
ideale  Münzeinheit,  während  in  Deutschland  entgegen  dem  Decimalsystem  das 
Zw^anzigmarkstück,  in  Frankreich  das  Zwanzigfrancsstück  die  Hauptmünze  abgeben 
müsse.  Der  hundertste  Theil  des  Halbguldens  wäre  eine  W^ertgrösse,  welche  der 
Vorstellung  nicht  mehr  ganz  entspricht,  wie  denn  auch  in  der  That  der  gegen- 
wärtige halbe  Kreuzer  in  Oesterreich,  der  Centime  in  Paris  gänzlich  oder  fast 
gänzlich  im  Verkehr  verschwinden  (216). 

Die  andere  Gruppe  von  Argumenten  zielte,  wie  schon  bemerkt,  darauf  ab, 
die  aus  der  Herabsetzung  der  Münzeinheit  erwarteten  Vortheile  in  Abrede 
zu  stellen. 

Sehr  scharf  sprach  sich  in  diesem  Sinne  Sax  aus.  Die  Meinung,  eine 
kleinere  Münzeinheit  sei  erwünscht,  um  auf  die  Preise  einen  Druck  zu  üben, 
bezeichnete  er  als  einen  volkswirtschaftlichen  Aberglauben.  Wenn  ferner  auf  dem 
Markte  z.  B.  vier  Stück  einer  Ware  zehn  Kreuzer  kosten,  Jemand  will  aber  nur 
ein  Stück,  so  wird  er  freilich  nicht  zweiundeinhalb,  sondern  drei  Kreuzer  dafür 
bezahlen  müssen,  nicht  wegen  Mangels  einer  entsprechenden  Münze,  sondern  aus 
wirtschaftlichen  Gründen,  infolge  deren  überhaupt  je  kleiner  das  Verkaufsquantum, 
desto  höher  der  Preis  ist.  Dasselbe  Vorgehen  beobachte  jeder  Detaillist  (255). 
Ebenso  skeptisch  dachte  Lieben:  nur  ein  kleiner  Theil  der  Bevölkerung,  meinte 
er,  interessiert  sich  für  diese  Münzänderung  und  zwar  jener,  der  eigentlich  für 
jedes  Schlagwort  zu  haben  ist,  das  ihm  eine  Verbesserung  seines  Zustandes  ohne 
eigene  Anstrengung  in  Aussicht  stellt  (132).  Als  Beweise  bezw.  Folgen  wurde  insbe- 
sondere angeführt:  Centime  und  Pfennig  seien  nicht  gangbar  (132)  —  der 
Hinweis  auf  die  bei  Einführung  der  österr.  Währung  gemachten  Erfahrungen 
w^o  der  alte  Kreuzer  einem  minderwertigen  Platz  machte  (1  alter  =  1^4  neue). 


366  Mataja. 

aber  durchaus  keine  Yerwohlfeilung,  sondern  infolge  der  Abrundungen  eine  Ver- 
theuerung  eintrat  (Dutschka,  63)  —  die  Erfahrung,  dass  auch  in  Deutschland 
bei  üebergang  von  der  Thaler-  zur  Markwährung  sich  keine  Verwohlfeiiung 
ergab  (BunzI,  54,  Sax,  255)  —  die  eventuelle  Anpassung  der  Preise  minder- 
wertiger Waren  an  die  neue  Münzeinheit  würde  auf  Kosten  der  Quantität  und 
Qualität  vor  sich  gehen  (Menger,  215)  —  die  in  runden  Ziffern  vor  sich 
gehenden  Liberalitätsacte  würden  vielleicht  verwohlfeilt  werden,  dies  aber  gerade 
zum  Nachtheil  der  Bedürftigen  (Nava,  237)  —  bei  Herabsetzung  des  Gruldens 
auf  den  Halbgulden  (Krone)  müssten  die  unzähligen  heute  auf  Gulden  lautenden 
Titres  geändert  werden  oder  die  Manipulation  mit  ihnen  wäre  unbequem  (Elbo- 
gen,   78).  i) 

Für  die  Herabsetzung  der  Münzeinheit  auf  den  halben  Wert  der  gegen- 
wärtigen sprach  eine  Eeihe  von  Eednern.  Zgörski  erwartete  sich  davon  eine 
Verwohlfeiiung  und  eine  Anregung  des  Sparsinnes  (72),  Mataja  glaubte,  dass 
eine  solche  eine  bessere  Anpassung  der  Preise  und  damit  eine  gerechtere  Preis- 
bildung ermögliche,  sowie  dass  die  Staatsverwaltung  durch  geeignete  Feststellung 
der  Preise  ihrer  Tabakfabrikate  etc.  mannigfache  Mittel  an  der  Hand  habe,  den 
Verkehr  an  die  kleine  Münze  zu  gewöhnen  (161,  162);  dafür  äusserten  sich 
auch  Mersi  (174),  Milewski  (188)  u.  a.  Taussig  erklärte  sich  gleichfalls  für 
die  kleinere    Münzeinheit    unter    einem    neuen  Namen   mit   dem  Bemerken,   dass 


^)  Ich  kann  hier  die  Bemerkung  nicht  unterdrücken,  dass  mir  manche  der  gegen 
die  Herabsetzung  der  Münzeinheit  gebrauchten  Argumente  wenig  stichhältig  erscheinen. 
Beispielsweise  scheint  mir  die  Berufung  auf  die  mit  der  Einführung  der  österreichischen 
und  der  Markwährung  gemachten  Erfahrungen  sehr  wenig  Beweiskraft  zu  besitzen.  Wenn 
man  eine  Münzeinheit  durch  eine  solche  ersetzt,  welche  sich  gegen  erstere  nur  mit 
Bruchtheilen  umrechnen  lässt  —  wer  zweifelt  daran,  dass  dann  zahllose  Abrundungen  auf 
Kosten  des  Publicums  stattfinden?  In  Deutschland  wiederum  hatte  der  kleine  Verkehr  gar 
nicht  mit  Thalern,  sondern  mit  Groschen  und  Pfennigen  gerechnet  und  das  Umrechnungs- 
verhältnis war  hinsichtlich  letzterer  in  Preussen  etc.  360  alte  =  300  neue  Pfennige:  des- 
gleichen unbequeme  Ziffern  ergaben  sich  beim  Verhältnis  zwischen  dem  süddeutschen  Gulden 
und  der  Mark.  Uebrigens  wären  meines  Erachtens  nicht  einmal  die  durch  solche  Umstände 
etwa  beim  Üebergang  erzeugten  ungünstigen  Erfahrungen  schlechtweg  zwingend  gegen 
den  Wert  einer  kleineren  Münzeinheit ;  sofern  letztere  überhaupt  zweckmässig  ist,  wird 
sie  eben  dauernde  Vortheile  abwerfen,  während  die  Misslichkeiten  aus  dem  Währungs- 
übergang doch  nur  trän sitoris eher  Art  sind.  Dass  aber  heute  in  Deutschland  der  Pfennig 
nicht  gangbar  sei,  ist  doch  sicherlich  eine  viel  zu  weitgehende  Behauptung;  in  Frankreich 
spielt  der  Centime  wenigstens  rechuungsmässig  eine  gewisse  KoUe.  Gegen  die  Ausführungen 
des  Prof.  Sax  möchte  ich  bemerken,  dass  im  kleinen  Verkehr  das  Bedürfnis,  wegen  Ent- 
nahme geringer  Quantitäten  höhere  Preise  anzusetzen,  sich  sonderbarer' Weise  regelmässig 
gerade  dort  geltend  macht,  wo  die  geeignete  Münze  fehlt  oder  spärlich  vertreten  und 
wenig  gangbar  ist,  (wie  unser  halber  Kreuzer  schon  durch  diese  Bezeichnung!)  um  den 
Preis  genau  auszudrücken.  Kosten  vier  Eier  zwölf  Kreuzer,  so  wird  man  eines  sicherlich  nicht 
mit  vier  Kreuzern  berechnen,  also  ruhig  die  kleinere  Quantität  ebenso  berechnen,  wie  die 
etwas  grössere;  kostet  ein  Liter  Wein  oder  drgl.  36  Kreuzer,  so  wird  das  Viertel 
sicherlich  9,  und  wenn  er  26  Kreuzer  kostet,  7  Kreuzer  kosten.  Schon  diese  Beobachtung 
lehrt,  dass  die  Abrundungen  nicht  erfolgen,  um  den  grösseren  Abnehmer  zu  begünstigen, 
sondern  weil  die  entsprechende  Münzeinhezeit  nicht  zur  Hand  ist  um  die  Preise  genau 
anzusetzen.  Ganz  anders  steht  die  Sache  natürlich,  wenn  es  sich  um  die  Abnahme  von 
grösseren  Quantitäten  als  üblich  handelt,  wenn  also  Jemand  bei    der   in    dieser  Debatte 


Die  österreichische  Währungs-Enquete.  367 

andernfalls  zwei  Goldgulden  ^)  von  ganz  verschiedenem  Wert  existierten,  was  zu 
Irrthümern  und  Verwicklungen  Anlass  geben  konnte  (267).  Lindheim  war 
dafür,  den  in  hundert  Kreuzer  einzutheilenden  Gulden  wie  früher  beizubehalten, 
daneben  aber  eine  zweite  Münzsorte  den  Halbgulden  oder  die  Krone  zu  schaffen, 
die  aber  nicht  hundert  halbe  Kreuzer,  sondern  hundert  „Kronkreuzer"  zu  gelten 
habe,  da  dem  Umlauf  einer  Münze  die  Bezeichnung  als  „halbe"  entgegenstünde 
(143,   144). 

Ganz  allgemein  traten  die  Anhänger  des  alten  Guldenwertes  für  die 
Schaffung  einer  Fünfzigkreuzermünze  ein,  wie  überhaupt  mannigfache  Bemerkungen 
über  die  Stückelung  der  Scheidemünze  vorgebracht  wurden. 


Die  W^ährungs-Enquete  hat,  wie  man  aus  Vorstehendem  ersieht,  eine  Fülle 
verschiedenartiger  Erörterungen  gebracht.  Sie  hat,  wie  das  bei  den  Enqueten 
volkswirtschaftlichen  Charakters  Regel,  nicht  bloss  die  vorhandenen  Divergenzen 
der  Ansichten,  sondern  auch  der  Interessen  klargestellt,  was  dann  noch  durch 
die  Presse,  namentlich  jene  unteren  Ranges,  eine  wenn  auch  nicht  immer 
geschmackvolle,  so  doch  deutliche  weitere  Illustration  gefunden  hat.  Die  kleinen, 
bei  ähnlichen  Gelegenheiten  nun  einmal  unvermeidlichen  Ausfälle  auf  die  Theorie 
und  die  Theoretiker  etwa  abgerechnet,  waren  die  Verhandlungen  im  ganzen  ruhig 
und  streng  sachlich  abgelaufen.  In  seiner  Antwort  auf  die  ihm  in  der  Schluss- 
sitzung namens  der  Commission  dargebrachte  Danksagung  sprach  Finanzminister 
Dr.  Steinbach  das  unter  solchen  Umständen  bedeutungsvolle  Wort  aus,  dass-  er 
bei  Leitung  der  Verhandlungen  getrachtet  habe  objectiv  zu  sein  und  diesen 
Weg  auch  in  Zukunft  zu  verfolgen  trachten  werde.  Die  grosse  Reforfti,  in  diesem 
Sinne  unternommen,  wird  dann  zweifellos  die  beste  Gewähr  des  Gelingens  in  sich 
tragen  und  Jenen,  welche  sie  durchgeführt,  einen  Ehrenplatz  in  der  Geschichte 
der  Consolidierunsr  und  des  Fortschrittes  der  Monarchie  sichern. 


oft  genannten  Eierfrau  nicht  ein  paar  Stück  Eier,  sondern  ein  paar  Dutzend  kauft; 
dann  tritt  eine  wirklich  beabsichtigte  Preisermässigung  ein.  Abgesehen  also  von  jenen 
Fällen,  wo  es  am  Mangel  geeigneter  Münze  liegt,  ist  es  im  Detailhandel  doch  wahrlich 
nicht  Regel,  dem  Käufer  der  zwei  oder  drei  Stück  nimmt,  vor  jenem  zu  begünstigen, 
der  nur  eines  braucht;  wo  die  entsprechende  Münze  fehlt,  wird  dies  jedoch  geradezu  zur 
Nothwendigkeit.  Die  durch  die  höhere  Münzeinheit  bewirkten  höheren  Preise 
kommen  übrigens  viel  weniger  der  Industrie,  als  dem  Zwischenhandel  zu  Gute.  Man 
kann  natürlich  nicht  erwarten,  ja  nicht  einmal  wünschen,  dass  durch  die  Einführung  der 
kleineren  Münzeinheit  Alles  wohlfeiler  werde,  indem  Einer  hierbei  nur  gewinnen  könnte, 
was  ein  Anderer  verliert,  und  ein  solcher  Wunsch  in  dieser  Allgemeinheit  unbillig  wäre. 
Was  man  aber  im  Interesse  der  Volkswirtschaft  und  der  Gerechtigkeit  wünschen  muss, 
ist  die  genaue  Anpassung  des  Preises  an  den  Wert  des  Gebotenen,  die  thunlichste  Be- 
schränkung der  regelmässig  gegen  das  Publicum  gerichteten  Abrundungen  und  der 
gewohnheitsmässig  nachlässigen  Behandlung  geringer  Wertgrössen. 

1)  Genau  genommen  gibt  es  jetzt  schon  zweierlei  Goldgulden,  den  Münz-Gold- 
gulden  z=  2  Mark  und  den  Zoll-Goldgulden  zz  2^/2  Francs.  Vrgl.  die  Auseinandersetzungen 
von  Kreibig  in  Doms  Volksw.  Wochenschrift  vom  11.  Februar  1892. 


LITERATURBERICHT. 


Dr.  Julius  Laudesber^er.  Währungssystem  und  Relation.  Beiträge  zur 
Währungsreform  in  Oesterreich-Üngarn.    Wien  1891. 

Der  Verfasser  der  vorliegenden  Schrift,  die  zu  den  gediegeneren  gehört,  die  über 
Währungsreform  in  Oesten'eich  geschrieben  worden  sind,  behandelt  das  Problem  in  zwei 
äusserlich  sowohl  wie  dem  Inhalte  nach  selbständigen  Abhandlungen;  der  erste  Theil 
über  das  Währungssystem  (Seite  1 — 148)  sucht  auf  Grund  einer  zusammenfassenden  Dar- 
stellung und  Kritik  der  gegenwärtigen  internationalen  Währungszustände  einen  praktischen 
Vorschlag  für  die  concrete  Gestaltung  unseres  künftigen  Währungssystems  aufzustellen, 
der  zweite  Theil  über  die  Relation  ist  ausschliesslich  der  Erörterung  dieses  schwierigen 
und  strittigen  Punktes  gewidmet,  woran  eine  Tabelle,  die  Bewegung  des  internationalen 
Geldmarktes  während  kritischer  Perioden  des  letzten  Dececniums  darstellend,  sich  an- 
schliesst.  Auf  die  Frage  des  Münzsystems  und  der  Münzeinheit  geht  der  Verfasser  „um 
der  Begrenzung  des  Stoffes  willen"  nicht  ein,  was  indes  gerade  bei  seinem  Währungs- 
project  erwünscht  gewesen  wäre;  dieser  Abschnitt  hätte  darthun  sollen,  ob  und  in  wie- 
fern eine  von  vielen  gewünschte  Aenderung  des  Münzsystems  mit  seinem  Vorschlag,  der 
die  Eeform  organisch  auf  dem  Boden  des  Bestehenden  aufbauen  will,  vereinbar  sei. 

Um  nun  des  Näheren  auf  den  reichen  und  klar  dargestellten  Inhalt  des  Buches 
einzugehen,  ^ei  es  mit  dem  Verfasser  zuerst  hervorgehoben,  dass  es  sich  in  Oesterreich 
nicht  um  eine  einfache  Wiederaufnahme  von  Barzahlungen  handelt,  welche  sich  mit  der 
unpraktischen  und  unerwünschten  Rückkehr  zur  Silberwährung  decken  würde,  sondern 
um  eine  Combination  von  Maassnahmen,  die  einerseits  die  metallische  Grundlage  für  das 
Währungssystem  restituieren  sollen,  andererseits  durch  das  Bedürfnis  der  Aufnahme  des 
Goldes  in  die  Circulation  einen  Währungswechsel  involvieren  und  diesen  durchzuführen 
haben.  —  Die  Erörterungen  über  das  Währungssystem  umfassen  vier  Capitel,  deren  I. 
sich  mit  den  principiellen  Argumenten  gegen  die  Doppelwährung  befasst  und  deren  Ein- 
fluss  auf  die  deutsche  Währungsreform  schildert  und  vielfach  trefflich  kritisiert.  Nach 
Feststellung  des  Parallelismus  der  deutschen  Wähi-ungsreform  mit  dem  in  Oesterreich  zu 
lösenden  Problem  geht  der  Verfasser  im  II.  Capitel  auf  den  Stand  der  internationalen 
Währungsfrage  ein,  bespricht  eingehend  die  Preisdepression •  der  letzten  siebzehn  Jahre, 
wobei  er  geschickt  viele  Ansichten  widerlegt,  die  der  Goldwährung  zu  Liebe  jeden  Ein- 
fluss  derselben  auf  die  Preisdepression  negieren,  femer  die  Symptome  der  voraussichtlichen 
monetären  Entwickelung  und  die  neueste  amerikanische  Silbergesetzgebung.  Das  III. 
Capitel  enthält  eine  Kritik  der  bestehenden  Währungssysteme,  insbesondere  des  deutschen 
und  des  französischen  Typus  der  hinkenden  Währung,  worauf  eine  treffliche  und  viel 
Gutes  bietende  Besprechung  des  Wesens  und  des  Unterschiedes  von  Goldagio  und  Gold- 
prämie, und  daran  sich  anschliessend  der  Discontopolitik  und  der  Prämienpolitik  folgt, 
mit  ausreichender  Berücksichtigung  der  monetären  Situation  der  letzten  Jahre.  Der 
Darstellung  der  concreten  Gestaltung  des  künftigen  Währungsystems  ist  das  IV.  Capitel 
gewidmet,  wobei  die  Lage.  Aufgabe  und  Mitwirkung  der  östeiTeichisch  -  ungarischen 
Bank  bei  der  Währungsrefonn  eingehende  Besprechung  und  Berücksichtigung  finden. 

Der  Verfasser   ist    ein  Anhänger    des  Bimetallismus,  und  diese   seine  principielle 
Stellung  ist  durch   den  ganzen  Inhalt   des  Buches   ebenso  hervorleuchtend,  Avie  sachlich 


Literatiirbericht.  360 

motiviert.  Er  gehört  aber  nicht  zu  der  Kategorie  der  abstracten  Principienreiter,  die 
jedem  Problem  ein  absolutes  entweder  —  oder  entgegenstellen,  die  gleich  das  Beste  oder 
gar  nichts  wollen,  sondern  er  trachtet  nur  nach  dem  derzeit  Erreichbaren,  mag  es  auch 
dem  Ideale  der  Währungs Organisation  nicht  am  nächsten  kommen,  wenn  es  demselben 
nur  nahe  genug  kommt.  Seiner  praktischen  Anschauung  gemäss  stellt  er  den  Vor- 
schlag einer  dem  französischen  Typus  entsprechenden  hinkenden  Währung,  wobei  unser 
bisheriges  Courantgeld  ohne  eine  Einschränkung  der  Zahlkratt  im  Verkehr  bleiben  würde, 
wiewohl  es  dann  eigentlich  als  ein  Surrogat  der  die  Wertmessung  und  Kaufkraft  be- 
stimmenden neuen  Goldmünzen  auftreten  wird.  Diese  Art  von  Währung  entspricht  zwar 
nicht  den  reinen  Typen  der  Doppel-  oder  der  Goldwährung,  ist  rein  theoretisch  nicht 
richtig,  praktisch  auch  nicht  ohne  Gefahr,  indes  lässt  sie  sich  leichter  aufbauen  auf  die 
thatsächlichen  Währungsverhältnisse  in  Oesterreich  und  ist  auch  leichter  zu  erhalten.  Die 
Ueberlegenheit  des  französischen  Geldmarktes  beruht  zum  grossen  Theile  darauf,  dass 
die  französische  Bank  neben  der  Discontoschraube  auch  der  Prämienpolitik  sich 
bedienen  kann.  Nasse  und  viele  Andere  haben  öfters  —  wohl  nicht  ohne  Eücksicht 
auf  die  zahlreichen  sich  über  so  häufige  Discontoänderungen  in  den  Goldwährungsländern 
beklagenden  Stimmen  —  geradezu  als  einen  Vorzug  der  Goldwährung  bezeichnet,  dass 
sie  zur  vorsichtigeren  Discontopolitik  zwingt.  —  Der  Verfasser  stellt  dem  gegenüber  die 
richtige  Unterscheidung  auf  zwischen  inneren  und  äusseren  Ursachen  der  Bedrohung  der 
Metallreserve,  und  will  je  nach  der  Art  der  Gefahr  ein  anderes  Rettungsmittel  anwenden. 
„Die  Discontopolitik  ist  am  Platze,  warnend  und  zügelnd  einzugreifen,  wenn  und  soweit 
die  Gestaltung  der  Circulation  eines  Landes  bedingt  ist,  durch  dessen  eigene  wirtschaftliche 
Entwickelung.  Aber  gegen  die  Eeflexwirkung  der  von  aussen  andringenden  Circulations- 
spannungen  und  Krisen  wollen  wir  unserem  Geldmarkte  ein  stärker  und  rascher 
wirkendes  und  den  heimischen  Verkehr  minder  empfindlich  treifendes  Correctiv  zur 
Verfügung  gestellt  wissen:  Die  der  Centralbank  rechtlich  und  factisch  gewährte  Möglich- 
keit, eine  Goldprämie  zu  erheben.  (S.  134)." 

Der  Standpunkt  des  Verfassers  erinnert  vielfach  an  den  von  John  Prince- 
Smith's  vor  20  Jahren  auf  dem  volkswirtschaftlichen  Congress  eingenommenen;  wie 
damals  Pr ine e- Smith  nur  für  eine  Einführung  des  Goldes  in  die  Währung,  ohne 
Silberdemonetisation,  eintrat  und  vor  einer  weiteren  Entscheidung  die  Folgen  davon  erst 
abwarten  wollte,  ebenso  will  der  Verfasser  in  Oesterreich  nur  diesen  einen  Schritt  thun, 
wozu  ihn  ausser  den  obigen  Gründen  die  Rücksicht  bewegt,  um  durch  einen  zu 
entschiedenen  Schritt  (in  der  Richtung  der  Goldwährung)  der  endgiltigen  Regelung  der 
Währungsfrage  nicht  vorzugreifen  oder  dieselbe  zu  hindern.  —  In  Deutschland  siegte 
Soetbeer  gegen  Prince- Smith,  man  wollte  eben  nicht  abwarten,  man  wähnte  — 
ungeachtet  der  Schriften  Wolowski's  und  Seyd's  —  alles  schon  voll  und  ganz  zu 
wissen,  entschieden  wollte  man  sich  nicht  mit  einem  Uebergangszustand  befriedigen, 
sondern  sogleich  eine  neue  Währung  feiiig  haben,  nnd  diese  rücksichtslose  Entschlossenheit 
ist  doch  trotz  immenser  Mittel  und  grosser  Verluste  stecken  geblieben,  ihre  Prämissen 
haben  sich  zum  grossen  Theile  als  falsch  erwiesen,  das  Währungsproblem  ist  durch  den 
Uebergang  Deutschlands  zur  Goldwährung  nicht  gelöst,  sondern  erst  recht  geschaifen 
worden.  Auf  Grund  dieser  Erfahrung  und  der  anerkannten  Unmöglichkeit  einer  allgemeinen 
Goldwährung,  wenn  auch  nur  der  hochcivilisierten  Völker  —  Nasse  und  Lexis 
glaubten  ja  überhaupt  nicht  an  die  Möglichkeit  der  Goldwährung  in  Oesterreich  — 
muss  man  dem  Verfasser  auch  zustimmen,  wenn  er  die  Währungsfrage  nicht  überstürzt 
entscheiden  sondern  allmählich  sich  entwickeln  lassen  und  in  der  Richtung  der  Gold- 
währung nur  die  durchaus  nöthigen  Schritte  thun  will.  Damit  steht  wohl  aber  im 
Widerspruch,  wenn  er  schon  jetzt  der  Regierung  in  Aussicht  stellt  bei  verbesserter, 
Marktlage  für  das  Silber  unseren  Silberbestand  —  dessen  Höhe  er  noch  ohne  Berück- 
sichtigung der  Eventualität  des  Zurückströmens  unserer  Thaler  berechnet  —  allmählich 
gegen  Gold  auszutauschen.  Dies  würde  ja  einen  entschiedenen  Uebergang  zur  reinen 
Goldwährung  bedeuten,  unsere  Prämienpolitik  wäre  dahin,  es  müsste  die  Lage  des  Silbers 
—  denn  dafür  ist  die  Thatsache  der  Aussercourssetzung  viel  wichtiger  als  das  Quantum 


370  Literaturbericht. 

des  realen  Angebots  —  verschlimmern,  noch  mehr  das  Zustandekommen  des  auch  dem 
Verfasser  erwünschten  Bimetallismus  erschweren.  —  Auch  darf  man  wohl  den  Optimismus 
des  Verfassers  nicht  theilen,  w^enn  er  auf  fremden  Erfahrungen  beruhend  voraussetzt,  dass 
auch  bei  uns  nur  wenige  Staatsnoten  zur  Einlösung  präsentiert  würden;  im  Gegentheil, 
es  ist  zu  befürchten,  dass  eine  Art  von  Misstrauen  gegen  das  Gelingen  der  Reform 
ebenso  wie  eine  leicht  sich  weckende  Vorliebe  für  neue  Goldmünzen  zur  Festhaltung 
eines  bedeutenden  Theiles  des  neuen  Goldes  sowohl  in  Privat-  wie  in  commerziellen 
Kreisen  führen  könnten.  Jedenfalls  darf  man  diese  Möglichkeit  nicht  ausseracht  lassen. 
Der  zweite  Theil  des  Buches  beschäftigt  sich  mit  der  sogenannten  Eelation,  d.  i. 
richtiger  gesagt  mit  der  Frage,  welches  Goldquantum  dem  Gulden  ö.  W.  gleichgesetzt 
werden  soll.  Der  Verfasser  unterscheidet  zwischen  ökonomischer  Relation,  für  die  er 
den  Courswert  des  Guldens  ö.  W.  zur  Zeit  des  Währungswechsels  entscheiden  lassen 
will,  und  der  juristischen  Relation,  welche  die  Schulden  individualisierend  nach  dem 
Zeitpunkte  ihrer  Entstehung  soweit  damit  das  Postulat  der  Prakticabilität  vereinbar  ist, 
umrechnen  soll.  Dem  Verfasser  selbst  entgeht  es  nicht,  dass  dies  viele  Schwierigkeiten 
verursachen  würde,  so  bei  den  Inhaberpapieren,  Steuern  u.  s.  w.,  und  Referent  kann  sich 
nicht  mit  diesem  Theile  der  Schrift  einverstanden  erklären.  Auch  bei  vielen  Privat- 
schulden stehen  sich  jetzt  oft  ganz  andere  Personen  (und  seit  verschiedener  Zeit)  gegen- 
über, als  zur  Zeit  ihrer  Entstehung,  das  Streben  nach  absoluter  Gerechtigkeit  würde 
auch  hier  oftmals  das  summum  ius  summa  iniuria  thatsächlich  hervorrufen.  Ueberhaupt 
steht  Referent  in  dieser  Frage  des  Goldinhalts  des  zukünftigen  Guldens  auf  einem 
anderen  Standpunkt,  wie  die  ihm  bekannten  diesbezüglichen  Ansichten  in  Oesterreich; 
die  Einen  wollen  1  Gulden  der  ehemals  '-^/s  Th.  war,  nunmehr  mit  2  Mark  Gold  eingelöst 
sehen.  Andere  wollen  sei  es  die  Momentrelation  des  Währungswechsels,  sei  es  den 
Durchschnitt  der  letzten  Jahre,  sei  es  den  Cours  der  Entstehungszeit  der  Verbindlich- 
keiten zur  Basis  der  Umrechnung  wählen.  Allen  diesen  Anforderungen  entsprach  man 
in  Deutschland,  wo  die  Einführung  der  Goldwährung  sich  auf  der  Basis  von  1  :  löVa 
vollzog,  was  wirklich  damals  sowohl  der  Moment-  wie  der  Durchschnittsrelation,  wie  dem 
Course  der  Entstehungszeit  der  Schulden  entsprach;  aber  der  üebergang  Deutschlands 
zur  Goldwährung  hat  eine  Goldwertsteigerung  verursacht,  und  da  jene  auf  einer 
ex  präterito  gewählten  ümrechnungsbasis  beruhte,  so  ward  dadurch  die  Last  sämmtlicher 
Schulden  positiv  vergrössert.  Wir  müssen  daher  im  voraus  mit  der  Thatsache  einer 
Goldwertsteigerung  infolge  der  Aufnahme  des  Goldes  in  unsere  Währung  rechnen. 
Unsere  Reform  wird  auf  zwei  Wegen  den  disponiblen  Goldschatz  der  bisher  sich  des 
Goldes  bedienenden  Nationen  verringern,  einmal  durch  die  mehr  wie  300  Millionen,  die 
wir  für  den  Umlauf  nöthig  haben  werden,  und  welche  bei  dem  kolossalen  industriellen 
Goldverbrauch  den  ganzen  Ueberschuss  der  Production  von  3 — 4  Jahren  absorbieren 
werden,  dann  durch  die  infolge  unserer  Reform  auftretende  Aussercourssetzung  unserer 
Thaler  in  Deutschland,  an  deren  Stelle  Gold  wird  treten  müssen.  Die  neueste  Rede 
Go Sehens,  welche  an  seinem  früheren  Project  festhält,  die  Bankgoldreserve  zu  verstärken, 
durch  ausgedehnte  Ersetzung  des  Goldes  im  Verkehr  durch  Pfundnoten,  die  kurzen 
Schicksale  des  Goldumlaufs  in  Italien,  zeigen  deutlich  dass  eine  dauernde  —  und  das 
wollen  wir  ja  —  Ersetzung  anderer  Circulationsmittel  durch  Gold  wohl  nicht  ohne 
Einfluss  auf  den  Goldwert  wird  bleiben  können.  Dementsprechend  müsste  man  auch  den 
Goldinhalt  des  Guldens  mit  Berücksichtigung  der  voraussichtlichen  Goldwertsteigerung 
bestimmen.  Wie  viel  Gold  wir  anno  x  für  1  Gulden  hätten  kaufen  können,  wo  wir  ihn 
doch  nicht  gekauft  haben,  also  auf  die  Nachfrage  folglich  auch  auf  den  Goldwert  über- 
haupt nicht  einwirkten,  das  hat  nur  ein  historisches,  kein  praktisches  Interesse.  Dies 
Interesse  muss  aber  danach  streben  den  Goldinhalt  so  zu  bestimmen,  dass  wir  künftighin 
nur  so  viele  Waren  für  1  Goldgulden  zu  geben  haben  werden,  wie  wir  in  den  letzten 
Jahren  gegeben  haben.  Ohne  dies  zu  berücksichtigen  würden  wir  unser  Rechtsgefühl, 
Production,  Finanzen,  äusserst  verletzen.  Der  Verfasser  geht  auf  die  finanzielle  Seite  der 
Reformfrage  nicht  ein;  sie  wird  auch  gewöhnlich  so  gestellt,  als  ob  es  sich  nur  um  die  Frage 
der  Deckung  der  Zinsen  von  einem  neuen  grossen  Anlehen  handeln  würde;    man   sollte 


Literaturbericht.  371 

aber  nicht  unerwägt  lassen,  ob  bei  einer  ex  präterito  gewählten  Umrechnungsbasis  nicht 
in  futuro  eine  reale  und  nicht  geringe  Vergrösserung  der  ganzen  inländischen  Zinsen- 
und  Schuldenlast  sich  einstellen  würde;  für  die  bereits  in  Goldwährung  contrahierten 
wird  das  wohl  jedenfalls  unausbleibig  sein.  In  England  hat  man  ja  manchmal  (z.  B. 
Gold  and  Silver  Commission,  Final  Ep.  I  149,  II  128)  sich  für  Goldwährung  erklärt, 
da  England  der  Gläubiger  des  Weltalls  ist  —  demgegenüber  müssten  wir  doch  wohl 
an  unsere  Verschuldung  denken  und  nicht  durch  falsche  Umrechnung  die  Staats-  und 
Communalschuldenlast  —  ebenso  natürlich  auch  die  Privatschulden  —  unberechtigter 
Weise  zu  Gunsten  der  Gläubiger  vergrössern.  Darin  liegt  der  Kernpunkt  auch  der  finan- 
ziellen Seite  der  Frage.  Wir  wollen  den  Gläubigern  nicht  weniger  geben,  wie  ihnen  gebürt, 
aber  auch  nicht  mehr.  Freilich  bietet  die  Forderung  die  künftige  Wertsteigerung  des 
Goldes  zu  berücksichtigen  manche  und  grosse  Schwierigkeiten,  man  darf  sie  aber  nicht 
vernachlässigen,  denn  unsere  Reform  wird  dies  verursachen.  Hat  man  dies  gethan  so 
wird  man  auch  keinen  Unterschied  zwischen  ökonomischer  und  juridischer  Eelation 
zu  thun  brauchen,  Alles  wird  sich  einheitlich  regeln  lassen. 

Diesen  im  December  vorigen  Jahres  geschriebenen  Ausführungen  ist  nun  hinzu- 
zufügen, dass  in  der  Yaluta-Enquöte  in  Wien  mehrere  Stimmen,  vor  allem  aber  Prof. 
C.  Menger  in  ausgezeichneter  Weise  die  Nothwendigkeit  bei  der  Festsetzung  der  Re- 
lation die  Wertsteigerung  des  Goldes  zu  berücksichtigen,  dargethan  hat. 

Dr.  J.  V.  Milewski. 

Au  introcluction  to  the  theory  of  valiie  on  the  lines  of  Men^er,  Wieser 
and  Böhm-Bawerk,  by  Williaiii  Smart,  London,  Macmillan  and  Co.,  1891,  VI  und 
88  Seiten. 

Der  Verfasser  dieser  Schrift  hat  sich  um  die  Verbreitung  der  Lehren  der  öster- 
reichischen Nationalökonomen  grosse  Verdienste  erworben,  er  ist  der  Uebersetzer  des 
Böhm'schen  Werkes  über  das  Capital,  gegenwärtig  Avird  unter  seiner  Anleitung  eine 
Uebersetzung  des  Wieser'schen  Werkes  über  den  natürlichen  Wert  ausgearbeitet  und 
auch  das  vorliegende  Büchlein  ist  dazu  bestimmt,  eine  specifisch  österreichische  Lehre 
den  englichen  Fachgenossen  näher  zu  rücken.  Es  wird  darin  die  Wertlehre,  wie  sie  in 
den  Schriften  Mengers,  Wiesers  und  Böhms  niedergelegt  ist,  dargestellt,  auch  das,  was 
in  diesen  Werken  über  den  Preis  gesagt  wurde,  findet  Berücksichtigung;  bloss  die 
Beziehungen  zwischen  der  Wert-  und  Preislehre  und  dem  Vertheilungsproblem  bleiben, 
eben  mit  Rücksicht  auf  die  Uebersetzung  des  Wieser'schen  Werkes,  ausser  Betracht. 
Deshalb  wohl  nennt  sich  die  Schrift  eine  Einleitung  zur  Wertlehre;  denn  von  dieser 
Beschränkung  abgesehen,  ist  die  Arbeit  trotz  ihrer  Kürze  eine  gelungene  Darstellung  der 
sämmtlichen  einschlägigen  Hauptlehren  und  wohl  geeignet,  das  Verständnis  derselben 
zu  fördern. 

Nach  einer  kurzen  Einleitung  gibt  der  Verfasser  zunächst  eine  Analyse  des  Wertes 
und  begründet  den  Unterschied  zwischen  Nützlichkeit  und  Wert;  es  folgt  eine  Unter- 
suchung über  die  Wertscala  und  den  Grenznutzen,  wobei  stets  gut  gewählte  Beispiele 
zur  Erläuterung  herangezogen  werden.  Die  Untersuchung  des  Wertes  der  complementären 
Güter,  schliesst  den  Theil.  der  sich  mit  dem  Werte,  ohne  Rücksicht  auf  den  Gütertausch 
beschäftigt.  Nach  einer  Darlegung  des  subjectiven  Tauschwertes  kommt  der  Verfasser 
zum  objectiven  Tauschwerte  und  zum  Preis.  Im  Sinne  der  Ausführungen  Böhms  stellt 
der  Verfasser  fest,  dass  der  Preis  sich  innerhalb  der  subjectiven  Bewertungen  des  „besten" 
Käufers  und  des  „besten"  Verkäufers,  also  des  sogenannten  Grenzpaares  festsetzen  w^erde. 
Dabei  wird  die  Wertschätzung  des  Geldes  gebürend  beachtet.  Mit  besonderer  Ausführlich- 
keit behandelt  Smart  die  Beziehung  der  Grenznutzentheorie  und  der  Lehre  von  den 
Productionskosten.  Er  legt  dar,  dass  die  Productionsmittel  ihren  Wert  von  dem  der 
Befriedigungsmittel  ableiten;  da  aber  aus  einem  Productionsmittel  verschiedene  Güter 
hervorgehen,  so  werde  der  Wert  der  letzten  ökonomisch  noch  erzeugbaren  Güter  den 
Wert  der  Productionsmittel  bestimmen,  während  der  Wert  aller  übrigen  aus  dem  Pro- 
ductionsmittel hervorgehenden  Güter  auf  den  Wert  jenes  Grenzproductes  abgeglichen 
werde.  Es  sei  also  vollkommen  richtig,  dass  bei  beliebig  reproducierbaren  Gütern  die  Kosten 


372  Literatlirbericht. 

den  Wert  bestimmen.  Doch  sei  dies  bloss  Ein  Fall  der  Anwendung  des  allgemeinen 
Gesetzes,  dass  der  Grenznutzen  für  den  Wert  maassgebend  ist,  indem  doch  immer  der 
Grenznutzen  bestimmt,  welche  Productionskosten  wirtschaftlicherweise  aufgewendet  werden 
können.  Vermehrt  sich  die  Menge  eines  Productionsmittels,  so  werde  eine  neue  Grenz- 
verwendung des  Productionsmittels  geschaffen.  Kurz  das  Kostengesetz  ist  ein  secundäres 
Gesetz  für  gewisse  Güter,  die  Lehre  vom  Grenznutzen  gibt  das  allgemeine  und  fundamen- 
tale Wertgesetz. 

Es  braucht  wohl  kaum  erwähnt  zu  werden,  dass  der  Verfasser  selbst  der  von  ihm 
dargestellten  Wertlehre  beistimmt.  Seine  sehr  klaren  und  eindringlichen  Darlegungen  werden 
auch  von  deutschen  Lesern  mit  Nutzen  studiert  werden.  Robert  Zuckerkandl. 

Ghino  Valenti.  La  teoria  del  Valore,  Roma,  LoescJier  1890  (240  S.). 

Die  italienische  Wissenschaft  hat  sich  mit  dem  Wertprobleme  in  den  letzten 
Jahren  vielfach  befasst;  die  verschiedenen  Lehren,  welche  die  Literatur  der  europäischen 
Culturvölker  aufweist,  haben,  wie  z.  B.  die  ausgezeichneten  dogmengeschichtlichen  Arbeiten 
Graziani's,  Montanari's  und  Loria's  nachweisen,  in  ihrer  Mehrzahl  auch  in  Italien 
ihre  Vertreter  gefunden;  am  eifrigsten  aber  wurde  in  letzter  Zeit  die  von  Ferrara  genial 
aufgefasste  Reproductionskosten-Theorie  und  die  Menger'sche  Lehre  vom  Grenznutzen 
verfochten.  Als  die  hervorragendsten  Werttheoretiker  möchten  wir  übrigens  Achille 
Loria  und  Giulio  Alessio  bezeichnen,  weil  ihre  von  einander  und  von  den  sonst  in 
Italien  herrschenden  Theorien  vielfach  abweichenden  Anschauungen  von  ihnen  mit  her- 
vorragender Meisterschaft  begründet  worden  sind.  Das  vorliegende  Werk,  in  welchem 
der  Autor  den  Auffassungen  Loria's  nahekommt,  stellt  es  sich  zur  Aufgabe,  das  viel- 
erörterte Problem  nochmals,  und  zwar  so  recht  von  seinen  Grundlagen  herauf  durchzu- 
arbeiten. Der  Autor  beginnt  daher  auch  nicht  ohne  weiteres  mit  der  Entwickelung  des  Wert- 
begriffes, sondern  untersucht  in  erster  Reihe  die  Begriffe  „Reichth um"  und  „Nützlichkeit". 
Unter  Reich thum  „ricchezza"  versteht  er  den  Inbegriff  jener  Güter,  welche,  sei  es  wegen 
der  zu  ihrer  Herstellung  erforderlichen  Arbeit,  sei  es  wegen  ihres  quantitativ  wirt- 
schaftlichen Charakters  oder  aus  beiden  Gründen,  weder  direct,  noch  im  Wege  des 
Tausches  ohne  Opfer  erworben  werden  können. 

Die  Nützlichkeit  ist  die  durchaus  subjective  Eigenschaft  eines  Gutes,  menschliche 
Bedürfnisse  zu  befriedigen;  sie  ist  wenigstens  allgemein  und  social  objectiv  und  quanti- 
tativ nicht  messbar.  Der  Wert  dagegen  ist  quantitativ  verschiedenartig,  qualitativ  aber  ein- 
heitlich, weil  er  von  Ursachen  beherrscht  wird,  welche  innerhalb  gewisser  zeitlicher  und 
örtlicher  Grenzen  gesellschaftlich  wirksam  sind;  er  kann  daher  gemessen  werden;  er  stellt 
nichts  anderes  dar,  als  die  Schätzung  der  zwei  Tauschgütern  innewohnenden  gegen- 
seitigen Schwierigkeit  der  Erlangung,  also  die  Macht,  eine  Sache  gegen  eine  gegebene 
Menge  anderer  Dinge  auszutauschen  und  steht  im  Verhältnisse  zu  dieser  Schwierigkeit 
der  Erlangung.  Daraus  ergibt  sich,  dass  Valenti  nach  dem  Vorgange  der  meisten 
Italiener  unter  Valore  nur  die  Kategorie  des  Tauschwertes  versteht.  Seine  Auffassung 
über  den  Gebrauchswert  (S.  29)  und  die  dadurch  begründete  Zurücksetzung  dieses 
Begriffes  scheint  uns  nicht  ganz  überzeugend;  ebenso  sind  seine  Erörterungen  über  den 
Begriff  des  subjectiven  Wertes  und  seine  Polemik  gegen  v.  Böhm-Bawerk  in  diesem 
Punkte  wenig  beruhigend,  obwohl  mit  der  oben  mitgetheilten  Wertdefinition  fast  von 
selbst  gegeben.  Die  Kosten  sind  im  Gegensatze  zum  Wert,  der  auch  bei  Naturproducten 
vorkommen  kann,  die  reelle  Summe  der  Anstrengungen,  Opfer  und  Gefahren,  welche  der 
Production  innewohnen;  die  Begriffe  Wert  und  Kosten  decken  sich  also  nicht  ohne 
weiteres;  die  Kosten  setzen  sich  nicht  nur  aus  Arbeit  zusammen  und  sind  immer  vom 
Standpunkte  des  Producenten  aus  zu  beurtheilen ;  (S.  36  f.)  sie  können  unter  Umständen 
auch  Uebergewinne  umschliessen. 

Den  Begriffen  „Wert"  und  „Kosten"  steht  der  Begriff  „Preis"  gegenüber.  Preis 
ist  die  concrete  Manifestation  des  Wertes;  damit  sich  der  Preis  bilde,  ist  es  durchaus 
nicht  nothwendig,  dass  „Geld"  existiere;  dagegen  kann,  wenn  Geld  existiert,  zwischen 
reellem  und  laufendem  Preise  unterschieden  werden,  je  nachdem  jene  Ware,  welche  man 
für  den  Geldpreis  des  Verkaufsobjectes  erwerben  kann,  oder  dieser  Geldpreis  selbst  als 


Literaturbericlit.  375 

Preis  betrachtet  wird.  —  Da  nun  der  Wert  keine  innere  Eigenschaft  der  Güter  ist, 
sondern  sich  aus  einem  auf  äussere  Thatsachen  aufgebauten  Urtheile  ergibt,  da  er  somit 
von  Natur  aus  wandelbar  ist,  gibt  es  kein  exactes  Maass  des  Wertes;  ein  solches  ist 
auch  das  Geld  nicht;  das  Geld  erleichtert  nur  den  Tausch,  schafft  gewissermaassen  einen 
gemeinsamen  Nenner  für  die  Rechnung.  Diese  Betrachtungen,  welche  eine  genaue  Ver- 
trautheit mit  der  einschlägigen  Literatur  ausser  Zweifel  stellen,  schliessen  den  ersten  Theil 
des  Buches.  Der  zweite  gibt  eine  kritische  Dogmengeschichte  des  Wertes,  welche  mit 
Ricardo  beginnt  und  mit  der  Menger'schen  Wertlehre  und  zwar  hauptsächlich  mit  der 
Lehre  v.  Bühm-Bawerk's  abschliesst.  Die  Untersuchung  der  letzteren  scheint  uns 
nicht  tief  genug  und  übersieht  unseres  Erachtens  den  Kern  derselben;  Yalenti  schliesst 
sich  auch  dieser  Lehre  nicht  an,  sondern  entwickelt  im  3.  Theile  seines  Werkes  eine 
andere  Theorie,  deren  Hauptresultate  im  folgenden  gedrängt  wiedergegeben  werden 
sollen.  Grundlegend  ist  und  bleibt  für  Yalenti  die  Lehre  Ricardo's;  um  ihre  Lücken 
auszufüllen,  genügt  es,  die  Gesetze  aufzudecken,  welche  die  Abweichungen  von  dem 
durch  die  Kosten  bestimmten  Nonnalmaasse  des  Wertes  herbeiführen. 

Das  allgemeine  Wertgesetz  ist  absolut;  unter  allen  Umständen  und  zu  allen  Zeiten 
stellt  sich  der  Wert  der  Güter  proportional  der  Schwierigkeit  ihrer  Erlangung;  diese 
besteht  in  jener  qualitativen  und  quantitativen  Beschränktheit  der  natürlichen  Güter, 
welche  durch  directe  und  indirecte  Arbeit  überwunden  werden  muss;  bei  freier  Concur- 
renz  besteht  sie  ausschliesslich  aus  den  Productionskosten  (s.  S.  182);  wenn  freie  Con- 
currenz  fehlt,  im  Grade  der  Beschränktheit  des  Gutes  (s.  S.  169  f.).  Positive  und  nega- 
tive Ursachen  (s.  S.  171  ff.)  bewirken,  dass  unter  bestimmten  Verhältnissen  und  in  be- 
stimmten Perioden  der  Wert  dauernd  über  oder  unter  den  Kosten  bleibt;  in  solchen 
Fällen  liegen  specielle  oder  historische  Wertgesetze  vor.  Wenn  der  Austausch  zwischen 
körperlichen  Sachen  oder  Diensten  auf  Grund  der  Kosten  erfolgt,  liegt  kein  Privileg 
und  kein  Monopol  vor;  bei  der  Gütervertheilung,  welche  durch  den  Tausch  erfolgt,  er- 
hält in  diesem  Falle  jeder  jene  Gütermenge,  deien  Erzeugung  seiner  Theilnahme  an  der 
Production  zuzuschreiben  ist ;  wenn  dagegen  der  Austausch  mit  Rücksicht  auf  die  quanti- 
tative Beschränktheit  der  Güter  erfolgt,  fehlt  die  gerechte  Vertheilung;  diese  Beschränkt- 
heit ist  die  Ursache  jeder  ökonomischen  und  socialen  Ungleichheit,  sie  selbst  aber  beruht 
auf  dem  Mangel  freier  Concurrenz.  Nur  die  Arbeit,  welche  Ursache  des  Wertes  dann 
ist,  wenn  sie  eine  Belästigung  (pena)  darstellt,  ebenso  wie  auch  das  Capital  nur  insoferne 
Wert  hat,  als  es  Arbeit  und  eine  Belästigung  darstellt,  ist  wirtschaftlich  productiv,  nur 
aus  ihr  kann  eine  absolute  Vermehrung  des  gesellschaftlichen  Eeichthums  entstehen,  auf 
andere  Weise  gibt  es  nur  eine  Verschiebung  desselben.  Hieraus  ergeben  sich  die  Prin- 
cipien  des  ökonomischen  Fortschrittes,  der  in  einem  beständigen  Kampfe  gegen  die 
quantitative  Beschränktheit  der  Güter  besteht,  und  daraus  wieder  eine  Reihe  von  Sätzen» 
die  in  den  Rahmen  der  Socialpolitik  fallen  und  sich  vielfach  auf  die  Anschauung  gründen, 
dass  zu  wenig  Capital  vorhanden  sei,  die  Arbeit  daher  nicht  im  Gleichgewichte  mit  den 
natürlichen  und  künstlichen  Productionsfactoren  stehe. 

Die  Betrachtungen,  auf  welche  sich  diese  Schlussergebnisse  stützen,  sind  überaus 
eingehend,  scharfsinnig  und  gewissenhaft  durchgeführt;  sie  umfassen  auch  das  Problem 
der  Monopolwerte,  der  Werte  von  mit  verschiedenen  Kosten  und  zu  verschiedenen  Zeiten 
hergestellten  Producten,  der  mit  gemeinsamen  Kosten  erzeugten,  das  Problem  der  Werte 
complementärer  Güter,  jenes  des  internationalen  Tausches,  das  der  Werte  von  Diensten, 
das  Lohn-,  Zins-  und  Rentenproblem,  sowie  die  Frage  des  Unternehmergewinnes;  einigen 
Capiteln,  so  z.  B.  dem  Abschnitte  über  die  Grundrente,  müssen  besondere  Vorzüge  nach- 
gerühmt werden;  die  Resultate  selbst  sind  aber  doch  nicht  vollständig  befriedigend  und 
widerlegen  wohl  kaum  alle  die  gewichtigen  principiellen  Einwendungen,  welche  gegen 
die  Kostentheorie  bestehen.  Wohl  aber  reizt  das  vorliegende  Buch  zu  neuerlichem 
Studium  des  Wertproblems  unter  den  mannigfachen  Gesichtspunkten  an,  die  z.  T.  erst 
von  Valenti  mit  voller  Bestimmtheit  gewählt  worden  sind.  Ob  freilich  nicht  auch 
hiebei  wieder  eine  andere  als  die  Ricard'sche  Lehre  zum  Siege  gelangen  würde,  müssen 
wir  hier  dahingestellt  sein  lassen.  Schullern. 


374  Literaturbericht. 

Grhiuo  Valenti.  Le  Idee  economiche  di  Gian  Domenico  üomagnosi;  saggio 
critico,  Eoma,  Loescher  1891  (226  S.). 

Es  war  eine  pietätvolle  That  des  Autors,  aus  den  zahlreichen  Yolkswirtschaftlichen, 
philosophischen,  rechtswissenschaftlichen  und  geschichtlichen  Schriften  Romagnosi's 
die  wichtigsten  auf  die  politische  Oekonomie  bezüglichen  Gedanken  hervorzuheben,  diesen 
geistvollen  Gelehrten  hiedurch  ins  Gedächtnis  der  heutigen  Fachmänner  zu  bringen  und 
so  seinen  Verdiensten  ein  schönes  Denkmal  zu  setzen.  Die  Ausführung  dieser  Idee  durch 
Y  a  1  e  n  t  i  ist  eine  sehr  lobenswerte,  da  sich  im  grossen  und  ganzen  das  vorliegende 
Buch  strengster  Objectivität  befleissiget  und  wie  schon  das  Inhaltsverzeichnis  lehrt,  das 
Thema  in  trefflicher  Anordnung  behandelt.  Romagnosi  gehört  zu  den  Koryphäen  der 
italienischen  Nationalökonomie ;  allerdings  lebte  er  in  einer  Zeit  tiefen  Verfalles  der  Wissen- 
schaft, um  so  verdienstlicher  erscheint  aber  sein  Wirken,  das  noch  mehr  als  ein  halbes 
Jahrhundert  nach  seinem  Tode  einen  jungen  Gelehrten  zu  ausgedehnten  Specialstudien 
über  seine  Arbeiten  begeistern  und  nach  den  gewaltigen  Umwälzungen,  welche  die 
Wissenschaft  seither  erfahren  hat,  noch  volles  Interesse  erwecken  kann.  —  Valenti, 
hebt  eine  Eigenthümlichkeit  Romagnosi's  besonders  hervor,  welche  gerade  gegenwärtig 
doppeltes  Interesse  erwecken  muss ;  sie  bestand  darin,  dass  er  die  Wirtschaft  mit  Moral 
und  Recht  in  innige  Verbindung  brachte,  so  dass  in  seinen  juridischen  Schriften  stets 
der  liberale  Oekonomist  zu  Tage  trat.  Da  heute  der  Gedanke,  volkswirtschaftliche  Ge- 
sichtspunkte in  der  Rechtswissenschaft  zur  Geltung  zu  bringen,  wenn  auch  langsam 
ihrer  bisherigen,  mehr  formalistischen  Gestaltung  gegenüber  Boden  gewinnt,  ist  es  von 
besonderem  Interesse,  einen  verhältnismässig  so  frühen  Träger  dieser  Idee  vor  Augen 
zu  haben.  Vor  allem  tritt  hier  sein  Werk:  „Introduzione  al  diritto  pubblico"  hervor, 
in  welchem  mit  tiefem  Bewusstsein  nachgewiesen  wird,  dass  die  ökonomische  Ordnung 
das  Substrat  der  juridischen  und  dass  die  Principien,  welche  die  eine  und  die  andere 
beherrschen,  innig  mit  einander  verbunden  seien. 

Wir  können  uns  nicht  darauf  einlassen,  alle  wichtigen  Einzelnheiten  der  Lehren 
Romagnosi's  hervorzuheben,  beschränken  uns  vielmehr  darauf,  einige  Capitel  aus 
Valenti's  Buch  zu  bezeichnen,  welchen  unseres  Erachtens  eine  allgemeinere  Bedeutung 
zukommt;  dies  gilt  z.  B.  vom  Absatz  2  des  IL  Capitels  im  I.  Theile,  worin  die  Bedeutung 
der  freien  Concurrenz  als  Hauptgrundsatz  der  Wirtschaft  hervorgehoben,  aber  auch  gewisse 
Schranken,  welche  sie  anerkennen  müsse,  markiert  werden  i^s.  S.  44).  Die  Stellung  der 
Volkswirtschaftslehre  zu  den  Rechtswissenschaften  behandeln  die  ersten  Abschnitte  des 
III.  Capitels.  Aus  dem  11.  Theile,  welcher  Romagnosi's  wirtschaftliche  Begriffe  und 
Theorien  untersucht,  verweisen  wir  besonders  auf  Capitel  I.  Abschnitt  III,  welcher  das 
Wertgesetz  behandelt;  Romagnosi  betrachtet  nur  den  subjectiven  Wert  und  bezeichnet 
ihn  als  die  von  den  Menschen  anerkannte  Nützlichkeit  einer  Sache;  im  übrigen  finden 
sich  in  seiner  Wertlehre  unstreitig  gewisse  Anklänge  an  die  Lehre  Mengers,  ohne  dass 
aber  unseres  Erachtens  denselben  eine  nennenswerte  Bedeutung  zukäme.  Auch  der 
Abschnitt  über  die  Entwickelung  und  den  wirtschaftlichen  Fortschritt  weist  interessante 
Anschauungen  Romagnosi's  nach  (Cap.  III.). 

Der  in.  Theil  des  Buches  behandelt  die  Aufgabe  und  Wirksamkeit  des  Staates 
und  die  wirtschaftliche  Freiheit  und  kommt  insbesondere  eingehend  auf  Romagnosi's 
ökonomische  Theorie  des  Eigenthums  zu  sprechen.  Hiefür  ist  der  Satz  charakteristisch, 
dass  das  Eigenthum  sich  nicht  weiter  ausdehnen  dürfe,  als  die  Arbeit  und  das  Bedürfnis 
des  Eigenthümers  reicht;  dass  das  ökonomische  Bedürfnis  die  Grundlage  des  Privat- 
eigenthums  sei. 

Nach  dieser  hastigen  Skizze  genügt  es  auf  den  Schluss  von  Valenti's  Buch  zu 
verweisen,  welcher  die  Ergebnisse  desselben  recht  gut  zusammenfasst.  Wir  unserer- 
seits möchten  den  Wunsch  aussprechen,  dass  auch  andere  ältere  Nationalökonomen  Italiens, 
insbesondere  aber  Giammaria  Ortes  einen  so  gewissenhaften  und  liebevollen  Bearbeiter 
finden  möchten,  wie  ihn  Romagnosi  in  Valenti  gefunden  hat. 

Schullern, 


Literaturbericht.  375 

Emanuel  Herrmanu,  Miniaturbilder  aus  dem  Gebiete  der  Wirtschaft,  wohlfeile 
Ausgabe,  Halle  a.  S.  Nebert  1891. 

Das  vorliegende  Werk  des  in  weitesten  Kreisen  als  Erfinder  der  Correspondenz- 
karte  bekannten  Gelehrten  ist  zum  erstenmale  im  Jahre  1872,  dann  in  zweiter  Auflage 
im  Jahre  1876  erschienen.  Die  neueste  Auflage  dürfte  wegen  ihrer  Billigkeit  geeignet 
sein,  dem  Buche  noch  grössere  Verbreitung,  als  es  ohnehin  schon  besass,  zu  verschaffen; 
leider  muss  man  gar  viele  Druckfehler  mit  in  den  Kauf  nehmen. 

Der  Inhalt  des  Werkes  zeigt  für  die  Vorliebe  des  Autors  für  und  seine  Gewandt- 
heit in  der  Kleinmalerei,  für  eine  scharfe  Beobachtungsgabe  und  hervorragende  Kunst  der 
Darstellung;  er  ist  unzweifelhaft  geeignet,  mehrfache  Kenntnisse  in  weitesten  Kreisen 
in  der  einfachsten  und  anregendsten  Form  zu  verbreiten.  Die  Capitel  über  das 
Thünen'sche  Gesetz  und  über  die  Correspondenzkarte  sind  besonders  anregend,  das 
Capitel  über  die  Launen  der  Pracht  bietet  eine  grosse  Menge  interessanter  Daten.  Das 
Buch  ist  natürlich  für  das  grosse  Publicum  bestimmt;  möge  es  bei  demselben  freundliche 
Aufnahme  finden.  r  Schullern. 


ZEITSCHßlFTE^s-ÜBERSICHT. 


Jahrbucher  für  Nationalökonomie  und  Statistik,  hgg.  v.  J.  Conrad,  L.  Elster,  E.  Loening 
W.  Lexis:  III.  F.  III.  B.  II.  Heft. 

Loefiing'.  Die  Landgemeinden  und  Gutsbezirke  in  den  östlichen  Provinzen  Preussens.  —  Lindsay  : 
Silberfrage  in  den  Vereinigten  Staaten  Nordamerikas.  —  Loening:  Novelle  zum  preussischen  Armengesetz. — 
van  der  Borgkt;  Urtheile  der  deutschen  Handelskammern  über  die  Novelle  zur  Gewerbeordnung.  —  Zunahme 
der  Bevölkerung  in  den  hauptsächl.  Culturstaaten.  —  Hirscheyg:  Brotpreise  in  Berlin  1891.  —  Recensionen. 

III.  Heft:  Böhm-Ba'werk:  "Wert,  Kosten,  Grenznutzen.  —  Conrad:  Verleihung  der  Corporations- 
rechte.  —  W irminghatts :  Statistik  der  Krankenversicherung  der  Arbeiter  im  deutschen  Reiche  1889.  — 
Dieztnann :  Der  engl.  Aussenhandel  seit  1880.  —  Flesch :  Arbeiterwohnungsfrage.  Schwankungen  des  Disconts 
und  des  Silberp reises   1891  und  den  Vorjahren.  —  Preisaufgaben  der  Rubenowstiftung.  —  Gesetzgebung.  — 

Viertel.iahresschrift  für  Volkswirtschaft  Politik  und  Cnltnrgeschichte,  hgg  v.  C,  Braun 
XXIX.  Jgg.  I.  Bd.  I.  2.  Heft. 

Lehr:  Durchschnittprofitrate  auf  Grund  des  Marxischen  "Wertgesetzes.  —  Ch.  Meyer:  Handwerk 
und  Arbeit  in  geschichtlicher  Betrachtung.  —  FkUippson:  Volkswirtschaft  seit  Adam  Smith.  —  Correspondenz, 
Bücherschau. 

Journal  des  Economistes.  Redacteur  en  chef:  M.  G.  de  MoUnari.  Librairie  Guillaumin  et  Cie., 
rue  Richelieu,  14.  Paris.  51e  annee.  —  36  fr.  par  an  pour  la  France,  38  fr.  pour  les  pays  compris  dans 
rUnion  postale,  Prix  du  numero :  3  fr.  ,50. 

Sommaire  du  numc^ro  de  fevrier  1892;  La  participation  aux  benefices,  Examen  critique  d'une 
proposition  de  loi.  —  Les  marines  marchandes  et  la  protection.  —  Deux  reformes  ä  introduire  dans  le 
regime  fiscal  des  successions.  —  Le  movxvement  agricole.  —  Revue  critique  des  publications  economiques 
en  langue  fran^aise.  —  La  Compagnie  roj-ale  des  chemins  de  fer  portugais.  —  Le  commerce  et  l'industrie 
de  la  Suisse.  —  Logique  protectionniste.  —  Necrologie :  Henri  Baudrillart.  —  Bulletin.  —  Societe  d'öconomie 
politique  (reunion  du  5  fevrier  1892).  —  Comptes  rendus.  —  Chronique  economique.  —  Necrologie  de 
Tannee  1891. 

Sommaire  du  numero  de  mars  1892 :  La  pacification  des  rapports  du  capital  et  du  travail.  — 
Mouvement  scientifique  et  industriel.  —  Revue  de  l'Academie  des  sciences  morales  et  politiques  (du 
1  decembre  1891  au  15  fevrier  1892).  —  L'incidence  des  droits  protecteurs.  —  Les  houilleres  dn  Nord  et  du 
Pas-de-Calais.  —  Souvenirs  de  France:  Lettres  in(5dites  d'un  magistrat  etranger.  —  Lettre  d'Italie.  — Lettre 
d'Autriche-Hongrie.  —  Bulletin.  —  Societe  d'economie  politique  (seance  du  5  mars  1892).  —  Societe 
d'economie  politique  de  Belgique  (s<5ance  du  21  fevrier  1892).  —  Comptes  rendus.  —  Notices  bibliographiques. 

—  Chronique, 

Sommaire  du  numero  d'avril  1892:  La  concurrence  entre  les  Compagnies  d'assurances  sur  la  vie 
americaines  et  les  Compagnies  fran^aises.  —  L'impot  sur  les  transactions  de  Bourse  en  Antriebe.  —  Revue 
des  principales  publications  economiques  de  l'etranger.  —  Le  monde  de  la  finance  au  XVIIe  siecle.  — 
Lettre  du  Canada.  —  Bulletin.  —  Necrologie.  —  Societe  d'economie  politique  (seance  du  5  avril  1892).  — 
Comptes  rendus.  —  Notices  bibliographiques.  —  Chronique  economique. 

Berue  d'Economie  Politique,  hgg.  \.P.  Canwes,  Ch.  Gide,  E.  Schwiedland  ■o.nü  E.  Villey.  Monatlich 
7  bis  8  Bogen,  gr.  S».   Preis  jährlich  21  Francs.  Paris,  Larose  &  Forcel,  editeurs. 

Feberheft:  A.  Peez:  A  propos  des  traites  de  commerce  entre  TAllemagne,  l'Autriche-Hongrie  et 
ritalie.  —  y.  Jeans:  Effets  de  la  legislation  sur  les  fabriques  en  Angleterre  (suite  et  fin.)  —  Ch,  Ai enger: 
La  monnaie  mesure  de  valeur.  —  L.  Brentano :  Origine  et  abolition  des  droits  sur  les  cereales  en  Angleterre. 

—  E.    Villey:  Chronique  legislative.  —  Buchanzeigen  von  Mataja.   Gide,   Conigliani,  u.  A. 

Märzheft:  H.  St.  Marc,  ;Etude  sur  l'enseignement  de  l'economie  politique  dans  les  universit«53 
d'Allemagne  et  d' Antriebe.  —  V,  Mataya:  Les  projets  de  loi  francais  et  italien  concemant  l'arbitrage 
et    les    conseils    de    prud'hommes.    —    L.    GroLund:    Le    socialisme    comme    probleme   moral    et    national. 

—  Ed.  Fitster:  Assistance  privee  et  socialisme  d'Etat;  la  mendicite  et  Tassistance  par  le  travail  en  Allemagne.  — 
H.  Herktier:  La  vie  des  ouvriers  de  fabriques  dans  le  Grande  Duche  de  Bade.  —  Ch.  Gide:  Chronique 
economique.  —  Edm.  Villey:  Chronique  legislative.  —  Buchbesprechungen  von  R.  de  St.  Andre,  Mataja, 
Lallt ent,   Ocza/>owski  und  Gide. 

The  economic  Journal,  edited  by  F.  V.  Edgeworth,  Vol.  IL,  No.  5,  March  1892. 

Ciinnlnzham  :  Relativity  of  economic  doctrine.  —  Frice:  Notes  on  a  recent  economic  treatise.  — 
Cicnynghanie :  Geometrical  methods  of  treating  exchange-value,  monopoly  and  rent.  —  Cannnn:  The  origin 
of  the  law  of  diminishing  returns.  —  Jenks:  Trust  in  the  United  States.' —  Champion:  Origin  of  the  8  hours 
System  at  the  antipodes.  —  Ellis:  Influence  of  opinion  on  markets.  —  Reviews.   — ■  Notes   and   Memoranda. 

Annais  of  the  American  Acadeniy  of  pol.  and  soc.  science,  Vol.  II.  No.  5,  March  189^,  edited  by 
E.    y,   James,  Falkner,  Robinson. 

Garmo:  Ethical  training  in  the  public  Schools.  —  Wieser:  Theory  of  Value.  —  Lowrey:  Basis  of 
Jnterest.   —  Richardsom  Party  government  II.  —  Personal  notes,  Book  reviews,  notes,  Miscellany. 

Quarferly   Journal   of  Economics,  Harvard  University  Boston.  Vol.  VI.  No.  3,  April  1892. 

Cnm7nines:  University  Settlements.  Haivley :  Fundamental  Error  of  Kapital  and  Kapitalzins.  — 
Dnnhar:  Bank  of  Venice.  —  Notes  and  Memoranda. 

Political  Science  Qiiarterly,   Columbia  College-,  Vol.  VII.  No.  1,  March  1892. 

Moore:  Asylum  in  legations  and  in  Vessels  I.  —  Schwah :  Finances  of  the  Confederacy.  —  Dunning: 
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?iiartcrly  Publications  of  the  American  Statistical  Association  II.  Vol.  New  S.  No.  16,  Dec.  1891. 
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Glornale  defli  Economisti.  Direzione:    Vitl  de  Marco,  Mazzola,  Patttaleoni,  Zorli.  1892. 

Febbrajo:  X.  La  situazione  del  mercato  monetario.  —  Sartori:  Prime  linee  di  una  tooria  generale 
dell'  As.sicurazione.  —  Viti  de  Marco:  Nuova  tarifa  doganale  Italiana.  —  Benini  E.i  II  totalizzatoie  applicato 
agli  indici  del  movimento  economic©.  —  Note,  Previdenza,  Bibliografia,  Cronaca. 

Marzo  1892:  X.  La  situazione  del  mercato  monetario.  —  Fareio:  Teoria  dei  prezzi  dei  Signori 
Auspitz  e  Lieben  e  le  osservazioni  del  prof.  "Walras.  —  Virgilii:  II  problema  dolla  popolazione,  critica  dei 
sistemi.  Salvioni:  La  „Clearing  House"  po.stale.  —  Nota,  Cronaca,  Supplemento :  Bertolini:  Saggio  di 
bibliografia  economica  Ttaliana. 

Aprile  1892:  X.  La  situazione  del  mercato  monetario.  —  Bertolini  e  Pantaleoni:  Cenni  sul  concetto 
di  massimi  edonistici  individuali  e  collettivi.  —  Fisani:  Bilancio  dello  stato.  —  Martello'.  Le  razze  umane 
e  le  unioni  eugene.siche  —  Nota,  Previdenza,  Cronaca.  —  Allmonatlich  ein  Supplement :  Giornale  delle  Camere 
di  Commercio  e  degli  Istituti  di  Credito. 


DIE  EEFOEM  DER  DIRECTEN  PERSONALSTEÜEEN 

IN  ÖSTERREICH. 


VON 


PROF.  DR.  VICTOR  MATAJA  (I^^NSBRCCK). 


I. 

Der  dem  Abgeorclnetenhaiise  am  19.  Februar  1892  durch  Finanz- 
minister Dr.  Steinbach  vorgelegte  Gesetzentwurf  über  die  directen  Personal- 
steuern verfolgt  den  Zweck,  an  die  Stelle  der  veralteten  Erwerb-  und  Ein- 
kommensteuer eine  neue,  den  heutigen  Ansprüchen  genügende  Besteuerungsart 
zu  setzen. 

Die  neuen,  für  den  Platz  der  alten  Steuern  bestimmten  Abgaben 
gliedern  sich  in  eine  allgemeine  Erwerbsteuer,  eine  Erwerbsteuer  von  den 
der  öffentlichen  Eechnungslegung  unterworfenen  Unternehmungen,  eine 
Besoldungs-  und  eine  Kentensteuer;  diesen  Ertragssteuern  schliesst  sich 
sodann  als  eine  neue  Einführung  die  allgemeine  Personaleinkommensteuer  an. 

Die  projectierte  Steuerreform  ist  aber  nichts  weniger  als  ein  blosses 
Flicken  oder  Ausbessern  der  heutigen  Einrichtungen,  sie  ist  eine  vollkommene 
Umwälzung  derselben,  und  zwar  eine  Umwälzung  in  mehrfachem  Sinne.  Sie 
bedeutet  nicht  bloss  zumeist  eine  einschneidende  Veränderung  von  Steuerfuss, 
Bemessungsgrundlage  imd  sonstigen  Einzelheiten,  welche  für  die  Resultate 
der  Besteuerung  von  Wichtigkeit  sind,  sondern  sucht  einen  neuen  Geist  in 
das  Gebiet,  in  alle  Theile,  welche  mit  demselben  in  Berührung  kommen, 
hineinzubringen.  An  die  Stelle  des  heutigen  verknöcherten  einseitig  bureau- 
kratischen  Steuerverfahrens  soll  ein  solches  mit  freierem  Zuge,  mit  aus- 
gedehnter Mitwirkung  der  Steuerpflichtigen  selbst  treten,  an  die  Stelle  des 
Wustes  von  alten  Gesetzen,  Verordnungen,  Erlässen,  Nachträgen,  Nachträgen 
zu  den  Nachträgen  mit  ihren  Unklarheiten  und  Un Verständlichkeiten  ein 
einziges  übersichtliches  Gesetz;  das  fiscalische  Interesse  weicht  zurück  vor 
dem  Bestreben  eine  gerechte  und  darum  erträgliche  Steuer  zu  schaffen  und 
den  schonungsbedürftigen  Elementen  eine  Erleichterung  zu  gewähren;  das 
Publicum,  welches  heute  mit  berechtigtem  Misstrauen  gegen  das  Steuer- 
wesen   erfüllt    und    dem    nicht    zu    verargen    ist,    wenn    es    jedes    wahre 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  III.  Heft.  25 


378  -^Jataja. 

Wort  vor  der  Steuerbehörde  scheut,  soll  zur  Aufrichtigkeit,  zur  Hingebung 
an  die  nun  einmal  unvermeidlichen  staatsbürgerlichen  Pflichten  erzogen 
werden.  Selbst  über  das  Gebiet  der  staatlichen  Besteuerung  greift  der 
ßeformentwurf  hinaus  und  legt  den  ersten  Stein  für  den  Umbau  der 
Besteuerung  der  Selbstverwaltungskörper. 

An  dem  Eeformproject  ist  aber  nicht  allein  der  gute  Wille  zu  preisen. 
An  seiner  Ausarbeitung  haben  in  verdienstlichster  Weise  praktische  Erfahrung 
und  wissenschaftliche  Theorie  mitgewirkt,  man  hat  in  gründlicher  Weise 
die  ausländischen  Vorbilder  und  die  früheren  heimischen  legislativen 
Arbeiten  benützt  und,  wo  nöthig,  originell  ausgestaltet  und  ergänzt.  Darüber 
kann  wohl  nur  eine  Stimme  herrschen.  Das  grosse  Unternehmen  der 
Steuerreform  kann  sich  auf  ein  Fundament  der  solidesten  Art  stützen. 

Zweck  der  nachfolgenden  Ausführungen  ist  nicht,  den  Entwurf  allen 
seinen  Principien  und  Einzelheiten  nach  darzustellen  oder  zu  kritisieren. 
Ich  glaube  meine  Wertschätzung  des  Werkes  nicht  besser  an  den  Tag  legen 
zu  können,  als  indem  ich  freimüthig  vor  allem  jene  Punkte,  sei  es  von 
grösserer,  sei  es  von  vergleichsweise  nebensächlicher  Bedeutung,  zur  Sprache 
bringe,  wo  ich  eine  abweichende  Ansicht  zu  vertreten  habe,  und  damit, 
soweit  dies  in  meinen  Kräften  steht,  an  der  Klarstellung  der  Sachlage 
mitarbeite.  Die  Principien  und  Ziele  des  Entwurfes  erhellen  aus  dem 
Gesetzestexte  und  der  im  allgemeinen  Theile  ausführlichen  Begründung 
mit  genügender  Deutlichkeit  und  bedürfen  fremder  Befürwortung  nicht. 

IL 

Wesentlich  erleichtert  wird  die  Eeform  dadurch,  dass  sie  keine  eigent- 
lichen flscalischen  Zwecke  verfolgt.  Dies  prägt  sich  bekanntlich  darin  aus, 
dass  die  allgemeine  Erwerbsteuer  nach  der  bisherigen  Steuerleistung  der 
unter  dieselbe  fallenden  Erwerbszweige  (zuzüglich  des  erfahrungsgemässen 
Zuwachspercentes)  contingentiert  wird,  der  Gesaramtmehrertrag  der  directen 
Personalsteuern  gegenüber  dem  gegenwärtigen  Ertrag  der  zur  Abschaffung 
gelangenden  Erwerb-  und  Einkommensteuer  (unter  Bedachtnahme  auf  die 
erhöhten  Veranlagungskosten  und  die  erfahrungsgemässe  Steigerung  der  Steuern 
sowie  auf  den  eventuellen  Antheil  der  Länder  im  Sinne  des  §  271)  zunächst 
zu  Nachlässen  an  bestimmten  anderen  Steuern,  sodann,  wenn  die  Resultate 
der  neuen  Besteuerung  geklärt  sind,  zur  definitiven  Herabsetzung  dieser 
Steuern  verwendet  werden  soll. 

Zur  Theilnahme  an  den  Nachlässen,  beziehungsweise  der  späteren 
definitiven  Herabsetzung  sind  bestimmt  die  Grundsteuer,  die  Hausclassen- 
steuer,  die  Hauszinssteuer,  die  allgemeine  Erwerbsteuer.  Die  Art  und 
Weise,  wie  die  zu  Nachlasszwecken  verfügbare  Summe  vertheilt  werden 
soll,  ist  so  sinnreich  und  zweckmässig  combiniert  (s.  darüber  Motiven- 
bericht S.  35—45),  dass  hierüber  billiger  Weise  lebhafte  Anerkennung 
herrschen  muss.  Da  die  Einkommensteuer,  welche  die  Ueberschüsse  liefert, 
progressiv  veranlagt  ist,  während  die  Ertragsteuern  im  Wesentlichen  den 
Ertrag  ohne  Abzug  der  Passivzinsen  proportional  besteuern  und  gemäss  den 


Die  Reform  der  directen  Personalsteuern  in  Oesterreich.  379 

Ergebnissen  der  Einkommensteuer  eine  Herabsetzung  des  Steuerfusses 
erfahren,  so  ist  es  klar,  dass  die  kleinen  und  verschuldeten  Steuerträger 
zwar  gleichmässig  an  der  Entlastung,  aber  nicht  gleiclimässig  an  der  Auf- 
bringung der  für  dieselbe  erforderlichen  Mittel  Antheil  haben,  was  ein  sehr 
erfreuliches  Resultat  ergibt. 

Eine  hervorstechende  Eigenthümlichkeit  im  Entwürfe  ist  ferner,  dass 
er  überall  dort,  wo  eine  ausreichende  Controle  über  die  wirkliche  Höhe  der 
zu  besteuernden  Summe  nicht  gut  möglich  ist  und  eine  aufrichtige  Mit- 
wirkung der  Steuerpflichtigen  besondere  Bedeutung  besitzt,  den  Steuerfuss 
sehr  massig  ansetzt.  Dies  gilt  von  der  Rentensteuer,  welche,  soweit  es  sich 
nicht  um  die  Zinsen  aus  öffentlichen  Anlehen  handelt  (§  166,  lit.  a,)  nur 
zwei  Procent  der  steuerpflichtigen  Bezüge  beträgt,  es  gilt  aber  auch  von 
der  Einkommensteuer,  die  mit  dem  Steuerfuss  von  0'6  Proc.  beginnt,  mit 
der  Höhe  des  Einkommens  allmählich  zunimmt,  erst  bei  einem  Einkommen 
von  10.000  fl.  den  Satz  von  3  Proc.  erreicht  und  endlich  bei  den  Ein- 
kommen von  100.000  fl.  und  darüber  mit  dem  Satze  von  4  Proc.  ihren 
Abschluss  findet.  Von  dem  Personal-Einkommensteuer-Erträgnisse  wird 
übrigens  gemäss  §  271  eine  zwanzigprocentige  Quote  jenen  Ländern 
zugesichert,  in  welchen  vermittelst  der  Landesgesetzgebung  die  Freiheit  der 
Einkommensteuer  von  Zuschlägen  der  Communalverbände  ausgesprochen  wird.^) 

Diese  Verschiedenheit  der  Steuersätze,  welche  sich  sonach  ergibt: 
eine  Besoldungssteuer  von  1 — 10  Proc.  (§  136),  eine  Rentensteuer  von 
10  Pro  Cent  als  Ausnahme  —  übrigens  fraglicher  Bedeutung  wie  Coupons- 
steuern überhaupt  —  und  von  2  Proc.  als  Regel,  eine  Gewerbesteuer 
—  VI.  Abthlg.  —  von  1 — 6  Proc.  (bezhw.  etwas  darunter:  Motive  S.  30) 
ist  natürlich  sehr  misslich.  Es  ist  freilich  nur  zu  billigen,  dass  man 
dort  lieber  einen  niedrigen  nominellen  Steuerfuss  ansetzt,  wo  man 
voraussichtlich  nicht  imstande  wäre  einen  höheren  durchzuführen.  Misslich 
ist  es  aber  doch,  dass  offen  gesagt  werden  muss,  die  Einnahmen  der 
Staatsbürger  werden  gewissermaassen  um  so  stärker  durch  die  Steuer  getroffen, 
je  grösser  an  ihnen  der  Antheil  des  Arbeitseinkommens  ist.  Es  zeigt  dies, 
dass  die  directe  Besteuerung  in  der  That  auf  einen  kritischen  Wendepunkt 
gekommen  ist.  Wir  wollen  uns  hier,  jedoch  in  keine  Speculationen  über 
die  Zukunft  einlassen,  sondern  uns  der  heute  für  Oesterreich  allein  praktischen 
Aufgabe  zuwenden,  das  ist  der  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  am  meisten 
entsprechenden  Gestaltung  der  Steuerreform. 

HL 

Die  allgemeine   Erwerbsteuer. 

Die  heute  in  Kraft  stehende  Besteuerung  der  gewerblichen  Unter- 
nehmungen beruht  auf  einer  Combination  der  Steuerleistung  nach  einem 
Tarife  und  einer  Percentualbesteuerung  des  Reinertrages. 


')  Mi  schier    äussert    (im  Handelsmus eura,  Mai  1892)  Bedenken   über  die   Wirk- 
samkeit des  §  271. 

25* 


380  Mataja. 

Der  Erwerbsteuertarif  ist  äusserst  mangelhaft  construiert  und  im  Laufe 
der  Zeiten  vollkommen  unzulänglich  geworden;  für  die  ganz  grossen  lucrativen 
Unternehmungen  spielt  der  Tarif  praktisch  genommen  keine  EoUe  (Maxi- 
malsatz 1575  Gulden  und  100  Proc.  Zuschlag),  für  die  kleinen  und  kleinsten 
Unternehmungen  wird  er  unter  umständen  sehr  drückend.  Die  sogenannte 
Einkommensteuer  wird  daneben  mit  5  Proc.  des  Reinertrages  und  einem 
Zuschlage  von  100  oder  70  Proc.  dieses  fünfpercentigen  Ordinariums 
erhoben,  je  nachdem  dasselbe  einschliesslich  des  Erwerbsteuerordinariums 
mehr  als  dreissig  Gulden  beträgt  oder  nicht.  Mag  der  Ertrag  jedoch  noch 
so  gering  sein  oder  gar  negativ  ausfallen,  so  gilt  doch,  dass  die  Einkommen- 
steuer, von  welcher  die  Erwerbsteuer  in  Abzug  zu  bringen  ist,  nicht  geringer 
angesetzt  wird,  als  nöthig,  um  die  Erwerbsteuer  um  ein  Drittel  zu  über- 
ragen. Jedenfalls  muss  daher  gezahlt  werden  der  dem  betreffenden  Unter- 
nehmen zuerkannte  Erwerbsteuersatz  sammt  einer  Einkommensteuer  im 
Betrage  eines  Drittels  desselben;  je  nach  dem  Reinertrag  des  Unternehmens 
kann  sich  dann  auch  noch  eine  höhere  Einkommensteuer  ergeben.  Bei 
ganz  grossen  lucrativen  Unternehmungen  verschwindet  dann  die  Erwerbsteuer 
gänzlich  hinter  der  Einkommensteuer,  da  für  solche  angesichts  der  geringen 
Maximalhöhe  der  Erwerbsteuersätze  auch  die  Bestimmung  über  das  Mindest- 
maass  der  Einkommensteuer  nichts  Bedrohliches  an  sich  hat:  sie  wendet 
sich  namentlich  gegen  die  kleinen  und  kleinsten  Unternehmungen.  Die 
Höhe  des  Einkommensteuerfusses  sowie  die  Art  und  Weise  der  Berechnung 
des  der  Besteuerung  zu  unterziehenden  Ertrages  geben,  abgesehen  von  den 
sehr  oft  berechtigten  Klagen  über  den  Bemessungsvorgang  der  Steuer- 
behörden, zu  den  begründetsten  Bedenken  Anlass.  Die  Motive  zum  neuen 
Entwurf  sagen  diessbezügiich:  ^Ursprünglich  mit  5  Procent  festgesetzt, 
stieg  er  (der  Steuerfuss)  infolge  des  Hinzutreten s  von  Staatszuschlägen 
andauernd  für  die  niedrigste  Kategorie  der  Steuerträger  auf  8V2,  ftir  alle 
übrigen  auf  10  Proc.  wobei  die  Zuschläge,  die  zu  Gunsten  der  autonomen 
Verwaltung  für  Land.  Bezirk  und  Gemeinde  erhoben  und  die  oft  eine  sehr 
ansehnliche  Höhe  erreichen,  noch  nicht  gerechnet  sind.  Jener  an  sich  hohe 
Steuerfuss  erfährt  aber  ferner  für  viele  Steuerpflichtige  noch  eine  weitere 
empfindliche  Erhöhung  dadurch,  dass  er  nicht  vom  wahren  Reineinkommen 
des  Steuerpflichtigen,  sondern  von  einer  Grösse  zu  entrichten  ist,  die  für 
ihn  mehr  den  Charakter  eines  Roheinkommens  hat,  indem  kraft  gewisser 
Detailbestimmungen  des  Gesetzes  zum  Beispiel  die  Zinsen  für  geliehene 
fremde  Capitalien  oder  die  üblichen  Abschreibungen  für  Abnützung  des 
stehenden  Capitals  u.  dgl.  von  den  steuerpflichtigen  Betriebseinnahmen  nicht 
in  Abzug  gebracht  werden  dürfen.  Es  lässt  sich  leicht  ennessen.  dass 
zufolge  dieser  Bestimmungen  die  Steuer  bei  Steuerpflichtigen,  die  viel 
fremdes  Capital  investiert  haben,  oder  mit  einem  einer  starken  Abnützung 
unterliegenden  Inventar  arbeiten,  bei  buchstäblicher  Erfüllung  des  Gesetzes 
unter  Umständen  30,  40  oder  selbst  noch  mehr  Procente  ihres  wahren 
Reineinkommens  absorbieren  konnte."   (S.  12.) 

Die  Reform  ist  nun  in  der  Regierungsvorlage  geplant  wie  folgt. 


Die  Reform  der  directen  Personalsteiiern  in  Oesterreioli.  381 

Von  der  „allgemeinen  Erwerbsteuer"  werden  (wenn  wir  von  vergleichs- 
weise nebensächlichen  Veränderungen  des  Geltungsbereiches  im  Vergleiche 
zur  heutigen  Erwerbsteuer  absehen)  ausgeschieden  die  zur  öffentlichen 
Eechnungslegung  verpflichteten  Unternehmungen.  Ihr  Betrag  wird  sodann 
contigentiert.  Das  Gesammtcontingent  des  Eeiches,  die  sog.  Erwerb- 
steuerhauptsumme (über  deren  Höhe,  die  zunächst  dem  gegenwärtigen 
Steuerertrag  und  dessen  erfahrungsgemässem  Wachsen  angepasst  ist,  §  11 
handelt)  wird  in  Bezirkscontingente  für  die  einzelnen  Veranlagungs- 
bezirke (die  politischen  Bezirke  sowie  die  Städte  Wien,  Prag,  Graz  etc.) 
aufgetbeilt.  In  den  Steuerjahren  1894  und  1895  hat  jeder  Veranlagungs- 
bezirk einen  Betrag  aufzubringen,  welcher  um  2*4  Proc.  höher  ist  als  die 
laufende  Jahresschuldigkeit  1893  an  Erwerb-  und  Einkommensteuer  der 
dem  neuen  Gesetz  unterliegenden  Beschäftigungszweige;  die  Contingente 
werden  verhältnismässig  gekürzt,  je  nachdem  aus  dem  Ertrag  der  Einkommen- 
steuer Beträge  für  Nachlasszwecke  resultieren.  Ausser  jenen  Aenderungen, 
die  sich  als  als  selbstverständliche  Folge  der  Modificationen  an  den 
Bestimmungen  über  den  Ort  der  Steuervorschreibung  im  neuen  Gesetz 
ergeben,  kann  dann  noch  eine  sog.  Contingentscommission  eine  Ver- 
schiebung in  den  Bezirkscontingenten  vornehmen.  Für  die  folgenden 
Veranhigungsperioden  ist  die  jeweilige  Erwevbsteuerhauptsumme  vorbehaltlich 
der  Befugnisse  der  Contingentscommission  jedesmal  nach  demjenigen  Ver- 
hältnisse aufzutheilen,  welches  in  der  letztvorangegangenen  Veranlagungs- 
periode zwischen  den  einzelnen  Bezirkscontingenten  bestanden  hatte  (§  56 — 63). 
In  den  einzelnen  Bezirken  besorgen  dann  mit  freiester  Bewegung  ausgestattete 
sog.  Erwerbsteuercommissionen  mit  theils  ernannten,  theils  durch  die 
Interessentenkreise  gewählten  Mitgliedern  die  Veranlagung  der  Erwerbsteuer 
an  der  Hand  eines  sehr  dehnbaren  Tarifes:  überragt  die  Summe  der 
zuerkannten  Steuersätze  das  Contingent  des  Bezirkes,  so  werden  diese 
entsprechend  percentuell  gekürzt,  und  umgekehrt.  (§§  13  fg.,  58.) 

Auf  diese  Weise  will  man  erreichen,  dass  einerseits  die  mit  den 
Verhältnissen  im  Bezirk  vertrauten  Steuerpflichtigen  selbst  werkthätig  an 
der  Steuerveranlagung  mitwirken  und  andererseits  weder  besondere  Milde 
noch  besondere  Strenge  einzelner  Commissionen  zu  üngleichmässigkeiten  in 
der  Besteuerung  führe,  weil  erstere  nur  die  Folge  hätte,  dass  keine  Steuer- 
nachlässe eintreten,  beziehungsweise  sogar  Erhöhungen  stattfinden  müssen, 
letztere  nur  zu  grossen  Abschreibungen  Anlass  geben  würde.  Der  Kampf 
zwischen  Steuerbehörde  und  Steuerpflichtigen  um  den  Steuersatz  wird 
gewissermaassen  beseitigt  und  die  Steuerveranlagung  zu  einer  internen 
Angelegenheit  der  Steuerpflichtigen  gemacht,  deren  Austragung  den  Fiscus 
nicht  unmittelbar  interessiert.  Ich  begrüsse  diese  Methode  der  Veranlagung 
aufs  freudigste:  sie  scheint  mir  nicht  nur  an  sich  sehr  zweckmässig  und 
scharfsinnig  gewählt  zu  sein,  sondern  auch  geeignet,  gerade  an  den  in 
Oesterreich  herrschenden  Uebelständen  —  jenem  Antagonismus  zwischen 
Steuerbehörde  und  Steuerzahler  und  jener  weitverbreiteten  hochgradigen 
Erbitterung  in  den  Kreisen  der  Bevölkerung  —  bessernde  Hand  anzulegen 


382  Mataja. 

und  eine  den  neuzeitlichen  Verhältnissen  entsprechende  würdigere  Stellung 
der  Steuerzahler  im  Besteuerungsverfahren  herbeizuführen,  als  beim  gegen- 
wärtigen bureaukra tischen  Eegimente. 

Bei  aller  Anerkennung  der  Grundgedanken  der  Vorlage  als  einer  hoch- 
bedeutsamen Neuerung  kann  ich  jedoch  Bedenken  gegen  mehrere  Einzel- 
heiten der  geplanten  Reform  nicht  unterdrücken. 

Die  Verhältnismässigkeit  oder  Gleichmässigkeit  der  Besteuerung  ist 
offenbar  an  folgende  Voraussetzungen  gebunden:  an  die  richtige  Bestimmung 
der  Bezirkscontingente,  an  die  richtige  Gestaltung  des  Tarifes.  an  das  richtige 
Functionieren  des  Einschätzungsverfahrens;  ich  glaube  nun,  dass  an  den 
bezüglichen  Bestimmungen  Mancherlei  geeignet  ist  Widerspruch  zu  erregen. 
Im  Folgenden  soll  versucht  werden  dieses  zu  begründen. 

a)  Die  Bestimmung  der  Bezirkscontingente. 

Die  Grundlage  für  die  Auftheilung  der  Erwerbsteuerhauptsumme 
bildet,  wie  schon  gesagt,  die  bisherige  Steuerleistung  der  einzelnen  Veran- 
lagungsbezirke; es  wird  wohl  lange  Zeit  brauchen,  bis  die  durch  Beschlüsse 
der  Contingentscommission  (welche  übrigens  zum  Theil  nur  unter  erschwe- 
renden Voraussetzungen  zustande  kommen  können,  s.  §§  62.  63)  erfolgten 
Aenderungen  im  Vertheilungsschlüssel  den  Einfluss  des  ursprünglichen 
Maassstabes  wesentlich  verwischt  haben  werden. 

Leider  ist  diese  Grundlage  bei  der  Unvollkommenheit  der  gegen- 
wärtigen Besteuerung  eine  äusserst  mangelhafte,  da  die  üngleichmässigkeit 
der  letzteren  eine  von  Niemand  geleugnete  Thatsache  ist  und  die  Annahme 
mir  illusorisch  zu  sein  scheint,  die  Belastung  der  einzelnen  Bezirke  im 
Vergleiche  mit  einander  stelle  sich  viel  gieichmässiger  als  die  der  Personen, 
weil  sich  in  allen  Fälle  der  zu  niedrigen  Steuerleistung  compensieren  mit 
Fällen  zu  hoher  Belastung.  Eine  Besteuerungsart  wie  die  gegenwärtige 
lässt  eben  zahlreichen  Zufälligkeiten  Raum  und  es  ist  kein  Grund  vorhanden 
anzunehmen,  dass  sich  diese  Zufälligkeiten  nicht  in  einer  Gruppe  von 
Bezirken  vorwiegend  in  der  einen,  in  einer  zweiten  Gruppe  vorwiegend  in 
der  anderen  Richtung  bewegen.  Sagt  doch  der  Motivenbericht  S.  12  selbst: 
„Thatsache  ist,  dass  die  steuerpflichtige  Bevölkerung  sich  diesen  hohen 
und  mitunter  selbst  harten  Anforderungen  des  Gesetzes  in  weitem  Umfange 
durch  zu  niedrige  Angaben  der  steuerpflichtigen  Gewerbserträgnisse  zu 
entziehen  sucht.  Diese  Bestrebungen  sind  um  so  häufiger  von  Erfolg  begleitet, 
als  das  mit  dem  Einkommensteuerpatente  vom  Jahre  1849  eingeführte 
Besteuerungsverfahren  auch  sonst  wenige  wirksame  Garantien  für  eine 
richtige  Ermittlung  der  Erträgnisse  bietet,  und  als  das  Bewusstsein,  dass 
unter  Umständen  die  buchstäbliche  Erfüllung  des  Gesetzes  dem  Steuer- 
pflichtigen in  der  That  eine  geradezu  unerschwingliche  Last  auferlegen 
würde,  auch  auf  die  Energie  der  mit  der  Controle  der  Bekenntnisse  betrauten 
Organe  lähmend  einwirkt  und  ihnen  vielfach  eine  leicht  begreifliche  Zurück- 
haltung und  Duldung  nahegelegt."  Wo  ist  nun  bewiesen,  dass  diese 
Zurückhaltung   und   Duldung   überall   in    gleichem  Maasse   geübt  wurden? 


Die  Reform  der  directen  Personalsteuern  in  Oesterreich.  383 

Bei  einem  so  arbiträren  Bemessungsverfahren  wie  dem  heutigen  spielt 
notliwendigerweise  die  individuelle  Auffassung  der  einzelnen  Organe  und 
Aemter  eine  grosse  Kolle,  und  dies  selbst  in  sehr  engem  Kreise.  So 
erinnere  ich  mich  beispielsweise  daran,  dass  ein  vermöge  seiner  amtlichen 
Stellung  gut  eingeweihter  Beamter,  mit  dem  ich  über  eine  Wiener  Erwerb- 
steuersache sprach,  sich  zunächst  nach  dem  Standort  des  betreffenden 
Unternehmens  erkundigte  und  nach  erhaltener  Auskunft  bemerkte,  es  werde 
sich  in  dieser  Angelegenheit  nichts  machen  lassen,  da  gerade  die  competente 
Steueradministration  sehr  streng  sei. 

Ferner  möchte  ich  darauf  aufmerksam  machen,  dass  unser  gegen- 
wärtiger Erwerbsteuertarif  mit  seinen  Ortsclassen  (mit  Ausnahme  der  Fabriken 
und  Grosshandlungen)  auf  dem  Principe  aufgebaut  ist,  dass  je  grösser  die 
Gemeinde  des  Standortes  der  Unternehmung,  desto  rentabler  und  leistungs- 
fähiger diese  selbst.  Dieses  Princip  in  dieser  'Allgemeinheit  scheint  mir 
unrichtig.  Es  gibt  in  der  Weltstadt  Wien  eine  Menge  so  dürftiger,  so 
elender  Existenzen  im  Kleingewerbe  und  Handel  wie  nur  in  anderen  Orten, 
und  die  Bestimmung,  dass  die  Minimalsteuerleistung  der  ersteren  höher 
sei  als  die  der  auswärtigen  Standesgenossen  ist  jetzt  eine  Härte  gegen  sie 
selbst,  welche  in  Zukunft,  da  ihre  Steuerleistung  bei  der  Bemessung  der 
Bezirkscontingente  eine  Rolle  spielt,  den  Bezirken  zur  Last  fallen  würde. 
Es  scheint  mir  hier  überhaupt  sich  ein  ähnlicher  Mangel  zu  ergeben,  wie 
bei  unserer  gegenwärtigen  Yerzehrungssteuer.  Die  Aufwandbesteuerung  soll 
natürlich  das  höhere  Einkommen,  die  grössere  Wohlhabenheit  stärkai*  treffen, 
sie  kann  diesen  Zweck  in  entsprechender  Weise  aber  nur  erreichen  durch 
eine  passende  Auswahl  der  Steuerobjecte  und  die  geeignete  Abstufung  der 
Steuersätze  nach  Art,  Qualität  etc.  dieser  Objecte.  Dadurch  jedoch,  dass 
man  einfach  für  ein  Gebiet  höhere  Steuersätze  festsetzt  oder  mehr  Gegenstände 
besteuert,  trifft  man  nicht  etwa  die  in  der  einen  Gegend  herrschende  oder 
vorausgesetzte  grössere  Wohlhabenheit  stärker,  sondern  nur  das  gleiche 
Einkommen  in  verschiedenen  Orten  verschieden.  Wer  z.  B.  in  Prag  ein 
Einkommen  von  400  oder  4000  Gulden  hat,  zahlt  eine  andere  (staatliche) 
Verzehrungssteuer  als  in  einem  Dorfe  ein  Gleichgestellter.  W^arum  der 
Prager  leistungsfähiger  sein  soll,  ist  unerfindlich.  Sind  die  Erwerbs- 
verhältnisse in  der  grossen  Stadt  günstiger  als  in  einem  Dorfe  (man 
denke  aber  auch  an  Eentner,  Pensionisten  etc.,  mit  vom  Wohnsitz  unab- 
hängigem Einkommen),  so  wird  dieser  Umstand  ohnehin  und  mit  Eecht 
durch  grösseren  Consum  steuerpflichtiger  Objecte  zu  einer  höheren  Steuer- 
leistung führen;  reicht  die  Aufwandbesteuerung  nicht  aus  eine  solche 
Verhältnismässigkeit  herbeizuführen,  so  wird  sie  auch  unzulänglich  sein, 
innerhalb  der  Stadt  oder  des  Dorfes  selbst  eine  verhältnismässige  Belastung 
der  verschiedenen  CJassen  zu  bewirken. 

Aehnlich  liegen  die  Dinge  hinsichtlich  der  Erwerbsteuer.  Die  Unter- 
nehmungen sollen  nach  ihrem  Umfang,  bezw.  ihrem  Ertrage  besteuert 
werden.  Das  erreicht  man  aber  schon,  eine  tadellose  gleichmässige  Ein- 
schätzung vorausgesetzt,  durch  einen  für  alle  Orte  gleichen  Tarif;  sind  die 


384  :SMü]a. 

Untern ehmuDgen  in  einem  Orte  einträglicher  als  in  einem  andern,  so  werden 
eben  in  jenem  mehr  höhere  Steuersätze  zur  Anwendung  kommen  als  in  dem 
letzteren.  Vielleicht  empfiehlt  es  sich  sogar,  einen  verschiedenen  Tarif  auf- 
zustellen, ich  werde  selbst  diesbezüglich  unten  eine  Begründung  dafür  vor- 
bringen. Die  Ortsclassen  dürfen  jedoch  nicht  so  construiert  sein,  dass  sie 
schlechtweg  zur  höheren  Besteuerung  der  Unternehmungen  in  einem  Orte 
nöthigen  als  in  einem  andern.  Manches  hat  sich  übrigens  seit  der  Zeit,  wo 
der  Erwerb  Steuertarif  aufgestellt  wurde,  geändert.  Gewiss,  müssen  wir  heute 
sagen,  ist  es,  dass  ein  grosser  Ort  mehr  Spielraum  zur  Entfaltung  für  ein 
gewerbliches  oder  commercielles  Unternehmen  bietet  als  ein  kleiner;  er 
bietet  aber  auch  oft  mehr  Schwierigkeiten.  Der  Kleinhandel  z.  B.  ist  in 
den  grossen  Städten  in  erhöhtem  Maasse  durch  Consumvereine  und  die  rege 
Concurrenz  speculativer  Elemente  bedrängt,  die  Kundschaft  ist  unzuver- 
lässiger, die  Spesen  höher:  ich  bezweifle  ernstlichst,  dass  eine  genaue 
Statistik  über  die  Eentabilität  der  Handelsunternehmungen  in  allen  Zweigen 
zu  Gunsten  der  Grossstädte  ausschlagen  würde.  Ich  bin  nun  ausser  Stande 
zu  beurtheilen,  inwieweit  die  Ortsclassen  des  Erwerbsteuertarifes  thatsächlich 
zu  einer  relativ  höheren  Belastung  der  Unternehmungen  in  grösseren  Ge- 
meinden geführt  haben,  glaube  aber  immerhin,  dass  aus  diesem  Grunde  die 
bisherige  Steuerverfassung  zu  Ungleichmässigkeiten  geführt  hat. 

Ergibt  sich  auch  aus  dem  Dargestellten,  dass  die  Eepartition  der 
Erwerbsteuerhauptsumme  nach  der  bisherigen  Steuerleistung  der  Bezirke 
wesentliche  Mängel  besitzt,  so  scheint  mir  doch  der  in  der  Vorlage  gewählte 
Vertheilungsmaassstab  der  einzig  praktisch  denkbare,  nur  würde  ich  wünschen, 
dass  die  Contingentscommission  eifrig  und  vorurtheilslos  ihres  Amtes  walte. 
In  ihrer  Hand  ist  es  gelegen,  den  gewählten  Eepartitionsschlüssel  erst 
grosser  Unvollkommenheiten  zu  entkleiden.  Sie  wird  eine  umso  aus- 
giebigere Thätigkeit  zu  entfalten  haben,  als  das  neue  Steuergesetz  sich  in 
vielen  wesentlichen  Beziehungen  von  dem  bisherigen  unterscheidet,  so  in 
Ansehung  der  Steuerbefreiungen,  der  Tendenz  zur  Entlastung  der  schwächeren 
Elemente  u.  A.,  und  eben  desshalb  je  nach  den  wirtschaftlichen  Verhält- 
nissen der  einzelnen  Bezirke  auch  aus  diesem  Grunde  eine  weitgehende 
Verschiebung  der  nach  dem  alten  Gesetz  entstandenen  Steuerverpflichtungen 
nothwendig  erscheint.  Jedenfalls  schiene  es  mir  aber  auch  wünschenswert, 
dass  der  allgemeine  Zuschlag  von  2*4  Proc,  welcher  sich  auf  das  Anwachsen 
der  Steuerleistung  im  gesammten  Staate  gründet,  ersetzt  würde  durch  den 
Procentsatz  der  Zunahme  (eventuell  Abnahme!)  in  den  einzelnen  Bezirken, 
da  offenbar  die  gewerbliche  Thätigkeit  in  den  verschiedenen  Gegenden  in 
einer  ungleichmässigen  Entwicklung  begriffen  ist  und  demnach  der  allge- 
meine Durchschnitt  nothwendigerweise  auf  der  einen  Seite  viel  zu  wenig, 
auf  der  anderen  viel  zu  viel  besagt. 

b)  Der  Erwerbsteuertarif. 
Der   Tarif  der  Vorlage   unterscheidet    sich   von    dem    gegenwärtigen 
Erwerbsteuertarif  vor  allem  dadurch,  dass   er  nicht  wie  letzterer  über  die 


Die  Reform  der  directen  Personalsteueni  in  Oesterreich.  385 

absolute  Höhe  der  Steuer  entscheidet,  sondern  nur  die  Verhältniszahlen  für 
die  Auftheilung  des  einem  Bezirke  zuerkannten  Contingentes  auf  die  dort 
ansässigen  Steuerpflichtigen  gibt.  Damit  wird  allerdings  ein  allgemein  bei 
der  Einschätzung  sich  geltend  machender  Fehler  — •  allgemein  zu  weit- 
gehende Strenge  oder  Milde  —  der  eigentlichen  Bedeutung  entkleidet,  wo- 
gegen der  Tarif  von  ungeschmälerter  Wichtigkeit  ist  für  die  Bemessung 
der  individuellen  Steuerschuldigkeiten  im  Verhältnis  zu  einander.  Der  Tarif 
lässt  freilich  dem  Ermessen  der  Einschätzungsorgane  einen  ungemein  grossen 
Spielraum,  der  noch  erweitert  wird  durch  verschiedene  in  das  Gesetz  selbst 
aufgenommene  Bestimmungen  (so  §§31,  32,  33,  38  fg.).  Bei  der  Viel- 
gestaltigkeit der  realen  Verhältnisse  ist  die  Ermöglichung  einer  solcherart 
freieren  Bewegung  bei  der  Einschätzung  eine  glückliche  Maassnahme,  zu 
deren  Begründung  hier  kein  weiteres  Wort  verloren  werden  soll.  Ebenso 
wenig  bedarf  es  wohl  einer  langen  Beweisführung  dafür,  dass  die  vom 
Tarife  gegebenen  Normalsätze  trotz  dieser  Freiheit  der  Steuercommissionen 
eine  grosse  Bedeutung  besitzen  und  für  die  praktische  Handhabung  des 
Gesetzes  von  grösster  Wichtigkeit  sind.  Es  erscheint  sogar  äusserst  anstre- 
benswert,  jene  Normalsätze  möglichst  zutreffend  zu  gestalten,  um  die  Com- 
missionen  möglichst  selten  zur  Anwendung  ausnahmsweiser  Steuersätze  zu 
drängen,  wäre  dies  auch  nur,  um  dem  schon  von  Adam  Smith  mit  Recht 
so  betonten  Erfordernis  der  Bestimmtheit  der  Besteuerung  entgegenzu- 
kommen. Gar  zu  viel  darf  man  sich  übrigens  auch  nicht  auf  das  Walten 
aller  Steuercommissionen  verlassen, 

Damit  der  Tarif  als  gelungen  bezeichnet  werden  könnte,  sollte  er 
offenbar  zweierlei  Anforderungen  genügen:  er  sollte  bei  richtiger,  dem  Geiste 
des  Gesetzes  angepasster  Anwendung  zu  einer  gleichmässigen  Vertheilung 
der  Steuerlast  unter  den  Einzelnen  und  dann  aber  auch  wenigstens  annähernd 
zur  Erhebung  der  gewünschten  Summe  führen.  Constante  bedeutende  Nach- 
lässe oder  Aufschläge  im  Sinne  des  §  58  des  Gesetzentwurfes  würden  zu 
grossen  Unbequemlichkeiten  für  die  Steuerträger  führen  (s.  die  Motive 
S.  110  fg.)  und  auch  die  Erwägung  nahelegen,  dass  der  angelegte  Maass- 
stab allgemein  oder  vorwiegend  zu  gross  oder  zu  klein  war  und  demnach 
zu  Zweifeln  an  der  Richtigkeit  des  Contingentes,  der  Erwerbsteuerhaupt- 
summe selbst  berechtigen.  Denn  die  Angemessenheit  der  letzteren  kann 
doch  wohl  nicht  aus  dem  Umstände,  allein  beurtheilt  werden,  dass  bei  der 
gewählten  Ziffer  der  Staatsschatz  nichts  verliert  und  gewinnt,  sondern  sie 
muss  auch  in  Beziehung  zur  Leistungsfähigkeit  der  Steuerzahler  gesetzt  werden. 

Ueberblickt  man  den  Tarif  im  ganzen,  so  stellt  er  sich  sofort  als  ein 
Erzeugnis  imponierenden  Fleisses  und  Scharfsinnes  dar.  Ob  und  welche 
Einzelheiten  in  den  Steuersätzen  einer  Aenderung  bedürftig  sind  —  in  diese 
Untersuchung  einzugehen  bin  ich  begreiflicher  Weise  ausser  Stande.  Ob 
eben  ein  Steuersatz  von  8 — 32  Kreuzern  für  jeden  Metercentner  des  gewon- 
nenen Products  bei  der  Erdölgewinnung  in  einem  richtigen  Verhältnis  steht 
zu  einem  Satze  von  4 — IG  Kreuzern  für  jeden  Hektoliter  leichteren  Bieres 
bei  einer  grösseren  Bierbrauerei  und  dieser  wiederum  zu  den  5 — 20  Kreuzern, 


386  Mataja. 

welche  auf  je  25  Cubikmeter  Kohlengas  einer  Gasanstalt  entfallen,  und  so  fort 
—  darüber  sollen  mit  den  geschäftlichen  Verhältnissen  Vertraute  urtheilen, 
deren  Einwendungen  dann  der  Verfasser  des  Tarifes  entgegentreten  mag,  da 
zweifellos  jede  einzelne  Position  unter  sorgfältiger  Benützung  der  gemachten 
Erfahrungen  und  genauer  Erwägung  aller  Umstände  entworfen  worden  ist.  Erst 
aus  einem  sozusagen  contradictorischen  Verfahren  kann  sich  Klarheit  ergeben 
und,  wie  mir  scheint,  wird  auch  dann  erst  die  Frage  mit  einiger  Beruhigung 
zu  beantworten  sein,  ob  der  Tarif  eine  an  sich  natürlich  wünschenswerte 
Vereinfachung  verträgt,  ohne  dass  dadurch  die  Eichtigkeit  desselben  leidet. 

Dies  vorangeschickt  möchte  ich  nur  einige  Bemerkungen  vergleichs- 
weise allgemeinen  Charakters  über  den  Tarif  unter  Vermeidung  einer  Kritik 
der  einzelnen  Sätze  desselben  vorbringen. 

Abtheilung  I  des  Tarifes^)  betriift  (nach  §  36)  die  fabriksmässig 
und  die  mechanisch  betriebenen  Productionsgewerbe,  soweit  letztere  nicht 
nach  Ermessen  der  Erwerbsteuercommission  wegen  verhältnismässig  nur 
geringen  Umfanges  der  verwendeten  motorischen  Kräfte  nach  der  IL  Abthei- 
lung des  Tarifes  besteuert  werden,  fernere  einzelne  namentlich  aufgezählte 
Gewerbe  schlechtweg. 

Vor  allem  taucht  da  die  Frage  auf:  welche  Gewerbe  erscheinen  als 
fabriksmässig  betrieben?  Das  Gesetz  (§  36)  verweist  auf  das  Gewerbe- 
recht, wenngleich  anerkannt  wird,  dass  in  der  bisherigen  Gesetzgebung  der 
Begriff  der  Fabrik  nicht  erschöpfend  definiert  sei  (Motive  S.  110). 

Dem  gegenüber  möchte  ich  bemerken,  dass  mir  mit  diesen  Bestim- 
mungen eine  der  vielen  Unklarheiten  des  Gewerberechtes  in  das  Steuerrecht 
hinübergenommen  und  hier  sogar  noch  verstärkt  erscheint.  Mich  auf  meine 
diesbezüglich  wiederholt  vorgebrachten  Ausführungen  berufend  2),  will  ich 

1)  Eine  hervorragende  Kolle  spielt  in  der  I.  Abtheilung  die  Besteuerung  nach 
„Arbeitskräften"  (Betriebskräfte  o.  dgl.  wäre  vielleicht  deutlicher  und  besser,  da  nach 
dem  Sprachgebrauch  zu  den  Arbeitskräften  nur  die  menschlichen  gehören).  Was  als 
Arbeitskraft  anzusehen  ist,  bestimmt  §  37  des  Entwurfes;  über  die  Hilfsarbeiter  handelt 
§  33.  Zu  letzteren  zählen  sowohl  die  in  §  73  der  Gewerbeordnung  genannten  Personen, 
als  auch  die  dort  ausgeschlossenen,  in  Art.  Y.,  lit.  d)  des  Kundmachungspatentes  zur 
Gewerbeordnung  angeführten,  Avelche  Lohnarbeit  der  gemeinsten  Art  (Taglühnerarbeit  etc.) 
verrichten.  Gehören  letztere  aber  hierher,  sind  das  überhaupt  ständige  Hilfskräfte?  Siehe 
über  diese  streitige ,  in  den  Gewerbeinspectorenberichten  wiederholt  berührte  Frage 
Sitzungsberichte  der  Handels-  und  Gewerbekammer  für  Oesterreich  unter  der  Enns,  1887, 
S.  29,  Punkt  39.  Auch  die  Gewerbeinspectorenconferenz  wünschte  schon  einmal  die 
Klarstellung  der  Sache.  (Berichte  über  1887,  S.  31.) 

2)  „Eine  offene  Frage  der  österr.  Gewerbeordnung".  Monatsschrift  Deutsche  Worte 
1886,  und  „Die  österr.  Gewerbeinspection",  Jahrb.  für  Xat.  Oek.  und  Statistik,  N.  F., 
XVIII.  (1889)  S.  266  fg.  —  Vgl.  auch  Leo  Verkauf  in  demselben  Bande  der  Jahr- 
bücher S,  195  fg.,  Schwiedland  in  Schmollers  Jahrb.,  1891.  S.  1252,  Hampke,  der 
Befähigungsnachweis  im  Handwerk  (Jena,  1892)  S,  102  fg.  —  Als  weitere,  in  den  oben 
genannten  Ausführungen  noch  nicht  berücksichtigte  Beispiele  für  die  Charakterisierung 
der  gewerberechtlichen  Praxis  verweise  ich  noch  auf  die  Stellen  in  den  Berichten  der 
Gewerbeinspectoren  über  1888,  S.  119  (ein  grösseres  Dampfsägewerk  kein  fabriksmässig 
betriebenes  Unternehmen!),  S.  848,  349  (womit  insbesondere  die  Bemerkungen  auf  S.  309 
zu  vergleichen  sind),  über  1889,  S.  85,  289,  321,  363,  über  1891,  S.  100. 


Die  Reform  der  directen  Personalsteueni  in  Oesterreich.  387 

liier  nur  anführen,  dass  die  Gewerbe-Ordnung  von  „fabriksmässig  betriebenen 
Unternehmungen"  spricht,  eine  Definition  dieses  Begriffes  in  der  Gesetz- 
gebung aber  nicht  bloss  nicht  erschöpfend,  sondern  gar  nicht  gegeben  ist. 
Die  Grundlage  für  die  Praxis  bildet  noch  immer  der  zur  Durchführung  des 
Gesetzes  vom  15.  März  1883  (YIL  Hauptstück  der  Gewerbe- Ordnung  über 
die  Genossenschaften)  an  die  Statthaltereien  ergangene  Ministerial-Erlass 
vom  18.  Juli  1883,  in  welchem  „empfohlen"  wird,  als  fabriksmässig  betrie- 
bene Unternehmungen  solche  Gewerbsunternehmungen  anzusehen,  in  welchen 
die  Herstellung  oder  Yerarbeitung  von  gewerblichen  Verkehrsgegenständen 
in  geschlossenen  Werkstätten  unter  Betheiligung  einer  gewöhnlich  die  Zahl 
von'  zwanzig  übersteigenden,  ausserhalb  ihrer  Wohnungen  beschäftigten 
Anzahl  von  gewerblichen  Hilfsarbeitern  erfolgt,  wobei  die  Benützung  von 
Maschinen  als  Hilfsmittel  und  die  Anwendung  eines  arbeitsth eiligen  Ver- 
fahrens die  Kegel  bildet,  und  bei  denen  eine  Unterscheidung  von  den  hand- 
werksmässig  betriebenen  Productionsgewerben  auch  durch  die  Persönlichkeit 
des  zwar  das  Unternehmen  leitenden,  jedoch  an  der  manuellen  Arbeits- 
leistung nicht  theilnehmenden  Gewerbsunternehmers,  dann  durch  höhere 
Steuerleistung,  durch  Firmaprotokollierung  u.  dergl.  eintritt.^} 

Ich  habe  gegen  diesen  Erlass  die  Einwendung  erhoben,  dass  er  statt 
„fabriksmässig  betriebene  Unternehmungen'*  zu  definieren,  die  „Fabriken" 
trifft,  dass  dies  aber  zwei  sehr  verschiedene  Dinge  ^)  sind,  dass  damit  in 
bedauerlicher  Weise  die  österreichische  Arbeiterschutzgesetzgebung  (und 
auch  die  Unfallversicherung)  an  ihrem  Geltungsbereiche  verkürzt  wird,  dass 
die  gegebene  Begriffsbestimmung,  selbst  wenn  es  sich  nur  um  „Fabriken'' 
handelte,  auch  dann  noch  für  Oesterreich  zu  hoch  gegriffene  Merkmale  ^), 
sowie  Unklarheiten  enthält  und  deshalb  zu  Streitigkeiten  Anlass  gibt  — 
diese  Punkte  will  ich  hier  jedoch  nicht  neuerlich  behandeln,  weil  sie  das 
Gewerberecht  und  nicht  das  Steuerrecht  interessieren.  Hingegen  berührt  es 
allerdings  gerade  das  letztere,  dass  also  für  die  Besteuerung  eines  Unter- 
nehmens die  Entscheidung  wichtig  ist,  ob  dasselbe  als  fabriksmässig  betrieben 
anerkannt  werden  solle  und  demnach  nach  Abtheilung' I  des  Tarifes  zu 
behandeln  sei,  während  zur  Beantwortung  dieser  Frage  unter  anderem  auf  — 
die  Steuerleistung  und  die  Firmaprotokollierung  verwiesen  wird,  welche  letz- 
tere wiederum  von  der  Steuer  des  Unternehmens  abhängt.  Man  mag  sich 
ja  in  der  Praxis  über  diese  Schwierigkeiten  hinaushelfen,  die  verdächtig  an 
die  That  Münchhausens  erinnern,  der  sich  am  eigenen  Zopf  aus  dem  Sumpfe 


')  Der  Erlass  ist  abgedruckt  in  Weigelsperg's  Compendium  der  Gewerbegesetze, 
3.  Aufl.  (1890),  S.  212  fg. 

2)  „  .  .  .  .  (diese  Betriebe)  waren  entweder  Fabriken  oder  ausgesprochen  fabriks- 
mässige  Betriebe"  (Berichte  der  Gewerbeinspectoren  über  1888,  S.  139). 

3)  d.  i.  das,  wie  es  scheint,  von  der  behördlichen  Praxis  so  oft  als  ausschlaggebend 
angesehene  Merkmal  von  zwanzig  Hilfsarbeitern,  wobei  freilich  nicht  in  Abrede  zu  stellen 
ist,  dass  selbst  ausgesprochen  nicht  fabriksmässig  betriebene  Unternehmungen  diese 
Arbeiterzahl  erreichen  können  (Inspectorenberichte  1888,  S.  180).  Unter  Umständen 
versagt  jedes  im  Erlasse  gegebene  Merkmal,  selbst  der  „an  der  manuellen  Arbeitsleistung 
nicht  theilnehmende  Gewerbsunternehmer":  Berichte  1888,  S.  309. 


388  Mataja. 

zog,    aber   eine  juristisch  befriedigende  Lösung  gibt  ein   solches   wechsel- 
seitiges Unterst ützungs Verhältnis  zweier  Begriffe  nicht. 

Aber  auch  noch  in  anderer  Hinsicht  scheint  mir  die  getroffene  Ent- 
scheidung anfechtbar.  Dadurch,  dass  zu  den  hervorstechendsten  Merkmalen 
der  „fabriksmässigen  Unternehmungen"  (abgesehen  von  der  höheren  Steuer- 
leistung, auf  die  man  sich  nach  Obigem  kaum  berufen  kann,  wenn  überhaupt 
erst  die  Frage  der  Besteuerung  entschieden  werden  soll)  die  Beschäftigung 
einer  grösseren  Anzahl  von  Hilfsarbeitern  in  einer  geschlossenen  Werk- 
stätte und  als  Regel  die  Benützung  von  Maschinen  zählen,  werden  zum 
guten  Theile  zwei  Gruppen  von  Betrieben  aus  der  Abtheilung  I  gedrängt, 
die  ökonomisch  viel  mehr  zu  den  Fabriken  gehören,  als  manche  jener  Unter- 
nehmungen, die  im  Gesetze,  obzwar  sie  nicht  Fabriken  sind,  doch  diesen 
ausdrücklich  angereiht  werden  (§  36,  Ziff.  2  und  3).  Es  sind  dies  die  mit 
Hausindustriellen  arbeitenden  Unternehmungen,  insbesondere  die  Confections- 
betriebe  und  die  sog.  Manufacturen.  Auch  diese  sind  ökonomisch  capitali- 
stische  Grossbetriebe,  auch  bei  ihnen  tritt  häufig  der  locale  Absatz  an 
Bedeutung  zurück,  auch  bei  ihnen  wäre  daher  —  wenn  man  überhaupt 
zwei  Gruppen  von  Unternehmungen  annimmt,  von  denen  die  eine  als  von 
localen  Verhältnissen  abhängiger  einer  Besteuerung  nach  Ortsclassen  unter- 
liegen soll  und  die  andere  nicht  —  die  Einreihung  unter  die  unabhängig 
vom  Standort  zu  besteuernden  Unternehmungen  richtiger.  Der  Entwurf  hat 
selbst  schon  in  dem  unten  noch  einmal  zu  erwähnenden  §  35  einen  Schritt 
in  dieser  Richtung  gemacht,  indem  die  Hausindustriellen  den  Hilfsarbeitern 
einer  Unternehmung  zugerechnet  werden,  möchte  man  also  doch  noch  den 
weiteren  thun,  auch  an  dem  Fehlen  einer  grösseren  geschlossenen  Werk- 
stätte und  der  Maschinen  keinen  Anstoss  nehmen  (was  bei  Betrieben  der 
gedachten  Art  in  der  That  häutig  der  Fall  ist,  da  sich  die  nicht  ausser 
Haus  gegebene  Arbeit  auf  einige  wenige  Operationen  des  Vorrichtens  u.  dgl. 
beschränkt)  und  die  Grossbetriebe  beisammenlassen! 

Die  n.  Abtheilung  des  Tarifes  betrifft  die  „mit  Rücksicht  auf 
den  Betriebsort  zu  besteuernden  productiven  Gewerbe  und  Be- 
schäftigungen"; die  Steuer  zerfällt  in  eine  Grund-  und  eine  (zumeist  nach 
der  Zahl  der  Hilfsarbeiter  abgestufte^  Betriebstaxe. 

Hier  tauchen  die  Ortsclassen  zum  erstenmale  auf:  sie  betreffen  die 
Orte  mit  einer  Bevölkerung  von  höchstens  1000—10.000  —  ü'ber  10.000 
Einwohner  —  Wien.  In  der  Regel  ist  bei  Abstufung  der  Steuersätze  eine 
Proportion  wie  folgt  angewendet  10  :  12  :  16  :  20. 

Obwohl  nun  die  Steuersätze  nach  dem  Tarife  nicht  die  Bedeutung 
absoluter,  sondern  nur  von  Relativziffern  für  die  Auftheilung  des  Contingentes 
im  Bezirke  besitzen,  so  hat  jene  Abstufung  nach  Ortsclassen  doch  ein 
grosses  praktisches  Interesse  für  die  Gewerbetreibenden.  Es  handelt  sich 
ja  nicht  bloss  darum,  eine  Steuersumme  unter  ihnen  selbst  aufzutheilen 
(wo  es  etwa  für  sie  gleichgiltig  wäre,  ob  die  Ziffern  aller  hinauf-  oder 
herabgesetzt  werden),  sondern  mit  ihnen  kommen  auch  Unternehmungen  in 
Betracht,   für   die  keine  Ortsclassen  existieren,  wie  denn  auch  Orte,  die  in 


Die  Eeform  der  clirecten  Persoiialsteuern  in  Oesterreicli.  389 

verschiedene  Ortsclassen  eingereiht  sind,  zu  einem  Yeranlagungsbezirk 
gehören  können.  Würcle  beispielsweise  einer  nach  Tarifpost  1  zu  besteuernden 
Fabrik,  auf  welche  der  Maximalsatz  Anwendung  fände  und  eine  Steuer  von 
400  ergäbe  (100  Arbeitskräfte  ä  4),  eine  Zahl  von  40  Kleingewerbetreibenden 
^egrenüberstehen,  die  nach  der  untersten  Ortsclasse  mit  zusammen  400.  nach 
der  obersten  mit  zusammen  800  in  Betracht  kommen,  so  würde  in  dem 
ersten  Falle  das  gemeinsame  Steuercontingent  zwischen  Fabrik  und  Gewerbe 
im  Verhältnis  Yon  1:1,  im  zweiten  Falle  im  Verhältnis  von  1  :  2  aufgetheilt, 
da  das  Ortsclassensystem  zwar  die  Steuersätze  der  Kleingewerbetreibenden, 
nicht  aber  die  der  Fabriken  emportreibt. 

Man  kann  nun  über  die  Bedeutung  und  Zwecke  des  Ortsclassensystems 
sehr  verschiedener  Ansicht  sein.  Mir  scheint  dasselbe  die  folgende,  beschränkte 
Anwendbarkeit  zu  besitzen. 

An  sich  würde,  wie  schon  oben  gesagt,  ein  Tarif  für  alle  Orte  genügen; 
sind  in  einem  Orte  die  Unternehmungen  durchschnittlich  grösser,  erträgnis- 
reicher als  anderswo,  so  werden  eben  dort  die  oberen  Steuersätze  häufiger 
zur  Anwendung  kommen  als  hier.     Indessen  werden  bei  der  Durchführung 
immerhin    Schwierigkeiten    entstehen;    ein    passend   gewähltes  Ortsclassen- 
system  kann    die    Sache  jedoch   erleichtern.    Bei  der  Einschätzung  in  den 
Tarif    wird   man    eben   naturgemäss    eine    Art    Mittelsatz    zugrundelegen, 
gebildet   aus    der  Beobachtung  der  am  Orte  befindlichen  Unternehmungen; 
bei  den  hervorragenderen  Unternehmungen  wird  man  dann  über  den  Mittelsatz 
hinausgehen,  bei  den  kleineren  Unternehmungen  hinter  ihm  zurückbleiben. 
Offenbar   ist   es    nun   für   die   Einschätzung   von  Vortheil,   wenn  ein  Tarif 
vorliegt,  welcher  dem  herrschenden  Geschäftstypus  angepasst  ist,  denn  wie 
leicht  zu  begreifen,  wird  das  Einschätzungsorgan  Anstand  nehmen,  sich  bei 
den  Einschätzungen  vorwiegend  in  den  obersten  Spitzen  oder  vorwiegend  auf 
den  untersten  Stufen  der  Scala  zu  bewegen;  ebenso  liegt  die  Gefahr  nahe, 
dasss  die  Einschätzungscommissionen  der  einzelnen  Gegenden,  weil  sie  ver- 
schiedene   gewerbliche   Verhältnisse   vor  Augen  haben,   den  Maassstab  ver- 
schieden treffen,  d.  h.  einen  abweichenden  Mittelsatz  sich  bilden,  dass  folglich 
ein  Unternehmen  dort,  wo  kleinliche  Geschäftsverhältnisse  herrschen,  schon 
als  besonders  hervoiTagend  und  steuerkräftig  gilt,  während  es  anderswo  nur 
als  massig  entwickelt  zählen  würde.    Dem  kann  man  nun  vorbeugen,  wenn 
man   für   verschiedene  Orte  verschiedene  Tarife  aufstellt,    deren  Mittelsätze 
den  jeweils  vorkommenden  Unternehmungen  mittleren  Umfanges,  deren  obere 
Sätze    den    kräftigen   Unternehmungen,    deren   unteren  Sätze    den  kleineren 
Unternehmungen    als   im    allgemeinen    ortsüblich  entsprechen.     Damit  wird 
den  Einschätzungsorganen  ein  festerer  Halt  geboten  als  mit  einem  allgemeinen 
Tarife    und,    wenn    die  Ortsclassen  nur  richtig  combiniert  sind,  werden  die 
Einschätzungen  zu  gleichmässigen  Resultaten  führen. 

Ich  will  nun  in  keine  weitläufige  Untersuchung  darüber  eingehen, 
unter  welchen  Voraussetzungen  und  wie  ein  Ortsclassensystem  von  diesem 
Standpunkte  aus  anzuordnen  wäre.  Der  Motivenbericht  zur  Vorlage  geht 
nämlich  von  einem  anderen  aus  und  scheint  es  mir  von  grösserem  praktischen 


390  Mataja. 

Interesse  zu  sein,  die  Durchführung  des  Ortsclassensysteras  im  Tarife  und 
die  für  dasselbe  als  maassgebend  erklärten  Grundsätze  miteinander  zu 
vergleichen. 

Die  Begründung  motiviert  die  Beibehaltung  der  Ortsclassen  für  die 
gewerblichen  Betriebe  (mit  Ausnahme  der  nach  Abtheilung  I  zu  besteuernden) 
unter  anderem  (auf  Seite  109)  mit  der  Erwägung,  dass  der  Geldwert  in  den 
stärker  bevölkerten  Orten  meist  niedriger  stehe  als  in  kleineren  Orten  und 
demnach,  da  der  Tarif  die  Steuersätze  nicht  in  Procenten,  sondern  in 
absoluten  Geldbeträgen  ausdrücke,  erklärlicher  Weise  dem  geringeren  Geld- 
werte und  den  infolge  dessen  grösseren  Suramen  des  Umsatzes,  der  Löhne^), 
der  Lebenshaltung  u.  s.  w.  grössere  Tarifsätze  entsprechen.  Ich  will  dieser 
Bemerkung  sicherlich  nicht  schlechtweg  entgegentreten,  aber  vor  allem 
scheint  mir,  die  Eichtigkeit  des  Grundgedankens  angenommen,  aus  ihr  nicht 
das  zu  folgen,  was  zu  beweisen  ist.  Stellt  sich  in  der  That  in  den  bevöl- 
kerteren  Orten  der  Geldwert  geringer,  so  folgt  zunächst  nur,  dass  viele 
Productionskosten  sich  dort  der  Ziffer  nach  höher  stellen;  ob  aber  auch 
der  Umsatz  oder  gar  die  Verkaufspreise  und  mit  ihnen  der  Ertrag,  hängt 
dann  noch  von  dem  Umstände  ab,  wo  der  Absatz  erzielt  wird.  Handelt  es 
sich  um  Eabriken  und  Gewerbe,  die  ihren  Absatz  in  der  Ferne  suchen,  die 
exportieren,  so  wird  ihnen  die  Niedrigkeit  des  Geldwertes  an  Productions- 
orte  nur  schaden,  nicht  nützen,  da  hierdurch  die  Kosten  theilweise  erhöht, 
die  Absatzpreise  jedoch  nicht  gesteigert  werden.  Die  Ortsclassen  hätten 
dann  sogar  die  umgekehrte  Bedeutung,  die  ihnen  gegeben  werden!  Thatsache 
ist  es  ja  auch,  dass  in  einer  Keihe  von  Branchen  die  industriellen  Etablisse- 
ments die  grossen  Städte  verlassen.  Kun  kann  man  bei  den  heutigen 
gewerblichen  oder  commerziellen  Verhältnissen  weder  sagen,  dass  die  fabriks- 
mässigen,  nach  Abtheilung  I  unabhängig  vom  Standorte  zu  besteuernden 
Unternehmungen  schlechtweg  mit  dem  localen  Absatz,  wo  die  örtlich  höheren 
Preise  vortheilhaft  ins  Gewicht  fallen,  nichts  zu  thun  haben,  noch  dass  die 
kleineren  Unternehmungen  nur  von  dem  nahen  Markte  leben.  Man  darf 
eben  auch  bei  den  Fabriken  nicht  bloss  an  die  kolossalen  Unternehmungen 
denken,  welche  Producte  in  die  verschiedensten  Gegenden  der  Erde  senden. 
Soweit  daher  überhaupt  Ortsclassen  berechtigt  sind,  scheinen  sie  mir  auf 
einen  grossen  Theil  der  fabriksmässig  betriebenen  Unternehmungen  gerade 
so  anwendbar  zu  sein  wie  auf  kleingewerbliche,  z.  B.  also  auch  auf  die  Bier- 
brauereien   (Tarifpost    13,    S.    142)    u.    a.     Ebensowenig    darf    übersehen 


^)  Wenn  wirklich  nach  Ansicht  der  Eegierung  in  den  stärker  bevölkerten  Orten 
der  Geldwert  meist  niedriger  steht  und  demgemäss  die  Löhne  grössere  Summen  erreichen, 
so  möchte  ich  bei  dieser  Gelegenheit  die  Frage  aufwerfen,  wie  sich  diese  Annahme  mit 
den  behördlichen  Festsetzungen  der  üblichen  Taglöhne  (§  7  des  Krankenversicherungs- 
gesetzes) verträgt,  die  zum  grossen  Theile  jener  Anschauung  direct  widersprechen.  Man 
vergleiche  die  in  den  amtlichen  Nachrichten  betr.  die  Unfall-  und  Krankenversicherung, 
1.  Jahrg.,  S.  427,  587  gegebenen  Nachweisungen  oder  gar  die  Berechnung,  3.  Jahrg., 
S.  271,  über  die  in  den  einzelnen  Ländern  durchschnittlich  üblichen  Taglöhne.  An  der 
Spitze  marschieren  Dalmatien  und  Küstenland,  dann  Kärnten,  dann  Salzburg  und  Nieder- 
österreich u.  s.  w.,  zuletzt  kommen  Mähren  und  Schlesien. 


Die  Eeform  der  directen  Personalsteuern  in  Oesterreicli.  39 1 

werden,  dass  Abtlieilung  I  gemäss  §  36,  Ziffer  2  und  3.  sich  gar  nicht 
auf  Fabriken  beschränkt,  sondern  eine  Reihe  anderer  Gewerbsunternehmungen 
umfasst.  Eine  durchgreifende  Begründung  für  die  Anordnung  des  Tarifes 
wird  daher  vom  Standpunkte  des  Motivenberichtes  kaum  zu  geben  sein. 
Jedenfalls  möchte  ich  befürworten,  in  den  Ortsclassen  den  Mindest- 
betrag der  Steuersätze  langsamer  ansteigen  zu  lassen  als  den  Höchstbetrag, 
da  mit  der  Grösse  des  Ortes  zwar  der  Spielraum  für  die  Entfaltung  und 
Ertragsfähigkeit  eines  durch  die  localen  Verhältnisse  beeinflussten  Unter- 
nehmens wächst.  Betriebe  der  kleinsten  und  dürftigsten  Art  ^)  sich  jedoch 
überall  vorfinden,  welche  den  geringeren  Geldwert  sogar  mehr  nachtheilig 
als  vortheilhaft  empfinden.  Nicht  unbedenklich  finde  ich  es,  Wien  mit  seiner 
gegenwärtig  so  grossen  Ausdehnung  und  der  weitgehenden  Verschiedenheit 
seiner  Theile  als  ein  einheitliches  Gebiet  zu  behandeln  und  z.  B.  den  Klein- 
gewerbetreibenden in  den  ehemaligen  Gemeinden  Breitensee  etc.  principiell 
höhere  Sätze  in  Aussicht  zu  stellen  als  ihren  Eachgenossen  in  Prag 
oder  Triest. 


Schliesslich  sei  noch  der  Behandlung  der  Hausindustrie  gedacht. 
Hiefür  sind  insbesondere  zwei  Bestimmungen  im  Entwürfe  wichtig.  §  3, 
Zift\  3,  befreit  von  der  Erwerbsteuer:  .Hausindustrielle,  welche  ausschliess- 
lich im  Auftrag  und  für  Rechnung  von  Unternehmern  persönlich  oder  unter 
Mitwirkung  von  nicht  mehr  als  zwei  Personen  des  eigenen  Hausstandes, 
jedoch  ohne  fremde  Hilfsarbeiter  industrielle  Erzeugnisse  herstellen  oder 
bearbeiten."  Was  sind  jedoch  Hausindustrielle?  Offenbar  wird  hierbei  an 
die  Gewerbegesetzgebung  gedacht,  welche  aber  auch  ihrerseits  diese  Frage 
nicht  löst.  In  diese  Lücke  ist  der  Erlass  des  Handelsministeriums  vom 
16.  September  1883,  Z.  26.701,  eingetreten:  Hausindustiie  ist  darnach  jene 
gewerbliche  Production.  welche  nach  örtlicher  Gepflogenheit  von  Personen 
in  ihren  Wohnsitzen  als  Haupt-  oder  Nebenbeschäftigung  in  der  Art  betrieben 
wird,  dass  diese  Personen  bei  ihrer  Erwerbsthätigkeit.  falls  sie  derselben 
nicht  bloss  persönlich  obliegen,  keinerlei  gewerbliche  Hilfsarbeiter  (Gehilfen, 
Lehrlinge  u.  s.  w.)  beschäftigen,  sondern  sich  lediglich  der  Mitwirkung  der 
Angehörigen  des  eigenen  Hausstandes  bedienen.  In  dieser  Definition  ist  das 
für  die  Hausindustrie  im  modernen  Sinne  Wichtigste  übergangen:  die  Person 
des  Verlegers.  (Vergl.  Schwiedland  in  dieser  Zeitschrift,  oben  S.  169.) 
Das  Merkmal  der  „örtlichen  Gepflogenheit"  hingegen  ist  geeignet,  die 
Definition  die  eigentliche,  wegen  der  socialpolitisch  desolaten  Zustände 
besonders  berücksichtigenswerte  Hausindustrie  häufig  verfehlen  zu  lassen. 
Ich  wenigstens  möchte  die  kleine  massige  Wohlthat  des  §  3  nicht  durch 
ZAveifel  über  das  Vorhandensein  von   „örtliclien   Gepflogenheiten"   in    ihrer 


')  Insbesondere  auch  dadurch,  dass  die  Befreiungen  von  der  Steuerpflicht  (§§  3,  5) 
ziemlich  eng  begrenzt  sind.  Warum  gewisse  geringfügige  Erwerbsgattungen  als  „Neben- 
beschäftigungen" ausgeübt  steuerfrei,  hingegen  als  Hauptbeschäftigung  steuerpflichtig 
sein  sollen  während  die  Lage  des  Betreffenden  doch  im  letzteren  Falle  ungünstiger 
erscheint,  #ehe  ich  übrigens  nicht  ganz  ein. 


392  Mataja. 

Anwendung  eingeengt  wissen,  lieber  sollte  noch  eine  Erweiterung  eintreten, 
indem  gerade  bei  hausindustriellen  Betrieben  die  Mitwirkung  zahlreicher 
Mitglieder  des  Hausstandes  üblich  ist  und  die  Ziffer  von  zwei  somit  sehr 
häufig  überschritten  werden  dürfte,  ohne  dass  der  Anspruch  auf  Steuer- 
befreiung ein  unbilliger  wird.  §  35  des  Steuergesetz-Entwurfes  sagt  wiederum: 
„Bei  der  Besteuerung  von  Unternehmern,  welche  Gegenstände  ihres  Produc- 
tionsbetriebes  ^)  durch  Hausindustrielle  herstellen  oder  bearbeiten  lassen, 
sind  letztere  sammt  ihren  hierbei  verwendeten  Hilfsarbeitern  nach  Maass- 
gabe der  dieser  Verwendung  gewidmeten  Zeit  als  Hilfsarbeiter  zu  zählen, 
ohne  Unterschied,  ob  sie  selbständig  besteuert  sind  oder  nicht."  Diese 
Bestimmung  ist  sicherlich  sehr  zutreffend,  mag  auch  ihre  Durchführung 
dort,  wo  Hausindustrielle  nicht  ständig  für  ein  und  denselben  Unternehmer 
arbeiten,  zu  einigen  Schwierigkeiten  führen.  Bemerkenswert  ist  aber  auch, 
dass  dieser  Paragraph  von  Hilfsarbeitern  der  Hausindustriellen  spricht.  Nach 
dem  Handelsministerial-Erlasse  hört  ja  die  Hausindustiie  auf,  wenn  Hilfs- 
arbeiter beschäftigt  werden. 

Bei  diesem  Anlasse  kann  ich  das  Bedenken  nicht  verschweigen,  welches 
das  Verfahren  in  mir  wachruft,  wichtige,  zahllose  Einzelinteressen  in  Bezie- 
hung auf  Besteuerung  und  andere  bedeutsame  Angelegenheiten  berührende 
Kechtsfragen,  so  was  ein  fabriksmässiger,  was  ein  hausindustrieller  Betrieb 
sei,  im  Wege  von  internen,  einer  Kundmachung  gar  nicht  fähigen  Amts- 
verfügungen zu  entscheiden.  Vielleicht  erinnert  man  sich  dieser  Fragen, 
die  schon  zu  viel  Streitigkeiten^)  Anlass  gegeben  haben,  jetzt,  wo  ihnen 
der  Steuergesetz-Entwurf  erhöhte  Bedeutung  gewährt. 

Die  ni.  Abtheilung  betrifft  die  Handelsgewerbe,  wieder  mit 
Ortsclassen,  über  die  Aehnliches  wie   das  früher  Bemerkte  zu  sagen  wäre. 

Auch  hier  setzt  sich  die  Steuer  zusammen  aus  einer  Grundtaxe  und 
einer  nach  der  Zahl  der  Hilfsarbeiter  sich  abstufenden  Betriebstaxe.  Da  der 
Handel  weniger  Hilfsarbeiter  benöthigt  als  die  gewerbliche  Thätigkeit,  ist 
die  Grundtaxe  regelmässig  höher  gehalten  und  damit  wird  die  im  Verhältnis 
zur  Grundtaxe  ausgedrückte  Betriebstaxe  von  selbst  grösser.  Misslich  bei 
der  Sache  ist,  dass  die  Ertragsfähigkeit  eines  kaufmännischen  Unternehmens 
noch  viel  weniger  in  einem  geregelten  Zusammenhange  mit  der  Zahl  der 
Hilfsarbeiter  steht,  als  die  eines  gewerblichen  Betriebes.  Misslich  ist  ferner, 
dass  die  Betriebstaxe  sich  häufig  sehr  hoch  stellt  und  damit  ein  grosser 
Anreiz  zur  Ersparung  von  Arbeitskräften  gegeben  wird,  namentlich  zur  Ab- 
stossung  von  geringerwertigen.  Eine  Steuer,  wie  sie  z.  B.  nach  Tarifpost  79, 
Ziffer  2  und  3,  für  Wien  sich  ergibt,  nämlich  möglicherweise  80  Gulden 
für  einen  Buchhalter,  Disponenten,  Handlungsreisenden  oder  40  Gulden  für 
andere  Hilfsarbeiter,  ist  immerhin  schon  eine  Ziffer,  die  ins  Gewicht  fällt. 
Noch  mehr  gewinnt  sie   an  Bedeutung,   wenn  man  erwägt,   dass   die  Zahl 

1)  Ich  würde  lieber  „Gewerbebetriebes"  sagen,  um  unzweideutig  auch  die  kauf- 
männischen Verleger  dem  §  35  zu  unterwerfen. 

'^)  Es  sei  an  die  Kämpfe  der  Mühlenbesitzer,  Buchdrucker  u.  a.  erinnert,  um  ihre 
Unternehmungen  nicht  als  fabriksmässig  anerkannt  zu  sehen. 


Die  Eeform  der  directen  Personalsteuern  in  Oesterreicli.  393 

der  Hilfsarbeiter  gewiss  eine  wichtige  Eolle  schon  hei  Bemessung  der  Grund- 
taxe spielen  wird,  sowie,  dass  unter  Umständen  mit  der  Erreichung  einer 
bestimmten  Zahl  von  Hilfsarbeitern  das  Hinaufrücken  in  eine  ungünstigere 
Steuerkategorie  verbunden  ist.  Nehmen  wir  ein  allerdings  etwas  extrem 
gestelltes  Beispiel.  Ein  nach  Tarifpost  79  zu  besteuerndes  Unternehmen  in 
Wien  erfüllt  die  in  der  Anmerkung  genannte  Voraussetzung  und  wird  daher 
dem  Maximum  der  Besteuerung  ausgesetzt.  Bei  neun  Hilfsarbeitern  (Ver- 
käufern u.  dergl.)  zahlt  es  darnach  (immer  abgesehen  von  den  Contingents- 
Zuschlägen  oder  Abschreibungen)  an  Grundtaxe  240  Gulden,  an  Betriebs- 
taxe 270  Gulden  mehr  ein  Drittel  von  der  Summe  laut  Anmerkung,  also 
insgesammt  680  Gulden;  bei  Erhöhung  der  Hilfsarbeiter  auf  11  kann  die 
Steuer  auf  eine  Grundtaxe  von  800  steigen,  der  sich  dann  eine  Betriebstaxe 
von  330  Gulden  und  ein  Drittelzuschlag  anschliesst,  so  dass  also  jetzt  die 
Summe  sich  von  680  auf  1506  Gulden  erhöht.  Der  Fall  mag  nicht  überaus 
wahrscheinlich  sein,  er  ist  jedoch  ganz  gut  möglich:  ein  Geschäft  ist  als 
besonders  rentabel  bekannt  und  trägt  daher  die  Steuercommission  kein 
Bedenken,  die  Steuer  so  hoch  wie  nur  rechtlich  möglich  anzusetzen,  die 
Commission  mag  sogar,  wie  nur  neun  Hilfsarbeiter  vorhanden  waren,  bedauert 
haben,  das  Geschäft  nach  Ziffer  2  behandeln  zu  müssen.  Nun  kann  ja  die 
Steuer  von  1500  Gulden  angemessen  sein,  das  steht  hier  nicht  in  Frage; 
betont  soll  hier  ja  nur  werden,  wie  der  Unternehmer  daran  interessiert  ist, 
sein  Personal  nicht  zu  vermehren.  Den  Sprung  von  drei  auf  vier  Hilfs- 
arbeiter (Ziffer  1)  oder  von  zehn  auf  eilf  (Ziffer  2)  wird  aber  sicherlich 
Jeder  ungern  machen!  —  Ich  will  die  Bedeutung  dieser  Bestimmungen  des 
Steuergesetz-Entwurfes  für  die  Gestaltung  des  Arbeitsmarktes  gewiss  nicht 
allzu  hoch  anschlagen,  ich  kann  sie  aber  auch  nicht  gänzlich  in  Abrede 
stellen.  Gerade  im  kaufmännischen  Gewerbe,  wo  man  ohnehin  so  häufig 
eine  Ueberlastung  der  Angestellten  findet,  ist  die  Unterstützung  dieser 
Tendenz,  der  Einstellung  von  mehr  Hilfskräften  durch  Ueberanspannung  der 
vorhandenen  vorzubeugen,  etwas  Bedenkliches.  Vielleicht  erinnert  man  sich 
an  die  Sache,  wenn  einmal  die  Erweiterung  des  kaufmännischen  Arbeiter- 
schutzes zur  Verhandlung  kömmt. 

Da  es  jedoch  zu  weit  führen  würde,  diesen  Punkt  hier  schon  näher 
behandeln  zu  wollen,  möchte  ich  nur  auf  einige  das  Steuerrecht  unmittelbar 
berührende  Details  aufmerksam  machen.  Vor  allem  erscheint  mir  die  Aus- 
drucksAveise  in  der  Kubrik  -Betriebstaxe-  nicht  in  jeder  Hinsicht  klar  und 
unzweideutig.  Häufig  ist  hier  von  einer  Betriebstaxe  „für  jeden  Buchhalter, 
Disponenten,  Procuraführer  oder  Handlungsreisenden "  die  Rede.  Was  heisst 
nun  jeder  Buchhalter?  Jeder  bei  der  Buchhaltung  dauernd  Beschäftigte  oder 
nur  jene,  welche  hierbei  eine  selbständige,  leitende  Stellung  innehaben? 
Bei  gi'ossen  Geschäften  gehen  beide  Kategorien  weit  auseinander  und  sind 
bei  der  Buchführung  auch  recht  untergeordnete  Kräfte  thätig,  deren  beson- 
dere Veranschlagung  bei  der  Besteuerung  gegenüber  viel  wichtigeren  Hilfs- 
kräften, z.  B.  Cassieren,  Platzagenten  u.  a.  kaum  gerechtfertigt  wäre.  Ob 
die   kaufmännischen   Kreise    die  Bezeichnung   „Disponent"    ganz   klar  und 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung  III,  Hoft.  26 


394  Mataja. 

uazweideutig  finden,  wäre  vielleicht  auch  der  Untersuchung  wert.  Der  Pro- 
curaführer  wiederum  braucht  gar  nicht  Angestellter  des  Unternehmers  sein, 
der  z.  B.  seiner  Frau  die  Procura  ertheilt,  damit  erforderlichenfalls  bei 
seiner  Verhinderung  gewisse  Unterschriften  gegeben  werden  können,  während 
er  Niemand  seines  Personals  eine  so  weitgehende  Vollmacht  tibertragen  will; 
es  würde  daher  hier  zur  Vermeidung  von  Missverständnissen  klar  zu  sagen 
sein,  dass  nur  mit  der  Procura  ausgestattete  Hilfsarbeiter  (§  33  des  Gesetzes) 
in  Betracht  kommen.  Vielleicht  würde  auch  die  Frage  der  Collectivprocura 
einer  Kegelung  bedürfen.  Ohne  ferner  der  gerade  auch  im  Handel  vorkom- 
menden Lehrlingszüchterei  Vorschub  leisten  zu  wollen,  schiene  es  mir  ange- 
sichts der  relativ  hohen  Betriebstaxe  angemessen,  die  Lehrlinge  allgemein 
(und  nicht  bloss  fallweise  nach  §  33,  Abs.  3)  nur  als  eine  halbe  Kraft  in 
Anschlag  zu  bringen,  jedoch  als  Schutz  gegen  Missbrauch  nur  die  im  Sinne 
des  §  99  der  Gewerbe-Ordnung  regelrecht  aufgedungenen.  Schliesslich  scheint 
mir  die  Anwendung  des  Abs.  2  des  §  33  nicht  überall  klar  gestellt  zu  sein, 
z.  B.  bei  Tarifpost  62;  ein  Agent,  der  sich  einen  Comptoiristen  hält,  soll 
diesen,  weil  unter  Ziff.  H  fallend,  mit  zwei  Kräften  angerechnet  sehen,  also 
(in  Wien)  eventuell  200  Gulden  Betriebstaxe  zahlen? 

Interessenten  seien  auf  die  Anmerkung  zu  Tarifpost  74  aufmerksam 
gemacht,  wonach  der  mit  dem  Delicatessenhandel  verbundene  Weinhandel 
selbständig  zu  besteuern  ist. 

Mehr  mit  Bedauern  als  mit  dem  Gefühl  der  Ueberraschung  sehe  ich 
in-  die  Tarifpost  82  die  Lebensmittelmagazine  eingereiht.  Ich  w^eiss  wohl, 
dass  dies  der  heutigen  Praxis  entspricht;  indessen  möchte  ich  doch  darauf 
aufmerksam  machen,  dass  sich  die  projectierte  Besteuerung,  welche  sich 
an  die  äusseren  Merkmale  des  Betriebsumfanges  hält  und  den  Erwerb- 
steuercommissionen  freien  Spielraum  lässt,  in  denen  sicherlich  die  Gegner 
der  Magazine  mehr  Einfluss  haben  werden  als  die  Betheiligten ,  leicht 
vielfach  belangreich  ungünstiger  stellen  kann  als  die  gegenwärtige  Be- 
steuerung, bei  welcher  denn  doch  der  wirkliche  Eeinertrag  eine  Kolle  spielt, 
der  Eeinertrag,  den  es  bei  den  ihren  Zwecken  treu  bleibenden  Lebensmittel- 
magazinen gar  nicht  gibt.  Es  würde  zu  bedauern  sein,  wenn  dies  den 
wirklich  in  humanem  Geist  gegründeten  und  geleiteten  Institutionen  zum 
Abbruch  gereichen  sollte. 

Abtheilung  IV  betrifft  die  Gastgewerbe;  auch  hier  finden  sich 
neben  allerlei  Unterabtheilungen  Ortsclassen  und  Betriebstaxen,  abgestuft  in 
Hinblick  auf  die  Zahl  der  Hilfsarbeiter. 

Fachkreise  wiederum  mögen  sich  darüber  äussern,  ob  die  Abstufungen 
richtig  gewählt  sind;  mir  wenigstens  kommt  die  ansehnliche  Steigerung 
der  Steuersätze  für  die  „eleganten  Betriebsstätten"  etwas  bedenklich  vor, 
da,  soweit  mir  bekannt,  Einträglichkeit  und  vornehme  Ausstattung  beim 
Gastgewerbe  durchaus  nicht  immer  parallel  gehen.  Eine  Correctur  wird 
freilich  —  wenigstens  bei  Tarifpost  98  —  dadurch  geboten,  dass  ein 
Steuerminimum  gemäss  dem  Absatz  an  Getränken  aufgestellt  wird.  Offenbar 
können  darnach  auch  minder  ansehnliche,  aber  sehr  gut  besuchte  Betriebs- 


Die  Eeform  der  directen  Person alsteiieru  in  Oesterreich.  395 

statten  zu  einer  höheren  Steueiieistung  herangezogen  werden ,  als  den 
Sätzen  der  Grund-  und  Betriebstaxe  entspricht.  Den  eleganten,  aber  wenig 
einträglichen  Localen  ist  damit  freilich  nicht  geholfen. 

Das  Zimmer-  und  Bettenvermieten  (Tarifpost  101)  scheint  mir  in 
dieser  Allgemeinheit  nicht  hierher  zu  gehören,  sondern  nur  unter  Voraus- 
setzungen, welche  dieses  Vermieten  zu  einer  dauernden  Erwerbsunternehmung 
oder  Beschäftigung  stempeln. 

Die  V.  Abtheilung  umfasst  Dienstleistungen,  Leihgewerbe,  Aus- 
übung von  Patenten,  Sanitätsgewerbe,  Transportgewerbe,  Unterricht,  Ver- 
gnügungsgewerbe. 

Die  VI.  Abtheilung  betrifft  die  nach  dem  abzuschätzenden 
Ertrage  zu  besteuernden  Gewerbe  und  Beschäftigungen.  Hier 
sind  jene  Erwerbsgattungen  zusammengefasst,  für  welche  eine  ausreichende 
Steuerpflicht  aus  äusseren  Merkmalen  nicht  mit  Bernhigung  bestimmt 
werden  konnte.  Für  die  Bemessung  der  Steuer  besteht  eine  Scala  mit 
gemäss  der  Höhe  des  Ertrages  wachsenden  Steuerprocenten;  dabei  sind 
(nach  äusseren  Merkmalen)  Mindestbeträge  der  Steuer  fixiert.  Letzteres  ist 
sehr  richtig,  um  einer  Ungleiclimässigkelt  der  Besteuemng  entgegenzuwirken, 
welche  sich  sonst  leicht  aus  der  immer  etwas  misslichen  Anwendung  von 
so  verschiedenen  Maassstäben  ergeben  kann. 

Nach  §  28  des  Entwurfes  ist  jedem  Erwerbsteuerpflichtigen  innerhalb 
der  im  Tarif  gezogenen  Schranken  derjenige  Steuersatz  zuzuweisen,  welcher 
der  Ertragsfähigkeit  seines  Gewerbes  im  Verhältnisse  zur  Ertragsfähigkeit 
der  Gewerbe  des  anderen  Steuerpflichtigen  des  Bezirkes  am  besten  entspricht. 
§  46  bestimmt  dann  speciell  für  die  Anwendung  der  für  die  VI.  Abtheilung 
aufgestellten  Scala:  ..Innerhalb  des  für  jede  Ertragsstufe  vorgezeichneten 
mindesten  und  höchsten  Procentsatzes  hat  die  Erwerbsteuercommission 
einen  desto  niedrigeren  Procentsatz  anzuwenden,  je  mehr  der  Ertrag  auf 
der  persönlichen  Thätigkeit  des  Steuerpflichtigen  und  je  weniger  er  auf 
der  Mitwirkung  von  Capital  beruht,  je  mehr  sodann  im  Falle  einer  solchen 
Mitwirkung  das  im  Betriebe  verwendete  fremde  Capital  über  das  eigene 
Capital  des  Steuerpflichtigen  überwiegt,  und  je  weniger  endlich  die  Steuer- 
kraft des  letzteren  durch  sonstige  Umstände,  w^elche  nicht  schon  durch  die 
Wahl  der  scalamässigen  Steuerstufe  zur  Berücksichtigung  gelangten, 
gehoben  wird.-  Diese  Grundsätze  sind  so  schön,  dass  ich  sie  nicht  bloss 
auf  die  VI.  Abtheilung  angewendet  wissen  wollte. 

Die  Hausier-  und  Wandergewerbe  sind  besonderen  Vorschriften- 
unterstellt, welche  (vgl.  Motive  S.  63)  den  etwa  heute  bestehenden  Be- 
günstigungen ein  Ende  bereiten  sollen.  Dagegen  ist  im  allgemeinen  nichts 
einzuwenden,  wenngleich  einzelne  Bestimmungen  (so  §  85,  Abs.  1)  eine 
gewisse  Zurücksetzung  der  Hausierer  etc.  involvieren.  Ich  weiss,  dass  gerade 
dieses  eine  wohlwollende  xiufnahme  finden  wird,  gebe  aber  hier  nochmals 
der  Ueberzeugung  Ausdruck,  dass  man  den  Hausierhandel  und  die  durch 
ihn  für  den  sesshaften  Handelsstand  unleugbar  erzeugten  Gefahren  kaum 
erfolgreich    bekämpfen    wird    durch    allerlei   kleine    Maassnahmen,    sondern 

26* 


396  ^^^^^j^- 

nur  durch  vergleichsweise  radicale  Vorkehrungen.  Socialpolitisch  wichtig  scheint 
es  mir,  nicht  dem  Hausierer,  der  oft  ein  Aermster  unter  den  Armen  ist, 
das  Leben  sauer  zu  machen,  sondern  überhaupt  den  Handel  in  jene  Bahnen 
zu  lenken,  in  welchen  eine  ünt erbietung,  wie  sie  jetzt  durch  den  Hausier- 
handel geschieht,  d.  i.  durch  Anwendung  einer  tiefer  stehenden  kaufmännischen 
Moral  und  Gebarung,  sowie  durch  Herab  drücken  der  Lebenshaltung,  zum 
Nutzen  aller  Theile  nicht  stattfindet.^) 

c)  Das  Einschätzungsverfahren. 

Hiezu  habe  ich  nur  wenig  vorzubringen. 

Was  zunächst  die  Bildung  der  Eiiverbsteuercommissionen  anbelangt, 
so  finde  ich  nur  den  gänzlichen  Ausschluss  der  Frauen  von  der  persönlichen 
Ausübung  des  Wahlrechtes  (§  15)  unpassend,  wenn  man  schon  eine 
Anregung,  ihnen  die  Wahlfähigkeit  zu  ertheilen,  als  aussichtslos  übergehen 
will.  Dort,  wo  die  Frau  die  gleichen  Pflichten  wie  der  Mann  trägt,  wo  sie 
durch  den  Umstand,  dass  sie  selbstständige  Steuerträgerin  ist,  auch  ihre 
wirtschaftliche  Selbständigkeit  documentiert,  ist  jene  Zurücksetzung  oifenbar 
ungerecht  und  auch  etwas  kleinlich,  da  praktisch  bedeutsame  Folgen  sich 
unzweifelhaft  ohnehin  nicht  daran  knüpfen. 

Die  Bestimmungen  über  die  Einschätzung  selbst  erscheinen  sehr  sach- 
gemäss,  wie  überhaupt  die  Anordnungen  über  den  Geschäftsgang  wiederholt 
äusserst  scharfsinnig  und  vorsichtig  abgefasst  sind  (so  z.  B.  §  62).  Ob  es 
möglich  und  zweckmässig  wäre,  den  Einschätzungscommissionen  die  Hoffnung 
zu  benehmen,  durch  constant  niedrige  Einschätzungen  und  damit  Unter- 
schreitung des  Contingentes  die  Herabsetzung  des  letzteren  selbst  zu 
erreichen,  bleibe  dahingestellt. 

IV. 

Die   Epwerbsteuep  von  den  den  öffentlichen    Rechnungslegung 
unterworfenen    Unternehmungen. 

Die  gegenüber  den  heutigen  Verhältnissen  beabsichtigte  Eeform  bezieht 
sich  insbesondere  darauf,  dass  zwar  die  zehnpercentige  Steuer  auf  den 
Keinertrag  beibehalten,  dieser  selbst  aber  in  richtigerer  Weise  berechnet 
wird.  Diese  Reform  empfiehlt  sich  von  selbst  und  bedarf,  wie  mir  scheint, 
neben  den  im  Motivenbericht  gegebenen  Erläuterungen  einer  weiteren  Befür- 
wortung nicht. 

Ernstliche  Bedenken  scheint  mir  jedoch  die  Erweiterung  zu  verdienen, 
welche  der  Begriff  der  „ Erwerbsunternehmungen "  im  Gesetzentwurf  erfährt. 

Insbesondere  gilt  dies  von  der  unterschiedslosen  Einreihung  der 
Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossenschaften. 


^)  Vgl.  meine  Ausführungen  über  „die  Refoim  der  Hausiergesetzgebung"  im 
Handelsmuseum  April  1888  und  in  der  XXX.  Plenarversammlung  der  Gesellschaft  österr. 
Volkswirte  (vorliegende  Zeitschrift  S.  276  und  Doms  Volksw.  Wochenschrift.  10.  März  1892). 


Die  Reform  der  clirecten  Personalsteuern  in  Oesterreich.  397 

Ein  Consumverein  zum  Beispiel,  welcher  nur  an  Mitglieder  verkauft, 
ist  jedoch  gar  keine  Erwerbsunternehmung.  Es  ist  weiter  nichts  anderes 
als  ei-ne  Veranstaltung  zum  gemeinschaftlichen  Einkauf  und  aus  einer 
solchen  kann  schon  begrifflich  kein  Erwerb,  kein  Einkommen  folgen.  Was 
die  Mitglieder  aus  dem  Verein  erzielen,  ist  kein  neues  Einkommen,  sondern 
nur  eine  Ersparnis,  eine  bessere  Verwertung  des  anderwärtigen  Einkommens. 
Die  Mitglieder  können  sofort  jenen  fictiven  „Keinertrag"  verschwinden 
machen,  wenn  sie  die  Waren  genau  zum  Gestehungspreise  (einschliesslich 
des  Generalkostenzuschlages)  verrechnen  und  abgeben.  Wenn  sie  dies  nicht 
thun,  sondern  aus  Rücksicht  auf  eine  vorsichtige  Gebarung  oder  um  ein 
unmerkliches  Zusammensparen  zu  erzielen,  höhere  Preise  anrechnen  und 
am  Schlüsse  des  Jahres  eine  ..Dividende"  vertheilen,  so  ist  das  kein  wirk- 
licher Ertrag,  sondern  unterscheidet  sich  von  den  Geschäftsergebnissen  einer 
Erw^erbsunternehmung  wie  eine  ersparte  Auslage  von  einem  neuen  Gewinn, 
welcher  das  Vermögen  positiv  vermehi-t.  Wenn  den  Mitgliedern  diese 
Sparmethode  gefällt,  d.  h.  dass  bei  allen  Einkäufen  ein  paar  Kreuzer  mehr 
als  nöthig  gezahlt  werden  und  am  Schlüsse  des  Jahres  die  also  ange- 
sammelte Summe  aus  den  Ueberzahlungen  zurückerstattet  wird,  wie  kann 
sich  daraus  ein  Titel  für  eine  Besteuerung  ergeben?  Die  Mitglieder  haben 
es  in  ihrer  Hand,  jenen  Zuschlag  grösser  oder  kleiner  zu  machen  und 
darnach  die  Dividende  zu  steigern  oder  herabzudrücken;  seit  wann  kann  man 
„Erträge"  beliebig  regulieren?  Man  kann  Waren  wohlfeil  oder  theuer  erstehen, 
aber  aus  dem  blossen  Einkauf,  ob  er  nun  für  Rechnung  eines  Einzelnen 
oder  für  gemeinsame  Rechnung  erfolgt,  kann,  wenn  es  sich  nur  um  die 
Deckung  des  eigenen  Bedarfes  handelt,  niemals  ein  Einkommen  entstehen.^) 

Doch  vergessen  wir  nicht  die  im  Entwürfe  den  Genossenschaften  zuge- 
dachten oder  richtiger  gesagt  aufrecht  erhaltenen  „Steuerbegünstigungen". 
Die  ihren  Geschäftsbetrieb  statutenmässig  und  thatsächlich  auf  ihre  eigenen 
Mitglieder  beschänkenden  Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossenschaften  sind 
steuerfrei,  wenn  ihr  „Reinertrag"  300  fl.  nicht  übersteigt ;  das  erste  Tausend 
wird  mit  drei  Zehntel,  das  zweite  Tausend  mit  fünf  Zehntel  und  erst  die 
weiteren  Beträge  voll  der  Besteuerung  unterzogen  (§  93,  106).  Die  Wirkung 
dieser  sinnreichen  Besteuerungsmethode  ist  wie  folgt.  Es  bilden  einige 
Personen  eine  Vereinigung,  um  gemeinsam  einzukaufen,  berechnen  sich  die 
Waren  jedoch  nicht  zu  dem  Preise,  der  allen  Kosten  entspricht,  sondern 
legen  einen  kleinen  Zuschlag  darauf,  um  gegen  unvorhergesehene  Even- 
tualitäten gedeckt  zu  sein  und  im  günstigen  Falle  jedem  am  Schlüsse  des 

^)  Im  Entwürfe  ist  dies  insoferne  anerkannt,  als  zwar  grundsätzlich  der  Ertrag 
der  Unternehmungen  mit  öffentlicher  Eechnungslegung  bei  der  Unternehmung  und  da- 
neben der  dem  einzelnen  Theilnehmer  (Actionär  etc.)  zufliessende  Antheil  bei  diesem  — 
der  Einkommensteuer  —  unterliegt,  doch  gemäss  §  204  nur  die  Zinsen  und  Dividenden 
von  Geschäftseinlagen  und  Genossenschaftsantheilen  zur  Einkommensteuer  herangezogen 
erscheinen,  die  Dividenden  nach  Maassgabe  der  Einkäufe  aber  nicht  genannt  sind.  Dass 
für  die  Unterwerfung  der  Dividenden  auf  Genossenschaftsantheile  unter  die  Einkommen- 
steuer bei  den  einzelnen  Genossenschaftern  Gesichtspunkte  sprechen,  erhellt  aus  der 
zweitnächsten  Anmerkunsr. 


898  Mataja. 

Jahres  ein  paar  Gulden  ausfolgen  zu  können,  die  also  nichts  anderes  sind 
als  eine  kleine  Sparsunime  zusammengebracht  durch  die  Ueberzahlungen 
bei  der  Entnahme  der  Waren:  angenommen,  diese  Sparsumme  beträgt 
per  Kopf  10  fl.  und  die  Anzahl  der  Theilnehmer  ist  gering,  so  tritt  keine 
Steuer  ein.  Die  Verhältnisse  bleiben  beim  alten,  die  Zahl  der  Theilnehmer 
nimmt  zu  und  damit,  ohne  dass  irgend  jemand  gegen  früher  ein  grösseres  Er- 
trägnis erzielt,  die  Gesammtsumme  des  Ersparten  —  die  Besteuerung  ergreift 
nunmehr  dieselbe.  Falls  die  Vereinigung  weiter  wächst  und  etwa  auf  10.000  Mit- 
glieder ansteigt,  so  werden  die  Ersparnisse  der  letzteren  beim  Einkauf  pro- 
portionell  ebenso  besteuert,  wie  der  Ertrag  der  mächtigsten  Capitalsassociationen, 
wie  die  Spielgewinne  eines  Credit  mobilier!^)  Das  heisst  mit  anderen  Worten: 
So  lange  diese  Vereinigungen  leistungsunfähige  Zwerggebilde  sind  oder 
unbesorgt  in  den  Tag  hineinwirtschaften  oder  die  Mitglieder  sich  um  die 
Sparzwecke  nicht  kümmern,  werden  sie  vom  Fiscus  ignoriert;  breiten  sie 
sich  aber  aus,  schlagen  sie  eine  rationelle  Geschäftsführung  ein  und  suchen 
sie  bei  ihren  Mitgliedern  den  Sparsinn  zu  pflegen,  so  eiTeicht  sie,  je  gründ- 
licher sie  dies  thun,  auch  die  Besteuerung  umso  gründlicher. 

Genau  das,  was  hier  zunächst  in  Beziehung  auf  die  Consumvereine 
ausgeführt  worden  ist,  gilt  auch  von  allen  übrigen  Wirtschaftsgenossen- 
schaften mit  Ausnahme  von  jenen,  welche  Geschäfte  machen,  die,  wenn 
ein  Einzelner  sie  vornähme,  auch  erwerbsteuerpflichtig  w^ären.  Was  immer 
hier  als  Gewinn  oder  Ertrag  erscheint,  ist  seinem  Wesen  nach  nichts  anderes 
als  ein  Geschöpf  der  Abrechnung  aus  Veranstaltungen,  die  mit  den  Ertrag- 
steuern nichts  zu  thun  haben.  ^) 


^)  Die  Begünstigung,  dass  das  erste  Tausend  nur  drei  Zehntel  zahlt  etc.,  darf  bei 
dieser  Rechnung  wirklich  vernachlässigt  werden.  Dafür  stehen  aber  alle  Vereinigungen 
—  auch  die  kleinsten  —  unter  dem  Absatz  3  des  §  106,  der  freilich  für  sie  nicht  sehr 
gefährlich  sein  dürfte. 

2)  Insbesondere  gehören  hierher  auch  die  Credit-  und  Vorschussvereine.  Insolange 
sie  von  dritten  Personen  nur  Credit  nehmen,  nicht  aber  an  solche  gewähren,  können 
sie  —  ebenso  wenig  wie  die  Consumvereine  —  einen  wirklichen  Ertrag  haben,  da  man 
durch  Ausleihen  von  Fremden  keine  Einnahmen  erzielt,  so  wenig  wie  durch  Ankauf. 
Eine  abweichende  Anschauung  kann  hier  jedoch  eher  durch  den  Umstand  entstehen,  dass 
die  Ueberschüsse,  d.  i.  die  den  Mitgliedern  zu  viel  berechneten  Zinsen  für  gewährte 
Credite,  regelmässig  nicht  (wie  die  Dividende  der  Consumvereine)  nach  Maassgabe  der 
Inanspruchnahme  der  Genossenschaft  durch  die  Einzelnen,  sondern  einfach  nach  den 
Geschäftsantheilen  vertheilt  werden.  Für  den  einzelnen  Antheilseigner  können  dadurch 
in  der  That  Einnahmen  entstehen,  allerdings  nur  auf  Kosten  eines  andern  Mitgliedes, 
welches  im  Wege  der  Dividende  nicht  jene  Rückvergütung  erhält,  die  ihm  bei  Bemessung 
nach  dem  correcten  Schlüssel  zukäme.  Das  ist  hier  aber  irrelevant,  da  nicht  die  Be- 
steuerung der  Genossenschafter,  sondern  der  Genossenschaft  als  Ganzes  in  Frage  steht. 
Die  Genossenschaft  aber  (welche  nur  an  Mitglieder  Credit  gewährt)  kann  keine  Einnahme 
haben,  weil  dazu  eine  nothwendige  Voraussetzung  fehlt,  sie  tritt  nach  aussen  nur  als 
Käufer,  Entlehner  auf.  nicht  aber  als  Verkäufer.  Wenn  mehrere  Personen  gemeinsam 
Waren  kaufen,  gemeinsam  Credit  aufnehmen,  gemeinsam  ein  Magazin  mieten  etc.,  so 
können  sie  immerhin  die  gemeinsamen  Kosten  nicht  gerecht  auftheilen,  d.  h.  nach  Maass- 
gabe der  Benützung  des  gemeinsam  Beschafften  durch  jeden  Einzelnen;  sie  können  bei 
der  Abrechnung  zu  hohe  Preise  annehmen  und  den  Ueberschuss  —  das  zu  viel  Berechnete  — 


Die  Eeform  der  directen  Personalsteiiern  in  Oesterreich.  399 

Nebenbei  bemerkt,  scheint  mir  die  Besteuerung  der  Consumvereine 
leiclit  eine  zweischneidige  Waffe  werden  zu  können,  die  sich  auch  gegen 
Jene  zu  richten  vermöchte,  denen  man  damit  ein  Entgegenkommen  beweisen 
will.  Der  Detaihandelsstand  hat  ein  Interesse  daran,  dass  sich  die  Consum- 
vereine streng  auf  den  Verkauf  an  Mitglieder  beschränken.  Welchen  Vortheil 
haben  aber  namentlich  grössere  Vereine  in  Zukunft  davon  dies  zu  thun? 
Heute  droht  ihnen  beim  Aufgeben  dieser  Beschränkung  der  Verlust  der 
durch  das  Gesetz  vom  27.  December  1880  gewährten  Begünstigungen,  wie 
der  Befreiurg  von  der  Erwerbsteuer  etc.;  in  Zukunft,  wo  diese  bisher 
exceptionell  gewährten  Bestimmungen  im  Wesentlichen  allen  der  öffentlichen 
Kechnungslegung  unterworfenen  Unternehmungen  zugute  kommen  sollen 
(Motive  S.  65).  so  viel  wie  Nichts.  Mögen  also  die  Betheiligten  zusehen, 
dass  ihnen  nicht  selber  aus  der  neuen  Sachlage  ein  Schade  erwachse. 
Associationen,  die  als  Erwerbsunternehmungen  besteuert  werden,  dürfen 
sich  wohl  erlauben  dem  Erwerb  nachzugehen. 

Wir  können  von  den  Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossenschaften  noch 
nicht  Abschied  nehmen,  auch  die  Productivgenossenschaften  geben  zu 
einigen  Worten  Anlass.  Wie  bekannt  unterliegen  sie  heute  der  Besteuerung 
wie  andere  Unternehmungen;  thatsächlich  ist  aber  diese  Gleichheit  in  vielen 
Fällen  nur  ein  Schein,  indem  die  Productivgenossenschaften  eine  öffentliche 
Eechnungslegung  haben  und  daher  die  Erträge  voll  und  ganz  oder  mit 
Kücksicht  auf  die  Vorschriften  über  nicht  passierbare  Auslagen  etc.  sogar 
einer  fictiven  Ziffer  nach  besteuert  werden,  während  die  von  einzelnen 
Privaten  geführten  Unternehmungen  (den  eigentlichen  Concurrenten  der 
Genossenschaften)  ihre  Erträge  bekanntlich  oft  in  hohem  Mansse  zu  ver- 
schleiern wissen,  so  dass  eben  nur  ein  Theil  zur  wirklichen  Besteuerung 
gelangt.  Vor  Jahren  hat  Ziller,  der  bekannte  Anwalt  des  Genossenschafts- 
wesens in  Oesterreich,  infolge  der  Verschiedenheit  des  Vorganges  bei 
Ermittlung  des  steuerpflichtigen  Einkommens  in  der  Regel  die  Steuer  der 
Productivgenossenschaften  auf  das  drei-,  selbst  sechsfache  als  die  der 
entsprechenden  Einzelunternehmung  oder  offenen  Handelsgesellschaft  mit 
derselben  Geschäftsausdehnung  geschätzt.  Man  erinnere  sich  auch  der 
Mittheilungen,     die    Abgeordneter  Wrabetz     im    Abgeordnetenhause     am 


beispielsweise  gleich  und  nicht  nach  Maassgabe  dessen  vertheilen,  wie  jeder  an  der 
Erzielung  dieser  rechnungsmässigen  Ueberschüsse  mitgewirkt  hat.  Der  Einzelne  kann 
dadurch  profitieren,  nicht  aber  die  Gesammtheit  als  solche,  die  immer  nur  theuer  oder 
wohlfeil  einkaufen,  nicht  aber  einen  Gewinn  machen  kann.  Das  preussische  Ministerial- 
rescript  vom  5.  August  1885  (jetzt  durch  die  neuen  Steuergesetze  überholt)  hatte  jene 
Credit-  und  Vorschussvereine  als  gewerbesteuerfrei  erklärt,  welche  nur  an  Mitglieder 
Credit  gewähren  und  den  ganzen  Geschäftsnberschuss  ausschliesslich  denjenigen,  welche 
den  Credit  in  Anspruch  genommen  haben,  nach  Maassgabe  dieser  Inanspruchnahme 
wieder  zuwenden.  Diese  Bestimmung  zeigt,  wie  man  bei  allzu  eifrigem  Bestreben,  genau 
und  consequent  zu  sein,  irre  gehen  kann.  Die  Unmöglichkeit  eines  Erwerbes  liegt  bei 
den  Genossenschaften  —  als  Ganzes  genommen  —  an  ihrem  Wesen,  nicht  an  dem 
Vertheilungsschlüssel  der  rechnungsmässigen  Ueberschüsse.  Unnöthig  zu  sagen,  dass  die 
Vorschuss-  und  Creditvereine  jener  Bedingung  nicht  nachkommen  konnten. 


400  Mataja. 

3.  Juli  1891  über  die  Besteuerung  der  Productivgenossenschaften  gemacht 
hat.  Im  neuen  Gesetzentwurf  sehen  sich  die  Productivgenossenschaften 
einer  zehnprocentigen  Steuer  vom  Ertrage  unterstellt,  während  selbst  die 
rentabelsten  grössten  Privatunternehmungen  nach  Abtheilung  VI  des  Erwerb- 
steuertarifes  circa  5  Proc.  —  Motivenbericht  S.  30  —  zahlen  sollen,  aller- 
dings mit  der  für  kleinere  Genossenschaften  nicht  unwesentlichen  Begünsti- 
gung der  §§  93  und  106  in  Betreff  der  Steuerfreiheit  eines  Keinertrages  bis 
300  Gulden  und  der  Steuerermässigung  für  die  ersten  zweitausend  Gulden, 
welche  auch  beim  Absatz  an  Nichtmitglieder  gilt. 

Ich  glaube,  eine  Steuerreform,  die  sich  —  und  mit  gutem  Grunde  — 
als  eine  die  Entlastung  der  schwächeren  Elemente  bezweckende  gibt,  sollte 
auch  an  den  Productivgenossenschaften  nicht  achtlos  vorübergehen  und 
dies  umso  weniger,  als  hier  ein  besonderes  fiscalisches  Interesse  ohnehin 
nicht  in  Frage  kömmt.  Die  auf  Seite  13  des  Motivenberichtes  dafür  ange- 
gebenen Gründe,  dass  bei  Unternehmungen  mit  öffentlicher  Kechnungslegung 
„das  historisch  eingebürgerte  Steuerausmaass  von  10  Proc.  ohne  Bedenken 
beizubehalten  wäre"  treffen  doch  wohl  nur  die  Actiengesellschaften. 

Soweit  überhaupt  eine  Steuerpflicht  der  Productivgenossenschaften 
angenommen  werden  kann,  so  sollte  sie  jedenfalls  nicht  das  Maass  der 
Leistungen  von  Privatunternehmungen,  die,  wie  eben  gesagt,  ihre  Con- 
currenten  bilden,  überschreiten;  trotz  §  93  wird  aber  oft,  vielleicht  regelmässig 
das  Gegentheil  der  Fall  sein.  Ich  sage :  soweit  eine  Steuei*pflicht  angenommen 
werden  kann,  weil  es  auch  Associationen  gibt,  die,  obzwar  sie  zu  den 
Productivgenossenschaften  gezählt  werden,  doch  der  Natur  der  Sache  nach 
mit  einer  Erwerbsteuer  nichts  zu  thun  haben  sollten,  ob  ihr  Keinertrag  nun 
etwas  grösser  oder  kleiner  ist.  Es  sind  dies  die  landwirtschaftlichen 
Productivgenossenschaften.  ^)  Wenn  ich  nicht  irre,  sind  diese  in 
Oesterreich  zumeist  in  der  Form  von  Molkereigenossenschaften  ins  Leben 
getreten.  Der  Zweck  derselben  bestand  in  der  gemeinsamen  Verwertung  der 
von  den  Mitgliedern  in  ihrem  Wirtschaftsbetrieb  erzeugten  Milch  und  der  aus 
derselben  gewonnenen  Producte.  So  lange  nun  der  Bauer  für  sich  allein  die 
Milch  zu  Butter  und  Käse  verarbeiten  und  den  Absatz  besorgen  will,  bleibt 
dieser  Betrieb  steuerfrei,  weil  ja  die  Wirtschaft  des  Bauers  bereits  durch  die 
Grundsteuer  getroffen  und  die  Verwertung  der  landwirtschaftlichen  Producte 


^)  Selbst  das  neue  preussische  Geweibesteuergesetz  vom  24.  Juni  1891,  welches 
trotz  der  Bestrebungen  von  manchen  Abgeordneten  wie  Parisius  u.  A.  die  Genossen- 
schaften durchaus  nicht  sehr  freundlich  behandelt,  erklärt  (in  §.  5)  Molkereigenossen- 
schaften, "Winzervereine  und  andere  Vereine  zur  Bearbeitung  und  Verwertung  der  selbst- 
gewonnenen Erzeugnisse  der  Theilnehmer  nur  unter  denselben  Voraussetzungen  gewerb- 
steuerpflichtig,  unter  welchen  auch  der  gleiche  Geschäftsbetrieb  des  einzelnen  Mitgliedes 
hinsichtlich  seiner  selbstgewonnenen  Erzeugnisse  der  Gewerbesteuer  unterworfen  ist.  —  Man 
hat  im  deutschen  Keiche  recht  auf  das  landwirtschaftliche  Genossenschaftswesen  Bedacht 
zu  nehmen,  das  sich  dort  bereits  einer  grossen  Entwicklung  erfreut;  die  Anwaltschaft 
der  Vereinigung  der  deutschen  landwirtschaftlichen  Genossenschaften  gibt  die  Zahl  der- 
selben 1889  mit  3753  an  (darunter  1730  Creditgenossenschaften,  ^»31  Molkereigonossen- 
schaften  etc.). 


Die  Reform  der  directen  Personalsteuern  in  Oesterreich.  401 

keiner  weiteren  Steuer  unterworfen  ist.  Treten 'jedoch  mehrere  zusammen 
und  thun  dasselbe  gemeinsam,  so  entsteht  mit  einem  Male  ein  neues  Kechts- 
subject,  die  Genossenschaft,  die  selbst  weder  Grundbesitzer,  noch  die  erwerb- 
uud  einkommensteuerfreie  landwirtschaftliche  Industrie  betreibt,  und  daher 
der  Erwerb-  und  Einkommensteuerpflicht  unterliegt.  So  war  wenigstens  die 
Auffassung,  welche^  vor  Jahren  den  Molkereigenossenschaften  in  Tirol  mit 
aller  Schärfe  entgegengebracht  wurde  und  der  ein  interessantes  Capitel  in 
der  Leidensgeschichte  des  Kampfes  der  Genossenschaften  in  Oesterreich  mit 
dem  Fiscus  sein  Entstehen  verdankt."  Der  neue  Gesetzentwurf  unterstellt 
(§  91)  „alle  Unternehmungen-  der  registrierten  und  nicht  registrierten 
Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossenschaften  der  Steuer  und  besiegelt  damit 
wohl  definitiv  das  Schicksal  aller  ähnlichen  Schöpfungen  wie  jener  Molkerei- 
genossenschaften. Man  darf  bei  diesen  Dingen  auch  nicht  bloss  die  Höhe 
der  Steuer  bedenklich  finden,  welche  ja  bei  kleinen  Genossenschaften  gemäss 
den  §§  93  und  106  in  der  That  nicht  sehr  beträchtlich  ausfallen  mag;  den 
Bauer  schreckt  schon  der  Verkehr  mit  der  Steuerbehörde,  ihn  bangt  vor 
den  vielen  Anmeldungen,  Bekenntnissen,  Kecursen  etc.  Alle  diese  Schreibe- 
reien bedeuten  für  den  Landwirt  nicht  bloss  Verdruss  wie  für  Jedermann, 
sondern  viel  Mühe,  Zeitverlust  und  gewöhnlich  Kosten,  da  er  sich  nicht 
selbst  zu  rathen  weiss.  Wie  man  landwirtschaftliche  Associationen  fördert, 
hat  in  glänzender  Weise  das  französische  Syndicatsgesetz  vom  21.  März 
1884  bewiesen.  In  wenigen  kurzen  Worten  wird  den  Gründern  von  Fach- 
vereinen  die  Pflicht  auferlegt,  die  Statuten  und  Namen  der  Leiter  im 
Bürgermeisteramt  zu  hinterlegen,  beziehungsweise  bei  Aenderungen  diese 
Hinterlegung  zu  erneuern,  und  damit  sind  die  Förmlichkeiten  auch  schon 
beendet.  Das  ganze  Gesetz  zählt  nur  zehn  Artikel!  Die  Landwirtschaft  hat 
sich  der  neuen  Form  in  umfassendster  Weise  bemächtigt  und  erfüllen  die 
landwirtschaftlichen  Syndicate  theils  die  Zwecke  von  Vereinen  in  unserem 
Sinne,  theils  von  Genossenschaften  für  Creditbeschaffung,  gemeinsamen 
Ankauf  von  Bedarfsartikeln,  gemeinsamen  Verkauf  etc.  etc.  Ihre  Zahl  ist 
gegenwärtig  schon  circa  1000,  und  besitzen  sie  sicherlich  weit  mehr  als 
eine  halbe  Million  Mitglieder.  Diese  Syndicate  stellen  für  Frankreich  nach 
dem  Worte  eines  französischen  Publicisten  eine  förmliche  Revolution  in  der 
wirtschaftlichen  Gebarung  der  französischen  Agricultur  dar  und  wandeln 
sich  auch  schon  jetzt,  wenn  sie  erstarkt  sind  und  eine  präcisere  Verfassung 
bedürfen,  in  wirkliche  Cooperativgesellschaften  um.  Diesen  letzteren  selbst, 
obzwar  sie  keineswegs  zu  klagen  hatten,  kommt  jetzt  übrigens  ein  neuer, 
eben  vom  Senat  (Juni  1892)  angenommener  Gesetzentwurf  entgegen, 
welcher  die  Consumvereine,  die  nur  an  Mitglieder  und  sogenannte  Theil- 
nehmer  verkaufen,  als  Civilgesellschaften  und  nicht  als  Handelsgesellschaften 
erklärt  und  ihre  Dividenden  nach  Maassgabe  der  Einkäufe  von  der  Ein- 
kommensteuer befreit,  was  übrigens  der  schon  bestehenden  Praxis  entspricht. 
Neben  wichtigen  Gebürenbefreiungen  für  die  Cooperativgesellschaften  im 
allgemeinen  werden  dann  den  Productivgenossenschaften  insbesondere  weit- 
gehende Steuerfreiheiten  ertheilt.    Wie  wohlthuend  sticht  dies  von  unseren 


402  Mataja. 

Steiiergesetzen,  unserem  schwerfälligen  Genossenschaftsgesetz  mit  seinen 
detaillierten  Bestimmungen  über  den  Genossenschaftsvertrag  etc.  ab,  denen 
Bauern  Genüge  leisten  sollen!  Wir  sind  nun  einmal  daran  gewöhnt,  hinter 
jede  Association  einen  Steuerinspector  oder  einen  Polizeicommissär  oder 
womöglich  beide  zu  stellen  und  die  Befürwortung  einer  anderen  Methode 
Socialpolitik  zu  treiben  begegnet  kühlem  staatsmännischem  Achselzucken. 
Die  Sorge  vor  „ Missbräuchen "  lastet  schwer  auf  unserem  Gemüth  und 
verkümmert  uns  die  Freude  am  Gebrauch  einer  Einrichtung.  Unser  Rechts- 
bewusstsein  ist  so  feinfülilig,  dass  wir  lieber  angesichts  der  Ueber- 
schreitimgen  ihres  Wirkungskreises  durch  Einzelne  lieber  hundert  Unschuldige 
bestrafen,  als  einen  Schuldigen  entweichen  zu  lassen.^) 


Ich  sehe  übrigens  keinen  Grund  ein,  warum  alle  Unternehmungen 
mit  öffentlicher  Rechnungslegung  bloss  dieses  äusserlichen  Momentes  halber 
einem  und  demselben  Steuersatz  unterworfen  sein  sollen,  während  sie  in 
Wahrheit  einen  höchst  verschiedenen  Umfang  und  Charakter  aufweisen  und 
sonst  überall  im  Steuerwesen  nach  einer  Individualisierung  gestrebt  wird. 
Vielleicht  wäre  auf  dem  Wege,  gewisse  Unternehmungen  wie  die  Genossen- 
schaften, Sparcassen  einem  massigeren  Steuersatz  zu  unterstellen,  eine  Ver- 
mittlung für  die  in  dieser  Angelegenheit  so  abweichenden  Standpunkte  zu 
finden.  Denn  sicherlich  wird  sich  und  nicht  ohne  Grund  Opposition  erheben 
auch  gegen  die  geplante  Besteuerung  von  anderen  im  §  91  genannten  Unter- 
nehmungen  als  die  Genossenschaften,   so  der  Sparcassen,  Vorschusscassen. 

V. 

Die   Besoldungs-  und   die   Rentensteuer. 

Die  neue  Besolduugssteuer  bringt  relativ  nur  wenige  Aenderungen 
gegenüber  den  heutigen  Zuständen,  die  Steuersätze  sind  zwar  ermässigt, 
doch  ist  die  factische  Belastung  der  Dienstbezüge  keine  geringere,  da  eben 
auch  die  Einkommensteuer  für  diese  zu  entrichten  ist:  durch  Abrundungen 
entstehen  gegenüber  den  jetzigen  Steuerleistungen  einzelne,  jedoch  nicht 
bedeutende  Verschiebungen  und  zwar,  wie  die  Tabelle  auf  S.  129  der 
Motive  zeigt,  innerhalb  der  einzelnen  neugebildeten  Steuerstufeu  zumeist  zu 
Ungunsten  der  geringereu  und  zu  Gunsten  der  höheren  Bezüge.  Eine  kleine 
Neuerung  zu  Ungunsten  der  veränderlichen,  wandelbaren  Bezüge  ist  darin 
gelegen,  dass  nicht  mehr  wie  jetzt  immer  der  Durchschnitt  aus  den  drei 
vergangenen  Jahren,  sondern  der  Betrag  der  letzten  Jahres  zugrunde  gelegt 
wird.  Dadurch  ist  es  erstens  unmöglich,  dass  der  Ueberschuss  in  einem 
Jahre  über  das  steuerfreie  Minimum  sich  ausgleiche  mit  dem  Deficit  eines 


^)  Um  unserem  Verfahren  noch  ein  Gegenstück  gegenüber  zu  halten,  verweise  ich 
schliesslich  noch  auf  das  bekannt  grossartige  Genossenschaftswesen  in  England  und  die 
liberale  Steuerbehandlung,  die  es  dort  erfährt.  Man  sehe  die  Darstellung  bei  Schulze- 
Gaevernitz  „Zum  socialen  Frieden"  s.  bes.  L,  S.  346.  Anm. 


Die  Eeform  der  directen  Personalsteuern  in  Oesterreich.  403 

andern  Jahres,  zweitens  kommt  auch  die  geplante  progressive  Anlage  der 
Steuer  in  Betracht.  Ein  Mann  beispielsweise,  dessen  Einkommen  wechselt, 
etwa  in  einem  Jahre  1000,  in  einem  andern  2000,  in  einem  dritten  3000 
beträgt,  wird  nach  der  Durch schnittsberechnung  immer  2000  d.  i.  nacli 
dem  Tarif  (§  136)  in  drei  Jahren  60  fl.  zu  entrichten  haben,  während  er 
nach  der  neuen  Berechnungsweise  10  +  20  +  60  fl.  d.  i.  zusammen  90  fl. 
zu  zahlen  hat.  Seine  Gesammtsteuer  (Besoldungs-  und  Einkommensteuer) 
würde  in  einer  dreijährigen  Periode  nach  dem  Durchschnitt  berechnet  150, 
nach  dem  Ertrag  der  einzelnen  Jahre  184  fl.  20  kr.  betragen. 

Die  Beibehaltung  des  bisherigen  Steuerausmaasses  Avird  (S.  33  der 
Motive)  damit  begründet,  dass  die  jetzt  übliche  stark  progressive  Besteuerung 
(erstes  Tausend  1  Proc,  jedes  folgende  Tausend  um  ein  weiteres  Procent 
höher  bis  zu  zehn  Procent,  wozu  dann  noch  der  Zuschlag  von  70,  bzhw. 
100  Proc.  des  Steuerordinariums  kommt)  den  niedrigen  und  mittleren  Stufen 
des  Lohneinkommens  schon  derzeit  eine  nur  massige,  die  Steuerkraft  der- 
selben keineswegs  übersteigende  Belastung  auflege;  für  die  höheren  Stufen 
bewirke  die  scharf  ansteigende  Progi'ession  allerdings  eine  —  zumal  für 
nicht  fundiertes  Einkommen  —  ungewöhnlich  hohe  Belastung.  Da  dieselbe 
sich  aber  seit  geraumer  Zeit  vollständig  eingelebt  und  wohl  auch  schon  bei 
der  Ausmessung  der  vertragsmässigen  Dienstbezüge  Berücksichtigung  gefunden 
habe,  erscheine  auch  hier  eine  essentielle  Herabsetzung  nicht  geboten. 

Eingelebt  hat  sich  die  hohe  Belastung  freilich,  da  dies  kein  Vorrecht 
guter  Steuergesetze  ist;  aber  misslich  ist  es  doch,  nicht  fundiertes  Ein- 
kommen so  schwer  zu  treffen,  vielfach  bedeutend  schwerer  als  fundiertes. 
Auch  die  Bemerkung,  dass  die  Steuer  schon  bei  Bemessung  der  Dienstbezüge 
Berücksichtigung  gefunden  habe,  ist  ein  nur  etwas  magerer  Trost  und  bliebe 
dann  noch  immer  zu  untersuchen  übrig,  ob  die  solcherart  auf  den  Dienst- 
geber überwälzte  Steuer  den  Anforderungen  der  Billigkeit  entspricht. 

Auch  ist  die  Annahme  berechtigt,  dass  gewisse  mindere  Dienstbezüge, 
die  heute  von  den  directen  Steuern  nicht  getroffen  werden,  in  Hinkunft 
(neben  der  Einkommensteuer)  der  Besoldungssteuer  verfallen  werden.  Diese 
Aenderung  wird  durch  mannigfache  Gründe  bewirkt:  erstens  durch  die 
Herabsetzung  des  steuerfreien  Betrages  von  630  auf  600  fl.,  zweitens  durch 
die  Bestimmung,  dass  alle  Lohn-  und  Dienstbezüge,  welche  den  Betrag  von 
jährlich  600  fl.  übersteigen,  steuerpflichtig  sind,  während  heute  die  Hilfs- 
arbeiter geringerer  Kategorie  schlechtweg  steuerfrei  sind  (Freiberger,  Hand- 
buch der  österr.  directen  Steuern,  S.  366),  drittens  durch  die  eben  erwähnte 
Veränderung  in  der  Berechnung  wandelbarer  Bezüge,  viertens  durch  die 
schärfere  Erfassung  des  Lohneinkommens  (Erweiterung  der  Anzeige-  und 
Einhebepflicht  der  Dienstgeber  auch  auf  die  nicht  stehenden  Bezüge, 
insbesondere  auch  die  Kückwirkung  der  Einkommensteuer  mit  ihrer 
eventuellen  Bemessung  nach  dem  IVIietaufwand  und  den  sonstigen  Hilfs- 
mitteln auf  die  Erhebung  der  Dienstbezüge  ^),  fünftens  durch  die  Behandlung 


')  Vgl.  E.  Mi  sc  hl  er  im  Socialpolit.  Centralblatt  vom  20.  Juni  1892. 


404  Mataja. 

der  Veränderungen  in  der  Steuerpfliclit.  Letzteres  bedarf  noch  einer 
Erläuterung. 

Heute  gilt  die  Kegel,  dass,  wenn  die  Besoldung  nicht  für  eine  ganz- 
jährige, sondern  nur  für  eine  kürzere  Dauer  der  Dienstverweudung  im  voraus 
bestimmt  ist,  der  Steuerberechnung  nicht  die  Besoldung,  die  auf  die 
ganzjährige  Dienstleistung  entfiele,  sondern  nur  jener  Betrag  zugrunde  gelegt 
wird,  welcher  während  der  wirklichen  Dauer  der  Verwendung  zur  Aus- 
zahlung gelangt.  Princip  ist  eben  die  Einhebung  der  Einkommensteuer 
nur  nach  Maassgabe  der  wirklichen  Auszahlung  der  Bezüge  (Freiberger, 
S.  392).  Nach  dem  Entwürfe  gilt  nun  das  Folgende.  Beispielsweise  ein 
Commis,  Werkführer  o.  drgl.  ist  durch  vier  Monate  im  Jahre  beschäftigungslos, 
durch  acht  Monate  hindurch  mit  GO  fl.  Monatsgehalt  angestellt,  so  zahlt 
er  Steuer,  denn  nach  den  §§  149  fg.  tritt  folgende  Berechnung  ein:  die 
einzelnen  Monatsbezüge  sind  zu  besteuern,  als  wenn  sie  das  ganze  Jahr  hindurch 
andauerten.  Die  Besoldungssteuer  für  720  fl.  beträgt  im  Jahre  7  fl.  20  kr., 
folglich  hätte  unser  Mann  achtmal  ein  Zwölftel  dieser  Steuer  d.  i.  zusammen 
4  fl.  80  kr.  zu  entrichten.  Aehnlich  ergeht  es  allen,  die  wegen  Erkrankung, 
Stellenlosigkeit  etc.  nur  einen  Theil  des  Jahres  hindurch  verdienen,  sie 
werden  besteuert  während  der  Dauer  ihres  Erwerbes,  als  hätte  derselbe  ununter- 
brochen angehalten.  Nicht  der  wirkliche  Verdienst  eines  Jahres  ist  Be- 
steuerungsgrundlage, sondern  die  einzelnen  Erwerbsquoten  nach  jenem 
Maasse,  als  der  Jahresbezug,  nach  ihnen  calculiert,  steuerbar  wäre.  Selbst- 
verständlich kann  sich  dies  nicht  bloss  in  der  Steuerpflicht  eines  das 
Existenzminimum  nicht  erreichenden  Betrages,  sondern  in  der  Anwendung 
höherer  Steuerpercente  äussern.  Ein  Buchhalter  beispielsweise,  der  nach 
dreimonatlicher  Beschäftigungslosigkeit  eine  Anstellung  mit  200  fl.  Monats- 
gehalt erlangt,  sieht  seine  Bezüge  besteuert  mit  dem  einen  Jahresbezug 
von  2400  fl.  und  nicht  mit  dem  einen  Bezug  von  1800  fl.  treffenden  Steuer- 
percente.    Dasselbe  gilt  dann  auch  für  die  Einkommensteuer  (§§  261,  269). 

Der  Eingangssatz  zum  Besoldungssteuergesetze  (§  129),  die  Steuer- 
freiheit des  Existenzminimums  (§  191),  die  Behauptung,  dass  am  alten 
Steuerausmaasse  für  Besoldungen  nichts  geändert  werde,  scheinen  mir  daher 
von  fraglicher  Kichtigkeit  zu  sein.  Wer  niemals,  auch  nicht  ein  einziges 
Mal  in  seinem  Leben,  in  einem  Jahre  600  fl.  verdient  hat,  kann  in  Zukunft 
nach  dem  Entwürfe  regelmässig  eine  directe  Steuer  zu  entrichten  haben. 
Wir  haben  hier  eine  Einrichtung  vor  uns,  die  ihre  Spitze  insbesondere 
gegen  jene  Personen  kehrt,  die  sich  in  keiner  gesicherten  Anstellung  befinden. 
Erwerbszweige,  die  unter  der  Geissei  häufiger  Beschäftigungslosigkeit  stehen, 
werden  dadurch  in  erster  Linie  betroffen.  Ob  die  gedachten  Umstände  der 
socialpolitischen  Tendenz  der  Vorlage  entsprechen,  mag  billig  bezweifelt 
werden:  derselbe  Gegenstand  wird  übrigens  bei  Besprechung  der  Einkommen- 
steuer wieder  auftauchen. 

Das  Hauptstück  über  die  Rentensteuer  gibt  mir  keinen  Anlass  zu 
belangreichen  Gegenbemerkungen.  Die  Niedrigkeit  des  Steuerfusses  dürfte 
eine  leidige  Notwendigkeit  sein. 


Die  Eeform  der  directen  Personalsteuem  in  Oesterreich.  405 

VI. 

Die   Personaleinkommensteuep. 

Wie  wir  aus  Erfahrung  wissen,  ist  es  regelmässig  die  Personalein- 
kommensteuer, bei  welcher  die  schönen  Forderungen  der  Steuerfreiheit  des 
Existenzminimums,  der  Berücksichtigung  von  Familienstand  und  persönlichen 
Verhältnissen  bei  Bemessung  der  Steuer  u.  dergl.  mehr  auftauchen.  Schade 
ist  nur,  dass  diese  Grundsätze  bloss  bei  einer  Steuer  gelten,  welche  finan- 
ziell so  sehr  im  Hintergrunde  steht;  der  Ertrag  der  neuen  Einkommensteuer 
wird  (Motive  S.  38)  mit  14'32  bis  21-48  Mill.  Gulden  veranschlagt,  wäh- 
rend gegenwärtig  (nach  dem  Finanzgesetze  pro  1892)  betragen: 

die  directen  Steuern 105*83  Mill.  Gulden 

«    Zölle 40-55      „ 

y,    Verzehrungssteuern  .' 100*93      „  „ 

„    Abgabe,  betr.  den  Handel  mit  geistigen 

Getränken 1*14      „  „ 

der  Reingewinn  aus  dem  Salzmonopol  .     .       17*78      „  „ 

„    Reingewinn  aus  dem  Tabakmonopol     .       54*03      „  „ 

u.  s.  w.,  bei  welchen  Einnahmsquellen  des  Staates  jene  schönen  Forderungen 
leider  nur  sehr  wenig  Berücksichtigung  finden,  wo  nicht  gar  geradezu  das 
Gegentheil  von  ihnen  geschieht. 

Der  leidigen  Nothwendigkeit  Rechnung  tragend  muss  man  es  freilich 
schon  mit  Anerkennung,  begrüsseu,  wenn  wenigstens  bei  einem  geringen 
Procentsatz  der  gesammten  vom  Volke  erhobenen  Steuerleistung  den  funda- 
mentalen Sätzen  über  die  Schonung  der  geminderten  Leistungsfähigkeit 
Rücksicht  zutheil  wird;  immerhin  dürfte  zu  verlangen  sein,  dass  diese  Rück- 
sichtnahme nicht  zu  ängstlich  abgesteckt  und  begrenzt,  sondern  wenigstens 
auf  diesem  Splitter  des  Steuerwesens  zur  vollen  Wahrheit  werde. 

Bei  den  Bestimmungen  über  die  Besteuerungsgrundlage  stellt  der 
Gesetzentwurf  den  richtigen  und  fruchtbaren  Grundsatz  auf,  dass  gleichsam 
die  Familie  und  nicht  die  Individuen  die  Einheit  für  die  Besteuerung 
bilden.    §  193  sagt  nämlich: 

„Bei  Ehegatten,  welche  im  gemeinschaftlichen  Haushalt  leben,  hat  die 
Besteuerung  nach  dem  Gesammteinkommen,  und  zwar  selbst  dann  zu 
erfolgen,  wenn  dieselben  ein  gesondertes  Einkommen  beziehen.  Sie  schulden 
die  entfallende  Personaleinkommensteuer  zur  ungetheilten  Hand. 

Besitzen  die  in  der  Versorgung  des  Familienhauptes  stehenden  Fami- 
lienglieder ein  eigenes  Einkommen,  so  ist  dasselbe,  insoweit  es  dem  Familien- 
haupte zufliesst,  dem  Einkommen  des  letzteren  zuzurechnen,  und  nur  der 
erübrigende  Theil  für  die  betreifenden  Familienmitglieder,  und  zwar  ohne 
Rücksichtnahme  auf  den  dem  Familienhaupte  zufliessenden  Einkommenstheil, 
besonders  zu  besteuern.'' 

Diese  Bestimmungen  sind  unzweifelhaft  ganz  zutreffend:  bei  gemein- 
schaftlichem Haushalt  treten  die  Einzeleinkommen  an  Bedeutung^  zurück, 
ausschlaggebend  wird  das  Gesammteinkommen.  Eine  nothwendige  Consequenz 


406  Mataja. 

dieser  Auffassung  scheint  mir  aber  zu  sein,  dass  auch  ein  solches  Familien - 
einkommen  wesentlich  verschieden  von  einem  Einzeleinkommen  behandelt 
werde.  Oder  noch  genauer  ausgedrückt:  eine  consequente  Berücksichtigung 
des  ümstandes  wäre  nöthig,  ob  von  einem  gegebenen  Einkommen  eine 
Person  oder  mehrere  Familiengiieder  gemeinsam  zu  leben  haben. 

Die  Stellung  des  Entwurfes  zu  dieser  Frage  geht  aus  folgenden  Bestim- 
mungen hervor: 

a)  Steuei-fi'ei  sind  jene  Personen,  deren  gesammtes  Einkommen,  auf 
ein  Jahr  berechnet,  den  Betrag  von  600  Gulden  nicht  übersteigt.   (§  191.) 

b)  Stehen  in  der  Versorgung  eines  Haushaltungsvorstandes,  dessen 
Einkommen  2000  Gulden  nicht  übersteigt,  ausser  seinem  Ehegatten  in  Orten 
mit  nicht  mehr  als  10.000  Einwohnern  mehr  als  4,  in  Orten  mit  mehr  als 
10.000  Einwohnern  mehr  als  2  Familienglieder,  so  wird  von  dem  Einkommen 
des  Haushaltungsvorstandes  für  jedes  derartige  Familienglied  über  die  oben 
bezeichnete  Anzahl  der  Betrag  von  25  Gulden  in  Abzug  gebracht.  Sollte 
das  hienach  erübrigende  Einkommen  weniger  als  600  Gulden  betragen,  so 
entfällt  die  Einkommensteuerpflicht:  in  den  übrigen  Fällen  hat  wenigstens 
die  Ermässigung  des  Steuersatzes  um  eine  Stufe  (nach  dem  Tarif:  §  207) 
einzutreten.    (§  208.) 

Die  praktische  Bedeutung  dieser  Bestimmungen  kann  nicht  besser 
illustriert  werden,  als  es  schon  im  Motivenbericht  (S.  84)  selbst  geschieht: 
sie  äussert  sich  in  der  Weise,  dass  z.  B.  ein  Familienvater  mit  acht  Kindern 
in  Orten  bis  10.000  Einwohnern  mit  700  fl.,  in  grösseren  Orten  „auch  noch" 
mit  750  fl.  steuerfrei  bleibt.  Glücklicher  Mann,  der  in  einem  Staate  lebt, 
dessen  Steuerreformen  , die  Entlastung  der  schwächeren  Elemente"  anstreben! 
Leider  ist  dieses  Glück  nicht  ganz  uneingeschränkt.  Hätte  nämlich  unser 
kinderreicher  Mann  ein  Einkommen  von  der  schwindelnden  Höhe  von  800  fl., 
so  würde  er  in  kleinen  Orten  eine  Einkommensteuer  von  4  fl.  80  kr.,  in 
grösseren  von  4  fl.  zu  entrichten  haben;  setzt  sich  jenes  Einkommen  etwa 
in  der  Weise  zusammen,  dass  der  Mann  im  Dienstverhältnis  500  fl.  und 
die  Frau  und  die  acht  Kinder  zusammen  300  fl.  verdienen,  so  würde  er 
freilich  nach  dem  gegenwärtigen,  nicht  mit  dem  Stempel  der  Entlastung  der 
schwächeren  Elemente  versehenen  Steuerrecht  gar  keine  directe  Steuer  zu 
entricliten  haben. 

Ich  Avill  nun  nicht  so  weit  gehen  zu  fordern,  dass  etwa  das  aus  dem 
Zusammenrechnen  der  Einnahmen  von  Mann  und  Frau,  die  in  gemeinschaft- 
lichem Haushalt  leben,  entstehende  Gesammteinkommen,  weil  es  für  zwei 
Personen  dient,  auch  durch  zwei  dividiert  und  die  Bemessung  der  Steuer 
für  jede  Quote  separat  vorgenommen  werde;  noch  weniger  will  ich  die 
Kinderanzahl  einfach  in  den  Divisor  miteinbeziehen.  Es  Hesse  sich  freilich 
auch  dafür  mancherlei  anführen,  namentlich  in  Beziehung  auf  die  minder- 
bemittelten Classen,  und  es  wäre  im  Hinblick  auf  die  bestehenden  Auf- 
wandsteuern und  die  überwälzte  Gebäudesteuer  immerhin  noch  zu  unter- 
suchen, was  bei  einer  solchen  Bestimmung  wirkliche  Begünstigung  der 
Familienväter  und  nicht  bloss  Ausgleichung  anderweitiger  steuerlicher  Mehr- 


Die  Keform  der  directen  Personalsteuern  in  Oesterreich.  407 

belastuDg  wäre.  Jedenfalls  stünde  aber  einem  solchen  Verlangen  das  prin- 
cipielle  Bedenken  entgegen,  dass  die  wirtschaftlich  wertvolle  Tbätigkeit  der 
Frau  namentlich  in  einfacherer  Lebensstellung  keinen  richtigen  Ausdruck  in 
der  Ziffer  der  von  ihr  auswärts  erzielten  Einnahmen  zu  finden  pflegt,  und 
dass  auch  die  Vereinigung  verschiedener  Einkommen  zur  Führung  eines 
gemeinsamen  Haushaltes  eine  wesentliche  Verstärkung  ihrer  Kraft  bedeutet. 
Man  muss  sich  ferner  bewusst  sein,  dass  die  derzeitigen  Verhältnisse  leider 
nicht  gestatten,   eine  wirklich  sociale  Steuerpolitik  zu  treiben. 

Was  man  jedoch  verlangen  kann,  scheint  mir  die  Hintanhaltung  einer 
Zurücksetzung  der  Personen  mit  Familienstand  im  Vergleiche  mit  jenen 
ohne  einen  solchen  zu  sein.  Der  Gesetzentwurf  bewirkt  aber  das  gerade 
Gegentheil.  Ein  Einzelner  mit  600  fl.  ist  steuerfrei;  ein  Mann,  der  500  fl. 
verdient  und  eine  Frau  und  zwei  Kinder  besitzt,  welche  zusammen  150  IL 
erwerben,  ist  mit  650  fl.  steuerpflichtig,  obzwar  es  doch  äusserst  fraglich 
ist,  dass  seine  wirtschaftliche  Stellung  günstiger  sei.  Befinden  sich  in  einem 
kleinen  Orte  zw^ei  Männer,  die  je  700  fl.  verdienen,  und  ist  der  eine  unver- 
ehelicht, der  andere  hingegen  im  Besitze  einer  fünfköpfigen  Familie,  die 
etwa  100  fl.  erwirbt,  so  wird  letzterer  nicht  nur  bloss  höher,  sondern  sogar 
progressivisch  höher  besteuert. 

Mit  Kücksicht  also  auf  das  in  §  193  verfügte  Zusammenrechnen 
der  Einnahmen  der  einzelnen  Familienglieder  zu  einer  Steuerheit  und  den 
progressiven  Charakter  der  Steuer  scheint  mir  eine  wesentliche  Er- 
weiterung der  durch  §  209  gewährten  Erleichterungen  nicht  nur  als  ein 
Gebot  der  Schonung  geminderter  Leistungsfähigkeit,  sondern  einfach  als 
ein  Act  der  Gerechtigkeit.  Selbst  wenn  man  darauf  verzichtet,  bei  den 
höheren  Einkommen,  wo  die  Last  aus  der  Versorgung  von  Familiengliedern 
weniger  empflndlich  wird  und  §  193  wegen  der  weit  grösseren  Seltenheit 
des  Arbeitserwerbes  der  Frau,  der  weiblichen  Kinder  sowie  der  in  Versor- 
gung des  Familienhauptes  stehenden  männlichen  Descendenten  vor  allem 
nur  bei  fundiertem,  also  besonders  leistungsfähigem  Einkommen  der  genannten 
Personen  in  Anwendung  kommen  Avird,  der  Thatsache  Kechnung  zu  tragen, 
dass  von  dem  einen  Einkommen  mehrere  Personen  zu  leben  haben,  so  wäre 
darauf  bei  den  unteren  und  mittleren  Einkommensstufen  doch  keineswegs 
zu  verzichten.  Alle  diesbezüglich  zu  machenden  ziff'ermässigen  Vorschläge 
haben  natürlich  etwas  Arbiträres  an  sich.  Immerhin  möchte  ich  es  noch 
als  eine  mit  Kücksicht  auf  das  zu  erreichende  Ziel  vorsichtige  Formulierung 
bezeichnen,  wenn  im  Gesetze  erklärt  würde,  dass  conform  dem  §  193  des 
Entwurfes  dem  der  Einkommenbesteuerung  zu  unterziehenden  Einkommen 
eines  Familienhauptes  das  etwaige  Einkommen  der  Frau  und  der  Familien- 
glieder (soweit  letzteres  dem  gemeinsamen  Haushalt  dient)  hinzuzurechnen 
wäre,  dafür  aber  vom  Einkommen  eines  Haushaltungsvorstandes  —  ohne 
Unterschied,  ob  die  Familienglieder  etwas  erwerben  oder  nicht  —  für  jedes 
in  der  Versorgung  desselben  stehende  Familienglied  ein  Zehntel  des  Ein- 
kommens —  im  Maximalbetrage  jedoch  von  150  fl.  —  in  Abzug  käme.  Durch 
die  Beisetzung  jener  Maximalzift'er  würde  diese  Abzugsbestimmung  für   die 


408  Mataja. 

grossen  Einkommen  ohnehin  von  selbst  eine  nur  geringe  Bedeutung  erlangen; 
ein  Mann  z.  B.  mit  5000  fl.  Einkommen  und  einer  Frau  und  vier  Kindern, 
würde  dann  eben  statt  5000  fl.  nur  4250  fl.  zu  versteuern,  also  statt  114  fl. 
nur  101  fl.  zu  entrichten  haben.  Wenn  man  will,  kann  man  äussersten 
Falles  die  höheren  Einkommensstufen,  etwa  von  3 — 4000  fl.  an,  von  diesem 
Beneficium  ganz  ausschliessen,  obzwar  ich  auch  hierin  grosse  Vorsicht  für 
empfehlenswert  halte:  die  in  §  208  gewählte  Ziffer  von  2000  fl.  halte  ich  für 
zu  niedrig,  da  bei  den  heutigen  Lebensverhältnissen  auch  bei  noch  höherem 
Einkommen  die  Pflicht  zur  Versorgung  von  Familiengliedern  sehr  fühlbar  ist. ') 

Damit  wäre  auch  ein  Nachtheil  vermieden,  welcher  der  Bestimmung 
eines  fixen  Abzuges  von  25  fl.  anklebt,  wie  dies  §  208  des  Entwurfes 
nonuiert.  Den  verschiedenartigen  Verhältnissen  von  Stadt  und  Land,  von 
höherem  und  niedrigerem  Einkommen  kann  eine  solche  fixe  Ziffer  nicht 
gerecht  werden.  Viel  richtiger  scheint  mir  daher  —  abgesehen  von  der 
Höhe  —  die  Herstellung  einer  bestimmten  Proportion  zum  Einkommen  selbst 
zu  sein:  dort,  wo  die  Lebensmittel  theurer  sind,  pflegt  auch  der  Lohn  höher 
zu  sein,  wo  das  Einkommen  überhaupt  grösser,  ist  es  auch  regelmässig  der 
Aufwand  für  Frau  und  Kind.  Es  setzt  sich  also  die  Erleichterung  mit  der 
Last,  für  die  sie  gewährt  wird,  einigermaassen  ins  Gleichgewicht. 

Eine  Aenderung  des  §  208  im  Sinne  einer  wesentlichen  Erweiterung 
der  gebotenen  Erleichterungen  ist  aber  auch  endlich  desshalb  nothwendig, 
weil  sonst  eine  Menge  von  Personen  einkommensteuerpflichtig  würden,  die 
es  heute  nicht  sind  und  mit  gutem  Grunde  nicht  sind.  Der  Arbeiterstand 
wird  durch  das  neue  Gesetz  in  mehrfacher  Weise  betroffen,  es  kam  dies 
schon  oben  .bei  der  Besoldungssteuer  zur  Sprache  und  gilt  das  dort  Gesagte 
auch  für  die  Einkommensteuer,  da  diese  in  Beziehung  auf  das  Arbeitsein- 
kommen in  der  nämlichen  Weise  wie  die  darauf  entfallende  Besoldungs- 
steuer veranlagt  wird.  In  Betreff  der  Einkommensteuer  tritt  dann  noch  als 
erschwerend  hinzu  die  Addition  der  Einnahmen  der  in  einem  Haushalt 
lebenden  Familienglieder  zu  einem  einheitlich  zu  besteuernden  Einkommen. 
Bei  den  Arbeiterfamilien,  wo  so  häuflg  mehrere  der  Familienglieder  ver- 
dienen, keines  aber  so  viel,  dass  es  für  sich  allein  die  steuerbare  Grenze 
von  630  fl.  erreicht,  ßillt  der  letzte  Punkt  besonders  ins  Gewicht.  Man 
sehe  beispielsweise  die  in  den  Gewerbeinspectoren-Berichten  für  1889  auf 
S.  90  mitgetheilten  Arbeiterhaushaltungs -Budgets:  Alle  diese  Familien 
würden  in  Zukunft  einkommensteuerpflichtig  (es  handelt  sich  offenbar  um 
Arbeiter  auf  dem  Lande),  während  sie  voraussichtlich  heute  keine  directe 
Steuer  zahlen.    Die  Einkommensteuer  würde  (da  auch  das  Naturalquartier 


^)  Ich  halte  obige  Forderungen  für  das  Allerbescheidenste  und  würde  dringend 
wünschen,  dass  die  gesetzgebende  Gewalt  sich  noch  zu  einer  Erweiterung  derselben  ver- 
stünde. Adolf  Wagner  z.  B.  Tertritt  eine  wesentlich  ausgiebigere  Entlastung  und 
betont,  dass  gerade  in  den  mittleren  und  höheren  Mittelclassen  der  standesgemässe 
Aufwand  für  Erziehung,  Ausbildung  der  Kinder  etc.  fühlbar  ist.  Siehe  neuestens  seine 
Besprechung  der  preussischen  Steuerreform  im  Finanzarchiv,  1891,  S.  253  fg.  Vrgl.  auch 
zu  dieser  Frage  E.  v.  Fürth,  die  Einkommensteuer  in  Oesterrdch  (1892;  S.  180,  201  fg. 


Die  Keform  der  directen  Persoiialsteuern  in  Oesterreich.  409 

in  Anschlag  zu  bringen  ist:  §  135,  Abs.  4,  und  §  203)  etwa  4  fl.  40  kr. 
bis  9  fl.  20  kr.  betragen,  was  bei  Einkommen  von  650—1000  fl.  für  zum 
Theil  sechsköpfige  Familien,  bei  welchen  mehrere  Personen  verdienen,  also 
doch  schon  ein  gewisses  Alter  erreicht  und  damit  Bedürfnisse  erlangt  haben, 
eine  ganz  erhebliche  Belastung  darstellt. 

Die  Sachlage  wird  noch  verschärft  durch  §  268.  In  diesem  heisst  es, 
dass  rücksichtlich  jener  Bezüge,  für  welche  die  Besoldungssteuer  durch  die 
zur  Auszahlung  verpflichteten  Gassen  oder  Personen  zu  bemessen  und  ein- 
zuheben  ist,  die  Anordnungen  des  §  208  über  die  Erhöhung  des  steuerfreien 
Einkommens  über  600  Gulden  mit  Rücksicht  auf  die  in  der  Versorgung 
des  Haushaltungsvorstandes  stehenden  Familienglieder  keine  Anwendung  zu 
finden  haben. 

Jene  (für  den  Dienstgeber  übrigens  vielfach  odiose)  Pflicht  zur  Anzeige 
und  Einhebung  ist  nun  gemäss  §  142  sehr  weit  abgesteckt,  sie  erstreckt 
sich  auf  jeden,  der  besoldungssteueipflichtige  Bezüge  (und  zwar  nicht  bloss 
stehende,  s.  o.)  in  einem  für  eine  Person  600  Gulden  im  Jahre  übersteigenden 
Betrage  auszuzahlen  hat.  (§§  142,  143.) 

Man  schliesst  also  jene  Wohlthat  so  ziemlich  gerade  dort  aus,  wo  sie 
am  noth wendigsten  ist. 

Bemerkenswert  ist  übrigens,  dass  §  268  nach  seinem  Wortlaut  nur 
das  eventuelle  Ansteigen  der  steuerfreien  Grenze  aus  dem  Titel  des  Familien- 
standes, nicht  aber  auch  die  Ermässigung  der  .Steuer  durch  Abrechnung  der 
25  Gulden  vom  Einkommen  im  Sinne  der  ersten  Absätze  des  §  208  aus- 
schliesst.  Die  auf  S.  76  fg.  des  Motivenberichtes  zur  Begründung  des 
§  208  angestellten  Erwägungen  —  die  Absicht,  am  Bestehenden  möglichst 
wenig  zu  ändern,  Gleichbehandlung  der  Personaleinkommensteuer  mit  der 
Besoldungssteuer  behufs  Vermeidung  unnöthiger  Weiterungen  —  sprechen 
aber  doch  wohl  ebenso  für  das  eine  wie  für  das  andere.  Mir  scheint  die 
heutige  Besteuerung  der  Besoldungsempfänger  weder  so  vortreff'lich  noch 
so  unantastbar,  als  dass  nicht  auch  hier  jene  Modificationen  vorgenommen 
werden  sollten,  die  bei  allen  übrigen  Einkommensgattungen  als  zweckmässig 
und  billig  gelten.  Man  sollte  auch  glauben,  dass  die  Steuertechnik  noch 
schwierigere  Probleme  zu  lösen  hat,  als  die  Anwendung  jener  allgemeinen 
Bestimmungen  auf  die  Bediensteten. 

Das  Facit  des  Ganzen  stellt  sich  an  folgendem  Beispiel  dar.  Ein 
verheirateter  Arbeiter  gehöre  einem  jener  vielen  Erwerbszweige  an,  die 
unter  zeitweiligem  Arbeitsmangel  zu  leiden  haben.  Derselbe  ist  etwa 
9  Monate  im  Jahre  beschäftigt,  drei  Monate  feiert  er.  Sein  Lohn  betrage 
auf  den  Monat  berechnet  60  Gulden:  die  Frau  verdiene  im  Jahre  250  Gulden 
als  Fabriksarbeiterin,  zwei  Kinder,  die  vorhanden  sind,  nichts.  Heute  zahlt 
er  keine  directe  Steuer,  nach  dem  Entwürfe  hätte  er  zu  entrichten: 

Einkommensteuer  für  790  fl 5  fl.  40  kr. 

Besoldungssteur  für  540  fl 5    „   40    „ 

10  fl.  80  kr.  ohne  Communalzuschläge. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Soeialpolitik  und  Verwaltung.  III.  Heft.  27 


410  Mataja. 

Icli  halte  ein  solches  Eesultat  für  unmöglich,  obzwar  damit  die  Frage 
des  allgemeinen  Wahlrechts  für  Oesterreich  wesentlich  der  Lösung  näher 
gerückt  wäre. 

Selbstverständlich  gelten  viele  der  obigen  Erwägungen  nicht  bloss  für 
die  Handarbeiter,  sondern  auch  für  Commis  und  Angestellte  aller  Art  mit 
kleineren  Bezügen;  die  Eegel  des  §  261,  für  alle  Einkommensteuerpflichtigen 
gegeben,  kann  daneben  auch  für  andere  Kreise  zu  Unbilligkeiten  führen. 

Der  Arbeitgeber  wiederum  hat  die  Annehmlichkeit,  bei  sonstiger 
eigenen  Haftung  die  Steuer,  je  nachdem  die  Bezüge  fix  oder  veränderlich 
sind,  ratenweise  im  Laufe  des  Jahres  oder  am  Schlüsse  bei  der  letzten  Aus- 
zahlung in  Abzug  zu  bringen  und  nebstbei  allerlei  Schreibgeschäfte  zu 
besorgen  (§  142^  144  u.  a.).  (Wie  weit  die  nach  §  157  zulässigen  Erleich- 
terungen gehen  werden,  ist  natürlich  vorläufig  nicht  zu  beurtheilen.) 


§  209  (bei  dem  auch  das  neue  preussische  Einkommensteuergesetz, 
§  19,  zu  Gevatter  gestanden  ist)  stellt  die  Gewährung  von  Steuer- 
ermässigungen in  Aussicht  bei  Fällen  von  die  Leistungsfähigkeit  des 
Steuerpflichtigen  wesentlich  beeinträchtigenden  wirtschaflichen  Verhältnissen; 
das  Ausmaass  der  Begünstigung  ist  auf  eine  Ermässigung  der  Steuersätze 
um  höchstens  drei  Stufen  begrenzt  und  kann  diese  selbst  nicht  concurrieren 
mit  einer  gemäss  §208  gewährten  Erleichterung  aus  dem  Titel  der  Anzahl 
der  zu  versorgenden  Familienglieder  (Motive,  S.  88).  Die  Anwendbarkeit 
des  §  209  erstreckt  sich  auf  Einkommen  bis  5000  fl.  Ein  Mann  also 
beispielsweise  mit  3000  fl.  Einkommen,  der  durch  langwierige  dauernde 
Erkrankung  von  Familiengliedern ,  durch  Brandunglück  oder  dergleichen 
schwer  heimgesucht  ist,  kann  durch  Aufrollen  seiner  persönlichen  Verhält- 
nisse vor  der  Steuercommission  hoffen,  statt  55  fl.  Steuer  nur  49,  44, 
vielleicht  gar  nur  39  fl.  zahlen  zu  müssen,  also  möglicherweise  (aber  nicht 
sicher)  bare  6,  11  oder  gar  16  fl.  zu  ersparen.  Hier  gilt  wohl  der  Satz, 
dass,  wer  das  Kleine  nicht  ehrt,  auch  des  Grösseren  nicht  wert  ist.  Eichtiger 
schiene  es  mir,  bei  Anwendung  des  §  209  streng  zu  sein,  dann  aber  auch 
die  Steuer  gänzlich  oder  zur  Hälfte  nachzusehen;  gerade  in  der  Grösse  der 
in  Aussicht  gestellten  Vortheile  liegt  eine  Garantie  für  die  Gewissen- 
haftigkeit bei  Zuerkennung  derselben.  Vermuthlich  wird  man  aber  auch 
hier  daran  erinnert  werden,  dass  wir  leider  nicht  in  der  Lage  sind,  energisch 
sociale  Steuei-politik  zu  treiben,  und  uns  damit  begnügen  müssen,  die 
schöne  und  richtige  Anschauung,  die  Steuerfähigkeit  sei  nicht  lediglich 
nach  der  Ziffer  des  Vermögens  oder  Einkommens,  sondern  auch  nach 
persönlichen  Verhältnissen  des  Steuerpflichtigen  zu  bemessen,  wenigstens 
im  Princip  sanctioniert  zu  sehen. 


Die  sonstigen  Bestimmungen  über  das  Verfahren  (Ort  der  Vor- 
schreibung, Organe  der  Veranlagung  etc.)  tragen  so  sehr  das  Gepräge 
besonnener  Vorsicht  und  Verwertung  der  bisherigen  Erfahrungen,  dass  ich 
wahrlich    nicht   wollen   kann    viele   Aenderungs vorschlage    zu  machen.     Ich 


Die  Reform  der  directen  Personalsteuern  in  Oesterreidi.  411 

möchte  nur  darauf  die  Aufmerksamkeit  lenken,  dass  die  Bestimmungen 
über  die  Berechnung  des  Einkommens  (§  196  fg.)  sehr  compliciert  sind, 
weshalb  es  sich  empfehlen  würde  eine  entsprechende  Belehrung  schon  den 
BekenntDisformularen  selbst  beizugeben.  Diese  Belehrung  müsste  sich 
wesentlich  unterscheiden  von  jenen,  wie  ich  wenigstens  sie  bisher  zumeist 
vorgefunden  habe,  nämlich  in  denkbar  undeutlicher  Fassung  mit  Berufungen 
auf  das  Keichsgesetzblatt,  durchzogen  voq  technischen  Ausdrücken  u.  dgl. 
Unverstäiidlichkeiten  mehr.  Ich  gestehe  offen,  dass  mir  schon  das  Formular 
(auf  S.  113)  nicht  ganz  gefällt;  der  Ausdruck  „Passivzinsen "  z.  B.  ist 
wohl  demjenigen  verständlich,  den  das  Schicksal  in  eine  Steueradministration 
0.  dgl.  gestellt  hat,  nicht  aber  Jedermann. 


Besondere  Erwähnung  verdient  jedoch  g  249.  Nachdem  nämlich  in 
§  248  gesagt  worden  ist,  dass  die  Schätzungscommission,  wofern  sie  das 
einbekannte  Einkommen  zu  gering  findet  und  nicht  genaue  Behelfe  für  dessen 
Bestimmung  vorliegen,  sich  vorzüglich  aus  äusseren  Merkmalen  ein  ürtheil 
über  die  Grösse  des  Einkommens  zu  bilden  habe,  wird  in  §  249  angeordnet, 
dass  hierbei  insbesondere  auf  die  Grösse  des  Aufwandes,  speciell  die  Höhe 
des  Wohnungsaufwandes  zu  sehen  sei;  in  der  Regel  sei  das  Einkommen 
des  Steuerpflichtigen  mit  nicht  weniger  als  einem  bestimmten  Vielfachen 
seines  Wohnungsaufwandes  einzuschätzen,  ein  Heruntergehen  unter  jenes 
Vielfache  sei  in  dem  Einschätzungsbeschluss  ausdrücklich  zu  motivieren. 
Als  Wohnungsaufwand  gilt  bei  gemieteten  Wohnungen  der  ausbedungene 
Mietzins,  bei  Wohnungen  im  eigenen  Hause  der  Nutzungswert  derselben. 
Diese  Minimalsätze  im  Sinne  des  §  249  betragen : 
Das  steuerpflichtige  Einkommen  ist  mindestens  mit  folgenden  Viel- 
fachen des  W^ohnungsaufwandes  anzunehmen : 

I.  In  Wien. 

Bei  einem  jährl.  Wöhnungsaufwande bis     500  fl.  mit  dem  Vierfachen. 

,,            ,,                  ,,                   von  mehr  als  500  fl.  ,,     1000  ,,  ,,  Fünffachen. 

„  1000,,    „     2000  „  „  Sechsfachen. 
„2000,,    „     5000,,  „  Siebenfachen. 
„  5000  „    „  10000  „  „  Achtfachen. 
über  10000  „  „  Zehnfachen. 

IL  In  Städten  mit  mehr  als  10.000  Einwohnern,  sowie  in  Cur- 

und  Badeorten. 

Bei  einem  jährl.  Wöhnungsaufwande bis      500  fl.  mit  dem  Fünffachen. 

,,  ,,  ,,  von  mehr  als    500  fl.  ,,     1000  ,,       „         Sechsfachen. 

„  1000  „    .,     2000  „       „        Siebenfachen. 
„  2000,,    „     5000  „       „        Achtfachen. 
„  ,,  „  über  5000  „       „         Zehnfachen. 

III.  In  allen  anderen  Orten. 

Bei  einem  jährl.  Wöhnungsaufwande bis      500  fl.  mit  dem  Sechsfachen. 

,,  ,,  ,,  von  mehr  als    500  fl.  ,,     1000  „       „         Siebenfachen. 

„  1000,,    „     2000  „      „        Achtfachen. 

„  „  „  über  2000  ,,       ,,        Zehnfachen. 

27* 


412  Mataja. 

Die  Wichtigkeit  dieser  Bestimmung  ist  evident,  insbesondere  für  ein 
Land  wie  Oesterreich,  wo  man  sich  darauf  gefasst  machen  muss,  dass  die 
Aufrichtigkeit  der  Bekenntnisse,  zumal  im  Anfang,  noch  immer  viel  zu 
wünschen  übrig  lassen  wird.  Es  lässt  sich  ferner  nicht  in  Abrede  stellen, 
dass  unter  den  indirecten  Kennzeichen  des  Einkommens  der  Wohnungs- 
aufwand eine  besondere  Bedeutung  besitzt,  viel  leichter  ziffermässig  fest- 
zustellen ist  als  andere  Ausgabszweige  und  daher  unter  allen  Umständen  — 
auch  dann,  wenn  im  Gesetz  nichts  darüber  gesagt  wäre  —  sicherlich  eine 
gTOSse  KoUe  bei  den  Arbeiten  der  Einschätzungscommissionen  spielen  würde. 
Mir  scheint  es  nun  weit  besser,  diese  Kolle  im  Gesetz  selbst,  soweit  dies  nur 
angeht,  zu  bestimmen,  als  die  Festsetzung  derselben  einer  uncontrolierbaren. 
eventuell  widerspruchsvollen  Praxis  zu  überlassen.  Die  Opposition,  die  sich 
bisher  gerade  gegen  diesen  Punkt  der  Vorlage  mit  Heftigkeit  gewendet  hat, 
war,  offen  gesagt,  eher  dazu  geeignet  meine  Sympathie  für  eine  derartige 
Bestimmung  zu  kräftigen  als  sie  abzuschwächen,  schien  es  mir  doch,  als  sei 
jene  Gegnerschaft  nicht  bloss  auf  objective  Gründe,  sondern  auch  auf  das 
uneingestandene  Gefühl  zurückzuführen,  dass  es  jetzt  mit  der  Erfassung 
des  Einkommens  ernst  zu  werden  verpreche. 

Empfiehlt  dies  Alles  m.  E.  die  in  Rede  stehende  Bestimmung, 
so  spricht  leider  aber  sehr  viel  gegen  die  Fassung,  welche  sie  gefunden 
hat.  Dass  eine  Regel,  wie  aufgestellt,  niemals  auf  alle  Fälle  mathematisch 
genau  passen  kann,  ist  natürlich  selbstverständlich,  für  die  Zwecke  der 
Besteuerung  wäre  sie  übrigens  auch  schon  bei  überwiegend  annähernder 
Richtigkeit  höchst  wertvoll.  Und  auf  dieses  Merkmal  hin.'  nicht  in  Be- 
ziehung auf  die  Erfüllung  idealer  Ansprüche  sei  die  Regel  im  folgenden 
geprüft. 

Die  Tabelle  trägt,  wie  der  Motivenbericht  S.  90  sagt,  der  Erfahrung 
Rechnung,  dass  der  Wohnungsaufwand  eine  desto  grössere  Quote  des 
Gesammteinkommens  zu  verschlingen  pflegt,  je  kleiner  das  letztere  und  je 
volkreicher  der  Wohnort  ist. 

Dies  ist  aber  offenbar  nicht  richtig. 

Vor  Allem  trifft  schon  das  erste  nicht  zu,  die  Erfahrung  lehrt  nicht, 
dass  je  kleiner  das  Einkommen,  eine  desto  grössere  Quote  desselben  durch 
den  Wohnungsaufwand  verschlungen  wird.  Vor  Allem  gilt  dies  nicht  für 
die  Vergleichung  von  einzellebenden  Personen  und  solchen  mit  Familien- 
stand, welche  Kategorien  jedoch  die  Regel  in  §  208  gar  nicht  unter- 
scheidet. Aber  selbst  abgesehen  von  dieser  Einwendung,  gilt  jene  Annahme 
nichts  weniger  als  allgemein  in  der  Wissenschaft.  Auf  den  Aufwand  eines 
Familienhaushaltes  bezogen,  haben  vielmehr  Laspeyres,  Hampke^)  u.  a. 
gefunden,  dass  der  procentuale  Antheil  der  Wohnungsmiete  an  den 
Gesammtauslagen  einer  Familie  bis  zu  einer  gewissen  Mittelstufe  des  Auf- 
wandes im  wesentlichen  gleich  bleibt  und  erst  bei  einer  gewissen  Höhe  des 

0  Das  Ausgabebudget  der  Privatwirtschaften  S.  56,  83.  Vgl.  auch  S.  68,  69  u. 
ö.  —  Siehe  auch  Lexis  in  Schünbergs  Handb.,  3.  Aufl.,  I.  S.  712. 


Die  Eeform"  der  directen  Personalsteuerii  in  Oesterreicli.  413 

letzteren  zu  sinken  beginnt.     Einiges  Material  für  diese  Frage  ist  übrigens 
in  der  nächsten  Anmerkung  zur  Sprache  gebracht. 

Einschaltungsweise  möchte  ich  freilich  bemerken,  dass  die  Discussion 
über  diesen  Punkt  recht  schwierig  ist.  Wir  besitzen  überhaupt  nicht  über- 
mässig viel  befriedigende  Arbeiten  über  die  Gestaltung  der  Haushaltungs- 
Budgets  und  was  vorhanden  ist,  bezieht  sich  vorwiegend  auf  die  arbeitenden 
Classen,  die  aber  hier  nicht  in  erster  Linie  in  Frage  kommen.  Bei  der 
grossen  localen  Verschiedenheit  der  Detailpreise  und  Wohnungsmietzinse 
ist  auch  die  Uebertragung  der  in  einem  Ort  gesammelten  Erfahrungen  auf 
andere  Orte  äusserst  misslich,  besonders  in  unserem  Falle,  wo  es  sich  nicht 
darum  handelt  allgemeine  Tendenzen  festzustellen,  sondern  darum,  ob  die 
im  Entwürfe  angenommenen  ziffermässigen  Vielfachen  einen  praktischen 
Wert  besitzen  oder  nicht.  Die  Tendenz  mag  ja  ganz  zuverlässig  aus  den  in 
Paris,  Berlin  u.  s.  w.  gemachten  Erfahrungen  hervorgehen,  ob  aber  deshalb 
auch  die  für  Wien  gewählten  Ziffern  (das  Vierfache  bei  einem  Wohnungs- 
aufwand bis  500  fl.,  das  Fünffache  bei  einem  von  500 — 1000  fl.  etc.) 
richtig  sind,  ist  eine  andere  Frage.  Ich  bedaure  daher  lebhaft,  dass  betreffs 
Oesterreich  so  unendlich  wenig  Material  vorliegt,  was  der  Zurückgebliebenheit 
der  Erforschung  unserer  socialen  Zustände  im  allgemeinen  entspricht. 

In  jener  oben  wiedergegebenen  Behauptung  des  Motivenberichtes  liegt 
aber  m.  E.  noch  ein  drittes  Uebersehen,  welches  vielleicht  mit  dem  eben 
bemerkten  Umstände  zusammenhängt,  dass  bisher  fast  ausschliesslich  die 
Ausgabebudgets  von  Angehörigen  der  minderbemittelten  oder  besser  noch 
gesagt  der  handarbeitenden  Classen  untersucht  wurden.  Der  Wohnungs- 
aufwand steht  nämlich  günstigen  Falles  in  einer  gewissen  Eegelmässigkeit 
zum  Ausgabeetat,  nicht  aber  zum  Einkommen  überhaupt.  Dort  wo  sich 
Aufwandswirtschaft  und  Einkommen  ganz  oder  im  wesentlichen  decken, 
kann  daher  ein  Eückschluss  vom  Wohnungsaufwand  auf  das  Einkommen 
statthaft  sein;  in  Kreisen,  wo  reichlich  capitalisiert  wird,  ist  dies  jedoch 
nicht  der  Fall.  Wenn  A  überhaupt  nur  5000  fl.  im  Jahre  erwirbt,  B  aber 
10.000  fl.,  davon  jedoch  5000  fl.  capitalisiert  und  den  Best  für  seine 
persönlichen  Bedürfnisse  ausgibt,  so  wird  ihr  Wohnungsaufwand  sich  gleich- 
stellen oder,  genauer  gesagt,  es  ist  kein  Grund  vorhanden,  anzunehmen, 
dass  in  der  Auftheilung  des  Gesammtaufwandes  von  A  und  B  auf  Wohnung, 
Kost  etc.  grössere  Verschiedenheiten  herrschen  sollen,  als  es  individuelle 
Zufälligkeiten  mit  sich  bringen  und  die  sich  auch  ergeben  würden,  wenn 
wir  A  mit  einem  Dritten  verglichen,  der  auch  5000  fl.  erwirbt  und  ausgibt. 

Aber  auch  in  Beziehung  auf  die  allgemeine  Richtigkeit  des  zweiten 
Theiles  der  Behauptung  im  Motivenberichte,  welche  der  Tabelle  F  zu 
§  249  zugrunde  liegt,  nämlich  in  Betreff'  des  Satzes,  je  volkreicher  der 
Wohnort,  desto  grösser  der  Antheil  des  Wohnungsaufwandes  am  Gesammt- 
einkommen,  lassen  sich  meiner  Ansicht  nach  begründete  Bedenken  erheben. 
Richtiger  schiene  mir  die  Formulierung,  je  höher  die  Mietzinse,  desto 
grösser  die  Quote  des  Wohnungsaufwandes,  weil  das  Wohnungsbedürfnis 
ein  höchst  wichtiges  und  nicht  beliebig  beschränkbares  ist;  die  Wohnungs- 


414  Mataja. 

theuerung  bewirkt  also  keine  mit  ihr  parallel  gehende  Einschränkung  des 
Wohnungsconsums,  wodurch  die  relative  Höhe  der  Mietzinse  ausgeglichen 
würde.  Dass  aber  die  Höhe  der  Wohnungspreise  parallel  gehe  mit  der 
Grösse  der  Einwohnerzahl  eines  Ortes,  ist  sicherlich  nicht  überall  zutreffend. 
Es  kommen  da  wohl  auch  locale  Verhältnisse  aller  Art,  Besteuerungsfragen 
(die  bei  uns  so  verschiedenen  Zuschläge  und  Zinskreuzer),  der  Umstand  in 
Betracht,  ob  eine  Stadt  stationär,  im  Rückgang  oder  in  raschem  Aufblühen 
begriffen  ist.  Die  Grösse  der  Einwohnerzahl  ist  daher  nur  ein  wichtiges 
Moment,  vielleicht  das  wichtigste  Moment  für  die  Höhe  der  Mietzinse, 
aber  doch  nur  eines,  neben  welchem  noch  andere  Umstände  von  Ein- 
fluss  sind. 

Dann  ist  aber  auch  zu  beachten,  dass  selbst  die  Richtigkeit  der  Regel 
im  allgemeinen  angenommen,  die  Bedenken  noch  nicht  verstummen.  Hier 
in  der  Besteuerung  handelt  es  sich  ja  nicht  darum,  allgemeine,  im  grossen 
und  ganzen  richtige  Constatierungen  vorzunehmen,  sondern  die  einzelnen 
Personen  richtig  zu  treffen,  nicht  darum  individuelle  Abweichungen  zu  ver- 
wischen oder  miteinander  zu  compensieren,  sondern  möglichst  scharf  zum 
Ausdrucke  zu  bringen.  Es  lehrt  nun  eine  selbst  oberflächliche  Beobachtung, 
dass  namentlich  in  den  höheren  Einkommensstufen  der  Wohnungsaufwand 
denn  doch  sehr  verschiedene  Proportionen  annimmt,  je  nach  Laune,  Ort 
der  Beschäftigung  etc.;  begreiflicherweise,  in  diesem  Aufwand  steckt  häufig 
nicht  bloss  ein  nothwendiges  Bedürfnis,  sondern  auch  ein  Luxusconsum, 
woselbst  sich  alle  Verschiedenheiten  des  Geschmackes  geltend  machen,  wie 
denn  überhaupt  bei  Verwendung  eines  grösseren  Einkommens  auch  mehr 
Freiheit  in  der  Bestimmung  der  Aufwandsrichtung  herrscht. 

Ich  weiss  wohl,  dass  §  249  nur  eine  Vorschrift  gibt,  die  „in  der 
Regel"  gelten  soll,  dass  er  nur  Minimalsätze  aufstellt,  die,  wenn  sie  als 
niedrig  gegriffen  erscheinen,  nur  ausnahmsweise  jemand  über  Gebür  treffen 
(der  dann  in  Abweichung  von  der  Regel  zu  behandeln  wäre),  aber  doch 
eine  wenigstens  etwas  richtigere  Besteuerung  jener  verbürgen  könnten, 
denen  anders  nicht  beizukommen  ist  und  die  schon  beim  Bestehen  jener 
Regel  weniger  als  angemessen,  ohne  diese  Regel  aber  eben  noch  weniger 
zahlen  würden. 

Ich  glaube  jedoch,  ohne  mich  eines  übertriebenen  Pessimismus  schuldig 
zu  machen,  sagen  zu  können,  dass  eine  solche  Regel  überaus  häufig  ziemlich 
mechanisch  angewendet  werden  wird.  Jedenfalls  begründet  sie  eine  nur  schwer 
besiegbare  Präsumtion.  Die  Aufgabe  der  Einschätzungscommissiouen  ist 
wahrlich  keine  leichte,  sie  wird  in  vielen  Fällen  eine  so  delicate  sein,  dass 
man  begierig  nach  dem  durch  das  Gesetz  selbst  gebotenen  Ausweg  greifen  wird. 
Gegen  wen  soll  sich  ferner  in  erster  Linie  die  Regel  richten?  Nicht  gegen 
solche,  über  deren  Einkommen  ausreichende  ziffermässige  Belege  vorliegen, 
wie  bei  den  Beamten,  nicht  gegen  jene,  deren  Verhältnisse  überhaupt  ein- 
facher, klarer  und  daher  auch  leichter  mit  anderen  Mitteln  zu  beurth eilen 
sind,  wie  bei  den  Arbeitern,  kleineren  Geschäftsleuten  etc.  Die  Regel  soll 
vor  Allem  gegen  jene  zugespitzt  sein,   die  ein  nicht  leicht  controlierbares 


Die  Reform  der  clirecten  Personalsteuern  in  Oesterreich.  415 

höheres  Einkoramen  beziehen.  Nimmt  man  die  Minimalsätze  vergleichsweise 
niedrig,  so  läuft  man  Gefahr,  dass  sie  ihren  eigentlichen  Zweck  verfehlen 
und  gerade  das  hohe,  zur  Capitalisierung  führende,  auch  anderweitig  nicht 
leicht  bestimmbare  Einkommen  nicht  ausreichend  treffen  und  nur  Schärfe 
gegen  jene  besitzen,  deren  Einkommen  und  Bedarf  sich  decken,  bei  denen, 
also  wirklich  Mietaufwand  und  Einkommen  in  einem  bestimmten  Verhältnis 
zu  einander  stehen.  Bei  unseren  gegenwärtigen  Verhältnissen  ist  aber  letzteres 
beim  blossen  Arbeitseinkommen  die  Regel,  da  von  einem  solchen  gewöhnlich 
nichts  oder  nur  ein  für  die  vorliegende  Frage  nicht  sehr  bedeutungsvoller 
Bruchtheil  gespart  wird.  Die  Tabelle  zu  §  249,  welche  auf  dem  Principe 
der  Verhältnismässigkeit  von  WohnungsaufAvand  und  Einkommen  beruht, 
ruft  demnach  das  Bedenken  wach,  dass  sie  zu  einer  stärkeren  Belastuno- 
des  nicht  fundierten  Einkommens  im  Vergleiche  mit  dem  fundierten  oder 
gemischten,  wirklich  zur  Capitalisierung  befähigenden  Einkommen  (des  selb- 
ständigen grösseren  Unternehm. ers,  des  Rentners  mit  oder  ohne  Arbeitsein- 
kommen daneben)  führe. 

Ich  gelange  demnach  in  dieser  viel  umstrittenen  Frage  zu  folgenden 
Conclusionen. 

Die  vielen  und  zum  Theile  durch  keinerlei  Formulierung  zu  besei- 
tigenden Bedenken  gegen  die  Regel  des  §  249  sind  gleichwohl  nicht  imstande 
mich  zur  Verwerfung  derselben  zu  veranlassen.  Ich  halte  es  vielmehr  für 
höchst  opportun  und  für  einen  glücklichen  Griff  bei  Abfassung  des  Ent- 
wurfes, eine  Remedur  gegen  die  Unterfatierung  des  Einkommens  zu  errichten. 
Ich  glaube  aber  auch,  dass  der  Tabelle  zu  §  249  eine  wesentlich  andere 
Gestalt  gegeben  werden  müsse,  damit  sie  ihren  Zwecken  entspreche  und 
nicht  zu  einer  empfindlichen  Mehrbelastung  gerade  der  minder  leistungs- 
fähigen Steuerträger  Anlass  gebe. 

Es  fehlt  mir  nun  das  nöthige  Material,  um  meinen  Abänderungsvor- 
schlägen einen  bestimmten  ziffermässigen  Ausdruck  zu  verleihen.  Die  Re- 
gierung, welche  schon  die  Tabelle  aufgestellt  hat  und  hierbei  offenbar  im 
Besitze  reichhaltiger  Daten  war,  da  sie  die  Zahlen  sicherlich  nicht  auf  Grund 
vager  Veranschlagungen  vom  Schreibtisch  aus  gewählt  hat,  wäre  natürlicli 
in  einer  glücklicheren  Lage,  um  eine  neue  Tabelle  mit  veränderten  Tendenzen 
und  Zielpunkten  zu  entwerfen;  da  jedoch  im  Motivenberichte  jede  Mittheilung 
über  die  Hilfsmittel  der  Berechnung  neidisch  unterdrückt  wird,  so  bin  ich 
ausser  Stande  diese  zu  benützen.  Die  Aenderungen  sollten  nun  meiner 
Ansicht  nach  folgende  Punkte  umfassen: 

a)  Die  Dreitheilung  der  Tabelle  (Wien  —  Städte  mit  mehr  als 
10.000  Einwohnern  und  Cur-  und  Badeorte  —  andere  Orte)  sollte  einer 
sachgemässeren  Aufstellung  weichen. 

Würde  den  obigen  Anträgen  und  Bemänglungen  in  Betreff  der  Be- 
soldungssteuer und  der  Besteuerung  der  zu  einem  Haushalt  vereinten  Per- 
sonen Folge  gegeben,  so  wäre  bei  der  Einkommensteuer  auf  die  hand- 
arbeitenden Classen  keine  besondere  Rücksicht  zu  nehmen,  da  ohnehin  das 
überwiegende   Gros  als  steuerfrei  erschiene  und  die  Angelegenheit  für  sie 


416  Mataja. 

nur  wenig  Interesse  hätte. ^)  Es  würde  demnach  bei  Bildung  der  Ortsclassen 
vor  allem  auf  die  Verhältnisse  des  Mittelstandes  Bedacht  zu  nehmen  sein, 
theils,  weil  er  der  Zahl  nach  überwiegt,  theils  weil  eine  zu  starke  Belastung 
bei  ihm  viel  drückender  empfanden  wird  als  bei  den  wirklich  wohlhabenden 
Classen.  Darnach  wäre  die  Eintheilung  zu  treffen:  Orte,  wo  die  Mietzinse 
der  gewöhnlichen  bürgerlichen  Wohnungen  als  gleich  gelten  können,  kämen 
in  eine  Classe.  Ob  darnach  das  grosse  Gemeindegebiet  von  Wien  mit  seinen 
so  verschiedenartigen  Verhältnissen  als  ein  Ganzes  zu  behandeln,  ob  die 
jetzige  zweite  Classe  nicht  weiter  zu  zerlegen  wäre  etc.  sind  dann  Fragen 
der  Durchführung. 

b)  Was  die  Bestimmung  der  „Vielfachen"  anbelangt,  so  müssten 
dieselben  Aveit  stärker  ansteigen,  als  es  in  der  Regierungstabelle  der  Fall 
ist.  Es  muss  eben  nicht  bloss  dem  Gedanken  Rechnung  getragen  werden, 
dass  bei  geringem  Gesammtaufwand  die  Wohnungsausgabe  eine  bedeutende, 
bei  wachsendem  Gesammtaufwand  eine  abnehmende  Quote  desselben  dar- 
stellt, sondern  auch  der  Erwägung,  dass  je  grösser  das  Einkommen,  desto 
grösser  auch  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  es  nicht  bloss  zur  Deckung  des 
Aufwandes  und  somit  auch  des  Wohnungsaufwandes,  sondern  auch  zur 
Capitalisierung  bestimmt  werde.  Der  Aufwand,  ein  verlässliches  Kennzeichen 
bei  geringem  Einkommen,  versagt  bei  den  oberen  Stufen  immer  mehr. 


1)  Für  die  handarbeitenden  Classen  dürfte  die  Tabelle  zu  §  249  nur  selten 
vom  praktischem  Belang  werden;  denn  regelmässig  bleibt  bei  diesen  der  Wohnungsauf- 
wand zurück  hinter  den  in  jener  Tabelle  angenommenen  Quoten,  zumeist  sogar  erheblich. 
Man  sehe  beispielsweise  die  von  den  Gewerbeinspectoren  mitgetheilten  Haushaltungs- 
budgets, Berichte  1887,  S.  142,  1888,  S.  21-8,  1890,  S.  93,  sowie  auch  die  aus  Kreisen 
von  Sachkundigen  stammenden  Schätzungen  des  Jahresbedarfes  lediger  und  verheirateter 
Arbeiter  in  der  Publication  über  die  Arbeits-  und  Lohnverhältnisse  in  den  Fabriken  und 
Gewerben  Niederösterreichs  (1870)  und  dem  statistischen  Berichte  über  Industrie  und 
Gewerbe  des  Erzherzogthums  Oesterreich  unter  der  Enns  (1889),  beides  herausgegeben 
von  der  Wiener  Handels-  und  Gewerbekammer.  Auf  Grund  des  Werkes  von  Cheysson 
und  Toque  „Les  budgets  compares  des  cent  monographies  de  familles"  sei  ferner  er- 
wähnt, dass  unter  100  durch  die  Le  Play'sche  Schule  erforschten  Haushaltungsbudgets 
aus  verschiedenen  Epochen  und  Gegenden  nur  15  einen  Mietaufwand  von  zehn  und 
mehr  Procent  der  Gesammteinnahmen  (allerdings  im  Le  Play 'sehen  Sinne)  aufweisen; 
das  Maximum  ist  18*9%,  die  nächste  Ziffer  14*6%.  —  Zur  Unterstützung  des  im  Texte 
Gesagten  stelle  ich  noch  aus  Otto  v.  Leixners  socialen  •  Briefen  aus  Berlin  (1891) 
folgende  Vergleichung  von  drei  ermittelten  Budgets  zusammen; 

a,)  Rentnerfamilie:     Einnahmen     23.165  M. 
Ausgaben      21.207   „ 
Miete  2.460   „ 

b;  Beamtenfamilie:  Einnahmen       5.450   „ 
Ausgaben       ebenso 
Miete  1.225    „ 

c)  Arbeiterfamilie:  Einnahmen  1.700  „ 
Ausgaben  1.612  „ 
Miete  259   „  . 

bei  a)  ist  die  Wohnungsmiethe  also  10'6'Vo    der  Einnahmen  und  ll'67o    der  Ausgaben, 
bei  b)  22-50/0,  bei  c)  15-27o  der  Einnahmen  und  167o  der  Ausgaben. 


Die  Reform  der  directen  Personalsteuern  in  Oesterreich,  417 

Allerdings  wird  dann  für  jene  Fälle,  wo  sich  trotz  der  Höhe  des 
Einkommens  dasselbe  mit  dem  Aufwand  deckt,  die  Gefahr  einer  üeber- 
lastung  hervorgerufen.  Wo  sind  diese  Fälle  aber  zu  suchen?  Am  ehesten 
wohl  bei  den  höheren  Angestellten  und  Beamten,  welche  trotz  ansehnlicher 
Bezüge  von  ihrem  Einkommen  mit  Eücksicht  auf  Familienstand  u.  dgl. 
nichts  erübrigen,  mit  anderen  Worten  bei  der  hoch  entlohnten  Arbeit  (die 
minder  entlohnte  bleibt  hier  ja  ausser  Spiel).  Nun  gerade  hier  wird  aber 
die  Schätzung  auf  Grund  des  Wohnungsaufwandes  geringere  Kolle  spielen 
und  leicht  durch  zifferraässige  Belege  (§  248)  zu  entkräften  sein.  Fraglicher 
kann  die  Sache  bei  den  nicht  durch  den  Staat  und  öffentliche  Anstalten 
Angestellten  mit  hohen  Bezügen  werden;  es  wird  aber  deren  nicht  zu  viele 
geben.  Uebrigens  glaube  ich,  dass  jene  an  sich  nicht  sehr  ansehnliche 
Gruppe,  die  sich  so  hoher  Bezüge  im  Privatdienste  erfreut,  schon  durch 
die  vergleichsweise  Unsicherheit  der  Anstellung,  durch  den  Wunsch,  später 
die  Selbständigkeit  zu  erringen ,  durch  Entfall  vieler  Repräsentations- 
auslagen etc.  in  viel  höherem  Maasse  zur  Capitalisierung  neigt  und  fähig 
ist,  daher  die  Fälle  wirklicher  ungerechtfertigter  Benachtheiligung  durch 
den  Einschätzungsmodus  selten  sein  werden.  Was  bleibt  dann  noch  übrig? 
Grosse  Unternehmer,  Besitzer  und  Eentner.  Gerade  bei  diesen  Classen  ist 
aber  die  richtige  Schätzung  des  Einkommens  am  schwierigsten  und  am 
meisten  von  ihrem  guten  Willen  abhängig,  gerade  bei  diesen  Classen  ist 
die  Capitalisierung  am  verbreitetsten  und  ausgiebigsten,  gerade  hier  darf 
der  Aufwand  allein  nicht  als  Kennzeichen  des  Einkommens  gelten.  Finden  sie 
sich  übrigens  tiberschätzt,  so  mögen  sie  immerhin  versuchen,  der  Commission 
ziffermässige  Klarheit  zu  verschaffen.  Geht  dies  nicht  an,  so  ist  auch  dann 
das  Unglück  nicht  so  gross ;  das  fundierte  Einkommen  wird  auch  dann 
noch  nicht,  alles  zusammengenommen,  über  Zurücksetzung  zu  klagen  haben! 
Für  Wien  würde  sich  darnach  der  Schätzungsschlüssel  etwa  wie  folgt 
stellen : 

Wohnungsaufwand  bis  .    .    .    .  500  fl.  das  Vierfache, 
„  über  500 —  750    „     „    Fünffache, 

„     750—1000    „     „     Sechsfache, 
„  1000—1500   „     „     Siebenfache, 
„  1500—2000   „     „     Achtfache, 
u.  s.  w. 
(Die  Verkleinerung  der  Abstände  hat  nebenbei   bemerkt   den  Vortheil,    den 
von    Mischler    hevorgehobenen    Mangel    solcher    Scalen    zu    verringern, 
nämlich    dass    gewisse  Einkommen  darnach  gar  nicht  zu  treffen  sind,  z.  B. 
nach    dem    Regierungsentwurf   die  Einkommen  von  über  2000 — 2500  fl.  in 
Wien ;  die  Schätzung  fällt  zu  hoch  oder  zu  niedrig  aus,  weil  kein  Mietzins 
denkbar  ist,  der  nach  der  Scala  jenem  Einkommen  entspräche.) 

c)  Jedenfalls  wäre,  um  die  Gleichheit  der  Belastung  herzustellen,  die 
Bedeutung  des  Wohnaufwandes  behufs  Bestimmung  des  Einkommens  bei 
Personen  mit  Familie  (§  193)  anders  zu  bemessen  als  bei  einzellebenden 
Personen,    etwa   in    der  Form,    dass   bei  letzteren   das   Vielfache    um    eins 


418  Mataja. 

(z.  B.  statt  des  Yierfachen  das  Fünffache),  in  den  höheren  Stufen  um  zwei 
vermehrt  würde.  Ich  glaube,  dass  man  in  der  That  zumeist  richtiger  gehen 
wird,  wenn  man  getrost  einen  in  Wien  allein  lebenden  Mann,  der  2000  fl. 
für  seine  Wohnung  ausgibt,  nicht  (mit  der  Eegierungstabelle)  auf  ein  Ein- 
kommen von  12.000  fl..  sondern  mit  Beruhigung  auf  18 — 20.000  fl.  schätzt. 
Schlimmstenfalls  würden  die  wegen  Abganges  von  zu  versorgenden  Personen 
steuerkräftigeren  Elemente  etwas  stärker  getroffen. 

d)  Der  Begriff  .Wohnungsaufwand"  wäre  dahin  authentisch  zu  erläu- 
tern, dass  darunter  nicht  bloss  der  Mietzins  der  ständigen  Jahreswohnung, 
sondern  auch  von  Sommerwohnungen  u.  dergl.  (im  In-  und  Auslande)  zu 
verstehen  sei.  Hingegen  wäre  der  von  etwaigen  Aftermietern  erzielte  Miet- 
zins entsprechend  in  Abzug  zu  bringen.  Auch  würde  im  Einkommensteuer- 
Bekenntnis  eine  auf  den  Wohnungsaufwand  bezügliche  Erklärung  ab- 
zugeben sein. 

Sollte  die  spätere  Erfahrung  lehren,  dass  auch  mit  diesen  Hilfsmitteln 
keine  entsprechende  Einkommensteuer  zu  erzielen  sei,  so  wäre  immerhin 
dann  noch  die  Frage  in  Erwägung  zu  ziehen,  inwieweit  das  gewünschte 
Eesultat  durch  eine  beschränkte  oder  volle  Oeffentlichkeit^)  im  Ein- 
schätzungsverfahren erreicht  werden  könnte,  für  welche  beachtenswerte 
Gesichtspunkte  sprechen. 

vn. 

Alle  im  Vorstehenden  gegen  die  Vorlage  gemachten  Einwendungen 
betreffen  nicht  die  Principien  der  Keform,  sondern  nur  Einzelheiten 
derselben.  Sie  gipfeln  zumeist  in  dem  Bestreben,  die  für  die  Abfassung  der 
Vorlage  selbst  schon  als  maassgebend  erklärten  Tendenzen  einer  gerechteren 
Steuervertheilung  und  milderen  Behandlung  der  schwächeren  Elemente  voll- 
ständiger und  reiner  zum  Durchbruch  zu  bringen.  Von  allen  Punkten,  die 
als  abänderungsbedürftig  bezeichnet  wurden,  möchte  ich  jene,  welche  die 
Besteuerung  des  Familieneinkommens  betreffen,  als  die  weitaus  wichtigsten 
bezeichnen.  Hier  scheint  mir  eine  eingreifende  Modification  nicht  nur  wün- 
schenswert, sondern  unbedingt  geboten,  selbst  um  den  Preis,  dass  das 
finanzielle  Erträgnis  der  neuen  Steuern  belangreich  gemindert  und  damit 
die  zu  Nachlasszwecken  verfügbare  Summe  entsprechend  herabgesetzt  würde. 

Zum  Gelingen  der  Reform  gehört  freilich  noch  mehr  als  ein  vortreff- 
lich abgefasstes  Gesetz,  es  bedarf  dazu  auch  noch  der  verständnisvollen 
Mitwirkung  der  Bevölkerung  und  aller  mit  der  Ausführung  betrauten  staat- 
lichen Organe. 

Der  Gesetzentwurf  thut  wirklich  alles  Mögliche,  um  die  Steuerträger 
zu  dem  wünschenswerten  Verhalten  zu  veranlassen.  Artikel  II  der  Vorlage, 
welcher  die  Erwerb-  und  Einkommensteuergesetze  mit  allen  hiezu  erflossenen 
Vollzugs-  und  Nachtragsbestimmungen  für  aufgehoben  erklärt,  wird,  wenn 
mit  Gesetzeskraft  ausgestattet,  von  den  Betheiligten  sicherlich  wie  die 
Befreiung  von  einem  schweren  Alp  begrüsst  werden  —  mögen  sie  immerhin 

')  Vgl.  Ad.  Wagner.  Finanzarchiv,  1891,  IL  S.  282  fg.,  Fürth  S.  258  fg. 


Die  Eeform  der  directen  Personalsteiierii  in  Oesterreich.  419 

sich  bei  Zeiten  daran  erinnern,  dass  es  wesentlich  von  ihnen  selbst  abhängt, 
die  Reform  zu  einer  wirklich  fruchtbringenden  zu  gestalten.  Dieselbe  ver- 
langt von  ihnen  sicherlich  manche  Opfer  und  unter  diesen  nicht  zu  unter- 
schätzen ist  der  erhebliche  Kräfteaufwand  in  den  verschiedenen  Steuercom- 
missionen, der  auch  dort,  wo  Taggelder  in  Aussicht  stehen  (§  232),  für  die 
Betroffenen  kaum  eine  ausreichende  Entlohnung  mit  sich  bringen  wird,  mit 
sich  bringen  soll.  Die  Berufung  der  richtigen  Männer  in  die  Commissionen 
wird  zweifellos,  man  darf  sich  das  nicht  verhehlen,  eine  schwierige  Sache 
sein,  da  das  öffentliche  Leben  ohnehin  schon  viel  Kräfte  in  Anspruch 
nimmt  und  sich  gerade  unter  den  am  besten  qualificierten  Personen  viel- 
fach schon  eine  gewisse  Zurückhaltung  gegen  die  Uebernahme  derartiger 
Stellen  zeigt. 

Ebenso  müssen  aber  auch  die  Steuerbehörden  die  Grösse  des  Augen- 
blicks erfassen.  Auch  hier  ist  eben  manches  zu  bessern.  Wenn  ich  mich 
z.  B.  erinnere  an  die  Form  der  Mittheilung  der  Beweggründe  bei  Ein- 
kommensteuer-Bemessungen, wie  ich  dies  manchmal  in  der  Praxis  gesehen 
habe,  an  die  nachträglichen  und  verspäteten  Steuervorschreibnngen  ^),  an 
die  häufig  bemerkten  Schwierigkeiten  für  das  rechtskundige  Publicum  er- 
schöpfende Auskünfte  zu  erlangen  etc.,  so  glaube  ich,  dass  eine  gründliche 
Steuerreform  nicht  allein  sich  auf  das  Gesetz  beschränken  darf,  sondern 
vielfach  auch  die  Handhabung  desselben  ergreifen  muss.-) 

Die  gegenwärtige  Finanzverwaltung  Oesterreichs  sieht  sich  wahrlich 
einem  Aufgabenkreis  gegenüber,  der  an  Grösse  und  Bedeutung  Nichts  zu 
wünschen  übrig  lässt.  Einen  hervorragenden  Platz  in  demselben  nimmt  die 
Eeform  der  Personalsteuern  ein,  sie  ist  eine  ebenso  dringliche,  wie  populäre 
Maassnahme.  Möge  es  daher  gestattet  sein,  diese  Zeilen  mit  dem  Ausdruck 
der  Hoffnung  und  Erwartung  schliessen  zu  dürfen,  dass  es  diesesmal  nicht 
wieder  bei  einem  Versuch  bleibe,  sondern  Erfolg  jenem  grossen  Aufwand 
an  Geist  und  Mühe  zutheil  werde,  den  es  gekostet  hat,  eine  Vorlage  wie 
die  gegenwärtige  fertig  zu  stellen. 


')  Ein  Musterbeispiel:  Eine  Wiener  Productivgenossenschaft  (also  ein  Unternehmen 
mit  öffentlicher  Rechnungslegung)  erhielt  während  der  ersten  5V4  Jahre  ihres  Be- 
standes j5  Steuervorschreibungen;  von  diesen  entfielen  10  Vorschreibungen  auf  eine 
Frist  von  6  Tagen  des  Monates  November  1889  und  davon  wiederum  sieben  auf  einen 
einzigen  Tag;  von  den  10  Yorschreibungen  betrafen  je  zwei  die  Jahre  1884,  1886,  1887 
und  1888.  Plötzlich  sah  sich  die  Productivgenossenschaft,  die  bis  dahin  ihre  Steuern 
pünktlich  bezahlt  hatte,  einer  grossen  Steaerschuld  gegenüber,  die  sie  in  der  kurzen 
Zeit  nicht  zahlen  konnte,  so  dass  sie  Execution  über  sich  ergehen  lassen  mu'sste.  („Die 
Genossenschaft",  1891,  Nr.  29). 

2)  So  enthält  der  Entwurf  wiederholt  die  Bestimmung,  dass  Berufungen  keine 
aufschiebende  Wirkung  bezüglich  der  Entrichtung  der  vorgeschriebenen  Steuer  und  der 
Maassregeln  zur  Einbringung  derselben  haben.  Ganz  recht!  Aber  als  Ergänzung  gehört 
wohl  dazu,  dass  die  Berufungen  nicht  mit  jener  furchtbaren  Langsamkeit  erledigt  werden, 
die  wir  heute  oft  wahrnehmen. 


(   DIE  GESETZGEBUNG  ÜBER  DEN 
GLÄUBIGER-CONCURS  VOM  STANDPUNKTE  DER 
VOLKSWIRTSCHAFT. 


VON 


DR.  HERMANN  v.  SCHULLERN-SCHRATTENHOFEN, y 

PKIVATDOCENTEX  AN  DER  UNIVEHSTTÄT  WIEN 


Einleitung. 

Der  Conciirs  und  seine  volkswirtscliaftliclie  Bedeutung. 

V\  eiiii  das  Wort  Concurs  genannt  wird,  verstellt  wohl  Jedermann, 
wenigstens  der  Hauptsache  nach,  das  Gleiche  unter  demselben.  Eine  genaue 
Formulierung  des  Begriffes  aber,  so  dass  sie  definitiv  für  alle  verschiedenen 
Gesetzgebungen  der  europäischen  Culturstaaten  Anwendung  fände,  ohne 
übermässig  lang  und  unhandlich,  oder  allzu  lückenhaft  zu  sein,  ist  nicht 
so  leicht  zu  finden,  als  auf  den  ersten  Blick  scheinen  mag.  Um  zu  ihr 
zu  gelangen,  ist  eine  kurze  rechtshistorische  Abschweifung  nicht  zu  ver- 
meiden. 

Jedermann  weiss,  dass  es  sich  beim  Concurse  um  das  Zusammen- 
treten der  Gläubiger  eines  ihnen  gemeinsamen  Schuldners  handelt,  welches 
bezweckt,  unter  Hilfeleistung  und  Aufsicht  des  Staates  das  active  Vermögen 
des  Schuldners  nach  gewissen  Grundsätzen  den  Gläubigern  zur  vollständigen 
oder  doch  theilweisen  Tilgung  ihrer  Forderungen  zuzuweisen;  Jedermann 
sieht  also  zunächst  im  Concurse  das  Auftreten  einer  Mehrheit  von  Gläu- 
bigern eiüem  Schuldner  gegenüber,  dann  aber  einen  das  active  Vermögen  des 
Schuldners  betreffenden  Theilungsact.  Diese  natürlich  ganz  lückenhafte 
Auffassung  passt  so  ziemlich  auf  alle  bei  den  heutigen  Culturnationen 
Europas  geltenden  ßegelungen  des  fraglichen  Verhältnisses;  eine  vorschnelle, 
genauere,  absolut  gefasste  Gestaltung  aber  würde  uns  in  Gefahr  bringen, 
mit  der  Gesetzgebung  eines  oder  des  andern  Staates  in  Widerspruch  zu 
gerathen. 

Das  römische  Recht  kennt  ein  eigentliches  Concursverfahren  im  heu- 
tigen Sinne  nicht;  wir   finden    die    beiden   Institute    der    Missio    und    der 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurse  v.  Standpunkte  d.  Volkwirtschaft.      421 

Cessio,  welche  aber  ebenso  für  einen  einzigen  Gläubiger,  resp.  ihm  gegen- 
über, als  für  und  zu  Gunsten  einer  Vielheit  von  Gläubigern  anwendbar  waren. 
Jeder  Gläubiger  konnte  für  sich  die  Missio  in  omnia  bona  des  Schuldners 
erwirken,  jedem  Gläubiger,  auch  wenn  nur  ein  einziger  vorhanden  war, 
konnte  der  Schuldner  Omnia  bona  codieren.  Die  einzige  Garantie  dafür, 
dass  alle  Gläubiger  an  der  Theilung  des  mittierten  Vermögens  Antheil 
erhalten  konnten,  bestand  ursprünglich  in  der  amtlichen  Verlautbarung  der 
ertheilten  Missio  und  darin,  dass  der  Verkauf  der  Vermögensstücke  in 
jedem  Falle  erst  nach  Ablauf  einer  bestimmten  Frist  erfolgen  durfte.  All- 
mählich trat  die  Cessio  der  Missio  gegenüber  immer  mehr  in  den  Vorder- 
grund und  es  wurde  als  nothwendig  erkannt,  dass  der  Schuldner  zu  einem 
Offenbarungseide  über  den  Stand  seines  Vermögens  herangezogen  werde  ^). 
Von  einer  Universalität  des  Concursverfahrens,  insoweit  man  überhaupt  bei 
den  Kömern  von  einem  solchen  sprechen  kann,  war  wohl  keine  Eede,  es 
war  weder  die  üniversitas  creditorum  noch  die  Universitas  bonorum  in 
Activen  und  Passiven  genügend  sicher  gestellt,  im  übrigen  die  Einfluss- 
nahme  des  Staates  auf  den  ganzen  Vertheilungsprocess  auf  ein  Minimum 
beschränkt.  Für  den  Eömer  handelte  es  sich  eigentlich  nur  darum,  einen 
speciellen  Fall  der  Execution  zu  regeln.  Die  allmähliche  Entwicklung  jenes 
Principes  der  Universalität  bezeichnet  die  aufeinanderfolgenden  Stadien 
der  späteren  Kechtsbildung.  Schon  das  Mittelalter  kannte  für  den  Fall  der 
Ertheilung  der  Missio  eine  gerichtliche  Beschlagnahme  des  schuldnerischen 
Vermögens;  —  allerdings  hatte  bei  dem  Vorherrschen  des  Cessionsver- 
fahrens  diese  Neuerung  nur  geringe,  thatsächliche  Bedeutung.  —  Als  dem 
deutschen  Rechtsbewusstsein  die  römischen  Eechtsbegriffe  und  Eechtsein- 
richtungen  aufgepfropft  wurden,  gelangten  auch  in  Deutschland  die  Missio 
und  hauptsächlich  die  Cessio,  letztere  vielfach  unter  der  Voraussetzung 
unverschuldeter  Zahlungsunfähigkeit,  zur  Herrschaft,  u.  z.  umsoleichter  als 
ja  die  deutschrechtlichen  Einrichtungen,  die  Fronung  und  Beweldigung 
ihnen  nicht  allzu  fremdartig  gegenüberstanden.  Die  von  hier  an  beginnende 
Entwickelung  führt,  wie  schon  betont,  das  Princip  durch,  dass  alle  Gläu- 
biger der  Vermögungstheilung  beizuziehen  sind  und  die  ganze  Habe  des 
Schuldners  aufgetheilt  zu  werden  hat;  hiebei  musste  natürlich  das  Ein- 
greifen des  Eichters  in  immer  weiterem  Maasse  geboten  erscheinen.  Damit 
stehen  wir  vor  der  Betrachtung  des  heutigen  Zustandes  der  G-esetzgebung, 
welcher  zwar  im  wesentlichen  den  Grundlagen  nach  einheitlich,  in  manchen 
Punkten  aber  mehrgestaltig  ist.  Schon  die  gesetzlichen  Voraussetzungen 
für  das  Eintreten  des  Concurszustandes  sind  in  verschiedenen  Staaten  und 
unter  verschiedenen  Umständen    verschieden. -^Während    nämlich    die   über- 


')  S.  Endemann:  Das  deutsche  Concursverfahren,  Leipzig,  Fues,  1889.  S.  5  ff. 
Renouard:  Traite  des  faillites  et  banqueroutes,  III.  edition,  Paris  1857,  insbes.  I.  S. 
18  f.  Borsari:  Codice  di  Conimercio  del  regno  d'ltalia,  Torino-Napoli  1869,  IL  Bd. 
755  ff',  greift  nicht  auf  das  römische  Recht  zurück. 

Die  gesetzHchen  Bestimmungen,  welche  die  Person  des  Schuldners  als  solche  be- 
treffen, lassen  wir  ausseracht. 


^22  Scliullern. 

wiegende  Anzahl  der  Gesetzgebungen  die  Zalilungsunfäliigkeit  als  Grundlage 
des  Concurses  betrachtet,  fordern  andere  wenigstens  unter  Umständen 
geradezu  die  Ueberschuldung  ^).  Während  das  österreichische  Gesetz  inner- 
halb des  Concursverfahrens  zwischen  Kaufleuten  und  Privatpersonen  unter- 
scheidet und  einzelne  Bestimmungen  nur  für  die  erstere  der  beiden  Schuldner- 
kategorien anwendet,  kennt  Frankreich  ^)  und  Italien  ^)  nur  den  kauf- 
männischen Concurs  und  behandeln  Deutschland^)  und  England^)  den 
Concurs  als  einen  allen  Berufsständen    gemeinsamen,  juristischen    Zustand. 

In  Betreff  des  ersthervorgeb ebenen  Unterscheidungsgrundes  sei  bemerkt, 
dass  Frankreich  ^),  Italien '),  Oesterreich  ^)  und  wohl  auch  England  ^)  im 
Anschlüsse  an  die  ältere  und  abweichend  von  der  gemeinrechtlichen, 
deutschen  Doctrin  die  Zahlungsunfähigkeit  als  Voraussetzung  des  Concurses 
gelten  lassen,  während  die  Concursordnung  für  das  deutsche  Eeich  ^^),  die 
Zahlungsunfähigkeit  des  Gemeinschuldners  als  regelmässigen  Grund  der 
Concurseröffnung  bezeichnet,  in  Ausnahmsfällen  (bei  Actiengesellschaften) 
aber  die  Ueberschuldung  voraussetzt.. 

Die  hervorgehobenen  Verschiedenheiten  erschweren  zunächst  die  Auf- 
stellung einer  einheitlichen  Definition,  sie  bringen  aber  noch  die  weitere 
Folge  mit  sich,  dass  die  uns  gebotenen  statistischen  Daten  (wir  fassen  nur 
jene  Oesterreichs,  Deutschlands,  Italiens,  Englands  und  Frankreichs  ins 
Auge)  zum  mindesten  schwer  vergleichbar  werden.  Versuchen  wir  nun 
zunächst,  so  gui  es  geht,  eine  Definition  des  Concurses  zu  gewinnen.  Der 
Concurs  ist  auf  Seiten  des  Schuldners  ein  Zustand,  auf  Seiten  der  Gläubiger 
eine  Handlung;  aber  nicht  die  Gläubiger  allein  handeln,  sondern  es  treten  der 
Staat  und  seine  Functionäre  an  ihre  Seite,  gewissermaassen  als  Führer  an  ihre 
Spitze,  um  jeneHandlung  einerseits  den  gesetzlichen  Bestimmungen  anzupassen, 
andererseits  aber  —  dieses  Ziel  sollte  schärfer  als  bisher  ins  Auge  gefasst 
werden  —  gerade  hiedurch  auch  das  öffentliche  Interesse    zu    wahren;    wir 


*)  S.  Leon  Say:  Nouveau  dictionnaire  d'econ.  polit.  faillite,  985.  (Michel.) 

2)  Art.  437  des  Gesetzes  vom  23.  Mai  1838;  wenn  ein  Nichtkaufmann  zahlungs- 
unfähig ist  (hier  muss  die  Zahlungsunfähigkeit  mit  der  Ueberschuldung  verbunden  sein), 
befindet  er  sich  im  Zustande  der  deconfiture,  er  untersteht  den  für  den  Concurs  geltenden 
Gesetzen  nicht,  s.  Renouard.  a.  o.  0.  S.  236  u.  Say  a.  o.  0. 

3)  Codice  di  Commercio  del  regno  d'ltalia.  sanctioniert  am  31.  Oct.  1882,  Art.  683. 

4)  Concursordnung  §.  2  I. 

^)  The  bankruptcy  Act  1883  Art.  IV.  Actiengesellschaften  unterstehen  diesem 
Gesetze  nicht.  Auch  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  werden  Berufsunter- 
schiede nicht  berücksichtigt. 

ö)  Art.  437. 

")  Art.  633. 

-}  Concursordnung,    s.  hingegen    übrigens:    Das    allgemeine    Strafgesetz    §.    4Sp^ 

^1  „InabiKty  to  pay  his  debts;"  s.  hiezu  Gertscher:  Das  englische  Concursrecht 
nach  dem  Gesetze  vom  25.  August  1883,  Wien  1885,  Manz. 

"^)  Endemann,  a.  o.  0.  S.  30  ff.  Es  ist  zwischen  Zahlungsunfähigkeit  und  Zahlungs- 
stockung zu  unterscheiden;  der  Begriff  der  Zahlungsunfähigkeit  setzt  eine  längere  Dauer 
des  letztbezeichneten  Zustandes  voraus;  in  der  Regel  wird  die  Zahlungsunfähigkeit  mit 
der  Ueberschuldung  zusammenfallen,  nothwendig  ist  dies  aber  nicht. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      423 

werden  somit  am  besten  thun,  wenn  wir  uns  darauf  beschränken,  den  Con- 
ciirs  als  jenes  Theilungßverfahren  des  schuldnerj sehen  Gesammtactivvermögens 
zu  bezeichnen,  welches  im  Interesse  der  sämmtlichen  Gläubiger  unter 
Leitung  des  Staates  dann  einem  jeden  oder  einem  bestimmt  qualificierten 
Schuldner  gegenüber  statthat,  wenn  derselbe  sich  in  einer  bestimmten  un- 
günstigen Vermögenslage  befindet  und  wenn  diese  seine  Lage  in  einer  be- 
stimmten Weise  zur  Kenntnis  des  Gerichtes  gelangt  ist.  Schon  aus  dem 
Gesagten  ergibt  sich,  dass  der  Concurs  zunächst  ein  juristisches  Problem 
ist;  hiedurch  erklärt  es  sich,  dass  er  bisher  wesentlich  nach  rein  juristischen 
Gesichtspunkten  geregelt  worden  ist. 

Wenn  nun  der  Staat  sich  in  die  privaten  Angelegenheiten  seiner 
Bürger  einmischt,  sie  in  gewissem  Sinne  bevormundet,  wenn  er  Eechtssätze 
aufstellt,  so  thut  er  das  allerdings  in  erster  Reihe  zum  Schutze  des  einen 
Bürgers.  Damit  aber  soll  er  in  zweiter  Reihe  auch  seine  übrigen  Unter- 
thanen  schützen,  u.  z.  der  Absicht  nach  immer  in  der  Weise,  dass  dadurch 
unter  möglichst  geringer  Beschränkung  in  der  Selbstbestimmung  des  Ein- 
zelnen das  Wohl  der  Gesammtheit  am  besten  gewahrt  werde.  Der  Staat 
muss  sich  bewusst  sein,  dass  das  letzte  Ziel  seiner  Thätigkeit  das  Wohl 
der  Gesammtheit  zu  sein  habe  und  er  markiert,  streng  genommen,  schon 
durch  die  Thatsache  seines  Auftretens  dieses  Bewusstsein.  Dieses  Wohl 
setzt  nun  aber  in  unserem  Falle  nicht  so  sehr  die  Wahrung  der  formalen 
Gerechtigkeit,  also  das  unmittelbare  Ziel  der  Rechtsordnung,  sondern  mehr 
noch  möglichst  ausgedehnten  Schutz  vor  Schädigung  des  Volks-  und  des 
Einzelvermögens,  möglichste  Verhinderung  drohender  Gütervernichtung  und 
Entwertung  voraus;  diese  Veraussetzung  ist  eine  wesentlich  volkswirtschaft- 
liche; da  sie  aber  vom  Staate  nur  durch  juristische  Mittel  geboten  werden 
kann,  muss  derselbe  in  seiner  auf  eben  diese  bezüglichen  Gesetzgebung 
auch  auf  die  nationalökonomische  Seite  Rücksicht  nehmen.  Je  schärfer  die 
bisher  vielfach  wenig  beachtet  gebliebenen  Bande  zwischen  Recht  und  Volks- 
wirtschaft aufgedeckt  werden,  umso  klarer  wird  die  Richtigkeit  dieses  Satzes 
erkennbar  sein. 

Uns  obliegt  es  nun,  im  folgenden  den  wirtschaftlichen  Gedanken^ 
insoweit  er  im  Concursverfahren  zur  Geltung  zu  kommen  hat,  darzustellen, 
zu  zergliedern  imd  seine  Wirkungen  auf  die  Gestaltung  des  Concursrechtes 
für  die  wichtigsten  Punkte  desselben  hervorzuheben. 

Wenn  der  Concurs  schon  an  sich  nichts  anderes  ist,  als  die  Folge 
eines  Zustandes,  der  Schaden  und  Verlust  für  den  Gläubiger  in  aller  Regel 
in  sich  schliesst,  ^)  —  ist  ja  doch  der  Schuldner  zahlungsunfähig  und  in 
den  meisten  Fällen  auch  überschuldet  —  so  liegt  überdies  im  Concurs- 
verfahren für  sich  selbst  in  seinem  heutigen  Zustande  eine  ganze  Reihe  von 
Schadensgefahren.     Die  Thatsache,  dass  das  Concursverfahren  in  der  Regel 


^)  Mataja  erklärt,  das  Recht  des  Concurses  bezwecke  eine  planmässige  Schaden- 
vertheilung  bei  Insolvenzfällen:  „Das  Recht  des  Schadenersatzes  vom  Standpunkte  der 
Nationalökonomie,"  Leipzig,  Dunkor  u.  Humblot,  1S88.  S.  70. 


424  SchuUern. 

nur  dann  eingeleitet  wird,  wenn  ein  schädigender  Zustand  vorliegt,  bringt 
es  zunächst  mit  sich,  dass  durch  den  Vertheilungsprocess  dieser  Schaden 
den  Gläubigern  juristisch  richtig  zugetheilt  zu  werden  hat,  so  dass  keiner 
zuviel  und  keiner  zu  wenig  Verlust  erleide;  jene  Thatsache  fordert  nun 
aber  vom  Standpunkte  der  Volkswirtschaft  auch,  dass  die  Vertheilung  den 
Schaden  für  das  Gesammtwohl  soviel  wie  möglich  dadurch  tilge,  dass  sie 
ihn  sowohl  dem  Einzelnen  als  der  Gesammtheit  möglichst  wenig  fühlbar 
werden  lasse,  üeberdies  ergibt  sich  aber  daraus,  dass  das  Verfahren  nicht 
durch  seine  eigene  IJn Vollkommenheit  die  Gefahr  erhöhen  darf. 


Capitel   I. 
Die  in  den  bestehenden  Concursgesetzen  gelegenen  Scli«adensursachen. 

§.  1.  Umgrenzung  des  Themas. 

Es  obliegt  uns  im  folgenden  nicht,  das  Concursproblem  in  seinem 
ganzen  Umfange  zu  betrachten;  wir  haben  nicht  die  Wirkungen  des  Concurs- 
zustandes  zu  erforschen,  insbesondere  nicht  den  Concurs  gegen  ein  Ver- 
mögen als  Quelle  der  Concurse  gegen  weitere  Vermögen  zu  untersuchen, 
also  nicht  die  Frage  aufzuwerfen,  wieso  ein  Concurs  der  Ausgangspunkt 
oder  doch  das  Signal  einer  Krise,  insbesondere  einer  Handelskrise  sein 
kann;  auch  haben  wir  den  Zusammenhang  der  Concursgesetzgebung  mit 
dem  Creditphänomene  nicht  als  selbständigen  Gegenstand  unserer  Unter- 
suchung anzusehen,  sondern  wir  haben  das  Concursverfahren  als  solches  in 
seiner  Isoliertheit,  und  zwar  als  Ursache  wirtschaftlichen  Schadens  in  dem 
engern  Kreise  seiner  unmittelbaren  Wirksamkeit  ins  Auge  zu  fassen,  in 
zweiter  Keihe  aber  die  volkswirtschaftlich  richtige  Gestaltung  des  Ver- 
fahrens, insoweit  uns  dies  möglich  werden  wird,  zu  erkunden.  Würde  uns 
die  Erschöpfung  des  Problems  in  allen  seinen  Erscheinungen  und 
Wirkungen  Anlass  bieten,  an  der  Erklärung  des  gewaltigen  Spiels  und 
Widerspiels  der  wirtschaftlichen  Kräfte  in  ihrer  vollen  Compliciertheit 
nach  Maassgabe  unserer  geringen  Fähigkeiten  mitzuarbeiten,  so  bietet 
uns  das  Problem  in  seiner  verengten  Fassung  demnach  Gelegenheit, 
indem  wir  die  zunächst  aus  dem  Concursverfahren  hervortretende  Schadens- 
gefahr, die  bei  jedem  Concurse  infolge  der  bestehenden  Gesetzgebung 
zutage  treten  muss,  biossiegen,  vielleicht  den  einen  oder  andern 
Anhaltspunkt  zu  finden,  mit  Hilfe  dessen  eine  Abschwächung  jener  Gefahr 
ermöglicht  würde. 

Unser  Problem  betrifft  also  zunächst  die  Frage,  welche  diese  un- 
mittelbar wirkenden  Schadensmotoren  —  wenn  dieser  Ausdruck  gestattet 
ist  —  und  zwar  den  drei  in  Frage  kommenden  Subjecten  oder  Subjects- 
gruppen,  Schuldner,  Gläubiger,  Volkswirtschaft,  gegenüber  seien. i) 


')  Bei  unseren  Untersuchungen   ziehen   wir  die  Gesetzgebungen  Oesterreichs,    des 
Deutschen  Reichs,  Italiens,  Englands  und  Frankreichs  in  Betracht. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Coneurs  v.  Standpunkte  d,  Volkswirtschaft,      425 

§.  2.    Die   in   den   der  Vertheilung  der  Masse  vorausgehenden 
Stadien  des  Concurses  auftretenden  Scliadensursachen. 

Audi  hier  werden  wir  wieder  von  zufälligen  Schadensursachen  absehen 
und  uns  darauf  beschränken,  die  den  bestehenden  Yerfahrensarten  ihrer 
eigenthümlichen  Xatur  gemäss  innewohnenden,  wichtigsten  Momente  zu 
beleuchten. 

Als  erhebliche  Thatsachen  sind  in  dieser  Richtung  insbesondere  dreierlei 
namhaft  zu  machen.  Erstens  fordern  alle  Gesetzgebungen  die  Realisierung 
des  Concursvermögens,  das  heisst  die  Ersetzung  der  Coneursgüter  durch 
ihren  Preis,  so  dass  aus  diesem  letzteren  die  Quotenzutheilung  an  die 
Gläubiger  zu  erfolgen  hat;  zweitens  erfordert  jedes  Concursverfahren  mehr 
oder  weniger  lange  Zeit  und  drittens  verursacht  jedes  mehr  oder  weniger 
grosse  Kosten,  welche  eine  positive  Verringerung  der  zu  vertheilenden 
Masse   von  oft  sehr  bedeutendem  Ausmaasse  darstellen. 

A.  —  Da  die  erst  bezeichnete  Thatsache  eine  so  ziemlich  allgemein 
giltige  ist,  dürfte  es  überflüssig  sein,  den  Fall  näher  ins  Auge  zu  fassen, 
in  welchem  dieses  Moment  wegbliebe,  in  welchem  also  die  Coneursgüter 
direct  an  die  Gläubiger  übergehen  würden.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass 
auch  in  diesem  Falle  namhafte  privat-  und  volkswirtschaftliche  Schäden 
fast  unvermeidlich  wären,  da  ja  ein  und  dasselbe  Gut  für  verschiedene 
Personen  sehr  verschiedenen  Wert  besitzt  und  es  daher  durchaus  nicht 
sicher  ist,  dass  das  von  A  auf  B  übergehende  Gut  bei  B  eine  dem  Wert- 
verluste bei  A  entsprechende  Schadensausgleichung  erzeugen  würde.  Aus 
dem  gesammten  Yermögensstande  des  Gläubigers  und  des  Schuldners  Hesse 
sich  an  der  Hand  des  Mengerschen  Grenznutzwertgesetzes  das  Wert- 
minus auf  Seiten  des  Gläubigers,  und  hieraus  der  positive  Wertverlust  auf 
Seiten  der  Volkswirtschaft,  die  positive  Verringerung  in  der  Bedürfnis- 
Befriedigungssumme  beziffern.^)  Die  Möglichkeit  privatwirtschaftlicher  Nach- 
theile auf  Seiten  des  Gläubigers  braucht  nicht  erst  nachgewiesen  zu  werden. 

Die  ausserordentlichen  Schwierigkeiten,  welche  sich  überdies  einer 
solchen  Vertheilungsart  des  Concursvermögens  entgegenstellen,  mögen  den 
Wert  der  Realisierung  desselben  dargethan  haben;  im  ersteren  Falle  würde 
dem  Schuldner  ein  Gut  genommen  und  dem  Gläubiger  zur  Deckung 
seiner  Geldforderung  —  um  eine  solche  handelt  es  sich  ja  gewöhnlich  — 
gegeben;  im  andern  Falle  erhält  er  ein  seiner  Forderung  homogenes  Object, 
nämlich  eben  wieder  Geld.  Der  Vergleich  im  juristischen  Sinne  zwischen 
Forderung   und   Antheil   am    Concursvermögen,   daher   die   „gerechte"  Ver- 


^)  Hat  das  von  A  auf  B  übertragene  Gut  für  A  den  Wert  10,  für  B  den  Wert  6, 
so  resultiert  aus  der  Uebertragung  eine  Verringerung  im  Stande  der  Bedürfnisbefriedigung 
gleich  4;  hierin  aber  liegt  ein  volkswirtschaftlicher  Schaden.  —  Vielfach  würde  es  vor- 
kommen, dass  die  Vermögensobjecte  des  Schuldners  für  den  Gläubiger  ganz  oder  fast 
wertlos  sind  und  doch  würde  er  sie  auf  Abschlag  seiner  Forderung  nehmen  müssen,  weil 
kein  anderer  Gläubiger  da  ist,  der  sie  höher  veranschlüge.  Dass  übrigens  in  aller  Regel 
die  Coneursgüter  für  den  Käufer  weniger  Wert  haben,  als  für  den  Schuldner,  dürfte 
klar  sein. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  III.  Heft.  28 


426 


Schullern. 


theilung  desselben  unter  alle  Gläubiger  war  dadurch  erleichtert,  die  Höhe 
des  Schadens  bei  Gläubiger  und  Schuldner  kam  weniger  in  Betracht;  man 
untersuchte   nicht,    ob    dieselbe    durch   die   Eealisierung   beeinflusst  werde. 

Wir  constatieren  nun  zunächst  nochmals,  dass  die  Umwandlung  des 
Concursvermögens  in  Geld  und  die  Vertheilung  des  Gelderlöses  unter  die 
Gläubiger  herrschender  Grundsatz  ist.^)  Wir  haben  eben  gesehen,  welche 
Kechtfertigung  hiefür  gefunden  werden  kann,  ja  wieso  derartige  Bestim- 
mungen als  fast  unvermeidlich  zu  betrachten  sind.^) 

a)  In  dem  Vermögensbestände  des  Schuldners  finden  sich  nun  Gegen- 
stände, welche  für  ihn  vorwiegend  Gebrauchs-  und  solche  die  vorwiegend 
Tauschwert  haben;  unter  den  erstem  gibt  es  wieder  solche,  welche  nur 
für  ihn  in  dem  gegebenen  Ausmaasse  Gebrauchswert  besitzen;  hier  handelt 
es  sich  insbesondere  um  Objecte,  denen  der  Schuldner  einen  besondern 
Affectionswert  beilegt;  alle  diese  Güter  —  es  gilt  uns  zunächst  nur  den 
leitenden  Gesichtspunkt  aufzustellen  —  w^erden  nun  gezwungen,  gerade 
sowie  jene,  deren  Tauschwert  für  den  Schuldner  vorwiegend  war,  nur  ihren 
Tauschwert  hervorzukehren  und  nur  mit  diesem  in  der  Volkswirtschaft  zur 
Geltung  zu  gelangen.  Sehen  wir  uns  die  Folgen  dieses  Vorganges  näher 
an.  Nehmen  wir  an,  ein  Concursant  besitze  Möbel,  welche  sich  trefflich  für 
ein  alterthümliches  Gemach  in  seinem  Hause  eignen,  während  sie  nicht 
leicht  in  einer  andern  Wohnung  platzfinden  können;  diese  Möbel  haben 
für  den  Concursanten  grossen  Affectionswert,  weil  sie  ihm  von  seinen  Vor- 
eltern her  zugekommen  sind,  sie  seien  aber  nicht  der  herrschenden,  auch 
nicht  der  alterthümelnden  Geschmacksrichtung  gemäss  und  überdies  schad- 
haft. Diese  Möbel  werden  nun  executiv  versteigert;  während  sie  ihr  ur- 
sprünglicher Besitzer  höher  schätzte,  als  die  schönste,  moderne  Einrichtung, 
wandern  sie  nun  an  einen  Trödler,  der  einen  winzigen  Betrag  dafür  zahlt 
und  sie  dann  stückweise  an  wenig  bemittelte  Personen  weiterveräussert. 
Betrachten  wir  diesen  Thatbestand  vom  volkswirtschaftlichen  Standpunkte 
aus.  Gegenstände  von  hohem,  durch  besondere  Vorliebe  gesteigerten  Ge- 
brauchswert (für  den  Schuldner)  verlieren  diesen  plötzlich  und  sie  treten 
zunächst  nur  noch  mit  einem  unvergleichlich  kleineren  Tauschwerte  in  die 
Wertrechnung  der  Volkswirtschaft.  Hatten  die  Möbel  für  den  Schuldner 
den  Gebrauchswert  10,  so  wird  vielleicht  ein  Tauschwert  gleich  2  realisiert; 
die  Gläubiger  erhalten  2  und  der  Schuldner  verliert  10;  der  Ersteher  der 
Möbel  bleibt  für  das  juristische  Factum  des  Concurses  ausser  Betracht,  für 
die  Volkswirtschaft  aber  muss  auch  auf  ihn  Rücksicht  genommen  werden, 
damit  man  erkenne,  ob  nicht  bei  ihm  der  alte  Gebrauchswert  wieder  auf- 


';  OesteiT.  C.  0.:  §.  145,  146.  —  K.  0.  für  das  Deutsche  Reich:  §.  107.  S.  Ende- 
mann S.  485,  569.  Lois  du  28.  mai  1838  Art.  470,  486,  572.  —  Godice  di  Commercio. 
Art.  793.  —  Bankruptcy  Act  1883  LVI.  1.  etc. 

2)  Ausnahmen  hievon  werden  von  der  Gesetzgebung  in  Fällen  zugelassen,  in  welchen 
einzelne  Verraögensstücke  gar  nicht  oder  doch  bis  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkte  und 
unter  den  gegebenen  Verhältnissen  nicht  Absatz  gefunden  haben  und  voraussichtlich 
ihn  auch  nicht  finden  werden;  s.  z.  B.  Endemann  S.  576  f. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      427 

lebe  und  so  der  Wertverlust  wieder  ausgeglichen  werde.  Naturgemäss  wird 
auf  dieser  Seite  eine  kleine  Wertanschwellung  durch  das  neuerliche  Hervor- 
treten des  Gebrauchswertes  beobachtet  werden  können,  da  ja  der  Käufer, 
wenn  er  anders  rein  wirtschaftlich  handelt,  durch  den  Kauf  einen  Vortheil 
erzielen  muss;  es  wird  bei  ihm  vielleicht  ein  Gebrauchswert  gleich  3  zutage 
treten;  der  volle  Wert  gleich  10  kann  aber  schon  deswegen  nicht  zur  Geltung 
kommen,  weil  ja  zum  mindesten  das  erkaufte  Gut  für  ihn  in  fast  allen  Fällen 
keinen  Affectionswert  besitzt.  Affectionswerte  als  solche  werden  also  ohne- 
weiters  vernichtet,  im  allgemeinen  aber  wird,  auch  abgesehen  hievon,  sich 
die  Wage  zu  Ungunsten  des  Yerkaufsobjectes  stellen;  so  z.  B.  wird  in 
unserem  Falle  der  Ersteher  der  Möbel  nicht  immer  über  ein  ebenso  ge- 
eignetes Locale  für  dieselben  verfügen;  ja  er  wird  sie  vielleicht  überhaupt 
nicht  deswegen,  weil  er  gerade  ein  besonderes  Bedürfnis  darnach  hätte, 
sondern  etwa  nur  deswegen,  weil  sie  auffallend  billig  zu  haben  sind,  kaufen. 
Es  tritt  also  ein  Wertverlust  ein,  der  Gesammtwohlstand  und  damit  die 
Volkswirtschaft  wird  also  dadurch,  dass  Gegenstände  von  vorwiegendem 
Gebrauchswerte  (für  den  Schuldner)  plötzlich  in  Tauschwertobjecte  um- 
gewandelt werden,  in  aller  Kegel  Schaden  leiden;  in  jedem  Falle  aber  wird  der 
Gewinn  des  Gläubigers  dem  Verluste  des  Concursanten  gegenüber  ein  umso 
kleinerer  sein,  je  grösser  der  Gebrauchs-  und  je  geringer  der  Tauschwert  ist. 

Dies  gilt  auch  in  Fällen,  in  welchen  ein  Affectionswert  gar  nicht  in 
Frage  kommt.  Ein  Schuldner  besitze  einen  nicht  mehr  neuen  Winterrock, 
der  ihm  aber  gerade  so  gut  dient,  als  wenn  er  vollständig  neu  wäre:  der- 
selbe werde  nicht  aus  der  Concursmasse  ausgeschieden  und  er  komme 
daher  zur  Versteigerung;  welcher  Tauschwert  kann  da  realisiert  werden;  in 
welchem  Verhältnisse  stehen  der  Vortheil  der  Gläubiger  und  der  Nachtheil 
des  Schuldners? 

Bei  Gütern,  deren  Tauschwert  schon  auf  Seite  des  Schuldners  hervor- 
trat, ist  die  Sache  allerdings  wesentlich  anders;  zum  mindesten  ist  die 
Verlustchance  keine  so  grosse;  hierüber  werden  wir  dann  zu  sprechen 
haben,  wenn  wir  die  ferneren  Wirkungen  des  Realisierungsprocesses  von 
Concursvermögen  kurz  ins  Auge  fassen  werden.  (7.  Schadensursache.) 

Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich  also  als  unsere  These: 

1.  Durch  die  Realisierung  des  Concursvermögens  werden  vorhandene 
Affectionswerte  (dieses  Wort  im  engern  Sinne  genommen,  in  jenem  Betrage 
also,  der  auf  Rechnung  der  besondern  Vorliebe  zu  setzen  ist)  vernichtet;^) 
Gütern  mit  bisher  überwiegendem  Gebrauchswerte  ihr  geringerer  Tausch- 
wert aufgedrängt,  ohne  dass  dem  daraus  entstehenden  Wertverluste  durch 
den  beim  Ersteher  der  Güter  auftretenden  Gebrauchswert  erschöpfend  ent- 
gegengetreten werden  würde.  Wir  können  uns  auch  so  ausdrücken,  dass 
durch  die  Realisierung  solcher  Vermögensobjecte  höherwertiges  Privatgut 
mindei*wertig  gemacht  wird,  so  zwar,  dass  es  auch  in  einem  spätem  Stadium 
nicht  mehr  zum  alten  Werte  emporschnellen  kann. 


1)  S.  hierüber  auch  Mataja  a.  o.  0.  S.  150—152,  178. 

28" 


428  Sclmllern 

b)  Eine  zweite  höchst  bedeutende  Schädigungsursache  bringt  die 
gewöhnliche  Art  und  Weise  der  Eealisierung  des  Concursvermögens  mit 
sich;  man  opfert  hiebei  der  Schnelligkeit  und  Bequemlichkeit  des  Vor- 
ganges oft  sehr  unbedachtsam  eine  sehr  bedeutende  Quote  des  Vermögens- 
wertes. Schon  das  in  mancher  Gesetzgebung  geltende  Princip  der  succes- 
siven  Vertheilung^)  bringt  die  NothAvendigkeit  mit  sich,  das  Vermögen  als 
Ganzes  aufzulösen.  Ist  nun  ein  Vermögen  jemals  ein  Ganzes;  bringt  seine 
Zerstückelung  wirklich  Schaden  mit  sichP.^Das  Vermögen  eines  Mannes, 
der  sich  nur  von  wirtschaftlichen  Grundsätzen  leiten  lässt,  kann  uijter  Um- 
ständen als  ein  geschlossenes,  einheitliches  Ganze  ohneweiters  betraclitet 
werden;  jedes  Vermögensstück  hat  seinen  bestimmten  Platz,  seine  bestimmte 
Aufgabe  zugewiesen,  jedes  hat  für  den  Besitzer,  je  nach  seiner  momentan 
bestimmten  Stellung  in  der  Gütermasse  einen  ganz  bestimmten  subjectiven 
Gebrauchs-  oder  Tauschwert.  Je  weiter  nun  das  einzelne  Vermögensobject 
von  diesem  homo  oeconomicus  absteht  —  Niemand  wird  bei  seinen 
Handlungen  nur  wirtschaftliche  Motive  gelten  lassen  —  umso  lockerer  ist 
dieser  Zusammenhang  der  einzelnen  Vermögensstücke. 

Da  der  homo  oeconomicus  nicht  nur  jedes  Stück  überhaupt  an  eine 
bestimmte  Stelle  verwiesen  und  ihm  eine  bestimmte  Aufgabe  gegeben  hat 
sondern  er  dies  auch  nach  der  mit  Kücksicht  auf  seine  persönlichen  und 
Vermögens  Verhältnisse  wirtschaftlichsten  Weise  that,  ist  es  klar,  dass  durch 
die  Zerstückelung  des  Concursvermögens  vorerst  wenigstens  die  einzelnen 
Güter  eine  relativ  beste  Situation,  damit  den  relativ  höchsten  Wert  ver- 
lieren; ob  sie  durch  eine  anderweitige  Eintheilung  auf  Seiten  ihres  Er- 
stehers wieder  auf  die  Stufe,  von  der  sie  gesunken,  emporsteigen  werden, 
bleibt  mindestens  zweifelhaft;  dem  Gläubiger  gegenüber  aber,  für  den  ja 
nur  ihr  Geldpreis  in  Frage  kommt,  ist  wohl  unter  allen  Umständen  ein 
Wertabschlag  eingetreten,  da  die  Güter  isoliert  und  aus  ihrer  bisherigen 
complementären  Verwendung  herausgerissen,  veräussert  worden  sind. 

Abgesehen  aber  hievon,  also  von  einem  Gesichtspunkte,  der  nur  unter 
Umständen  eingenommen  werden  kann,  finden  wir  einen  andern  Fall  dann 
vor,  wenn  innerhalb  der  Gütermasse  sich  eine  Quantität  einzelner  Güter 
findet,  die  in  einem  zweckmässigen  Zusammenhange  stehen  und  in  diesem 
Zusammenhange  einem  bestimmten,  productiven  Zwecke  dienen  sollen.^) 
/  Im  Vermögen  des  Schuldners  finde  sich  z.  B.  eine  Fabrik,  die  vollständig 
wirtschaftlich  eingerichtet  istS  ein  Bauernhof  mit  seiner  Ausdehnung  an- 
gepasstem  fundus  instructus.  eine  Tischlerwerkstätte  mit  allem  Geräthe. 
Die  einzelnen  Gegenstände  dieser  Vermögensmassen  stehen  hier  in  einem 
naturgemässen,    complementären    Zusammenhange ;(  ihr  Wert  ist  die  Folge 


1)  K.  0.  §.  187.  —  Cod.  di  Comm.  Art.  809;  s.  hiezu  auch  Art.  799,  welcher  vom 
Verkaufe  einzelner  Güter  in  Masse  handelt.  C.  0.  §.  145  u.  s.  w.  S.  hingegen  das  alte 
römische  Kecht,  welches  ursprünglich  den  Verkauf  der  Güter  des  Schuldners  als  Ganzes 
als  Princip  anerkannte,  s.  Renouard  S.  19. 

-)  Patten:  „Die  Bedeutung  der  Lehre  vom  Grenznutzen, "  Jahrbücher  für  National- 
ökonomie und  Statistik  III.  f.  II.  B.  4.  H.  S.  507. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger- Concurs  v,  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      429 

ihrer  procluctiven  Wirksamkeit  in  dieser  complementäreii  Vereinigung. 
(S.  Menger.  BöliTn-Bawerk.)'^^  Die  Summe  der  Einzelnwerte  dieser  Gegen- 
stände, wenn  sie  aus  ihrer  'bisherigen  Verbindung  gebracht  werden,  wird  in 
einem  solchen  Falle  wohl  nicht  die  Höhe  des  früheren  Gresammtwertes  er- 
reichenfder  Mehrwert,  der  ihnen  allen  aus  der  Complemeutarität  zuströmte, 
ist  vernichtet;  viele  besitzen  überhaupt  keine  Bedeutung  für  den  directen 
Consum  (z.  B.  Maschinen)  um  productiven  Zwecken  dienen  zu  können, 
müssen  sie  erst  wieder  complementäre  Güter  aufsuchen:  werden  sie  solche 
finden,  werden  sie  so  genau  zu  ihnen  passen,  wie  zu  jenen,  von  welchen 
sie  getrennt  worden  sind,  werden  nicht  vielfache  Umgestaltungen,  Ver- 
kleinerungen, Vergrösserungen  nothwendig  sein?  wird  nicht  oft  und  oft  ein 
früher  complementär  sehr  wirksames  Gut  wegen  seiner  specifischen  Be- 
schaffenheit, weil  es  z.  B.  für  ein  ganz  bestimmtes  Locale  hergestellt  worden 
war,  nun  gar  nicht  mehr  brauchbar  erscheinen,  manche  Maschine  z.  B. 
als  altes  Eisen  und  Brennholz  verwendet  werden  müssen?  In  einem  solchen 
Falle  wird  ein  einem  bestimmten  Zwecke  zugewiesenes  Vermögen  als 
solches  vernichtet  und  seine  einzelnen  Stücke  müssen  geringere  wirtschaft- 
liche Functionen  als  bisher  erfüllen.  Wir  kommen  hiemit  zu  unserer 
zweiten  These: 

2.  Durch  die  Zerstückung  der  Concursmasse  gehen  je  nach  Umständen 
in  grösserem  oder  geringerem  Umfange  die  aus  der  Complementarität  der 
Güter  entsprungenen  Wertzuschläge  derselben  verloren,  diejenigen  Mehr- 
werte nämlich,  welche  die  Güter  über  ihren  isolierten  Wert  hinaus  durch 
den  productiven  Zusammenhang  gewonnen  haben.  Hierin  liegt  ein  positiver 
Verlust  für  die  Privatwirtschaft  des  Gläubigers.  Auch  in  diesem  Falle  ist 
eine  Wertausgleichung  für  die  Volkswirtschaft  auf  Seite  des  Erstehers 
nicht  zu  erwarten:  auch  diese  leidet  also  schwer  unter  dieser  Art  der  Ver- 
mögensübertragung. A  (der  Schuldner)  verliert  mehr,  als  B  (der  Gläubiger), 
ja  auch  als  C  (der  Ersteher)  erhält;  dieses  ganze  Mehr  ist  einfach  ver- 
nichtet. 

.'  Diese  Sr.hädigungsursache  ist  in  beschränktem  Umfange  auch  von  der 
Gesetzgebung  gewürdiget  worden,  indem  z.  B.  das  österreichische  Gesetz 
verfügt,  es  dürfe  der  fundus  instr actus  nur  in  Verbindung  mit  der  Kealität 
versteigert  und  die  Kealität  als  solche,  müsse  wenigstens  unter  bestimmten 
Umständen  als  Ganzes  betrachtet  werden;  an  dieser  Stelle  gelangte  also, 
gleichsam  vom  privatwirtschaftlichen  Interesse  eingeführt,  auch  das  volks- 
wirtschaftliche Interesse  zu  einer  gewissen  Geltung.  ^)     Dass  die  bisherigen 

^)  Gerade  das  Grenznutzengesetz,  mehr  als  wohl  jede  andere  Werttheorie,  würde 
geeignet  sein  die  Bedeutung  derartiger,  gesetzlicher  Bestimmungen  nachzuweisen,  weil  es 
die  Bedeutung  des  productiven  Zusammenhanges  voll  zutage  treten  lässt  (s.  Böhm- 
Bawerk);  leider  liegt  der  Nachweis  für  das  Gesagte  nicht  im  Rahmen  unserer  Aufgabe; 
nichtsdestoweniger  sei  es  ims  gestattet,  zu  bemerken,  dass  das  Gesetz  des  Grenznutzens 
gerade  für  das  Gebiet  der  angewandten  Nationalökonomie  unserer  Anschauung  naoh 
höchst  wertvolle  Anregungen  bieten  wird  und  dass  manche  Bedürfnisse  der  Volkswirschaft, 
des  Gemeinwohles  erst  von  ihm  aus  ihre  wissenschaftlich  begründete  Befriedigung  finden 
werden. 


43Q  Schullern. 

gesetzlichen  Bestimmungen  dem  bestehenden  Bedürfnisse  nicht  vollständig 
gerecht  werden;  dass  sie  insbesondere  nicht  alle  productiven  Güterverbände, 
insoweit  ihr  Fortbestand  sich  nach  genauer  Erwägung  aller  Umstände  der 
Zerstörung,  Auflösung  gegenüber  als  w^ünschenswert  erweist,  also  nicht  alle 
volkswirtschaftlich  richtig  gestalteten  Verbände  dieser  Art  berücksichtigen, 
folgt  wohl  aus  dem  Umstände,  dass  „Gerechtigkeit"  der  Yertheilung  und 
daneben  die  möglichst  rasche  Tilgung  der  Schulden  als  die  wichtigsten, 
juristischen  Zwecke  des  Concursverfahrens  aufgefasst  und  zu  wenig  beachtet 
wird,  dass  trotzdem  und  oft  geradezu  hieraus  dem  Gläubiger  selbst  Nach- 
theile erwachsen,  und  dass  die  Volkswirtschaft  tief  geschädiget  werden 
kann;  auch  die  damit  in  Zusammenhang  stehende  Schädigung  des  Schuldners 
wurde  nicht  in  Betracht  gezogen,  so  sehr  es  auf  der  Hand  liegt,  dass  ihr 
kein  entsprechender  Vortheil  des  Gläubigers  gegenübersteht.  Es  wurde  ja 
überhaupt  von  vornherein  an  den  wissenschaftlich -nationalökonomischen 
Gesichtspunkt,  speciell  an  das  Wertgesetz  kaum  gedacht,  die  Schadensgefahr 
also  von  allem  Anfange  an  nicht  genügend  erkannt.  Zahlreiche,  weitere 
Momente  könnten  als  Erklärung  gelten,  wir  wollen  aber  nicht  weiter  darauf 
eingehen  und  uns  mit  der  Bemerkung  begnügen,  dass  wir  in  den  oben  an- 
gedeuteten Bestimmungen,  z.  B.  des  österreichischen  Gesetzes,  nur  Symptome 
dafür  zu  erkennen '  haben,  dass  allmählich  in  die  früher  von  rein  juristi- 
schen Gesichtspunkten  beherrschte  Gesetzgebung  volkswirtschaftliche  Ge- 
danken sickern,  um  so  allmählich  neben  dem  Princip  der  Gerechtigkeit  auch 
das  des  allgemeinen,  wirtschaftlichen  Wohles  zur  Geltung  zu  bringen. 

Bas  zu  unserer  zweiten  These  Gesagte  soll  noch  an  einigen  Beispielen 
als  richtig  nachgewiesen  werden. 

Nehmen  wir  den  Fall,  A  habe  ein  ihm  gehörendes  Wohnhaus  in 
eine  Spinnfabrik  umgewandelt,  er  habe  Maschinen  in  den  erforderlichen 
Grössen  herstellen  lassen,  sich  mit  jener  Quantität  Rohstoff,  die  sich  als 
angemessen  erwies,  versorgt,  in  der  Nähe  der  Fabrik  habe  er  Wohnungen 
für  die  Fabriksarbeiter  errichtet,  er  habe  einen  Brunnen  angelegt,  welcher 
die  für  die  Fabrik  und  deren  Bedienstete  erforderliche  Wassermenge  zu 
liefern  geeignet  w^äre ;  auch  Zufahrtsstrassen  habe  er  gebaut,  kurz  alles  in 
der  angemessensten  und  wirtschaftlichsten  Weise  eingerichtet.  Dadurch  dass 
er  einem  Freunde  Wechselbürgschaft  geleistet,  oder  aus  einem  andern 
Grunde  komme  er  in  Concurs;  in  seiner  Vermögenmasse  befindet  sich  die 
genannte  Fabrik  und  alles  was  berufen  war,  ihren  Zwecken  zu  dienen;  in 
den  Händen  des  Concursanten  bildete  diese  Gütergesammtheit  gewisser- 
maassen  ein  einheitliches  Gut,  sie  war  einem  bestimmten  Zweck  gewidmet 
und  sollte  eine  einheitliche  Einkommensquelle  werden.  Jetzt  handelt  es 
sich  um  die  Verwandlung  dieser  Gütermasse  in  Geld;  nehmen  wir  an,  der 
Versuch,  sie  als  Ganzes  loszuschlagen,  gelinge  nicht  sofort,  weil  gerade 
Niemand  aus  der  Umgegend  über  die  zum  Ankauf  erforderlichen  Mittel 
verfüge,  oder  weil  Niemand  den  Unternehmermuth  des  Schuldners  besitze, 
oder  aus  irgend  welchem  andern  Grunde.  Man  wird  zur  Zerstückelung 
schreiten  und  z.  B.  zunächst  die  Arbeiterwohnungen  abtrennen;  man  wird 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      431 

vielleicht  genöthigt  sein,  diese  nm  einen  verschwindend  kleinen  Preis  ab- 
zugeben, weil  ihr  ursprünglicher  Zweck  ferne  gerückt  ist  oder  überhaupt 
nicht  mehr  besteht  und  sie  für  andere  Dienste  minder  geeignet  sind;  infolge 
der  Abtrennung  der  Arbeiterwohnungen  hat  aber  auch  die  Fabrik  als  solche 
an  Wert  verloren;  wenn  sie  auch  sammt  ihrem  Maschinenbestande  an  eine 
Person  verkauft  werden  kann,  bietet  sie  doch  nicht  mehr  die  frühere  Be- 
quemlichkeit, nicht  mehr  die  frühere  Gewinnchance,  —  kann  ja  z.  B.  der 
Arbeitslohn  deswegen  erhöht  werden  müssen,  weil  sich  der  Arbeiter  selbst 
eine  kostspieligere  Wohnung  beschaffen  muss  (Standard  of  life);  es  wird 
vielleicht  sogar  nothwendig  werden,  den  Betrieb  einzuschränken;  nun  ist 
das  Gebäude  zu  gross,  die  Maschinen  zu  zahlreich,  der  Bestand  an  Koh- 
stoff  zu  massenhaft,  der  Brunnen  gibt  zu  viel  Wasser,  die  Zufahrtsstrassen 
sind  zu  breit;  all  dies  erwägt  der  Kauflustige  und  bietet  daher  nur  soviel 
und  höchstens  soviel,  als  er  für  ein  entsprechend  kleineres  Gebäude  mit 
entsprechend  kleinern  Zuthaten  auch  bieten  würde.  Bei  weiterer  Zerstückelung 
wird  sich  diese  Wertverringerung  mehr  oder  weniger  bei  allen  einzelnen  Ver- 
mögenstheilen  zeigen. 

Wir  verlassen  dieses  Beispiel,  ohne  es  vollständig  ausgenützt 
zu  haben  und  suchen  ein  anders  geartetes.  Bei  einer  Villa  befinde 
sich  ein  prächtiger  Garten ,  der  Besitzer  der  •  Villa  verwende  diesen 
und  die  Villa  nur  zu  Genusszwecken;  er  gerathe  in  Concurs;  aus  irgend 
einem  Grunde  werde  der  Garten  von  der  Villa  .abgestückt-  und  dieser 
Vorgang  von  der  Behörde  zugelassen;  während  Villa  und  Garten  zusammen 
dem  Bedürfnisse  eines  reichen  Mannes  trefflich  genügt,  also  einen  grossen 
Gebrauchswert  besessen  haben,  muss  jetzt  die  Villa  vielleicht  als  gering- 
wertiges, nur  für  Sommerparteien  geeignetes  Miethaus,  der  Garten  etwa  als 
Wiese  veranschlagt  werden,  als  solcher  lässt  er  ein  verhältnismässig  unbedeu- 
tendes Erträgnis  erwarten,  sein  prächtiger  Baumbestand  wird  wohl  gar  als 
Bau-  oder  Brennholz  geschätzt;  als  solcher  ist  er  aber  von  minimalem 
Werte,  denn  die  alten,  herrlichen  Stämme  sind  hohl  und  fast  unbrauchbar; 
die  Summe  der  Preise  der  nun  getrennten  Güter  wird  wegen  der  Abtrennung 
dem  Gebrauchswerte  nicht  mehr  entsprechen,  welchen  der  frühere  Besitzer 
dem  ganzen  Gutscomplexe  beigelegt  hatte  und  welchen  er  vielleicht  als 
Ganzes  auch  bei  einer  dritten  Person  wiedererlangen  könnte,  wenn  es  zu- 
lässig wäre,  auf  einen  Käufer  des  Ganzen  zu  warten.  Es  Messen  sich  zahl- 
reiche, noch  weit  näher  liegende  Beispiele  finden,  um  den  oben  ausge- 
sprochenen Gedanken  zu  erläutern;  ja  wenn  man  gewisse  Fälle  heranziehen 
wollte,  welche  das  praktische  Leben  bietet,  käme  man  vielleicht  in  die 
Lage,  von  volkswirtschaftlichen  Sottisen  zu  reden,  von  Fällen,  in  welchen 
die  Zerstückelung  in  keiner  Weise  nothwendig,  ja  ganz  und  gar  unver- 
nünftig war;  wir  wollen  aber  bei  diesem  Gegenstande  nicht  länger  stehen 
bleiben,  weil  wir  hoffen,  ohnehin  vollständig  klar  zu  sein  und  wollen  zur 
Besprechung  anderer  Schädigungsursachen  übergehen.  Xur  das  eine  sei  be- 
merkt, dass  der  in  der  obigen  Weise  begründete  Schaden  wesentlich  ein 
volkswirtschaftlicher  ist,  weil  er  eine  Wertaustilgung  für  die  Gesammtheit 


432 


Schiillern. 


in  sich  birgt  und  nicht  nur  für  den  Gläubiger;  es  ist  nicht  nur  der  Preis 
der  Summe  der  Güter  ein  geringerer,  als  es  der  der  Gütergesammtheit  bei 
entsprechendem  Vorgehen  hätte  sein  können,  sondern  es  haben  die  Güter 
geradezu  an  Productivkraft  oder  die  Productivkraft  überhaupt  verloren,  oder 
es  ist  ihre  directe  Fähigkeit,  Bedürfnisse  zu  befriedigen,  gesunken,  sie  sind 
als  Genussgüter  entwertet  worden;  ja  es  kann  eine  Verquickung  beider 
bisher  von  uns  aufgeführter  Schadensursachen  in  Frage  kommen. 

c)  Beiden  Ursachen,  insbesondere  aber  der  ersten  nahe  verwandt  ist 
eine  dritte,  die  wir  des  geringeren  theoretischen  Interesses  wegen  nur  in 
aller  Kürze  namhaft  machen  wollen.  Manche  Gegenstände  kommen  bei 
Kealisierung  des  Coneursvermögens.  da  ja  dieselbe  möglichst  schnell  durch- 
geführt werden  soll.  (s.  z.  B.  §.  145  österr.  C.  0.).  zu  einer  Zeit  und,  unter 
Verhältnissen  auf  den  Markt,  welche  zu  ihrer  Verschleuderung  führen 
müssen,  z.  B.  ein  Winterrock  im  Sommer,  ein  Eisvorrath  im  Winter, 
eine  Kealität  in  ungünstiger  Jahreszeit  oder  gleichzeitig  mit  mehreren 
anderen. 

Es  ergibt  sich  also  als  dritte  These: 

3.  Durch  den  Zeitpunkt  der  Realisierung  von  Concursvorräthen  und 
die  Verhältnisse  unter  denen  sie  stattfindet,  ist  die  Gefahr  einer  Ver- 
ringerung der  zur  Vertheilung  gelangenden  Preissumme  des  Schuldner- 
vermögens geboten. 

Diese  Schädigungsursache  hat  zunächst  vorwiegend  privatwirtschaft- 
liche Bedeutung,  W^ichtigkeit  nämlich  für  den  Vermögensstand  der  Gläubiger 
und  wohl  auch  des  Schuldners:  für  die  Volkswirtschaft  ist  die  Möglichkeit 
nicht  ausgeschlossen,  dass  das  fragliche  Gut,  also  z.  B.  der  Winterrock, 
der  Eisvorrath  im  nächsten  Winter,  respective  Sommer  neuerdings  einen 
Wert  erlange,  wie  er  ihn  seinerzeit  in  den  gleichen  Jahreszeiten  dem  Ver- 
mögensstande des  Schuldners  gegenüber  besessen  hat.  Trotzdem  ist  auch 
dieser  Punkt  für  die  Volkswirtschaft  nicht  gleichgiltig:  wir  kommen  hierauf 
an  anderer  Stelle  noch  zurück.  Auch  diese  Thatsache  haben  die  Gesetzgebungen 
nicht  immer  unbeachtet  gelassen;  allerdings  handelt  es  sich  bei  den  be- 
züglichen Maassnqhmen  nicht  nur  um  die  Beseitigung  der  Gefahr,  dass 
eine  Schädigung  Avegen  ungünstigen  Zeitpunktes  der  Veräusserung  eintrete, 
sondern  überhaupt  darum,  der  Verschleuderung  von  Concursgütern  vorzu- 
beugen. Das  französische  Gesetz  (Art.  573)  gibt  das  Recht,  den  Wieder- 
verkauf eines  bereits  verkauften  liegenden  Gutes  innerhalb  15  Tagen  nacli 
erfolgtem  Verkaufe  zu  beantragen  unter  Uebernahme  der  Garantie  seitens 
des  Antragstellers,  dass  der  zu  erzielende  Preis  den  früher  erzielten 
mindestens  um  ein  Zehntel  übersteigen  werde  (surenchere).  Das  öster- 
reichische Gesetz  hat  in  der  Executionsnovelle  vom  10.  Juni  1887,  Z.  74 
R.-G.-Bl.,  eine  ganz  ähnliche  Bestimmung  auch  in  Betreff  liegender  Güter 
getroffen. 

B.  —  a)  Eine  viert^These,  welche  wir  nachweisen  wollen,  lässt  sich  dahin 
zusammenfassen,  dass  das  Concursveimögen  während  der  Concursverhandlung 
ganz  oder  zum  Theile  brach  liegen,  weder  als  Genussgut  verwendet  werden 


Gesetzgebung  über  d.  Gläiibiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      433 

noch  productiv  thätig  sein  wird.  In  der  Eegel  findet  eine  Versiegelung  ^) 
der  sclmldnerischen  Güter  für  eine  bestimmte  Zeit,  häufig  eine  Deponierung-) 
einzelner  bei  dem  Depositenamte  statt;  eine  Fabrik  wird  gewöhnlich  während 
der  ganzen  Zeit  stillestehen,  ein  Handelsgeschäft  vielleicht  nur  um  einen 
Ausverkauf  des  Warenlagers  zu  ermöglichen,  fortgeführt  werdeii>^) 

All  dieses  Euhenlassen  productiver  Güter  ist  vielfach  und  der  Haupt- 
sache nacli  auf  wirkliches  oder  auch  nur  vermeintliches,  privatwirtschaft- 
liches Interesse  der  Gläubiger  zurückzuführen,  w^elches  gerade  in  diesem 
Punkte  vielfach  mit  dem  Interesse  der  Volkswirtschaft  in  Widerspruch 
steht.  Wenn  die  von  uns  oben  näher  geschilderte,  durchaus  wirtschaftlich 
eingerichtete  Fabrik  stille  steht,  wenn  also  die  Arbeiter  brodlos  sind,  das 
in  den  Gebäuden,  Maschinen  u.  s.  w.  investierte  Capital  unthätig  liegt,  die 
bisherige  Versorgung  der  Gegend  mit  den  Fabriksproducten  aufhört,  so 
liegt  zweifellos  ein  schwerwiegender  Nachtlieil  für  die  Volkswirtschaft  vor, 
unter  Umständen  sogar  unabhängig  davon,  ob  die  Fabrik  im  Falle  ihres 
Betriebes  Eeinertrag  in  dem  gegebenen  Zeitpunkte  abgeworfen  hätte  oder 
nicht.  Die  Gläubiger  dagegen  sahen  bei  der  von  ihnen  getroffenen  Ent- 
scheidung nur  darauf,  ob  Reingewinn  zu  erwarten  sei  oder  nicht,  oder  sie 
hatten  auch  andere  Motive  als  Eichtschnur  genommen,  welche  noch  weniger 
mit  den  Interessen  der  Volkswirtschaft  übereinstimmten. 

Wenn  nun  auch,  wie  eben  angedeutet,  z.  B.  im  deutschen  Concurs- 
recht  mit  Eücksicht  auf  den  Aveiten  Spielraum,  welchen  dasselbe  dem 
Masseverwalter  einräumt,  und  im  österreichischen  Concursverfalu'en  der  Be- 
stimmung des  §.  139  zufolge  das  vollständige  Brachliegen  nicht  als  aus- 
nahmsloses Vorkommnis  betrachtet  werden  muss,  so  hat  doch  die  Gesetz- 
gebung, allerdings  weniger  des  allgemeinen  Wohles  wegen,  als  im  privaten 
Interesse  der  Gläubiger  vielfach  noch  ein  weiteres,  freilich  nur  sehr  th eil- 
weise wirkendes  Mittel  gegen  die  daraus  erwachsenden  üblen  Folgen  ge- 
funden. Fast  alle  Gesetze  bestimmen  nämlich,  dass  die  Vertheilung  des 
Concursvermögens  nicht  erst  nach  seiner  vollständigen  Eealisierung  auf 
einmal,  sondern  in  geeigneten  Zeitpunkten  wiederholt  und  successive  zu 
erfolgen  habe.-^)  Mit  Eücksicht  auf  die  häufig  sehr  lange  Dauer  des  Concurs- 

^)  C.  0.  §.  112.  1.  (die  Versiegelung  ist  facultativ),  s.  hiezu  die  Bestimmung  der 
deutschen  Concursordnung,  dass  im  Concursverfahren  die  seit  der  Concurserüifnung  lau- 
fenden Zinsen  nicht  zur  Geltung  gebracht  werden  können;  Codice  di  Commercio,  Art  733; 
Loi  V.  28.  V.  1838  Art.  455. 

•^)  Oesterr.  C.  0.  §.  87  al.  3,  139;  deutsche  K.  0.  §.  118;  Cod.  di  Commercio, 
Art.  742,  753;  —  Loi  28.  V.  1838,  Art.  489, 

3)  Deutsche  K.  0.  §.  118  I.  Cod.  di  Comm.  794;  ßankraptcy  Act  1883  LVII.  1. 
österr.  C.  0.  §.  142  H. 

■*)  Die  das  Concursvermögen  ursprünglich  bildenden  Güter  sind,  so  weit  realisierbar, 
schon  durch  ihren  Verkauf  der  Brache  entzogen  worden,  an  ihre  Stelle  trat  ihr  Preis  in 
Geld;  dieser  aber  ist  entweder  geradezu  bei  Gericht  deponiert  oder  er  ist  um  des  Dar- 
leihenszinses willen  angelegt;  eine  wesentlich  andere,  fruchtbringende  Anlegung  des 
Geldes  ist  in  diesem  Stadium  kaum  denkbar;  ob  erstere  aber  in  der  Regel  insbesondere 
volkswirtschaftlich  die  beste  ist,  wollen  wir  dahingestellt  sein  lassen.  S.  d.  K.  0.  §.  137 
Cod.  di  Commercio:  Art.  809,  Bankruptcy  Act  1883  LVIII;  österr.  Concursordnung  §.  168, 


434  Schullern. 

Verfahrens  kommt  derartigen  Bestimmungen  eine  nicht  zu  unters  hätzende 
Wichtigkeit  zu.  Das  für  die  Concursgüter  als  deren  Preis  erzielte  brach- 
liegende Geld  wird  der  Circulation  wiedergegeben,  während  bisher  frucht- 
bringend angelegtes  Geld  nun  wieder  freier,  privater  Verfügung  überwiesen 
wird,  so  dass  es  möglicherweise  weit  directer  auf  den  volkswirtschaftlichen 
Process  wirken,  sich  als  volkswirtschaftlich  wertvoll  darstellen  kann.  Der 
Yermögenstand  der  Gläubiger  wird  allmählich  ergänzt:  der  Grad  ihrer  Be- 
dürfnisbefriedigung also  potentiell  gehoben;  all  dies  ist  privat-  und  Volks- 
wirts cliaftlich  wenigstens  in  aller  Eegel  vortheilhaft. 

Anhangsweise  wollen  wir  schon  an  dieser  Stelle  noch  mit  wenigen 
Worten  auf  den  Fall  der  Sequestration  liegender  Concursgüter  zu  sprechen 
kommen.  Dieselbe  bezweckt  zu  verhindern,  dass  sie  während  des  Concurs- 
verfahrens  todt  liegen  oder  doch  wegen  mangelnder  Beaufsichtigung  nur 
stark  verminderten  Ertrag  abwerfen;  (in  der  Kegel  übrigens  soll  damit  nur 
dem  Massaverwalter  eine  Erleichterung  seiner  Pflichten  gewährt  werden). 
Dieser  Fall  ist  z.  B.  in  der  österreichischen  Concursordnung  §§.  82  und  83 
vorgesehen.^)  Vom  wirtschaftlichen  Standpunkte  aus  dürfte  gegen  dieses 
Institut  als  solches  und  als  oft  unvermeidliches  Auskunftsmittel  nichts  ein- 
zuwenden sein,  es  ist  aber  doch  an  dieser  Stelleu  zu  betonen,  dass  die  Auf- 
stellung solcher  besonderer  Verwalter  für  liegende  Güter  den  Concurs 
erheblich  vertheuert  und  dass  ein  wirklicher  Vortheil  für  die  Concursmasse 
wohl  nur  dann  erzielt  wird,  wenn  der  Sequester  ein  ebenso  gewissenhafter 
als  fähiger  Mann  ist.  Um  nicht  später  wieder  auf  diesen  Punkt  eingehend 
zurückkommen  zu  müssen,  sei  es  gestattet,  hier  die  Frage  aufzuwerfen,  ob 
es  nicht  caeteris  paribus  vorth eilhafter  wäre,  dem  Gemeinschuldner,  natür- 
lich nur  dann,  wenn  er  an  seiner  Zahlungsunfähigkeit  (üeberschuldung) 
keine  Schuld  trägt  und  wenn  er  tüchtig  ist,  unter  strenger  Controle  des 
Massaverwalters  T  respective  des  Gerichtes  die  Geschäftsführung  auf  den  ihm 
wohlbekannten  und  von  ihm  eiprobten  Grundstücken  zu  überlassen,  als  eine 
dritte  Person  heranzuziehen,  der  oft  die  Ortskenntnis  fehlt  und  die  nur  ihr 
eigenes  Interesse  verfolgt.  Doch  genug  hievon.  —  S.  hiezu  Bankruptcy 
Act.  LXIV. 

b)  Neben  diese  Thesen  haben  wir  zunächst  noch  eine  fünfte  zu  stellen, 
welche  zwar  mit  der  vierten  in  engem  Zusammenhange  steht,  aber  doch 
abgesondert  behandelt  werden  muss,  weil  sie  nicht  so  sehr  am  Gute,  als 
vielmehr  im  Vermögensstande  des  Gläubigers  zur  Geltung  kommt.  Diese 
fünfte  These  geht  dahin,  dass  die  Dauer  der  Concursverhandlung  und  die 
damit  verbundene  Verzögerung  in  der  Befriedigung  des  Gläubigers  vielfach 
eine  Störung  in  der  Ordnung  seiner  Bedürfnisbefriedigung  hervorruft  und 
weil  sie  ihm  die  Verfügung  über  ihm  zustehende  Geldmittel  vorenthält,  ihn 
in  productiver  Thätigkeit  mehr  oder  weniger  behindert  und  ihn  der  Gefahr 
eines  hierum  cessans  aussetzt;  aus  diesem  Grunde  wäre  es  erwägenswert 
ob  und  inwieweit  auf  das  letztere  bei  Festsetzung  der  Vertheilungsquoten 


1)  Bankruptcy  Act  1883  LH. 


Gesetzgebung  über  cl.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      435 

ZU  achten  sei:  dabei  wäre,  insoweit  der  Einfluss  des  Verfahrens  selbst 
untersucht  wird,  insbesondere  Kücksicht  auf  die  Frage  zu  nehmen,  ob  der 
Gläubiger  im  Falle,  dass  der  Concurs  nicht  dazwischen  getreten  w^äre, 
früher  seine  Befriedigung  erlangt  hätte.^) 

Auch  auf  Seiten  des  Schuldners  kann  seine  mehr  oder  weniger  ab- 
solute Unfähigkeit,  während  der  Dauer  der  Concursverhandlung  productiv 
thätig  zu  sein,  als  Voraussetzung  privat-  und  volkswirtschaftlichen  Schadens 
betrachtet  werden.  Es  ist  überflüssig  nachzuweisen,  dass  der  Schuldner  als 
Privatperson  darunter  leidet;  aber  auch  die  Volkswirtschaft  wird  dadurch 
beeinträchtigt,  da  jede  Verringerung,  jedes  Brachliegen  vorhandener  Pro- 
ductivkraft,  da  jede  Störung  in  der  normalen  Bedürfnisbefriedigung  eines 
Volksgliedes  auf  sie  schädigend  zurückwirken  kann.  Dass  aber  ein  Con- 
cursant  während  der  Dauer  der  Concursverhandlung  in  der  Eegel  productiv 
ganz  oder  fast  unthätig  sein  wird,  liegt  wohl  auf  der  Hand.  In  dieser 
Kichtung  kann  der  Umstand,  dass  die  Gesetze  dem  Schuldner  Anspruch 
auf  gewisse  Gegenstände  aus  der  Concursmassa  zugestehen  —  hier  sei  be- 
sonders das  Handwerkszeug  genannt  —  und  insbesondere  auch  von  Unter- 
stützungen für  ihn  während  der  Dauer  des  Verfahrens,  sei  es  aus  dem 
Concursvermögen.  oder  aus  seinem  Neuerwerbe  (österr.  Concursordnung-) 
sprechen,  als  Anerkenntnis  seiner  misslichen  Lage,  und  als  Symptom  be- 
trachtet werden,  dass  auch  volkswirtschaftliche  Gesichtspunkte  hie  und  da 
sich  Geltung  zu  verschaffen  suchen. 

C.  — Als  sechste  These  haben  wir  den  Satz  aufzustellen,  dass  die  Kosten 
des  Concursverfahrens  nicht  nur  einen  privatwirtschaftlichen  Schaden  für 
Schuldner  und  Gläubiger  darstellen,  sondern  auch  volkswirtschaftlich  nach- 
theilig sind,  denn  auch  vielleicht  nicht  nach  ihrem  vollen  Betrage.  (Diese 
Schadensursache  ist  allen  Stadien  des  Concursverfahrens   gemeinsam.) 

Da  die  Kosten  für  die  Gläubiger  nicht  anders  aufzufassen  sind,  denn 
als  eine  positive  Verringerung  des  zu  vertheilenden  Vermögens  und  da  sie 
auch  für  den  Schuldner  die  Möglichkeit,  sich  zu  entlasten^)  verringern, 
liegt  für  beide  der  privatwirtschaftliche  Verlust  auf  der  Hand.  Man  kann 
dagegen  wohl  nicht  mit  Erfolg  einwenden,  dass  die  Massakosten  für  die 
Gläubiger  ähnlich,  wie  die  Productionskosten  dem  Producenten  gegenüber 
aufzufassen  seien;  während  die  letztern  nach  wirtschaftlichen  Grundsätzen 
in  einem  bestimmten,  quantitativen  Verhältnisse  zum   Productwerte  stehen, 


^)  S.  Mataja  a.  o.  0.  S.  153  f.  184  ff. 

2)  §.  5,  dieser  Paragraph  ist  hier  in  allen  seinen  Einzelbestimmungen  zu  beachten; 
s.  hiezu  auch  die  Executionsnovelle  vom  10.  VI.  1887.  ZI.  74  K.-G.-Bl. 

Bankruptcy  Act  1883,  LIII.  3.,  XLIV.  2.;  s.  auch  Gertscher:  Das  engl.  Concurs- 
recht  nach  dem  Gesetze  vom  25.  VIII.  1883,  Wien,  Manz  1885.  In  Betreff  des  deutschen 
Rechtes  s.  Endemann,  a.  o.  0.  S.  324  f.  333,  dann  112,  113.  —  Codice  di  Comni. 
Art.  735,  752.  —  Franz.  Gesetz  Art.  469,  474,  530. 

3)  S.  österr.  C.  0.  §.  54;  Ende  mann:  110;  Codice  di  Comm.  Art.  815.  Französ. 
Gesetz:  Art.  537,  wichtig  ist  besonders  AI.  II  des  Art.  539,  hingegen  erscheint  von 
Interesse  das  englische  Institut  der  Entlastung,  discharge,  s.  Gertscher  S.  24  f,  Bank- 
ruptcy Act  28. 


^^^  Schullern. 

fehlt  bei  erstereii  jedes  solche  Verhältnis:  diese  Kosten  sind  nicht  die  Folge 
gegebener  physikalischer,  räumlicher,  socialer  Verhältnisse,  wie  sie  sich  von 
Natur  aus  oder  infolge  der  gegebenen  Construction  der  menschlichen  Gesell- 
schaft bei  einer  Production  einstellen,  somit  nicht  Kosten,  denen  gegen- 
über im  Productwerte  nur  das  als  Gewinn  aufgefasst  werden  kann,  was 
ihren  vollen  Ersatz  übersteigt,  sondern  sie  sind  die  Folge  gewisser,  vielleicht 
unwirtschaftlicher  juristischer  Constructionen,  z.  B.  des  Dazwischentretens 
dritter  Personen  —  des  Massaverwalters  —  und  sie  laufen  nicht  auf  die 
Verringerung  eines  durch  ihre  Aufwendung  entstandenen  Gewinnes,  sondern 
auf  eine  ohne  sie  vielleicht  vermeidliche  Erhöhung  eines  Verlustes  hinaus. 
Die  Kosten  des  Concursverfahreus,  in  dem  kein  Theil  zu  gewinnen,  sondern 
nur  jeder  zu  verlieren  hat,  dessen  Aufgabe  es  ist,  eben  diesen  Verlust  zu 
vertlieilen.  dessen  Aufgabe  es  aber  auch  sein  sollte,  ihn  möglichst  wenig 
fühlbar  zu  machen,  sind  positive  Verluste,  wenigstens  insoweit  sie  nicht 
absolut  unvermeidlich  sind. 

Wenn  durch  trustee's,  Massaverwalter,  beendete  englische  Concurse 
bei  einem  Activum  von  weniger  als  100  Pfund  Sterling  in  den  Jahren 
1881 — 83  durchschnittlich  mit  einem  Kostensatze  von  74*61Vo  ^^n^i  1887 — 89 
mit  einem  solchen  von  81*27%  belastet  waren,  wählend  die  Kosten  von 
Concursen,  welche  durch  official  receivers,  amtliche  Massaverwalter  —  auf 
Grund  des  neuen  Concursgesetzes  üben  dieselben  besonders  bei  summarischen 
Concursen  alle  Functionen  der  trustee's  aus  —  durchgeführt  wurden,  bei 
demselben  Activensatze  46'44^/o  ausmachten,^)  so  ergibt  sich  hieraus  einer- 
seits, welchen  enormen  privatwirtschaftlichen  Schaden  die  Kosten  hervor- 
rufen müssen,  andererseits  aber  auch,  wie  reform-  und  verbesserungsfähig 
die  Verhältnisse  sind,  wie  wenig  die  Anschauung  gerechtfertigt  wäre,  dass 
die  hohen  Beträge  der  heutigen  Concurskosten  unvermeidlich  seien,  dass 
man  sie  also  aus  diesem  Titel  wenigstens  mit  Productionskosten  vergleichen 
könne  (hiebei  wäre  natürlich  immer  an  gegebenenfalls  wirtschaftlich  unver- 
meidliche Productionskosten  gedacht). 

Damit  bleibt  noch  die  Frage  offen,  ob  die  Kosten  des  Verfahrens 
wirklich  auch  als  volkswirtschaftliche  Verluste  zu  betrachten  seien:  zunächst 
ist  in  dieser  Kichtung  zu  erwähnen,  dass  aus  ihnen  für  den  Gläubiger  eine 
Störung  seiner  Bedürfnisbefriedigung  und  häufig  auch  in  seiner  productiven 
Thätigkeit  erwächst,  sie  involvieren  ja  eine  Verringerung  seines  Vermögens. 
Auch  die  Stellung  des  Schuldners  nach  Schluss  des  Concurses  wird  durch 
sie  nachtheilig  beeinflusst.  Beide  Verhältnisse  sind  auch  volkswirtschaftlich 
erheblich;  die  Productiv-  und  Consumtivkraft  von  Mitgliedern  des  Volkes 
sind  entscheidende  volkswirtschaftliche  Factoren.  Uebrigens  ergehen  die 
Kosten  häufig  durch  überflüssige  Acte,  welche  auch  im  Sinne  der  be- 
stehenden Gesetze  ganz  wohl  hätten  vermieden  werden  können;  wenn  sie 
aber  auch  für  gesetzlich  nothwendige  Acte  aufgewendet  werden,  bleibt  es 

^)  S.  Wirrninghaus:  „Die  Ergebnisse  der  Concursstatistik"  ;  Hildebrandische  Jahr- 
bücher III.  f.  II.  Bd.  I.  S.  23  f.  Dieser  vortreffliche  Aufsatz  wird  uns  wiederholt  bei 
unserer  Betrachtung,  insbesondere  aber  in  einem  späteren  Stadium  derselben  dienlich  sein. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger- Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      437 

doch  noch  immer  fraglich,  ob  diese  Handlungen  auch  absolut  nothwendig 
waren;  und  selbst  wenn  diese  Frage  bejahend  beantwortet  wird,  muss  zu- 
gegeben werden,  dass  eine  namhafte  Quote  des  ihnen  entsprechenden 
Betrages,  indem  sie  für  unproductive  Leistungen,  für  die  Vornahme  eines 
Theilungsactes,  Personen  zufällt,  welche  sie  in  aller  Regel  in  unproductiver 
Weise  verbrauchen,  für  den  volkswirtschaftlichen  Productionsprocess,  dem 
sie  sonst  vielleicht  angehören  würde,  verloren  geht.  Nur  wenn  man  von 
alledem  absieht  und  abgesehen  von  dem  hohen  Interesse,  welches  die  Volks- 
wirtschaft daran  hat,  dass  Jedem  sein  Recht  werde  und  Jeder  das  seine 
empfange,  könnte  man  behaupten,  dass  es  für  die  Volkswirtschaft  von 
vornherein  nicht  erheblich  ist,  ob  aus  dem  Betrage  10,  A  (Gläubiger)  10 
und  B  (z.  B.  Massaverwalter)  nichts,  oder  aber  A  5  und  B  5  erhält.  Die 
Kosten  involvieren  also  eine  weitere  privat-  und  volkswirtschaftliche 
Schädigung. 

Diese  Thatsache  dürfte  kaum  je  verkannt  Avorden  sein  und  wenn  wir, 
obwohl  sie  eigentlich  evident  ist,  versucht  haben,  sie  als  richtig  nachzu- 
weisen, so  geschah  dies  nur,  damit,  wo  möglich,  dem  Vorurtheile  der  Boden 
entzogen  werde,  dass  die  Kosten  unvermeidlich  und  juristisch  von  vorn- 
herein gerechtfertigt  seien,  der  volkswirtschaftliche  Schaden  daher  mit  in 
den  Kauf  genommen  werden  müsse.  Der  Schaden  ist  ein  so  grosser,  die  Ge- 
sammtheit  an  der  Verringerung  der  Kosten  so  sehr  interessiert,  dass  früher 
oder  später  unter  den  vermeintlich  unvermeidlichen  Kosten  eine  Auslese 
vorgenommen  und  eine  solche  Vereinfachung  des  Verfahrens  wird  eingeführt 
werden  müssen,  welche  eben  nur  die  im  Interesse  von  Gläubigern  und 
Schuldnern  —  und  in  dem  der  V^olkswirtschaft  wirklich  unabweisbaren  Kosten 
fortbestehen  lässt;  im  Falle  einer  Interessencollision  wird  die  Gesetzgebung  im 
Sinne  des  gemeinen  Wohles  entscheiden  müssen.  —  Wir  werden  an  einer 
anderen  Stelle  dieser  Arbeit  einige  Punkte  andeuten,  welche  uns  in  dieser 
Richtung  von  Bedeutung  erscheinen;  hier  begnügen  wir  uns  damit,  darauf 
hinzuweisen,  dass  das  englische  Gesetz  für  eine  bestimmte  Form 
der  Durchführung  des  Concursverfahrens  ein  bestimmtes  Maxinmm  der 
Verwaltungskosten,  u.  zw.  mit  zwei  Schilling  per  Pfund  Sterling  der 
Schulden  aufstellt  und  damit  in  ziemlich  einfacher  und  einschneidender, 
vielleicht  in  etwas  zu  apodiktischer  Weise  die  Controverse  theilweise  zu 
lösen  sucht.^) 

D.  —  Xachdem  wir  so  die  jedem  Concurse  gleichsam  angeborenen 
Schädigungsgründe,  insoweit  dieselben  uns  von  besonderer  Wichtigkeit 
erscheinen,  dargestellt  und  kurz  auf  ihre  volkswirtschaftliche  Bedeutung  geprüft 
haben,  könnten  wir  auf  die  weiter  aussehenden  Wirkungen  der  Concurse 
übergehen;  wir  wollen  aber  der  gleich  anfangs  aufgestellten  Beschränkung 
gemäss  nur  einen  einzigen  dieser  Einflüsse  hervorheben,  u.  zw.  deswegen, 
weil  sein  Erfolg  möglicherweise  auf  den    fraglichen  Concurs  und  den  Wert 

*)  Bankruptcv  Act  CXXII.  8.  Die  auf  den  summarischen  Concurs  bezüglichen  Be- 
stimmungen des  englischen  Gesetzes  sind  von  höchstem  Interesse;  wir  kommen  später 
noch  darauf  zurück,  können  uns  also  hier  mit  dieser  Andeutung  bes^nügen. 


438  Schullein. 

der  Masse  zurückwirken  kann.  Der  Concurs  eines  grossen  Handelshauses  wirft 
massenhafte  Warenvorräthe  plötzlich  auf  den  Markt;  handelt  es  sich  nun  um 
Güter,  nach  denen  das  Begehr  kein  sehr  allgemeines  und  sehr  elastisches 
ist,  ist  insbesondere  der  Markt  beschränkt,  so  wird  eine  Entwertung  aller 
derartigen  Güter  eintreten;  die  Folge  hievon  wird  sein,  dass  auch  die  zum 
Concursvermögen  gehörenden  Güter  dieser  Art  —  es  handle  sich  z.  B.  um 
den  Concurs  gegen  das  Vermögen  eines  grossen  Weinhändlers  —  zu 
niedrigem  Preisen  abgesetzt  w^erden  müssen,  als  diejenigen  gewesen  wären, 
welche  sich  bei  allmälichem  Verkaufe  hätten  erzielen  lassen;  daraus  resultiert 
aber  privatwirtschaftlicher  Schaden;  ob  derselbe  auch  volkswirtschaftlich  in 
Betracht  kommt,  ist  quaestio  facti. 

Unsere  bisherige  Betrachtung  ergibt  also  auf  Grund  der  im  Anfange 
dieses  ParagTaphen  namhaft  gemachten  drei  Thatsachen  hauptsächlich  sieben 
Schadensursachen,  von  welchen  die  sechs  ersten  dem  Concursverfahren 
gewissermaassen  von  Natur  aus  zugehören,  die  siebente  dagegen  mehr  als 
ein  Accedens  zu  betrachten  ist. 

Das  Verschwinden  überwiegender  Gebrauchswerte,  mit  Einschluss  des 
gesammten  Affectionswertes,  zu  Gunsten  der  niedrigeren  Tauschwerte  (erste 
Ursache),  die  Wertverringerung,  welche  sich  als  Folge  der  Zerstückelung 
productiver  Güterzusammenhänge  ergibt  (zweite  Ursache),  die  mögliche  Wert- 
verringernng  wegen  unzeitgemässen  und  ungelegenen  Verkaufes  (dritte  für 
uns  weniger  bedeutende  Ursache),  müssen  sämmtlich  in  letzter  Keihe  auf  das 
Wertgesetz  zurückgeführt  und  können  nach  Maassgabe  der  Menger'schen 
und  Böhm-Bawerk'schen  Lehrsätze  auf  ihren  Ursprung  und  ihre  Erheblich- 
keit geprüft  werden.  Für  sie  alle  ist  die  erst  aufgeführte  Thatsache  ent- 
scheidend. Die  vierte  Ursache  (Brachliegen  des  Concursvermögens),  die 
fünfte  (Schädigung  von  Gläubigern  und  Schuldnern,  hauptsächlich  durch 
die  während  der  Dauer  des  Concurses  gegebene  Behinderung  in  ihrer  Pro- 
ductivthätigkeit  —  für  diese  beiden  ist  die  zweite  Thatsache  maassgebend  — ) 
endlich  die  sechste  (Kosten  des  Verfahrens  —  diese  Schädigungsursache 
ist  identisch  mit  der  dritten  von  uns  als  entscheidend  aufgeführten  That- 
sache), beruhen  im  wesentlichen  direct  auf  den  herrschenden  Bestim- 
mungen des  materiellen  und  formellen  Concursrechtes  und  benöthigen 
einer  eigentlichen  nationalökonomischen  Erklärung  weniger,  als  die  Ur- 
sachen 1—3. 

W^ir  finden  also  schon  jetzt  die  eigenthümliche  Antinomie  vor,  das& 
das  Concursverfahren,  welches  doch  eigentlich  bestimmt  ist.  den  im  Momente 
des  Eintrittes  einer  Insolvenz  gegebenen  Schaden  planmässig  u.  zw.  wohl 
nicht  nur  nach  den  Principien  der  Gerechtigkeit,  sondern  —  und  dies  ist 
ein  Postulat,  welches  sich  immer  mehr  geltend  machen  wird  —  auch  nach 
denen  des  allgemeinen  Wohles  aufzutheilen,  in  seinen  heutigen  Gestaltungen 
die  Keime  zu  zahlreichen  neuerlichen  Schädigungen  in  sich  birgt;  diese 
Thatsache  tritt  uns  schon  dann  vor  Augen,  wenn  wir  nur  den  Act  der 
Sammlung  des  Concursvermögens,  der  sich  als  eine  Umwandlung  der  ein- 
zelnen, verschiedenartigen  Güter  in  das  einheitliche  Gut  Geld  darstellt,   in 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      439 

Erwägung  ziehend)  Bevor  wir  auf  die  Betrachtung  der  Frage  übergehen, 
ob  und  wie  diesen  drohenden  Schäden  vorgebeugt  werden  könne,  wollen  wir 
untersuchen,  ob  und  inwieferne  auch  der  Vertheilungsact  als  solcher.  Ge- 
fahren in  sich  birgt. 

§.  3.  Die  bei  Y er th eilung  der  Masse  auftretenden 
Schadens  Ursachen. 

Die  Thatsachen,  mit  welchen  wir  hier  zu  rechnen  haben,  betreffen  die 
Zulassung  von  Vorrechten  im  allgemeinen  Sinne  und  die  in  alle  Gesetze 
aufgenommene  Bestimmung,  dass  das  nach  Befriedigung  der  bevorrechteten 
Forderungen  noch  übrige  Vermögen  unter  die  vorrechtslosen  Gläubiger  im 
Verhältnis  der  Höhe^)  ihrer  Forderungen  vertheilt  zu  werden  hat^).  Wir 
haben  nun  zu  untersuchen,  ob  diese  Thatsachen  wirtschaftliche  Schadens- 
ursachen enthalten,  somit  neuerlichen  Schaden  hervorrufen  können. 

Die  obersten  Principien  für  die  Vertheilung  des  Concursvermögens 
und  für  die  damit  wesentlich  verbundene  Auftheilung  des  die  Gläubiger 
treffenden  unvermeidlichen  Schadens  sind  das  der  Gerechtigkeit  und  das 
des  allgemeinen  Besten.  Das  erstere  verlangt,  dass  jeder  erhalte,  was  ihm 
gebürt,  resp.  dass  keinem    ein    grösserer  Schaden  auferlegt  werde,    als  ihn 


\)  Zahlreiche  aus  der  Coneurs  er  Öffnung  und  den  Folgen  derselben  in  manchen 
Fällen  entstehende  Nachtheile  für  Privat-  und  Volkswirtschaft,  z.  B.  aus  einer  unklugen 
Auflösung  vom  Schuldner  geschlossener  Verträge,  sind  oben  nicht  in  Betracht  ge- 
zogen; sie  haben  keine  weitgehende  Bedeutung  und  sind  auch  nicht  mit  dem  heutigen 
Concursverfahren  wesentlich  verknüpft.  Der  Umstand,  dass  die  Bestimmung,  wonach  auch 
das  während  der  Dauer  des  Concurses  dem  Concursanten  zufallende  Vermögen  der  Concurs- 
masse  zufällt,  wohl  in  Frankreich  und  Oesterreich  (sowie  in  Belgien),  nicht  aber  in 
andern  Ländern  gilt,  wird  aus  einem  ähnlichen  Grunde  gleichfalls  von  uns  ausseracht  ge- 
lassen. Eine  Reihe  praktisch  schwerwiegender  Nachtheile  endlich,  die  aus  derProcedur  der 
Versteigerung  als  solcher,  so  wie  dieselbe  in  den  verschiedenen  Staaten  gesetzlich  ge- 
regelt ist,  nur  zu  häufig  entstehen,  müssen  ebenso,  weil  ihre  Ursachen  nicht  dem  Concurs- 
verfahren eigenthümlich  sind,  hier  ausser  Augen  gelassen  werden.  An  dieser  Stelle  sind 
wohl  auch  die  Vermögensn achtheile  zu  erwähnen,  welche  die  Gläubiger  dadurch  erleiden 
können,  dass  sie  alle  ihre  Forderungen  in  Geld  ausdrücken  und  anmelden  müssen;  wird  die 
Richtigkeit  des  Ansatzes  bestritten,  so  kommt  es  zum  Rechtsstreite,  in  welchem  das  Inter- 
esse des  Gläubigers  nicht  immer  voll  gewahrt  werden  wird.  Endlich  gehört  der  wesentlich 
für  die  Privatwirtschaft  erhebliche  Umstand  hieher,  dass  der  Eintritt  der  Concurseröffnung 
den  Gläubigern  die  abgesonderte  Befriedigung  ihrer  Forderungen  unmöglich  macht, 
und  sie  zwingt,  ihre  Guthaben ^^anz  ohne  Rücksicht  auf  den  Zeitpunkt  der  Entstehung 
derselben  (von  gewissen  pfandrechtlich  versicherten  Forderungen  abgesehen)  uniform 
behandeln  und  wo  möglich,  befriedigen  zu  lassen. 

2)  D.  C.  0. :  s.  Endemann  S.  512.  Oesterr.  C.  0.  §.  45,  Cod.  di  Comm.  Art.  809. 
Franz.  Gesetz  A.  565,  Bankruptcy  Act  XL  4;  zu  beachten  ist  hier  auch  al.  5,  welche 
eine  dem  englischen  Rechte  eigenthümliche  Bestimmung  in  Betreff  der  Zinsen  enthält; 
s.  hiezu  Gertscher  S.  38.  4. 

^)  Die  Frage,  wie  die  Forderungen  beziffert  zu  werden  haben,  ist  in  ihren  Haupt- 
punkten nicht  hier  zu  lösen,  weil  die  Art  der  Forderungsberechnung  nichts  dem  Concurs- 
verfahren eigenthümliches  ist;  nebensächliche  Momente  welche  hier  ihren  Platz  hätten, 
müssen  wir  aber  übergehen,  weil  ihre  Betrachtung  uns  zu  weit  führen  würde. 


440 


SchuUern. 


treffen  muss,  wenn  nicht  die  andern  zuviel  davon  treffen  soll,  das  letztere, 
dass  durch  die  Vertheilung  zum  mindestens  keine  neue  Schädigung  der  Volks- 
wirtschaft begründet  werde.  Für  unsere  Untersuchung  kommt  das  Princip 
der  Gerechtigkeit  nur  insoferne  und  dann  in  Frage,  wenn  und  inwieferne 
eine  CoUision  mit  dem  volkswirtschaftlichen  Principe  möglich  ist. 

Betrachten  wir  zuerst  das  Institut  der  Vorrechte;  dieselben  sind  ent- 
weder vertragsmässig  begründet  oder  ergeben  sich  infolge  gesetzlicher  Fest- 
stellung aus  der  Xatur  der  Forderungen;  zu  den  ersteren  gehören  haupt- 
sächlich alle  Pfandrechte,  zu  den  letzteren  z.  B.  gewisse  Ansprüche  des 
Staatsschatzes,  gewisse  Dienstlöhne  u.  s.  w. 

Ausser  Betrachtung  bleiben  für  uns  die  Kückforderungsansprüche 
(Aussonderungsansprüche  des  deutschen  Eechtes),  gegen  deren  principielle 
Zulassung  wohl  nichts  eingewendet  werden  kann^),  sosehr  manche  der- 
selben juristisch  bestritten  wurden;  wir  haben  uns  nicht  auf  die  Frage  ein- 
zulassen, so  wichtig  sie  unter  Umständen  sein  kann,  welche  Güter  und 
unter  welchen  Voraussetzungen  sie  als  nicht  zum  Eigenthume  des  Con- 
cursanten  gehörig  zu  betrachten  sind;  für  uns,  die  wir  nur  die  Hauptfragen 
in  Betracht  zu  ziehen  haben,  genügt  es,  dass  es  sich  hiebei  nur  um  Güter 
handeln  kann,  welche  juristisch  nicht  in  die  Masse  gehören  (s.  hierüber  die 
eingehenden  Ausführungen  Endemann's,  S.  339  ff.).  Ueber  die  Masse- 
kosten haben  wir  an  anderer  Stelle  bereits,  soweit  dies  uns  für  unseren 
Zweck  nothwendig  schien,  gehandelt. 

Wir  untersuchen  also  zunächst  das,  was  die  deutsche  Concursordnung 
als  Absonderungsrecht  bezeichnet  und  was  sich  als  die  Befugnis  eines 
Gläubigers,  aus  bestimmten,  zur  Concursmasse  gehörenden  Gegenständen 
ohne  Kücksicht  auf  die  Concursgläubiger  sich  zu  befriedigen,  darstellt^);  in 
den  meisten  Fällen  gründet  es  sich  auf  ein  Ketentions-  oder  Pfandrecht. 
Uns  interessiert  vor  allem  die  Berücksichtigung  der  Pfandrechte,  weil  die 
für  uns  in  Betracht  kommenden  Gesetze  vorwiegend  diese  Kechte  ins  Auge 
fassen^);  weil  wohl  nur  sie  überhaupt  grössere  praktische  Bedeutung  und 
jedenfalls  von  allen  in  Frage  kommenden  den  grössten  volkswirtschaftlichen 
Einfluss  haben. 

Innerhalb  des  Bereiches  der  Pfandrechte  ist  ein  wesentlicher  Unter- 
schied zu  machen  zwischen  Hypotheken  und  Faustpfändern.  Insoferne 
nämlich  Hypotheken  aus  den  öffentlichen  Büchern  für  Jedermann  ersichtlich 
sind,  ist  es  für  jeden  nach  rein  wirtschaftlichen  Principien  handelnden 
Mann,  der  sich,  bevor  er  creditiert,  über  den  Vermögensstand  des  prä- 
sumtiven Schuldners,    so    gut   möglich  zu  unterrichten  sucht  und  der  jene 


')  S.  franz.  Ges.  Art.  574  ff.  Codice  di  Comm.  Art.  802  ff.  Oest.  C.  0.  §.  159. 
D.  C.  0.  §.  35  etc. 

2)  Endemann  S.  369,  über  die  Arten  der  Absouderungsrechte  im  deutschen  Recht 
s.  376,  4  f.  u.  377  ff. 

3)  Oest.  Conc.-Ord.  §  163  f.,  s.  hiezu  auch  §  11  al.  2.  Franz.  Recht  Art.  545  ff., 
über  Retentionsrecht  s.  Renouard  246,  261.  Cod.  di  Comm.  772  ff.  Bankruptcy  Act,  Bei- 
lage II.  (XXXIX)  9  ff. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      441 

gesetzlichen  Bestimmungen,  welche  die  Sicherheit  des  Credites  betreffen, 
kennt  oder  doch  kennen  soll,  leicht,  vom  Lastenstaude  der  Realitäten  sich 
Kenntnis  zu  verschaffen.  Wer  dann  eine  Hypothek  für  seine  Forderung 
erwirbt,  erlangt  kraft  positiven  Rechtes  den  Anspruch  auf  Befriedigung  aus 
der  verpfändeten  Realität;  wer,  ohne  eine  Hypothek  zu  fordern,  creditiert, 
weiss,  dass  die  Realität  mit  so  und  so  viel  Schulden  bereits  belastet  ist, 
er  also  für  sich  selbst  nur  den  Rest  ihres  Wertes  nach  Abzug  aller  be- 
stehenden und  noch  zu  schaffenden  Hypotheken  für  seine  Sicherung  ins 
Auge  fassen  kann;  er  muss  also  auch  dafür  aufkommen,  wenn  er  hieraus 
und  aus  dem  Mobiliarvermögen  seine  volle  Befriedigung  nicht  erlangt; 
allerdings  ist  seine  Lage  im  Zeitpunkte  der  Creditgewährung  insoferne 
nicht  ganz  klar,  als  er  ja  nicht  wissen  kann,  welche  Hypotheken  in  Zukunft 
erworben  werden,  welche  Faustpfänder  und  welche  weiteren  unversicherten 
Forderungen  bestehen  und  bis  zur  Concurseröffnung  noch  zustande  kommen 
werden;  überdies  ist  der  Wert  des  Concursvenuögens  als  Ganzes  und  in 
seinen  Theilen.  insbesondere  auch  der  Wert  der  liegenden  Güter  kein 
ständiger  und  ist  es  zum  mindesten  zweifelhaft,  ob  im  Wege  der  Reali- 
sierung des  Concursvermögens  der  ganze  vom  Creditgeber  bemessene 
Wert  thatsächlich  im  Preise  wieder  auftritt,  ob  der  Preis  also  nicht  zu 
niedrig  ausfällt  (selbstverständlich  fasst  der  Creditgeber  bei  seiner  Rech- 
nung nicht  etwa  den  Gebrauchswert  der  fraglichen  Güter  für  ihren  Bes-itzer, 
sondern  jenen  Preis  ins  Auge,  der  im  Falle  eines  Verkaufes  voraussichtlich 
erzielt  werden  wird).  Da  aber  das  Institut  der  Hypothek  principiell  all- 
gemein zugänglich  ist.  kann  vom  Standpunkte  der  Gerechtigkeit  trotzdem 
gegen  das  Vorrecht  des  Hypothekargläubigers  kein  Einwand  erhoben  werden. 
Vom  volkswirtschaftlichen  Standpunkte  hat  die  Existenz  dieses  Vorrechtes 
allerdings  den  Nachtheil,  dass  infolge  desselben  eine  Reihe  von  Gläubigern, 
und  zwar  thatsächlich  gerade  meist  die  wirtschaftlich  schwächeren,  deren 
Forderungen  numerisch  klein  sind,  einen  grössere  Schaden  erleiden,  als  der 
wäre,  der  sie  mangels  dieses  Rechtes  träfe.  Weil  daraus  möglicherweise 
eine  erhebliche  Störung  in  ihrer  productiven  Thätigkeit  und  im  Umfange 
ihrer  Consumtion  entstehen  kann  und  weil  es  dem  Interesse  der  Gesammt- 
heit  nicht  entspricht,  wenn  wirtschaftliche  Existenzen  geschädiget  werden 
und  die  armen  Bevölkerungsclassen  auf  ein  noch  niedrigeres  Lebensniveau 
herabsinken,  hat  auf  diese  Thatsache  geachtet  zu  werden.  Wie  schon  an- 
gedeutet, ist  nun  aber  das  Institut  der  Hypothek  allgemein  zugänglich, 
potentiell  ist  also  «Tedermann  die  Möglichkeit  geboten,  auch  unter  den  bevor- 
rechteten Gläubigern  zu  erscheinen.  Nicht  deswegen  also,  weil  die  Giltigkeit 
des  Hypothekarrechtes  in  Concursfällen  anerkannt  ist,  sondern  deswegen,  weil 
vom  Hypothekarrecht  nicht  genügend  ausgiebiger  Gebrauch  gemacht  wird, 
droht  die  eben  erörterte  Gefahr;  es  würde  sich  also  darum  handeln,  den 
Erwerb  von  Hypotheken  insbesondere  für  kleine  Forderungen  zu  erleichtern 
und  zu  vereinfachen,  um  das  Vorrecht  von  Hypothekarforderungen  im  Con- 
curse  nicht  nur  als  juristisch  gerecht,  sondern  auch  als  volkswirtschaftlich 
unschädlich  erscheinen  zu  lassen. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  III.  lieft.  29 


^12  Schul  lern. 

Bei  Faustpfändern  liegen  die  Dinge  weniger  günstig.  Der  Bestand 
eines  solchen  Faustpfandes  —  wir  sehen  von  den  gesetzlichen  Mobiliar- 
pfandrechten, z.  B.  dem  des  Vermieters  an  den  Invecta  et  illata  des  Mieters 
ab  —  ist  nicht  immer  leicht  zu  constatieren^),  insbesondere  dann  nicht, 
wenn  das  Object  sich  in  den  Händen  des  Schuldners  befindet;  jedenfalls 
fehlt  für  Faustpfänder  jene  Notorietät,  welche  bei  Grundpfändern  vorliegt.-) 
Der  Gläubiger  wird  sich  ein  falsches  Urtheil  über  den  Vermögensstand  des 
Schuldners  bilden,  wenn  es  ihm  unbekannt  ist  und  verschwiegen  wird,  dass 
die  wertvollsten  Vermögensobjecte  verpfändet  sind;  dieser  Irrthum  kann 
ihm  nicht  zum  Vorwurfe  gemacht  werden,  weil  es  ja  keine  öffentlichen 
Bücher  für  Faustpfandrechte  an  Equipagen,  Pferden,  Schmuckgegenständen 
u.  s.  w.  gibt,  und  weil  er  sich  im  grossen  und  ganzen  auf  den  Schuldner, 
den  er  vielleicht  für  ehrlicher  hält,  als  er  ist,  verlassen  muss.  Das  Gesetz 
aber  erkennt  dem  Faustpfande  Geltung  auch  im  Concursverfahren  zu,  obwohl 
es  unzweifelhaft  ist,  dass  diese  rechtliche  Bestimmung  möglicherweise  für 
Gläubiger,  welche  kein  Faustpfand  besitzen,  einen  erheblichen  Vermögens- 
nachtheil mit  sich  bringen  und  damit  auch  auf  das  Ganze  der  Volkswirt- 
schaft nachtheilig  zurückwirken  kann. 

Das  juristische  Princip  rechtfertiget  nun  die  obige  Bestimmung,  da  es 
von  rechtlichem  Standpunkte  evident  ist,  dass  das  einmal  erworbene  Pfand- 
recht mit  allen  seinen  Wirkungen  dem  Gläubiger  nicht  nachträglich  ent- 
zogen werden  kann;  das  volkswirtschaftliche  erhebt  aber  Einwendungen 
dagegen;  es  liegt  also  gegebenenfalls  eine  Collision  vor.  Betrachten  wir  nun 
zunächst  das  praktische  Gewicht  jener  Einwendungen;  so  ernst  sie  theo- 
retisch sind,  reduciert  sich  ihre  Bedeutung  doch  praktisch  in  sehr  beträcht- 
lichem Maasse.  Erstens  macht  die  Unbequemlichkeit,  welche  mit  der 
Bestellung  von  Faustpfändern  und  ihrer  üebernahme  verbunden  ist  (wirk- 
liche oder  symbolische  Uebergabe)  dieses  Institut  in  vielen  Fällen  wenig 
verwendbar;  weiters  kann  schon  der  Qualität  beweglicher  Pfandobjecte  nach 
im  allgemeinen  angenommen  werden,  dass  es  nur  dem  Betrage  nach  geringe 
Forderungen  sind,  für  deren  Sicherheit  Faustpfänder  gegeben  werden  3); 
ferners  werden  dieselben  in  der  Praxis  wohl  in  der  Regel  nur  zwischen 
kleinen  Leuten,  denen  gegenüber  die  Concursgesetze  entweder  überhaupt 
keine    Anwendung    haben,     oder    doch    praktisch    nicht    zur    Anwendung 


^)  S.  hiezu  das  österr.  bürgerl.  Gesetzbuch  §.  451,  §.  452  und  §.  467,  insbesondere 
die  Bestimmungen,  dass  das  Pfandrecht  durch  Rückstellung  der  verpfändeten  Sache  nur 
dann  erlischt,  wenn  diese  Rückgabe  ohne  Vorbehalt  erfolgt. 

2)  Bei  gerichtlich  bestellten  Pfandrechten  ist  die  Lage  des  präsumtiven  Gläubigers 
etwas  besser,  weil  schon  der  Act  ihrer  Bestellung  zu  ihrer  Notorietät  beiträgt. 

3)  S.  Cod.  di  Commercio:  Art.  454  u.  456,  für  das  italienische  Recht  entfällt  somit 
im  grossen  und  ganzen  die  oben  vom  volkswii-tschaftlichen  Standpunkte  erhobene  Ein- 
wendung; es  gelten  die  obigen  Betrachtungen  eben  nur  für  jene  Staaten,  in  welchen  ein 
Irrthum  des  Gläubigers  über  den  Verinögensstand  des  Schuldners  deswegen  möglich  ist, 
weil  der  erstere  vom  Bestände  eines  Handpfandes  nichts  wusste,  ohne  dass  ihm  deswegen 
ein  Verschulden  zur  Last  gelegt  werden  könnte.  S.  übrigens  auch  das  österr.  bürgerliche 
Gesetzbuch  §.  452. 


Gesetzgebung  über  d.  Glcäubiger-Coiicurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      443 

kommen,  in  der  Weise  bestellt  werden,  dass  das  Pfandobject  in  den 
Händen  des  Schuldners  bleibt;  Geldverleiher  dagegen  werden  meist  den  be- 
züglichen Gegenstand  in  eigene  Verwahrung  nehmen.  Wenn  sonstige  reiche 
Leute  um  eines  Faustpfandes  willen  einen  Verlust  erleiden,  wird  ihnen  der- 
selbe in  den  meisten  Fällen  kaum  fühlbar  sein,  da  ja,  wie  schon  gesagt, 
ein  Faustpfand  nur  selten  für  grössere  Darlehen  bestellt  wird.  Ueberdies 
kann  bei  manchen  Pfandbestellungen  je  nach  ihrer  speciellen  Natur  doch  ein 
gewisser  Grad  von  Notorietät  vorliegen.  All  dem  Gesagten  zufolge  sind  es 
wohl  nur  wenige  Fälle,  in  welchen  die  Einwendung  gegen  die  Berücksichti- 
gung der  Pfandrechte  grosses  praktisches  Gewicht  haben  würde:  der  be- 
deutendste dieser  Fälle  dürfte  jener  sein,  in  welchem  ein  Fabrikant  oder 
Grosshändler  von  dem  kleinen  Kaufmann,  dem  er  seine  Producte,  resp. 
Waren  liefert,  zur  Sicherstellung  des  Preises  derselben  ein  Pfandrecht 
erhält,  z.  B.  an  der  Ladeneinrichtung.  In  einem  solchen  Falle  wird  aller- 
dings die  CoUision  zwischen  dem  rechtlichen  Gesichtspunkte  und  dem 
Interesse  der  andern  Gläubiger,  welche  von  dieser  Thatsache  unverschuldet 
keine  Kenntnis  hatten,  schärfer  zutage  treten^).  Es  wird  Sache  einer  ge- 
nauen Beobachtung  sein  müssen,  welche  insbesondere  auch  die  Häufigkeit 
derartiger  Vorkommnisse  und  den  Betrag  solcher  Creditirungen  berücksich- 
tiget, sich  darüber  klar  zu  werden,  ob  in  diesem  Falle  zu  Gunsten  des 
einen  oder  des  andern  Gesichtspunktes  zu  entscheiden  ist;  gelänge  es  für 
diese  und  ähnliche  Pfandbestellungen  eine  erhöhte  Notorietät  zu  sichern, 
so  würde  auch  diese  Sckwierigkeit  schwinden. 

Im  grossen  und  ganzen  kann  all  dem  Obigen  zufolge  gesagt  werden, 
dass  in  der  Frage,  welche  die  Berücksichtigung  der  Pfandrechte  betrifft, 
die  volkswirtschaftlichen  Bedenken  nicht  so  bedeutend  und  so  unbeseitigbar 
sind,  um  den  Sieg  des  juristischen  Postulates,  wornach  einmal  erworbene 
Rechte  nicht  wieder  entzogen  werden  dürfen,  hintanzuhalten.  Dies  trifft 
umsomehr  zu.  als  ja  an  der  Förderung  des  Creditwesens  bis  zu  einem 
gewissen  Punkte  die  Volkswirtschaft  im  höchsten  Grade  interessiert  ist  und 
dieselbe  zweifellos  dadurch  gehemmt  würde,  dass  dem  Mobilarp fandrechte 
für  Concursfälle  seine  Bedeutung  entzogen  würde-). 

Mit  wenigen  Worten  haben  wir  nun  von  den  übrigen  bevorrechteten 
Forderungen  zu  sprechen.  Das  österreichische  Gesetz  führt  dieselben  als 
I.  und  IL  Clnsse  der  Concursforderungen  auf  und  nennt  in  der  I.  Classe: 
A.  die  Begräbniskosten  des  vor  oder  nach  der  Concurseröffnung  verstorbenen 
Schuldners,  die  für  das  letzte  Jahr  vor  der  Concurseröffnung  rückständigen 
Lid-  und  Arbeitslöhne  und  letztjährigen  Krankheitskosten  (sei  es  vom  Tode 
des  Concursanten,  sei  es  vom  Tage  der  Concurseröffnung,  zurückgerechnet 
und  zwar  sowohl,  wenn  sie  für  die  Person  des  Schuldners  als  wenn  sie  für 
die  eines  Mitgliedes  seiner  Familie  ausgelegt  werden  sind),  B.  gewisse 
öffentliche    Abgaben;    die    Forderungen    der    IL    Classe    sind    von    unter- 

1)  S.  'hiezu  z.  B.  das  franz.  Recht,  Eenouard  II.  270  f. 

2)  Es  darf  auch  nicht  übersehen  werden,  dass  versicherte  Forderungen  sich  häufig 
niedriger  verzinsen,  als  unversicherte. 

29* 


444  Schullern. 

geordnetem,  praktischem  Interesse.  ^X  ^i^  Concursordnung  für  das  Deutsche 
Keich^)  gewährt /A.  gewissen  Lohnansprächen  (einschliesslich  Kostgeld 
II.  s.  w.),  B.  bestimmten  öffentlichen  Ansprüchen,  insoferne  dieselben 
im  letzten  Jahre  vor  der  Concurseröffnung  fällig  geworden  und  rückständig 
sind,  C.  genau  umschriebenen  Ansprüchen  von  Kirchen,  Schulen,  öffentlich- 
rechtlichen Verbänden  und  öffentlichen  Versicherungsgesellschaften  (auch 
hier  handelt  es  sich  nur  um  solche,  die  seit  dem  letzten  Jahre  rückständig 
sind),  D.  Krankheitskosten  des  Schuldners  oder  eines  seiner  Familienglieder 
aus  dem  letzten  Jahre  seit  der  Concurseröffnung,  E.  den  Forderungen  der 
Kinder,  Adoptierten  und  Pflegebefohlenen  aus  der  Vermögensverwaltung 
(II.  Classe  des  österreichischen  Rechtes)^ unter  bestimmten  Voraussetzungen 
in  der  gegebenen  Ordnung  vor  den  übrigen  Forderungen  ein  Vorrechp.^) 

Das  englische  Recht  kennt  einen  Vorrang  für  Staatssteuern,  kirch- 
liche und  Localabgaben  (mit  bestimmter  zeitlicher  Beschränkung),  ferner 
für  den  Betrag  von  50  Pfund  Sterling  nicht  übersteigende,  rückständige 
Löhne  und  Gehalte  Angestellter,  Bediensteter,  der  Taglöhner  und  Arbeiter, 
insoweit  diese  Forderungen  aus  den  letzten  vier  Monaten  vor  der  Anordnung 
der  Massaverwaltung  stammen.-^) 

Aehnliche  Vorzugsrechte  bestimmt  das  französische^)  und  das  italienische*^) 
Gesetz.  Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich,  dass  bei  der  Aufstellung  dieser 
Vorrechte  der  Hauptsache  nach  dreierlei  Gesichtspunkte  zur  Geltung  ge- 
kommen sind,  nämlich  zum  Theil  ein  fiskalischer,  zum  Theil  ein  moralisch- 
humanitärer (insbesondere  Krankheits-  und  Beerdigungskosten  betreffend), 
zum  Theil  endlich  geradezu  ein  volkswirtschaftlicher  (insbesondere  Löhne). 
Indem  wir  uns  in  Betreff  der  fiskalischen  Bestimmungen  jeder  Erörterung 
enthalten,  genügt  es  uns,  die  Thatsache,  dass  der  zweite  Gesichtspunkt 
Beachtung  gefunden  hat,  dass  man  also  neben  der  strengen  Justitia  auch 
andere  Rücksichten  hat  zu  Worte  kommen,  insbesondere  öffentliche 
Rücksichten  hat  mitsprechen  lassen,  nochmals  hervorzuheben.  Nur  in  Betreff 
des  dritten  Gesichtspunktes,  insoweit  von  ihm  aus  die  Behandlung  der 
Löhne  geregelt  wurde,  seien  einige  Worte  gestattet.  Die  hierauf  bezüglichen 
Vorrechte  beruhen  auf  dem  Principe  der  Billigkeit  und  sind  im  Interesse 
des  allgemeinen  Wohles  gegeben;  ja  es  handelt  sich  hier,  genauer  gesagt, 
geradezu  um  das  wirtschaftliche  Wohl  Einzelner  und  der  Gesammtheit.  Die 
Lohnempfänger  gehören  in  der  Regel  zu  der  wenigst  wohlhabenden  und 
zahlreichsten    Bevölkerungsciasse,    sie    würde    jeder    Verdienstausfall    dm 

')  §.  43. 

2)  §.  54. 

^)  Die  Landesgesetze  der  einzelnen  Bundesstaaten  können  noch  weitere  Vorzugs- 
rechte begründen. 

*)  Bankruptcy  Act  XL^  alle  die  bevorrechteten  Forderungen  haben  gleichen  Rang. 
(S.  übrigens  auch  XL.  3.  und  Gertscher  §.  14. 

5)  Art.  549  des  Gesetzes  vom  28.  Y.  1838,  dann  2101  u.  2102  des  Code  civil 
(Begräbnis-,  Krankheitskosten,  Lohnforderungen,  Forderung  aus  der  Lieferung  von  Unter- 
haltsmitteln  [S.  Renouard  IL  213  1.],  Ansprüche  des  Staatsschatzes). 

<5)  S.  Art.  773  des  Codice  di  Comraercio. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  y.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      445 

schwersten  treffen,  da  sie  vielfach  durch  denselben  des  nothwendigen 
Lebensunterhaltes  beraubt  würden:  eine  percentuelle  Betheiligung  wäre 
zwar  vielleicht  formell  gerecht,  aber  unbillig.  Der  Staat  sichert  diesen 
(jläubigern  daher  vor  der  Mehrzahl  der  andern,  soweit  irgend  möglich, 
volle  Befriedigung.  Hiemit  ist  anerkannt,  dass  ein  verhältnismässig  numerisch 
gleicher  Verlust  möglicherweise  verschiedene  Personen  sehr  ungleich  treffen 
kann,  und  dass  der  Idee  nach  diese  Ungleichheit  beseitigt  werden  muss. 
Man  hat  diesem  Princip  in  einem  der  praktisch  wichtigsten  Fälle  seiner 
Anw^endung  entsprochen,  dasselbe  aber  nicht  ganz  und  nur  einseitig  durch- 
geführt. —  Ist  damit  zunächst  ein  privatwirtschaftlicher  Gedanke  zur 
Geltung  gelangt,  so  wird  gleichzeitig  den  Interessen  der  Volkswirtschaft 
Kechnung  getragen,  welche  im  höchsten  Grade  daran  interessiert  ist,  dass 
gerade  die  ärmern,  nicht  vermögenden  Volksclassen  ein  zum  mindesten  ge- 
nügendes und  gesichertes  Einkommen  beziehen. 

Diese  Bestimmung  leitet  uns  naturgemäss  auf  den  letzten  Gegenstand 
unserer  Betrachtung  in  diesem  Capitel,  nämlich  auf  die  Frage,  ob  die  in 
allen  von  uns  ins  Auge  gefassten  Staaten  übliche  Art  und  Weise  der  Ver- 
theilung  des  nach  Deckung  aller  mit  Aus-  und  Absonderungsrechten  ver- 
sehenen Forderungen  erübrigten  Concursvermögens  unter  die  nicht  mit 
Vorrechten  irgend  welcher  Art  ausgestatteten  Gläubiger  specifische  Schadens- 
ursachen, Schaden  begründende  Momente,  in  sich  birgt. 

Die  Art  dieser  Vertheilung  charakterisiert  sich,  wie  wir  schon  gezeigt 
haben,  durch  die  Berechnung  einer  Forderungsquote  (Tangente)  als  Er- 
gebnis der  Division  des  gesammten,  erübrigten  Activums  durch  den  Betrag 
der  sämmtlichen,  noch  unbefriedigten  Forderungen,  nach  welcher  Quote 
gleichmässig  für  alle  in  Frage  kommenden  Gläubiger  ihr  Antheil  am  rest- 
lichen Activ-Vermögen  bemessen  wird. 

Welche  Anforderungen  sind  an  einen  richtigen  Vertheilungsmodus  zu 
stellen?  Zweifellos  kommen  auch  hier  die  beiden  Postulate  des  Eechtes 
und  der  Volkswirtschaft  in  Frage,  wie  wir  sie  bereits  formuliert  haben. 
Thatsächlich  fordert  nun  das'  Gesetz  nur,  dass  jedem  Gläubiger  eine  gleiche 
Quote  seiner  Forderung  zugetheilt  werde;  damit  scheint  ihm  der  Justitia 
genug  gethan.  Die  Volkswirtschaft  fasst  dagegen  das  Problem  von  einer 
andern  Seite  an;  da  es  sich  nämlich  für  die  Gläubiger  nicht  um  einen 
Neuerwerb  handelt,  sondern  sie  nur  das  erhalten,  was  ihnen  ohnehin  von  ■ 
rechtswegen  zusteht,  leider  aber  meist  nicht  den  Betrag  ihres  ganzen  An- 
spruches sondern  nur  einen  Theil  desselben;  da  es  sich  also  nicht  um  einen 
Gewinn,  sondern  um  einen  Schaden  handelt,  fordert  sie,  dass  die  Verluste 
der  Gläubiger  dieselben  mir  im  Verhältnis  des  Grösse  ihrer  Folgerungen 
belasten,  ihnen  in  diesem  Verhältnisse  fühlbar  werden  —  ohne  Rücksicht 
auf  die  ziffermässige  Proportionalität.  Damit  scheint  ihr  das  Interesse  der 
Gesammtheit,  so  gut  möglich,  gewahrt;  besser  kann  bei  der  gegebenen 
Sachlage  für  dasselbe  nicht  gesorgt  werden.^)    Es  fragt  sich  nun,  ob  diese 


^)  S.  hierüber  die  weiter  unten  angegebenen  Ausführungen. 


446  Sclmllern. 

beiden  Postulate  sich  praktisch  decken.  Auf  den  ersten  Blick  scheint  es, 
dass  man  die  Frage  mit  ja  beantworten  dürfe;  wenn  man  genauer  zusieht, 
stellt  sich  die  Sache  aber  ganz  anders  geartet  dar.  Nehmen  wir  an,  es 
handle  sich  um  drei  Gläubiger,  von  denselben  haben: 

ein  Vermögen  von  und  seine  Forderung  betrage 

A  100.000  fl.  10.000  fl. 

B  50.000  „  5.000  „ 

C  23.000  „  2.500  „ 

Die  Quote,  welche  sich  aus  der  nach  Befriedigung  der  bevor- 
rechteten Forderungen  aller  Art  erübrigten  Concursmassa  in  der  oben 
mitgeth eilten,  heute  gebräuchlichen  Weise  berechnen  lasse,  betrage  10%, 
es  erhalte  also 

A       1000  fl.  und  Yerliere  9.O0O  fl. 
B         500  „       „  ,       4.500  , 

C         250  „       „  „       2.250  „ 

alle  Gläubiger  haben  nun  eine  gleiche  Quote  erhalten  und  den  Forderungen 
proportionale  Verluste  —  ziffermässig  —  erlitten;  damit  ist  aber  nur  eine 
formale,  durchaus  nicht  eine  materielle  Gleichheit  gegeben.  Nach  dem 
Menger'schen  Wertgesetze  wird  der  Verlust  den  Gläubigern  dadurch 
fühlbar  werden,  dass  sie  eine  Keihe  von  Bedürfnissen,  welche  sie  früher 
befriedigen  konnten,  nun  unbefriedigt  lassen  müssen;  wenn  sie  nach  wirt- 
schaftlichen Principien  vorgehen,  werden  sie  die  für  sie  mindest  wertigen 
Bedürfnisse,  und  zwar  auf  der  Scala  so  weit  herauf,  als  es  unabweislich 
uothwendig  ist,  unbefriedigt  lassen,  alle  wichtigern  aber  nach  wie  vor 
decken.  Die  wohlhabenderen  Gläubiger  waren  nun  aber  mit  ihren  Bedürf- 
nissen und  der  Geltendmachung  derselben  früher  zu  auf  der  Scala  entsprechend 
niedrigeren  Stufen  herabgestiegen;  da  nun  jetzt  für  sie  diese  niedrigeren, 
für  die  weniger  bemittelten  Gläubiger  dagegen  höhere  Stufen  unerreichbar 
werden,  haben  die  letzteren,  obwohl  die  Forderungsquoten  gleich  sind,  doch 
einen  grösseren  Schaden  erlitten. 

Um  dies  zu  erläutern,  wollen  wir  einen  schematischen  Fall,  den  wir 
möglichst  einfach  gestalten,  ins  Auge  fassen.  Der  Gläubiger  A.  habe  vor 
Eintritt  des  Verlustes  folgende  Bedürfnisgrade  aus  folgenden  Bedürfniskate- 
gorien befriedigen  können,  und  zwar: 


Kategorie : 

I. 

IL 

III, 

IV. 

V. 

VI. 

VII. 

VIII. 

IX. 

X. 

Grade: 

10 

9 

8 

7 

6 

5 

4 

3 

2 

1 

9 

b 

7 

6 

5 

4 

3 

2 

1 

8 

7 

6 

5 

4 

3    ' 

2 

1 

7 

6 

5 

4 

3 

2 

1 

6 

5 

4 

3 

2 

1 

5 

4 

3 

2 

1 

4 

3 

2 

1 

3 

2 

1 

2 

1 

1 

Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger- Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      447 


Der  Gläubiger  B  (welcher  nur  halb  so  viel  Vermögen  besitzt,  wie  A): 


I. 

II. 

m. 

lY. 

V. 

VI. 

VIL 

10 

9 

8 

7 

6 

5 

4 

9 

8 

7 

6 

5 

4 

8 

7 

6 

5 

4 

7 

6 

5 

4 

6 

5 

4 

5 

4 

4 

Der  Gläubiger 

C 

endlich : 

I. 

IL 

III. 

IV. 

V. 

10 

9 

8 

7 

— 

9 

8 

7 

6 

8 

7 

6 

7 

6 

6 

Nehmen  wir  weiter  an,  besser  gesagt,  behalten  wir  im  Auge,  dass 
die  Güterquantitäten,  durch  welche  die  einzelnen  Grade  der  Bedürfnis- 
befriedigung erlangt  werden,  mögen  dieselben  nun  mit  10  oder  mit  1  zu 
veranschlagen  sein,  durch  gleiche  Summen  Geldes  (gleichartige  und  gleich 
grosse  Gutseinheiten)  zu  erlangen  sind,  und  fassen  wir  nun  den  Verlust 
ins  Auge,  welchen  die  drei  Gläubiger  bei  einer  Schadenauftheilung,  wie  sie 
die  geltenden  Gesetze  fordern,  erleiden  werden.  Gesetzt,  dass  durch  den 
Concurs  7io  ^^^  Forderungsbeträge  verloren  gehen,  so  wird  sich  die 
Befriedigungsscala  nunmehr  folgendermaassen  ausnehmen  (die  Forderungen 
betragen  je  ein  Zehntel  des  Gläubigervermögens,  der  Verlust  also  9^  o  des 
letzteren) : 

Pur  A:  (A  besass  55  GQterquantitäten,  er  verliert   davon  ^ 
circa  5): 


/loo,  somit 


I. 

10 

9 


II. 

9 


III. 

8 
7 
6 
5 
4 
3 
2 


IV 

7 
6 
5 
4 
3 
2 


VI. 
5 
4 
3 
2 
1 


VII. 
4 
3 
2 
1 


VIII. 
3 
2 
1 


IX. 

2 
1 


Für  B:  (B  besass  28,  genau  27 Vg  Güterquantitäten,  verliert  9^/^  der- 
selben, somit  2^/2): 


I. 

II. 

III. 

IV. 

V. 

VI. 

VII. 

10 

9 

8 

7 

6 

5 

4 

9 

8 

7 

6 

5 

4 

8 

7 

6 

5 

4 

7 

6 

5 

4 

6 

5 

5 

448  Schullern. 

Für  C:  (C  besass  14  Güterquantitäten,  er  verliert  hievon  ^\qq,  somit 
etwas  mehr .  als  eines) : 


I. 

II. 

III. 

IV. 

10 

9 

8 

7 

9 

8 

7 

6 

8 

7 

6 

7 

(da  der  Gläubiger  C  nicht  mehr  den  zur  Befriedigung  des  dritten  von  den 
ursprünglich  4  befriedigten  Bedürfnissen  von  der  Bedeutung  6  erforderlichen 
Betrag  hat,  kann  er  fortan  nur  mehr  zwei  dieser  Bedürfnisse  befriedigen; 
ähnliches  gilt  auch  für  die  Gläubiger  A  und  B  in  Betreif  des  5.  resp. 
3.  Bedürfnisses). 

Die  effectiven  Verluste  stellen  sich  also  folgendermaassen:  für  A 
mit  5,  für  B  mit  12,  für  C  mit  12.  Nach  dem  volkswirtschaftlichen 
Postulate  müsste  sich  nun : 

5  :  12  :  12  zz:  10000  :  5000  :  2500 
verhalten. 

Aus  diesem  schematischen  Beispiele  ergibt  sich  also,  dass  trotz  der 
Proportionalität  der  ziffermässigen  Schadensätze  eine  Verhältnismässigkeit 
der  effectiven  Nachtheile  nicht  vorliegt;  gerade  daran  aber,  dass  die  letztere 
Proportion  beschafft  werde,  ist  die  Volkswirtschaft  interessiert.  Mögen  wir 
nun  dieses  Beispiel  nach  Belieben  variieren,  z.  B.  die  Forderungen  eines 
oder  sämmtlicher  Minderbemittelten  höher  veranschlagen,  als  die  der  be- 
mittelteren Gläubiger,  wir  werden  das  eine  immer  constatieren  müssen,  dass 
eine  Proportionalität  in  den  Verlusten  nicht  vorhanden  ist;  es  stehe  z.  B. 
die  Sache  so: 

A  besitze  100.000  fl.,  fordere  2.500  fl.,  seine  10%  betragen  250  fl.,  der  Verlust  2.250  fl 
B      „  50,000  „  „         5.000  „        „      10%        „         500  „      „         „      4.500  , 

C      ,  25.000  „          „       10.000  „        „      10%        „      1.000  „      „         „      9.000  „ 

A  verliert  somit  274%  seines  Vermögens 
B         „  „       9% 

C        „  „     367o 

A  verfügte  über  55  Gütereinheiten,  er  büsst  davon  274%  =  2  ein  (wirtschaftlich  nämlich  2, 

ziffermässig  etwas  weniger) 
B         „  „28  „  „      „         „     9%      =3    „ 

C„  „14.        „  „„„    367o      =  5  (streng  genommen  sogar  6)  ein. 

Der  effective  Verlust  beträgt  daher  unsern  Tabellen  zufolge  für  A  2, 
für  B  12,  für  C  31  Befriedigungen.  Auch  die  Proportion: 

2  :  12  :  31  =  2500  :  5000  :  10.000 

ist  unrichtig.  Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich  aber  nicht  nur,  dass  die  pro- 
portionale Vertheilung,  wie  sie  heute  gesetzlich  festgestellt  ist,  nicht  dem 
volkswirtschaftlichen  Postulate,  wie  wir  es  aufgestellt  haben,  entspricht, 
sondern  es  lässt  sich  daraus  auch  noch  der  überaus  wichtige  Schluss 
ziehen,  dass  die  weniger  bemittelten  Gläubiger  in  aller  Regel  in  Concurs- 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      449 

fällen  einen  grössern  thatsächlichen  Schaden  erleiden,  als  die  bemittelteren 
und  dass  das  Scliadenverhältnis  umsomehr  zu  ihren  Ungunsten  ausfällt,  je 
ärmer  sie  sind.  Gerade  diese  Thatsache  ist  es,  welche  den  bestehenden 
Vertheilungsmodus  am  meisten  verurtheilt.  Die  A^olkswirtschaft  hat  das 
höchste  Interesse  daran,  dass  die  Bedürfnisbefriedigung  eine  möglichst  all- 
gemeine und  möglichst  weitgehende  sei;  umso  ruhiger  und  stetiger  ist  der 
ganze  Consumtions-  und  Productionsprocess,  umsoweniger  sind  Erschütte- 
rungen zu  befürchten;  alles,  was  dagegen  wirkt,  ist  volkswirtschaftlich 
schädlich;  wenn  aber  schon  einmal  der  Eintritt  von  Nachth eilen  und  damit 
eine  Eeduction  im  Grade  der  Bedürfnisbefriedigungen  unvermeidlich  ist.  so 
muss  doch  wenigstens  dafür  gesorgt  werden,  dass  dieselben  möglichst 
wenig  zutage  treten  und  möglichst  wenig  fühlbar  werden.  Dieses  Ziel  wird 
dann  am  besten  erreicht,  wenn  keine  wesentlichen  Aenderungen  im  Ver- 
hältnisse zwischen  den  Bedürfnisbefriedigungen  verschiedener  Yolksclassen 
eintreten;  damit  nun  hier  eine  gewisse- Constanz  festgehalten  werde,  muss 
in  unserem  Falle  der  Schaden  so  vertheilt  werden,  dass  er  alle  betheiligten 
Personen  möglichst  gleich  treffe  (belaste,  das  Maass  ihrer  Bedürfnis- 
befriedigung möglichst  gleichmässig  einschränke);  hiemit  ist  das  allgemeine 
volkswirtschaftliche  Schadenvertheilungspostulat  gegeben,  welches  auch  der 
besondern  Thatsache  des  Concurses  gegenüber  Geltung  hat  und  dem,  wie 
wir  gesehen  haben,  die  heutige  Gesetzgebung  zuwider  ist. 

Dieser  Widerspruch  wäre  wohl  leichter  erkennbar,  wenn  die  Yer- 
theilung  des  Concursvermögens  in  denjenigen  Gütern  erfolgte,  aus  welchen 
es  ursprünglich  bestand,  und  zwar  nach  deren  Schätzungswert  und  wenn 
nicht  durch  das  Dazwischentreten  des  Geldes  die  Sachlage  verdunkelt 
würde.  Geld  ist  ein  Gut,  das  man  in  bestimmter  Quantität  für  jedes  andere 
erhält  und  für  welches  man,  wenn  es  quantitativ  zureicht,  jedes  andere  er- 
halten kann;  es  scheint  also,  als  ob,  da  gleiche  Quantitäten  Geldes  ver- 
schiedenen Personen  gleiche  Quantitäten  von  Gütern  derselben  Art  be- 
schaffen können,  hiedurch  den  ärmeren  höhere  Bedürfnisbefriedigung  ge- 
währt würde,  als  den  Wohlhabenden  und  Eeichen,  als  ob  weiter,  da  sich 
ia  jeder  für  sein  Geld  die  ihm  nothwendigsten,  also  subjectiv  höchstwertigen 
Güter  kaufen  kann  und  weil  gerade  jene  Güter,  welche  für  Arme  den 
grössten  subjectiven  Gebrauchswert  haben,  meist  niedrige  Preise  aufweisen, 
also  durch  geringe  Geldquantitäteu  vertreten  werden,  auch  aus  diesem 
Gesichtspunkte  die  weniger  bemittelten  Gläubiger  im  Yortheile  wären,  als 
ob  also  die  percentuelle  Yertheilung  des  Schuldnervermögens  vielleicht 
geradezu  zu  Gunsten  der  wirtschaftlich  ungünstiger  gestellten  Gläubiger 
ausschlüge.  Wenn  man  so  urtheilt,  hat  man  vergessen,  dass  es  sich  im 
Concurse  nicht  um  eine  Zuwendung  an  die  Gläubiger,  sondern  um  einen 
Yerlust  der  Gläubiger  handelt;  also  nicht  darum,  dass  sie  gleiche  (ge- 
nauer: verhältnismässig  gleiche)  Geldmengen  erhalten,  sondern  darum,  dass 
sie  verhältnismässig  gleiche  Geldmengen  verlieren,  dass  also  ein  Yerlust  in 
Frage  kommt,  unter  welchem  bei  der  herrschenden  Art  seiner  Zutheilung 
die  ärmeren  Gläubiger  verhältnismässig  mehr  leiden  als  die  reicheren. 


450  Sclnillern. 

Es  läge  in  jener  irrigen  Auffassung  einfach  eine  Verwechslung 
zwischen  Empfang  und  Verlust,  indem  man  an  eine  Zugabe  zu  einem  vor- 
handenen Vermögensbestande  dächte,  während  es  sich  um  einen  Abzug  von 
dem  Vermögen  handelt;  das  Vermögen  des  Gläubigers  umfasste  ja  zur 
Zeit  der  Concurseröffnung  auch  die  Forderung.  Arithmetisch  lässt  sich  das 
Verhältnis  folgendermaassen  ausdrücken.  Vor  Eröffnung  des  Concurses  war: 
V  (Vermögen)  =  F  (Forderung)  mehr  G  (im  Vermögen  momentan  that- 
sächlich  vorhandene  Güter);  nach  dem  Concurse  besteht  das  Vermögen  des 
Gläubigers  aus 

F  F 

—  +G<VumF 

X  X 

Wenn  V  ursprünglich  =  G  wäre,  so  hätte  der  Gläubiger  nach  dem 
Concurse  allerdings  G  +  F/x  >  V;  das  ist  aber  nicht  richtig.^) 

Es  ist  wahr,  dass  sich  Jedermann  für  sein  Geld  jene  Güter  ver- 
schaffen kann,  ja  wenn  er  anders  nach  wirtschaftlichen  Principien  vorgehen 
will,  verschaffen  muss,  welche  er  am  dringendsten  benöthigt.  Wenn  sich 
der  eine  für  einen  bestimmten  Geldbetrag,  z.  ß.  10  fl.,  Lebensmittel  be- 
schaffen muss,  der  andere  sich  aber  ein  Vergnügen  verstatten  kann,  mag  es 
scheinen,  dass  die  10  fl.,  welche  er  erhält,  für  den  Armen  mehr  Wert 
haben  als  für  den  Reichen;  wenn  man  aber  darnach  fragt,  welche  Wirkung 
der  Verlust  eines  gleichen  Betrages  von  10  fl.  auf  die  verschiedenen 
Gläubiger  ausübt,  so  wird  der  Schleier  vor  dem  Bilde  sinken  und  es  wird 
die  Richtigkeit  des  von  uns  oben  Gesagten  klar  werden. 

Wir  können  somit  constatieren,  dass  auch  der  herrschende  Ver- 
theilungsmodus  eine  Schadensgefahr  involviert,  und  zwar  in  dem  Sinne, 
dass  durch  ihn  der  eben  einmal  vorhandene  Schaden  nicht  gleichmässig, 
sondern  ungleich,  und  zwar  wesentlich  zum  Nachtheil  der  ärmeren  Gläubiger 
und  damit  der  Volkswirtschaft  repartiert  wird.  2) 

Die  von  uns  an  früherer  Stelle  hervorgehobenen  Vorrechte  gewisser 
Forderungen,  so  insbesondere  bestimmt  umgrenzter  Lohnansprüche,  mildern 
einerseits  den  volkswirtschaftlichen  Schaden,  der  sich  aus  dem  verfehlten 
Theilungsmodus  ergibt  und  zeigen  andererseits,  dass  die  Unbilligkeit  erkannt 
worden  ist,  welche  in  demselben  läge,  wenn  er  rücksichtslos  durchgeführt 
würde.  Wenn  übrigens  sämmtliche  Gesetze  die  Verfügung  treffen,  dass 
nach  erfolgter  Vertheilung  des  realisierten  Concursvermögens  den  Gläubigem 
der  unbefriedigt  gebliebene  Theil  ihrer  Forderungen  gewahrt  bleibt,^)  so  ist 
damit  die  Möglichkeit  einer  Wiederausgleichung  vorliegenden  Schadens 
potentiell  gegeben,  praktisch  aber  wird  in  verhältnismässig  wenigen  Fällen 


^)  S.  Mataja.  S.  164. 

2j  Dass  das  Dazwischentreten  des  Geldes  diese  Thatsache  nicht  nur  verschleiert, 
sondern  auch  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  thatsächlich  mildert,  soll  damit  nicht  geleugnet 
werden.  Dies  sei  hier  wiederholt  bemerkt. 

3)  Oesterr.  C.  0.  §.  54,  D.  C.  0.  §.  152.  1,  S.  Endemann  S.  123,  139.  Cod.  di 
Comm.  Art.  815,  franz.  Gesetz  Art.  539. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft,      451 

diese  Eemedur  zur  Geltung  kommen.  Zu  untersuchen,  inwieferne  durch  die 
verschiedenen  zulässigen  Arten  des  Vergleichs,  insbesondere  den  Zwangs- 
vergleich diese  eben  aufgeführten  Nachtheile  vemngert,  oder  etwa  verschärft 
werden,  liegt  nicht  im  Kahmen  der  uns  gestellten  Aufgabe;  die  einschlägigen 
Bestimmungen  haben  übrigens  nicht  nur  deshalb  volkswirtschaftliche  Be- 
deutung, weil  sie  auf  Kostenersparung  abzielen,  sondern  auch  deswegen ^ 
weil  sie  in  der  Regel  die  wirtschaftliche  und  sociale  Lage  des  Concursanten 
verbessern  können.  Wir  haben  die  wichtigsten  Ursachen  neuerlichen  Schadens, 
welche  sich  aus  der  Art  der  Yertheiluno^  des  Concursvermögens  ergeben, 
untersucht  und  können  hiemit  dieses  Capitel  schliessen  um  uns  im  folgen- 
den dem  Versuche  zuzuwenden,  Vorschläge  zu  machen,  welche  uns  geeignet 
scheinen,  die  Wirkungen  dieser  Ursachen  abzuschwächen  oder  dieselben 
ganz  zu  beheben.^) 


II.  Capitel. 
Die  Lex  ferenda. 

§.  1.  Allgemeine  Gesichtspunkte. 

Mit  dem  bisher  Gesagten  haben  wir  gewissermaassen  die  diagnostische 
Seite  unseres  Problems  im  wesentlichsten  erschöpft;  es  fragt  sich  nun,  ob 
und  eventuell  in  wie  weit  und  wie  jene  Schadensursachen  beseitiget,  in 
wie  weit  also  ein  gesunderer  Zustand  hergestellt  werden  kann.  Wir  können 
somit  die  folgenden  Ausführungen  als  den  therapeutischen  (vielleicht  besser 
hygienischen)  Theil  unserer  Untersuchung  bezeichnen. 

Stellen  wir  nun  zunächst  fest,  wer  als  reformierendes  Organ  aufzu- 
treten hat  und  welche  oberste  Gesichtspunkte  für  ihn  in  Frage  kommen, 
welche  Marschroute  ihm  gegeben  ist.  Eine  Aenderung  der  im  vorausgehen- 
den Capitel  besprochenen  Verhältnisse  ist  zweifellos  nur  von  einer  Gesetz- 
gebung zu  erwarten,  welche  mehr,  als  dies  bisher  geschehen  ist,  volkswirt- 
schaftliche Gesichtspunkte  einnehmen  und  sich  an  die  Ergebnisse  dieser 
Betrachtungsweise  halten  würde.  Es  liegt  nun  nahe,  dass  die  Gesetzgebung 
jene  bestehenden  Normen,  welche  die  Quellen  der  besprochenen  Schadens- 
ursachen sind,  zu  tilgen  und  sie  durch  andere  zu  ersetzen  hat.  Es  muss 
also  zunächst  festgestellt  werden,  welche  Theile  der  Concursgesetze  ab- 
änderungsbedürftig und  hiezu  geeignet  sind;  nachdem  dies  geschehen  ist, 
muss  zunächst  die  weitere  Frage  zur  Erörterung. gelangen,  welche  Gesichts- 
punkte für  die  Feststellung  der  neueinzuführenden  Nonnen  zu  gelten  haben. 
Der  oberste  Gesichtspunkt  ist  natürlich  der,  dass  die  alte  Schadensursache 
nicht  wieder  auf  einem  neuen  Wege  neu  begründet  und  dass  nicht  neue 
Ursachen  für  volkswirtschaftliche  Nachtheile  geschaffen  werden.    Falls  eine 


^)  Es  sei  hier  am  Schlüsse  des  Capitels  nebenbei  noch  der  Bestimmung  des 
deutschen,  italienischen  und  französischen  Rechtes  gedacht,  wonach  Zinsen  von  gewissen 
Concursf orderungen  im  Concursverfahren  nur  bis  zum  Tage  der  ConcurseröfFnung  be- 
rechnet werden    dürfen:    C.    0.  §.  56.  1.,    C.  di  C.   Art.  700;    Loi  Ait.  445. 


452  Schullern. 

bestehende  Vorschrift  gleichzeitig  eine  Schadensgefahr  bekämpfen  und  eine 
andere  begründen  würde,  müsste  zunächst  untersucht  werden,  ob  nicht  irgend 
eine  andere  ihre  guten,  nicht  aber  ihre  schlimmen  Wirkungen  hätte  und 
fände  sich  kein  derartiger  Ersatz,  so  müsste  erwogen  werden,  welche  Gefahr 
drohender  und  schwerer  wiegend  sei  und  hieraus  dann  der  Anhaltspunkt 
für  das  weitere  Vorgehen  gewonnen  werden.  Ist  all  dies  geschehen,  so  hat 
der  legislatorische  Act  auf  Grund  der  Ergebnisse  der  bezeichneten  Er- 
mittelungen vollzogen  zu  werden,  insoweit  dies  eben  möglich  ist. 

Die  vorliegende  Aufgabe  ist  also  an  sich  eine  sehr  umfassende  und 
eine  ziemlich  verwickelte.  Um  sie  erfüllen  zu  können,  benöthigen  wir  nicht 
nur  der  Kenntnis  ihres  Zweckes  und  der  letzten  Gesichtspunkte,  sondern 
auch  der  genauen  Erforschung  der  praktisch  gegebenen  Verhältnisse ;  diese 
würde  uns  nun  bis  zu  einem  gewissen  Grade  eine  erschöpfende  Concurs- 
statistik  ermöglichen. 

Leider  aber  sind  die  Eesultate  derselben  nicht  sehr  befriedigend.  Die 
Verschiedenheit  der  Concursgesetzgebung,  die  verschiedenen  Gesichtspunkte, 
von  welchen  aus  die  Statistik  in  den  einzelnen  Staaten  aufgenommen  wird, 
endlich  die  verschiedene  Zahl  von  Momenten,  welche  hier  und  dort  erhoben 
werden,  macht  Vergleichungen  fast  unmöglich;  auch  für  die  einzelnen 
Staaten  ist  das  Ergebnis  der  Statistik  vielfach  nicht  genügend  reichhaltig, 
um  unseren  Anforderungen  zu  genügen.  •)  Die  Concursstatistik  steht  uns 
also  allerdings  als  wichtiges  Hilfsmittel  und  berathend  zur  Seite,  sie  er- 
möglicht aber  nur  in  sehr  seltenen  Fällen  Schlüsse,  während  sie  vielfach 
nur  Vermuthungen  über  die  Bedeutung  einzelner  Momente  autkommen 
lässt.  Schon  infolge  dieses  ümstandes  allein  werden  die  Eesultate  unserer 
Untersuchung  nicht  anders  als  lückenhaft  sein  können;  trotzdem  hoffen  war, 
dass  sie  Anlass  zu  weitern  Betrachtungen  und  eingehendem  Untersuchungen 
geben  und  so  früher  oder  später  beruhigende  Schlussfolgerungen  werden 
gezogen  werden. 

Wir  wollen  nun  im  folgenden  die  einzelnen  Schadensursachen  der 
Keihe  nach  unter  den  Gesichtswinkeln  der  Volkswirtschaft  und  der  Lex 
ferenda  vornehmen,  um,  so  weit  es  uns  möglich  ist,  wenigstens  Fingerzeige 
geben  zu  können. 

Wir  abstrahieren  hiebei  im  grossen  und  ganzen  von  den  Einzelheiten 
der  bestehenden  Gesetze. 

§.  2.   Entwertung    von    Concursgütern    durch    ihre 
Kealisierung. 

Wir  haben  schon  an  früherer  Stelle  (Cap.  L,  §•  2  A)  hervorgehoben,  dass 
die  Realisienmg  des  Concursvermögens,  das  heisst  seine  Umwandlung  in 
eine  Geldsumme  allgemein  giltiger  Grundsatz  ist,  der  nur  in  kaum  nennens- 


')  S.  hierüber  Wirmingh  au  s  am  obigen  Orte:  S.  3—10  u.  346  ff.  Eine  Reihe 
von  Daten,  welche  für  die  Ermittlung  des  von  uns  betrachteten,  volkswirtschaftlichen 
Schadens  wichtig  wären,  fehlen  in  der  Statistik  allgemein  ganz  oder  fast  ganz. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger- Concurs  v.  Standpunkte  d.  Yolkswirtschaft.      453 

werten  Ausnahmsfällen  eine  Einschränkung  erfährt;  wir  haben  an  jener 
Stelle  auch  die  Gründe  hervorgehoben,  welche  diese  Kealisierung  räthlich 
erscheinen  Hessen;  die  Übeln  Folgen,  welche  daraus  hervorgehen,  haben 
Avir  auch  bereits  eingehend  besprochen.  Es  liegt  also  schon  hier  das 
Dilemma  vor,  entweder  auf  die  Vorzüge  dieser  Yerfahrensart  und  die  Er- 
leichterungen, welche  sie  mit  sich  bringt,  verzichten,  oder  die  Übeln  Folgen 
mit  in  den  Kauf  nehmen  zu  müssen.  Einen  Ausweg  hieraus  zu  finden,  wäre 
unsere  Aufgabe.  Dieser  aber  wird  sich  uns  kaum  in  allgemein  giltiger 
Weise  darbieten;  nur  durch  Betrachtung  der  einzelnen  Schadensursachen 
und  dadurch,  dass  man  die  hervortretendsten  Fälle  speciell  ins  Auge  fasst, 
kann  dem  Ziele  einigermaassen  nahe  gerückt  werden.  Leider  müssen  wir 
hiebei  auf  Unterstützung  durch  die  Statistik  verzichten;  diese  hat  nämlich 
die  für  uns  erheblichen  Momente  entweder  gar  nicht,  oder  doch  nicht  in 
jenem  Ausmaasse  erfasst,  welches  für  uns  wünschenswert  wäre,  oder  sie 
hat  sie  doch  nicht  mit  der  Einschränkung  auf  das  Concursproblem  in  Be- 
tracht gezogen;  ihre  Kechtfertigung  findet  sie  übrigens  unschwer  in  der 
Thatsache,  dass  die  statistische  Erfassung  der  wichtigsten  unter  ihnen 
überhaupt  nur  sehr  schwer  ausführbar  wäre;  dies  gilt  insbesondere  von 
dem  zunächst  zu  betrachtenden  Falle. 

a)  Affectionswerte  lassen  sich  häufig  überhaupt  nicht  ziifermässig  zum 
Ausdrucke  bringen,  in  jedem  Falle  aber  ist  ihr  Charakter  ein  so  subjectiver, 
dass  eine  Schätzung  durch  dritte  Personen  unmöglich  ist;  damit  aber  ver- 
sagen auch  die  Mittel,  über  welche  in  solchen  Fällen  die  Statistik  verfügt, 
und  damit  ist  für  uns  die  Unmöglichkeit  festgestellt,  die  einschlägige  Art 
von  Wertverlusten  auf  ihre  quantitative  Bedeutung  ziffermässig  zu  prüfen. 
Und  doch  ist  der  Affectionswert  geradeso  gut  ein  wahrer,  subjectiver 
Gebrauchswert  wie  irgend  ein  anderer  und  doch  wird  dieser  Wert  ver- 
nichtet, genauer  gesagt,  um  jenen  ganzen  Theil  reduciert,  welcher  auf  die 
Bedeutung  zurückzuführen  ist,  die  das  Gut  als  Object  besonderer  Vorliebe 
des  ursprünglichen  Besitzers  hatte. 

Dass  dieser  Wertabschlag  ein  bedeutender  ist,  ergibt  ein  Blick  auf 
das  praktische  Leben.  Der  Abkömmling  eines  alten  Geschlechtes  besitzt 
die  halbverfallene  Burg  seiner  Ahnen,  an  die  sich  tausend  Erinnerungen 
seiner  Jugend,  sein  ganzes  Familiengefühl  klammern;  seine  Verhältnisse 
haben  sich  immer  mehr  verschlechtert;  alles  hat  er  hingegeben,  was 
er  sonst  noch  besass,  in  der  Hoffnung,  jene  Mauern  sich,  seinen  Kindern 
erhalten  zu  können,  endlich  muss  er  sich  fallit  erklären  und  sein 
theuerstes  kommt  zur  Versteigerung;  der  Meistbieter  zahlt  kaum  das, 
was  dem  Marktpreise  des  Materiales  und  Bodens  (der  Bauarea)  entspricht; 
er  reisst  das  alte  Gemäuer  nieder  und  setzt  an  seine  Stelle  einen  Park, 
einen  Gastgarten  oder  etwas  dergl.  Wer  wird  bei  solcher  Sachlage 
zweifeln,  dass  der  Execut,  der  Concursant.  weit  mehr  verloren  hat,  als  der 
Gläubiger  erwarb? 

Ein  altes  Handelshaus  falliert,  im  Inventare  desselben  befindet  sich 
ein  Schreibtisch,  den  bereits  durch  Generationen  die  Lihaber  des  Geschäftes 


454  Scliullern. 

benutzten,  an  den  sich  langjährige  Traditionen  knüpfen  und  den  der  gegen- 
wärtige Eigenthümer  mehr  wertschätzte,  als  das  prunkvollste,  moderne 
Möbelstück;  er  wird  mit  dem  andern  um  den  Betrag  im  Versteigerungs- 
wege  losgeschlagen,  welcher  dem  Marktpreise  der  Holzmasse  entspricht; 
ein  Concursant  besitzt  eine  Dogge,  die  ihm  theuer  ist,  obwohl  sie 
nicht  mehr  den  Anforderungen  entspricht,  welche  an  einen  Hund  dieser 
Race  auf  dem  Markte  gestellt  zu  werden  pflegen;  auch  er  wird  verkauft 
und  um  welchen  Preis?  wie  hoch  schätzt  der  Käufer  das  Thier,  den 
Schreibtisch?  Dies  sinä  einzelne  Beispiele!  tausende  ähnlicher  Art 
bringt  das  praktische  Leben  bei;  nichts  vielleicht  schmerzt  den  Fallierten 
mehr,  als  ein  ähnlicl^er  Verlust;  nichts  bringt  den  Gläubigern  weniger 
Gewinn,  als  ein  solches  Verkaufs object  und  doch  muss  der  hohe  Wert 
auf  der  einen  Seite  vernichtet,  doch  muss  hier  die  Befriedigung  eines 
subjectiv  schwer  empfundenen  Bedürfnisses  ausgeschlossen  werden,  damit 
eine  oft  kaum  fühlbare  Verlustvermehrung  auf  der  andern  Seite  ver- 
mieden sei. 

Derartige  Wertreductionen  lassen  sich,  wie  bereits  gesagt,  schwer 
oder  gar  nicht  berechnen  und  doch  sind  sie  für  den  Grad  der  Gesammt- 
bedilrfnisbefriedigung  in  der  Gesellschaft,  also  für  die  Volkswirtschaft  von 
höchster  Bedeutung.^) 

Tritt  dies  bei  Gütern,  welche  Affectionswert  besitzen,  mit  besonderer 
Deutlichkeit  hervor,  so  zeigen  sich  doch  ähnliche  Verhältnisse  auch  bei 
allen  andern  Dingen,  deren  Gebrauchswert  für  die  Wirtschaft  des  Besitzers 
grösser  ist,  als  für  irgend  eine  andere  und  vielfach  überhaupt  bei  Gütern, 
deren  Gebrauchswert  den  Tauschwert  übertrifft.  Ein  kleiner  Kaufmann  be- 
sitze eine  altmodische,  stark  abgebrauchte  Einrichtung,  darunter  zum 
Beispiel  eine  Garnitur  für  ein  Besuchzimmer:  für  seine  Bedürfnisse  hat  sie 
vollkommen  genügt;  wenn  er  falliert,  wird  sie  um  einen  kaum  nennens- 
werten Preis  losgeschlagen  und  der  Erwerber  bewertet  sie  nicht  viel  höher, 
als  diesem  Ankaufspreise  entspricht;  wenn  der  Fallit  seinerzeit  in  die  Lage 
kommt,  sich  wieder  ein  Besuchzimmer  einzurichten,  so  muss  er  überdies 
wohl  fast  in  allen  Fällen  selbst  eine  derartige  Garnitur  weit  höher  zahlen, 
als  der  Preis  war,  den  die  seine  erzielt  hatte. 2) 

Es  dürfte  auf  der  Hand  liegen,  dass  hiemit  ein  privat-  und  volks- 
wirtschaftlicher Verlust  gegeben  ist.  Auch  derartige  Verluste  lassen  sich 
kaum  ziffermässig,  wenigstens  nicht  von  dritten  Personen  ermessen  und 
darstellen. 

Kann  denselben  nun  vorgebeugt  werden  ?  und  im  bejahenden 
Falle,  wie? 

Wenn  wir  diese  Frage  aufwerfen,  so  sind  wir  uns  wohl  bewusst,  dass 
wir  uns  auch  hier  in  einem  Dilemma  befinden;  entweder  es  verliert  der 
Concursant   mehr,    als    die  Gläubiger   resp.  die  Käufer   gewinnen,    oder    es 


^)  S.  hiezu  Mataja:  am  gen.  Orte  S.  150—152,  insb.  S.  152,  II.  Abs.,  dann  17^ 
2)  S.  Mataja  S.  172. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      455 

wird  der  Verlust  der  Gläubiger  nicht  so  weit  reduciert,  als  dies  bei  der 
gegebenen  Lage  der  Umstände  möglich  wäre.  Wenn  nun  das  Princip  der 
absoluten  Gerechtigkeit  hier  auch  zweifellos  zu  gunsten  des  Gläubigers 
spricht,  so  wird  doch  das  Princip  des  Gesammtwohles  unter  Umständen 
dazu  nöthigen,  dem  erstgenannten  das  TeiTain  streitig  zu  machen.  Ein 
Verlust,  z.  B.  zz:  2  a  auf  der  einen  Seite  und  dem  gegenüber  eine  Verlust- 
verminderung  =:  a  auf  der  anderen  Seite,  respective  ein  Gewinn  z=z  h  (<:  d) 
bei  einer  Wertschätzung  des  erkauften  Gutes  z=za  -^  h  (<;  a)  auf  Seite 
des  Käufers  kann  den  Interessen  des  Gesammtwohles  durchaus  nicht  immer 
entsprechen.  Wie  nun  hier  vorzugehen  sei,  bleibt  unter  Festhaltung  des 
volkswirtschaftlichen  Standpunktes  rein  Gegenstand  der  Erwägung  in  jedem 
gegebenen  Falle.  Wenn  einzelne  Gesetze,  so  z.  B.  die  bereits  citierte  öster- 
reichische Executionsnovelle,  gewisse  Gegenstäcde,  z.  B.  Familienportraits, 
Eheringe,  die  nothwendige  Einrichtung,  von  der  Execution  ausschliessen, 
so  ist  damit  dem  obigen  Gedanken  bereits  in  gewissem  Umfange  Geltung 
verschafft;  sollte  man  aber  nicht  doch  am  halben  Wege  stehen  geblieben 
sein,  sollte  es  nicht  überhaupt  bei  derartigen  Concursgütern  dem  vorsich- 
tigen Ermessen  des  Kichters  —  unter  Vorbehalt  von  Kechtsmitteln  — 
überlassen  werden,  im  Interesse  der  allgemeinen  Bedürfnisbefriedigung  die 
Zwangsveräusserung  zu  hemmen?  Wäre  es  nicht  unter  Umständen  nach 
genauer  Erwägung  der  obwaltenden  Thatsachen  räthlicb,  bei  gewissen 
Objecten  Mitgliedern  derselben  Familie  ein  Vorkaufsrecht  einzuräumen 
oder  doch  wenigstens  die  Veräusserung  nicht  mit  allzu  grosser  Beschleuni- 
gung vorzunehmen,  um  so  eben  diesen  Familiengliedern  (bei  Gütern  von 
besonderem  Affe ctions werte)  oder  Personen  in  ähnlicher  socialer  Lage  und 
von  ähnlichem  Vermögensstande  (bei  denen  also  der  Gebrauchswert  der 
bezüglichen  Güter  ein  wenigstens  annähernd  gleich  hoher  w^äre)  vermehrte 
Gelegenheit  zu  deren  Ankauf  zu  bieten? 

Allgemeine  Gesichtspunkte  hier  aufzustellen,  fällt  ungemein  schwer; 
abgesehen  davon,  dass  durch  die  Einräumung  eines  derartigen  Spielraumes 
für  den  Richter  in  Geltendmachung  des  volkswirtschaftlichen  Gedankens 
dem  Principe  der  Gerechtigkeit  nicht  allzusehr  präjudiciert  werden  darf,  dass 
es  sich  also  immer  nur  um  Güter  handeln  kann,  deren  Tauschkraft  eine 
absolut  geringe  ist,  so  dass,  wenn  dieselbe  ausfällt,  der  Verlust  der  Gläu- 
biger nicht  bedeutend  erscheint,  lässt  sich  hier  kaum  eine  andere  positive 
Norm  aufstellen  als  jene,  welche  eben  im  obigen  enthalten  ist  und  dahin 
geht,  dass  eine  Reduction  im  Grade  der  Bedürfnisbefriedigung  für  die 
Gesammtheit  möglichst  zu  vermeiden  sei. 

Das  Gesagte  lässt  sich  also  in  folgendem  ersten  Postulate  zusammen- 
zufassen: es  sei  bei  Concursgütern,  welchen  nach  Lage  der  Umstände  der 
Fallit  einen  erheblichen  Affectionswert  zuschreibt,  oder  die  für  ihn  einen 
besonders  hohen  Gebrauchswert  haben,  dann,  wenn  ihr  Tauschwert  und  ihr 
voraussichtlicher  Gebrauchswert  für  den  Ersteher  im  Verhältnisse  zum 
Gesammtwerte  der  Concursmasse  kein  erheblicher  ist,  dem  gewissenhaften 
Ermessen  des  Richters  ein  freier  Spielraum  dahin  zu  belassen,  ob  und  unter 


456  Schullern. 

welchen  Modalitäten  er  deren  Veräusserung  anordnen  oder  sie  geradezu  dem 
Falliten  belassen  wolle.  ^) 

b)  Die  Wertverluste,  welchen  die  Volkswirtschaft  dadurch  ausgesetzt 
wird,  dass  Gütercomplexe,  insbesondere  complementäre  Verbindungen  von 
Productivgütern  (im  Sinne  der  K.  Menger'schen  Terminologie)  bei  der 
Kealisierung  des  Concursvermögens  zerstückt  zu  werden  pflegen,  sei  es  um 
die  Gütermasse  überhaupt  oder  doch  rasch  an  Mann  bringen  zu  können, 
lassen  sich,  ebenso  wie  die  oben  besprochenen,  nur  schwer  ziffermässig 
darstellen  und  bemessen;  jedenfalls  fehlt  uns  eine  bezügliche,  die  Concurse 
betreffende  Statistik;  die  im  vorigen  Capitel  gebrachten  Beispiele  dürften 
aber  einen  Fingerzeig  dafür  geben,  dass  sie  nicht  allzusehr  ausser  Betracht 
gelassen  werden  dürfen.  An  dieser  Stelle  ist  übrigens  noch  ein  Moment 
besonders  hervorzuheben,  dass  nämlich  nicht  nur  die  momentane  Lage  der 
Volkswirtschaft  an  einer  angemessenen  Ordnung  dieser  Verhältnisse  Interesse 
hat.  sondern  auch  ihre  Zukunft.  Die  Zerstückelung  eines  complementären 
Güterzusammenhanges,  z.  B.  eines  grossen  Fabriksetablissements  kann  näm- 
lich möglicherweise  nicht  nur  zur  Folge  haben,  dass  die  Gläubiger,  resp. 
die  Ersteher  der  einzelnen  Theile  des  fraglichen  Concursgutes  weniger  er- 
halten, resp.  ersetzt  bekommen,  als  der  Schuldner  verliert,  sondern  unter 
Umständen  auch,  dass  die  ganze  Industrie  dieser  Art  für  die  ganze  Gegend 
verloren  geht,  die  Bewohner  derselben  brodlos  werden  und  auswanderfi 
müssen.  Wenn  dem  gegenüber  bedacht  wird,  dass  es  ja  durchaus  nicht 
nothwendig  nur  Mangel  an  Lebensfähigkeit  sein  muss,  was  den  Untergang 
des  Unternehmens  zur  Folge  hatte,  sondern  dass  oft  rein  äussere  Momente 
mitgespielt,  oder  auch  allein  zu  diesem  Ziele  gewirkt  haben  können,  so 
wird  man  zugeben  müssen,  dass  unter  diesem  weiteren  Gesichtspunkte 
unsere  Frage  an  Bedeutung  gewinnt.  Wenn  es  vielleicht  gelungen  wäre, 
die  Fabrik  als  Ganzes  mit  allem,  was  dazu  gehörte,  zu  veräussern,  wären 
möglicherweise  alle  schlimmen  Folgen,  wenigstens  für  die  Volkswirtschaft, 
vermieden  worden^). 

Diesen  Verhältnissen  haben  nun  einzelne  Gesetzgebungen  bis  zu  einem 
gewissen  Punkte  —  hauptsäclilich  insoweit  es  sich  um  Kealitäten  und  deren 
Zugehör  handelt  —  bereits  Rechnung  getragen;  trotzdem  muss  auch  hier 
die  Anschauung  ausgesprochen  werden,  dass  die  einmal  beschrittene  Bahn 
noch  weiter  zu  verfolgen,  die  Zerstückelungsverbote  auch  auf  bewegliche 
Gütercomplementaritäten,  falls  sie  wirtschaftlich  gestaltet  sind,  ausgedehnt 
und  Ausnahmen  unter  allen  Umständen  nur  nach  genauester  Erwägung  der 
Thatsachen  zugelassen  zu  werden  haben. 

(^  Unser  zweites  Postulat  sagt  also,  complementär  verbundene  Productiv- 
guter  seien  principiell  ungetrennt  zur  Veräusserung   zu   bringen,    wenn  die 


1)  S.  K  n  i  e  s :  Geld  u.  Credit,  I.  Bd.,  Berlin,  W  e  i  d  m  a  n  n  1876,  S.  212,  IL  Abs., 
231.  (Schadensausgleichung  unter  gewissen  Umständen.) 

2)  Für  diesen  unseren  Fall  kommt  ein  Verschwinden   eines  Affections-  oder  über- 
wiegenden Gebrauchswertes  nicht  in  Frage. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      457 

Verbindung    überhaupt    eine    wirtschaftlich    gute    ist   und   wenn  nicht  aus- 
nahmsweise Bedenken  von  grosser  Erheblichkeit  dagegen  sprechen. 

Auch  in  diesem  Falle  muss  also  dem  Ermessen,  des  Kichters,  unter- 
stützt durch  die  Gutachten  geeigneter  und  uninteressierter  Sachverständiger, 
ein  erheblicher  Spielraum  gelassen  werden:  insbesondere  wird  es  seine 
Sache  sein,  den  wirtschaftlichen  Wert,  richtiger  die  wirtschaftliche  Bedeu- 
tung derartiger  Unternehmungen  und  die  Bedeutung  der  einzelnen  Theil- 
güter  für  den  gesammten  Gütercomplex  und  für  einander  zu  prüfen,  dann 
aber  auch  jene  möglichen  Bedenken  zu  erwägen. 

Wenn  insbesondere  aus  irgend  einem  Grunde  die  ganze  complementäre 
Gütermasse  geschlosson  nicht  veräusserbar  erscheint,  z.  B.  wegen  Mangels 
des  genügenden  Capitales  in  der  Hand  einer  einzelnen  Person,  oder  einer 
Personengruppe  in  jener  Gegend,  wird  die  Zerstückelung  unvermeidlich  sein; 
unter  Umständen  aber  würde  ein  Verkauf  im  ganzen  nur  ein  längeres  Zu- 
warten erfordern,  als  die  parcellierte  Veräusserung;  tritt  ein  solcher  Fall  ein, 
das  heisst,  liegt  die  Wahrscheinlichkeit  eines  Erfolges  in  nicht  allzu  ferner 
Zukunft  vor,  so  mag  sehr  häufig  der  Aufschub  räthlich  sein.  Der  mögliche 
Nachtheil,  der  aus  der  Verzögerung  des  Concursverfahrens  erwächst,  kann 
ja  auch,  z.  B.  durch  Fortbetrieb  des  Geschäftes  auf  den  Namen  der 
Gläubigerschaft  oder  in  anderer  Weise  vermieden  werden.  Aehnlich,  wie 
derartige  Bedenken,  mögen  auch  andere  auftauchen  und  erledigt  werden 
müssen:  unter  allen  Umständen  schiene  uns  das  oben  ausgesprochene 
Postulat  im  Principe  durch  die  Thatsachen  und  das  Interesse  aller,  Theile 
vollauf  gerechtfertiget:  seine  Befolgung  in  einzelnen  Fällen  müsste  sich 
immer  auf  eine  genaue  Erwägung  der  Umstände  stützen.  Obwohl  wir  uns 
bewusst  sind,  mit  diesen  kurzen  Ausführungen  das  vorliegende,  wichtige 
Problem  nichts  w^eniger  als  erschöpft  zu  haben,  wollen  wir  doch  seine 
Betrachtung  schliessen,  um  nicht  allzusehr  die  Geduld  des  Lesers  in  An- 
spruch zu  nehmen  und  weil  wir  hoffen,  wenigstens  die  wichtigsten  Momente 
und  Gesichtspunkte  angedeutet  zu  haben. 

Nur  eine  Bemerkung  sei  uns  hier  anhangsweise  noch  gestattet.  Wenn 
Wirminghaus  in  seiner  wiederholt  citierten  Abhandlung \)  die  Bemerkung 
macht,  dass  der  Unterschied  zwischen  den  vorläufig  bezifferten  und  den 
endgiltig  festgestellten  Activen  zu  Ungunsten  der  letzteren  den  Beweis  für 
deren  Ueberschätzung  bei  der  ersten  Inventarisierung  bringe,  dass  also 
z.  B.  die  in  Schottland  im  Jahre  1880  mit  490.248  Pfund  Sterling  rea- 
lisierten und  ursprünglich  mit  601.959  Pfund  Sterling  geschätzten, 

die  i.  J.1886  mit 239. 758 Pf. St.  realisierten  u.  mit293.667Pf.St.  geschätzten 
„    „  „  1887   „  485.048  ,    ,  „  „    „    789.845  ,    , 

und  „    ,  ,  1888  „   529.106  „    ,  „  „    „    721.466  „    , 

Activen  überschätzt  gewesen  seien,  so  möchten  wir  dieser  Anschauung 
wenigstens  in  dieser  Allgemeinheit,  in  der  wir  glauben,  sie  verstehen  zu 
müssen,  nicht  ohneweiters  beipflichten;  wir  sind  nämlich  der  Meinung,  dass 


')  S.  26. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  ^ocialpolitik  und  Verwaltung.  III.  Heft.  gQ 


458  Schullern. 

die  ursprüngliche  Schätzung  möglicherweise  ganz  sachgemäss  gewesen  sein 
kann  und  der  niedrigere  Betrag  der  realisierten  Activa  sich  trotzdem  leicht 
erklären  lässt:  abgesehen  von  andern  ungünstigen  Verhältnissen,  welche  bei 
der  Kealisierung  obgewaltet  haben  können,  mag  gerade  die  Zersplitterung 
der  complementären  Zusammenhänge,  welche  vielleicht  bei  der  vorläufigen 
Schätzung  (jedenfalls  aber  in  der  Bilanz  des  Concursanten)  nicht  vor- 
gesehen war,  hiebei  eine  erhebliche  Rolle  spielen. 

c)  Die  dritte  von  uns  ins  Auge  gefasste  Schadensursache  ist  zwar 
theoretisch,  wie  gesagt,  von  nicht  sehr  grossem  Interesse,  praktisch  aber 
macht  sie  sich  besonders  für  die  Privatwirtschaft  von  Gläubiger  und 
Schuldner  überaus  fühlbar,  und  zwar  entweder  isoliert,  oder  in  Verbindung 
mit  andern;  auch  hier  ist  eine  ziffermässige  Feststellung  ihrer  Erheblichkeit 
kaum  oder  gar  nicht  durchführbar;  für  die  Gegenwart  fehlt  uns  jedenfalls 
das  Mittel,  sie  statistisch  zu  erfassen. 

Die  Concurseröffnung  bringt  die  Gegenstände,  aus  denen  sich  das 
Concurs vermögen  zusammensetzt,  in  den  Zustand  der  Verkauf lichkeit;  es 
liegt  nun  nahe,  dass  dieser  Zustand  möglichst  abgekürzt  wird,  damit  einer- 
seits die  fraglichen  Güter  wieder  voll  ihre  ursprünglichen  Functionen  auf- 
nehmen und  die  Gläubiger  andererseits  ehestens  ihre  Quoten  erhalten. 
Dieser  Gedanke  ist  es.  welcher  häufig  den  Verkauf  von  Gütern  zu  einer 
Zeit  und  unter  Umständen  veranlasst,  welche  von  einer  Privatperson  in 
aller  Regel  für  den  Verkauf  ihr  frei  verfügbarer  Objecto  hiezu  nicht  ge- 
wählt "Würden:  nur  das  Vorhandensein  äusserster  Noth  oder  einer  sonstigen 
Zwangslage  könnte  sie  hiezu  bestimmen.  Es  liegt  also  gegebenen  Falles 
eine  Collision  zwischen  dem  Bestreben  nach  Verwirklichung  der  obigen 
Zwecke  und  dem  Wunsche  vor,  einen  möglichst  hohen  Kaufpreis  zu  er- 
zielen. Wird  dem  ersteren  Rechnung  getragen,  so  muss  die  Erfüllung  des 
letzteren  beiseite  gelassen  werden  und  umgekehrt.  Diese  Sachlage  tritt  un- 
zähligemale,  ja.  es  kann  fast  behauptet  werden,  in  der  Regel  beim  Verkaufe 
von  Concursobjecten  zutage;  sonderbarerw^eise  wird  dann  meist  auf  die  Er- 
zielung eines  möglicherw^eise  höheren  Kaufpreises,  also  einer  höheren  An- 
theilsquote,  Verzicht  geleistet.  Dies  hängt  einerseits  unter  anderem  mit 
gesetzlichen  Bestimmungen,  welche  die  möglichste  Beschleunigung  des 
Verfahrens  vorschreiben,  andererseits  aber  auch  damit  zusammen,  dass  die 
Erreichung  eines  höheren  Kaufpreises  in  späterer,  geeigneter  Zeit  zwar 
wahrscheinlich,  aber  nicht  absolut  sicher  ist,  so  dass  man  vielfach  den 
dem  Abwarten  widerstrebenden  Zwecken  mehr  Bedeutung  beilegt,  als  den 
Vortheilen,  welche  dieses  voraussichtlich  bringen  würde. 

Auch  in  dieser  Thatsache  mag  ein  guter  Theil  jenes  Wertunterschiedes 
seine  Erklärung  finden,  welcher  zwischen  dem  ursprünglich  inventarisierten 
und  dem  thatsächlich  realisierten  Werte  fast  regelmässig  zutage  tritt. 

Wie  könnte  nun  in  dieser  Richtung  abgeholfen,  wie  dieser  Schädigungs- 
ursache der  Boden  entzogen  werden?  Da  nicht  nur  das  Interesse  der 
Gläubiger  für  die  Volkswirtschaft  in  Frage  kommt,  sondern  es  für  dieselbe 
auch    wichtig    ist,    dass    für    den  Gemeinschuldner   vermeidlicher  Schaden 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d  Volkswirtschaft.      459 

möglichst  vermieden  werde,  so  dass  sein  ökonomisches  Wiederaufleben 
nicht  allzusehr  erschwert  sei;  da  es  endlich  dem  Interesse  der  Gesammtheit 
nicht  immer  entsprechen  dürfte,  wenn  einzelne  Personen  zum  Nachtheile 
anderer  erhebliche  Conjuncturalgewinne  machen  (hier  die  Ersteher  der  ver- 
steigerten Vermögensstücke),  ist  es  Sache  des  Staates,  der  Gesetzgebung 
und  der  Executivorgane,  einzugreifen.  Da  nun  aber  die  thatsächlichen  Ver- 
hältnisse zu  vielgestaltig  sind,  um  eine  allgemein  bindende  ßegel  zuzulassen, 
bleibt  auch  hier  kaum  ein  anderer  Weg  offen,  als  der,  dem  Richter 
(Concurscommissär)  erweiterten  Einfluss  auf  den  Gang  und  insbesondere  die 
zeitliche  Anordnung  der  Feilbietungsacte,  hauptsächlich  aber  auch  den 
Beschlüssen  der  Gläubigerversammlung  oder  des  Gläubigerauschusses,  über- 
haupt desjenigen  Organes.  das  in  erster  Reihe  competent  ist,  gegenüber 
ein  gewisses  Vetorecht  einzuräumen;  selbstverständlich  wird  der  Richter 
vielfach  genöthigt  sein,  sich  bei  unparteiischen  Sachverständigen  Raths  zu 
erholen. 

Da  wir  bereits  im  vorigen  Capitel  Beispiele  von  hier  einschlägigen 
Fällen  gegeben  haben,  können  wir  uns  nun  damit  begnügen,  auf  Grund 
des  Gesagten  unser  drittes  Postulat  zu  formulieren;  dasselbe  wird  lauten:  Bei 
Feststellung  des  Zeitpunktes  für  die  Feilbietung  der  Concursgegenstände 
hat  mehr  als  bisher  auf  die  Erzielung  entsprechender  Erlöse  geachtet, 
daher  so  weit  möglich  der  geeignete  Zeitpunkt  hiefür  gewählt  und  wenn 
nöthig.  durch  den  Richter  bestimmt  zu  werden.  —  Selbstverständlich  ist 
hiebei  immer  w^ohl  zu  erwägen,  ob  die  Vortheile  der  Verzögerung  nicht 
durch  deren  mögliche  Nachtheile  aufgewogen  werden  und  ob  thatsächlich 
erhebliche  Vortheile  und  mit  einer  gewissen  Sicherheit  erwartet  werden 
können;  es  darf  eben  nie  vergessen  werden,  dass  es  sich  schliesslich  um 
eine  Interessencollision  handelt  und  dass  das  kleinere  unter  zwei  üebeln 
zu  wählen  ist.  An  anderer  Stelle  werden  wir  übrigens  Gelegenheit  haben, 
zu  untersuchen,  ob  es  nicht  doch  vielleicht  Mittel  gibt,  um  üble  Folgen 
der  Verzögerung  wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Punkte  überhaupt  zu 
beseitigen. 

§.  3.  Schädigung  infolge  der  Dauer  des  Concursverfahrens. 

Wir  nehmen  die  im  I.  Capitel  besprochenen  und  hieher  gehörigen 
zwei  Schadensursachen  in  gemeinsame  Betrachtung.  Die  Statistik  bietet 
uns  hiebei  eine  Reihe  wertvoller  Anhaltspunkte,  wenn  sie  es  auch  nicht 
vermag,  die  Grösse  des  Schadens  selbst  zu  beziffern.  Sie  weist  uns  aber 
für  eine  Reihe  von  Staaten  die  Dauer  der  Concursverfahren  nach  und  gibt 
uns  hiemit  die  eine  Prämisse  für  unsere  Schlussfolgerungen;  wenn  wir 
diese  Dauer  mit  der  Grösse  derjenigen  Activen.  welche  zu  Beginn  des 
Concurses  geschätzt  worden  waren  oder  zu  jenen,  welche  schliesslich  zur 
Vertheilung  gelangten,  zusammenhalten  und  berücksichtigen,  dass  ein  grosser 
Theil  der  Concursactiven  die  ganze  Zeit  hindurch  brach  lag,  so  wird  es 
uns    nicht    schwer   sein,    den  Verlust    an  Productivkraft   und   Pioductwert, 

'60* 


460  Schullern. 

den  die  Volkswirtschaft  erlitten  hat,  wenn  auch  nicht  ziffermässig  fest- 
zustellen, so  doch  in  seiner  Bedeutung  zu  schätzen.  Wenn  z.  B.  in  Schott- 
land die  Activen  nach  ihrer  endgiltigen  Realisierung  im  Jahre  1888  den 
Betrag  von  529.106  Pfund  Sterling  darstellten,  wenn  von  den  in  diesem 
Jahre  durch  Schlussvertheilung  oder  Entlastung  erledigten  292  Concursen 
(es  sind  dies  69-52%  <iei'  Gesammtzahl  der  Fallimente),  123  mehr  als  1 
und  weniger  als  2  Jahre,  56  bis  zu  3  und  39  mehr  als  ö  Jahre  zu  ihrer 
Austragung  benöthigten:  wenn  in  Oesterreich  bei  den  im  Jahre  1886  be- 
endeten Concursen  inventierte  Activen  im  Betrage  von  16,708.646  fl.  er- 
scheinen, (hievon  wären  allerdings  die  Kosten  des  Concursverfahrens  mit 
817.043  fl.  in  Abzug  zu  bringen^)  und  mit  Bezug  auf  dasselbe  Jahr  die 
Dauer  für  54'617o  der  Concurse  mit  weniger  als  1  und  17*50%  niit  mehr 
als  2  Jahren  veranschlagt  wurde;  wenn  in  Frankreich  im  Jahre  1887  die 
Concursactiven  mit  75,635.496  Francs  beziffert  und  die  Dauer  der  Concurse 
zu  nur  48*337o  n^it  weniger  als  1  Jahre,  zu  31*67^,  ^  aber  mit  mehr  als 
2  Jahren  und  darunter  zu  9-737o  ™i^  mehr  als  5  Jahren  beziffert  wurden: 2) 
so  kann  man  sich  aus  diesen  und  analogen  Daten  ein  annäherndes  Bild 
von  der  Bedeutung  der  während  der  Dauer  der  Concurse  brachliegenden 
Güterbestände  machen:  dass  damit  ein  erheblicher  Kachtheil  für  die  Volks- 
wirtschaft, daneben  aber  auch  für  die  Privatwirtschaften  von  Gläubigern 
und  Schuldnern  gegeben  ist^)  und  dass  eine  Reduction  der  Verhandlungs- 
dauer  aus  dieser  Erwägung  im  höchsten  Grade  wünschenswert  erscheint, 
liegt  wohl  auf  der  Hand.  In  mancher  Richtung  kann  nun  eine  solche  Be- 
schleunigung durchgeführt  werden:  dieselbe  darf  aber  nicht  auf  Kosten  der 
Genauigkeit  in  der  Ermittelung  von  Forderungen  und  Schulden  und,  wie 
wir  oben  gesehen  haben,  auch  nicht  so  erreicht  werden,  dass  eine  Ver- 
schleuderung der  Concursgüter  nothwendig  würde. 

Da  bei  dem  heutigen  Stande  der  Gesetzgebung  eine  übermässige 
Verzögerung  der  Concurse  vielleicht  weniger  wahrscheinlich  ist,  als  eine 
üeberhastung  ihrer  Durchführung,  muss  die  Frage  erledigt  werden,  ob  nicht 
Mittel  und  Wege  gefunden  werden  könnten,  um  dem  Brachliegen  von 
Vermögensbestandtheilen  während  der  unvermeidlichen  Dauer  des  Concurs- 
verfahrens und  damit  einer  erheblichen  Schädigung  der  Volkswirtschaft, 
der  Gläubiger  und  Schuldner  vorzubeugen.  Auch  hier  wird  wieder  das 
richterliche  Ermessen  einen  erheblichen  Spielraum  erhalten  müssen.  Wir 
haben  bereits  im  vorigen  Capitel  die  Frage  über  den  Wert  der  Sequestration 
aufgeworfen  und  dürfen  jetzt  unter  Berufung  auf  das  dort  Gesagte  wohl 
unsere  Meinung  dahin  aussprechen,  dass  es  unter  bestimmten  Umständen 
räthlich    sein    dürfte,    das  Geschäft    des  Gemeinschuldners,  welcher  Art  e? 


^)  Die  Kosten  der  durch  Vertheilung  beendeten  Concurse  betrugen  damals 
611.952  fl. 

2j  WirminghausS.  26  ff.;  34,  37,  168  f.;  hiezu  sind  aber  die  erläuternden 
Bemerkungen  wohl  zu  beachten,  damit  der  Wert  der  obigen  Ziffern  und  deren  Com- 
parabilität  nicht  irrig  veranschlagt  werde. 

•■'j  Wirminghaus  a.  0.  0.  S.  2,  170. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      461 

auch  sei,  durch  eine  unparteiische  und  verlässliche  Person,  wenn  irgend 
möglich  durch  ihn  selbst  in  möglichst  wirtschaftlicher  Weise  fortführen 
zu  lassen,  bis  die  in  complementärem  Zusammenhange  stehenden  Güter 
in  dieser  Verbindung  und  die  anderen  abgetrennt  in  vortheilhafter  Weise 
veräussert  werden  können.  Dies  kann  natürlich  nur  dann  geschehen,  wenn 
das  Geschäft  an  sich  lebensfähig  war  und  wenn  sich  eine  für  die  Führung 
desselben  geeignete  Person,  welche  sich  mit  einem  billigen  ortsüblichen 
Gehalte  begnügt,  vorfindet,  respective  wenn  der  Concursant  selbst  die  volle 
Eignung  und  Vertrauenswürdigkeit  besitzt.  Aus  den  Erträgen  des  Ge- 
schäftes, dem  Geschäftsgewinne,  würde  zunächst  dem  Geschäftsführer 
(eventuell  dem  Concursanten)  der  Gehalt  gezahlt,  die  Kestbeträge  aber  in 
entsprechender  Proportion  an  die  Gläubiger  gleichsam  als  Zinsen  von  ihren 
Forderungen,  unter  Umständen  auch,  wenigstens  zum  Theile,  auf  Kech- 
nung  der  Forderungen  selbst,  ausbezahlt;  der  ganze  Vorgang  müsste  unter 
der  genauesten  und  ständigen  Beaufsichtigung  des  Gerichtes  statthaben. 
Der  Vorzug  dieser  Verfahrensart  wäre  der,  dass  das  Interesse  an  der  Be- 
schleunigung des  Verfahrens  nicht  mehr  andere  heilsame  Maassregeln 
hintanhalten  würde,  so  den  Verkauf  von  Gütercomplementaritäten  in  ihrer 
Gesammtheit,  das  AbAvarten  günstiger  Conjuncturen  für  den  Verkauf;  dass 
—  und  hierin  liegen  die  Gründe  für  die  erstaufgefühite  Wirkung  —  der 
ganze  Activstock  beständig  productiv  und  im  volkswirtschaftlichen  Interesse 
thätig  bliebe,  da  ja  jeder  Erlös  der  einzeln  verkauften  Stücke  sofort  zur 
Vertheilung  gelangen  könnte  und  die  complementäre  Gütermasse  im  Zu- 
stande productiver  Thätigkeit  an  den  Käufer  übergienge,  der  erlöste  Preis 
aber  auch  sofort  vertheilt  würde;  dass  der  Schuldner,  wenn  anders  er  einer 
Rücksicht  und  des  Mitgefühls  wert  ist,  seinen  Lebensunterhalt  und  seine 
gewohnte  Thätigkeit  beibehielte  und  er  schon  dadurch  vor  socialem  Ver- 
falle bewahrt  und  in  der  öffentlichen  Meinung  rehabilitiert  würde,  dass  er 
einen  Vertrauensposten  zu  führen  in  der  Lage  ist;  endlich,  dass  der 
Gläubiger  auch  während  der  Dauer  des  Verfahrens  wenigstens  eine  Art 
Zinsenbezug  hätte. 

Wenn  allerdings  die  Verhältnisse  nicht  geeignet  erscheinen,  in  der 
oben  beschriebenen  Weise  vorzugehen,  so  würde  nichts  erübrigen,  als  die 
beiden  Ansprüche  auf  Beschleunigung  des  Verfahrens  und  auf  möglichst 
vortheilhafte  Realisierung  des  Concursvermögens,  so  gut  dies  geht,  je  nach 
Lage  der  Umstände  in  Einklang  zu  bringen,  eventuell  den  weniger  wichtigen 
hintanzusetzen. 


^)  Es  sei  hier  auf  das  Institut  der  Moratorien  hingewiesen,  welches  gleichfalls  eine 
Verzögerung  in  der  Befriedigung  der  Gläubiger  mit  sich  bringt.  S.  hiezu  das  italienische 
Gesetz  Art.  819 — 829.  Näher  hierauf  einzugehen,  liegt  nicht  in  unserer  Absicht.  Siehe 
übrigens  auch  Knies:  Geld  und  Credit.  L.  228  if.  Auch  die  verschiedenen  Formen  des 
Ausgleichs  kämen  unter  dem  Gesichtspunkte  hier  zu  erörtern,  dass  sie  eine  erhebliche 
Beschleunigung  in  Erledigung  des  Concursverfahrens  mit  sich  bringen;  diesem  Vortheile 
gegenüber  könnten  nun  aber  auch  zahlreiche  üble  Wirkungen  hervorgehoben  werden. 
Unsere  Aufgabe  aber  berührt  dieses  Thema  nicht.  S.  Bankruptcy  Act  CCXXII. 


462 


Scliullern. 


Das  vierte  Postulat,  welches  wir  aufzustellen  haben,  tragt  also  einen 
wesentlich  hypothetischen  Charakter  an  sich,  es  lässt  sich  dahin  formu- 
lieren, dass  das  gesammte  Concursvermögen  während  der  Dauer  des  Concurs- 
verfahrens,  wo  möglich,  bis  zur  Veräusserung  in  productiver  Thätigkeit  zu 
halten  und  hieran  der  Schuldner  gleichsam  als  Bediensteter,  die  Gläubiger 
älmlich  wie  Dividendenberechtigte  zu  betheiligen  seien. 

Man  könnte  die  Frage  auf^erfen,  ob  eine  Maassnahme  der  oben  be- 
zeichneten Art  nicht  einerseits  den  Credit  schädige,  andererseits  die  Gefahr 
eines  Gewinnentganges  für  den  Gläubiger  vermehre.  AVas  den  ersten  Tlieil 
der  Frage  angeht,  so  mag  vorerst  aus  der  so  erhöhten  Gefahr  für  den 
Gläubiger,  in  Fällen  der  Zahlungseinstellung  seines  Schuldners  erst  nacli 
längerer  Zeit  seine  Quote  zu  erhalten,  allerdings  eine  Einschränkung  in  der 
Neigung  zu  creditieren  entstehen;  andererseits  würde  nun  aber  durch  die 
auf  Erfahrung  gegründete  Hoffnung,  dass  die  Tangenten  der  Gläubiger  in 
der  Eegel  grösser  sein  werden,  als  bisher,  der  Credit  neuen  Impuls  erhalten 
und  es  würde  das  Resultat  der  ganzen  Bewegung  vielleicht  das  sein,  dass 
wenig  vertrauenswürdige  Personen  schwerer  Credit  finden,  als  bisher,  solche 
aber,  denen  ein  leicht  aufzufindendes  und  realisierbares  Vermögen  zur  Seite 
steht,  ihn  leichter  erlangen;  vielleicht  würde  dadurch  geradezu  daran  mit- 
gearbeitet werden  die  Creditverhältnisse  gesunden  zu  machen.  Wir  haben 
uns  übrigens  im  Eahmen  unserer  Untersuchungen  nicht  weiter  auf  diese 
Frage  einzulassen;  es  genügten  diese  wenigen  Andeutungen,  um  wenigstens 
die  schwersten  Bedenken  zu  entkräften. 

Was  endlich  die  das  Lucrum  cessans  betreffende  Frage  angeht,  so 
ist  zu  constatieren ,  dass  dieselbe  zunächst  mit  wesentlich  juristischen 
Principien  zusammenhängt.  Auch  die  VolksAvirtschaft  ist  aber  daran'  inter- 
essiert, dass  Jeder  dasjenige  erhalte,  was  ihm  gebürt;  auch  ein  entgangener 
Gewinn  muss  also  bei  Berechnung  der  Gläubigerforderung,  und  zwar  nicht 
nur  vom  rechtlichen,  sondern  auch  vom  volkswirtschaftlichen  Standpunkte 
berücksichtiget  werden;  hiezu  gehört  nun  natürlich  auch  ein  solcher 
Gewinnentgang,  welcher  nur  die  Folge  einer  durch  die  oben  gebrachten 
Erwägungen  veranlassten  Verzögerung  in  der  Vertheilung  der  Concurs- 
tangenten  wäre.  Damit,  durch  den  Bezug  der  Ertragsüberschüsse  des  Ge- 
schäftes und  durch  die  voraussichtliche  Erhöhung  der  Tangenten  würde 
dem  Interesse  des  Gläubigers  zwar  vielleicht  nicht  im  vollen  Umfange, 
aber  doch  wenigstens  zum  Theile  entsprochen.  Bei  dem  heutigen  ent- 
wickelten Creditverkehre  dürfte  übrigens  der  Fall  nicht  oft  eintreten,  dass 
der  Gläubiger  nur  deswegen,  weil  er  seine  Tangente  etwas  später  erhält, 
ein  sich  ihm  darbietendes  gewinnreiches  Geschäft  unterlassen  müsste.^) 

Bei  kleinen  Concursen,  bei  welchen  Leute  mit  sehr  geringem  Ver- 
mögen   als    Gläubiger   auftreten,    wird    unser   Fall    am    häufigsten    actuell 

1)  Mataja  S.  153.  Auch  beziehen  wir  uns  auf  das  im  vorigen  Capitel  hierüber 
Gesagte.  —  Auch  das  summarische  Concursverfahren  des  britischen  Gesetzes  wirkt  gegen 
die  eben  besprochene  Schädigungsursache,  weil  es  die  Dauer  der  Procedur  verkürzt;  die 
bereits  citierten  Artikel  der  verschiedenen  Gesetze  sind  gleichfalls  im  Auge  zu  behalten. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger- Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      463 

werden:  gerade  in  solchen  Fällen  aber  dürfte  eine  erhebliche  Verlängerung 
des  Verfahrens  infolge  der  Tendenz,  das  Vermögen  vortheilhaft  zu 
realisieren,  mit  Kücksicht  auf  dessen  Zusammensetzung  kaum  zu  ge- 
wärtigen sein. 

§.  4.  Schädigung  durch  die  Kosten  des  Concursverfahrens. 

Wir  haben  bereits  an  anderer  Stelle  alle  jene  Momente  hervorgehoben, 
welche  für  die  volkswirtschaftliche  Beurtheilung  der  Concurskosten  in  Be- 
tracht kommen.  Wir  werden  uns  daher  hier  sehr  kurz  fassen  können  und 
zunächst  beispielsweise  einige  statistische  Daten,  welche  die  Wichtigkeit 
unseres  Problems  beleuchten  sollen,  mittheilen. 

Tm  Jahre  1886  entfielen  in  Oesterreich  auf  je  100  fl.,  welche  aus 
dem  Massavermögen  unter  die  Concursgläubiger  vertheilt  worden  sind,  40  fl. 
(im  Jahre  1884:  40  fl.  und  1885:  43  fl.)  auf  die  Kosten  des  Verfahrens 
(darunter  in  Tirol  Hfl.  und  in  Niederösterreich  102  fl.).^)  Für  England 
gibt  Wirminghaus^)  folgende  Tabelle    (für  unsere  Bedürfnisse  reduciert): 

Kosten  "/o  der  Activa  bei  Concursen  beendet  durch 
Acliva  in  Pf.  St.  Trustees  1881- S3  Off.  receivers  Trustees  1887—89 

50  —     100  74-61  46-44  81-27 


100  —  150 

7093 

36-72 

62-17 

150  -  200 

64-85 

3145 

53-29 

1000  —  1200 

33-53 

17-60 

2G37 

2000  —  3000 

26-52 

1020 

20-13 

Aus  diesen  Daten  ergibt  sich  dreierlei,  und  zwar:  1.  die  ausser- 
ordentliche Bedeutung  der  Concurskosten,  2.  die  Thatsache,  dass  dieselben 
umso  schwerer  ins  Gewicht  fallen,  je  geringfilgiger  der  Activstand  des 
Gemeinschuldners  ist,  3.  endlich,  dass  die  Kosten  erheblich  reductionsfähig 
sind  (dies  erweist  ein  Vergleich  zwischen  den  Kosten  der  Verwaltung  durch 
Off.  Receivers  und  durch  Trustees);  dass  die  Volkswirtschaft,  dass 
Gläubiger  und  Schuldner  an  der  Reduction  dieser  Kosten  und  somit  an  der 
Vereinfachung  des  Verfahrens  im  höchsten  Grade  interessiert  sind,  liegt 
bei  dieser  Sachlage  und  mit  Rücksicht  auf  das  an  anderer  Stelle  Gesagte 
auf  der  Hand;  die  Berechtigung  dieses  Bestrebens  findet  erst  dort  seine 
Grenze,  wo  eine  weitere  Kostenverminderung  zum  Nachtheile  der  Richtigkeit 
des  Verfahrens  und  zur  Verringerung  des  Erlöses  ausschlagen  würde,  streng 
genommen,  in  letzterer  Richtung  sogar  erst  dort,  wo  die  Verringerung  des 
Erlöses  so  bedeutend  wäre,  dass  sie  den  Betrag  der  Kostenreduction  voll- 
ständig aufwiegen  würde.  Wenn  durch  eine  neuerliche  Ausschreibung  der 
Feilbietung  in  öffentlichen  Blättern,  welche  100  Mark  kosten  würde,  ein 
Mehrerlös  von  nur   100  Mark  zu   erwarten  w^äre,  so  wird  es  räthlich  sein. 


^)  Wir  sprechen  hier  nur  von  durch  Vertheilung  beendeten  Concursen.  S.  Oesterr. 
Statistik,  Wien,  Gerold  1888,  1889,  XIX.  2.  XXIV.  2.  (Auf  je  100  fl.  der  Activen 
überhaupt  entfielen  1884:  8  fl.,  1885:  12  fl.,  1886:  10.  fl.  an  Kosten.) 

2)  S.  S.  24. 


464  SchuUcrn. 

diese  Kostenerhöliung  zu  unterlassen;  dasselbe  gilt,  wenn  bei  Verlängerung 
einer  Sequestration  um  ein  halbes  Jahr  eine  Kostenerhöhung  von  etwa 
1000  fl.  entstünde  und  der  Verkauf  nach  Ablauf  dieses  halben  Jahres 
einen  Mehrerlös  von  nur  1000  fl.  in  Aussicht  stellte. 

Was  gibt  es  nun  für  Mittel,  um  die  Kosten  zu  reducieren? 

Ein  erstes  Mittel  wäre  die  Beseitigung  der  Gebürenpflicht  im  eigent- 
lichen Concursverfahren  dem  Staate  gegenüber,  so  dass  also  alle  darauf 
bezüglichen  Acte  und  Eingaben  stempelfrei  wären;  eine  derartige  Maassregel 
würde  sich  wohl  dadurch  vollkommen  rechtfertigen,  dass  ja  im  Concurse 
kein  Theil  Vortheile  anstrebt,  sondern  nur  darnach  getrachtet  wird,  drohende 
Nachtheile  möglichst  zu  verringern.^)  Eine  weitere  Maassregel,  welche 
wenigstens  indirect  wirksam  werden  könnte,  läge  darin,  dass  vielleicht  ein 
Procentsatz,  etwa  der  inventarisierten  Activen  als  Maximalbetrag  der  Ver- 
handlungs-  insbesondere  aber  der  Verwaltungskosten  festgestellt  werde; 
freilich  müsste  eine  derartige  Maassregel  so  gestaltet  sein,  dass  die  Möglichkeit 
offen  bliebe,  je  nach  Lage  der  Verhältnisse  diesen  percentuellen  Maximalsatz 
zu  reducieren,  in  besonders  berücksichtigungswerten  Fällen  aber  auch  zu 
erhöhen.-) 

Abgesehen  von  diesen  Maassnahmen  ist  es  dem  oben  ausgesprochenen 
Principe  zufolge  Sache  des  praktischen  Juristen  und  der  Gesetzgebung  alle 
jene  kostenbegründenden  Momente  aus  dem  Concursverfahren  zu  tilgen, 
welche  unnothwendig,  das  heisst  für  den  Erfolg  des  Verfahrens  nicht  ent- 
scheidend sind. 

Wir  haben  nun  aber  oben  gesehen,  dass  gerade  bei  kleinen  Concursen 
die  Kosten  den  höchsten  Procentsatz  aufweisen;  an  solchen  sind  nun  auch 
als  Gläubiger  häufig  Leute  von  nur  geringem  Vermögen  interessiert  und 
andererseits  ist  die  Verwaltung  und  insbesondere  die  Kealisierung  des 
Massavermögens  in  solchen  Fällen  meist  einfach  und  rasch  zu  vollziehen. 
Leiden  nun  diese  kleinen  Leute  durch  die  Kosten  schon  percentuell  mehr  als 
die  grossen  Gläubiger  bei  grossen  Concursen,  so  ist  ihr  Schaden  deswegen 
noch  höher  zu  veranschlagen,  weil  infolge  ihrer  allgemeinen  ökonomischen 
Lage  sie  jeder  Verlust  empfindlicher  trifft,  als  ein  percentuell  gleich  grosser 
einen  wohlhabenderen  treffen  würde.  Wenn  einem  solchen  Gläubiger  807o 
seiner  Forderung  um  der  Kosten  willen  verloren  gehen,  dem  reichen 
Gläubiger  in  einem  anderen  Concurse  dagegen  nur  20^y,  so  leidet  der  erstere 
darunter  nicht  nur  viermal,  sondern  vielleicht  zehnmal  so  sehr  daran. 

Daneben  sind  dem  oben  Gesagten  zufolge  gewisse  Kostenaufwände, 
welche  bei  grossen  Concursen  vielleicht  notliwendig  erscheinen,  so  z.  B.  die 
mit  Aufstellung  eines  rechtsgelehrten  Massaverwalters  verbundenen,  in 
kleinen  und  meist  einfachen  Fällen  überflüssig. 


^)  S.  hiezu  das  östen-eichische  Gebürengesetz  vom  9.  Februar  1850,  T.  P.  103 
und  daneben  das  Gerichtskostengesetz  für  das  Deutsche  Reich  vom  18.  Juni  1878;  S. 
Endemann  S.  646  ff.,  Bankr.  Act  CXXII  4. 

2)  Bankr.  Act  CXXII.  8. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Voikswirtschaft.       465 

Dass  diesen  Umständen  Keclinung  getragen  werde,  ergibt  sich  schon 
deswegen  als  nothwendig,  weil  die  Volkswirtschaft  gerade  daran  ein  ausser- 
ordentliches Interesse  hat,  dass  der  Stand  der  Bedürfnisbefriedigung,  bei 
den  ärmeren  Volksclassen  nicht  noch  tiefer  sinke.  Daraus  ergibt  sich  das 
Postulat,  dass  die  Formalitäten  und  damit  die  Kosten  des  Verfahrens  und 
der  Verwaltung  überhaupt  unbeschadet  der  Genauigkeit  und  pflichtmässigen 
Vorsorglichkeit  bei  Durchführung  der  Concursverhandlung  möglichst  reduciert 
und  insbesondere  bei  Concursen  mit  niedrigem  Activstande  alle  zulässigen 
Vereinfachungen  durchgeführt  werden. 

Als  Beweis  dafür,  dass  derartige  Vereinfachungen  durchführbar  sind, 
diene  die  neue  englische  Gesetzgebung,  welche  trotzdem  eine  erhebliche 
Besserung  in  den  Ergebnissen  der  Concurse  zutage  gefördert  hat.^) 

.  Das  englische  Gesetz  kennt  für  Concurse  mit  einem  Activstande  von 
wenig-er  als  300  Pfund  Sterling  ein  summarisches  Verfahren  und  in  Fällen, 
in  welchen  der  Gesammtschuldenstand  eines  Zahlungsunfähigen  50  Pfund 
Sterling  nicht  übersteigt,  einen  ganz  eigenthümlichen  Vorgan^^  welcher  hier 
nicht  näher  zu  erörtern  ist,  und  der  uns  nur  deswegen  interessiert,  weil  er 
für  die  klare  Erkenntnis  jener  Sachlage  auf  Seite  der  englischen  Gesetz- 
gebung zeugt,  welche  wir  eben  erörtert  haben. 

Insbesondere  ist  der  Umstand  wichtig,  dass  in  England  eine  ganze 
Anzahl  von  Concursen,  hauptsächlich  aber  die  summarischen  (Bankr.  Act 
CXXI.  1.),  nicht  von  den  Tiustees  (Massaver waltern),  sondern  von  den 
staatlichen  Aufsichtsorganen  über  Concursangelegenheiten,  den  Official 
Receivers  selbst  durchgeführt  werden;  hieraus  allein  fjchon  entspringt  eine 
ungemein  fühlbare  Erniedrigung  der  Concurskosten. 

Wir  schliessen  hiemit  auch  diese  Betrachtung.^) 

§.  5.  Die  Vertheilung  der  Concursmassa  und  die  darin  gelegenen 

Schädigungsursachen. 

A.  Vorrechte  im  Concurse. 

In  dieser  Richtung  enthält  schon  §.  3  des  I.  Capitels  das  Wesentliche, 
so  dass  wir  nur  in  Betreff  der  Stellung  von  Faustpfändern  einige  Momente 
noch  hervorzuheben  beabsichtigen. 

Das  Hauptbedenken  gegen  die  Zulassung  des  Absonderungsrechtes  zu 
Gunsten  der  Faustpfandgläubiger  liegt  in  der  häufig  mangelnden  Notorietät 
des  Bestandes  solcher  Rechte^^Das  italienische  Gesetz  hat  in  den  bereits  citierten 
Artikeln  454  und  456  des  Codice  di  Commercio  diese  Bedenken  dadurch 
behoben,  dass  es  den  Fortbestand  des  Faustpfandrechtes  von  der  Fortdauer 
der  Verfügungsgewalt  des  Gläubigers  oder  eines  von  beiden  'Theilen  ge- 
wählten Dritten  über  das  Pfandgut  abhängig  macht;  in  gewissem  Maasse  auch 

\)  Wirminghaus  S.  23. 

-)  Die  ferneren  Wirkungen  der  Kealisierung  des  Concursvermügens  lassen  wir  hier 
ganz  ausser  Betracht,  kommen  daher  auch  auf  das  nicht  zurück,  was  wir  im  ersten 
Capitel  hierüber  angedeutet  haben. 


^- 


4()6  Schullern. 

noch  dadurch,  dass  es  für  bestimmte  Pfandrechte  (und  zwar  nach  Maass- 
gabe der  Höhe  der  Forderung)  die  schriftliche  Bestellung  als  Bedingung 
für  ihre  Giltigkeit  festsetzt. 

Neben  diesen  Maassnahmen,  deren  Bedeutung  auf  der  Hand  liegt, 
könnten  nun  aber  auch  noch  andere  in  ähnlichem  Sinne  wirksam  sein,  so 
z.  B.  eine  Bestimmung,  wonach  der  Bestand  eines  Faustpfandes  in  den 
Geschäftsbüchern  des  schuldenden  Kaufmannes  oder  der  schuldenden 
Handelsgesellschaft  verzeichnet  zu  werden  hätte.  Alles  was  irgend  die 
Notorietät  eines  solchen  juristischen  Verhältnisses  fördert,  wirkt  an  der 
Beseitigung  jenes  Conflictes  mit,  der  zwischen  den  Anforderungen  der 
Volkwirtschaft  und  der  Gerechtigkeit  unter  Umständen  zutage  treten  kann.^) 
Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich  folgendes  Postulat:  es  ist  möglichst  Sorge 
zu  tragen,  dass  der  Bestand  von  Faustpfandrechten  am  Vermögen  des 
Creditnehmers  dem  Creditgeber  erkennbar  sei,  damit  ihn  nicht  aus  der 
Berücksichtigung  ihm  ohne  A^erschulden  unbekannter  Mobiliarpfandrechte  im 
Theilungsverfahren  des  Concursvermögens  ein  unverdienter  Xachtheil  treffe.^) 

Indem  wir  auf  dasjenige  verweisen,  was  wir  im  I.  Capitel  über  die 
weitern  bevorrechteten  Forderungen,  insbesondere  über  jene  Arten  derselben, 
welchen  keine  Pfandrechte  zur  Seite  stehen,  ausgeführt  haben,  scheint  uns 
nur  noch  bemerkenswert,  dass  ein  Theil  dieser  Vorrechte  von  dem  Momente 
an  an  volkswirtschaftlicher  Bedeutung  verlieren  würde,  in  welchem  eine  volks- 
wirtschaftlich richtige  Vertheilungsart  des  dafür  erübrigten  Concursvermögens 
an  die  nicht  bevorrechteten  Forderungen  gefunden  wäre.  Anhaltspunkte  zur 
Erreichung  dieses  Zieles  zu  bieten,  ist  der  Zweck  der  folgenden  Ausführungen. 

B.    Die  Vertheilung    des    erübrigten    Concursvermögens    an    die 
Forderungen    ohne  Vorrecht. 

Die  theoretischen  Grundlagen  für  die  folgende,  kurze  Erörterung  haben 
wir  bereits  an  anderer  Stelle  geboten,  an  welcher  auch  das  theoretische 
Postulat  formuliert  worden  ist.  Für  uns  handelt  es  sich  nun  darum,  Anhalts- 
punkte für  eine  Schätzung  der  Wichtigkeit  unseres  Problemes  zu  bieten  und 
wenigstens  den  Weg  zu  bezeichnen,  auf  welchem  man  unseres  Erachtens 
dem  idealen  Ziele  näher  kommen  könnte.  Vorher  sei  noch  bemerkt,  dass 
die  Volkswirtschaft  nicht  daran  interessieii  ist,  dass  formelle  Gerechtigkeit 
geübt  werde,  wohl  aber  daran,  dass  materielle  Gerechtigkeit  herrsche  und 
diese  liegt  unseres  Erachtens  nur  dann  vor,  wenn  der  von  uns  aufgestellten 
volkswirtschaftlichen  Forderung  genüge  geschieht.^) 


^)  Wir  verweisen  hier,  ohne  übrigens  näher  darauf  eingehen  zu  wollen  auf  S.  115  ff. 
in  S.  V.  Stein's  Werk:  „Der  Wucher  und  sein  Recht«,  Wien,  Holder  1880.  Es  Avird 
damit  die  Frage  der  Berücksichtigung  der  Entstehungszeit  bei  kaufmännischen  Schulden 
angeregt,  die  uns  im  hohen  Grade  erwägenswert  scheint. 

2)  Wenn  das  Faustpfand  sich  gar  nicht  in  den  Händen  des  Schuldners  befindet, 
ist  ein  Irrthum  über  den  Vermögensstand  des  letzteren  um  des  Bestandes  jenes  Eeclites 
willen  ohnehin  fast  ausgeschlossen. 

s;  Mataja  S.  165. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger- Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.      467 

Die  Ansprüche  der  materiellen  Gerechtigkeit  und  der  Volkswirtschaft 
stimmen  überein;  jene  der  formellen  Grerechtigkeit  einerseits,  der  materiellen 
und  der  Volkswirtschaft  andererseits  können  in  Widerspruch  stehen. 

Die  Bedeutung  des  Problemes  ergibt  sich  nun  schon  aus  der  That- 
sache,  dass  bei  der  heute  üblichen  Art  der  Vertheilung  der  nun  einmal 
unvermeidliche  Schaden  unwirtschaftlich  repartiert  wird,  dass  also  die  Ver- 
theilung, wie  sie  überall  durchgeführt  wird,  von  vornherein  eine  irrige, 
daher  ungerechte  und  schädliche  ist.  Noch  mehr  aber  manifestiert  sich  jene 
Bedeutung,  wenn  man  bedenkt,  dass  gerade  die  ärmern  Volksclassen  am 
meisten  darunter  leiden.  Wenn  dann  aber  weiter  erwogen  wird,  dass  kleine 
Leute  vor  allem  bei  Concursen,  die  einen  geringen  Activstand  aufweisen, 
als  Gläubiger  betheiligt  sind  und  dass  z.  B.  in  Oesterreich  im  Jahre  1886 
23'42^;o  sämmtlicher  Concurse  einen  inventierten  Activstand  von  weniger 
als  1000  fl.  (bis  zu  1000  fl.)  aufwiesen  und  73-09^o  einen  solchen  bis  zu 
10.000  fl.,  während  nur  6*02%  der  Concurse  mehr  als  50.000  fl.  Activen 
hatten;^)  wenn  man  ferner  berücksichtiget,  dass  die  Dividenden  bei  nicht 
bevorrechteten  Forderungen,  z.  B.  in  Oesterreich  im  Jahre  1886  bei  717,, 
der  durch  Vertheilung  beendeten  Concurse  bis  zu  25^  ^  und  nur  in  10% 
der  Fälle  von  50'Vo  an  aufwärts  betrugen,  dass  endlich  im  Jahre  1880  in 
18'087o  sämmtlicher  Concurse  die  Beendigung  wegen  mangelnden  Ver- 
mögens erfolgen  musste,  so  liegt  die  Grösse  der  Verluste  bei  den  Con- 
cursen überhaupt  und  insbesondere  deren  ausserordentliche  Empflndlichkeit 
für  kleine  Gläubiger,  die  Wichtigkeit  des  Problemes  also,  eine  Ver- 
ringerung dieser  Verluste  zu  erzielen,  wohl  auf  der  Hand.^)  Wenn  d.uia 
neben  der  oben  nachgewiesenen  Erfahrungsthatsache,  dass  gerade  „unter- 
geordnete, wirtschaftliche  Existenzen  das  weitaus  grösste  Contingent  der 
Concursfälle  stellen"  auch  noch  jene  zutrifft,  dass  bei  kleinen  Fällen  die 
Deckungs Verhältnisse  ungünstiger  und  die  Verfahrenskosten  bedeutender  sind, 
als  bei  grossen,-')  so  bedarf  es  wohl  gewiss  keiner  weitern  Ausführungen 
mehr,  um  die  überragende  Wichtigkeit  unseres  Problems  darzuthun. 

Wie  aber  kann  diesen  Verhältnissen,  die  sich  für  die  kleinen  Leute 
so  ungünstig  gestaltet  haben,  abgeholfen  w^erden?  —  Wir  haben  gesagt, 
es  müsse  der  alle  Gläubiger  zusammen  treftende  Verlust  so  vertheilt  werden, 
dass  derselbe  jedem  einzelnen  nur  im  Verhältnis  der  Grösse  seiner  For- 
derung fühlbar  wird. 

Wenn  F,  F',  F"  .  .  .  die  ihrer  Grösse  nach  bekannten  Forderungen 
der  Gläubiger   bedeuten,    und    N,  N',  N",  ...  die  subjectiven  Nachtheile. 


^)  W  i  r  m  1  n  g  li  a  u  s  S.  35. 

2)  In  England  warfen  in  der  Periode  von  1870—82,  5489^0  der  eigentlichen  Con- 
curse gar  keine  Dividende  ab  und  nur  3-917.)  ^^^^^r  als  50  Vq,  in  der  Periode  1885—9 
blieben  von  den  durch  Trustees  verwalteten  Concursen  13-1 5'Vo  und  von  den  durch  Off, 
Pveceivers  verwalteten  40'34"/ö  ohne  Dividende,  von  den  erstem  ergaben  6-43o/o,  von  den 
letztem  2-007o  mehr  als  50'Vo  (von  SO^/o  aufwärts).  In  Frankreich  betrug  1887  die  Divi- 
dende in  96-02''  0  der  Fälle  nur  bis  zu  507o  der  Forderungen, 

3)  Wirminghaus  S.  21,  23, 


458  Schullern. 

das  heisst  die  Intensität  der  siibjectiven  Empfindung,  welche  für  jeden  jener 
objective  Verlust  erzeugt,  der  ihn  trifft  (treffen  muss),  so  hat  die  Vertheilung 
nach  der  Proportion  N :  F'  ^  N' :  F'  =  N'' :  F"  .  .  .  .  zu  geschehen.  Die  sub- 
jectiveu  Nach th eile  sind  durch  die  obige  Proportion  relativ  bestimmt.  Subjective 
und  objective  Nachtheile  sind  natürlich  nicht  identisch,  die  erstem  (die 
subjectiven  Nachiheile)  sind  vielmehr  Functionen  der  objectiven  Verluste 
und  der  gesammten,  ökonomischen  Lage  der  betreffenden  Gläubiger.  Das 
Verhältnis  zwischen  objectivem  und  subjectivem  Verluste  kann  als  ein 
gerades,  das  zwischen  dem  letztern  und  der  ökonomischen  Gesammtlage  des 
Schadenträgers  als  ein  umgekehrtes  bezeichnet  werden.  Da  nun  das  Problem 
dahin  geht,  einen  bekannten,  objectiven  Gesammtverlust  in  materiell  ge- 
rechter Weise  an  Gläubiger  aufzutheilen,  welche  wegen  ihrer  verschiedenen 
ökonomischen  Lage  ziffermässig  gleichen  objectiven  Verlusten  eine  ver- 
schiedene Empfindlichkeit  entgegenbringen,  so  handelt  es  sich  für  uns 
darum,  zu  constatieren,  welche  objectiven  Verluste  den  einzelnen  Gläubigern 
aufgebürdet  werden  müssen,  damit  die  daraus  für  jeden  resultierenden  sub- 
jectiven Xachtheile  der  gegebenen  Proportion  entsprechen. 

Mit  Rücksicht  auf  den  eben  erörterten  functionellen  Zusammenhang 
nun  muss,  damit  die  Lösung  gefunden  werden  könne,  zunächst  der  all- 
gemeine ökonomische  Zustand  der  einzelnen  Gläubiger  bestimmt  werden, 
der  uns  das  Verhältnis  im  Grade  ihrer  Empfindlichkeit  für  gleiche  objective 
(ziffermässige)  Verluste  erkennen  lassen  soll. 

Dieser  ergibt  sich  uns  mit  einer  für  unsere  Bedürfnisse  genügenden 
Genauigkeit  der  Hauptsache  nach  aus  dem  Betrage  der  Jahreseinkommen. 
Die  Bestimmung  derselben  bietet  nun  allerdings  grosse  technische  Schwierig- 
keit; die  Mittel  hiezu  werden  aber  doch  früher  oder  später  gefunden 
werden  müssen,  da  sonst  das  Problem  einer  einheitlichen,  insbesondere 
einer  progressiven  Einkommensteuer  nicht  gelöst  werden  könnte. 

Die  Lösung  unseres  Problemes  ist  also  praktisch  nicht  schwieriger, 
als  die  des  Problemes  einer  einheitlichen  (progressiven)  Einkommensteuer,  ja 
die  Daten,  welche  für  die  Auferlegung  der  letzteren  ermittelt  werden  würden, 
könnten  auch   bei  Vertheilungen  von  Concursmassen   herangezogen  werden. 

Damit  werden  wir  folgende  Momente  als  bekannte  Grössen  für  unsere 
Rechnung  gewonnen  haben,  u.  zw.:  Grösse  der  Activmasse  und  Passivmasse 
(hieraus  ergibt  sich  die  Grösse  des  zu  vertheilenden  objectiven  Verlustes, 
wenn  die  Absonderungs-,  Vorzugsrechte  und  die  Kosten  bereits  berücksichtiget 
sind),  die  Grösse  der  Forderungen  der  einzelnen  Gläubiger  (hiemit  das  eine 
Glied  unserer  Proportion  und  infolge  dessen  die  relative  Grösse  der  zu- 
theilbaren,  subjectiven  Nachtheile)  und  in  letzter  Reihe  den  Vermögensstand 
der  einzelnen  Gläubiger.  Als  Unbekannte  in  unserer  Rechnung  erübrigen 
dann  nur  noch  jene  objectiven  Verlustziffern,  deren  Summe  dem  objectiven 
Gesammtverluste  gleich  ist  und  die,  wie  gesagt,  den  Forderungsbeträgen 
proportionale  subjective  Verluste  constituieren  müssen.  Die  Technik  in  genauer 
Ermittelung  der  sämmtlichen  ausschlaggebenden  Daten,  die  Mathematik  in 
Verwendung  derselben  für  unseren  Zweck  haben  nun  die  exacte  Berechnung 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d  Volkswirtschaft.      4(39 

dieser  Unbekannten  zu  ermöglichen  und  zu  vereinfachen.  Auch  die  blosse 
Schätzung  kann  bei  genügender  Genauigkeit  und  Vorsicht  ein  entsprechendes 
Kesultat  ergeben. 

Die  richtige  Yertheilung  lässt  sich  also  als  Postulat  dahin  charakteri- 
sieren, dass  der  subjective  Xachtheil.  welcher  jeden  Gläubiger  in  ihrem 
Gefolge  zu  treifen  hat,  als  Function  des  objectiven  Verlustes  und  der  ge- 
sammten  ökonomischen  Lage  des  ersteren  (dieselbe  ist  wenigstens  beiläufig 
durch  den  Betrag  des  Jahreseinkommens,  freilich  unter  Berücksichtigung 
auch  der  Anzahl  der  Familienglieder  und  noch  anderer  Momente  zu  be- 
stimmen) der  Grösse  seiner  Forderung  proportional  zugetheilt  werden  muss. 
Es  wird  hiedurch  der  Proportionalität  der  objectiven  Verluste  jene  der 
subjectiven  substituiert. 

Damit  scheint  uns  auch  in  Betreff  dieser  Seite  des  Concursproblems 
vom  volkswirtschaftlichen  Standpunkte  aus,  u.  zw.  soweit  unsere  Aufgabe 
geht,  die  Möglichkeit  und  im  grossen  und  ganzen  die  Art  der  Lösung  an- 
gedeutet. 

Die  obigen  Ausführungen  gründen  sich  in  allem  Wesentlichen  auf  die 
von  K.  Menger  begründete  Wertlehre:  wenn  es  uns  gelungen  sein  sollte, 
damit  einen  neuerlichen  Beweis  für  ihre  volkswirtschaftliche  Be- 
deutung und  für  ihre  Wichtigkeit  bei  Lösung  von  Problemen  der  ange- 
wandten Nationalökonomie  erbracht  zu  haben,  würde  unser  Ziel  zum  guten 
Theile  erreicht  sein. 

S  c  h  1  u  s  s. 

Wenn  wir  kurz  auf  unsere  Betrachtung  zurückblicken,  so  finden  wir 
zwei  Momente  vor,  welche  gewissermaassen  die  Grundlagen  derselben  dar- 
stellen. Abgesehen  von  der  Vermögensschädigung,  welche  die  Gläubiger 
und  unter  Umständen,  ja  in  der  Regel  auch  die  Schuldner,  endlich  die 
Volkswirtschaft  durch  die  blosse  Thatsache  der  Zahlungsunfähigkeit,  resp. 
Ueberschuldung  eines  einzelnen  Wirtschaftssubjectes  erleiden,  bringen  die 
heutigen  gesetzlichen  Normen  für  die  Abwickelung  des  Concurs Verfahrens 
noch  eine  ganze  Reihe  von  Ursachen  weitereu  Schadens  mit  sich,  die  wohl 
vielfach  auf  die  rein  juristische  Betrachtungsweise  des  Problems  zurückzu- 
führen sind.  Durch  Einführung  des  volkswirtschaftlichen  Gesichtspunktes  in 
die  Ordnung  des  Verfahrens  ist  es  nun  möglich,  eine  Reihe  dieser  Schadens- 
ursachen in  ihrer  Wirksamkeit  zu  schwächen.  Wir  haben  versacht,  allerdings 
meist  nur  andeutungsweise,  für  die  allerwichtigsten  Fälle  jenen  Gesichts- 
punkt einzunehmen,  zu  zeigen,  wie  er  zur  Geltung  gebracht  werden  könnte 
und  die  Wirkung,  welche  unseres  Erachtens  zu  erwarten  stände,  zu  skizzieren. 

Wir  haben  hiebei  alle  weniger  wichtigen  Momente   ganz   beiseite    ge- 
lassen^), sind  uns  daher  bewusst,    dass  wir   das  Problem   nicht  vollständig 


'^j  An  anderer  Stelle  haben  wir  eine  Reihe  von  Schadensursachen  hervorgehoben, 
welche  wir  aus  diesem  oder  jenem  Grunde  nicht  in  den  Kreis  der  Untersuchung  ziehen 
wollten;  die  meisten  derselben  sind  entweder  nicht  dem  Concursverfahren  eigenthümlich, 
oder  haben  doch  nicht  eine  allgemeine,  umfassende  Bedeutung. 


470  Schullern. 

erschöpft  haben;  andererseits  haben  wir  aber  getrachtet,  den  von  uns  auf- 
gestellten Thesen  und  Postulaten  gegenüber  möglichst  das  Terrain  frei  zu 
machen,  indem  wir  aus  gegentheiligen  Interessen  entstehenden  Einwendungen 
die  Spitzen  abzubrechen  gesucht  haben. 

Hier  scheint  es  uns  nun  noch  am  Platze,  einige  Mittel  anzudeuten, 
welche  im  allgemeinen  mehr  oder  weniger  jeder  Schadensursache  entgegen- 
wirken könnten. 

Vor  allem  Anderen  handelt  es  sich  darum,  in  möglichst  weitgehendem 
Maasse  eine  ungesunde  Entwickelung  des  Creditwesens  zu  hemmen;  damit 
würde  dem  massenhaften  Ausbrechen  von  Concursen  überhaupt  vorgebeugt; 
in  dieser  Kichtung  scheinen  uns  Maassregeln  wünschenswert,  welche  eine 
gewisse  Notorietät  der  Vermögenszustände  herbeiführen  könnten  oder  doch 
ein  annähernd  richtiges  ürtheil  über  dieselben  erleichtern  würden.  Wir 
verweisen  in  dieser  Eichtung  nur  auf  den»  Art.  689  des  Codice  di  Commercio, 
welcher  die  Zusammenstellung  aller  Wechselproteste  in  Monatsverzeichnissen 
zum  Zwecke  der  allgemeinen  Einsichtnahme  verfügt." 

In  zweiter  Keihe  stünden  dann  Maassregeln,  welche  der  Verschleude- 
rung des  Concursvermögens  überhaupt  vorbeugen  würden.  Wir  haben  mit 
Bezug  auf  einzelne  Schädigungsursachen  bereits  an  anderir  Stelle  hierauf 
Bezug  genommen;  hier  wäre  von  einem  allgemeineren  Standpunkte  aus  nur 
noch  die  Frage  aufzuwerfen,  ob  eine  Bestimmung  Erfolg  verspräche,  wor- 
nach  eine  Veräusserung  von  Concursgegenständen  um  einen  Betrag,  der  unter 
einer  bestimmten  Quote  des  Schätzungswertes  stünde,  überhaupt  oder  doch 
für  einen  bestimmten  längeren  Zeitraum,  vom  Tage  der  ersten  Feilbietung  an 
gerechnet,  ausgeschlossen  wäre. 

Ein  weiteres  Mittel  endlich,  welches  uns  würdig  schiene,  in  Erwägung 
gezogen  zu  werden,  resp.  weite  Anwendung  zu  finden,  läge  in  einer  gegen- 
seitigen Versicherung  insbesondere  der  Kaufleute  gegen  die  Schäden,  welche 
sie  aus  Concursen  zu  befürchten  haben;  damit  wäre  eine  Art  Unfallversiche- 
rung (wir  verstehen  hier  das  Wort  im  weitesten  Sinne)  gegeben,  deren 
Technik  allerdings  vielleicht  ungewöhnlich  grosse  Schwierigkeiten  bieten 
würde.    Es   kann    nicht  unsere  Aufgabe    sein,    diesen    Gedanken  und    seine 

')  Wh'  dürfen  nicht  unterlassen,  einen  Vorschlag  Lorenz  v.  Stein' s  zu  erwähnen, 
demzufolge  in  Fällen  unverschuldeter  Zahlungsunfähigkeit  der  Gemeinschuldner  sein 
gesammtes  Vemiögen  gewissermaassen  von  sich  abstossen,  eine  Cessio  bonorum  vor- 
nehmen und  sich  dadurch  ohne  weiteres  von  all  jenen  Schulden  befreien  könnte,  welche 
durch  seine  bona  nicht  gedeckt  würden,  unter  dem  Vorbehalte  jedoch,  dass  dieselben 
nicht  für  die  Person  des  Gemein  Schuldners,  sondern  für  sein  Geschäft  gemacht  worden 
waren;  dieser  Vorschlag  würde  für  den  Schuldner  ohne  Zweifel  von  ausserordentlichem 
Werte  sein  und  mit  Rücksicht  auf  das  Interesse,  welches  die  Gesammtheit  an  der  wirt- 
schaftlichen Fortexistenz  des  Schuldners,  resp,  seinem  Wiederaufleben  hat,  auch  für  diese 
vielleicht  nicht  ohne  günstige  Wirkungen  bleiben ;  ob  diese  Vortheile  aber  durch  die 
Schäden,  welche  die  Gläubiger  hieraus  erleiden  können  und  durch  die  voraussichtlich 
sehr  starke  Reduction  des  Creditverkehres,  welche  jene  Maassregel  mit  sich  bringen 
dürfte  und  deren  Bedeutung  für  die  Volkswirtschaft  erwogen  werden  müsste,  nicht  wieder 
ausgeglichen,  vielleicht  sogar  von  ihnen  übertroffen  würden,  müssen  wir  hier  dahingestellt 
sein  lassen.  Stein:  Der  Wucher  und  sein  Recht,  S.  82—86. 


Gesetzgebung  über  d.  Gläubiger-Concurs  v.  Standpunkte  d.  Volkswirtschaft.       471 

Durchführbarkeit  hier  näher  zu  untersuchen;  wir  sind  aber  der  Meinung, 
dass  eine  derartige  Institution  privat-  und  volkswirtschaftlich  von  erheblichem 
Werte  wäre,  insbesondere  dann,  wenn  alle  aus  der  Thatsache  des  Con- 
curses  und  aus  dem  Concursverfahren  entspringenden  Nachtheile  in  die 
Versicherung  einbezogen  würden. 

Von  der  strafrechtlichen  Behandlung  der  Concurse  wollen  wir  in  dieser 
Arbeit  ganz  absehen,  daher  auch  die  Frage  nicht  beantworten,  inwieferne 
dieselbe  die  Zahl  der  Concurse  und  ihre  finanziellen  Ergebnisse  beein- 
flussen kann. 

Wir  kommen  daher  zum  Schlüsse. 

Die  Erscheinung  des  Concurses  greift  tief  in  das  wirtschaftliche  Leben 
der  Völker  ein,  und  grosse  Gefahren  für  den  Gesammtwohlstand  sind  damit 
verbunden.  An  der  Kegelung  des  Concurswesens  ist  die  Volkswirtschaft 
daher  im  höchsten  Grade  interessiert,  sie  muss  also  auch  berechtigt  sein, 
daran  theilzunehmen  und  ihre  Anforderungen  zur  Geltung  zu  bringen; 
bisher  wurde  dieses  ihr  Recht  nicht  genügend  berücksichtigt;  möge  die 
Zukunft  ihm  die  Bahn  öffnen,  möge  der  vorliegende  Versuch  in  irgend  einer 
Weise,  sei  es  auch  nur  dadurch,  dass  er  dieses  Problem  als  üeberschrift 
träQjt,  diesem  Ziele  dienen! 


VEKHANDLUNGEN  DER  GESELLSCHAFT 
ÖSTERKEICHISCHER  VOLKSWIRTE. 


XXXI.   Plenapvepsammlung  vom   25.   April  1892. 

JJer  Vorsitzende,  Herr  Sectionsclief  v.  Inama-Stern egg,  eröffnet  die  Ver- 
sammlung, gedenkt  des  Abends,   den  die  Gesellschaft  am   14.  März   der  Valuta- 
Enquete    gegeben    und    an    dem    auch    Se.    Excellenz    der    Herr  Finanzminister 
Dr.  Steinbach  theilgenommen  hat,  theilt  mit,  dass  der  Vorstand  der  Gesellschaft 
beschlossen  habe,  für  eine  Laveleye-Stiftung  100  fl.  zu  widmen  und  dass   die 
eventuelle  Absicht  einer  Theilnahme  an  dem  für  den  August  d.  J.  in  Antwerpen 
in  Aussicht  genommenen   Congres   economique   dem   Präsidenten   der  Gesellschaft 
angezeigt  werden  möge.  Hierauf  ertheilt  der  Herr  Vorsitzende  dem  Herrn  Univ.- 
Prof.  A.  Menzel  das  Wort  zu  seinem  Vortrage  über:    „Die  Fortbildung  unserer 
Arbeiterversicherung",  dessen  wesentlichster  Inhalt  sich  folgendermaassen  zusammen- 
fassen lässt.  Nicht   principielle   Aenderungen   des  bestehenden   Gesetzes,   sondern 
vielfach  rein  administrative  Maassnahmen  seien  erforderlich,  um  jene  Uebelstände 
zu    beseitigen,    welche    sich    in    der    kurzen   Zeit    der  Wirksamkeit    des    Gesetzes 
gezeigt  haben.   Die  Principien    unserer  Gesetzgebung    seien   gesund;    sowohl    die 
dem  deutschen  Gesetze  gegenüber  kürzere  Carenzzeit,  als  die  territoriale  Organi- 
sation   —    Eigenthümlichkeiten    unseres    dem    deutschen   Gesetze    gegenüber  — 
haben  sich  bisher  bewährt;    das  Princip  der  Capitaldeckung  werde   sich  noch  zu 
erproben  haben,  obwohl  der  Vorzug  der  Stabilität  ihm   zweifellos  eigen   und  bei 
richtiger  Berechnungsweise   es   auch  versicherungstechnisch  dem  Umlageverfahren 
vorzuziehen  sei.   Die   Uebelstände   der   österreichischen  Arbeiterversicherung  seien 
die    folgenden:    1.    der    privatwirtschaftliche    Zug,    2.    der    bureaukratische    Zug, 
3.  die  nicht  ganz   zufriedenstellende  Ordnung  der  obersten  Aufsicht,   4.   die  un- 
befriedigende Gestaltung  des  Rechtsschutzes  in  Betreff  der  Unterstützungsansprüche. 
Ad   1.  sei  es  auffallend,  dass  die  Regierung  sich  besonders  darüber  freue,  erhebliche 
Ueberschüsse    erzielt  zu    haben,    die    bei    den    Krankencassen    im    Durchschnitte 
197o  ^^^  Einnahmen,  bei  den  Unfallversicherungs-Anstalten  500.000  11.  betragen; 
bei     der    Krankenversicherung    lasse    sich    dieses    Streben    nach    Ueberschüssen 
daraus  erklären,  dass  das  Gesetz  wohl  ein  Minimum  der  jährlich  anzusammelnden 
Reserven,  ^/^^  aller  Einnahmen,  aber  kein  Maximum  feststelle;  die  jährlichen  Bei- 
träge zum  Reservefonde  sollten  höchstens   lO^'o  der  Einnahmen,  der  Reservefond 
selbst   höchstens    die   Summe    des    einmaligen    Jahreserfordernisses    betragen,   in 


XXXI.  Plenarversammlung  vom  25.  April  1892.  473 

ausserordentlichen  Fällen  hätte  der  Staat  helfend  einzugreifen;  in  diesem  Falle 
würde  es  möglich,  das  kärglich  bemessene  Krankengeld  zu  erhöhen.  Beim  Unfall- 
versicherungsgesetz sollen  nicht  die  tarifmässigen  Prämien  herabgesetzt  werden, 
—  dies  wäre  zu  compliciert  —  sondern  es  sollen  die  Leistungen  entsprechend 
erhöht  werden,  u.  z.  durch  die  gutsituirten  ^Anstalten  selbst  aus  eigener  Macht- 
befugnis. —  Ad  2.  sei  es  wünschenswert,  dass  die  politischen  Behörden  entlastet 
und  die  Anstalten  in  Betreff  der  Feststellung  ihrer  Statuten  freier  gestellt 
werden;  auch  solle  der  Eechtszug  an  das  Ministerium  des  Innern  und  nicht  an 
die  politische  Landesbehörde  gehen.  —  Ad  3.  habe  sich  das  Eeichsversicherungsamt 
in  Deutschland  trefflich  bewährt;  bei  uns  könnte  man  etwas  ähnliches  schaffen, 
wenn  man  in  den  Yersicherungsbeirath  auch  Arbeiter  und  Unternehmer  aufnähme, 
wenn  derselbe  in  bestimmten  Zeiträumen  zusammentreten  müsste,  selbständig 
Gegenstände  in  Berathung  ziehen  dürfte  und  seine  Protokolle  amtlich  veröffentlicht 
würden.  —  Ad  4.  müssen  die  Schiedsgerichte  ausgestaltet  werden,  insbesondere 
sei  für  die  Einheitlichkeit  der  Jurisdiction  zu  sorgen,  was  bei  unseren  Verhältnissen 
nur  möglich  sei,  wenn  die  letzte  Entscheidung  einem  unserer  Centralgerichtshöfe 
überantwortet  werde. 

Im  übrigen  sei  es  ungerechtfertigt,  dass  eine  Doppelversicherung  bei  uns 
verboten  sei;  dieselbe  solle  vielmehr  bis  zur  Höhe  des  wirklichen  Arbeits- 
verdienstes, eventuell  unter  Verpflichtung  des  Doppelversicherten  zur  Anzeige 
dieses  Verhätnisses  gestattet  werden. 

Endlich  solle  bei  einer  Gesetzrevision  es  als  Aufgabe  der  Cassenverbände 
erklärt  werden,  durch  besondere  Institute  für  die  Eeconvalescenten  Vorsorge  zu 
treffen,   damit  diese  nicht  genöthiget  seien,  sofort  wieder  die  Arbeit  aufzunehmen. 

Am  wichtigsten  sei  es,  dass  die  Eücksicht  auf  die  finanzielle  Prosperität 
der  Versicherungsinstitute  vor  der  auf  ihre  reellen  Leistungen  und  socialpolitischen 
Aufgaben  mehr,  als  bisher,  zurücktrete. 

Nach  diesen  mit  grossem  Beifall  aufgenommenen  Ausführungen  eröffnet  der 
Herr  Vorsitzende  die  Discussion,  welche  Herr  Stross  einleitet,  indem  er  die  Lang- 
samkeit der  Gebarung  bei  den  Unfallversicherungs-Anstalten  rügt;  Ueberschüsse 
sollten  dazu  verwendet  werden,  um  ein  beschleunigtes  Verfahren  herbeizuführen. 

Herr  Kaan,  Secretär  der  Unfallversicherungs-Anstalt  sagt,  dass  die  bei 
uns  geltende  kurze  Carenzzeit  die  Verwaltungskosten  sehr  erhöhe,  weil  um  der 
kleinen  Differenz  zwischen  Krankengeld  und  Unfallsrente  willen  bedeutende 
Erhebungen  nothwendig  werden  und  weil  bei  kurzer  Carenz  viel  mehr  Unfälle 
den  Unfallversicherungs-Anstalten  zur  Last  fallen,  als  sonst  der  Fall  wäre.  Das 
Capitaldeckungsverfahren  sei  allein  kaufmännisch  rationell;  eine  Centralinstanz  sei 
unab weislich  nothwendig,  dieselbe  müsse  aber  wie  die  unteren  Instanzen  organisiert 
sein  und  aus  richterlichen,  dann  aus  technisch  gebildeten  Personen  und  aus 
Vertretern  der  Industriellen  und  Arbeiterbeisitzern  bestehen. 

Dr.  Eauchberg  hält  die  Erhöhung  der  Unfallsrenten  ohne  Gefährdung 
des  Capitaldeckungsprincipes  nicht  für  durchführbar,  eine  Doppelversicherung  aber 
für  gefährlich;  dagegen  solle  Object  der  Versicherung  nicht  der  bezirksübliche 
Lohn  für  gemeine  Arbeit,  sondern  das  factische  Arbeitsverdienst  des  einzelnen 
Arbeiters  sein. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  III.  Heft.  31 


^7^  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

Generaldirector  Frey  bemerkt,  dass  schon  heute  oft  Doppelversiclierung 
vorkomme  und  dass  die  Bezirkshauptmannschaften  den  Taglohn  schon  jetzt  ohne 
Anstand  nach  Kategorien  bemessen. 

Secretär  Kaan  glaubt,  man  solle  sich  nicht  über  die  Verwendung  der 
üeberschüsse  den  Kopf  zerbrechen,  denn  die  Schwierigkeiten,  welche  der  richtigen 
Einschätzung  der  Entschädigungsreserven  und  jener  der  erst  halbjährig  im 
nachhinein  fällig  werdenden  Prämien  im  Wege  stehen,  hätten  schon  bisher  es 
mit  sich  gebracht,  dass  die  ausgewiesenen  üeberschüsse  sich  bedeutend  reducierten 
oder  ganz  verschwanden:  so  w^erde  es  auch  in  Zukunft  sein. 

Prof.  Dr.  Menzel  bemerkt  im  Schlusswort,  dass  man  auch  in  Deutschland 
vielfach  strebe,  die  Carenzzeit  bei  der  Unfallversicherung  abzukürzen  oder  ganz 
zu  beseitigen;  dass  die  Deckungscapitalien  einmal  zu  hoch  angesetzt  seien  und 
daher  üeberschüsse  sich  ergeben  müssen,  endlich  dass  in  Deutschland  unter 
Umständen  die  Versicherung  mit  Rücksicht  auf  den  grösseren  Bedarf  des  kranken 
Arbeiters  sogar  über  den  Betrag  des  wirklichen  Arbeitslohnes  zulässig  ist.  — 
Nach  diesen  Ausführungen  schliesst  der  Herr  Vorsitzende   die  Versammlung.    — 

General-  und  XXXII.  Plenarversammlung  vom  2.  Mai  1892. 
Der  Herr  Vorsitzende,  Sectionschef  v.  Inama-Sternegg,  eröffnet  die  stark 
besuchte  Versammlung  mit  einem  Berichte  über  die  Thätigkeit  der  Gesellschaft 
im  abgelaufenen  Vereinsjahr;  der  Mitgliederstand  habe  sich  von  203  auf  225 
erhoben.  Die  im  Laufe  des  Jahres  veranstalteten  Bankette  zu  Ehren  des  inter- 
nationalen, statistischen  Institutes  und  der  Valuta-Enquete  haben  schöne  Erfolge 
nachzuweisen,  die  neugegründete  Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und 
Verwaltung  habe  freundliche  Aufnahme  gefunden;  die  Gesellschaft  habe  stets 
den  grossen  Aufgaben,  welche  Oesterreich  in  der  letzten  Zeit  kühn  in  Angriff 
genommen  habe,  ihre  Aufmerksamkeit  gewidmet  und  vielfach  wie  das  Zünglein 
an  der  Waage  gewirkt,  oder  wie  das  Oel,  welches  angewendet  werde,  w'o  die 
Wogen  zu  hoch  gehen;  bei  all  diesen  Discussionen  sei  nie  die  wissenschaftliche 
Buhe  und  Objectivität,  selbst  angesichts  des  Gegensatzes  materieller  Interessen 
und  auch  den  extremen  Programmen  schwacher  Minoritäten  gegenüber  verletzt 
worden,  auch  habe  sich  nie  Theilnahmslosigkeit  gezeigt.  Der  Herr  Vorsitzende 
spricht  sodann  dem  Generalrathe  der  österreichisch-ungarischen  Bank  für  die 
kostenlose  üeberlassung  des  Sitzungssaales,  Herrn  Dr.  v.  Dorn  für  die  Ver- 
öffentlichung der  Verhandlungen  der  Gesellschaft  in  der  „Volkswirtschaftlichen 
Wochenschrift"  und  Herrn  Adolf  Weiss  für  die  Beistellung  der  Kräfte  zur 
Erledigung  der  technischen  Agenden  den  Dank  der  Gesellschaft  aus.  —  Herr 
Adolf  Weiss  erstattet  sodann  den  Bericht  über  die  Cassegebarung,  wonach  die 
Einnahmen  der  Gesellschaft  2226*29  fl.  betrugen  und  der  Vermögensstand 
pro  31.  December  1891  sich  auf  5872*31  fl.  belief.  Nach  Genehmigung  dieses 
Berichtes  über  Antrag  der  Herren  Eevisoren  spricht  die  Versammlung  durch  den 
Herrn  Abgeordneten  Pernerstorfer  dem  Herrn  Vorsitzenden  den  Dank  für 
seine  ausgezeichnete  Leitung  aus.  Die  hierauf  vorgenommenen  Neuwahlen  ergaben 
als  Präsidenten:  Herrn  Sectionschef  v.  Inama-Sternegg,  als  1.  Vicepräsidenten 
Herrn   Abg.  Dr.   Peez,    als   2.  den   Herrn   Sectionschef  v.   Böhm-Bawerk,   als 


General-  und  XXXII.  Plenarversammlung  vom  2.  Mai  1892.  475 

Vorstandsmitglieder  die  Herren  Dr.  v.  Dorn,  Dr.  Max  Menger,  Giistav  v. 
Pacher,  Dr.  t.  Plener,  Adolf  Weiss  und  Vicedirector  Witteishöfe r,  als 
Eevisoren  die  Herren  Dr.  Tab  er,  Videky  und  Wiesenburg. 

Während  des  Scrutiniums  wurde  von  Herrn  Adolf  Weiss  in  der  nun  eröffneten 
Plenarversammlung  ein  Eeferat  erstattet  über  die  Lebensmittelpreise  und  die 
Approvisionierung  von  Wien  u.  zw.  auf  Grund  der  Ergebnisse  der  wegen  einer 
einschlägigen  Anfrage  des  Wiener  Magistrates  von  der  Gesellschaft  veranstalteten 
schriftlichen  Enquete.  Der  Tortragende  führt  aus,  das  Ergebnis  der  Enquete  zeige, 
dass  die  Approvisionierung  Wiens  im  ganzen  regelmässig  sei,  abgesehen  jedoch  von 
den  Artikeln:  Butter,  Eier  und  Gemüse.  —  In  Betreff  des  Fleisches  sei  eine 
Preissteigerung  unstreitig,  aber  nicht  nur  in  Wien,  sondern  auch  in  der  Provinz 
vorhanden;  dieselbe  werde  voraussichtlich  dauernd  sein.  Als  Ursachen  dieser 
Erscheinung  werden  verschiedene  Momente  angeführt,  so  angeblich  ungenügende 
Approvisionierung,  die  Handelsverträge  vom  Jahre  1891,  der  Umstand,  dass  sich 
der  Markt  angeblich  in  den  Händen  weniger  Händler  befinde;  einer  der  wichtigsten 
Mängel,  welcher  namhaft  gemacht  wird,  beziehe  sich  darauf,  dass  laut  einer 
Verfügung  vom  Jahre  1892  das  Vieh  exclusive  der  Steuer  zu  handeln  sei;  eine 
der  wichtigsten  Forderungen,  welche  gestellt  werden,  richte  sich,  wie  schon  hier 
angedeutet  werden  mag,  auf  Einrichtung  der  Märkte  nach  französischem  Muster 
und  auf  Decentralisation  des  Marktwesens;  Vereinbarungen  und  Cartelle,  welche 
auf  den  Fleischpreis  Einfluss  üben  würden,  seien  vorhanden  gewesen,  jetzt  aber 
nicht  mehr  nachweisbar. 

Der  Wein  werde  zu  25  — SO^'^  im  Grosshandel,  zu  70  — 75^^o  ^'on  den 
Gastwirten,  in  unbestimmter  Quantität  von  den  Producenten  veräussert.  Der  Wein 
habe  jetzt  die  Tendenz,  im  Preise  zu  sinken;  die  Verschiedenheit  der  gehandelten 
Qualitäten  schliesse  Cartelle  aus.  Diesen  Hauptgesichtspunkten  gegenüber  sei  im 
einzelnen  hervorzuheben,  dass  die  Weinpreise  zunächst  bei  den  Producenten 
erheblich  gestiegen  seien,  dass  diese  Preiserhöhung  sich  aber  durch  den  Handel 
bedeutend  abgeschwächt  habe;  seit  dem  letzten  Herbste  mache  sich  die  angedeutete 
Tendenz  zur  Preissenkung  geltend,  wobei  die  Ausdehnung  des  Approvisionferungs- 
kreises  z.  B.  auch  auf  Tirol  eine  Eolle  spiele,  ebenso  wie  die  Erniedrigung  der 
Verzehrungsst'^.uer;  die  Kellerwirtschaft  wirke  allerdings  der  neuen  Tendenz  ent- 
gegen, weil  sie  seit  Einbeziehung  der  Vororte  etwas  theuerer  geworden  sei.  —  Das 
Bier,  welches  in  Wien  consumiert  wird,  stamme  aus  18  Brauereien;  die  Abzugbiere 
steigen  bei  wachsendem  Consum  im  Preise,  die  Lagerbiere  seien  gleich  geblieben, 
die  Luxusbiere  sinken;  das  Flaschenbier  mache  starke  Concurrenz;  man  verlange 
eine  Umwandlung  der  Biersteuer  in  eine  Malzsteuer  als  Voraussetzung  einer 
Preiserniedrigung ;  ein  Cartell  bestehe  unter  den  Wiener  Brauereien  nur  in  Betreff 
des  zu  erzeugenden  Quantums.  Weitere  Daten  biete  der  Ausweis  des  Brauherren- 
Vereines,  wonach  die  gesammte  Biererzeugung  im  Jahre  1880  in  Wien 
2,451.000  Hektl.,  im  Jahre  1890  2,450.000  HektL  und  1891  2,439.548  Hektl. 
betragen  habe,  so  dass  ersichtlich  sei,  dass  diese  Industrie  eher  ab-  als  zunehme. 
—  Das  Petroleum  sinke  stark  im  Preise,  es  komme  nur  durch  den  Klein- 
handel in  den  Verkehr,  seitdem  die  inländischen  Eaffinerien  mehr  Bedeutung 
gewonnen  haben. 

31* 


476  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

Der  Zucker  steige  im  Preise,  allerdings  nur  in  der  letzten  Zeit;  diese 
Steigerung  sei  wahrscheinlich  nur  vorübergehend  trotz  des  Bestandes  eines  Cartelles. 
Der  Zucker  w^erde  in  Wien  durch  die  Niederlagen  der  grossen  Raffinerien,  durch 
den  Gross-  und  den  Kleinhandel  dem  Consume  zugeführt,  das  bezeichnete  Cartell 
bestehe  zwischen  den  Fabrikanten  und  beziehe  sich  auf  Preis  und  Quantität;  es 
soll  aber  w^enig  Einfiuss  haben,  w^eil  der  Londoner  Marktpreis  fast  allein  entscheide. 
Um  die  Preisgestaltung  klar  zu  machen,  möge  folgende  Tabelle  mitgetheilt  werden ; 
der  Preis  betrug 

1880  .  .  .  46  fl.  1886  .  .  .  34  fl. 

1881  ...  47  fl.  1887  .  .  .  32  fl. 

1882  ...  47  fl.  1888  .  .  .  37  fl. 

1883  .  .  .  44  fl.  1889  .  .  .  36  fl. 

1884  .  .  .  38  fl.  1890  ...  32  fl. 

1885  .  .  .  36  fl. 

Die  Kohle  wird  von  den  Grosshändlern,  die  angeblich  durch  Cartelle 
verbunden  sind,  durch  1300  Kleinhändler  und  durch  die  Producenten  verkauft; 
der  Preis  ist  für  Alt-Wien  gefallen;  seine  allgemeine  Höhe  wird  auf  den  theuern 
Grubenbetrieb  zurückgeführt.  Dabei  wäre  zu  bemerken,  dass  die  Kohlenpreise  vom 
Sommer  zum  Winter  regelmässig  um  4  kr.  steigen,  was  angeblich  mit  den  im 
Winter  erschwerten  Zufuhren  zusammenhängen  soll.  —  Brod  ist  theurer  geworden, 
hat  aber  jetzt  die  Tendenz  zur  Preissenkung.  Gewisse  Artikel  seien  schon  im 
verflossenen  Jahre  im  Preise  gesunken  u.  z.  Mehl-  und  Hülsenfrüchte  um  je  1  kr., 
Reis  um  6  kr.,  Kohle  um  3  kr.,  Holz  per  Klafter  um  1  fl.,  Kerzen  um  2  kr.  per 
Paket;  in  neuester  Zeit  haben  die  Preise  abgenommen  bei  Brod,  Wein,  Kerzen, 
Mehl.  Petroleum,  Seife,  Spiritus  und  Candis,  während  Zucker  theuerer  gew^orden  sei. 

Im  grossen  und  ganzen  ist  die  Höhe  der  Preise  auf  Erhöhung  der  Pro- 
ductionskosten  und  auf  die  hohen  Steuern  zurückzuführen.  Damit  die  Preise 
zurückgehen,  w^erde  eine  Aenderung  gewisser  Marktverhältnisse,  die  Errichtung 
von  Mai'kthallen  an  Stelle  der  offenen  Märkte,  die  Decentralisation  des  Fleisch- 
marktes verlangt;  überdies  wäre  es  dringend  nothwendig,  dass  neue  Transport- 
mittel insbesondere  Canäle  hergestellt  würden  und  dass  die  Wohnungen 
entsprechende  Vorrathsräume  erhalten,  was  einen  Ankauf  von  Lebensmitteln,  Holz 
und  Kohle  in  grösseren  Mengen  ermöglichen  würde.  Die  Nachweisungen  des 
I.  Wiener  Consumvereines  zeigen,  in  w^elcher  Weise  der  Kleinverschleiss  die 
Waren  vertheuert;  die  Wiener  Handels-  und  Gewerbekammer  hat  üben  Befragen 
des  Magistrates  die  Detailpreise  der  Kohlen  als  gerechtfertigt  erklärt;  in  Betreff 
der  Fleischpreise  veranstaltet  sie  eine  Enquete. 

Was  die  Frage  der  Ringe  und  Cartelle  angeht,  so  hat  die  Handels-  und 
Gewerbekammer  die  Schädlichkeit  derselben  anerkannt;  man  muss  aber  zwischen 
Ringen  und  Cartellen  unterscheiden;  die  ersteren  kaufen  grosse  Warenquantitäten 
auf,  um  die  Preise  zu  schwindelhafter  Höhe  emporzutreiben,  die  letzteren  trachten 
bei  starker  Preisdepression  und  Geschäftsstockung  die  Preise  auf  einer  Höhe  zu 
halten,  bei  der  eine  Existenz  noch  möglich  ist;  Ringe  sind  nicht  vorhanden,  die 
Cartelle,  welche  bestehen,  liegen  ganz  offen  und  bilden   keine  Gefahr;   zu    einem 


General-  und  XXXII.  Plenarversammlung  vom  2.  Mai  1892.  477 

Einschreiten  der  Eegierung  ist  also  keine  Yeranlassnng  gegeben  und  ist  es 
nicht  zu  vergessen,  dass  sich  der  Standard  of  life  im  allgemeinen  zu  heben 
strebt,  so  dass  die  Theuerung  doppelt  empfunden  wird.  Wir  wollen  jetzt  manche 
Wünsche  befriedigt  sehen,  welche  eigentlich  nicht  sosehr  mit  den  Lebensmitteln 
zusammenhängen,  die  wir  aber  leichter  decken  könnten,  wenn  die  Lebensmittel 
billiger  wären. 

Nach  diesen  beifälligst  aufgenommenen  Ausführungen  verweist  Herr  Zucker 
auf  die  ausgezeichnete  und  wohlfeile  Approvisionierung  von  Paris,  welche  Stadt 
vorzügliche  Markteinrichtungen  ohne  Zwischenhandel  und  Nachtverkauf  unter 
Leitung  von  Commissionären  besitze  und  ihre  Zufuhr  auch  aus  weiter  Ferne 
beschaffe;  infolge  dessen  leben  die  Pariser  billig  und  gut.  Das  ganze  Problem 
schliesse  ein  gutes  Stück  Socialpolitik  in  sich. 

Herr  Regierungsrath  E.  v.  Jura  seh  ek  vergleicht  die  heutigen  Preise  mit 
denen  weiter  zurückliegender  Zeiten  und  jene  Oesterreichs  mit  denen  von  Deutsch- 
land und  England;  die  grösste  Preissteigerung  weist  das  Fleisch  auf  u.  z.  bis 
zum  Jahre  1883,  seither  sind  die  Preise  infolge  der  Fleischeinfuhr  aus  Amerika 
in  London  und  Berlin,  soweit  diese  Einfuhr  möglich  war,  zurückgegangen.  Bei 
anderen  Waren  nehmen  die  Preise  schon  seit  längerer  Zeit  ab,  und  sind  nie  so 
hoch  gestiegen,  wie  die  des  Fleisches,  weil  sich  ihre  Production  rascher  ent- 
wickelt, der  Transport  leichter  ist  und  eine  Eeihe  neuer  Hilfsquellen  entdeckt 
worden  sind,  die  beim  Fleische  fehlen.  Die  in  Frage  stehende  Preissteigerung 
gilt  also  nicht  nur  für  Wien,  und  kann  nur  durch  Vergrösserung  der  Production, 
Erleichterung  des  Transportes  und  Erweiterung  der  Zufuhr  bekämpft  werden;  weit 
w^eniger  wirken  auf  die  Warenpreise  die  Preisverschiebungen  von  Gold  und  Silber  ein. 
Diesen  allgemeinen  Gesichtspunkten  gegenüber  seien  folgende  Einzelnheiten 
besonders  hervorgehoben,  wobei  freilich  nicht  auf  eine  erschöpfende  Wiedergabe 
des  vom  Herrn  Eedner  gebrachten,  reichen  Daten-  und  Thatsachen-Materiales 
reflectiert  wird.  In  den  20er  Jahren  unseres  Jahrhundertes  haben  in  fast  allen 
Staaten  Europas  die  Fleisch-  und  Getreidepreise,  nachdem  vorher  dieselben 
ziemlich  stätig  gestiegen  vraren,  wieder  abzunehmen  begonnen,  was  auf  die  voraus- 
gegangenen Kriegs-,  Noth-  und  Hungerjahre  zurückzuführen  sein  mag;  während 
bis  dahin  z.  B.  in  einer  Eeihe .  deutscher  Städte  die  Fleischpreise  auf  77  Pf. 
per  Klg.  gestiegen  waren,  sind  sie  in  der  Zeit  von  1821 — 1830  auf  57  Pf. 
gesunken;  bei  Schweinefleisch  war  der  Eückgang  noch  stärker.  Seit  1830  sind 
die  Fleischpreise  wieder  gestiegen,  wie  schon  gesagt,  bis  zum  Jahre  1883  u,  z. 
in  sehr  bedeutendem  Maasse,  wie  folgende  Tabellen  zeigen: 

Berlin  London 


Eindfleisch  Schweinefleisch  Eindfleisch  Schweinefleisch 

1821—30      61   Pf.  56  Pf.  1841  —  50     87  Pf.         113  Pf. 

1871  —  80   125     „  127     „  1871—80   131     „  121     „ 

Nur  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  sanken  in  jener  Zeit  die 
Preise  und  diese  Senkung  hat  sich  in  den  80er  Jahren,  als  der  Fleischimport 
aus  Amerika  im  grossen  Maasstabe  möglich  wurde,  auch  in  Europa  fühlbar 
gemacht,  hauptsächlich  weil   dadurch   das  Absatzgebiet   für    europäische  Fleisch- 


478  Verhandlungen  der  Gesellschaft  österreichischer  Volkswirte. 

producte    eingeschränkt  worden   ist.    Die  neue  Gestaltung  der  Fleischpreise  zeigt 
folgende  Tabelle 

für  Berlin  für  London 


Eindfleisch           Schweinefleisch 

Eindfleisch 

Schweinefleisch 

1881—85      119  Pf.         121   Pf. 

124  Pf. 

115  Pf. 

1886—90      115    „           126    ,., 

101    „ 

100    „ 

In  Betreff  der  Steigerung  des  Preises  für  Schweinefleisch  in  Berlin  ist  auf 
das  bezügliche  Einfuhrverbot  zu  verweisen.  In  den  allerletzten  Jahren  steigt  in 
Deutschland  der  Fleischpreis  neuerdings;  Grund  dafür  sind  die  Zölle  und  das 
Anwachsen  des  Fleischverbrauches.  Bei  anderen  Artikeln  tritt  der  Preisfall 
schon  im  Jahre  1875  ein  und  geht  weiter,  als  bei  Fleisch;  Grund  dafür  ist, 
wie  oben  bemerkt,  die  bei  den  anderen  Waren  viel  raschere  Ausdehnung  der 
Production,  die  Erleichterung  des  Transportes  und  die  Auffindung  neuer  Hilfs- 
quellen; das  letztere  Moment  ist  speciell  beim  Getreidehandel  von  Bedeutung. 
Beim  Getreide  begann  die  Preissteigerung  schon  in  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts; 
in  England  hob  sich  der  Preis  des  Quarters  Weizen  von  jener  Zeit  bis  in  die 
erste  Hälfte  unseres  Jahrhunderts  von  41  Sh.  auf  64  Sh.,  in  Berlin  galt  in  der 
Zeit  von  1650—1700  die  Tonne  74V2  Mark,  1851—1880  dagegen  211  Mark; 
Hand  in  Hand  damit  gieng  eine  Preisausgleichung  resp.  Annäherung  zwischen 
Weizen,  Eoggen,  Gerste  und  Hafer  vor  sich  u.  z.  w^ohl  wegen  des  Eingreifens 
des  Handels;  dieselbe  Ausgleichung  tritt  auch  in  den  Preisen  derselben  Getreide- 
sorte auf  verschiedenen  Märkten  ein.  Die  Preisgestaltung  wurde  seither  durch 
Handel  und  Zölle  beeinflusst;  das  Jahr  1890  gestaltete  seine  Getreidepreise  auf 
Grund  schlechter  Ernten,  der  Preis  betrug  für  Weizen  in  England  148,  in 
Preussen  190  Mark;  im  Jahre  1891  stieg  in  London  der  Preis  ganz  bedeutend, 
ebenso  in  Berlin;  dies  gilt  allgemein  für  vegetabilische  Nahrungsmittel;  bei  den 
animalischen  liegt  theils  eine  Steigerung,  theils  eine  Senkung  vor;  der  Weizen 
notierte  1890  in  Berlin  per  Tonne  195  und  1891  224  Mark,  der  Eoggen 
1890  170  und  1891  211,  der  Hafer  stieg  von  158  auf  165,  die  Kartoffel 
von  24  auf  42;  in  London  stieg  der  Weizen  von  1890 — 91  von  31  Sh.  per 
Quarter  auf  37  Sh.;  der  Hafer  stieg  von  18  auf  20,  Mais  von  20  auf  28, 
Kartoffel  von  70  auf  92.  Das  Eindfleisch  ist  in  England  gestiegen,  das  Hammel- 
fleisch gesunken,  in  Berlin  ist  das  Eindfleisch  gestiegen,  das  Schweinefleisch 
gefallen.  Von  anderen  Waren  ist  in  England  von  1890  auf  1891  Zucker  etwas 
gestiegen,  Kaffee  im  Preise  gesunken;  Waren,  die  nicht  zu  den  Lebensmitteln 
gehören,  sind  auffallend  gesunken,  z.  B.  Eisen  und  Baumwolle;  ganz  ähnliches 
gilt  für  Deutschland. 

Herr  Wetzler  sagt,  es  sei  nicht  richtig,  dass  die  Cartelle  weniger  ge- 
fährlich seien,  als  die  Einge;  letztere  schaden  auf  die  Dauer  den  Unternehmern 
und  nützen  den  Producenten  und  Consumenten;  das  Cartell  kann  den  Preis 
der  industriellen  Producte  zum  Schaden  der  Consumenten  durch  Beschränkung 
der  Production  hoch  emportreiben,  der  Eing  in  Landproducten  ist  der  Witterung 
gegenüber  machtlos.  Die  Höhe  der  Fleischpreise  habe  ihren  Grund  in  der  Kündigung 
des  Handelsvertrages  mit  Eumänien  und  darin,  dass  wir  zu  wenig  mageres  Vieh  nach 


General-  und  XXXII.  Plenarversammlung  vom  2.  Mai  1892.  479 

Oesterreich  beziehen;  die  Kohlenpreise  seien  hoch,  weil  die  Transportmittel, 
insbesondere  Wasserwege  fehlen. 

Herr  Adolf  Weiss  verficht  dem  gegenüber  neuerdings  seine  Anschauung 
über  die  Yerderblichkeit  der  Ringe  uud  die  Unschädlichkeit  der  Cartelle.  Die 
Einge  mögen  allerdings  in  ihren  letzten  Consequenzen  billigere  Preise  herbei- 
führen, das  sei  ja  natürlich;  bis  sie  aber  zusammenbrechen,  können  sie  eine  ganze 
Production  zugrunde  richten;  ein  Beispiel  hiefür  biete  der  bekannte  Kupferring. 
Etwas  derartiges  ist  besonders  bei  öffentlichen  Cartellen  mcht  möglich. 

Der  Vorsitzende,  Herr  Sectionschef  v.  Inama-Sternegg,  dankt  nach  Ver- 
kündigung des  Wahlresultates  der  Versammlung  im  Xamen  der  Gewählten  für 
die  Wahl  und  dem  Referenten  für  seine  trefflichen  Darlegungen,  schliesst  die 
Discussion,  die  Versammlung  und  die  gegenwärtige  Vortragssaison. 


AUS  DEM  WIENER  VEREINSLEBEN. 


Uie  französische  Revolution  hat  die  Yernichtung  des  alten  Staates,  den 
man  den  „feudalen  Staat"  nennt,  aber  vielleicht  richtiger  den  „Staat  der 
Corporationen"  nennen  sollte,  am  gründlichsten  vollzogen,  und  die  schöpferischen 
Geister  unter  den  Männern  der  Revolution,  an  ihrer  Spitze  Napoleon  Bonaparte, 
haben  den  neuen  Staat  am  einheitlichsten  und  folgerichtigsten  aufgebaut.  Ganz 
begreiflich  daher,  dass  ein  französischer  Staatsmann  es  war,  welcher  das  tiefe 
Wort  sprach:  der  Staat  der  Neuzeit  ist  mit  Entwirrung  der  Concursmasse  der 
Corporationen  beschnftigt. 

Ein  solches  Stück  Arbeit  ist  beispielsweise  die  sociale  Gesetzgebung.  Mit  den 
mächtigen  Markgenossenschaften,  Berggenossenschaften,  Zünften  und  Kaufmanns- 
gilden brach  die  innere  sociale  Organisation  der  Arbeit  zusammen.  Mühsam  sucht  jetzt 
der  Staat  aus  den  Trümmern  wieder  ein  haltbares  Gebäude  zu  errichten.  Wiefern 
ihm  dies  gelingen  wird,  muss  eine  nahe  Zukunft  beweisen.  Die  Schwierigkeiten 
sind  jedenfalls  gross,  da  der  Staat  dabei  eine  ihm  bis  dahin  fremde  Arbeit  auf 
sich  nahm,  die  einzelnen  Theile  in  der  Zeit  des  Individualismus  und  Manchester- 
thums  den  organischen  Zusammenhang  verloren  haben,  und  starke,  an  dem 
Fortbestande  des  gegenwärtigen  lockern  Zustandes  betheiligte  Elemente  ent- 
standen sind,  welche  sich  gegen  die  Einfügung  in  eine  feste  Gliederung  sträuben. 

Eine  Art  Vorarbeit  bei  dieser  staatlichen  Aufgabe  leisten  unter  diesen 
Umständen  die  Vereine. 

Die  organische  Kraft,  die  in  den  alten  Körperschaften  keinen  Raum  mehr 
fand,  hat  sich  theilweise  in  die  Vereine  geflüchtet,  und  sie  wird  voraussichtlich 
hier  solange  wirksam  sein  und  auch  viel  Gutes  leisten  können,  bis  der  Staat  die 
Ziele  und  Zwecke  dieser  Vereine  als  seine  eigene  Aufgabe  erkennt  und  an  sich  nimmt. 

Vereine  sind  am  wenigsten  wirksam  in  centralisierten,  von  einer  sehr 
thätigen  und  starken  Beamtenschaft  geleiteten  Staaten  wie  Frankreich.  Hier  bleibt 
für  Vereine  nur  ein  geringer  Spielraum  übrig,  während  sie  zu  einer  bedeutenden 
Rolle  gelangen  in  Staaten,  wo  noch  das  Alte  mit  dem  Neuen  kämpft  und  der 
noch  junge  und  fast  um  sein  Leben  ringende  Centralstaat  noch  nicht  zur 
feineren  Ausarbeitung  aller  seiner  Pflichten  und  Organe  gelangt  ist. 

Die  starke  Entwicklung  des  Vereinswesens  in  Oesterreich  ist  daher  kein 
blosser  Zufall.  In  der  That  kommt  unserem  Vereinswesen  eine  höhere  Bedeutung 
zu,  als  anderswo,  und  wir  haben  alle  Ursache  diesem  Theile  des  öffentlichen 
Lebens  eine  gewisse  Beachtung  zu  schenken. 


Aus  dem  Wiener  Vereiiisleben.  481 

Von  dieser  Ueberzeugung  geleitet,  wollen  wir  auf  einige  unserer  Vereine, 
die  im  öffentlichen  Leben  eine  gewisse  Wichtigkeit  erlangt  haben,  in  freier  Folge 
einen  Blick  werfen.   — 

I. 

Frauen- Er  werbverein. 

Die  Entstehung  dieses  Vereines  fällt  in  das  Jahr  1866,  also  in  eine  Zeit  wo 
Krieg,  Eückgang  von  Gewerbe  und  Industrie  und,  daraus  entspringend,  Noth 
und  Bedrängnis  aller  Art  die  Wiener  Bevölkerung  heimsuchten.  Damals  erwuchs 
die  Erkenntnis,  dass  nicht  der  Mann  allein  berufen  sei,  die  Früchte  geistiger  und 
gewerblicher  Ausbildung  zu  pflücken,  sondern  dass  auch  den  Mädchen  und  Frauen 
hei  ihrem  Streben  nach  redlichem  Erwerbe  hilfreich  beizustehen,  eine  Pflicht 
der  besser  gestellten  und  glücklicheren  Classen  sei. 

Die  bisherigen  Frauenvereine  waren  der  Armen-  und  Krankenpflege  gewidmet. 
Mit  der  zunehmenden  Schwierigkeit  der  Erwerbsverhältnisse  und  dem  Seltener- 
werden der  Ehen  galt  es,  den  Mädchen  und  Frauen  durch  besseren  Unterricht 
und  insbesondere  durch  fachliche  Anleitung  neue,  selbständige  Berufswege  zu 
eröffnen. 

Dies  Ziel  hat  der  Frauen-Erwerbverein  mit  nie  erlahmender  Ausdauer  und 
mit  ungemein  richtiger,  kaum  jemals  abirrender  Erkenntnis  des  Nothwendigen 
verfolgt  und  unzweifelhaft  bedeutende  Ergebnisse  erreicht.  Er  ist  das  W^erk  von 
Frauen  für  Frauen.  Nur  in  Einzelfällen  griffen  männliche  Berather  ein,  und  auch 
dies  Eingreifen  ward  im  Laufe  der  Jahre  immer  seltener  nothwendig.  Heute  sind 
Leitung  und  Ausführung  des  Unternehmens,  das  schon  zu  einer  grossen,  umfassenden 
Anstalt  im  eigenen  Hause   herausgewachsen  ist,    ganz   in   der  Hand  von  Frauen. 

Der  Zweck  des  Vereines  ist:  Stärkung  der  Erwerbsfähigkeit  durch 
Erziehung  und  Unterricht.  Die  Erfahrung  hat  den  Verein  immer  wieder  auf 
diesen  enger  begrenzten  Wirkungskreis  zurückgeführt.  Die  Versuche,  unmittelbar 
in  das  Erwerbsleben  einzugreifen  (durch  Errichtung  von  Geschäften,  Bildung  von 
Genossenschaften,  Verkauf  von  aussen  übernommener  Handarbeiten)  mussten  auf- 
gegeben werden. 

Das  Unterrichtswesen  des  Vereines  gliedert  sich  nach  fünf  Richtungen. 

1.  Höhere  Arbeitsschule.  Sie  hat  den  Zweck,  die  Mädchen  in  geschickter 
Handarbeit,  als  der  Grundlage  aller  weiblichen  Thätigkeit,  zu  unterweisen  und 
ihnen  zugleich  ein  genügendes  Maass  allgemeiner  Bildung  zu  vermitteln. 

Nach  Durchschreiten  der  Volks-  und  Bürgerschule  finden  hier  die  Mädchen, 
welche  das  14.  Lebensjahr  zurückgelegt  haben  müssen,  eine  Schule  von  zwei 
Jahrgängen,  wo  inshesondere  Handnähen,  Märken,  Schlingen,  Maschinennähen, 
Ausbessern,  Stopfen,  Zuschneiden  der  W^äsche  und  Initialsticken,  Feinwäscher-i 
und  Frisieren  sowie  daneben  als  allgemeine  Lehrfächer  noch  Zeichnen,  deutsche 
Sprache,  Rechnen,  Geographie  und  Schönschreiben  gelehrt  wird. 

Man  darf  dabei  nicht  an  flüchtige  Lehrmethode  denken.  Der  Unterricht  ist 
durchaus  ernst  und  begreift  in  der  W^oche  34  Unterrichtsstunden,  wovon  23  auf 
Handarbeiten  fallen. 


482  P^ez. 

In  den  Arbeitsschulen  wird  alles,  was  Gegenstand  der  weiblichen  Arbeit 
bildet,  auf  Bestellung  gearbeitet,  muss  also  kaufgerecht    hergestellt  werden. 

Nachdem  sie  die  Arbeitsschule  zurückgelegt,  können  die  Schülerinnen  je 
nach  Befähigung  und  Neigung  in  die  Fachschulen  des  Vereines  eintreten,  nämlich 
in  die  Handelsschule,  in  das  Atelier  für  Musterzeichnen  und  Stick- 
schule oder  in  die  Schneidereischule. 

2.  Handelsschule  mit  Nebencursen.  Der  Zweck  dieser  Schule  von 
zwei  Jahrgängen  besteht  darin,  den  Schülerinnen  jene  kaufmännischen  und 
comptoiristischen  Kenntnisse  zu  vermitteln,  deren  sie  als  Buchführerinnen, 
Cassierinnen  u.  s.  w.  bedürfen.  Ausser  den  allgemeinen  Fächern  bestehen  Curse 
für  die  französische,  englische,  und  italienische  Sprache,  ferner  Curse  für  Steno- 
graphie, sowie  ein  praktisches  üebungscomptoir. 

3.  Kunstgewerbliche  Schule,  bestehend  aus  einer  Zeichenschule  mit 
dem  Atelier  für  Maltechniken  sowde  dem  Atelier  für  Musterzeichnen  mit  Stickschule. 

Der  Besuch  der  Zeichenschule  bereitet  für  den  Eintritt  in  eines  der  beiden 
Ateliers  vor. 

Im  Atelier  für  Maltechniken  wird  unterrichtet:  Oelfarbentechnik,  Aquarell- 
malen, Malen  mit  Deckfarben  auf  Atlas,  Seide  u.  s.  w.,  endlich  Schmelzfarben- 
technik (Porzellan,  Steingut  u.  s.  w.). 

Die  Schule  für  Musterzeichnen  und  die  Stickschule  haben  das  selbständige 
Erfinden  zum  Ziel  und  erheben  dadurch  bei  begabten  Schülerinnen  die  Fertigkeit 
zum  wirklichen  Kunstgewerbe. 

4.  Die  Schneiderschule  nebst  Modistencurs  lehrt  Maassnehmen,  Schnitt- 
zeichnen und  Kleidermachen  nebst  den  entsprechenden  Putzarbeiten. 

Zu  diesen  rein  praktischen  Schulen  tritt  dann  noch 

f).  Das  Lyceum,  welches  man  als  eine  w^ohleingerichtete,  sechsclassige 
Mittelschule  für  Mädchen  bezeichnen  kann. 

Es  ist  dies  die  einzige  derartige  Anstalt  in  Wien,  ja  in  Oesterreich 
überhaupt,  und  als  solche  füllt  sie  unzweifelhaft  eine  starke  Lücke  aus.  Von  der 
ünterrichtsbehörde  wird  dies  auch  vollkommen  aneikannt.  Das  Lyceura  steht 
unter  Patronanz  des  Unterrichtsministeriums  und  erhält  von  demselben  eine 
ansehnliche  Unterstützung,  so  dass  es  fast  den  Charakter  einer  öffentlichen,  nur 
vom  Frauen-Erwerbverein  geleiteten  und  verw'alteten  Anstalt  trägt. 

Alle  diese  fünf  Schulen  sind  selbständig;  jede  bildet  in  sich  ein  Ganzes, 
wo  nur  Eines  gelehrt  wird.  Besonders  gilt  dies  von  den  Fachschulen  oder  Lehr- 
werkstätten. Gerade  dadurch  sind  aber  wieder  verschiedene  Combinationen  möglich, 
so  zwar,  dass  die  Schülerin  der  Handelsschule  zugleich  den  Curs  für  Maschinen- 
nähen oder  die  Schülerin  der  Arbeitsschule  den  Curs  für  Stenographie  besuchen 
kann,   —  alles  nach  dem  Bedarfe  der  einzelnen  Schülerin. 

Wie  sich  schon  aus  dem  Angeführten  ergibt,  kommen  die  Mädchen  sehr 
verschiedener  Volksclassen  in  dem  allgemein  beliebten  und  geschätzten  Hause  (Eahl- 
gasse  Nr.  4)  zusammen.  Während  das  Lyceum  von  den  Mädchen  der  gebildeten 
Classe  besucht  wird,  stellen  sich  in  den  Nähschulen  auch  Mädchen  der  ärmsten 
Classen  ein,  welche  aus  den  entlegentsten  Bezirken  der  Grosstadt,  wie  Zwischen- 
brücken und  St.  Yeit,  in  den  Verein  eilen. 


Aus  dem  Wiener  Vereinsleben.  483 

Dem  entsprechend  sind  auch  die  Preise  gestellt.  In  dem  Lyceum  kostet 
das  Schulgeld  im  Jahre  90  Gulden  ;  dagegen  ist  der  Unterricht  im  Handnähen 
(ünterrichtsdauer  11  Monate,  täglich  mehrstündig)  unentgeltlich.  Ebenso  im 
Maschinennähen  und  Wäschezuschneiden  (6  Monate,  täglich  mehrstündig).  Nicht 
minder  können  im  Maschinenstricken,  Feinwäscherei  und  Sticken  die  Mädchen  der 
ärmeren  Classe  sich  unentgeltlich  die  nöthigste   Fertigkeit   erwerben. 

In  der  höheren  Arbeitsschule  beträgt  das  Schulgeld  jährlich  50  Gulden, 
in  der  Handelsschule  60  Gulden,  in  der  Zeichenschule  je  nach  dem  Curse 
27  —  80   Gulden. 

Mancherlei  Stipendien,  überwiegend  von  Damen  des  Vorstandes  selbst 
gestiftet,  erleichtern  noch  den  Aermeren  den  Zutritt  zu  den  höheren  Cursen  oder 
eine  gründlichere  Durchbildung. 

Da  das  Schulgeld  möglichst  nieder  gehalten  wird,  sind,  mit  Ausnahme  des 
(reichlich  von  der  Unterrichtsbehörde  subventionierten)  Lyceums,  alle  einzelnen 
Schulen  passiv.  So  hatten  im  Jahre  1891  die  Arbeitsschule  und  Handelsschule 
einen  Ausfall  von  rund  3700  Gulden,  die  Zeichenschule  von  400  Gulden,  die 
Nähstube  von  3000  Gulden,  die  Feinwäschereischule  von  1100  Gulden,  die 
Schneiderschule  von  530  Gulden,  die  Maschinenstrickschule  von  580  Gulden 
und  der  Friseurcurs  von  2.2  Gulden.  Zur  Deckung  dieser  Zuschüsse  an  die 
Schulen  dienen  die  Mitgliederbeiträge  (3600),  Spenden  (1500)  und  Subventionen 
(1000)  sowie  Zinsen  vom  Eeservefonde  (1900).  Dass  der  Verein  in  guter  Zeit  sich 
ein  eigenes  Haus  zu  erwerben  wusste,  erleichtert  ihm  seine  Thätigkeit  ungemein. 
Ausgaben  und  Einahmen  halten   sich    mit  je  23.000  Gulden  das  Gleichgewicht. 

In  der  Zeit  seines  Bestehens  (25  Jahre)  hat  der  Verein  eine  grosse  Zahl 
von  Schülerinnen  ausgebildet.  Das  Nähere  darüber  ergibt  nachfolgende  Zusammen- 
stellung : 

Nähstuben 5.595  I  Mädchen-Lyceum      1.417 

Zeichenschule 627  ;  Höhere  Arbeitsschele  (2  Classen)      .       798 

Handschuhnähen 172     Atelier  für  Musterzeichnen     ....         25 


Handelsschule 1.300 

Wiederholungsschule 289 

Französische  Sprachschule  (4  Classen 

und  Conversationscurse)      ....    2.608 

Telegraphie-Curse 287 

Englische    Sprachschule    (3    Classen 

und  Conversationscurse)  ....  1.066 
Frequentantinnen    einzelner    Fächer 

der  höheren  Bildungs-  und  höheren 

Arbeitsschule 221 

Vorbereitungsschule 130 


Schneidereischule 876 

Spitzencurs 143 

Stenographische  Lehrcurse     ....  328 

Feinwäschereischule 1.024 

Atelier  für  kunstgewerbliche  Maltech- 
niken'    96 

Lehrcurse  für  Stickerei 322 

Modistencurs 168 

Italienische  Sprachschule 43 

Frisiercurse 35 


Zusammen  ....  17.520 
Insgesammt  haben  demnach  17.520  Mädchen  in  den  Schulen  des  Frauen- 
Erwerbvereines  ihre  Ausbildung  erlangt,  und  sowohl  die  Mädchen  selbst,  als  auch 
ihre  Eltern,  die  Stadt  Wien,  der  österreichische  Gewerbfleiss  und  alle  an  der 
Blüte  des  letzteren  betheiligten  Mächte  müssen  dem  Vereine  dafür  Dank  wissen. 
In  runder  Summe  treten  jährlich  800  Mädchen  aus  dem  Vereine,  gestärkt 
und  gekräftigt  zum  Kampfe  um's  Dasein. 


484  Pe^z- 

Obwohl  der  Verein  bisher  keine  eigentliche  Stellenvermittlung  übt,  fanden 
doch  bisher  schon  durch  Empfehlung  des  Vorstandes  zahlreiche  Mädchen  und 
Frauen  ein  Unterkommen.  In  dieser  Hinsicht  besteht  noch  eine  Lücke;  von  jenen 
Vereinen  für  Arbeitsvermittlung,  in  welchen  männliche  Arbeiter  den  entscheidenden 
Einfluss  haben,  werden  Mädchen  und  Frauen  grundsätzlich  abgewiesen.  So  wird  der 
Frauen-EiTN^erbverein  wahrscheinlich  mit  der  Zeit  genüthigt  sein,  auch  die  Stellen- 
vermittlung ausdrücklich  in  den  Bericht  seiner  Pflichten  einzubcziehen. 

Jede  Erweiterung  seiner  Thätigkeit  wird  aber  jetzt  in  hohem  Grade  dadurch 
erschwert,  dass  das  eigene  Haus  des  Vereines  bereits  für  seine  ausgedehnten 
Zwecke  zu  klein  wird. 

Dies  ist  auch  ein  mitwirkender  Grund,  dass  der  Verein  Kochen  und  Führung 
des  Haushaltes  noch  nicht  selbständig  pflegte,  sondern  dem  Wiener  Hausfrauen- 
Verein  und  (soweit  Arbeiterinnen  ins  Spiel  kommen)  dem  Volksbildungs verein, 
Zweig  Wien,  überlassen  hat. 

Zur  Erschliessung  neuer  Erwerbszweige  für  Frauen  und  Mädchen  ist  der 
Verein  wiederholt  wirksam  gewesen.  Die  Verwendung  von  Mädchen  in  der  Telegraphie 
ward  durch  ihn  ermöglicht.  Er  hat  drei  Jahre  lang  die  Ausbildung  der  Telegra- 
phistinnen  übernommen,    solange    bis  der  Staat  selbst   in   diese  Aufgabe  eintrat. 

Dagegen  ist  es  jetzt  —  nach  manchen  ernstlich  und  liebevoll  unternommenen, 
aber  stets  missglückten  Versuchen  —  ein  fester  Grundsatz  des  Vereines,  von  Geschäfts- 
gründungen oder  Bildung  von  Genossenschaften  abzusehen.  Eine  bloss  theoretische 
Auffassung  unterschätzt  regelmässig  die  Bedingungen,  die  zur  Pflanzung  eines 
solchen  Keimes  erforderlich  sind.  Dazu  gehört  eine  Berücksichtigung  der  indivi- 
duellen Verhältnisse,  ein  Anpassen  an  Gegebenes,  und  eine  Erkenntnis  aller 
Gefahren  und  zugleich  eine  Festigkeit  des  Willens,  die  nur  im  Gefühle  der 
persönlichsten  Verantwortlichkeit  wurzeln  können.  Daher  hat  der  Verein  sich  mehr 
und  mehr  darauf  beschränkt,  die  Kräfte  der  Einzelnen  durch  Errichtung  und 
Ausbildung  zu  stärken,  das  Eingreifen  in's  praktische  Leben  selbst  jedoch  diesen 
Einzelnen  anheimzustellen.  —  eine  Lehre,  die  nicht  bloss  bei  der  Frauenbildung, 
wenn  auch  vielleicht  bei  dieser  in  besonderem  Grad,  Beachtung  verdient. 

In  dem  Wiener  Frauen-Erwerb-Vereine  wirken  zahlreiche  männliche  Lehr- 
kräfte, allein  stets  unter  Controle  der  Damen  des  Vorstandes.  Die  letzteren  leiten 
den  Verein,  führen  die  Bücher,  schreiben  die  Veröffentlichungen  des  Vereines, 
halten  die  Vollversammlungen  ganz  selbständig  ab;  kurz,  die  Mitwirkung  von 
Männern,  anfangs  sehr  erwünscht,  ist  fast  ganz  überflüssig  geworden.  Damen 
aller  gebildeten  Classen  gehören  dem  Vorstande  an,  wobei  allerdings  Glück  und 
eigene  Einsicht  der  Damen  den  Verein  mit  trefflichen  Präsidentinnen  ver- 
sorgte. Eine  grosse  Summe  von  Arbeit  liegt  im  Vereine,  bis  er,  mit  bescheidenen 
Mitteln,  endlich  seine  jetzige  Blüte  erreichte,  und  noch  grösser  ist  die  Summe 
segensreicher  Arbeit,  die  von  dem  Vereine  durch  Lehre  und  Beispiel  gepflanzt, 
erzogen  und  zur  Bethätigung  im  praktischen  Leben  geführt  ward. 

Dr.  A.  P. 


EINE  ALTE  WIENER  HAüSINDUSTKIE. 


VON 


DH-  EUGEN  SCHWIEDLAND. 


JJer  nachfolgende  Auszug  aus  dem  Actenmaterial  verschiedener  Wiener 
Archive  und  Kegistraturen  bildet  einen  Nachtrag  und  eine  Exemplification 
zu  meiner  Darstellung  der  „Entstehung  der  Hausindustrie"  in  Heft  I.  dieser 
Zeitschrift.  Durch  seine  Veröffentlichung  ist  indes  nicht  bloss  beabsich- 
tigt, eine  actenmässige  Bestätigung  zu  manchen  dort  aufgestellten  Behaup- 
tungen zu  erbringen;  er  besitzt  auch  sonst  Interesse,  u.  zw.  in  dreifacher 
Hinsicht. 

Zunächst  finden  sich  darin  einige  Mittheilungen  über  die  Verbreitung 
der  Hausindustrie  in  Wien  zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts;  sodann 
zeigt  sich  zur  Klarheit,  dass  die  Ursachen  der  Entstehung  des  Sitzgesellen- 
wesens in  der  Zunftzeit  die  nämlichen  waren,  welche  auch  heutzutage  die 
Heimarbeit  neben  dem  Werkstättenbetriebe  befördern;  endlich  erhellt  aus  unserem 
Material  die  behördliche  Auffassung  dieser  Entwicklung;  es  ist  die  gleiche 
doctrinäre  Beurtheilung  der  Dinge,  welche  in  so  vielen  anderen  Fällen  aus 
dem  Mangel  der  natürlichen  Anschauung  entspringt,  aber  von  den  Vorurtheilen 
der  Zeit  getragen  wird  und  anderseits  den  Schlagworten  dieser  weittragende 
Unterstützung  leiht. 


Die  wenigen  in  den  zahlreichen  Wiener  Archiven  noch  erhaltenen  ein- 
schlägigen Acten  geben  am  reichlichsten  über  die  jg^imarbeit  der  Wiener 
Strumpfwirker  zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  Auskunft.  Die  ledigen  Wirker- 
gesellen —  man  unterschied  Woll-  und  Seidenwirker  —  wohnten  damals,  wenn 
nach  den  Verhältnissen  zu  Beginn  unseres  Jahrhunderts  geurtheilt  werden  kann, 
bei  den  Meistern,  wo  sie  auch  die  Verpflegung  fanden.  Die  Heimarbeit  entwickelte 
sich  nun,  indem  einzelne  Meister  Gesellen,  die  eigene  Wohnungen  hatten, 
einen  Stuhl  dort  aufstellten;  die  Gehilfen  erhielten  nach  wie  vor  vom  Meister 
das  gespulte  Garn  und  lieferten  ihm  das  gewirkte  Zeug,  wie  es  vom  Stuhle 
kam,  in  nicht  zusammengenähtem  Zustande  ab;  sie   führten   also  bloss  Gesellen- 


4  g  (5  Schwiedlaiid, 

arbeit  aus,  jedoch  tliaten  sie  das  bei  sich  daheim.  Ein  solcher  bei  sich  mit 
Arbeit  verlegter  Greselle  war  kein  Stöhrer,  denn  er  war  befugt,  für  einen  Meister 
zu  arbeiten  und  dieser,  ihn  zu  beschäftigen.^) 

Da  fasste  nun  die  Innung  der  Wiener  bürgerlichen  Strumpfwirkermeister  im 
Jahre  1792  den  Beschluss.  es  dürfe  künftig  kein  Meister  einem  Gesellen  einen 
Arbeitsstuhl  „ausser  Haus",  d.  i.  in  dessen  Wohnung  aufstellen,  jeder  Meister 
sei  vielmehr  verhalten,  alle  Stühle  in  seiner  Werkstätte  zu  betreiben,  mithin 
Stühle,  die  er  bei  Gesellen  hätte,  zurückzunehmen. 

Diese  üebung,  Gesellen  als  Heimarbeiter  anzusetzen,  war  damals  in  Wien 
sehr  verbreitet.  Sie  fand  bei  den  Wirkorn  beider  Arten  statt  (deren  Erzeugnisse 
Geldbeutel,  ferner  Handschuhe,  Schlafmützen  und  Strümpfe,  Westen  und  Säcke, 
d.  i.  gewirkte  Stoffe  waren,  aus  welchen  die  Schneider  —  z.  B.  für  die  verschieden- 
farbige ungarische  Magnatentracht  —  Beinkleider  anfertigten),  sie  bestand  bei 
den  Strickern,  den  Posamentierern,  den  Seidenzeugmachern,  den  Baum-  und 
Schafwoll-,  sowie  bei  den  Leinenwebern,  ja  sogar  bei  den  Uhrmachern,^)  und  die 
Drechsler  stellten  ebenfalls  bereits  Drehbänke  in  den  Wohnungen  verheirateter 
Gesellen  —  die  also  weder  beim  Meister,  noch  bei  einem  Eettgeber  wohnten  —  auf. 

Im  Jahre  1792  erliess  sogar  der  Magistrat  mit  Beziehung  auf  die  ühren- 
und  L'hrgehäusearbeiter  eine  Verordnung,  welche  jene  Gesellen,  die  in  ihrer 
Wohnung  für  ihre  eigene  Rechnung  oder  für  andere  als  für  bürgerliche  oder 
befugte  ^)  Uhrmacher  arbeiten,  mit  der  Strafe  der  Stöhrer,  nämlich  mit  der 
Confiscation  des  Werkzeuges,  bedroht;^)  vielmehr  habe  sich  ein  Geselle,  der  zu 
Hause  thätig  ist,  mit  einer  förmlichen  von  dem  beschäftigenden  Meister  unter- 
zeichneten Bestellung  auszuweisen,  sonst  werde  ihm  im  wiederholten  Falle  das 
Werkzeug  genommen  und  alle  fernere  Arbeit  zu  Hause  unnachsichtlich  einge- 
stellt,^) und  spätere  Verordnungen  wiederholten  diese  Forderung  der  Ausweis- 
leistung des  daheim  arbeitenden  Gesellen. 

Trotz  dieser  Anerkennung  des  Eechtes  der  Meister,  sich  in  der  örtlichen 
Verwendung  der  Gesellen  keiner  Beschränkung  zu  fügen,  sah  sich  —  durch  welche 
Ursache  ist  aus  den  allenthalben  in  Massen  und  ohne  Urtheil  scartierten  Acten 
nicht  zu  ersehen  —  der  bürgerliche  Drechslermeister  Jos.  Dreyer  in  den  ersten 
Jahren  des  letzten  Decenniums    veranlasst,    durch    ein    Hofgesuch  das  Recht  für 


')  Die  gewerberechtliche  Stellung  der  Stöhrer  ist  genau  die  jener  heutigen 
Gesellen,  welche  bei  sich  daheim  (anstatt  für  Meister)  für  Händler  oder  gewerbsmässig 
unmittelbar  für  Consumenten  arbeiten. 

2)  Diese  wurden  in  „grosse"  und  „kleine"  unterschieden;  während  die  letzteren 
aus  der  Schweiz  bezoge^^Bestandtheile  zu  Taschenuhren  zusammenstellten,  auch  fertige 
Taschenuhren  repassierten  und  beschädigte  reparierten,  erzeugten  jene  die  Pendel-, 
Stand-  und  Thurm-Uhren.  Das  im  Text  Gesagte  bezieht  sich  auf  die  Klein  Uhrmacher 
allein.  —  Noch  heute  bestimmen  die  Statuten  der  Genossenschaft  der  Uhrmacher  in 
Wien  (§.  7),  der  Meister  habe  die  Aufnahme  und  Entlassung  seiner  Gehilfen  oder  Lehr- 
linge, „ohne  Unterschied,  ob  er  sie  in  seiner  Werkstätte  oder  ausserhalb  derselben  mit 
Arbeit  versieht,"  bei  der  Genossenschaft  zu  melden. 

3)  Befugte  =  Schutzverwandte,   S.  S.  5. 

*)  Repertorium  der  Registratur  des  Wiener  Magistrates,  1792,  Band  II. 

^)  Eingetragen  im  Repertorium  der  Wiener  Ulirmacher-Genossenschaft  im  Jahre  1792. 


Eine  alte  Wiener  Hausindustrie.  437 

sich  zu  erbitten,  seinen  Gesellen  Arnold  Scliopper  „bei  Hause  mit  geringer 
Arbeit  verlegen  zu  dürfen".  Dieses  Begehren  wurde  indes  am  23.  December  1795 
nach  vorhergegangenen  Erhebungen,  von  denen  die  Spur  ebenfalls  nur  mehr  in 
späteren  Acten  zu  finden  ist,  mit  dem  nachfolgenden  normativen  Decrete  der 
Hofkanzlei  abschlägig  beschieden:  ^) 

-Bei  den  zunftmässigen  Innungen  ist  es  der  Ordnung  und  ihrer  Verfassung 
gemäss,  dass  die  Gesellen  in  den  Werkstätten  der  Meister,  und  nicht 
in  ihren  Wohnungen  arbeiten  sollen,  weil  im  entgegengesetzten  Palle  die 
Gelegenheit  zu  Stöhrerey  gegeben  werden  würde,  und  mehrere  Gesellen  mit  armen 
Meistern  sich  verstehen,  sich  mit  ihnen  abfinden,  und  unter  dem  Yorwande  für 
dieselben  zu  arbeiten,  solches  für  eigene  Eechnung  auf  eine  unbefugte  Weise 
thun  könnten."  ^)  Hiemit  war  die  Hausindustrie  rechtlich  abgeschafft. 
Eben  im  Jahre  1795  hatten  aber  auch,  mit  dem  Zwange  unzufrieden, 
welchen  der  eingangs  erwähnte  Innungsschluss  bei  den  Strumpfwirkern 
begründete,  die  drei  Meister  Johann  Bull,  Anton  Wittich  und  Benedict 
Schropp  bei  der  Landesbehörde  um  dessen  Aufliebung  und  um  die  Erlaubnis 
gebeten,  auch  künftighin  Stühle  für  ihre  Eechnung  in  die  Wohnungen  der 
Gesellen  stellen  zu  dürfen. 

lieber  dieses  Begehren  untersuchten  die  Wiener  Stadthauptmannschaft 
gemeinschaftlich  mit  der  nieder-österreichischen  Fabrikeix-Inspection  ^)  die  Verhält- 
nisse und  auf  Grund  ihres  Berichtes  wies  die  Landesregierung  die  Meister  aus 
dem  Grunde  ab,  weil  der  grössere  Theil  der  Meisterschaft  jene  Anordnung 
nützlich  befunden  und  vor  der  Commission  erinnert  habe,  dass  die  «Ausserhaus- 
gebung  der  Arbeitsstühle  Missbräuche  und  Stöhrereyen  nach  sich  ziehe'',  ja,  ein 
Meister  sich  sogar  habe  „beigehen  lassen",  ein  falsches  Zeugnis  seinem  Gesellen 
auszustellen,    als  ob  er  für  ihn  arbeite,    da  der  Gesell  in  Wirklichkeit  doch  auf 


')  Eegistratur  der  k.  k.  n.-ö.  Statthalterei. 

''■^)  Li  demselben  Sinne  beschloss  eine  Verordnung  der  n.-ö.  Landesregierung  vom 
1.  Aug.  1802:  „Da  bei  den  Kleinuhrmachern  der  Gebrauch  besteht,  dass  der  Gesell 
seinen  Werkzeug  besitzen  muss,  und  da  der  vorzüglichste  Erwerb  der  Uhrmachermeister 
in  der  Keparatur  der  Uhren  besteht,  welcher  ihnen  von  den  zu  Hause  arbeitenden 
Gesellen  ganz  genommen  würde,,  weil  hierüber  keine  Aufsicht  und  keine  Controle 
bestehen  kann,  sobald  sie  zu  Hause  arbeiten,  und  ihre  Werkzeuge  bei  sich  zu  haben 
berechtigt  sind,  so  könne  demnach  bei  dem  Uhrmachergewerbe  das  Verlegen  der  Gesellen 
mit  Arbeit  in  ihrer  eigenen  Wohnung,  ohne  besonderer  obrigkeitlicher  Bewilligung,  bei 
der  gegenwärtigen  Zunftverfassung  nicht  gestattet  werden.  Wornach  daher  der  Magistrat 
die  Hofbittsteller  zu  verständigen  und  das  weiters  Nöthige  zu  verfügen  hat."  (S.  302  des 
Xormalienbuches  in  Politicis  1795— 1801  des  Wiener  Magistrates.  Die  bezüglichen  Acten 
wurden  bei  allen  Instanzen,  gleich  so  vielen  anderen,  vernichtet.) 

3)  Die  k.  k.  Fabriken-Inspection  wurde  in  Nieder- 0 esterreich  i.  J.  1772  errichtet 
und  i.  J.  1810  neu  organisiert,  wobei  ein  Inspector  und  zwei  Inspections-Commissarien 
dem  nöthigen  Kanzleipersonale  vorstanden.  Aehnlich  dem  deutschen  Fabriksinspectorate 
des  vorigen  Jahrhunderts  (vgL  Schanz,  Zur  Geschichte  der  Colonisation  und  Industrie 
in  Franken,  S.  106)  bildete  diese  Institution  ein  Organ  der  „Gewerbepolizei''  (im  höheren 
Sinn),  war  aber  keineswegs  von  socialpolitischem  Charakter.  Vrgl.  Kopetz,  Allg.  üsterr. 
Gewerbs-Gesetzkunde,  Wien  1829,  I.  S.  109,  Mataja,  Die  österr.  Gewerbe -Inspection 
(in  Conrads  Jahrbüchern,  März  1889)  und  den  Aufsatz  von  Steinbach  „Arbeiterschutz- 
gesetzgebung in  Oesterreich"  in  Conrads  StaatswOrterbuch. 


488 


Scliwiedland. 


eigene  Kechnung  stöhrte.  —  Zugleich  wurde  jedoch  dem  Magistrate  erinnert, 
dass,  da  ihm  nicht  unbevrusst  sein  könne,  dass  derlei  Innungsschlüsse  vermöge 
mehrerer  Verordnungen  unstatthaft  sind,  er  auch  diesen  Schluss  nicht  hätte 
bestätigen  sollen. 

Infolge  dieser  Regierungs-Yerordnung  vom  27.  October  1795,  welche  dem 
normativen  Hofdecrete  über  das  Gesuch  des  genannten  Drechslermeisters  noch 
vorangieng,  ersuchte  nun  die  Meisterschaft  im  Jahre  1796,  es  möge  auch  der  mit 
einem  Fabriksbefugnisse  betheilte  Wirker  Karl  Danopp  verhalten  werden,  seine 
Stühle  nach  Hause  zu  nehmen.  Dem  Vorlageberichte  des  Magistrates  entsprechend 
wies  aber  die  Landesregierung  dieses  Begehren  unter  Hinweis  auf  das  vorcitierte 
Hofdecret  vom  23.  December  1795  ab,  da  das  letztere  bloss  das  Arbeiten  der 
Gesellen  zunftmässiger  Innungen  bei  sich  zu  Hause  verboten  habe;  wo  eine 
fabriksmässige  Befugnis  eintritt,  sei  es  unräthlich,  solchen  Zwang  einzuführen, 
weil  dergleichen  Fabrikanten  ihre  Gesellen  oft  nicht  zu  Hause  unterbringen 
können,  diese  folglich,  wenn  sie  täglich  zur  Arbeit  kommen  müssten,  mit  dem 
Hin-  und  Hergehen  viel  Zeit  verlören  und  weil  endlich  der  Stöhrerei  durch  Vor- 
sichten —  dass  nämlich  der  Stuhl  dem  Fabrikanten  eingenthümlich  gehören 
und  dieser  dem  Gesellen  ein  Zeugnis  ausstellen  müsse,  dass  er  für  ihn  arbeite, 
—  hinlänglich  vorgebeugt  werde. 

Hier  ist  in  der  gewerberechtlichen  Construction  die  erste  gewerbepolitische 
Verkehrtheit  vorhanden,  indem  übersehen  wird,  dass  was  da  dem  „Fabrikanten" 
zugesprochen,  dem  „Meister"  aber  versagt  wird,  jenem  ein  entschiedenes  ökono- 
misches Uebergewicht  auf  Kosten  des  letzteren  gewährt;  es  macht  sich  zum 
erstenmal  eine  doctrinäre  Auffassung  der  Dinge  aus  Mangel  an  Anschauung  geltend. 

Es  sollte  aber  für  die  dem  Sitzgesellenthum  feindliche  Meisterschaft  noch 
schlechter  kommen;  allerdings  nicht  fürs  erste;  vor  ihrer  endgiltigen  Niederlage 
war  ihr  noch  ein  Sieg  beschieden.  Mit  dem  Hofdecret  vom  3.  November  1796 
wurde  nämlich  der  Eecurs  des  Bull  gegen  die  ihm  ungünstige  Verordnung  der 
Nieder-österreichen  Regierung  abgewiesen  und  bei  dieser  Gelegenheit  angeordnet, 
auch  dem  Meister  Danopp,  dem  die  Regierung  solches  erlaubt,  die  Ausserhaus- 
gebung  der  Arbeitsstühle  einzustellen,  (lieber  die  Motive  dieser  zunftfreundlichen 
EntSchliessung  fehlt  bedauerlicherweise  jede  Aufklärung;  die  sämmtlichen  bezüg- 
lichen .Verhandlungsacten  sind  gleichfalls  verschwunden  und  das  Decret  selbst 
ist  bloss  aus  einem  Citate  in  späteren  Acten  bekannt.) 

Hierauf  folgt  (1797)  ein  Revisionsbegehren,  eine  „Vorstellung  bei  Hofe"  seitens 
Danopps,  über  die  nach  eingeholtem  Berichte  der  Landesregierung  (2.  März  1799) 
der  Entscheid  ergeht,  dass  Danopp  als  Besitzer  eines  Fabriksbefugnisses  an  den 
Innungsschluss  der  Meisterschaft,  zu  der  er  nicht  gehöre,  nicht  gebunden  werden 
könne,  es  folglich  von  der  Hofverordnung  vom  3.  November  1796  wieder  abzu- 
kommen habe  und  ihm  ferner  unbenommen  bleibe,  Stühle  ausser  Hause  zu  haben. 

Damit  war  endgiltig  zweifaches  Recht  geschaffen,  zunächst  ein  anderes  für 
Meister  und  für  Fabrikanten,  sodann  ein  verschiedenes  innerhalb  des  Handwerkes 
selbst,  indem  ja  das  Verbot  des  Hausgesellenthums  vom  23.  December  1795  seinem 
Wortlaute  nach  auf  Gewerbe,  die  nicht  in  eine  Zunft  gegliedert  waren,  ebenfalls 
keine  Anwendung  fand. 


Eine  alte  Wiener  Hausindustrie.  439 

Allein  auch  soweit  es  Geltung  behielt,  wurde  es  von  einem  Theile  der 
Meisterschaft  bekämpft. 

Der  Strumpfwirkermeister  Bull  hatte  nämlich  gegen  seine  Abweisung  vom 
3.  November  1796  gleichfalls  eine  wiederholte  „Yorstellung  bei  Hofe"  eingebracht. 

Hierauf  forderte  die  Hof kanzlei  (1797)  für  den  Fall,  wenn  neue  rücksichts- 
würdige Behelfe  vorkämen,  ein  weiteres  Gutachten  von  der  Landesstelle.  Diese 
ordnete  die  nöthigen  Erhebungen  an. 

Von  den  hiermit  beauftragten  Behörden  beantragte  der  Wiener  Magistrat, 
nach  nochmaliger  Anhörung  der  Meisterschaft,  gleich  wie  früher  die  Abweisung 
des  Bull. 

Anders    der    nieder-österreichische    Fabriken -Inspector.     Dieser  weicht   am 
11.  März  1801  von  seiner  im  Jahre  1795  abgegebenen  Meinung    ganz  ab    und 
räth    nunmehr,    unter    gewissen  Vorsichten  —  dass  der  Meister   einem    Gesellen 
nur    einen    Stuhl    anzuvertrauen,    dieser    Stuhl    stets    Eigenthum  des  Meisters  zu 
bleiben  und  der  Meister  dem  Gesellen  zugleich  ein  schriftliches  Zeugnis,  dass  er 
für    ihn    arbeite,    auszustellen    habe    —    auf   die    Grewährung    des  Gesuches  und 
demgemäss  auf  die  Aufhebung  des  bestehenden  Innungszwanges  ein.  Der  Innungs- 
schluss,    worauf    der    Zwang    beruht,    sei    nach   der  Auffassung  mehrerer  Meister 
von  dem  seinerzeitigen    Innungsvorsteher   bloss    durch    die    listige  Vorspiegelung 
bewirkt  worden,  dass  auch  die  Schutzverwandten  (=i  Schutzbefugten,  die  mit  einer 
Befugnis    zu   selbständiger  Arbeit  ohne  Hilfskräfte  versehenen  Gewerbegenossen), 
die  fabriksmässig  und  Landes-Befugten,    dann   diejenigen  Strickermeister,    welche 
auch  W'irkergesellen    halten    durften,    gleichfalls    zur    Zurücknahme    ihrer    Stühle 
nach  Hause  würden  verhalten  werden  —  wovon  aber  die  Erfahrung  das  Gegen- 
theil    gelehrt    habe;     bei    mehreren    anderen  Innungen    (den  Seidenzeugmachern, 
Posamentierern,  Baum-  und   Schafwoll-   und   Leinenwebern)   sei  der  Zwang  abge- 
schafft worden  und  alle  diese  geben  bereits  seit  langer  Zeit  ihren  vertrauens- 
würdigen Gesellen  Stühle    in    ihre  W^ohnnng,    wie    diese    Uebung    auch    bei    den 
fabriksmässig   Befugten,    dann  Landesfabrikanten  und  den  bürgerlichen 
Strickermeistern,    die    alle    mit    den  Wirkern   eine  gleiche  Beschäftigung  treiben, 
gleichfalls    fortbestehe;     bei    Fortdauer    des    Zwanges    würden    die    verheirateten 
besten  Gesellen  die  Wirkmeister  verlassen  und  zu  den  Fabrikanten  und  Stricker- 
meistern übergehen,  bei  denen  dieser  auf  Innungsschluss  beruhende  Zwang  nicht 
bestehe;  die  Gesellen  verlieren  mit  dem  Hin-  und  Hergehen  in  die  Werkstätte 
der    Meister    viel    Zeit    und    nützen    dadurch  ihre  Kleidungstücke  mehr 
ab,    wo    sie    hingegen,    wenn   sie  zu  Hause    arbeiten    dürften,    auch    Gelegenheit 
hätten,    bei  Krankheitsfällen  und    sonst   ihrer    Familie  mehrfach  Hilfe  zu  leisten 
und    die    hierauf    verwendete    Zeit    leicht    hereinbringen     könnten;     ferner    sei 
der  Zwang  der  Erweiterung  der  Beschäftigung  und  Fabrikation    höchst 
hinderlich;    die  Unterbringung    mehrerer  Stühle   beisammen    erfordere    grössere 
Wohnungen,    die,  ausserdem    dass  der  höhere  Zins  die  Waren  noch  mehr 
vertheuert,  auch  nur  sehr  schwer  aufzufinden  seien,  da  die  meisten  Hauseigen- 
thümer    viele    Stühle    zusammen    wegen    ihrer  Schwere  und  des  durch  sie  verur- 
sachten Getöses  nicht  gern    in    ihre  Häuser    nehmen,  wogegen    die  verheirateten 
Gesellen    jeder    leicht    einen    Stuhl    in    ihren  Wohnungen    unterbringen  können; 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  III.  Heft.  32 


490  Schwiedland. 

endlich  sei  der  Stöhrerei  durch  die  vorgeschlagenen  Yorsichtsmaassregeln  und 
dadurch,  dass  der  Stuhl  einem  unordentlichen  Gesellen  sogleich  wieder  abge- 
nommen werden  kann,  hinlänglich  vorgebeugt.^) 

r'nter  diesen  Gründen  sind  jene  Umstände  zutreffend  angegeben,  vermöge 
welcher  die  hausindustrielle  Erzeugung  eine  ökonomischere  Betriebsform  darstellt, 
als  das  Handwerk  und  die  Fabrik.  Der  Meister  erspart  durch  sie  Anlagecapital 
und  kann  den  Betrieb  mit  geringen  Mitteln  ins  Ungemessene  erweitern ;  er  bedarf 
hiezu  nicht  mehr  festes  Capital,  als  die  Arbeitsmittel  darstellen,  welche  er  dem  Heim- 
arbeiter übergibt,  und  nicht  mehr  umlaufendes,  als  die  Anschaffung  des  Eohstoffes 
und  die  jeweilige  Löhnung  am  Zahltag  erfordern.  Freilich  gelangt  er,  wenn 
er  im  Vergleich  zu  seinen  Mitteln  zu  viele  Heimarbeiter  beschäftigt,  leicht  bei 
der  ersten  Stockung  des  Absatzes  in  eine  Abhängigkeit  vom  Händler,  welche  ihn 
des  Profites  enteignet,  den  er  vom  hausindustriellen  Betriebe  erhofft. 

Der  Gesell  seinerseits  ist  allerdings  bei  Weib  und  Kind  daheim  und  kann 
dann  beliebig  lang  arbeiten,  allein  die  prekäre  Lage  des  Meisters  drückt  sich 
naturgemäss  auch  in  seinen  Verhältnissen  deutlich  aus :  sobald  jener  (materiell) 
zum  blossen  Factor  des  Händlers  wird,  in  dessen  Händen  der  Absatz  ausschliesslich 
ruht,  übt  der  „Meister"  infolge  des  Druckes,  der  auf  ihm  lastet,  gleich  jedem 
anderen  Einkäufer  oder  Fergger,  die  Function  einer  lebenden  Lohnschraube 
gegenüber  seinen  Gesellen.  Nun  wird  der  aus  Erwerbssinn  freiwillig  verlängerte 
Arbeitstag  zur  normalen  Einrichtung,  ohne  dass  aber  die  Löhne  eine  aus- 
kömmliche Existenz  gewährleisten  würden. 

Doch,  abgesehen  davon,  dass  sich  die  Lage  des  Hausgesellen  mit  der 
Abhängigkeit  des  Meisters  verschlechtert,  wird  sie  anderseits  auch  durch  die 
Lage  seiner  Arbeitsgenossen  nachtheilig  beeinflusst:  bei  steigender  Conjunctur 
wird  der  Lohn  vermöge  der  risicolosen  Ausdehnung  des  Betriebes  seitens  der 
Unternehmer  niedrig  gehalten  —  bei  Krisen  hingegen  erreicht  die  Concurrenz 
der  durch  die  Leichtigkeit  der  Betriebserweiterung  vermehrten  Schar  von  Hilfs- 
kräften ihren  Höhepunkt,  und  die  Löhne  fallen  bis  zum  Existenzminimum  der 
mindestbedürftigen  unter  den  frei  gewordenen  Kräften  I-) 

Das  sind  die  wahren  Segnungen  der  Hausindustrie,^)  sie  stellen  sich 
auch  dort  ein,  wo  es  sich,  wie  bei  den  Strumpfwirkern,  um  ein  in  hohem  Maasse 

')  Das  Spulen  des  Garnes  und  Zusammennähen  des  gewirkten  Stoffes  wurde  da- 
mals von  den  Frauen  und  Dienstmädchen  der  Meister  in  den  Abendstunden  besorgt; 
zum  Spulen  wurden  auch  Lehrjungen  verwendet;  die  hausind astriell  beschäftigten  Gesellen 
erhielten  nach  der  Mittheilung  alter  Meister  auch  in  den  dreissiger  Jahren  vom  Meister 
das  Garn  gespult  und  lieferten  den  Stoff  ungenäht  ab,  so  dass  ihrerseits  keine  Heran- 
ziehung ihrer  Angehörigen  zur  gewerblichen  Arbeit  erfolgte. 

-)  Zu  dem  gegenseitigen  Unterbieten  der  Arbeiter  tritt  in  manchen  Branchen  auch 
der  Lohndrack  infolge  der  Concurrenz  der  Gewissenlosigkeit,  den  jene 
Unternehmer  veranlassen,  deren  Hauptgeschäft,  wie  ein  Autor  sagt,  „im  Plaitemachen 
besteht"  (siehe  die  Schilderung  A.  L  e  h  rs,  Die  Hausindustrie  in  der  Stadt  Leipzig, 
Leipzig  1891,  S.  68),  ferner  der  Einfluss  der  Concurrenz  der  Nebenarbeit, 
d.  i.  die  Concurrenz  solcher,  die  eine  erwerbsmässige  Arbeit  um  jeden  Preis  übernehmen, 
weil  sie  nur  zur  Vermehrung  des  Taschengeldes  dienen  soll. 

3)  Wie  sich  aus  der  vorletzten  Note  ergibt,  nahm  bei  den  Strumpfwirkern  die 
Familie  des  Heimarbeiters  in  Wien  an  den  jrewerblichen  Arbeiten  nicht  tlieil.  Oft  theilt 


Eine  alte  Wiener  Hausindustrie.  491 

gelerntes  Gewerbe  handelt.  Freilich  hemmt  der  Umstand,  dass  ein  Lehrling  nach 
drei-  bis  vierjähriger  Verwendung  noch  kein  tüchtiger  Geselle  wird,  die  Entwicklung; 
in  der  alten  Zunft  betrug  die  statutenmässige  Lehrzeit  5  Jahre,  wenn  der  Lehr- 
junge beim  Meister  verpflegt,  von  ihm  gekleidet  wurde,  und  4  Jahre,  wenn  er 
die  Kosten  der  AYohnung,  Beköstigung  nnd  Bekleidung  selbst  trug^);  allein  wenn 
auch  die  technische  Schwierigkeit  eines  Gewerbes  den  Process  seiner  haus- 
industriellen Zersetzung  verlangsamt,  sind  gleichwohl  die  Folgen  des  Systems 
für  die  Lage  der  Meister  und  der  Gesellen  allenthalben  mit  erschreckender 
Klarheit  zu  sehen.  Entsprechend  der  Beförderung,  welche  die  Entwicklung  der 
Hausindustrie  aus  der  Freiheit  in  Handel  und  Gewerbe  und  der  Erleichterung 
des  Verkehrs  im  letzten  halben  Jahrhundert  zog,  treten  heute  auch  die,  aus 
der  Eegellosigkeit  und  Anarchie  der  hausindustriellen  Production  sich  ergebenden 
Krisen  häufiger  und  heftiger  ein  als  jemals.  Vom  Druck  der  Concurrenz  zwischen 
den  Händlern,  wie  zwischen  den  Heimarbeiter  beschäftigenden  Gewerbegenossen 
abgesehen,  ist  trotzdem  für  den  einzelnen  Meister  die  unmittelbare  Verlockung, 
zu  jenem  verhängnisvollen  Betriebssystem  zu  greifen,  das  nur  Wenigen  zum  Wohl- 
stand verhalf,  grösser  als  vor  einem  Jahrhundert,  Der  Hausgesellen  verlegende 
Meister  vermindert  heute  seine  Productionskosten  in  noch  namhafterer  Weise, 
als  zuvor  in  den  Acten  geschildert  wurde;  neben  den  genannten  „Vor- 
theilen",  ferner  ausser  der  Ersparnis  an  Beleuchtung  und  Heizung,  und  ausser 
der  geringen  Widerstandsfähigkeit  einer  isolierten,  von  jeder  Krise  äusserst 
empfindlich  getroffenen  Arbeiterschaft  gegen  Lohndruck,  kommen  für  den  Meister 
noch  in  Betracht :  die  Ersparnis  bei  Abnützung  von  Werkzeugen  (deren  Be- 
schaffungskosten vielfach  auf  den  Arbeiter  abgewälzt  werden),  oftmals  ein  Ersparen 
der  Kranken-  und  insbesondere  der  Unfall -Versicherungsbeiträge-)  und  endlich 
stets  namhafte  Vortheile  in  Hinsicht  der  Besteuerung.  Es  sind  uns  Verleger 
bekannt,  die  siebzig  und  mehr  Hausgesellen  unterhalten  und  die  gleiche  Erwerb- 
steuer entrichten,  wie  Meister  mit  bloss  drei  bis  fünf  Hilfskräften  in  der 
W^erkstatt  —  ohne  dass  übrigens  diese  Fälle  das  krasseste  Beispiel  der  heutigen 
ungerechten  Besteuerungsverhältnisse  im  Gewerbe  wären ! 

Doch,  um  nach  diesem  Blick  auf  die  Gegenwart  in  die  behandelte  Epoche 
zurückzukehren,  unser  Beispiel  ist  auch  in  Bezug   auf  die  Vorstellung  lehrreich, 

jedoch  der  ganze  Hausstand  des  Hausindustriellen  dessen  Beschäftigung  und  drückt  da- 
durch den  Lohn.  Die  Kinder  insbesondere,  deren  Hinzuziehung  zur  Arbeit  so  oft  damit 
vertheidigt  wurde,  dass  sie  die  Einnahmen  des  Arbeiters  in  toto  vermehrt,  werden 
dadurch,  dass  sie,  anstatt  sich  in  der  freien  Luft  zu  tummeln,  bei  Tage  in  den  Arbeits- 
zimmern sich  aufhalten,  bei  Xacht  darin  schlafen  und  gewerblich  arbeiten  müssen,  in 
Wahrheit  nur  frühzeitig  ausgebeutet  und  für  alle  Zukunft  ruiniert. 

1)  Bei  der  Wiener  Genossenschaft  der  Wirkwaren -Erzeuger  beträgt  die  Lehrzeit 
heute  zwischen  zwei  und  vier  Jahren. 

2)  In  der  Praxis  hängt  es  vielfach  von  der  Zahl  der  Arbeiter  eines  Betriebes  ab,  ob  dieser 
zur  L'nfallversicherung  herangezogen  wird  (vgl.  meine  Bemerkungen  über  die  Bedeutung  der 
Arbeiterzahl  für  den  rechtlichen  Begriff  der  gewerblichen  Betriebe  inOesterreich  in  Schmollers 
„Jahrbuch",  1891,  S.  1252,  und  §.  1  des  Unfallversicherungsgesetzes  vom  28,  Dezember  1887» 
R.-G.-Bl.  Nr.  1  ex  1888,  sowie  die  Erläuterungen  hiezu,  E.-G.-Bl,  Nr.  35  ex  1888),  während 
die  Krankenversicherungspflicht  jeden  Meister  schon  im  Sinne  der  Gewerbe-Ordnung  trifft 
(§§.  106  und  107,  sowie  121  des  Gesetzes  vom  15.  März,  E.-G.-Bl.  Nr.  39). 

32* 


492  Schwiedland. 

welche  die  damalige  Zeit  von  einer  Fabrik  hatte.  Die  Vereinigung  der  Werk- 
stühle und  Arbeiter  in  einem  besonders  dazu  eingerichteten  Gebäude  oder  Wohn- 
raum gehörte  gar  nicht  zu  ihrem  Begriff,  und  während  man  einerseits  die  Haus- 
industrie nur  aus  dem  Gesichtspunkte  beurtheilt,  ob  sie  der  gesetzlich  untersagten 
Stöhrerei  Vorschub  leisten  könnte,  erblickt  man  anderseits  in  der  Beschäftigung 
der  zerstreut  wohnenden  Arbeiter  sogar  in  manchen  Beziehungen  einen  Vorzug 
gegenüber  ihrer  Vereinigung.  Da  wird  der  Ausspruch  des  Prager  Professors 
der  politischen  Wissenschaften  und  Gesetzkunde,  Kopetz,  klar,  der  da  sagt: 
„Wenn  daher  Jemand  sein  Vermögen  dazu  verwendet,  den  rohen  Stoff 
einzukaufen,  damit  ärmere  Meister  zu  verlegen,  und  die  von  denselben 
verfertigten  Waaren  weiter  abzusetzen,  so  verdient  ein  solches  Ver- 
fahren wirklich  schon  die  Benennung  eines  fabriksmässigen  Betriebes, 
auf  welchen,  im  Falle  grösserer  Bedeutenheit  selbst  das  Landes- 
Fabriksbefugnis  mit  den  zuständigen  Eechten  und  Vorzügen  (1!)  ver- 
liehen werden  kann."  ^) 

Doch  eilen  wir  der  sich  allmählich  entwickelnden  Erkenntnis  nicht  so  rasch 
voraus  und  kehren  wir  zu  unserem  administrativen  Process  zurück. 

Während  der  Fabriken-Inspector  für  Nieder-Oesterreich  noch  seine  der  Haus- 
industrie günstigen  Erwägungen  in  sich  reifen  liess,  hatte,  im  Jahre  1798,  auch 
der  Geselle  Johann  Dröbinger  durch  einen  Kanzlisten  der  Fabrikeninspection 
ein  Gesuch  im  Kamen  der  verehelichten  Strumpfwirkergesellen  verfassen  lassen, 
worin  sie  die  Nieder-österreichische  Regierung  um  die  Erlaubnis  bitten,  in  ihren 
Wohnungen  für  die  Meister  arbeiten  zu  dürfen. 

Die  Gründe,  die  hiefür  geltend  gemacht  werden  und  zum  Theile  in  dem 
späteren  Gutachten  des  Fabriken-Inspectorates,  das  vorstehend  mitgetheilt  wurde, 
wiederkehren,  sind,  dass  die  verheirateten  Gesellen  mit  dem  Hin-  und 
Hergehen  viel  Zeit  verlieren,  in  ihrer  Wirtschaft  wegen  der  Abwesenheit  von 
ihrer  Familie  zurückgesetzt  (gleichsam  nicht  als  sorgsame  Familienhäupter 
geachtet)  werden  und  die  Meister  endlich,  falls  sie  die  Stühle  ausser  Hause 
geben  dürften,  dadurch  etwas  am  Zins  ersparen  könnten. 

Das  über  diese  Eingabe  vom  Magistrate  einvernommene  Mittel  der  Strumpf- 
wirker äusserte  dem  gegenüber,  dass  die  verheirateten  Strumpfwirker- Gesellen 
nicht  übler  daran  seien,  als  unzählige  andere  Handwerksgesellen,  z.  B.  Zimmer- 
leute, Ziegeidecker,  Maurer  u.  s.  w.,  die  ebenfalls  weit  von  ihren  Weibern- 
und  Kindern  sich  in  Arbeit  begeben  müssten,  welcher  Fall  in  Rücksicht  der 
geltend  gemachten  Beschwerlichkeit  die  minderen  Staatsbeamten  gleicherweise 
betreffe,  die  ebenfalls  keine  Dienstboten  halten  können  und  dennoch  ihre  Amts- 
stunden genau  beobachten  müssen.  Was  die  gewerbliche  Seite  der  Sache  betrifft, 
so  bleiben   die   Stühle    bei    den  Seidenzeugmachern    und    den  Webern    mit    dem 


')  AUg.  üstr.  Gewerbs-Gesetzkunde,  Wien,  1829,  I.  S.  403.  Hiezu  werden  die 
Hofdecrete  für  Böhmen  vom  13.  April  1813  und  14.  December  1814  citiert.  Deren  Text 
war  weder  im  Archiv  der  Vereinigten  österreichisch-böhmischen  Hofkanzlei,  noch  in  jenem 
der  k.  u.  kk.  Hofkammer,  Finanz-  und  Commerz-Hofstelle  mehr  zu  finden;  möglicher- 
weise könnte  ein  glücklicher  Forscher  noch  bei  der  böhmischen  Landesregierung  seiner 
habhaft  werden  I 


Eine  alte  Wiener  Hausindustrie,  493 

nämlichen  Stück  Arbeit  längere  Zeit  hindurch  belegt  und  seien  daher,  wenn  die 
Gesellen  ausser  Hause  arbeiten,  leicht  zu  controlieren,  nicht  so  bei  den  Strumpf- 
wirkern, wo  der  Arbeitsstuhl  die  Woche  hindurch  sehr  oft  leer  werde,  was  die 
Möglichkeit  einer  Controle  über  die  verübte  Stuhrerei  benehme. 

Der  Magistrat  bezog  sich  in  seiner  Aeusserung  über  diese  Frage  auf  seinen 
über  das  Gesuch  des  Bull  erstatteten  Bericht;  ebenso  der  Fabriken-Inspector, 
dessen  Conclusionen  jedoch,  wie  wir  sahen,  jenen  des  Magistrates  entgegen- 
gesetzt sind. 

IS'un  wurde  über  die  in  Zusammenhang  stehenden  Gesuche  (des  Bull  wie 
des  Gesellen  Dröbinger)  seitens  der  Landesregierung  noch  die  Wiener  Stadt- 
hauptmannschaft einvernommen.  Diese  hielt  eine  Commission  —  eine  mündliche 
Enquete  —  ab  über  die  Sachlage  und  die  Wünsche  wie  Bedenken  der  Be- 
theiligten, zu  welcher  sie  den  Referenten  des  Magistrates,  den  Fabriken-Inspector, 
die  Vorsteher  der-  bürgerlichen  Strumpfwirkermeister,  den  Bull  und  mehrere 
Gesellen  beizog. 

Der  Vertreter  des  Magistrates  verharrte  auf  seinem  Standpunkte  und 
besorgte,  dass  durch  Aufhebung  des  Innungsschlusses  Gelegenheit  zu  Stöhrerei 
geschaffen  und  die  ganze  Innung  und  ihr  durch  neue  vorzügliche  Arbeiten  selbst 
im  Ausland  erworbener  Credit  ganz  zu  Grunde  gerichtet  würde.  Die  Meisterschaft 
selbst  trennte  sich  in  ihrer  Erklärung,  Bull  nebst  drei  anderen  Meistern  bestanden 
auf  der  Aufhebung  des  durch  den  Innungsschluss  herbeigeführten  Zwanges,  die 
beiden  Vorsteher  und  zwei  andere  Meister  hingegen  baten  um  seine  „Handhabung". 
Der  Vorsitzende  Stadthauptmann -Stellvertreter  beschloss  demnach,  sämmtliche 
ihm  von  den  Vorstehern  namhaft  gemachten  Meister  des  Mittels  insbesondere 
über  diesen  Gegenstand  zu  befragen.  Die  in  seinem  Berichte  beigebrachte  Tabelle, 
die  das  Resultat  dieser  Vernehmung  liefert,  zeigt,  dass  mit  Joh.  Bull  noch 
41  Meister  aus* den  im  Berichte  des  Fabriken-Inspectors  auseinander  gesetzten 
Gründen  um  die  Aufhebung  des  Zwanges  baten,  die  beiden  Vorsteher  hingegen 
nebst  58  Meistern  dessen  Handhabung  forderten.  Ihre  Gründe  waren  in  der 
Hauptsache,  dass  die  Hausgesellen  der  nöthigen  Zucht  und  Aufsicht  entzogen 
seien  und  in  Ansehung  des  ihnen  vorgegebenen  Materiales  nicht  so  genau 
controlirt  werden  könnten  als  jene,  die  in  der  Werkstätte  des  Meisters  arbeiten, 
zumal  das  Erzeugnis  nur  kurze  Zeit  auf  dem  Stuhl  bleibe.  Dadurch  würde  zur 
Stöhrerei  Anlass  gegeben,  hiedurch  schlechte  W^are  in  Umlauf  gesetzt,  was  den 
guten  Ruf  der  Wiener  Erzeugnisse  herabsetzen  würde.  Es  müsste  auch,  dadurch 
dass  die  älteren  und  geschickteren  Gesellen  zu  Hause  arbeiten  würden,  der 
Unterricht  der  Lehrlinge  leiden,  denn  der  Meister  selbst  habe  so  viel  ausser 
Hause  zu  thun.  Ferner  könnten  die  Gesellen  bei  sich  zu  Haus  ebenfalls  nicht 
mehr  Ware  erzeugen,  da  sie  durch  ihre  Familien  gehindert  werden,  und  die 
vorgebliche  Ersparung  an  Zins  für  den  Meister  gienge  gleichfalls  verloren,  da 
die  Hausgesellen  eines  grösseren  Quartiers  bedürfen  um  einen  Stuhl  aufzustellen 
und  man  ihnen  dazu  einen  Zinsbeitrag  oder  höheren  Lohn  geben  müsste.  Endlich  sei 
im  allgemeinen  verboten,  ausser  der  W^erkstätte  des  Meisters  zu  arbeiten  und 
dieses  Verbot  sei  in  Rücksicht  der  Strumpfwirker  insbesondere  durch  wiederholte. 
Verordnungen  bestätigt  worden. 


494  Schwiedland. 

Mit  diesen  Argumenten  kämpften  die  Meister.  Doch  der  Bericht  der 
Stadthauptmannschaft  bemerkt,  dass  unter  den  Vertretern  dieser  Anschauung  eine 
beträchtliche  Anzahl  Seidenarbeiter  (solche  Wirkermeister,  die  Seide  verarbeiten 
liessen,  eine  schwerere  Arbeit,  die  feinere  Maschinen  erheischte  und  deren 
Producte  keine  Massenartikel  bildeten),  sowie  Hausinhaber  waren,  die  in  ihren 
Häusern  zur  Aufstellung  mehrerer  Stühle  leicht  Platz  fanden;  die  meisten  übrigen 
besassen  aber  sehr  wenige  Stühle.  Deshalb  habe  in  der  Gruppe  der  Anhänger 
des  Zwanges  keiner  das  Interesse,  Stühle  den  Gesellen  in  ihre  Wohnungen  zu 
stellen.  Anders  die  Gegenpartei.  In  dieser  waren  die  wenigsten  Hauseigenthümer, 
sie  verarbeiteten  ferner  grossentheils  W^olle,  so  dass  sie  bei  einiger  Ausdehnung 
ihrer  Betriebe  .Quartiere  von  grösserer  Eaumhältigkeit"  suchen  mussten,  die 
sich  angeblich  nur  «sehr  schwer"  oder  doch  nur  .,um  überspannte  Zinsungen*^ 
fanden.  Ueberdies  scheine,  fügte  die  Stadthauptmannschaft  hinzu,  der  ganze 
Innungsschluss  selbst  nicht  so  viel  aus  einer  guten  Absidit  und  Liebe  zur 
Ordnung,  sondern  vielmehr  aus  dem  Handwerksneide  der  Meisterschaft  gegen 
die  Fabrikanten  und  die  Strickermeister  entstanden  zu  sein,  denn  mehrere 
Meister  hätten  bekannt,  dass  der  verstorbene  Vorsteher  sie  nur  unter  dem 
Vorwand,  dass  auch  die  Stricker  und  Fabrikanten  ihre  Stühle  würden  nach 
Hause  nehmen  müssen,  zu  der  bekämpften  Bestimmung  vermocht  habe.  Auch 
liege  bei  vielen  Meistern  dem  Festhalten  am  Zwang  mitunter  ein  offenbarer 
Gewerbsneid  gegen  ihre  vermöglicheren  oder  mehr  unternehmenden  Mitmeister 
zu  Grunde,  da  sie  sonst  unmöglich  hätten  verlangen  und  vor  der  Commission 
laut  wiederholen  können,  dass  .kein  Meister  mehr  als  sechs  Stühle  haben  soll, 
wodurch  der  Vortheil  geschafft  würde,  dass  nicht  ein  Meister  alles,  der  andere 
aber  nichts  zu  thun  hätte".  Der  Stadthauptmann-Stellvertreter  von  Wien  findet 
dies  „allen  Grundsätzen  widersprechend",  übersieht  aber  dabei,  dass  wenn 
das  Verlagsystem  thatsächlich  eine  ökonomischere  Productionsform  ist ,  der 
billigere  Erzeuger  den  theureren,  also  der  Verlag  treibende  Meister  die  übrigen 
bei  vollkommener  Freiheit  mit  der  Zeit  ruinieren  muss  und  der  Vorschlag  der 
Meister  auf  ähnlichen  Erwägungen  beruht  haben  konnte. 

Jene  Bemerkungen  vorausgeschickt,  erachtet  der  Stadthauptmann,  wenn  er  die 
Beweggründe  der  Meister,  des  Magistrates  und  der  Fabriken-Inspection  für  und 
wider  gegeneinander  hält,  die  Gründe  für  die  Aufhebung  des  Zwanges  an  sich 
für  vollkommen  überwiegend.  Der  vorzüglichste  Grund  der  Vertheidiger  des 
Innungsschlusses  sei  ja  die  Besorgnis  der  Stöhrerei,  weil  es  schon  vormals  einen 
Meister  gab,  der  mit  einem  Gesellen  darüber  einverstanden  war  und  weil, 
besonders  bei  der  Seidenwirkerei,  Unterschleife  leicht  möglich  sind.  Allein  der 
angeführte  Fall  könne  schon  einmal  im  allgemeinen  nichts  beweisen,  und  wenn 
es  auch  nun  ähnliche  Meister  gäbe,  die  sich  mit  ihren  Gesellen  in  ein  sträfliches 
Einvernehmen  setzten,  würden  sie  solches  ungehindert  des  Innungsschlusses  noch 
immer  thun  und  die  Gesellen  in  ihren  Werkstätten  auf  eigene  Eechnung 
arbeiten  lassen  können. 

Sollte  ferner  ein  oder  der  andere  Hausgesell  in  seiner  Wohnung  auf  der 
Spur  einer  Stöhrerei  betreten  werden,  stände  ja  jedem  Meister  frei,  ihm  sogleich 
den  Stuhl  abzunehmen.    Ueberhaupt  erscheine  die  Besorgnis  der  Stöhrerei  viel  zu 


Eine  alte  Wiener  Hausindustrie.  495 

sehr  übertrieben,  da  doch  Fabrikanten  unter  den  Wirkern,  sowie  die  Stricker 
ihren  Gresellen  Stühle  in  die  Wohnungen  geben  und  man  dadurch  bei  ihnen  nicht 
mehr  Klagen  über  die  Stöhrerei  hört  als  bei  anderen  Innungen,  die  ihre  Gesellen 
bloss  in  den  Werkstätten  beschäftigen.  Endlich  wäre  es  ein  sonderbarer  Wider- 
spruch der  öffentlichen  Verwaltung,  wenn  man  den  Strickern  und  Fabrikanten 
ungeachtet  der  grösseren  Besorgnis  der  Stöhrerei  das  Ausserhausgeben  der  Stühle 
auch  ferner  erlaubte,  den  Strumpfwirkermeistern  aber,  die  doch  eine  gleiche  Be- 
schäftigung treiben,   das  nämliche  verböte. 

Die  Stadthauptmann  Schaft  stimmt  daher  der  Fabriken-Inspection  zu,  den 
so  vielen  Meistern  lästigen  und  der  Vertretung  der  Industrie  hinderlichen  Zwang 
aufzuheben  und  künftig  bloss  dem  Gutbefindeji  eines  jeden  Meisters  zu  überlassen, 
ob  er  unter  den  von  der  Fabriken-Inspection  angetragenen  Vorsichten  einem 
„vertrauten"  Gesellen,  also  Einem,  von  dem  nicht  anzunehmen  sei,  dass  er 
auf  dem  Stuhl  für  eigene  Rechnung  arbeiten  werde,  einen  solchen  in  seiner 
Wohnung  anvertrauen  wolle.  Dies  werden  jene,  die  dabei  ihre  Rechnung  nicht 
finden,  unterlassen  können,  und  sohin  geschehe  denen,  die  sich  so  sehr 
dagegen  sträuben,  kein  Unrecht,  —  eine  im  bemerkenswerten  Maasse  indivi- 
dualistische Verdrehung  —  wobei  die  übrigen  hingegen,  die  ihre  Fabrikatur  auf 
mehrere  Stühle  erweitern  wollen,  in  ihren  Speculationen  durch  die  Theuerung  der 
Quartiere  künftig  nicht  gehindert  werden.  Nur  glaubt  der  Stadthauptmann- 
Stellvertreter,  dass  den  von  der  Fabriken-Inspection  vorgeschlagenen  Vorsichten 
noch  beizusetzen  wäre,  dass  jedesmal,  wenn  ein  Meister  einen  Stuhl  ausser  Haus 
gibt,  solches  dem  Vorsteher  nebst  dem  Namen  des  Gesellen  gemeldet  werde, 
und  dass  man  sich  versehe,  dass  die  Meister  ihre  Stühle  nur  älteren  Gesellen 
anvertrauen,  auf  deren  Redlichkeit  sie  sich  verlassen  können ;  habe  ja  auch  der 
über  das  Gesuch  des  Dröbinger  vorgerufene  Gesellenausschuss  selbst  keine 
weitere  Forderung  gestellt,  als  dass  alten  gebrechlichen,  oder  solchen  Gesellen, 
deren  häusliche  Umstände  ihre  Gegenwart  bei  Hause  nothwendig  machen  dürften, 
die  Wohlthat  zu  Hause  arbeiten  zu  können,  verschafft  werde. 

Auf  Grund  dieser  Actenlage  erstattete  nunmehr  die  Nie  der- öster- 
reichische Regierung  (2.  September  1801)  über  das  wiederholte  Hofgesuch 
des  Bull  nachstehendes  Gutachten  an  die  k.  u.  k.  k.  böhmisch -österreichische 
Hof  kanzlei : 

Es  sei  einleuchtend,  dass  die  Gründe,  die  der  Bittsteller,  die  grosse  Anzahl 
der  mit  ihm  einverstandenen  Meister,  die  Fabriken-Inspection  und  die  Stadt- 
hauptmannschaft für  die  Aufhebung  des  Zwanges  anführten,  ein  offenbares 
Uebergewicht  haben,  und  dass  das  Hofdecret  vom  23.  December  1795,  das 
überhaupt  das  Arbeiten  der  Gesellen  zünftiger  Innung  ausser  der  Werkstätte  des 
Meisters  verbietet,  nur  auf  zunftmässige  Innungen  gemeiner  Art,  nicht  aber 
auch  auf  solche,  wo  fabriksmässige  Behandlung  eintritt,  sich  erstrecke.  Aus 
diesem  Grunde  bestehe  fast  bei  allen  Innungen,  wo  die  Gesellen  auf  Stühlen 
arbeiten  und  daher  die  Aufstellung  mehrerer  eine  grössere  Raumhältigkeit 
erfordert,  z.  B.  bei  Posamentierern,  Baumwoll-  und  Leinenwebern  und  Seiden- 
zeugmachern die  Uebung,  dass  sie  vertrauten  Gesellen  Stühle  in  ihre  Wohnungen 
überlassen. 


496  Scliwiedland. 

Dies  sei  auch,  vorzüglich  in  dem  gegebenen  Zeitpunkte,  umso  nothwendiger, 
als  nicht  nur  die  Wohnungszinse  ausserordentlich  gestiegen  seien,  sondern  auch 
einleuchtend  sei,  dass  es  bei  der  vermehrten  Anzahl  der  Fabrikanten  aller  Art 
und  der  so  sehr  zugenommenen  Volksmenge ')  den  Meistern  und  Fabrikanten,  die 
nicht  selbst  eigene  Häuser  und  Fabriksgebäude  besitzen,  beinahe  ganz  unmöglich 
werden  muss,  in  Wien  so  grosse  Wohnungen  zu  finden,  dass  sie  zur  Aufstellung 
aller  ihrer  Werkstühle  hinreichten.  All  das  Gresagtc  trete  zu  Gunsten  des  Bitt- 
stellers und  der  Strumpfwirkermeister  überhaupt  ein  und  es  liege  kein  Grund 
vor,  diese  nicht  anderen  ähnlichen  Innungen  gleich  zu  behandeln  und  zwischen 
der  Meisterschaft  und  den  befugten  Wirkwarenfabrikanten,  Landesfabiiken  und 
bürgerlichen  Strickermeistern,  die  sämmtlich  Stühle  ausser  Haus  geben,  einen 
Unterschied  zu  machen.  Hatten  doch  die  letzteren  schon  bislang  den  Yortheil  voraus, 
auf  jene  Art  nicht  nur  leichter,  sondern  auch  geschultere  Gesellen  zu  erhalten, 
und  da  sie  kleinerer  Wohnungen  bedürfen,  dem  Preis  ihrer  Erzeugnisse  keinen 
so  hohen  Zins  zuschlagen  zu  müssen,  indem  die  Gesellen,  denen  sie  einzelne 
Stühle  anvertrauten,  zu  deren  Aufstellung  bei  sich  zu  Hause  leicht  hinlänglichen 
Eaum  fanden.  Zwar  besorgen  die  Meister,  welche  auf  der  ferneren  Handhabung 
des  eingeführten  Zwanges  bestehen,  dass  durch  die  Ausserhausgebung  der  Stühle 
die  Stöhrerei  von  Seite  der  sogenannten  Hausgesellen,  befördert  und  erleichtert 
werde,  und  zwar  umsomehr,  als  bei  diesem  Erwerbszweige  der  Stuhl  oft  mehreremal 
des  Tages  leer  wird.  Allein  dieses  Besorgnis  trete  ja  auch  bei  den  Fabrikanten 
und  Strickermeistern,  die  ähnliche  Ware  anfertigen,  in  gleichem  Grade  ein.  und 
dennoch  haben  diese  die  Hebung,  Stühle  ausser  Haus  zu  geben,  beibehalten,  ein 
offenbarer  Beweis,  dass  sie  deshalb  dem  Nachtheile  der  Stöhrerei  nicht  mehr 
ausgesetzt  sind,  oder  dass  sie  wenigstens  den  Yortheil,  der  ihnen  hiedurch  an 
Zinsersparung  und  der  Leichtigkeit,  ihren  Betrieb  zu  erweitern,  zugeht, 
für  überwiegender  ansehen.  Ferner  lasse  sich  bei  Hausgesellen  dem  Besorgniss, 
dass  sie  auf  eigene  Hand  arbeiten  werden,  durch  Einführung  einer  guten  Controle 
vorbeugen,  denn  ausser  dem,  dass  die  Meister  ihres  eigenen  Yortheiles  wegen 
ihre  Stühle  nur  .^von  Seite  ihrer  Eedlichkeit"  geprüften  Gesellen  anvertrauen  und 
bei  sich  zeigenden  Spuren  von  Yermietung*  oder  Stöhrerei  ihnen  dieselben  sogleich 
selbst  abnehmen  werden,  können  sie  ihnen  auch  das  Material  vor-  und  die  Arbeit 
nachwägen;  da  sich  ferner  genau  bestimmen  lässt,  wie  viel  ein  Geselle  täglich  und 
wöchentlich  zu  arbeiten  im  Stande  ist,  wird  die  richtige  Ablieferung  der  Arbeit  zur 
bestimmten  Zeit  auch  diesfalls  die  Meister  gegen  Stöhrerei  ziemlich  sicherstellen. 


')  In  den  ersten  Jahren  unseres  Jahrhunderts  beschäftigte  sich  die  Regierung 
eingehend  mit  der  Möglichkeit,  die  Arbeiterbevülkerimg  Wiens  zu  vermindern.  Mochte 
die  Fabriksindustrie  Arbeitskräfte  nach  "Wien  gelockt  haben,  deren  Zunahme  unverhältnis- 
mässig  rasch  vor  sich  zu  gehen  schien,  oder  mochten  politische  Bedenken  die  Vermin- 
derung der  Bevölkerung  der  Hauptstadt  haben  anstreben  lassen,  da  kurz  vorher  die 
Schrecken  der  französischen  Eevolution  gezeigt  hatten,  dass  das  städtische  Proletariat 
unter  Umständen  ein  gefährliches  Element  bilden  könne,  Thatsache  ist,  dass  die  Regie- 
rungsstellen wiederholt  bei  den  unteren  Behörden  die  Frage  anregten,  „wie  der  hiesigen 
übermässig  anwachsenden  Bevölkerung  vorgebogen  werden  könnte"  und  dass  diese  Ver- 
handlungen die  Fernhaltung  der  Fabriken  zwei  Meilen  ausserhalb  Wiens  zur  Folge  hatten. 
(Hofkammer- Archiv,  Fase.  63  Commerz  N.-Oe.  1801—1813.; 


Eine  alte  Wiener  Hausindustrie.  497 

Daher  möge  es  in  Zukunft  bloss  von  dem  Gutbefinden  eines  jeden  Meisters 
abhängen,  ob  er  vertrauten  Gesellen  Stühle  in  ihre  Wohnungen  unter  folgenden 
auch  für  die  anderen  Innungen  eingeführten  Bedingungen  überlassen  wolle:  dass 
einem  Gesellen  jedesmal  nur  Ein  Stuhl  anvertraut  werde,  dieser  sammt  Einrichtung 
immer  Eigentimm  des  Meisters  verbleibe,  jeder  Meister  einen  dergleichen  Haus- 
gesellen mit  einem  schriftlichen  Zeugnisse,  dass  er  für  ihn  arbeite,  versehe, 
endlich  die  Ausserhausgebung  eines  jeden  Stuhles  sammt  dem  Namen  des  Gesellen 
den  Mittelvorstehern  angezeigt  werde. 

Vermöge  der  Interpretation,  nach  welcher  das  Hofdecret  vom  23.  December 
1795  bloss  auf  Polizei -Gewerbe')  anzuwenden  sei,  gelangte  der  Streitfall  von  der 
k.  und  k.  k.  böhmisch-österreichischen  Hofkanzlei  an  die  für  Commerzangelegen- 
heiten zuständige  k.  und  k.  k.  Hofkammer,  Finanz-  und  Commorz-Hofstelle  zur 
Entscheidung. 

Der  Keferent,  Hofrath  Graf  von  Herberstein-Moltke,  begründete  in  der 
Sitzung  der  Commerzstelle  am  8.  October  1801  folgendermaässen  seine  Ansicht: 
Die  seitens  der  Nieder-österreichischen  Eegierung  ausgesprochenen  Grundsätze 
seien  umso  mehr  vollkommen  gegründet,  als  jeder  nicht  höchst  nöthige  Zwang 
und  jede  ähnliche  Vorschrift  die  Fortschritte  des  Erwerbfleisses  nur  hemmt  und 
die  zweckmässigste  Unterstützung  und  Beförderung  dieses  in  der  Hinwegräumung 
der  noch  bestehenden  Hindernisse  zu  finden  sei,  worunter  jede  Vermehrung 
der  Kosten,  jeder  Zeitverlust,  jede  Erschwerung  des  so  wohlfeilen,  gegen 
alle  Umstände  geschmeidigen  Hauserwerbes  vorzüglich  gerechnet  werden 
müsse.  Daher  sei  das  Verlegen  der  Gesellen  mit  Arbeit  allen  Meistern  und 
befugten  Fabrikanten  ohne  Anstand  bei  allen  Com merzial-Ge weben  und 
-Beschäftigungen  gegen  dem,  dass  die  Werkstühle  dem  Verleger  gehören  und 
die  Verlegten  ein  ordentliche«  Zeugnis  hierüber  von  dem  Verleger  erhalten,  nicht 
allein  zu  gestatten,  sondern  durchaus  zu  begünstigen.  Hiernach  habe  die  Eegierung 
die  vorliegende  Angelegenheit  zu  erledigen,  die  betlieiligten  Behörden  zu  ver- 
ständigen, sich  selbst  in  Zukunft  zu  benehmen. 

Dieses  Votum  T\iirde  genehmigt  und  dem  entsprechend  ergieng  nun  der 
nachstehende  Erlass  der  Hofstelle  an  die  Eegierung,  welcher  die  Angelegenheit 
erledigte  und  der  Freiheit  Geltung  schaffte: 

,.Die  Gründe,  welche  die  Eegierung  in  ihrem  ....  Berichte  über  das 
Gesuch  des  ....  ,  dass  den  Meistern  bewilligt  werden  möchte,  ihren  Gesellen 
Arbeitsstühle  ausser  Haus  zu  geben,  anführt,  sind  den  ächten  Commerzialgrund- 
sätzen  um  so  mehr  angemessen,  als  jeder  nicht  höchst  nöthige  Zwang  und  jede 
Beschränkung  die  Fortschritte  des  Erwerbfleisses  nur  hemmt  und  die  zweck- 
mässigste Unterstützung  und  Beförderung  desselben  in  der  Beseitigung  der  annoch 
vorhandenen  Hindernisse  bestehet,  worunter  jede  Vermehrung  der  Kosten,  jeder 
Zeitverlust,  und  jede  Erschwerung  des  so  wohlfeilen  und  vortheilhaften  Haus- 
erwerbs  vorzüglich  gerechnet  werden  muss." 


^)  Das  waren  jene  Gewerbe,  die  nur  dem  localen  Bedarfe  dienten,  während  die 
Exportgewerbe  Commerzial- Gewerbe  Messen.  Es  liegt  im  Wesen  der  gewerblichen  und 
commerziellen  Entwicklung,  dass  die  Eintheilung  der  einzelnen  Gewerbe  in  diese  beiden 
Kategorien  mehnnals  abgeändert  Avurdc. 


498  Schwiedland. 

„Die  Verlegung  der  Gesellen  mit  Arbeit  ausser  dem  Hause,  ist  daher  allen 
Meistern  und  befugten  Fabrikanten  ohne  Anstand  bei  allen  Commerzialgewerben 
und  Beschäftigungen  gegen  dem,  dass  die  Werkstühle  im  Eigenthum  des  Verlegers 
sein,  und  die  Gesellen  ein  ordentliches  Zeugnis  hierüber  von  dem  Verleger  erhalten 
müssen,  nicht  allein  zu  gestatten,  sondern  auch  durchaus  zu  begünstigen." 

Damit  war  die  Hausindustrie  in  allen  Commerzialgewerben  legitimiert  — 
eine  Auffassung,  die  sich  bis  auf  das  derzeit  geltende  österreichische  Gewerbe- 
recht vererbt  hat,  das  keinerlei  Beschränkung  rücksichtlich  der  localen  Verwendung 
von  Hilfskräften  seitens  befugter  Gewerbsunternehmer  enthält.  Nur  das  selbständige 
Arbeiten  von  Personen,  die  den  Betrieb  nicht  angemeldet  haben  bezw.  die  erfor- 
derliche Qualification  (den  „Befähigungsnachweis")  nicht  besitzen,  sowie  das 
Herstellenlassen  von  gewerblichen  Erzeugnissen  seitens  Händlern  —  übrigens 
eine  jener  gesetzlichen  Bestimmungen,  deren  Durchführung  fast  für  eine  Takt- 
losigkeit gelten  würde  —  ist  untersagt. 


Es  sei  zum  Schlüsse,  auf  die  Gefahr  die  formelle  Einheit  dieses  Aufsatzes 
zu  schädigen,  noch  bemerkt,  dass  auch  die  alten  Strumpfwirkermeister,  trotz 
der  „Vortheile",  welche  ihnen  die  Gesetzgeber  zuwendeten,  auf  keinen  grünen 
Zweig  kamen. 

Bis  gegen  Mitte  dieses  Jahrhunderts  verkauften  die  Meister  ihr  Erzeugnisse, 
—  soweit  sie  dieselben  nicht  selbst  auf  die  Jahrmärkte,  nach  Brunn  und  in  andere 
Städte,  brachten,  —  was  den  insbesondere  nach  Ungarn  namhaften  Export  betrifft, 
an  Wiener  Grosshändler, ^)  während  sie  den  localen  Absatz  selbst  beherrschten. 
Abgesehen  von  einigen  Krämern,  die  auch  Wirkw:aren  verkauften,  hatten  die 
kleineren  Meister  in  den  Vorstädten,  vor  ihren  Werkstätten,  gleichfalls  einen 
geringen  Gassenladen,  an  welchem  sie  einen  einfachen  Schaukasten  anbrachten, 
und  dort  verkehrten  sie  auch  mit  Detailkunden;  ausserdem  mieteten  einige 
grössere  besondere  Gewölbe  in  der  (inneren)  Stadt  und  diese  hatten  einen  nam- 
haften Einzelabsatz;  sie  waren  die  „Wirkwarenhändler''  der  Zeit.  Allein  allgemach 
entwickelte  sich  eine  schärfere  Arbeitstheilung  und  in  ihrem  Verfolge  wurden  die 
Meister  von  dem  sich  rasch  entwickelnden  Zwischenhändlerstand  expropriiert,  so 
dass  heute  an  Stelle  des  Erzeugers  der  seine  Ware  selbst  verschleisst,  in 
aller  Kegel  der  Händler  getreten  ist,  der  auf  eigene  Eechnung  erzeugen  lässt. 

Als  gegen  die  Mitte  des  Jahrhunderts  die  Gewerbefreiheit  in  Wahrheit 
nahezu  vollständig  verwirklicht  war,  entstanden  mit  dem  wachsenden  Verkehre 
zuerst  mehr  .und  mehr  Zwischenhändler,  und  während  die  alten  kaufmännisch 
wenig  betriebsamen  Meister  zurückgiengen,  brachten  die  findigsten  unter  den 
Wirkwarenhändlern,  die  sich  nun  aus  anderen  Kreisen  recrutierten ,  nach  der 
gesetzlichen  Einführung   der   Gewerbefreiheit  Betriebe   der  alten  Meister  käuflich 


^)  Diese  waren  zum  Theil  polnische  Juden  (auch  der  Knopfexport  der  damaligen 
Zeit  wurde  durch  sie  vermittelt,  vgl.  meine  Rede  „Die  Wiener  Perlmutter-Industrie  und 
ihre  Krisis",  Wien  1891,  N.-ö.  Gewerbeverein,  S.  7).  Vom  Süden  kamen  italienische 
Aufkäufer  her.  aus  den  westlichen  Provinzen  dort  ansässige  Kaufleute. 


Eine  alte  Wiener  Hausindustrie.  499 

an  sich,  oder  gründeten,  insbesondere  in  den  neu  aufgekommenen  Arbeiten  der 
Phantasiewirkerei  (Erzeugung  von  Tüchern,  Tuchfransen,  Vorhängen  u.  dgl.)  Fabriken, 
wobei  sie  jüngere  Meister  als  Werkführer,  frühere  Gesellen  wie  Hausindustrielle  als 
Arbeiter  anstellten,  und  die  alten  W^alzen-  und  Eösselstühle,  welche  mit  der  Hand 
und  dem  Euss  bewegt  wurden,  durch  die  sog.  mechanischen  Stühle  ersetzten,  die 
nur  mit  einer  Hand  getrieben  und  aus  dem  Auslande  bezogen  wurden. 

Aber  auch  dem  also  reformierten  Gewerbe  blieb  die  Blüte  nicht  treu,  die 
vor  der  rasch  erwachsenden  internationalen  Fabriks-  und  unbeschränkten  Handels- 
concurrenz  dahinschwand.  AYährend  in  W^ien  vor  etwa  dreissig  Jahren  nur  fünf 
bis  sechs  Grosshändler  den  Export  von  Wirkwaren  besorgten  und  ungefähr  fünfmal 
so  viele  Detailisten  deren  Absatz  im  Einzelnen  vermittelten,  werden  Wirkwaren 
heute  von  etlichen  zwanzig  Wiener  Grossisten  (Fabrikanten  wie  Zwischenhändlern) 
und  mehreren  Tausend  Pfaidlern,  Mode-  und  Vermischtwarenhändlern,  Handschuh- 
machern, Schneiderzubehörverkäufern  und  anderen  Geschäftsleuten  geführt. 
Ihre  Concurrenz  drückt  die  Preise  schon  deshalb,  weil  sie  die  Wirkwaren 
zum  Theil  bloss  nebenbei,  d.  i.  in  einem  der  Hauptsache  nach  auf  den  Vertrieb 
anderer  Artikel  gerichteten  Betriebe  führen  und  sich  demnach  auch  mit  einem 
minimalen  Nutzen  an  ihnen  begnügen.  Anderseits  beziehen  sie  ihre  Wirkwaren 
zum  grössten  Theil  aus  Sachsen,  wo  die  grossen  Cottonstühle,  mit  Dampf  betrieben, 
sog.  „Marktware",  ohne  Sorgfalt  der  Ausführung,  aber  zu  äusserst  billigen  Preisen, 
im  grössten  Stile  erzeugen,  so  dass  auf  Einer  Maschine  alle  halbe  Stunde  ein 
Dutzend  Strümpfe  fertiggewirkt  wird  oder  Eundstühle  den  Stoff  zu  ein  bis  zwei 
Dutzenden  auf  einmal  herstellen.  Mit  diesen  Erzeugnissen  wird  0 esterreich, 
seit  ihnen  die  Mac  Kinley-Bill  die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  verschluss, 
durch  die  Thätigkeit  von  Agenten  überschwemmt.  Sie  drängen  sich  hier  auf 
dem  Markte  mit  den  Erzeugnissen  der  österreichischen  Fabrikation  sowie  der 
ländlichen  hausindustriellen  Wirker,  die  in  der  Lage  sind,  schlechtere  Garne  zu 
verwenden,  als  eine  dampfgetriebene  Maschine  verträgt.  Diese  beiden  ärgsten 
Feinde  des  Handwerks,  die  Fabrik  und  die  Hausindustrie,  haben  die  Wiener 
W^erkstättenerzeugung  erdrückt,  welche  gleich  anderen  Gewerben  in  der  Hauptstadt 
verschwindet. 

In  der  Provinz,  so  in  der  Umgebung  von  Asch,  Eger,  Teplitz,  Kamnitz, 
Fleissen  oder  Schünlinde  in  Schlesien,  gedeiht  ausserdem  ein  eigenthümliches 
Factorei-  oder  Gruppen-System.  In  einer  sog.  Fabrik  werden  die  Wirk- 
waren adjustiert  und  gepresst,  während  die  Stühle  bei  Factoren  im  Umkreis  bis 
zu  mehreren  Stunden  aufgestellt  sind.  Beim  Factor,  der  den  Namen  „Meister" 
führt,  versammelt  sich  die  (ländliche)  Bevölkerung  zur  Arbeit  und  er  liefert  die 
Erzeugnisse   dem  Unternehmer,  dem  „Fabrikanten"  ab.^) 

In  Wien  selbst  werden  die  gewöhnlichen  (alten)  Wirkwaren  2),  unter  denen 
jetzt  auch  die  Xünstlertricots,  ferner  Euder-  und  Turnhemden  eine  namhafte 
Eolle   spielen  —  nur   auf  Handstühlen   hergestellt,    doch   ist    das   Gewerbe   voll- 


^)  Aehnliche  Betriebsformen  weist  u.  a.  auch  die  maschinenmässige  Herstellung 
von  Handschuhen  auf.  Wir  werden  hierauf  in  einem  anderen  Zusammenhange  des 
Näheren  zurückkommen. 

2;  Für  P  h  a  n  t  a  s  i  e  Av  a  r  e  n  bestehen  auch  in  Wien  grosse  Fabriken  mit  Dampfbetrieb. 


5()()  Schwiedland. 

ständig  verfallen^),  namentlich  in  den  letzten  zwölf  Jahren,  da  betriebsame  Unter- 
nehmer die  Strickmaschinen  in  Strafhäusern,  ferner  in  Nieder-Oesterreich,  Mähren 
lind  Böhmen  auf  Dörfern,  welche  ganz  der  Hausindustrie  anheimfallen,  eingebürgert 
haben.  Die  Hungerlöhne  dieser  Dorfstricker-)  machen  ihre  Erzeugnisse,  welche 
die  besseren  Wirkwaren  zum  Theil  verdrängen,  überaus  concurrenzfähig. 

So  kommt  es,  dass  in  Wien  (auf  den  sog.  mechanischen  Stühlen)  nur  mehr 
feine  Arbeit  erzeugt  wird,  für  namhaftere  Detailisten,  welche  die  wohlhabenderen 
Gesellschaftsclassen  versorgen  und  noch  auf  die  Qualität  ihrer  Waren  halten. 
Die  Betriebe  gehören  zum  Theil  grossen  Detailisten  selbst,  zum  Theil  alten 
Meistern,  die  ihre  Producte  direct  an  Kundengeschäfte  oder  an  Grosshändler 
abgeben,  von  denen  sie  abhängig  werden  und  die  ihre  Erzeugnisse  sowohl  durch 
die  Vermittlung  von  Eeisenden  in  der  Provinz  absetzen,  als  auch  an  hauptstädtische 
Detailhändler  verkaufen.  Mancher  Meister,  der  noch  nicht  ,,von  der  Hand  in  den 
Mund  leben  muss",  das  heisst  nicht  bei  jeglicher  Stockung  in  Gefahr  ist,  den 
Betrieb  einstellen  zu  müssen,  lässt  auch  selbst  Agenten  in  die  Landesstädte 
reisen  —  eigene  Commis  oder  solche  anderer  Branchen,  welche  seine  Ware  nur 
nebenbei  absetzen. 

Immer  sind  es  aber  nur  feine,  einer  Reparatur  werte  und  den  Einflüssen 
der  Mode  unterworfene  Waren,  welche  noch  in  der  Hauptstadt  erzeugt  werden; 
trotzdem  haben  auch  die  für  dieses  begrenzte  Absatzgebiet  producierenden  Betriebe, 
wie  dies  aus  der  angedeuteten  Concurrenz  zu  erkläreit  ist  ^),  durch  Absatzstockungen 
zu  leiden.  Dem  entspricht,  dass,  parallel  mit  der  äusseren  grossartigen  Entwick- 
lung   der    Industrie,    auch     die    Löhne     zurückgegangen     sind.-*)     Manche    der 


')  Nach  dem  Genosseiischaftsschema  erzeugen  nur  etwa  3j  Mitglieder  der  Ge- 
nossenschaft der  Wirkwaren-Erzeuger  in  Wien  jene  Stoffe;  sie  specialisieren  sich  und 
melden  Vermerke  an  wie:  C.  B,  (Strumpfreparaturen)  —  B.  D.  (Theatertricots  und  feine 
Strumpfware)  —  E.  C.  (Seidenwirkwaren)  —  F.  F.  (Tricottaillen)  —  E.  W.  (diverse 
Wollwaren)  —  A.  P.  (Tricotstoffe)  u.  s.  w.  —  Die  Zahl  der  Meister  hat  sich  seit  Ver- 
wirklichung der  gewerblichen  Freiheit  vermehrt,  doch  ist  ihr  Wohlstand  verschwunden. 

-)  „Sehr  fleissige"  ländliche  Stricker  verdienen,  wie  ein  Fachmann  vorrechnete, 
bis  zu  50  kr.  täglich,  davon  nmss  aber  ein  solcher  5  kr.  für  die  Ausfertigung  der  von  ihm 
erzeugten  Strickwaren  bezahlen,  für  3  kr.  verbraucht  er  Oel  und  2  kr.  muss  er  für  die 
Amortisation  oder  Bezahlung  der  ihm  gegen  ratenweise  Begleichung  übergebenen 
Maschine  rechnen,  so  dass  er  bei  16stündiger  Arbeit  40  kr.  im  Tag  verdient.  Von  einer 
ländlichen  Nebenbeschäftigung  solcher  Art  ausgeschweisster  Hilfskräfte  ist  natürlich  bald 
keine  Bede  mehr;  sie  werden  dazu  ganz  unfähig  und  damit  vollständig  vom  Factor  oder 
Verleger  abhängig. 

3)  Die  Preise  der  gemeineren  Wirkwaren,  welche  Verbreitung  finden,  sind  heute: 
für  ein  Dutzend  Paare  gestreifter  Kinderstrümpfe,  seitens  des  Provinz-Fabrikanten  kosten- 
frei nach  Wien  gestellt,  von  40  kr.  aufwärts,  —  für  ein  Dutzend  Paar  Frauenstrümpfe 
von  90  kr.  aufwärts,  für  die  gleiche  Menge  Socken  von  45  kr.  an. 

*)  Ein  Vergleich  der  Wirkerlöhne  früher  und  jetzt  ist  infolge  der  geänderten 
Qualität  der  Producte,  was  die  der  Wolle  angeht,  unthunlich  und  es  kann  nur 
gesagt  werden,  dass  Wollwirker  in  den  dreissiger  Jajiren  in  Wien  im  Durchschnitt 
wöchentlich  7  fl.  W.-W.,  Seidenwirker  etwa  9  fl.  verdienten,  während  diese  heute  bei 
derselben  Arbeit  auf  7  —  8  fl.  Oe.  W.  kommen.  Damals  erhielt  der  Gesell  noch  Nacht- 
quartier und  Mittagessen  beim  Meister,  Emolumente,  deren  Preis  und  Ablösungswert 
übereinstimmend  mit  272—3  fl.  W.-W.  pro  Woche  angegeben  Avird,  so  dass  dem  Arbeiter 


Eine  alte  Wiener  Hausindustrie.  501 

Arbeiterinnen,  welche  neuestens  zur  Erzeugung  von  Pliantasieartikeln  verwendet 
werden,  sind  als  Nebenerwerb  buchstäblich  auf  die  Prostitution  angewiesen^), 
die  sie  mitunter  mit  der  Werkstattarbeit  alternierend  ausüben.^) 

Das  Zusammen-Nähen,  -Häkeln  und  -Knüpfen  der  gewirkten  Stoffe  lassen 
die  Meister  heute  zum  Theil  ausser  Haus,  durch  Heimarbeiterinnen  besorgen^) 
(die  ländlichen  „Fabrikanten"  senden,  der  Wohlfeilheit  halber,  die  Erzeugnisse 
manchmal  in  Ballen  durch  die  Bahnen  in  andere  Gegenden,  wo  das  Nähen,  gleichfalls 
hausindustriell,  besorgt  wird);  die  hausindustrielle  Erzeugung  des  gewirkten  Stoffes 
selbst  kommt  hingegen  in  Wien  kaum  mehr  vor;  soweit  ein  Sweating-Sj-^stem 
herrscht,  unterliegt  ihm  der  Meister  mit  seinen  Werkstattgesellen. -*)  Nur  hier 
und  da  findet  sich  ein  Wirker  als  Hausgeselle  in  Wien,  der  die  intermittierende 
Beschäftigung  mit  einer  Nebenbeschäftigung  als  Hausmeister,  kleiner  Geschäfts- 
mann u.  dgl.  glücklich  verbindet. 

In  diesem  Gewerbe  ist  sonach  die  alte  Hausindustrie  neben  dem 
Werkstattbetriebe  zugleich  mit  dem  letzteren  nahezu  verschwunden. 

Allein  der  Geist  der  durch  die  alten  Strumpfwirker  veranlassten  Kechts- 
vorschriften  drückt  gleichwohl  noch  verhängnisvoll  auf  allen  Gewerben. 


für  Frühstück,  Abendmahl,  Bekleidung  und  sonstige  Bedürfnisse  zum  mindesten  3— S'/g  A- 
W.-W.  verblieben,  ein  bei  der  damaligen  Kaufkraft  des  Geldes  und  Einfachheit  des 
Lebens  nicht  geringer  Betrag  und  jedenfalls  erheblich  mehr,  als  dem  Wirker,  der 
heute  in  Wien  7 — 8  fl.  Oe.  W.  verdient,  nach  Bestreitung  der  damals  vom  Meister  prä- 
stierten Verpflegung  zur  Verfügung  übrig  bleibt. 

^)  Das  ist  beileibe  keine  besondere  Wiener  Eigenthümlichkeit;  man  lese  z.  B.  den 
Aufsatz  von  Franken  stein,  „Die  Lage  der  Arbeiterinnen  in  den  deutschen  Grossstädten" 
(Schmollers  „Jahrbuch"  1888,  S.  183,  188,  u.  s.  w.)  oder  den  Bericht  der  Leipziger 
Gewerbekammer  von  1888,  S.  29.  Auch  A.  Lehr  (Die  Hausindustrie  in  der  Stadt  Leipzig, 
S.  15  ff.),  der  den  Unternehmerstandpunkt  theilt,  kann  schliesslich  diese  Verhältnisse 
nicht  in  Abrede  stellen.  So  tritt  zu  dem  Kampfe  zwischen  Stadt  und  Land  um  den  niedrigsten 
Lohn,  zur  Satire  herausfordernd  der  „Wettstreit  der  Staaten  um  den  industriellen 
Vorrang"  vermöge  und  um  den  Preis  der  grösseren  Verelendung  der  Massen. 

2)  Von  den  mit  Einem  Manne  lebenden  Angehörigen  der  (auch  die  Strickwaren- 
Erzeuger  umfassenden)  Genossenschaft  der  „Wirkwaren -Erzeuger"  in  Wien,  welche  in 
den  letzten  Jahren  entbunden  wurden,  waren  an  die  40^0  verehelicht  und  volle  60"/o 
lebten  im  Concubinat,  was  angeführt  werden  mag,  da  in  sehr  vielen  Fällen  vollständiger 
Geldmangel  die  Ursache  ist,  dass  vom  priesterlichen  Segen  abgesehen  wird. 

3)  Die  meisten  Spinnereien  liefern  heute  das  Garn  bereits  gespult  auf  sog.  Cops, 
das  ist  auf  Papierhülsen  von  länglicher  Form,  so  dass  das  Spulen  oft  wegfällt. 

*)  Vgl.  meine  Bemerkungen  auf  S.  162 — 8  des  Aufsatzes  über  die  „Entstehung  der 
Hausindustrie"  in  Heft  I.  dieser  „Zeitschrift",  sowie  die  Aeusserungen  des  Pariser 
Privatdocenten  Dr.  du  Maroussem  in  der  „Kevue  d'Economie  Politique"  (Mai  1892), 
welcher  dazu  ein  französisches  Beispiel  erbringt. 


LITERATÜRBERICHT. 


G.  K.  Autoii,  Geschichte  der  preussischen  Fabrikgesetzgebung  bis  zu  ihrer 
Aufnahme  durch  die  Eeichsgewerbeordnung.  Leipzig,  1891.  (Schmollers  Forschungen, 
Band  XI,  Heft  2),  202  S.  in  S». 

Die  preussische  Arbeiterschutzgesetzgebung,  deren  Geschichte  bis  1869  im  vor- 
liegenden Bande  geschildert  werden  sollte,  umfasst  einmal  Schutzmaassregeln  zu  Gunsten 
der  jugendlichen  Hilfsarbeiter  in  den  Fabriken,  sowie  Vorschriften  gegen  Missbräuche  bei 
der  Lohnzahlung,  d.  i.  gegen  das  Trucksystem.  Auf  diese  beiden  Zweige  der  gewerblichen 
Gesetzgebung  allein  erstreckt  sich  die  Archivforschung  Dr.  Antons;  das  gesammte 
übrige  Gebiet  der  preussisch-deutschen  Socialpolitik  im  berührten  Zeiträume,  die  Be- 
strebungen zur  Schaffung  eines  einheitlichen  Gewerberechts  für  das  ganze  preussische 
Territorium  und  im  Zusammenhange  damit  die  Regelung  des  Unterstützungswesens  für 
die  gewerblichen  Hilfskräfte,  sowie  die  bis  auf  die  ersten  Jahre  nach  der  Schlacht  von 
Jena  zurückreichenden  Anfänge  einer  gewerblichen  Socialpolitik  und  ihre  spätere  Ent- 
wicklung bleiben  in  ihrer  Gesammtheit  ausser  Betracht. 

Die  Anlässe,  den  Missbräuchen  bei  der  Kinderarbeit  in  Fabriken  Einhalt  zu  thun, 
lagen,  wie  das  genügend  bekannt  ist,  auf  dem  Gebiete  der  staatlichen  Einrichtungen  der 
allgemeinen  Schul-  und  Wehrpflicht.  Das  Hauptverdienst  der  Anton'schen  Schrift  liegt  in 
ihren  ersten  Abschnitten  darin,  die  damaligen  Verhältnisse  in  den  preussischen  Fabriken 
rücksichtlich  der  Kinderarbeit  sowie  den  Gang  der  bureaukratischen  Vorkehrungen  gegen 
dieselbe  im  einzelnen  an  das  Licht  gebracht  zu  haben.  Die  Geschichte  der  Fabrikkinder 
in  England  ist  in  Deutschland  durch  Karl  Marx  (Capital,  I,  Cap.  XXIV.,  6.),  Brentano 
(Das  Arbeitsverhältnis  etc.,  S.  79  fg.)  und  neuestens  durch  Schulze-Gaevernitz  (Zum 
socialen  Frieden,  Band  H,  VII  Cap.)  zur  genüge  bekannt  geworden;  es  kann  nun  gesagt 
werden,  dass  die  Schilderung  der  Leiden  der  preussischen  Fabrikkinder  gleichfalls  eines 
der  schmachvollsten  Blätter  der  Cultur-  und  Wirtschaftsgeschichte  füllt,  wiewohl  sich 
darüber  streiten  lässt,  ob  sie  nicht  etwas  minder  grässlich  waren,  als  jene  der  Engländer: 
zumindest  scheint  es,  dass  die  festländischen  Fabrikkinder  nicht  gepeitscht  zu  werden 
pflegten. 

Im  Gegensatze  zu  England  ist  es  aber  in  Preussen  im  wesentlichen  ein  Factor, 
dem  die  Anfänge  der  Arbeiterschutzgesetzgebung  zu  verdanken  sind:  die  Regierung. 
Der  äusserst  behutsame  und  überaus  langsame  Fortschritt  der  Gesetzgebung  jedoch 
gestattet  unseres  Erachtens  bei  aller  Anerkennung  der  Verdienste  der  preussischen 
Bureaukratie  nicht,  ihre  Thätigkeit,  selbst  wenn  man  sich  in  die  Verhältnisse  der  Zeit 
zurückversetzt  denkt,  so  hoch  zu  veranschlagen,  als  der  Verfasser. 

Nach  mannigfachen  Gegenströmungen  innerhalb  der  obersten  Centralbehörden 
und  trotz  der  durch  die  schlechten  Aushebungsresultate  des  General-Lieutenant  von  Hörn 
bereits  am  12.  Mai  1828  veranlassten  Ordre  Friedrich  Wilhelm's  III.  an  die  Minister  für 
Unterricht  und  für  Handel,  entstand  erst  im  Jahre  1835.  ausserhalb  der  Ministerien,  ein 
Verordnungs-Entwurf  des  Oberpräsidenten  der  Rheinprovinz  v.  Bodelschwingh,  welcher 
die  Grundlage  für  das  Regulativ  vom  9.  März  1839  bildet.  Dank  einer  vom  Barmener 
Fabrikanten  J.  Schuchard  ausgehenden  Agitation  richtet  später,  im  Jahre  1837,  der 
rheinische  Provincial-Landtag  eine  Adresse  an  den  König,  in  welcher  um  den  Erlass  eines 
Fabrikgesetzes  zum  Schutze  der  Kinderarbeit  gebeten  wird.  Nach  manchen  neuerlichen 
Bemühungen  v.  Bodelschwingh's  kommt  endlich  1839  — etwa  15  Jahre  nach  den  ersten 
anregenden  Maassnahmen  des  Unterrichtsministers  v.  Altenstein  in  diesem  Gegenstande 
—  das  „Regulativ  über  die  Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter  in  Fabriken"  zustande, 
das  in  die  Gewerbeordnung   für  den  Norddeutschen  Bund    v.    J     1869   (mithin    für    das 


Literaturbericht.  503 

Deutsche  Reich)  übergeht.  Die  Arbeit  der  Kinder  zwischen  9  und  16  Jahren  wurde  auf 
10  Stunden  bei  Tag  beschränkt,  mit  einstündiger  Pause  mittags  und  zwei  je  einviertel- 
stündigen Pausen  vor-  und  nachmittags,  unter  Gewährung  jedesmaliger  Bewegung  in  freier 
Luft.  Sonn-  und  Feiertagsarbeit  wurde  untersagt.  Wer  noch  nicht  einen  dreijährigen  regel- 
mässigen Schulunterricht  genossen  hatte  oder  nicht  nachwies,  dass  er  seine  Muttersprache 
geläufig  lesen  könne  und  einen  Anfang  im  Schreiben  gemacht  habe,  sollte  vor  vollendetem 
16.  Lebensjahr  überhaupt  nicht  in  Fabriken  (bezw.  bei  Berg-,  Hütten-  und  Pochwerken) 
beschäftigt  werden,  es  sei  denn,  dass  für  solche  eine  Fabrikschule  bestand,  die  der  Controle 
der  Regierungen  unterlag.  Ein  Confirmanden-Ünterricht  wurde  eingeführt  und  die  Anlage 
von  Listen  angeordnet,  aus  welchen  sich  die  Behörden  über  die  Durchführung  ihrer 
Vorschriften  unterrichten  sollten.  Den  Ministern  der  Medicinalangelegenheiten,  der  Polizei 
und  Finanzen  blieb  endlich  vorbehalten,  „diejenigen  besonderen  sanitäts-,  bau-  und 
sictenpolizeilichen  Anordnungen  zu  erlassen,  welche  sie  zur  Erhaltung  der  Gesundheit 
und  Moralität  der  Fabriksarbeiter  für  erforderlich"  halten  würden.  (§  10.) 

Die  Durchführung  des  Gesetzes  war  jedoch  der  Ortspolizei  übertragen,  wodurch 
Ausführung  und  Wirksamkeit  der  Vorschriften  wesentlich  leiden  mussten;  waren  ja  die 
Fabrikherren  die  social  angesehensten  Personen  der  Gegend  und  hieng  von  ihrem  Verhalten 
im  Gemeinderathe  in  vielen  Fällen  auch  die  Höhe  der  Besoldung  des  Bürgermeisters  ab. 
Das  Anton'sche  Buch  enthält  denn  auch  das  entsprechende  Material,  aus  dem  die  Unzuläng- 
lichkeit des  Regulativs  und  der  umfang  der  fortbestehenden  üebelstände  ersichtlich  wird. 

Den  Erwägungen,  wie  Abhilfe  getroffen  werden  sollte,  setzten  die  politischen 
Ereignisse  des  Jahres  1848  ein  Ende  —  nicht  ohne  auch  auf  anderen  Gebieten  der  ge- 
werblichen Socialpolitik  einen  stärkeren  Impuls  zu  geben. 

Abgesehen  von  anderen  Vorschriften  verboten  alsbald  die  §§  50 — 55  der  im 
Jahre  1849  zustande  gekommenen  Gewerbenovelle  (königl.  Verordnung  vom  9.  Februar, 
nachträglich  von  den  Kammern  genehmigt)  da»  in  der  Rheinprovinz  so  vielfach  bestandene 
Bezahlen  der  Arbeiter  in  Waren.  Dr.  Anton,  welcher  die  Geschichte  der  preussischen 
Truckverbote  im  zweiten  Theile  seines  Werkes  (S.  135—163)  gesondert  behandelt  und 
dabei  die  für  ihn  in  Frage  kommenden  Wirkungen,  wie  Arten  des  Truckunwesens  präg- 
nant darstellt,  führt  die  ersten  Anregungen  zu  einem  gesetzgeberischen  Acte  dieser 
Richtung  bis  zum  Jahre  1831  zurück.  Aus  doctrinären  Bedenken  wurde  der  bereits  damals 
ausgearbeitete  Gesetzentwurf  des  Handelsministers  zur  Steuerung  der  Warenlöhnung 
fallen  gelassen  und  nach  mannigfachen  neuen  Anregungen  brachten  erst  die  Unruhen 
am  17.  und  18.  März  1848  zu  Solingen,  wo  das  System  in  der  schamlosesten  Weise 
gedieh,  die  Angelegenheit  rasch  zu  einem  Ende.  —  Die  Truckverbote  giengen  nach 
zwei  Decennien  in  nur  wenig  veränderter  Fassung  in  die  spätere  Reichs-Gewerbeordnung 
vom  Jahre  1869  über,  ohne  dass  in  der  Zwischenzeit  Anträge  oder  Vorschläge  auf  ihre 
Aenderung  bezw.  Erweiterung  gestellt  werden  mussten. 

Nach  1848  verschluss  man  sich  auch  der  Unzulänglichkeit  des  Regulativs 
von  1839  nicht  länger.  Man  beschloss,  nicht  lediglich  Anordnungen  der  in  §  10  vorge- 
sehenen Art  zu  erlassen,  sondern  erweiternde  Abänderungen  an  dem  Gesetze  vorzunehmen. 

Der  neue  Entwurf  des  Handelsministers  von  der  Hey  dt  gelangte  am  9.  und 
10.  Mai  1853  zur  Verhandlung  in  der  zweiten,  am  12.  Mai  in  der  ersten  Kammer.  Die 
fortschrittlichen  Bestimmungen  der  Novelle  —  Verbot  der  regehnässigen  Kinderarbeit 
unter  12  Jahren,  Beschränkung  jener  der  12— 14jährigen  auf  7,  der  14— 16jährigen  auf 
10  Stunden  bei  Tag  und  Controle  für  alle  12— 16jährigen  durch  Arbeitsbücher,  im  beson- 
deren Erweiterung  der  Pause  vor-  und  nachmittags  auf  eine  halbe  Stunde  —  wurden 
seitens  des  Abgeordneten  Degenkolb,  eines  Grossindustriellen  aus  Eilenburg,  heftig 
bekämpft.  Er  machte  der  Regierung  den  Vorwurf,  dass  sie  leichtsinnigerweise  mit 
wenigen  Federstrichen  das  Gesetz  entworfen  habe,  ohne  vorgängige  gründliche  Unter- 
suchung aller  in  Frage  kommenden  Verhältnisse.  Das  Gesetz,  führt  er  aus,  wird  die 
Armut  vermehren  und  den  Kindern  schaden.  Zu  den  Härten  und  dem  Elend,  die  in  den 
bestehenden  Arbeitsverhältnissen  für  Tausende  ohnehin  liegen,  füge  es  willkürlich  einen 
neuen  Druck   hinzu,    weil    der  Gesetzgeber    die  Tragweite  seiner  Vorschläge  nicht  wohl 


504 


Literaturbericht. 


erwogen  und  nicht  gewusst  habe,  die  Eücksichteu,  die  er  auf  die  Kinder  nehmen 
müsse,  mit  denen  zu  vereinigen,  welche  er  den  Eltern  schuldet.  Oder  würde  es  nicht 
hart  sein,  den  Tausenden  von  Eltern,  die  nicht  ausreichende  Arbeitskraft  besitzen  oder 
nicht  ausreichende  Arbeit  finden,  zu  verweigern,  die  Arbeitskraft  der  Kinder  zu  benützen, 
welche  einen  Theil  des  Lebensunterhaltes  mit  erwerben  helfen?  Der  Witwe  vollends, 
welcher  der  Ernährer  fehlt,  werde  verboten,  die  zurückgelassenen  Kinder  in  die  Fabrik 
zu  schicken,  obzwar  sie  diese  allein  zu  ernähren  nicht  vermag,  —  Allein  trotz  dieser 
Angriffe  stimmten  die  Kammern  der  Noth wendigkeit  zu,  welche  im  allgemeinen  zum 
Erlass  dieser  Bestimmungen  zwang,  und  Keichensperger  wies  die  Meinung 
zurück,  dass  man  eine  verstärkte  Production  um  den  Preis  der  Gesundheit  und  der 
Moralität  von  Kindern  von  12  Jahren  erkaufen  dürfe;  an  einer  solchen  Production 
hafte  kein  Segen,  wohl  aber  das  Herzblut  der  Kinder').  —  So  wurde  denn  sogar  an 
Stelle  der  siebenstündigen  Maximal-Arbeitszeit  für  12 — 14jährige  eine  sechsstündige  fest- 
gesetzt, und  in  dieser  Gestalt  erfolgte  die  Genehmigung  des  Gesetzes  am  IQ.  Mai  1853 
seitens  des  Königs. 

Dieses  Ergänzungsgesetz  zum  Eegulativ  berührte  die  Interessenten  viel  nachhaltiger, 
als  die  ersten  gesetzlichen  Verfügungen.  War  aber  •  bereits  die  Ausführung  jener 
ungenügend,  so  lässt  sich  vom  zweiten  Gesetz  ein  verhältnismässig  noch  geringerer 
Erfolg  melden.  In  Voraussicht  dieser  Gefahr  hatte  auch  das  Handelsministerium  eine 
Ausführungs-Instruction  ausgearbeitet,  welche  unter  dem  18.  August  1853  als  Circular- 
verfügung  der  Minister  des  Unterrichts,  des  Handels  und  des  Innern  erlassen  wurde,  in 
ihrem  II.  Abschnitte  die    in  §  10    des    Regulativs  vorbehaltenen  Anordnungen    traf,    im 

III.  auf  den  allgemeinen  Schulunterricht  der  jugendlichen  Arbeiter  Bezug  nahm  und  im 

IV.  im  Zusammenhange  mit  den  neu  eingeführten  Arbeitsbüchern  den  Erlass  von 
Fabrikordnungen  anregte. 

Die  Anstellung  von  Fabrikinspectoren  wurde  nur  seitens  der  Regierungen  zu  Aachen, 
Düsseldorf  und  Arnsberg  als  Bedürfnis  erkannt.  Während  die  Bestrebungen  des  zweiten 
Fabrikinspectors  in  Aachen  an  der  Bezirksregierung  einen  Rückhalt  fanden,  so  dass  dort 
nach  1857  mit  der  Durchführung  des  Gesetzes  endlich  Ernst  wurde,  war  das  gleiche  im 
Düsseldorfer  Bezirke  nicht  der  Fall.  Die  Regierung  zu  Düsseldorf  fand  sogar,  dass  die 
Kinder  in  ihrem  Bezirke  schon  nach  11  Jahren  das  erforderliche  Maass  von  Kenntnissen 
zur  Beendigung  der  Schulpflicht  besässen,  so  dass  „für  die  aus  der  Schule  entlassenen 
und  in  der  Fabrik  gemäss  der  mangelhaften  Gesetzbestimmung  nur  sechs  Stunden  täglich 
beschäftigten  Kinder  eine  zu  lange,  beim  Mangel  häuslicher  Aufsicht  und  Unterweisung 
nur  zu  Müssiggang  und  Verwilderung  führende  Mussezeit"  eintrete.  Demgemäss  war  sie 
auch  weit  davon  entfernt,  das  Gesetz  mit  Nachdruck  zur  Geltung  zu  bringen  und  nicht 
viel  anders  scheint  es  in  Arnsberg  ausgesehen  zu  haben.  Wo  keine  Fabrikinspectiou 
bestand,  war  es  mit  der  Durchführung  des  Gesetzes  entsprechend  bestellt. 

Gemäss  §  1  des  Gesetzes  sollte  dieses  erst  vom  1.  Juli  1855  an  im  vollen 
Umfange  zur  Geltung  kommen  und  im  Sinne  des  §  4  konnte  der  Minister  für  Handel 
im  Einvernehmen  mit  dem  Minister  für  Unterricht  eine  Ausnahme  vom  Gesetze  für 
bestimmte  Zeit  zugestehen.  Vom  1.  Juli  1855  ab  schenkten  die  Minister  den  in  statt- 
licher Reihe  einlaufenden  Anträgen  der  Fabrikanten  auf  diese  Bevorzugung  kein  Gehör, 
allein  trotzdem  stand  es,  wie  wir  bereits  sagten,  um  die  Durchführung  des  Gesetzes 
überall  und  dauernd  schlecht.  Die  Controle  scheint  thatsächlich  sehr  bald  eingeschlafen 
zu   sein. 

Mit  dem  Zurücktreten  der  Reaction  schlug  auch  die  Stimmung  bei  den  Ccntral- 
behörden  um.  „Während  von  der  Heydt  1853  im  Herrenhause  verkündet  hatte,  dass 


»)  In  ähnlicher  Weise  sagte  O  1  f  e  r  s  in  der  ersten  Kammer,  dass  es  ein  fressendes  Capital  wäre, 
ein  Capital,  welches  vom  Marke  des  Staates  zehrt,  das  man  auf  Kosten  der  Kinder  ersparen  wollte,  „Wir 
sind,"  rief  er  aus,  „nicht  darauf  hingewiesen,  die  Kinder  der  Armen  wie  Maschinen  zu  behandeln.  Wir 
sind  menschlich,  bürgerlich  und  christlich  verpflichtet,  sie  zu  leiten  in  die  gesollige  Ordnung,  damit  sie 
auch  ihren  Theil  haben  von  den  Früchten  derselben.  Wenn  wir  sie  in  der  Kindheit  verkümmern  lassen, 
80  iällt  eine  grosse  Schuld  auf  uns,  die  gebildete  Classe." 


Literaturbericht.  505 

die  Regierung  die  Fabrikgesetzgebung  mit  dem  Gesetze  vom  16.  Mai  noch  keineswegs 
als  abgeschlossen  betrachte,  vielmehr  nicht  zurückstehen  werde,  nach  Maassgabe  weiterer 
Erfahrungen  dasjenige  vorzukehren,  was  im  Interesse  der  jugendlichen  Arbeiter  sich  als 
nothwendig  ergeben  werde"  —  hielt  man  es  unter  seinem  Nachfolger  im  Handelsmini- 
sterium schon  für  sehr  viel,  wenn  man  zugestand,  „dass  die  Arbeiter  den  Arbeitgebern 
gegenüber  nicht  durchaus  rechtlos  seien,"  und  war  der  Meinung,  dass  „der  Staat  durch 
irgendwelche  gesetzliche  Bestimmungen  oder  durch  Verwaltungsanordnungen  den  Noth- 
ständen  nicht  abhelfen  könne,  welche  mit  den  Bedingungen  der  Arbeit  über- 
haupt und  mit  dem  in  der  Weltordnung  begründeten  Unterschiede  von 
Arm  und  Eeich  zusammenhiengen.  Die  Regierung  würde  eine  schwere  Schuld  auf 
sich  laden,  wenn  sie  in  dieser  Beziehung  durch  ihr  Vorgehen  den  Arbeiterstand  zu 
unbegründeten  Hoffnungen  verleite," 

Auf  die  ehemaligen  Fürstenthümer  HohenzoUern,  sowie  auf  die  im  Jahre  1866 
annectierten  Gebiete  wurde  in  Bezug  auf  die  behandelte  Materie  ein  mit  den  übrigen 
Theilen  der  Monarchie  übereinstimmender  gesetzlicher  Zustand  allmählich  herbeigeführt. 
Eine  erhebliche  Ausdehnung  ihres  örtlichen  Wirkungskreises  sollten  jedoch  die  auf  die 
jugendlichen  Fabriksarbeiter  bezüglichen  Bestimmungen  dadurch  erfahren,  dass  Preussen 
im  August  1866  den  Bundes  vertrag  mit  den  norddeutschen  Staaten  schloss  und  dass  auf 
dem  ersten  Reichstage  des  Bundes  der  Erlass  übereinstimmender  Vorschriften  für  das 
Bundesgebiet  betr.  die  Berechtigung  zum  Gewerbebetriebe  angeregt  wurde.  So  entstand 
die  Gewerbeordnung  vom  21.  Juni  1869,  in  welche  die  preussischen  Bestimmungen  des 
Regulativs  und  seiner  Novelle  vom  16.  Mai  1853  —  mit  geringen  Abschwächungen  — 
eingereiht  wurden. 

Die  vorliegende  Schrift,  welche  die  Ereignisse  nicht  weiter  verfolgt  und  auch  in 
der  Hauptsache  keine  neuen  Thatsachen  ergibt,  muss  gleichwohl  als  eine  recht  ver- 
dienstliche und  sorgfältige  Arbeit  bezeichnet  werden.  Die  Forschungen  Dr.  Antons 
erwecken  endlich  die  Hoffnung,  dass  auch  Oesterreich  eine  pragmatische  Geschichte  seines 
Arbeiterschutzes  nicht  mehr  lang  entbehren  werde!  Eugen  Schwiedland. 

Politische  Oekonomie  iu  gedrängter  Fassung  (Volkswirtschaftslehre,  Finanz- 
wissenschaft, Statistik  etc.)  Von  Br.  Julius  Lehr,  Professor  an  der  Universität  zu 
München.  2.  vermehrte  Auflage,  München  1892,  144  SS. 

Vorliegende  Schrift  ist,  wie  der  Verfasser  im  Vorworte  berichtet,  aus  dem  soge- 
nannten „Heft"  hervorgegangen,  welches  er  nach  deutscher  Universitätssitte  an  die 
Hörer  seiner  an  der  Universität  München  über  Nationalökonomie,  Finanzwissenschaft  und 
Statistik  gehaltenen  Vorlesungen  vertheilen  Hess.  Diesem  Ursprung  ist  die  Einrichtung 
der  Schrift  angepasst.  Sie  bietet  einen  gedrängten  Auszug  aus  dem  gesammten  Lehrstoff 
der  politischen  Oekonomie.  Die  Darstellung  ist  übersichtlich,  klar  und  präcis.  Das  ge- 
botene Material  ist  insbesondere  in  den  praktischen  Theilen  im  Verhältnis  zum  geringen 
Umfange  des  Ganzen  sehr  reichhaltig,  während  die  Behandlung  der  theoretischen  Stoffe 
verhältnismässig  knapp  gerathen  ist,  wahrscheinlich  weil  hier  dem  lebendigen  Worte  die 
Hauptrolle  zugedacht  war.  Dass  schon  zu  Beginn  dieses  Jahres  die  vorliegende  „zweite 
vermehrte  Auflage"  nothwendig  wurde,  nachdem  die  Schrift  kaum  erst  im  Herbste  1891 
der  erweiterten  Oeffentlichkeit  übergeben  worden  war,  ist  ein  sprechendes  Zeugnis  für 
die  Tüchtigkeit  und  praktische  Verwendbarkeit  der  Arbeit.  E.  B. 

The  tlieory  of  Dynamic  Economics.  Von  Simon  N.  Patten,  Professor  der  poL 
Oekonomie  an  der  Universität  von  Pennsjlvanien.  Philadelphia  1892,  153  SS. 

Simon  N.  Patten  ist  eine  der  fesselndsten  Individualitäten  aus  dem  zahlreichen 
Kreise  von  Gelehrten,  welche  im  Begriffe  sind,  der  nationalökonomischen  Wissenschaft  in 
Nordamerika  einen  Aufschwung  zu  bereiten,  dessen  Extensität  fast  ohne  Beispiel,  und 
dessen  Intensität  schon  heute  zum  mindesten  sehr  ehrenwert  ist.  Patten  hat  einen 
Kopf,  der  voll  von  originellen  und  geistreichen  Einfällen  steckt.  Dieselben  sprühen  in 
rascher  Folge  nach  den  verschiedensten  Theilgebieten  der  ökonomischen  und  auch  ver- 
wandter anderer  Wissenschaften  aus.  Patten  schreibt  binnen  wenigen  Jahren  bald  über 
die  -Stabilität  der  Preise",  bald  über  die  „ökonomische  Grundlage  des  Schutzzolls,"  bald 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  III.  Heft.  33 


506  Literaturbericht. 

über  „Malthus  und  Eicardo."  bald  über  die  Theorie  der  „Güterconsumtion,"  bald  über 
die  „Grundidee  des  Capitales;"  ein  anderesmal  setzt  er  die  „Grundsätze  der  rationellen 
Besteuerung,"  wieder  ein  anderesmal  seine  Ansichten  über  die  „Ethik  des  Grundbesitzes", 
oder  über  den  „pädagogischen  Wert  der  politischen  Oekonomie"  oder  über  das  Erziehungs- 
problem überhaupt  auseinander.  Und  in  jeder  dieser  zahlreichen  Schriften  weiss  er  uns 
irgend  etwas  Eigenartiges,  Neues,  Anregendes  mitzutheilen,  dessen  Wirkung  auf  den 
Leser  noch  gehoben  wird  durch  einen  höchst  wohlthuenden  idealen  Zug,  der  durch 
Patten' s  Wesen  und  Schriften  geht.  Er  ist  ein  höchst  sympathischer  und  anregender 
Schriftsteller. 

Ich  möchte  das  Wort  „anregend"  mit  besonderem  Nachdruck  betonen.  Wie  über- 
haupt bei  temperamentvollen,  impulsiven  Naturen,  so  liegt  auch  P  a  1 1  e  n  's  Stärke 
mehr  im  Anregen  als  im  Ausbauen.  Er  liebt  es,  auch  über  die  umfassendsten  Themen 
einen  kurzen  Aufsatz  zu  schreiben,  in  dessen  Mittelpunkt  er  irgend  einen  neuen,  geist- 
vollen Gedanken  stellt.  Natürlich  kann  er  ihn  innerhalb  eines  so  knappen  Rahmens  nicht 
in  alle  seine  Consequenzen  verfolgen,  und  ebenso  natürlich  gelangt  er  nicht  dazu,  an 
ihm  diejenige  letzte  und  unerbittliche  Controle  zu  üben,  die  sich  eben  nur  aus  dem 
widerspruchslosen  Zusammenstimmen  einer  bis  in  die  letzten  Details  ausgebauten  Theorie 
ergibt.  So  kommt  es,  dass  P  a  1 1  e  n'  s  Leser  stets  reich  angeregt,  aber  auch  stets  zur 
üebung  eines  doppelten  Amtes  herausgefordert  werden:  kritisch  nachzuprüfen  und  aus- 
zubauen. 

Auch  in  seiner  jüngsten  Schrift,  die  den  unmittelbaren  Anlass  dieser  Zeilen  bildet, 
streut  Patten  Anregungen  aus,  welche  diesmal  einem  besonders  weiten  und  wichtigen 
Thema  gelten.  Unter  dem  Titel  „Theorie  der  dj'namischen  Oekonomie"  gibt  er  uns  ein 
Programm,  wie  man  —  und  zwar  anders  als  bisher  —  Nationalökonomie  treiben  solle, 
und  zugleich  auch  schon  eine  Art  Skelet  oder  Abriss  des  ganzen  nationalökonomischen 
Systems,  wie  Patten  es  sich  denkt.  Dieses  neue  System  hat  zwei  besonders  hervor- 
stechende Züge.  Der  eine  wird  durch  den  Titel  des  Patten'schen  Werkes  ausgedrückt: 
es  soll  eine  „dynamische"  Oekonomie  geschildert  werden  im  Gegensatze  zu  einer 
„statischen."  Das  will  in  der  Meinung  Patten' s  beiläufig  Folgendes  sagen.  Im  Laufe 
der  Culturentwicklung  verändern  sich  immerfort  sowohl  die  Menschen  selbst,  als  auch 
die  äussere  natürliche  Umgebung,  iu  welcher  sie  ihre  wirtschaftliche  Thätigkeit  zu  voll- 
bringen haben.  Es  ändert  sich  sowohl  die  „subjective"  als  die  „objective  Welt,"  und 
zwar  ruft  in  endloser  Wechselwirkung  jede  Aenderung  in  den  Menschen  auch  eine 
Aenderung  in  der  durch  sie  beeinflussten  Umgebung,  und  jede  Aenderung  in  der  Um- 
gebung —  durch  eine  Beeinflussung  der  Lebensführung  hindurch  —  wieder  eine  Aen- 
derung in  der  Volks-Psychologie  hervor.  Diese  nie  rastende  Bewegung  müsse  nun  auch 
von  der  Theorie  in  ihren  Calcul  einbezogen  werden. 

Die  wahre  Grundlage  für  die  gesammte  ökonomische  Theorie  bilde  aber  ferner  — 
und  das  ist  der  zweite  hervorstechende  Charakterzug  —  die  bis  jetzt  so  arg  vernach- 
lässigte Theorie  der  Güterconsumtion.  Alle  anderen  volkswirtschaftlichen 
Erscheinungen,  Production,  Wert  und  Preis,  Vertheilung  u.  s.  w.  empfangen  ihre  Impulse 
und  ihre  Bestimmung  von  der  Consumtion  der  Güter,  welche  auch  das  Mittelglied  bildet, 
durch  welches  hindurch  die  oben  angedeuteten  Einflüsse  der  „objectiven  Welt"  auf  die 
„subjective"  wirksam  werden:  Art,  Richtung,  Umfang  der  Güterconsumtion  entscheidet 
über  die  Lebensführung,  und  diese  wieder  prägt  tiefe  Spuren  dem  ganzen  geistigen  und 
sittlichen  Leben  des  Individuums  und  der  Gesellschaft  ein. 

In  der  Lehre  von  der  Consumtion,  die  seit  jeher  ein  Lieblingsthema  Patten' s 
bildet,  findet  er  aber  wieder  ein  Gesetz  besonders  hervortretend,  dem  er  die  hervor- 
ragendste wissenschaftliche  und  praktische  Bedeutung  zuschreibt:  das  ist  das  Gesetz  der 
„Vermannigfaltigung"  der  Bedürfnisse  und  Gütergenüsse  (law  of  variety).  Von  einer 
Gütergattung  können  wir  immer  nur  verhältnismässig  Avenig  und  mit  rasch  abnehmendem 
Genüsse  consumieren.  Indem  wir  aber  mit  zunehmender  Culturentwicklung  immer  mehr 
Arten  von  Genüssen  kennen  und  begehren  lernen,  entfernen  wir  uns  trotz  unseres  wach- 
senden Wohlstandes  eher  von  der  Grenze  der  Sättigung,  statt  dass  wir  uns  ihr  annähern. 


Literaturbericht,  507 

und  in  weiterer  Folge  zeigt  auch  der  (subjective)  Wert  der  Güter,  der  sich  dem  Gesetze 
des  „Grenznutzens"  zufolge  jeweils  nach  der  Bedeutung  des  mindest  wichtigen  noch  zur 
Befriedigung  gelangenden  Bedürfnisses  bemisst,  mit  zunehmender  wirtschaftlicher  Ent- 
wicklung eher  eine  Tendenz  zu  steigen  als  zu  sinken. 

Wie  der  Verfasser  diese  Grundgedanken  weiterhin  in  die  Details  seines  Systems 
verwebt,  kann  ich  hier  nicht  mehr  verfolgen.  Ich  will  nur  mit  ein  paar  Worten  den 
Gesammteindruck  schildern,  den  P  a  1 1  e  n'  s  Lehre  mir  erweckt  hat.  Ich  halte  die  wich- 
tigsten seiner  Thesen  für  richtig,  glaube  aber,  dass  Patten  den  Einfluss,  der  ihnen 
in  Leben  und  Lehre  zukommt,  erheblich  überschätzt  hat.  Er  ist,  wie  ich  glaube,  ein 
weni-g  derselben  Sorte  von  Gefahr  unterlegen,  von  welcher  alle  Verfasser  von  mono- 
graphischen Essays  bedroht  werden,  und  welche  z.  B.  unter  Anderem  die  historischen 
Biographen  im  Gegensatze  zu  den  systematischen  Welthistorikern  unwillkürlich  dazu  zu 
verführen  pflegt,  die  speciellen  Helden  ihrer  Muse  etwas  stärker  in  den  Vordergrund  zu 
rücken  und  ihi^en  einen  etwas  grösseren  Antheil  an  den  Weltbegebenheiten  zuzuschreiben 
als  es  den  nüchternen  Thatsachen  entspricht.  Patten  hat  ganz  Recht:  die  Wissen- 
schaft erfüllt  ihre  Aufgabe  nicht  voll,  wenn  sie  nicht  auch  die  unausgesetzte  Entwicklung, 
die  in  der  „subjectiven  und  objectiven  Welt"  vor  sich  geht,  registriert  und  in  ihren 
Calcul  zieht.  Aber  er  scheint  mir  in  zweifacher  Hinsicht  über  das  Ziel  zu  schiessen, 
wenn  er  die  Mangelhaftigkeit  aller  älteren  Theorien,  die  der  Physiokraten,  von  Adam 
Smith,  von  Ricardo,  hauptsächlich  auf  den  Mangel  des  „dynamischen"  Elementes 
in  diesen  Theorien  zurückführen  zu  können  meint.  Denn  erstens,  glaube  ich,  haben  auch 
die  Aeltern  und  zumal  A.  Smith  es  an  einer  Berücksichtigung  des  Entwicklungsmo- 
mentes keineswegs  völlig  fehlen  lassen;  und  zweitens,  auch  angenommen,  dass  sie  nur 
eine  „statische"  Oekonomie  statt  einer  „dynamischen"  beschrieben  und  erklärt  hätten, 
so  stammen  ihre  folgenschweren  Erklärungsfehler,  z.  B.  ihre  Grundirrthümer  über  Wesen 
und  Gesetze  des  Güterwerts,  des  Arbeitslohnes  u.  dgl.  gewiss  nicht  daher,  dass  sie  nur 
ein  bestimmtes  Stadium  der  Wirtschaftsentwicklung  erklärt  haben:  sondern  ihre  Erklä- 
rung war  eben  auch  für  dieses  eine  Stadium  falsch.  Sie  blieben  hinter  ihrer  Erklärungs- 
aufgabe nicht  bloss  deshalb  zurück,  weil  sie  der  „Statik"  eine  „Dynamik"  hinzuzufügen 
uuterliessen,  sondern  in  ungleich  höherem  Maasse  deshalb,  weil  ihre  Statik  eben  schon 
als  Statik  falsch  war. 

Patten  scheint  mir  mit  seiner  Kritik  der  classischen  Theorie  einen  Uebertrei- 
bungsfehler  variirend  zu  wiederholen,  den  sonst  die  Vertreter  der  historischen  Methode 
zu  begehen  pflegen.  Nach  der  Meinung  der  letzteren  bildet  die  Einführung  der  historischen 
Methode  die  grosse  Peripetie  des  nationalökonomischen  Denkens,  und  Alles,  was  die 
classischen  Nationalökonomen  verfehlt  und  verbrochen  haben,  sollen  sie  deshalb  verfehlt 
und  verbrochen  haben,  Aveil  sie  sich  einer  falschen  Methode  bedient,  und  nicht  „histo- 
risch", sondern  „abstract"  operiert  haben.  Nun,  die  historische  Methode  ist  eine  ebenso 
schöne  und  an  ihrem  Orte  fruchtbare  Sache,  als  die  dynamische  Natinalökonomie ;  allein 
ihr  Besitz  ist  ebenso  wenig  die  einzige  Pforte  zur  Wahrheit  als  ihr  Nichtbesitz  die 
einzige  oder  auch  nur  die  hauptsächliche  Quelle  des  Irrthums  war.  Sondern  man  irrte, 
wenn  und  weil  man  bisweilen  —  wenn  auch  natürlich  in  sehr  verfeinerter  Form  — 
rechnete,  dass  zweimal  zwei  fünf  macht,  oder  wenn  und  weil  man  aus  eirier  unvollkom- 
menen oder  lückenhaften  empirischen  Beobachtung  voreilige  oder  unrichtige  Generalisa- 
tionen  ableitete  :  kurz  man  irrte,  nicht  weil  man  statt  zu  inducieren  deducierte  oder 
umgekehrt,  sondern  weil  man  falsch  deducierte  oder  inducierte.  Wirkliche  Irrthümer 
stammen  nie  daher,  dass  man  irgend  etwas  —  sei  es  eine  zweckmässige  Methode,  sei 
es  die  dynamische  Nationalökonomie  —  nicht  treibt,  sondern  immer  nur  daher,  dass 
man  dasjenige,  was  man  treibt,  falsch  treibt.  Richtige  Anwendung  einer  unzweckmässi- 
gen Methode  kann  schlimmstenfalls  zur  Resultatlosigkeit  einer  Untersuchung  führen, 
aber  für  sich  allein  noch  nie  zu  einem  positiven  Irrthum.  Wenn  man  einem  Problem 
rein  inductiv  zu  Leibe  geht,  das  sich  nicht  ohne  Mithilfe  einer  Dosis  von  Deduction 
lösen  lässlf,  so  wird  man  eben  einen  Haufen  unnützen  Materials  aufstapeln ;  oder  wenn 
man  umgekehrt  einem  Problem,  das  zweckmässig  empirisch  zu  behandeln  wäre,  auf  rein 

33* 


508  Literaturbericlit 

deductivem  Weg  zusetzt,  so  wird  man  entweder  nichts,  oder  allenfalls  etliche  Sätze  heraus- 
bringen, die  mit  so  vielen  Einschränkungen  und  hypothetischen  Annahmen  verclausuliert 
sind,  dass  mit  ihnen  für  die  reale  Erkenntnis  nichts  geholfen  wird.  Aber  wohlgemerkt: 
einen  positiven  Irrthum  auszusprechen,  dazu  gelangt  man  auf  jedem  der  beiden  unzweck- 
mässigen Wege  doch  erst  dann,  wenn  man  noch  einen  specifischen  Fehler  oder  Trug- 
schluss  hinzufügt;  wenn  man  z.  B.  aus  einem  inducti^en  Materiale,  das  noch  keinen 
generalisierenden  Schluss  gestattet,  dennoch  einen  solchen  zieht,  oder  wenn  man  eine 
beschränkte  abstracto  Wahrheit,  die  nur  unter  gewissen  hj^pothetischen  Prämissen  gilt, 
als  allgemein  giltig  enuncieren  würde.  Das  sind  aber  nicht  Fehler  in  der  Wahl  der 
Methode,  sondern  Fehler  in  der  Handhabung  der  gewählten  Methode. 

Alles  das,  glaube  ich  nun,  gilt  mutatis  mutandis  auch  in  der  Frage  der  „statischen" 
oder  „dynamischen"  Behandlungsweise  des  Stoifes.  Ganz  gewiss  wird  eine  rein  „statische" 
Nationalökonomie  immer  in  gewisser  Beziehung  unvollständig  sein  —  gerade  so  wie 
z.  B.  ein  System  der  Mechanik  unvollständig  wäre,  in  dem  das  Capitel  über  Statik 
nicht  durch  ein  Capitel  über  Dynamik  ergänzt  würde  — ;  wenn  dieselbe  aber  positiv 
falsch  gerathen  ist,  so  ist  sie  aus  specifischen,  in  ihr  selbst  gelegenen  Gründen  oder 
Versehen  falsch  gerathen,  und  muss  durch  ebenso  specifische  und  in  ihr  selbst  vorzu- 
nehmende Verbesserungen  saniert  werden.  Die  Einführung  des  dynamischen  Elementes 
aber  kann  eine  solche  Sanierung  aus  sich  nicht  bringen.  Im  Gegentheil  wird  wahrscheinlich 
eine  Dynamik,  die  auf  eine  falsche  Statik  aufgebaut  wird,  selbst  falsch  gerathen.  und 
darum  kann  ich  in  der  Berücksichtigung  des  dynan-ischen  Elementes,  die  ich  im  übrigen 
durcliaus  billige  und  auch  meinerseits  so  warm  als  müglich  befürworten  möchte,  zwar 
eine  höchst  schätzbare  Bereicherung  der  Wissenschaft,  aber  keinen  ihr  System  revolutio- 
nierenden Fortschritt,  und  insbesondere  nicht  den  entscheidenden  Wendepunkt  zwischen 
der  Nationalökonomie  der  Vergangenheit  und  jener  der  Zukunft  erblicken. 

Vollkommen  einverstanden  bin  ich  mit  Patten,  wenn  er  für  die  Theorie  der 
Consumtion  eine  wichtige  Stelle  im  gesammten  System  der  nationalökonomischen 
Theorie  in  Anspruch  nimmt.  Ebenso  hat  er  unzweifelhaft  im  Princip  Piecht,  wenn  er 
das  Gesetz  der  Vermannigfaltigung  der  Bedürfnisse  aufstellt  und  seiner  Wirksamkeit  einen 
Einfluss  zuschreibt,  der  sich  in  der  Richtung  auf  eine  Erhöhung  des  Güterwerts  äussern 
muss.  Aber  das  Maass  dieses  Einflusses  scheint  er  mir  wieder  sehr  zu  überschätzen.  Wenn 
ich  ihn  recht  verstanden  habe,  ist  er  geneigt  als  crfahrungsmässige  Norm  anzunehmen, 
dass  die  Vermehrung  der  Bedürfnisse,  die  sich  als  secundäre  Folge  der  Vermehrung  unseres 
Güterbesitzes  einzustellen  pflegt,  einen  so  starken  Einfluss  in  der  Richtung  auf  die  Er- 
höhung des  Güterwertes  ausübt,  dass  dadurch  der  unmittelbare,  primäre  Einfluss,  den 
die  Vermehrung  der  Gütervorräthe  selbst  nach  bekannten  Gesetzen  jederzeit  in  gerade 
entgegengesetzter  Richtung,  im  Sinne  einer  Verminderung  des  Güterwertes,  äussert, 
noch  überboten  wird  und  als  Resultante  der  sich  durchkreuzenden  Einflüsse  eine  Erhö- 
hung des  (subjectiven)  Güterwertes  zum  Vorschein  kommt.  Diese  Meinung  scheint  mir 
auf  einer  mangelhaften  Beobachtung  der  Thatsachen  zu  beruhen.  Das  thatsächliche 
Stärkeverhältnis  der  beiden  einander  entgegenwirkenden  Factoren  ist  erfahrungsgemäss 
in  aller  Regel  das  entgegengesetzte.  Mit  zunehmendem  Besitze  sinkt  der  Grenznutzen 
und  subjectivö  Wert  der  Gütereinheit,  und  die  der  Erweiterung  des  Güterbesitzes  „dynamisch" 
sich  zugesellende  Vermehrung  der  Bedürfnisse  hat  in  alier  Regel  nur  die  Kraft,  dieses 
Sinken  zu  verlangsamen,  keineswegs  aber  dasselbe  aufzuheben  oder  gar  in  das  Gegentheil 
zu  verkehren.  Letzteres  mag  vielleicht  ausnahmsweise  unter  gewissen  amerikanischen 
Verhältnissen  der  Fall  sein;  z.  B.  bei  Colonisten  in  sehr  fruchtbaren  und  dünn  bevöl- 
kerten Districtcn,  bei  denen  die  anfängliche  Armut  nur  als  eine  Armut  an  Güter  arten 
auftritt,  während  an  den  gemeinen  Lebensbedürfnissen,  Nahrungsmitteln  und  dgl.  voller 
Uebei-fluss  herrscht.  Hier  mag  allerdings  Anfangs  der  Grenznutzen  und  subjective  Wert 
der  Gütereinheit  ein  kleinerer,  und  später,  nach  eingetretener  Häufung  der  Güter- 
arten und  Bedürfnisse  ein  grösserer  sein.  Aber  für  unsere  europäischen  Verhältnisse, 
denen  ohne  Zweifel  auch  die  Verhältnisse  in  den  dichter  bevölkerten  Gegenden  Amerikas 
in  diesem   Stücke  gleichen,  ist  der  Gang  sicher  der  umgekehrte.  Unsere  Armen  leiden 


Literaturbericht.  509 

schon  an  den  gemeinsten  Gütern  Mangel  oder  Knappheit.  Infolge  davon  ist  für  sie  der 
Grenznutzen  und  subjective  Wert  der  Gütereinheit  ein  hoher  (ich  will  hier  einschalten» 
dass  ich  Patten' s  eigenthümlicher  Unterscheidung  von  „absoluter"  und  „positiver  Nütz- 
lichkeit'', die  ihn  zur  Consequenz  leitet,  dass  der  Wert  gerade  der  unabweisbarsten 
Lebensbedürfnisse  ein  niedriger  sei,  nicht  zustimmen  kann),  um  später  bei  zunehmender 
Wohlhabenheit  zu  sinken.  Der  schlagendste  Beweis  dafür  liegt  darin,  dass  wohl  ohne 
Ausnahme  der  Verlust  einer  gleichen  Gütersumme,  z.  B.  von  100  Gulden,  dem  Armen 
eine  ungleich  härtere  Entbehrung  auferlegt  und  auch  subjectiv  von  ihm  ungleich  härter 
empfunden  wird  als  vom  Reichen,  obwohl  der  letztere  mit  seinem  grösseren  Einkommen 
auch  vermehrte  Bedürfnisse  zu  versorgen  hat ! 

Ich  habe  in  den  vorstehenden  Zeilen  Veranlassung  gehabt  hauptsächlich  solche 
Punkte  zu  berühren,  in  denen  meine  Ansichten  von  denen  Patten's  sich  trennen. 
Sie  können  daher  dem  Leser  kaum  eine  richtige  Vorstellung  von  dem  Grade  des 
Vergnügens  und  der  Belehrung  geben,  womit  ich  in  vielen  anderen  Punkten  den  geist- 
vollen Ausführungen  Patten's  gefolgt  bin.  Ich  will  das  Versäumte  mit  zwei  Worten 
nachholen  :  seine  neue  Schrift  ist  von  der  ersten  bis  zur  letzten  Zeile  ein  „echter  Patten  !" 

E.  Böhm-Bawerk, 

Herkuer  Heinrich,  Dr.,  a.  o,  Professor  der  Nationalökonomie  an  der  Universität 
Freiburg  i.  B.  Die  sociale  Keforiii  als  Gebot  des  wirtscliaftliclieii  Fortschrittes. 
112  S.  Leipzig  1891.  Duncker  &  Humblot. 

Das  mit  dem  Motto:  „Protegez  le  pauvre,  si  vous  voulez  que  l'industrie  fleurisse, 
car  le  pauvre  est  le  plus  important  des  consonmiateurs"  in  die  Welt  gesandte  Büchlein, 
die  Grundlage  einer  akademischen  Rede,  hat  sich  zum  Ziel  gesetzt,  die  Bedenken  mit 
zerstreuen  zu  helfen,  welche  weniger  in  der  Wissenschaft  als  in  der  öffentlichen  Meinung 
so  oft  gegen  die  sociale  Reform  vom  wirtschaftlichen  Standpunkte  aus  erhoben  werden. 
Auch  soll  darin  dargethan  werden,  wie  eine  sociale  Reform  im  Sinne  einer  grösseren 
Antheilnahme  der  arbeitendon  Classen  am  Reinertrage  der  nationalen  Production  die 
wirtschaftliche  Entwicklung  nicht  nur  nicht  schädigen  könne,  sondern  vom  Standpunkte 
der  wissenschaftlichen  Nationalökonomie  geradezu  als  ein  Gebot  des  wirtschaftlichen  Fort- 
schrittes zu  gelten  habe. 

Zunächst  betont  der  Verfasser,  der  sich  durch  seine  Schriften  in  der  volkswirt- 
schaftlichen Literatur  schon  vortheilhaft  bekannt  gemacht  hat,  dass  so  mangelhaft  die 
exacte  Erforschung  unserer  socialen  Zustände  auch  sein  möge,  so  könne  die  betrübende 
Thatsache  doch  nicht  mehr  angezweifelt  werden,  dass  die  grosse  Mehrheit  des  Volkes  in 
äusserst  dürftigen  Verhältnissen,  vielfach  sogar  in  dem  Zustande  bitterster  Armut  lebe. 
Diese  Behauptung  wird  durch  Beispiele  aus  statistischen  Untersuchungen  der  Einkoaimens- 
vertheilung,  der  Wohnungszustände  zu  stützen  gesucht.  Um  hier  eines  derselben  heraus- 
zugreifen, so  befanden  sich  in  Berlin  1880  159639  Personen  in  sogenannten  über- 
völkerten Wohnungen.  Eine  solche  Uebervölkerung  beginne  aber  erst  nach  dem  Sprach- 
gebrauch der  Statistiker,  wenn  in  einer  ein  zimmrigen  Wohnung  6  und  mehr,  in  einer 
zweizimmrigen  Wohnung  10  und  mehr  Personen  sich  aufhalten.  In  solch  grauenhaften 
Verhältnissen  lebten  159639  Berliner  oder  14  Procent  der  hauptstädtischen  Bevölkerung 
Solche  Misstände  bestünden  aber  auch  in  anderen  Gross-  und  Fabrikstädten. 

Welchen  Einfluss  aber  die  kümmerlichen  Einkommensverhältnisse  und  solche  ent- 
setzliche Wohnungszustände  auf  die  Sterblichkeit  der  Menschen  ausübten,  sei  in  erschüt- 
ternder Weise  von  G.  F.  Knapp  für  Leipzig  dargethan  worden.  Während  der  Tod  dort 
in  den  wohlhabenden  Schichten  der  Gesellschaft  mit  einem  Tribute  von  26  aus  100 
Kindern  im  ersten  Lebensjahre  sich  begnügte,  forderte  er  von  den  Armen  50.  Die  Sterb- 
lichkeit von  Arm  und  Reich  überhaupt  verhielt  sich  wie  30  :  18. 

Sodann  wird  die  Frage  erörtert,  welchen  Einfluss  die  Lohnsteigerungen  auf  die 
wirtschaftliche  Entwicklung  ausüben.  Lohnsteigerungen  könnten  erfolgen:  erstens  auf 
Kosten  der  Consumenten  der  Ware,  und  zweitens  auf  Kosten  der  Gewinne  der  Unternehmer 

Der  erstere  Fall,  die  Abwälzung  der  um  die  Lohnsteigerung  erhöhten  Productions- 
kosten  auf  die  Consumenten  durch  Erhöhung  der  Warenpreise,    werde  in  Gewerben  die 


510  Literaturbericht. 

Kegel  bilden,  die  ihrer  Natur  nach  ein  locales  oder  nationales  Monopol  besitzen  oder 
ein  bedeutendes  Ueb ergewicht  über  die  Gewerbe  des  Auslandes  behaupten.  Freilich 
würden  die  Consuraenten  der  vertheuerten  Ware  dann  für  andere  Waren  eine  geringere 
Kaufkraft  entfalten  können.  Allein  für  diesen  möglichen  Ausfall  trete  die  durch  den 
höheren  Lohn  gestiegene  Kaufkraft  des  Arbeiters  ein.  Nicht  der  Umfang  der  Production 
werde  sich  also  durch  die  Lohnsteigerung  verändern,  sondern  nur  die  Art  und  Richtung  der 
Production.  An  die  Stelle  der  Production  von  entbehrlichen  Gütern  trete  eine  grössere 
Production  von  unentbehrlichen  Verbrauchsgütern. 

Die  Lohnsteigerung  könne  zweitens  aber  auch  erfolgen  auf  Kosten  des  Unter- 
nehmers. Dem  Unternehmer  könne  die  Abwälzung  auf  die  Consumenten  verschlossen  sein, 
weil  eine  Preiserhöhung  die  wirksame  Nachfrage  zu  sehr  beschränken  würde;  oder  weil 
er  mit  Unternehmern  im  Wettbewerbe  steht,  die  unter  wesentlich  günstigeren  Bedingungen 
producieren  und  deshalb  auch  keine  Preiserhöhung  anzustreben  brauchen,  vielmehr  die 
Gelegenheit  benützen  würden,  um  den  ganzen  Absatz  an  sich  zu  reissen.  Diese  Lohn- 
steigerung auf  Kosten  des  Gewinnes  der  Unternehmer  werde  um  so  leichter  durchzu- 
führen sein,  je  grösser  die  Gewinne  an  sich  sind,  und  je  schwerer  es  sei,  das  in  dem 
betreffenden  Gewerbe  angelegte  Capital  zurückzuziehen.  Lohnsteigerungen  auf  Kosten  dej: 
Gewinne  der  Unternehmer  würden  daher  leichter  im  Grossbetriebe  als  in  der  Haus- 
industrie und  in  mittleren  und  kleineren  Betrieben  erfolgen  können. 

Diese  Annahme  aber,  dass  die  Warenpreise  infolge  von  Lohnsteigerungen  im  Ver- 
hältnis der  Lohnerhöhung  aufschlagen,  treffe  mehr  in  der  Theorie  zu.  Betrachte  man  die 
thatsächliche  Entwicklung  der  Dinge,  so  komme  man  zu  der  Ueberzeugung,  dass  dieselbe 
wenig  Wahrscheinlichkeit  besitze.  Wie  die  Erfahrung  lehre,  würden  die  Lohnsteigerungen 
vielfach  wettgemacht  durch  Verbesserungen  in  der  Technik  des  Gewerbebetriebes.  Somit 
müsse  man  niedrige  Löhne  geradezu  als  fortschrittsfeindlich  bezeichnen.  Wenn  nun  in 
Deutschland  die  rückständigen  Betriebsformen  der  Hausindustrie  und  des  Kleingewerbes 
noch  in  so  grosser  Ausdehnung  sich  vorfänden,  so  sei  diese  Erscheinung  hauptsächlich 
als  eine  Folge  der  niedrigen  Löhne  und  der  niedrigen  Lebenshaltung  der  arbeitenden 
Classen  in  Deutschland  aufzufassen. 

Der  Unternehmer  habe  bei  der  gegenwärtigen  Organisation  des  Wirtschaftslebens  ja 
kein  unmittelbares  Interesse  an  der  Vervollkommung  der  technisch -ökonomischen  Organi- 
sation des  Betriebes.  Er  habe  nur  ein  Interesse  an  der  Höhe  des  Unternehmergewinnes. 

Vom  Standpunkt  des  technisch-ökonomischen  Fortschrittes  müsste  also  eine  Lohn- 
erhöhung nur  als  ein  erfreulicher  Autrieb  zu  technischen  Verbesserungen  warm  begrüsst 
werden,  wenn  auch  nicht  behauptet  werden  solle,  dass  jede  Lohnsteigerung  durch  Ver- 
besserung wettgemacht  werden  könnte.  Im  allgemeinen  würden  hier  die  schönen  Worte 
von  Adara  Smith  zutreffen,  w^elcher  auf  die  Frage,  ob  die  Verbesserung  in  der  äusseren 
Lage  der  niederen  Volksclassen  als  Vortheil  oder  Nachtheil  für  die  Gesellschaft  betrachtet 
werden  müsse,  die  Antwort  gebe:  ,.Diener,  Arbeiter  und  Handwerker  aller  Art  machen 
den  weitaus  grössten  Theil  jeder  bedeutenderen  Staatsgemeinschaft  aus.  Was  aber  die 
Lebensverhältnisse  des  grössten  Theiles  verbessert,  kann 
niemals  als  ein  Nachtheil  für  das  Ganze  betrachtet  werden.  Es 
ist  gewiss,  dass  kein  Staat  blühend  und  glücklich  sein  kann, 
wenn  der  weitaus  grössteTheil  seiner  Bürger  arm  undelend  ist." 

Im  VIII.  Abschnitt  wird  die  Frage  zu  beantworten  gesucht,  inwieweit  die  heutige 
alle  früheren  Zeiten  übertreffende  Productivität  der  Arbeit  auch  das  Los  der  arbeitenden 
Classen  verbessert  habe.  Allerdings  müsse  zugegeben  werden,  dass  eine  Pteihe  von  Waren 
durch  die  technischen  Fortschritte  erheblich  im  Preise  gesunken  und  somit  den  Arbeitern 
selbst  bei  gleichbleibender  Höhe  des  Einkommens  zugänglicher  geworden  sei.  Allein 
gerade  diejenigen  Bedürfnisse,  deren  Befriedigung  den  weitaus  grössten  Theil  des  Ein- 
kommens der  besitzlosen  Schichten  verschlinge,  das  Nahrungs-    und  W  o  h  n  u  n  g  s- 


*)  Adam  Smith,  „Natur  und  Ursachen  des  Volkswohlstandes.^    Uebersetzt    von  L'jweuthal.  Berlin 
1882.  I.  S.  84. 


Literaturbericht.  511 

"bedürfnis,  könnten  heute  kaum  wesentlich  besser  gedeckt  werden,  als  in  früheren 
Zeiten.  Gerade  auf  diesem  Gebiete  sei  die  Produetivität  der  Arbeit  bis  jetzt  in  verhält- 
nismässig geringerem  Maasse  gewachsen  als  auf  industriellem  Gebiete.  Da  aber  die  Aus- 
gaben für  Ernährung  und  Wohnung  bei  gleichbleibendem  oder  wenig  wachsendem  Ein- 
kommen nur  einen  kleinen  Theil  der  Einnahmen  des  Arbeiters  zum  Ankaufe  industrieller 
Erzeugnisse  übrig  Hessen,  so  sei  die  ungeheuere  Zunahme  der  Produetivität  der  industriellen 
Arbeit  den  Arbeitern  auch  nur  in  äusserst  beschränktem  Maasse  zu  statten  gekommen. 
Die  Kaufkraft  der  Arbeiter  für  Erzeugnisse  der  Industrie  habe  mit  dem  Wachsthum  der 
industriellen  Productivkraft  durchaus  nicht  gleichen  Schritt  zu  halten  vermocht.  Am 
höchsten  dürfte  noch  die  Verbesserung  in  Bezug  auf  Kleidung,  Wäsche  und  Schuhwerk 
zu  veranschlagen  sein.  Herkner  unternimmt  es,  seine  Behauptung  durch  ein  ziemlich 
umfangreiches,  concretes  Material  aus  den  zahlreichen  und  eingehenden  Untersuchungen 
die  namentlich  in  den  letzten  Jahren  über  die  Lebensweise  der  arbeitenden  Classen  ange- 
stellt worden  sind,  zu  unterstützen.  » 

So  würden  Beobachtungen,  die  über  die  Lage  der  Berliner  Metall-Arbeiter  vor 
kurzem  aufgezeichnet  wurden,  ergeben,  dass  eine  Familie  mit  drei  Kindern  bei  einer 
Gesammtjahresausgabe  von  1665  Mark  nur  360  Mark  auf  Kleidung,  Beschuhung,  Wäsche, 
Ergänzung  des  Hausrathes  und  Diversa  verwenden  konnte. 

Aus  dem  Minimalhaushaltungsbudget  einer  Leipziger  Buchdruckerfamilie  mit  zwei 
Kindern  erhelle,  dass  bei  einem  Einkommen  von  1362  Mark,  in  welches  jedoch  der  Ver- 
dienst der  Frau  schon  einbezogen  ist,  für  Bekleidung,  Schuhwerk  und  Wäsche  nur 
174,40  Mark  verfügbar  waren.  „Um  das  Schuhwerk  zu  sparen,  laufen  die  Kinder  in  der 
wärmeren  Jahreszeit  barfuss." 

Eine  Arbeiterfamilie  in  Frankfurt  am  Main  mit  4  Kindern  mit  einem  Einkommen 
von  1145,19  Mark  gab  für  Kleidung,  Wäsche,  Haushaitun gsgegenstäude  und  deren 
Eeparatur  sogar  nur  100,78  Mark  aus.  Vom  Familienvorstand  heisse  es:  (Frankfurter 
Arbeiterbudgets.  Schriften  des  Freien  Deutschen  Hochstiftes).  „Er  kauft  sich  wohl 
einmal  eine  Arbeitshose  oder  ein  derart  unentbehrliches  Kleidungsstück,  hat  aber  seit 
15  Jahren  keinen  neuen  vollständigen  Anzug  mehr  sich  angeschafft." 

Um  die  Consumkraft  der  Arbeiterfamilie  einer  F  a  b  r  i  k  s  t  a  d  t*)  in  Bezug  auf 
Kleidung  kennen  zu  lernen,  gibt  der  Verfasser  folgende  Angaben,  welche  den  Budgets 
Mnlhauser  Arbeiter  entnommen  sind. 

>)  Auch  die  treffliche  Schrift  „Die  sociale  Lage  der  Fabrikarbeiter  in  Mannheim 
und  dessen  nächster  Umgebung"  von  Dr.  F.  W  ö  r  i  s  h  o  f  f  e  r,  Oberregierun  gsrath  und  Vorstand 
der  grossh.  badischen  Fabrikinspection,  enthält  hierzu  einiges  ^faterial.  Eine  Familie  —  das  Haupt  ist  iMaschinen- 
former  in  einer  Fabrik  landwirtschaftlicher  Maschinen  —  bestehend  aus  Mann,  Frau  und  drei  Kindern  im 
Alter  von  1  bis   3  Jahren  mit  einem  Einkommen  von  1940  Mark  konnte  nur  ausgeben  für 

Kleider  a)  neue 105  Mk. 

b)  Reparaturen  (besorgt  die  Frau)        —     „ 

Schuhwerk  a)  neu^s i^"     n 

b)  Reperaturen 17     ,, 

Anschaffung  und  Reparatur  von  Wäsche 21     „ 

Anschaffung  und  Erneuerung  von  Haushaltuugsgegenständen 13     „ 

(S.  245).      ■ 
A^on  einer  besseren  Arbeiterfamilie  ebenfalls    mit  drei  Kindern    —    Das  Haupt  ist  Eisendreher  in 
einer  :Maschinenfabrik  —  wird  berichtet,    dass    sie    bei  einem   Einkommen    von    2030  Mk.    nur  verausgaben 
konnte,  für: 

Schuhwerk  a)  neues        50  Mk. 

b)  Reparaturen 28     „ 

Anschaffung  und  Reparatur  von  "Wäsche      ....     - 22     „ 

Kleider  a)  neue 55     „ 

b)  Reparaturen        20     ,, 

Anschaffung  und  Erzeugung  von  Haushaltungsgegenständen 30     „ 

(S.  250/51). 
Dr.  Wo  ris  hoffer  fasst  seine  aus  den  dargelegten  Arbeiterbudgets  geschöpfte  Betrachtung  über  die 
.,thatsächliche  geringe  Kaufkraft  der  Arbeiter  für  Industrieproducte"  dahin  zusammen : 
^Jedenfalls  ist  es  von  grosser  Bedeutung,  dass  der  für  die  nationale  Volkswirtschaft  täglich  wichtiger 
werdende  Stand  der  Arbeiter  nur  in  sehr  bescheidenem  Maasse  zur  Beschäftigung  der 
Industrie    b  e  i  t  r  ü  g  t."  —  (S.  291.)  D.  Ref. 


512 


Literaturbericlit. 


Einkommen 
in  Mark 

Zahl 
der  Kinder 

Ausgaben 

für  Kleidung 

in  Mark 

813 

1 

40 

1103 

1 

'        80 

IUI 

4 

80 

. 

1123 

2 

128 

1310       1 

3 

222 

1462 

2 

160 

1652 

6 

84 

1770 

4 

208 

2472 

6 

360 

2680 

2 

240 

1 
1 

i 

Auch  über  die  Consumkraft  der  Hausindustrielleii,  denen  in  unserem 
Erwerbsleben  eine  grosse  Bedeutung  zukommt,  werden  in  Bezug  auf  industrielle  Erzeug- 
nisse einige  Mittheilungen  gemacht,  von  denen  wir  nur  eine  anführen  wollen: 

Die  vom  königlichen  Amtshauptmann  V  0  n  Schlieben  im  Bezirke  der  Amts - 
hauptmannschaft  Zittau  in  Sachsen  augestellten  Beobachtungen  über  die  Lebenshaltung 
verheirateter  Handweber,  ergaben  folgende  Ergebnisse: 


Gesammte  Jahres- 
ausgabe in  Mk. 

! 

j     Zahl  der  Kinder 

Ausgaben 
für  Kleidung  und 
1    Mobilien  in  Mk. 

305 

0 

26 

341 

2 

47 

385 

4 

14 

424           ' 

3 

21 

464 

4 

10 

506 

3 

43 

520 

3 

18 

546 

2 

32 

651 

4 

39 

779 

4 

56 

Mit  Recht  betont  H  e  r  k  n  e  r,  würden  alle  diese  Mittheilungen  nicht  von  so  unbe- 
dingt zuverlässiger  und  sachkundiger  Seite  herrühren,  man  müsste  in  der  That  Bedenken 
tragen,  sie  für  richtig  zu  halten.  Aus  den  angegebenen  Thatsachen  erhelle  wohl  zur 
Genüge  wie  wenig  unsere  industriellen  und  hausindustriellen  Arbeiter  als  Abnehmer  für 
Industrie  in  Betracht  kommen  könnten,  wie  wenig  die  Vermehrung  unserer  productiven 
Kräfte  ihre  Consumfähigkeit  gesteigert  habe. 

Hiemach  wird  die  Frage  erörtert,  ob  die  obersten  Einkommensclassen  —  die 
kleine  Zahl  der  Reichen  —  einen  vollkommenen  Ersatz  für  die  mangelnde  Kaufkraft  der 
arbeitenden  Classe  zu  bieten  im  Stande  seien. 

Der  Reiche  könne  nicht  unendlich  viel  mehr  consumieren  als  der  Angehörige  einer 
niedrigen  Einkommensciasse,  er  müsse  Luxus  treiben,  wenn  er  sein  ganzes  Einkommen 
der  Consumtion  widmen  will.  Insofern  werde  der  gegenwärtige  Vertheilungsprocess  des 
Einkommens  die  Entwicklung  von  Luxus-  und  Modeindustrieen  fördern.  Das  sei  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  durchaus  kein  Schaden.  Allein  die  von  der  höheren  Con^mkraft 
der  Reichen  entwickelten  Luxusindustrieen  seien  keineswegs  im  Stande,  unsere  ganze 
productive  Kraft  zu  absorbieren.  Dazu  trete  aber  noch  ein  weiterer  Umstand.  Nur  ein 
geringer  Bruchtheil  werde  das  ganze  Einkommen,  das  er  bezieht,  der  Consumtion  widmen 


Literatlirbericht.  513 

wollen.  Dazu  veranlasse  einmal  die  Fürsorge  für  die  Zukunft  und  ferner  die  Abneigung 
gegen  einen  so  grossen  Luxus,  wie  er  entfaltet  werden  raüsste,  falls  das  ganze  Einkommen 
der  Consumtion  zugeführt  werden  sollte.  Nicht  immer  sei  es  die  Eücksicht  auf  einen 
höheren  Consum,  auf  eine  noch  höhere  Lebenshaltung,  welche  die  Eeichen  zum  weiteren 
Reichthumserwerbe  ansporne.  Sie  strebten  nach  demselben  wegen  des  Ansehens,  wegen 
der  grossen  socialen,  wirtschaftlichen  und  politischen  Macht,  die  er  verschaffe.  So  würden 
denn  von  diesen  Schichten  der  Bevölkerung  jährlich  ungeheuere  Beträge  des  Einkommens 
der  Consumtion  entzogen  und  capitalisiert,  d.  h.  zur  Verwandelung  in  Productionsmittel 
bestimmt,  mögen  auch  für  die  bereits  bestehenden  Anlagen  die  Absatzgebiete  fehlen. 
So  führe  also  die  gegenwärtige  Einkommensvertheilung  unausbleiblich  zu  einer  Störung 
des  Gleichgewichtes  zAvischen  Production  und  Consumtion.  Die  Folge  davon  sei  eine 
Hemmung  des  Fortschrittes  in  unserem  Wirtschaftsleben.  Es  werde  ohne  Zweifel  unsere 
technisch-öconomische  Entwicklung  auf  das  empfindlichste  geschädigt,  so  dass  wir  gerade 
wegen  der  ungenügenden  Einkommensvertheilung  bei  weitem  nicht  denjenigen  Zustand 
der  technisch-ökonomischen  Organisation  erreicht  haben,  den  der  Stand  der  technischen 
Wissenschaften  und  unser  Capitalreichthum  an  sich  schon  längst  möglich  gemacht  hätten . 
Das  geringe  Einkommen,  das  unsere  Arbeiterbevölkerung  beziehe,  sei  eine  der  wesent- 
lichsten Ursachen  für  die  gerade  in  Deutschland  noch  so  grosse  Ausdehnung  rückstän- 
diger Betriebsformen.  Hausindustrieen,  Kleingewerbe,  Unternehmungen,  die  mit  einer 
unvollkommenen  maschinellen  Ausrüstung  und  einer  ungenügend  entwickelten  Arbeits- 
theilung  arbeiten,  würden  sich  noch  weit  über  die  Zeit  hinaus  behaupten,  für  welche 
sie  eine  absolute  Berechtigung  besassen. 

Und  zwar  wirke  hier  das  geringe  Einkommen  der  Arbeiter  in  zwiefacher  Weise 
schädlich.  Einerseits  gestatteten  die  niedrigen  Löhne  auch  bei  zurückgebliebener  Technik 
noch  dem  Unternehmer  den  Wettbewerb,  und  andererseits  schrecke  man  vor  Verbesse- 
rungen, welche  die  Productivität  der  Arbeit  erhöhen,  schon  aus  dem  Grunde  zurück,  weil 
dieselben  ja  die  Menge  der  Producte  ungemein  steigern  würden.  Nun  wisse  man  aber 
schon  jetzt  bei  der  unentwickelten  Consumkraft  der  Massen  für  die  geringeren  Quanti- 
täten kaum  Absatz  zu  finden.  So  könne  man  sich  nicht  darüber  hinwegtäuschen,  dass 
unser  Wirtschaftskörper  an  einer  furchtbaren  Kreislaufstörung  leide,  dass  sich  eine  be- 
drohliche Hypertrophie  einzelner  Theile  ausgebildet  habe,  die  wir  vergebens  mit  Ader- 
lässen zu  curieren  trachten.  „Wann  wird",  fragt  Herkner  „endlich  den  Deutschen  ein 
Carlyle  erstehen,  der  ihnen  mit  gewaltigen,  wuchtigen,  alle  Kreise  der  Gesellschaft 
erfassenden  Worten  klar  macht,  dass  die  sociale  Frage  nicht  eine  der  verschiedenen 
Fragen  unserer  Zeit,  sondern  dass  sie  die  Frage  ist,  das  A  und  ii  von  allen,  dass  die 
Lage  der  grossen  Masse  des  Volkes  in  einem  Lande  die  Lage  des  Landes  selbst  ist."  — 
In  der  That  herrsche  eine  erschreckende  Gleichgültigkeit  in  den  gebildeten  und  besser 
situirten  Classen  gegenüber  offenbaren  Missständen  in  der  Lage  der  Arbeiter. 

So  erscheine  denn  die  sociale  Reform  im  Sinne  einer  gleichmässigeren  Vertheilung 
des  Volkseinkommens  nicht  nur  als  Gebot  der  Humanität,  der  Gerechtigkeit,  der  staats- 
erhaltenden Politik,  sie  habe  nicht  zum  wenigsten  auch  zu  gelten  als  Gebot  des  wirt- 
schaftlichen Fortschrittes. 

Der  Verfasser  bezeichnet  nun  auch  die  wichtigsten  Reformen,  welche  auf  die  Verthei- 
lung des  Reinertrags  der  nationalen  Production  einen  Einfluss  auszuüben  vermögen.  Er 
scheidet  dabei  solche,  als  deren  Träger  der  Staat  erscheint  und  solche,  welche  aus  der 
Initiative  der  arbeitenden  Classen  selbst  hervorgehen.  Zu  jenen  rechnet  er  zunächst  die 
Arbeiter  Schutzgesetzgebung.  Diese  komme  hier  nur  insoweit  in  Betracht 
als  sie  die  Handhabe  biete,  den  arbeitenden  Classen  einen  höheren  Antheil  am  Rein- 
gewinn der  nationalen  Production  zu  verschaffen.  Durch  den  Arbeiterschutz  würden 
Kinder  vor  einem  bestimmten  Lebensalter  von  der  Verwendung  zur  Arbeit  ausgeschlossen. 
Die  Arbeit  der  jugendlichen  und  weiblichen  Personen  werde  auf  gewisse  Tagesstunden 
beschränkt. 

Die  A  r  b  e  i  t  e  r  v  e  r  s  i  c  h  e  r  u  n  g,  besonders  die  reichsgesetzliche  dürfe,  vom 
Standpunkt    der  Einkommensvertheilung    aus    nicht    als    gleichgiltig   betrachtet    werden. 


514  Literaturbericht. 

Das  Finanzwesen.  Dieses  biete  wohl  neben  der  Ordnung  des  Erbrechtes 
dem  Staate  die  mächtigsten  Handhaben  dar,  um  die  Vertheilung  des  Volkseinkommens 
zu  beeinflussen.  Hier  werden  stark  progressive  Ertrags-,  Einkommens-,  Vermögens-  und 
Erbschaftssteuern  vorgeschlagen,  deren  Erträge  zur  Entlastung  der  ärmeren  Schichten 
der  Bevölkerung  verwenden  werden  müssten,  wenn  eine  socialpolitische  Wirkung  erzielt 
werden  solle. 

Wenn  der  Verfasser  die  Verstaatlichung  und  C  o  m  m  u  n  a  1  i  s  i  e  r  u  n  g 
gewisser  Betriebe,  wie  das  Verkehrs-Versicherungs-  und  Creditwesen  vorschlägt,  da  die 
Ueberfiihrung  dieser  Zweige  des  Wirtschaftslebens  in  den  öffentlichen  Betrieb  die  M  ö  g- 
lichkeit  biete,  bei  der  Verwaltung,  das  fiscalische  Interesse  zurücksetzend,  lediglich 
volkswirtschaftliche  Gesichtspunkte  zu  berücksichtigen,  so  müssen  wir  dies  entschieden 
bezweifeln. 

Mit  Recht  betont  dagegen  Herkner,  was  uns  vor  allem  noth  thue,  das 
sei  eine  ganz  energische  Bekämpfung  der  immer  bedrohlicher  werdenden  Latifundien- 
bildung. 

Mit  der  Aufhebung  der  PV^eicommisse  sei  die  Frage  freilich  noch 
nicht  gelöst.  Hand  in  Hand  damit  müssten  auch  Bestrebungen  zur  Ausstattung  der 
ländlichen  Arbeiter  mit  Grundbesitz  gehen. 

Dies  seien  im  allgemeinen  nur  die  Mittel,  welche  dem  Staate  zu  Gebote  stehen, 
um  eine  Besserung  der  Einkommensvertheilung  zu  erzielen.  Als  aus  der  Initiative  der 
arbeitenden  Classen  selbst  hervorgehende  Einwirkungen  werden  genannt: 

Die  Organisation  der  Arbeiter  in  Berufs  verbänden  (Gewerk-, 
Fachvereinen).  In  ihnen  biete  sich  den  Arbeitern  die  Gelegenheit  dar,  selbst  an  der 
Erhöhung  ihres  Antheils  am  Reinertrag  der  nationalen  Production  mitzuarbeiten.  Und 
diese  Art  der  Steigerung  ihres  Lohnes  gewähre  auch  die  beste  Garantie  dafür,  dass  der 
Lohn,  dessen  Erhöhung  von  den  Arbeitern  selbst  durch  die  Organisation  oft  unter  ausser- 
ordentlichen Mühen,  Opfern  und  Entbehrungen  errungen  worden  sei,  von  ihnen  in  ange- 
messener Weise  zu  einer  vernünftigen  Steigerung  ihrer  Lebenshaltung  und  nicht  zu 
sinnloser  Vergeudung  benutzt  werde. 

Der  Staat  sollte  alle  Hindernisse,  welche  der  Entwicklung  derartiger  Verbände 
entgegenstehen,  aus  dem  Wege  räumen.  Deutschland  werde  dieser  Forderung  leider 
immer  nicht  in  ausreichendem  Maasse  gerecht,  trotzdem  völlige  gewerbliche  Organisations- 
freiheit gerade  den  besten  Schutz  gegen  das  Aufkommen  social-revolutionärer  Gewalt- 
parteien biete. 

Ausser  den  Berufsverbänden  kämen  für  die  arbeitenden  Classen  noch  die  Consum- 
und  Productiv-Genossenschaften  in  Betracht. 

Dies  sind  nach  dem  Verfasser  die  vornehmsten  Maassnahmen,  welche  uns  auf  dem 
Boden  der  gegenwärtigen  Wirtschaftsordnung  zu  einer  gleichmässigeren  Einkommens- 
vertheilung und  damit  zu  einer  Förderung  des  wirtschaftlichen  Fortschrittes  führen 
würden. 

Nachdem  noch  versucht  wird,  die  gegen  die  sociale  Reform  erhobenen  Einwände 
zu  widerlegen,  schliesst  die  kleine,  aber  recht  bemerkenswerte  Schrift  unter  dem  Hin- 
weise, dass,  wenn  grosser  Wert  darauf  gelegt  werde  eine  wirksame  sociale  Reform  auf  dem 
Boden  der  heutigen  ökonomischen  Verfassung  herbeizuführen,  so  geschehe  dies  nicht  aus 
dem  Grunde,  weil  diese  Ordnung  als  eine  ewige,  in  ihren  vornehmsten  Einrichtungen  durch- 
aus unabänderliche  erscheine. 

Wie  unsere  Wirtschaftsordnung  im  Laufe  der  Zeiten  sich  allmählich  gestaltet  habe, 
so  werde  sie  auch  einst  in  andere  Formen  des  Daseins  übergehen.  Könne  man  auch 
nicht  im  voraus,  sagen,  wie  die  zukünftige  Organisation  beschaffen  sei,  so  viel  stehe  aber 
fest,  die  Zukunft  gehöre  derjenigen  Nation,  welche  die  besten  socialen  Beziehungen 
zwischen  ihren  Bürgern  besitze. 

F  r  a  n  k  f  u  r  t  a.  M.  Dr.  E  u  g  c  n  E  1  k  a  n. 


Literaturbericht.  525 

Adolf  Jäger.  Die  sociale  Frage,  Xeu-Euppin,  Petrenz  1891.  2  Bände  X,  274  u.  295. 

Das  vorliegende  Werk  zerfällt  in  zwei  Bände,  deren  erster  den  Titel  trägt:  Ein 
Schlüssel  zur  Prophetie*  des  Neuen  wie  des  Alten  Testaments,  der  zweite:  Die  3ociale 
Frage  im  Licht  der  Offenbarung,  in  der  Geschichte  der  Völker  und  im  Irrlicht  der  Zeit. 
Der  erste  Band  behandelt  der  Hauptsache  nach  die  Offenbarung  des  heiligen  Johannes 
unter  Deutung  derselben  auf  die  deutsche  und  jüdische  Reichsgeschichte  von  streng 
evangelischem  Standpunkte;  für  den  Nichttheologen  ist  es  schwer,  den  eingehenden, 
und  weit  ausgreifenden  Auseinandersetzungen  und  Analogien,  welche  der  gelehrte 
Autor  bietet,  zu  folgen;  auch  dürfte  es  nicht  Jedermanns  Sache  sein,  den  scharf- 
polemischen Zug  gutzuheissen,  der  speciell  der  katholischen  Kirche  gegenüber  überall  zu 
Tage  tritt;  nichts  desto  weniger  mag  dem  Scharfsinne  und  der  Ausdauer  des  Autors  bei 
seinem  mühsamen,  mit  FeuerCifer  durchgeführten  Deutungswerke  'die  gebürende  Aner- 
kennung gezollt  werden. 

Der  zweite  Band  bietet  fiir  den  Laien  grösseres  Interesse;  er  untersucht  die 
Geschichte  der  wichtigsten  europäischen  Völker  u.  z.  insbesondere  ihre  socialen  und 
Währungs  -Verhältnisse  im  Geiste  des  gelehrten  Theologen  und  vom  Standpunkte 
desselben,  wobei  allerdings  von  vornherein  vielfach  auf  wissenschaftliche  Objectivität 
verzichtet  wird.  Dieser  zweite  Theil  ist  reich  an  historischen  Einzelnheiten  und  zeit't 
von  grosser  Belesenheit  und  bedeutendem  Scharfsinne.  Das  ganze  Werk  dürfte,  wie  zu 
fürchten  ist,  schon  seiner  Anlage  und  seinem  Geiste  nach  bei  einem  vielleicht  grossen 
Theile  des  Publicums  wenig  Verständnis  finden,  wenngleich  gar  viel  des  Beherzigens- 
werten darin  enthalten  ist  und  manche  von  den  vorgetragenen  Ideen  weitere  Verbreituno- 
verdienen  würden.  Schullern. 

Coniglianl  C.  A.  Note  storiche  sulla  questione  giuridica  dei  pagamenti  monetarii 
Modena,  Namias  1891.  (34  S.) 

Der  durch  sein  Buch:  „Teoria  generale  degli  effetti  economici  delle  imposte",  Milano, 
Hoepli  1890,  in  weiten  Kreisen  bekannte  Autor  hat  sich  durch  einige  kleinere  Arbeiten 
auch  auf  dogmengeschichtlichem  Gebiete  als  literaturkundiger  und  scharfsinniger  Forscher 
erwiesen;  eine  derselben  ist  betitelt:  „Le  basi  subjettive  dello  scambio  nella  storia 
letteraria  della  Economia",  Pavia,  Fusi,  1890,  die  zweite  betrifft  das  Problem  des  Geldes 
und  führt  den  Titel:  „Le  dottrine  monetarie  in  Francia  durante  il  medio  evo",  Modena, 
Namias  1890.  Der  letzteren  reiht  sich  nun  dem  Gegenstande  nach  die  in  der  Ueberschrift 
genannte  Abhandlung  an,  welche  dogmengeschichtlich  die  Frage  behandelt,  wie  Zahlungen 
zu  leisten  seien,  welche  in  einer  Münze  vorgenommen  werden  können  oder  müssen, 
die  seit  dem  Zeitpunkte  des  Vertragsabschlusses  Wertveränderungen  erlitten  hat.  Die 
Lehre  vom  gesetzlichen,  die  vom  Innern  und  die  vom  laufenden  Werte  der  Münzen  werden 
in  ihrem  Ursprünge,  und  ihrer  Entwicklung  untersucht,  auf  ihre  historische  Berechtigung 
und  ihre  historischen  Ursachen  geprüft.  Diese  interessanten,  klaren  und  eingehenden 
Darlegungen  führen  den  Autor  zur  Erkenntnis,  dass  die  modernen  Münzverhältnisse 
juristisch  nur  noch  jener  Lehre  Daseinsberechtigung  zugestehen  können,  welche  den 
entgegengesetzten  Interessen  der  Parteien  gegenüber  der  gesetzlichen  Münzbewertung 
im  Momente  der  Zahlung  allein  Berücksichtigung  zugesteht.  Schullern. 

Euiilio  Cossa.  La  diminuzione  delle  ore  di  lavoro  nei  suoi  rapporti  con  la  soluzione 
del  problema  sociale,  Milano,  Vallardi  1892.  35  pag.  Die  italienischen  Gelehrten  haben 
sich  bisher  gegen  die  socialistischen  Bestrebungen  und  gegen  die  Einmengung  des  Staates 
in  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  vielfach  ziemlich  ablehnend  verhalten,  ja  man  hat 
den  Staatssocialismus  manchmal  sogar  als  eine  unwissenschaftliche  Richtung  betrachtet. 
Der  Autor  der  „Forme  naturali  della  economia  sociale"  hat  nun,  abweichend  von  dieser 
herrschenden  Richtung,  den  Versuch  gemacht,  die  von  den  Arbeitern  verlangte  Abkürzung 
der  Arbeitszeit  auf  ihre  Durchführbarkeit  und  ihre  Wirkungen  zu  prüfen  und  über  die 
Zulässigkeit  der  Einflussnahme  des  Staates  auf  die  Befriedigung  dieser  Forderung  Klar- 
heit zu  gewinnen.  —  Der  grösste  Theil  der  Schrift  ist  der  Darstellung  und  Kritik  der 
bezüglichen  Auffassungen  der  Socialisten  und  der  Oekonomisten  gewidmet;  die  Irrthümer 
beider  sind  hervorgehoben  und  schliesslich  die  Meinung  verfochten,  dass  die  Verkürzung 


51(3  Literaturbericht. 

der  Arbeitszeit  auch  im  Interesse  der  Arbeitgeber  liege,  insbesondere  weil  sich  die 
Production  immer  mehr  dem  inländischen  Consume  anpasse  und  weil  infolge  dessen  die 
heute  beschäftigungslosen  Arbeiter  in  Arbeit  gezogen  werden  müssen,  um  sie  zu  Nach- 
fragern auf  dem  Productenmarkte  zu  machen;  dies  aber  könne  nur  dann  geschehen,  wenn 
die  Arbeitszeit  beschränkt  werde  u.  z.  wegen  der  beschränkten  Menge  des  Complementär- 
gutes  Capital.  Auch  ohne  Abschaffung  des  Privateigenthums  müsse  also  die  normale 
Entwickelung  diesem  Ziele  entgegenführen.  Der  Umstand^  dass  die  Beschränkung  der 
Arbeitszeit  nicht  nur  wirtschaftlich  wichtig,  sondern  auch  in  andern,  erhabeneren 
Richtungen  bedeutungsvoll  sei,  rechtfertige  es,  wenn  der  Staat  auf  die  Entwickelung 
der  Dinge  in  dieser  Richtung  Einfluss  nehme.  —  Die  vorliegende  Schrift  ist  höchst 
anregend  und  nur  vielleicht  von  etwas  zu  grossem  Optimismus  durchweht. 

Im  Wesentlichen  dasselbe  Thema,  wie  die  vorliegende  Schrift,  behandelt  Riccardo 
Dalla  Yolta  in  seiner  zuerst  im  „Economista"  und  nun  als  selbstständige  Publication 
erschienenen  Abhandlung:  „La  riduzione  delle  ore  di  lavoro  e  i  suoi  effetti  economici"' 
auf  die  wir  zurückzukommen  gedenken.  Scliullern. 

Carlo  Francesco  Ferraris:  Priiicipii  di  Scienza  bancaria,  Milano,  Ulrico 
Hoepli  1892,  4-45  S.  6.  L.  50. 

Unter  den  ersten  Vertretern  der  in  Italien  mächtig  aufstrebenden  Volkswirtschafts- 
lehre ist  C.  F.  Ferraris  zu  nennen.  Schon  im  Jahre  1879  hat  er  seine  wichtige  Schrift: 
„Moneta  e  corso  forzoso"  und  im  Jahre  1880  seine  „Saggi  di  economia,  statistica  e  scienza 
deir  amministrazione"  veröffentlicht.  Eine  weitere,  besonders  hervorragende  Publication 
ist  das  in  zweiter  Auflage  1890  erschienene  Werk:  „L'assicurazione  obbligatoria  e  la 
responsabilitä  dei  padroni  ed  imprenditori  per  gli  infortuni  sul  lavoro."  Es  ist  hier  nicht 
der  Platz,  die  Vorzüge  dieser  und  anderer  Schriften  unseres  Autors,  deren  genaues  Ver- 
zeichnis das  „Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften"  enthält,  zu  erörtern ;  es  mag 
genügen,  die  obigen  genannt  und  auf  seine  hervorragende  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete  der 
Verwaltungslehre  und  Statistik  verwiesen  zu  haben.  Unermüdlich  im  Forschen  hat  er  nun 
ein  neues  Werk  geschaffen,  das  mit  kurzen  Worten  anzuzeigen,  die  Aufgabe  dieser  Zeilen  ist. 

Wir  haben  ein  Compendium  der  Creditlehre  vor  uns,  in  dessen  Rahmen  auch  die 
Institution  der  Banken  eingehende  Besprechung  findet;  auf  dem  letzteren  Gebiete  ins- 
besondere ist  uns  Ferraris  kein  Fremder,  stammt  doch  auch  der  Artikel:  „Die  Banken 
in  Italien'-*  im  Conrad'schen  „Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften"  aus  seiner  Feder. 
In  Betreff  der  Lehre  vom  Credite  im  allgemeinen  sei  auf  die  Begriffsbestimmungen  ver- 
wiesen, welche  auf  S.  10  zusammenfassend  geboten  sind  und  die  uns  sehr  glücklich 
scheinen;  je  mehr  ein  Terminus  dem  Sprachgebrauche  gemäss  verwendet  wird  und  ver- 
wendet werden  kann,  umso  verständlicher  ist  die  auf  ihn  bezügliche  Lehre,  umso  weniger 
Gefahr,  in  Unklarheiten  und  Widersprüche  zu  gcrathen,  läuft  der  Autor  selbst.  Ferraris 
führt  bei  Besprechung  der  ökonomischen  Wirksamkeit  des  Creditwesens  aus,  dass  es  nicht 
richtig  sei,  wenn  man  behaupte,  der  Credit  erspare  Geld;  die  ungeheuere  Masse  von 
Tauschacten  sauge  dasselbe  in  verschiedener  Weise  bis  zum  letzten  Stückchen  auf;  der 
Credit  aber  trete  dort  und  deswegen  ein,  wo  und  weil  das  Geld,  dessen  Menge  der  ungeheuer 
angewachsenen  Zahl  von  Tauschacten  gegenüber  eine  zu  geringe  sei,  fehle  (S.  35);  hieraus 
leitet  der  Autor  Schlüsse  ab,  die  uns  von  grossem  Interesse  für  die  Lehre  vom  Werte 
des  Geldes  und  vom  Bedarf  an  Geld  scheinen  (S.  37);  das  Creditwesen  verhindert,  dass 
der  Wert  des  Geldes  wegen  Mangels  an  Umlaufsmitteln  steige  und  dass  der  Wert  des 
Geldes  wegen  Aenderungen  in  der  Nachfrage  nach  Umlaufsmitteln  schwanke;  nichts- 
destoweniger muss,  da  die  Bargeldmenge  immer  in  einem  gewissen  Verhältnisse  zur 
Gesammtmasse  der  Tauschacte  und  der  Creditpapiere  stehen  muss,  der  Geldbedarf 
beständig  wachsen,  und  wird  er  jedenfalls  nicht  geringer. 

Dass  diese  Auffassung  von  Bedeutung  ist,  liegt  auf  der  Hand;  die  Klarheit  des 
Denkens  und  des  Gedankenausdruckes,  deren  sich  der  Autor  mit  Meisterschaft  überall 
befleissigt,  hat  hier  einen  namhaften  Erfolg  erzielt.  Die  besondere  Stellung  der  Banknoten 
zu  dem  eben  ansredeuteten  Probleme  erörtert  der  Autor  in  origineller  Weise  auf  S.  40  ff. 


Literaturbericlit.  517 

Bei  der  reichen  Fülle  an  Stoff,  welche  das  vorliegende  Werk  aufweist,  müssen  wir 
uns  darauf  besshränken,  einzelne  Lehren  u.  zw.  diejenigen,  -welche  uns  am  wichtigsten 
und  charakteristischesten  scheinen,  hervorzuheben;  hieher  gehört  aber  besonders  auch 
seine  Auffassung  über  die  Bedeutung  des  Consumtivcredites  (S.  47  f.);  er  fordert  eine 
genaue  und  richtige  Feststellung  dieses  Begriifes,  bevor  ein  Urtheil  über  ihn  abgegeben 
wird.  In  vielen  Fällen  sei  der  Consumtivcredit  von  segensreichster  Wirksamkeit,  so  z.  B. 
insbesondere  der  consumtive  Staatscredit.  Auf  die  Preise  der  Waren  im  allgemeinen  übt 
nach  Ferraris  der  Credit  nur  einen  indirecten  Einfiuss,  indem  er  nämlich  eine  xienderung 
an  den  Verhältnissen  vornehmen  kann,  unter  denen  sich  die  Preise  bilden  (S.  52).  Die 
einzelnen  laufenden  Preise  kann  er  in  dem  Sinne  beeinflussen,  dass  er  ihnen  eine  grössere, 
zeitliche  Dauer  und  eine  weitere  räumliche  Aasgleichung  beschafft.  Die  Wirkungen  des 
Credites  in  Betreff  der  Krisen  bilden  den  Gegenstand  eingehender  Erörterungen,  wir 
müssen  es  uns  aber  der  Kürze  halber  genügen  lassen,  nur  darauf  zu  verweisen  (S.  53  ff.). 
Damit  sind  einige  dürftige  Mittheilungen  aus  dem  I.  Theile  des  Werkes  gemacht;  der  II. 
und  der  III.  Theil  behandeln  die  Creditinstitute,  treten  also  an  jenes  Thema  heran, 
welches  im  Titel  genannt  ist;  der  IL  Theil  betrachtet  das  Problem  im  allgemeinen. 
Capitel  1  des  II.  Theiles  behandelt  der  Hauptsache  nach  Begriff  und  Wesen  der  Credit- 
institute, Capitel  2  deren  Operationen,  Capitel  3  die  Gesetze  und  die  technischen  und 
ökonomischen  Cautelen  in  Betreff  ihrer  Geschäftsgebarung,  Capitel  4  insbesondere  den 
Einfl.uss  des  Staates  auf  dieselben. 

Der  III.  Theil  handelt  von  den  Creditsystemen  und  Credit instituten  im  besondern; 
das  1.  Capitel  handelt  vorzüglich  von  der  Stellung  des  Productivcredites  den  verschiedenen 
Productionsarten  gegenüber  und  dassificirt  dann  die  Systeme  des  Credites  und  der 
Creditinstitute.  Die  Capitel  2. — 5.  behandeln  in  eingehender  und  wohl  mustergiltiger  Weise 
den  Handels- Credit,  Capitel  6.  betrifft  den  Mobiliar- Credit,  die  beiden  letzten  Capitel 
untersuchen  das  so  wichtige  Problem  des  Agrar- Credites.  In  wenigen  Zeilen  lässt  sich 
von  dem  Inhalte  dieser  Capitel  ein  klares  Bild  nicht  geben;  wir  müssen  uns  daher 
darauf  beschränken,  das  vorliegende  Buch,  dem  wohl  um  seines  reichen  Inhaltes,  seiner 
Gedankenfülle  und  der  wirklich  mustergiltigen  Darstellung  wegen  nur  die  allerersten 
Werke  über  das  Creditproblem  an  die  Seite  gestellt  werden  dürfen,  auf  das  w^ärmste  zu 
empfehlen.  Die  reichen  bibliographischen  Angaben  erhöhen  noch  seinen  Wert.  Die 
äussere  Form  des  Buches  ist  eine  besonders  gefällige  und  macht  dem  weitbekannten 
Verlagsgeschäfte  Hoepli  alle  Ehre. 

Mit  einigen  Worten  sei,  bevor  wir  diese  Anzeige  abschliessen,  um,  wie  uns 
scheint,  einer  Pflicht  der  Gerechtigkeit  zu  entsprechen,  auch  noch  eines  andern  Autors 
Erwähnung  gethan,  der  einschlägige  Probleme  gleichfalls  in  sehr  anerkennenswerter 
Weise  behandelt  hat,  ohne  aber  —  wenigstens  im  Auslande  —  dadurch  so  bekannt 
geworden  zu  sein,  wie  er  es  wohl  verdient  hätte.  Es  handelt  sich  um  den  unermüdlichen 
Chefredacteur  des  „L'Economista"  in  Florenz,  Prof.  Dr.  Arthur  Jehan  de  Johaiinis. 
Von  seinen  Schriften  seien  hier  lobend  erwähnt:  „Le  Banche  di  Emissione  ed  il  Credito 
in  Italia'',  Firenze,  Bocca,  1888,  pag.  163,  „II  credito  agrario  ed  i  banchi  di  Napoli  e  di 
Sicilia",  Firenze,  Bocca,  pag.  77,  aus  welcher  besonders  das  3.  und  4.  Capitel  allgemeineres 
Interesse  besitzen,  obgleich  auch  sie  hauptsächlich  italienische  Fragen  behandeln,  und 
die  in  der  „Passegna  nazionale"  vom  1.  Sept.  1890  erschienene  Abhandlung:  „II  riordi- 
namento  degli  Istituti  di  Emissione",  Firenze  1890;  auch  im  „Giornale  degli  Economisti" 
hat  Johannis  kürzlich  (Dicembre  1891)  einen  sehr  anregenden  Aufsatz  über  den  Agrar- 
Credit  in  Italien  veröffentlicht,  der  auch  interessantes  Ziffemmateriale  bietet. 

Schullern. 

Bianchi  Dr.  Giulio :  La  proprietä  fondiaria  e  le  classi  rurali  nel  medio  evo 
€  nella  etä  moderna.  Pisa,  Spoerri  1891,  278  pag.  Preis  4  Lire. 

Das  vorliegende  Büchlein  behandelt  ein  Thema,  dessen  Bedeutung  immer  mehr 
hervortritt  und  anerkannt  wird.  Wie  der  Verfasser  richtig  bemerkt,  fordert  die  Lage 
der  ackerbautreibenden  Classen  speciell  in  Agriculturstaaten  die  grösste  Aufmerksamkeit 


518  Literaturbericht. 

der  Staatsgewalt;  dies  ist  aber  um  so  mehr  der  Fall,  wenn  diese  Lage  eine  so  ungünstige 
ist,  wie  dies  im  Agriculturstaate  Italien  zutrifft. 

Für  die  Lage  der  Arbeiterclasse  sind  nun  die  verschiedensten  Verhältnisse  ent- 
scheidend, der  Kernpunkt  liegt  aber  in  der  Gestaltung  des  Grundeigenthums  und  im 
Verhältnis  zwischen  Landbesitzer  und  Landbebauer.  Der  kleine,  selbstbebauende  Grund- 
besitz bedarf  dringend  S.chutz,  die  Arbeit  soll  mit  dem  Besitze  verbunden,  oder  doch 
verhindert  werden,  dass  die  schon  bestehende  Trennung  eine  immer  allgemeinere  werde. 
Die  italienische  Regierung  hat  in  richtiger  Erkenntnis  dieses  Bedürfnisses  ein  System 
inländischer  Colonisation  vorgeschlagen  und  zwar  auf  dem  Wege  der  Expropriirung 
unbebauter  Grundstücke;  hiemit  wäre  ein  Schritt  gethan;  damit  aber  das  begonnene 
Werk  gedeihe,  muss  der  Zersplitterung  des  neugeschaffenen  Kleinbesitzes  im  Erbgange 
vorgebeugt  und  der  Verkauf  erschwert  werden.  Bianchi  schlägt  deshalb  vor,  der 
expropriirte  Boden  sei  nicht  zum  Eigenthume,  sondern  emphiteutisch  zuzutheilen  u.  z. 
ähnlich  wie  dies  bei  den  Römern  und  im  Mittelalter  geschah.  Aber  auch  damit  sei  noch 
nicht  Alles  gethan,  es  müsse  auch  der  noch  bestehende  Kleinbesitz  gerettet  werden. 
Der  Autor  zieht  in  dieser  Richtung  jn  sehr  dankenswerter  Weise  die  in  den  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerika,  in  Deutschland  und  Oesterreich  eingeführten  Reformen  in 
eingehende  Betrachtung ;  leider  hat  er  den  für  Tirol  bestimmten  Entwurf  der  öster- 
reichischen Regierung  in  Betreff  Einführung  von  Höfebüchern  noch  nicht  gekannt,  sonst 
würde  er  gewiss  auch  diesen  als  einen"  zum  mindesten  der  Idee  nach  höchst  lobens- 
werten und  heilsamen  Act  auf  dem  Reformwege  erkannt  haben. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  alle  Maassnahmen  dieser  Art  eine  gewisse  Reaction 
gegen  das  Mittelalter  zu  in  sich  schliessen;  daran  allein  aber  kann  sich  wohl  nur  das 
Vorurtheil  stossen;  man  muss  das  Gute  nehmen,  wo  es  liegt  und  wo  Hilfe  nothwendig 
ist,  kann  sie  am  besten  mit  jenen  Mitteln  geboten  werden,  welche  eine  vielhundertjährige 
Erfahrung  als  heilsam  erkennen  lässt.  Da  der  Bauernstand  aus  derartigen  Reformen 
voraussichtlich  Kraft  und  Wohlstand  schöpfen  würde,  ohne  dadurch  die  Errungenschaften 
der  neuesten  Zeit,  persönliche  und  politische  Freiheit  einzubüssen,  muss  man  die  als 
wirksam  erkannten,  natürlich  nach  genauer  Erwägung  aller  Umstände  und  unter  An- 
passung an  die  localen  und  culturellen  Verhältnisse  durchführen^  ohne  .  Doctrinarismus 
und  Engherzigkeit. 

Die  vorliegende,  auf  eingehenden  historischen  Betrachtungen  aufgebaute  Schrift 
tritt  kräftig  für  die  allgemeine  Idee  der  Rettung  des  Bauernstandes  ein,  sie  macht 
positive  Vorschläge  (vielfach  anschliessend  an  die  österreichischen  Reformen^  natürlich 
unter  dem  Gesichtswinkel  der  italienischen  Verhältnisse  und  muss  im  ganzen  als  eine 
wertvolle  und  dankenswerte  Gabe  betrachtet  werden,  welche  auch  ausserhalb  Italiens 
Aufmerksamkeit  verdient  und  vielleicht  geeignet  sein  wird,  manches  Vorurtheil  zu 
beseiticjen.  Schullern. 


ZEITSCHRIFTEN-ÜBEESICHT. 


Jahrbücher  für  Natioualokonomie  und  Statistik,  hgg.  v.  y.  Conrad,  L.  Elster,  E.  Loenlng, 
W.  Lexis:  III.  F.  III.  B.  IV.  Heft. 

Conrad:  Agrarstatist.  Untersuchungen.  —  C.  Metic^er:  Die  Valutaregulierung  in  Oesterreich.  — 
Heckel:  Budget  Frankreichs  im  Jahre  1891,  Das  Niveau  der  Warenpreise  in  den  Jahren  1886—1890.  — 
Stesloivicz :  Die  Statistik  des  Tabulargrundbesitzes  in  Galizien.  —  Literatur,  Gesetzgebung,  Recensionen.  — 

V.  Heft:   C.  Menger:  Die  Valutaregulierung  in  Oesterreich.  —  Varges -.  Stadtrecht  und  Marktrecht. 

—  Fiild:  Entwicklung  des  Reichsversicherungsamtes.  —  Zuckerkandl;  Stenogr.  Protokolle  über  die  Sitzungen 
der  nach  Wien  einberuf.  Währungsenquete-Commission.  —  Literatur,  Gesetzgebung,  Recensionen. 

VI.  Heft:  Fir'eman:  Kritik  der  Marx'schen  Werttheorie.  —  Ehrenberc :  Die  Amsterdamer  Actien- 
speculation  im  17.  Jahrhundert.  —  Sachs:  Die  italienische  Valutaregulierung. —  Nationalök.  Gesetzgebung. 

—  Eheberg:  Finanzverhältnisse  europ.  Grosstädte.  —  Besprechungen. 

IV.  Bd.  I,  Heft:  Tobisch:  Der  Check-  u.  Clearingverkehr  des  k.  k.  österr.  Postsparcassenamtes.  — 
Menger  C:  Die  Valutaregulierung  in  Oesterreich-Ungarn  (Schluss.)  —  Nationalök.  Gesetzgebung.  — 
Soinbart:  Ein  Beitrag  zur  Lohnstatistik.  —  Lindsay.  Die  elfte  Volkszählung  der  Vereinigten  Staaten  Nord- 
Amerikas.  —  Besprechungen. 

Vierteljfthresschrift  für  Tolksvrirtschaft,  Politik  und  Cultnrgeschichte,  hgg.  v.  C.  Braun, 
XXIX.  Jgg.  II.  Bd.  I.  Heft. 

Siegel:  Zur  Reform  des  preussischen  Herrenhauses. —  Lehr:  Die  Durchsehnittprofitrate  auf  Grund- 
lage des  Marxischen  Wertgesetzes  II.  —  Correspondenz,  Bücherschau. 

2.  Heft:  Philippson:  Der  Congress  der  engl.  Gewerkvereine  zu  New-Castle  und  die  Socialisten.  — 
Le-Minstein:  Die  wirtschaftl.  Unzufriedenheit  der  arbeitenden  Classen  und  ihre  Berechtigung.  —  Branm 
Zur  ungarischen  Comitats frage.  —  Blau:  Volkswirtschaftl.  Correspondenz  aus  Wien.  —  Bücherschau. 

III.  Bd.  1.  Heft:  IVeiss:  Der  fränkische  Bauer  in  der  „guten,  alten  Zeit."  —  Asnmssen:  Die 
Arbeiterfrage  auf  dem  Lande.  —  C.  Meyer:  Die  schlesische  Leinenindustrie  und  ihr  Nothstand.  —  Volks- 
wirtsch.  Correspondenz.  Bücherschau. 

Irchiv  für  sociale  Gesetzgebung  «nd  Statistik,  hgg.  v.  H.  Braten,  V.  B.  1. 

Schulze- Gaeverfdtz:  Der  wirtschaftl.  Fortschritt,  die  Voraussetzung  der  socialen  Reform.  — 
Philippovlch:  Die   staatl.  unterstützte  Auswanderung  im  Grossherzogthum   Baden.  —  Schüler  x    Studien   zur 

Frage  des  Zündholz-Monopols.  —  Cohen  :  Die  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Münchner  Kellnerinnen 

Cheyney:  Der  Farmerbund  in  den  Vereinigten  Staaten,  Gesetzgebung,  Miscellen.  —  Mlschler:  Die  österr. 
Gewerbeinspection  in  den  Jahren  1889  und  1890.  —  Naef\  Die  Berichte  der  Schweizerischen  Kantons- 
reglerungen  über  die  Ausführung  des  Fabriksgesetzes  für  1889  und  1890.  —  Literatur. 

A'.  Bd.  2.:  Herkner\  Die  Reform  der  deutschen  Arbeiterschutzgesetzgebung.  —  Lux:  Die  Sittlich- 
keitsverbrechen in  Deutschland  in  criminalstatistischer  Beleuchtung.  —  Gesetzgebung.  Miscellen.  Literatur. 

Journal  des  Economistes.  Redacteur  en  chef:  M.  G.  de  Mollnarl.  Librairie  Guillaumin  et  Cie, 
rue  Richelieu,  14.   Paris,  öle   annee. 

Sommaire  du  numero  de  mai  1892;  Esquisse  d'un  cours  de  commerce,  par  M  Courcelle-SeneuU, 
membre  de  Tlnstitut.  —  Le  mouvement  agricole,  par  M.  G.  Fouquet.  —  Revue  critique  des  publications 
en  langue  fran^aise,  par  M.  Rouxel.  —  Souvenirs  de  France,  par  M.  G.  Tricoche.  —  Le  credit  agricole  et 
populaire,  par  M.  Ed.  Cohen.  —  Le  pavillon  commercial  franoais  dans  les  lies  loniennes,  par  M.  Daniel 
Bellet.  —  Les  tarifs  par  zones  deä  chemins  de  fer  de  l'Etat  en  Hongrie,  par  M.  D.  Korda.  —  Le  paupörisme 
anglais  en  1890,  par  M.  Castelot.  —  Le  protectionnisme  medical  en  Italic,  par  M.  V.  Pareto.  —  Societe 
d'economie  politique:  Discussion  sur  le  remplacement  des  concessions  de  bureaux  de  tabac  en  subventions 
ou  pensions  inscrites  au  budget.  —  Comptes   rendus.   —   Chronique,  par  M.   G.  de  Molinari. 

Sommaire  du  numero  de  juin  1892:  Le  budget  de  1893.  —  Esquisse  d'un  cours  de  commerce 
fsuite  et  fin).  —  La  Banque  agricole  de  Turquie.  —  Le  mouvement  scientifique  et  industriel.  —  Revue  de 
TAcademie  des  sciences  morales  et  politiques  (du  15  fevrier  au  1er  juin  1892).  —  Souvenirs  de  Slam.  — 
Une  victoire.  —  Lettre  d'Autriche-Hongrie.  —  Henri  Pigeonneau.  —  Bulletin.  —  Societe  d'economie  politique 
(Reunion  du  4  juin  1892).  —  Discussion:  De  la  productivit^  des  capitaux  nouveaux  et  du  taux  de  Tinteret 
dans  les  vieilles  societes.  —  Comptes  rendus.  —  Notices  bibliographiques.  —  Chronique  economique. 

Sommaire  du  numero  de  juillet  1892:  L'association  libre  contre  le  socialisme  d'Etat.  —  Une 
experience  de  tarifs  differentiels  en  Russie.  —  Revue  des  principales  publications  dconomiques  de  Tetranger. 

—  Les  banques  populaires  en  Italie.  —  Souvenirs  de  France.  Lettres  inedites  d'un  magistrat  etranger.  — 
L'arbitrage  international.  —  Propos  parlementaires.  —  Necrologie.  Courcelle  Seneuil.  —  Bulletin.  —  Societe 
d'economie  politique  (Reunion  du  5  juillet  1892).  —  Comptes  rendus  et  Notices  bibliographiques.  —  Chronique 
economique. 


^20  Zeitschriften-Uebersicht. 

Bcyue  (rEconomie  politique,  hgg.y.P.  Cauiuh,  Ch.  Gide,  E.  Sc/tzvied/and  und  E.  l'illej.  MonStlich 
7  bis  8  Bogen.   Preis  jährlich  21  Francs.  Paris,  VI.  Jahrgang  1802. 

April  1892:  M.  Saiizet:  Essai  historique  sur  la  legislation  industrielle  de  la  France.  —  E.  VlUey. 
Le  socialisme  contemporain.  —  H.  St.  Marc:  jfitude  sur  Tenseignement  de  Teconomie  politique  dans  les 
universit^s  d'Allemagne  et  d'Autriche.  —  yohn  Rae:  L'enquete  de  la  commission  du  travail  en  Angleterre, 

—  Villey:  Chronique  legislative.  —  Bücheranzeigen  von  Gide  und  Mataja. 

Mai  18S2:  ***  La  rc^forme  mon^taire  de  l'Autriche.  —  W.  Sombart:  Essai  critique  sur  la  politique 
commerciale  de  Tltalie   depuis    1861.  —  Maroussem:   L'industrie   du  meuble  et  le  Svveating  System  ä  Paris. 

—  Gide:  Chronique.  —   Villey:    Chronique   legislative.    —   Bücheranzeigen  von  Gide,    Villey,    Schwiedlaud, 
Oczapowskiy  Dr    Anton,   Despuch,  St.  Marc. 

Juni  1892:  E.  Bücher:  Les  formes  d'industrie  dans  leur  developpement  historique.  —  F.  Nitti: 
La  legislation  sociale  en  Italie;  difficultes  que  rencontre  son  Etablissement.  —  Jules  Wolf:  Coup  d'oeil 
sur  l'evolution  des  idöes  sociales.  —  Aciiille  Loria:  La  terre  et  le  Systeme  social.  —  Eugen  Schwiedlaud: 
H.  Figeonneau  (Nekrolog).  —  Villey:  Chronique  legislative.  —  Bücheranzeigen  von  Schwiedlaud,  Crüger 
und  St.  Marc. 

The  economic  Journal,  edited  by  F.   Y.  Edgeworth,  Vol.  II.,  No.  June  1892. 

Giffen:  On  Internat.  Statistical  coraparisons.  —  Menger:  On  the  origin  of  money.  —  Harrison: 
An  attempt  to  estimate  the  circulation  of  the  rupee.  —  Williams:  A  „fixed  value  of  bullion"  Standard.  — 
Hamilton:  Thriff  in  Great  Britain.  —  Graham  Brooks:  A  Weakness  in  the  German  „Imperial  Socialism."  — 
Eeviews,   Notes   and   Memoranda. 

Annais  uf  tlie  American  Academy  of  pol.  and  soc.  science,  ed.  by  James,  Falkner,  Rol>insor,Yo\.  II.  No.  6. 

Dana;  Practical  working  of  the  Australian  System  of  voting  in  Massachussetts.  —  Binney:  Merits 
and  defects  of  the  Pennsylvania  Bailot  Law  of  1891.  —  Cheyney:  A  third  revolution.  —  Johnson:  River 
and  Harbor  Bills.  —  Blackmar:  Indian  Education.  —  Graziani:  Diseussion:  Econ.  Theory  of  Machines, 
Pers.  Notes,  Books,  Notes. 

Vol.  III.  No.  1:  Snow:  Cabinet  Government  in  the  United  States.  —  Oberholtzer:  School  savings 
banks.  —  Clark:  Pattens  Dynamic  Economics.  —  Walras:  Geometrical  theory  of  the  detorimation  of  prices. 

—  Diseussion.  Miscellany.  Personal  Notes,  Books. 

Political  Science  Quarterly,  Columbia  College-,  Vol.  VII.  No.  2,  June  1892. 

Moore:  Asylum  in  legations  and  in  vessels  IL  —  Noble:  The  Imraigra'Jon  question.  —  Brown: 
Tithes  in  England  and  Wales.  —  Rabben:  Loria's  Social  System.  —  Cletnent:  Local  Self-Gove:nment  in 
Japan.  —  Hart:  The  exercise  of  the  suffrage.  —  Reviews,  record  of  pol.  events. 

The  Quarterly  Journal  of  Economics,  Vol.  VI.  4. 

Walker:  Dr.  Boehm-Bawerk's  Theory  of  interest.  —  Brooks:  Old  age  pensions  in  England.  — 
Higgs:  Cantillon's  place  in  Economics.  —  Notes  and  memoranda. 

Quarterly  Publicatlons  of  the  American  Statistical  Association  II.  Vol.  X.  S.  No.  17,  March  1892. 

Pettii^rove:  Statistics  of  crime  in  Massachusetts.  —  Fonmier  de  Flaix:  Development  of  Statistics 
of  Religions.  —  Hawley:  Net  profits  of  Manufacturing  Industries  in  the  State  of  Massachusetts.  —  Hicks: 
Classification  of  trade  Statistics.  —  Fa.kner:  Proposed  Statistical  legislation.  —  Reviews,  notices. 

The  Tale  ßevieir,  Vol.  L,  No.  1,  May  1892. 

Comment:  Villard  and  Farman:  German  tarifi"  policy,  past  and  present.  —  Bmirne:  The  demarcation 
line  of  pope  Alexander  VI.  —  Hadley:  Legal  theories  of  price  regulation.  —  Walker:  Massachusetts  and 
the  saybrook  platform.  —  Woollen:  Labor  troubles  between  1834:  and  1837,  Books. 

Giornale  degli  Economisti.  Direzione:    Viti  de  Marco,  Mazzola,  Pantaleoni,  Zorli.  1892. 

Maggio:  X,  La  situazione  del  mercato  monetario.  —  Pareto:  Considerazioni  sui  prineipü  fonda- 
mentali  dell'  econ.  pol.  pura.  —  L.  Cossa :  L'economia  politica  negli  Statt  Uniti  nell'  America  settentr.  — 
Viti  de  Marco :  II  riordinamento  della  circolazione  fiduziaria.  —  Nota,  Bibliografia,  Cronaca,  Supplement© : 
allmonatlich:  Giornale  delle  camere  di  commer<;io. 

Giugno:  X.:  Situazione  del  mercato  monetario.  —  Pareto:  Considerazioni  sui  prineipü  fond. 
dell'  economia  pol.  pura.  —  BertoUni:  II  sistema  sociologico  ed  economico  di  Giov.  Pinna-Ferrä.  —  Coletti: 
Un  extraprofitto  consequente  all'  introduzione  di  machine  e  la  sua  elisione".  —  Note,  Previdenza,  Bibliografia, 
Cronaca,    Append.    —    Bilanci    delle  banche  popolari,    Supplemente. 

Luglio :  X,  la  situazione  del  mercato  monetario.  —  La  dichiarazione  del  corso  forzoso  per  .sentenza 
del  tribunale.  —  Virgili:  II  problema  della  popolazione  e  il  socialismo.  —  Zdekauer:  SuU'  organizzazione 
pubblica  del  giuoco  in  Italia  nol  medio  ovo.  —  Bibliografia,  Cronaca,  Supplemento:  Saggi  di  Bibliografia: 
L.   Cossa,  A.  BertoUni. 

L'Econom!8ta,   red.  Prof.   Dr.  Art.  J.  de  Johannis,  Firenze  Nr.  935— S'äl. 


ÜBER  DIE 

ANFÄNGE  DES  DEUTSCHEN  STÄDTEWESENS. 


SOCIALGESCHICHTLICHE  BETEACHTÜNGEN 

VON 

KARL  THEODOR  VON  INAMA-STERNEGG. 


1. 

otadt  und  Land  stellen  den  schärfsten  Gegensatz  dar,  welcher  das 
ganze  gesellschaftliche  Leben  eines  Staates  durchzieht.  Haushalt  und 
Geselligkeit,  Eiwerb  und  Verkehr,  Bildung  und  Sitte  nehmen  verschiedene 
Formen  in  der  Stadt,  verschiedene  am  Lande  an,  und  nicht  minder  bedeutsam 
sind  die  AVirkungen,  welche  von  dieser  Verschiedenartigkeit  der  Daseins- 
formen auf  die  Interessen  und  Bestrebungen,  auf  die  politische  und  sociale 
Haltung  dieser  beiden  gi'ossen  Gruppen  der  Bevölkerung  ausgehen. 

Nicht  immer  ist  dieser  Unterschied  gleicli  verstanden  worden.  Die 
Mercantilisten  gaben  mit  dem  Ausdrucke  der  „Stadtwiiischaft"  dem  Gedanken 
Ausdruck,  dass  es  sich  vornehmlich  um  einen  Unterschied  des  Erwerbslebens 
handle  und  bis  in  unsere  Tage  herein  herrscht  die  Vorstellung  vor,  dass 
gerade  die  Verschiedenheit  der  Nahrungszweige  den  Unterschied  von  Stadt 
und  Land  begründe.  Gewerbe  und  Handel  sind  darnach  die  specifischcn 
Erwerbszweige  der  städtischen  Bevölkerung;  von  ihrer  wirtschaftlichen 
Besonderheit  gehen  auch  die  wirtschaftlichen  Eigenthümlichkeiten  aus,  welche 
das  Stadtleben  vom  Landleben  unterscheiden. 

Wie  wenig  diese  einseitige  Berücksichtigung  der  städtischen  Gewerbe 
für  eine  zutreffende  Charakteristik  des  städtischen  Wesens  in  unseren  modernen 
Verhältnissen  ausreicht,  braucht  kaum  besonders  ausgeführt  zu  werden.  Gerade 
die  gewerblichen  Grossbetriebe  haben  ihren  Standort  fast  ebenso  häufig  am 
Lande  wie  in  der  Stadt;  handwerksmässiges  Kleingewerbe  und  Hausindustrie 
findet  sich  nicht  minder  verbreitet  auf  dem  Lande,  und  in  der  Stadt  lebt 
neben  den  Gewebe-  und  Handeltreibenden  eine  zahlreiche  Bevölkerungsciasse 
von  den  verschiedenartigsten  Beschäftigungen,  deren  wirtschaftlicher  Unter- 
grund auf  den  mannigfachen  Bedürfnissen  des  ganzen  öffentliclien  und  privaten 
Lebens  dieser  Bevölkerungscentren  beruht. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung  IV.  Heft.  34 


522 


Inaraa-Sternegc 


Nach  den  Ergebnissen  der  letzten  bereits  bearbeiteten  Volkszählungen 
entfielen  von  der  Gesammtbevölkerung  der  Städte  auf 


liberale  Berufe 


in 

Land- 
wirtschaft 

Gewerbe 

Handel   und 
Tiansport 

anderweitige 
Erwerbszweige 

iiueraif  r>eruie 

und  sonstige 

Bewohner 

Wien       .     . 

6 

450 

213 

84 

247  per 

mille 

Prag        .     . 

.       9 

408 

213 

71 

299 

„ 

Lemberg 

24 

289 

200 

142 

345 

„ 

Graz  .     .     . 

23 

378 

112 

107 

370 

_ 

Brunn      .     .     . 

14 

471 

141 

100 

274 

ff 

Triest      .     .     . 

4 

378 

348 

47 

223 

n 

Krakau    .     .     . 

19 

282 

213 

131 

355 

n 

Berlin      .     . 

8 

543 

246 

38 

165 

y> 

Hamburg 

2 

440 

382 

67 

109 

n 

Breslau    .     . 

.     11 

440 

263 

9:) 

191 

n 

München 

20 

446 

219 

42 

273 

V 

Dresden        .     . 

10 

452 

238 

32 

267 

•n 

Leipzig    .     .     . 

5 

449 

316 

23 

208 

y, 

Köln  .     .     . 

8 

478 

281 

37 

195 

yi 

Frankfurt   a/M. 

35 

370 

349 

40 

206 

n 

Königsberg 

9 

331 

214 

200 

245 

» 

Hannover      . 

21 

455 

265 

19 

239 

rt 

Stuttgart 

47 

458 

228 

15 

250 

j) 

Bremen  .     .     . 

21 

495 

306 

21 

156 

i> 

Ist  die  Statistik  in  dieser  Weise  geeignet,  die  üblichen  Vorstellungen 
von  den  Besonderheiten  des  städtis-chen  Erwerbslebens  zu  ergänzen  und  zu 
berichtigen,  so  hat  sie  durch  ein  näheres  Eingehen  auf  die  Grössen- 
Kategorien  der  Ortschaften  auch  wesentlich  dazu  beigetragen,  neue 
Gesichtspunkte  für  die  Beurtheilung  des  grossen  Unterschiedes  zu  gewinnen, 
welcher  das  ganze  gesellschaftliche  Leben  von  Stadt  und  Land  durchzieht.  In 
dem  Hinweise  auf  den  differenten  Altersaufbau,  auf  die  Verschiedenheit  des 
Verhältnisses  der  Civilstandskategorien,  auf  die  Besonderheiten  der  Gebürtigkeit 
und  Wanderbewegung,  auf  die  Structur  der  Haushaltungen  und  die  Wohn- 
verhältnisse und  so  manche  andere  Momente  des  socialen  Zustandes  hat 
sie  viel  durchgreifendere  Unterschied  zwischen  Stadt  und  Land  aufgezeigt, 
als  solche  in  der  Verschiedenartigkeit  der  Erwerbszweige  allein  begründet 
sein  könnten.  Vielmehr  führen  alle  statistischen  Untersuchungen  dieser  Art 
in  letzter  Linie  darauf,  diese  Unterschiede  in  dem  gesammten  gesellschaft- 
lichen Zustande  und  in  den  wesentlichsten  Bewegungsvorgängen  der  städtischen 
Bevölkerung  gegenüber  der  ländlichen  zu  sehen  und  auf  die  Eigenthümlich- 
keiten  der  Ansiedlungsform  und  der  damit  gegebenen  Anhäufung  der  Bevöl- 
kerung in  den  Städten  zurückzuführen. 

Von  diesem  Standpunkte  aus  ist  es  denn  auch  berechtigt  die  Abgrenzung 
dieser  beiden  Bevölkerungsmassen  und  damit  die  Unterscheidung  von  Stadt 
und  Land  allein  nach  der  Volkszahl  der  in  geschlossenen  Ortschaften  lebenden 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  523 

Bevölkerung  vorzunehmen,  volkreiche  Orte  also  im  allgemeinen  als  städtische 
Ansiedlungen    aufzufassen,    so    sehr  sie   sich   auch  vielleicht  unter  einander 
in  Bezug  auf  die  Vertretung   der  einzelnen  Nahrungszweige  unterscheiden. 
Es    mag    dabei    eine    offene  Frage  bleiben,  ob   für  diese  statistische  Unter- 
scheidung von   Stadt  und  Land  eine  mechanische  Zahlengrenze,    wie    etwa 
2000   oder  5000  Einwohner,   oder,    etwa  unter   Festhaltung  einer  Minimal- 
grenze  der  absoluten  Bevölkerung,   eine  Dichtigkeitsziffer  entsprechend  ist; 
das    steht   fest,   dass   sich  im   allgemeinen   die  Zustände  und  Vorgäno-e  der 
Gesellschaft    gerade    nach    den    Grössenverhältnissen    der    Ortschaften    am 
allerschärfsten  differenzieren  und  dass  daher  der  Begriff  der  Stadt  in  erster 
Linie  auf  einer  quantitativen  Vorstellung  der  Bevölkerung  beruht.  Ja  es  ist 
diese  Vorstellung   im  Bereiche    statistischer  Forschung  schon   so  sehr  vor- 
herrschend  geworden,    dass    darunter  der  verwaltungsrechtliche  Begriff  der 
Stadt,  welcher  auf  einem  Unterschiede  des  Gemeinderechtes  gegenüber  dem 
Kechte  der  Landgemeinde  beruht,  gänzlich  vernachlässigt  wird.  In  der  That 
erweist   sich   auch    dieser,    zumeist   historisch   begründete  Unterschied   von 
Stadt   und  Land   so  wenig  bedeutsam  für  das  gesellschaftliche  Leben,   dass 
weder  die  allgemeinen  Bevölkerungsverhältnisse  noch  die  speciellen  Erwerbs- 
verhältnisse   der    Bevölkerung    einen    specifischen   Einfluss    des    differenten 
Gemeinderechtes    erkennen   lassen;    kleine    Landstädte    haben   in  der  Regel 
viel   mehr   Aehnlichkeit'  mit    dem   gesellschaftlichen    Zustande    des  flachen 
Landes,    als   mit   den   besonderen   Lebensverhältnissen    einer  grossen  Stadt,  ' 
selbst  dann,  wenn  sie  eine  verhältnismässig  starke  Vertretung  des  GcAverbe- 
betriebes  besitzen. 

Diese  flüchtige  statistische  Betrachtung  ist  vielleicht  nicht  ungeeignet, 
einer  Untersuchung  vorangeschickt  zu  werden,  welche  sich  mit  der  Gliederung 
der    Gesellschaft   in    den   Anfängen    des  deutschen  Städtewesens 
beschäftigen  soll.  Die  rechtsgeschichtliche  und  die    wirtschaftsgeschichliche 
Forschung  haben  sich  in  unseren  Tagen  der  ältesten  Periode  deutscher  Städte- 
geschichte  mit   erneutem   Eifer   zugewendet   und   unter  den  vielen  Fragen, 
Avelclie   ihr  zur   Lösung   gestellt   sind,   ist  die   Frage  nach  der  Zusammen- 
setzung der  städtischen  Gesellschaft  vielleicht  die  wichtigste,  jedenfalls  aber 
diejenige,  deren  Beantwortung  bisher  am  wenigsten  befriedigt.  Freilich  sind 
auch    die    Schwierigkeiten,    welche  es  hier  zu  überwinden  gilt,  auf  keinem 
Punkte  so   gross.     Die  Stadtrechte,  diese  Hauptquelle  für  die  Verfassungs- 
geschichte der  Städte,  versagen  hier  nahezu  gänzlich :  andere  Rechtsurkunden 
sind,    wenigstens  für   die    älteste    Zeit,    nur   von    sehr  wenigen  Städten  in 
genügender  Zahl  und  mit  genügendem  Inhalte  vorhanden.    Ueberhaupt  aber 
sind    die  Rechtssatzungen  für  sich  allein  keineswegs  ausreichend,  um  auch 
nur   über   den  factischen    Rechtszustand   und  die  Uebung  des  Rechtes  hin- 
reichend unterrichtet  zu  werden.  Wie  dürftig  war  selbst  die  Rechtsgeschichte, 
so    lange   sie  nur  aus   den  Volksrechten  und  den  Rechtsbtichern   schöpfte! 
Um  so  weniger  können  die  Stadtrechte  und  städtischen  Satzungen  ausreichen, 
wo  es  sich   darum  handelt,  den  factischen  Zustand  des  städtischen  Lebens, 
seine  Kräfte   und   seine  Wirkungen  mit  voller  realistischer  Deutlichkeit  zu 

34^ 


524  Inama-Sternegg. 

erkennen.  Statistische  Quellen  über  die  Bevölkerung  und  die  Gliederung 
der  städtischen  Gesellschaft  fehlen  natürlich  für  jene  Zeit  vollständig.  So 
bleibt  nichts  übrig  als  aus  den  gelegentlichen  Mittheilungen  der  Chronisten, 
aus  den  zwar  zahlreichen  aber  immer  ganz  fragmentarischen  Angaben  der 
Urkunden  und  aus  sonstigen  vereinzelten  Aufzeichnungen  das  Bild  der 
Gesellschaft  zu  ergänzen,  welche  in  den  deutschen  Städten  des  Mittelalters 
wirksam  gewesen  ist  und  jenes  wunderbare  Leben  erzeugt  hat,  dessen 
Erforschung  einen  so  besonderen  Keiz,  dessen  Kenntnis  einen  so  unver- 
gleichlichen Genuss  gewährt. 

Die  nachfolgenden  Ausführungen  über  die  socialen  und  volkswirt- 
schaftlichen Grundlagen  des  deutschen  Städtewesens  verfolgen  eine  doppelte 
Aufgabe.  Sie  sollen  einerseits  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Forschung 
orientieren  und  anderseits  in  selbständiger  Weise  ein  Gesammtbild  des 
städtischen  Lebens  in  seinen  Anfängen  entwerfen.  In  erster  Beziehung  wird 
es  genügen  nur  jener  Forschungsergebnisse  ausdrücklich  zu  gedenken,  welche 
für  die  Beurtheilung  der  städtischen  Gesellschaft  von  wesentlichem  Belange 
sind,  während  Irrthümer  und  Missverständnisse,  sowie  die  für  unsere  Aufgabe 
unwesentlichen  Fragen  mit  Stillschweigen  übergangen  werden  mögen;  denn 
nicht  eine  Kritik  der  neuesten  Literatur  über  das  deutsche  Städtewesen, 
sondern  eine  Darstellung  seines  socialen  Inhaltes  haben  wir  im  Auge.  In 
dieser,  zweiten,  Beziehung  aber  geht  die  Absicht  der  nachfolgenden  Betrach- 
tungen dahin,  die  Ergebnisse  quellenmässiger  Forschung,  ohne  die  Mittheilung 
des  Apparates,  in  einheitlicher  übersichtlicher  Darstellung  vorzuführen,  um 
das  Interesse  für  diese  socialpolitischen  Studien  auch  in  jenen  Kreisen 
anzuregen,  welche  weder  Neigung  noch  Beruf  auf  eine  Mitarbeit  an  wirt- 
schaftsgeschichtlicher Forschung  hinweist,  welche  aber  doch  diesen  Wegen 
der  Wissenschaft  volle  Berechtigung,  ihren  Zielen  hervorragende  Bedeutung 
beimessen  und  auch  den  einzelnen  Etappen  auf  dem  Wege  zu  diesem  Ziele 
ein  lebhaftes  Interesse  entgegenbringen. 

Im  Anhange  ist  ein  kurzes  Verzeichnis  der  neuesten  Schriften  zur 
Entstehungsgeschichte  der  deutschen  Städte  beigegeben.  Auf  die  in  diesen 
Schriften  lebhaft  geführten  Controversen  ist,  soweit  dabei  die  socialen 
Factoren  des  deutschen  Städtewesens  in  Frage  stehen,  besonders  Kücksicht 
genommen,  ohne  dass  es  doch  nothwendig  schien,  der  verschiedenen  hiebei 
aufgetretenen  Ansichten  immer  ausdrücklich  und  unter  Nennung  ihrer  haupt- 
sächlichen Vertreter  zu  gedenken.  Die  reiche  Specialliteratur  über  die  Ent- 
wickelung  einzelner  Städte  in  dieses  Verzeichnis  aufzunehmen  schien  eben 
sowenig  geboten,  wie  die  Erwähnung  der  allgemeinen  rechtsgeschichtlichen 
Werke,  in  denen  auch  die  Fragen  des  deutschen  Städtewesens  behandelt  sind. 

IL 
üeber  die  Volkszahl  der  deutschen  Städte  im  Mittelalter  sind 
wir  erst  in  der  letzten  Zeit  etwas  genauer  unterrichtet  worden,  seit  man  an- 
gefangen hat  einerseits  die  in  den  städtischen  Archiven  vorhandenen  Ein 
wohner-,  Bürger-  und  Steuerlisten  einer  statistischen  Bearbeitung  zu  unterziehen 


Ueber  die  AnfäDg'e  des  deutschen  Städtewesens. 


DI^O 


und  anderseits  die  historische  Topographie  der  Städte  auch  für  dieses  Problem  zu 
verwerten.  Die  ältere  Forschung  war  nur  allzu  geneigt,  sich  übertriebenen 
Vorstellungen  von  den  Grössen  Verhältnissen  der  Städte  hinzugeben,  wozu 
nicht  nur  die  gewiss  grosse  politische  und  wirtschaftliche  Bedeutung  der 
Städte  in  der  zweiten  Hälfte  des  Mittelalters,  sondern  aucli  die  sehr  vagen 
zu  üeberschätzungen  stets  bereiten  Angaben  der  Chronisten  reichlich  Ver- 
anlassung gaben.  Erst  seit  von  einigen  deutschen  Städten  wirklich  ältere 
Volkszählungen,  d.  h.  vollständige  Aufzeiclmungen  über  die  Einwohner 
bekannt  geworden  sind,  ist  auch  für  diese  Vorstellung  ein  einigermaassen 
fester  Boden  gewonnen  worden.  So  konnte  für  Nürnberg  (Hegel)  bereits  in 
seiner  Blütezeit  (1450)  eine  Bevölkerung  A'on  25.982  Einwohnern  constatiert 
werden;  in  Strassburg  (Eheberg)  ergab  um  das  Jahr  1475  eine  Auszählung 
der  Bevölkerung  26.198  Einwohner,  unter  denen  gegen  6000  ohne  ständige 
Wohnung  in  der  Stadt  waren.  Mit  diesen  Ergebnissen  der  historischen 
Bevölkerungsstatistik  lässt  es  sich  dann  auch  in  Uebereinstimmung  bringen, 
wenn  Bücher  für  Frankfurt  a.  M.  im  Jahre  1387  eine  Einwohnerzahl  von 
ca.  10.000  aus  den  städtischen  Eidregistern  berechnet,  Schönberg  für  Basel 
um  das  Jahr  1446  10.200,  Paasche  für  Rostock  im  Jahre  1387  10.785, 
Richter  für  Dresden  im  Jahre  1491  5000  Einwohner  aus  den  Steuerregistern 
ermittelt  haben. ^) 

Diese  Volkszahlen  sind  für  unsere  modernen  Vorstellungen  von  städtischem 
Wesen  zwar  auffallend  klein,  aber  sie  werden  doch  durch  die  noch  vor- 
handenen Bürgerverzeichnisse  und  Steuerlisten  hinlänglich  beglaubigt;  wenn- 
gleich die  unvermeidliche  Anwendung  von  Reductionsfactoren,  für  welche 
liistorische  Gewissheit  nicht  zu  erlangen  ist  (Stärke  der  Haushaltung,  Quote 
der  weiblichen,  der  jugendlichen  Bevölkerung  u.  a.)  die  Endergebnisse  nicht 
vollkommen  gesichert  erscheinen  lässt.  Sie  werden  überdies  noch  weiter 
gestützt  durch  die  genauere  Kenntnis  des  baulichen  Zustandes,  in  welchem 
sich  die  Städte  in  der  Zeit  befanden,  für  welche  ihre  Volkszahl  berechnet 
ist.  Ganz  vorwiegend  handelt  es  sich  bei  den  mittelalterlichen  Städten  noch 
um  jenen  engern  Kern,  der  in  der  Folge  als  Altstadt  oder  innere  Stadt 
gegenüber  einer  in  späterer  Zeit  durch  Erw^eiterung  des  Stadtgebietes  erst 
entstandenen  oder  einbezogenen  Neustadt  und  einer  Reihe  von  Vorstädten 
charakterisiert  wird.  Ja  selbst  diese  innere  Stadt  ist,  wie  das  Beispiel  von 
Wien  lehrt,  erst  allmählich  durch  verschiedene  Erweiterungen  des  ältesten 
Stadtgebietes  zu  seiner  nachmaligen  Ausdehnung  gekommen. 

Wenn  wir  nun  von  den  Ergebnissen  der  Bevölkerungsstatistik  des 
14.  oder  15.  Jahrhunderts  zurückschliessen  wollen  auf  die  Volkszahl  deutscher 
Städte  im  13.  oder  gar  12.  Jahrhunderte,  so  ist  hiebei  doch  grosse  Vorsicht 
anzuempfehlen.  In  der  zweiten  Hälfte  des  Mittelalters  ist  der  Begriff  der 
Stadt  schon  ungleich  bestimmter  als  in  jenen  früheren  Jahrhunderten.  In 
den  Anfängen  des  städtischen  Lebens  wird  noch  manches  Gebiet  und  w^erden 

^)  Im  allgememen  sei  auf  meine  zusammenfassende  Darstellung  im  Handwörter- 
buch der  Staatswissenschaften  II.  Band  verwiesen,  wo  auch  die  ganze  Literatur  über 
die  Bevölkerungsstatistik  des  Mittelalters  zusammengestellt  ist. 


526  Inama-Sternegg. 

manche  Bevölkerungskreise  recbtlicli  nicht  zur  Stadt  gerechnet  werden 
können,  die  doch  wirtschaftlich  und  social  zweifellosen  Bestandtheile  des 
städtischen  Wesens  und  der  Stadtwirtschaft  ausmachen.  Fassen  wir  daher 
die  Stadt  im  statistischen  Sinne  als  volkreiche  Ansiedlung  auf,  so  werden 
wir  ihre  Grösse  nicht  nach  der  Ausdehnung  ihres  Kechtgebietes  und  nicht 
nach  der  Zahl  ihrer  „Bürger"  bemessen  dürfen,  sondern  wir  werden  auch 
die  ausserhalb  der  Stadt,  aber  im  engsten  Zusammenhang  mit  ihr  lebenden 
und  wirkenden  Volkskreise  und  auch  das  Gebiet,  welches  sie  bewohnen,  mit 
als  Elemente  der  städtischen  Gesellschaft  zu  betrachten  haben.  In  späterer 
Zeit  verscliwindet  dieser  Unterschied  immer  mehr;  die  sich  erweiternde 
Stadt  zieht  Vororte,  Frohnhöfe  etc.  in  ihr  Weichbild  ein,  wie  sie  Handwerker, 
Pfahlbürger,  Eitter  und  Knechte  in  ihre  Bürgerschaft  aufgenommen  hat. 
Ja  die  Stadterweiterungen  sind  vielfach  gar  nicht  Erweiterungen  der  Stadt 
im  wirtschaftlichen  oder  socialen  Sinne,  sondern  nur  Ausdehnung  des  Eechts- 
ki-eises  der  Stadt  auf  Elemente,  welche  bislang  nach  anderem  Rechte  in 
der  Stadt  gelebt.  Und  wenn  trotz  alledem  die  Städte  des  12.  und  selbst 
noch  des  13.  Jahrhunderts  im  allgemeinen  gewiss  eine  viel  geringere  Bevöl- 
kerung gehabt  haben  als  in  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts,  bevor 
der  schwarze  Tod  auch  sie  decimierte,  und  auch  eine  viel  geringere  als  in 
der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts,  als  sie  diese  Verluste  wieder  gänzlich  ver- 
wunden hatten,  so  wäre  es  doch  gefehlt,  die  numerischen  Abstände  der 
Bevölkerung  nach  den  numerischen  Abständen  der  „Bürgerschaft"  oder 
nach  den  räumlichen  Unterschieden  des  Stadtrechtsgebietes  zu  messen. 

Obgleich  es  dermalen  unmöglich  ist  und  vielleicht  auch  nie  möglich 
sein  wird,  über  die  Volkszahl  der  deutschen  Städte  in  der  ersten  Zeit  ihrer 
Entwickelung  mit  hinreichender  Genauigkeit  einen  ziffermässigen  Ausdruck 
aufzustellen,  so  bleibt  doch  die  Gewinnung  concreter  Vorstellungen  von 
der  Grösse  der  Städte  ein  nothwendiges  Postulat  der  Forschung.  Nur  wenn 
und  insoweit  dasselbe  erfüllt  ist,  wird  die  Möglichkeit  gegeben  sein,  sich 
ein  Urtheil  über  die  Bolle  zu  bilden,  welche  die  einzelnen  Städte  in  der 
Volkswirtschaft  gespielt  haben;  aber  auch  die  Vorstellung  von  der  Bedeutung, 
welche  den  einzelnen  Bevölkerungsclassen  im  Leben  der  Städte  beigemessen 
werden  kann,  wird  zum  guten  Theile  davon  abhängig  sein,  in  welchen 
Dimensionen  sich  das  gesellschaftliche  Leben  dieser  Städte  überhaupt  bewegt 
hat.  Für  die  Kenntnis  der  städtischen  Kechtsentwickelung  in  den  ältesten 
Zeiten  mag  dieser  Unterschied  der  Grösse  immerhin  in  seiner  Bedeutung  zurück- 
treten; es  hängt  das  vielfach  mit  der  bekannten  Thatsache  zusammen,  dass 
ein  vorhandenes  Stadtrecht,  gleichsam  unbesehen,  neubegründeten  Städten 
verliehen  worden  ist,  um  so  dem  fühlbaren  Mangel  eines  geschriebenen 
Rechts  mit  einem  Schlage  abzuhelfen,  ist  aber  auch  mit  der  ausserordentlichen 
Dürftigkeit  der  älteren  Stadtrechte  zu  erklären,  welche  die  vorhandenen 
Unterschiede  der  wirtschaftlichen  und  socialen  Zustände  keineswegs  in  ihren 
Satzungen  zum  Ausdrucke  gebracht  haben.  Wenn  Avir  z.  B.  sehen,  wie 
überaus  ühnlidi  die  ältesten  Stadtrechte  von  Enns  (1212),  Wien  (1221) 
und  Hainburg  (1244)  sind,  so  mag  allerdings  jedes  von  ihnen  für  die  Beur- 


Ceber  die  Anfänge  des  deutsc"hen  Städtewesens.  527 

tlieiluiig  der  EeclitsA'erhältnisse  jener  Zeit  in  den  österreichischen  Städten 
ziemlich,  gleichwertig  sein.  Eine  Gleichwertigkeit  dieser  Städte  für  das  Wirt- 
schaftsleben wird  daraus  nicht  abgeleitet  werden  können;  aber  auch  die 
sehr  verschiedene  Bedeutung,  welche  diesen  Städten  für  die  Entwickelung 
der  Stadtverfassung  in  Oesterreich  zugekommen  ist,  findet  in  diesen  Stadt- 
rechten keinen  Ausdruck.  Dass  nichtsdestoweniger  schon  in  der  Zeit  dieser 
ältesten  Stadtrechte  solche  Unterschiede  der  Grösse  und  des  Wohlstandes 
vorhanden  waren,  ist  sogar  aus  einzelnen  Bestimmungen  dieser  Stadtrechte 
zu  ersehen,  ohne  dass  sie  auf  den  Charakter  derselben  irgend  einen  Einfluss 
gehabt  hätten.  In  Enns  befreit  ein  städtischer  Grundbesitz  von  30  Tal., 
in  Wien  erst  von  50  Tal.  von  der  Nothwendigkeit  im  Falle  eines  Todtschlages 
einen  Bürgen  zu  stellen;  aber  auch  in  Hainburg  sind  50  Tal.  verlangt. 
Dagegen  sind  für  Wien  100,  für  Hainburg  nur  20  Gewährsmänner  aus  der 
Bürgerschaft,  welche  bei  verschiedenen  Kechtsgeschäften  intervenieren  sollen, 
vorgeschrieben,  und  die  Zahl  der  Marktgeschworenen  ist  in  Enns  auf  6,  in 
Wien  auf  24,  in  Hainburg  auf  4  festgestzt,  womit  vielleicht  schon  einiger- 
maassen  der  Unterschied  der  Bevölkerung  oder  doch  der  Bedeutung  des 
Marktes  zum  Ausdruck  kommt,' ohne  dass  doch  die  Normen  über  den  Markt- 
verkehr in  diesen  Städten  verschieden  wären. 

Wollen  wir  nun  aber  zu  einigermaassen  bestimmten  Vorstellungen  von 
der  Grösse  und  der  volkswirtschaftlichen  Bedeutung  jener  Städte  kommen, 
deren  Anfänge  wir  aus  den  noch  vorhandenen  Quellen  ihrer  Geschichte  ver- 
folgen können,  so  müssen  wir  vor  allem  zu  einer  schärferen  Formulierung 
des  Stadtbegriffes  gelangen;  die  Schriften  zur  Geschichte  des  deutschen 
Städtewesens,  auch  die  neuesten,  leiden  hier  noch  immer  an  einer  bedenk- 
lichen Unsicherheit. 

Die  engste  Fassung,  welche  besonders  in  der  jüngsten  Zeit  von  Rechts- 
historikern (Sohm)  mit  grossem  Nachdrucke  vertreten  worden  ist,  erfährt 
der  Begriff  der  Stadt  im  Rechtsinne  dadurch,  dass  man  Stadtrecht  und 
Marktrecht  identificiert,  das  älteste  Gebiet  der  Stadt  also  auf  das  mit 
besonderem  Eechte  ausgestattete  Marktgebiet  einschränkt.  Es  ist  dieser 
Auffassung  sofort  zuzugeben,  dass  bei  Städtegründungen  in  der  Regel  sofort 
ein  bestimmtes  Gebiet  als  Marktgebiet  abgegrenzt  und  mit  dem  besonderen 
Rechte  beliehen  wurde,  welches  als  Marktrecht  aus  der  Urkunde  entgegentritt. 
Bei  den  alten  Römerstädten  und  anderen  Städten,  welche  einer  bestimmten 
Gründung  im  Sinne  des  deutschen  Stadtrechts  entbehren,  hat  sich  durch 
bloss  thatsächliche  Uebung  ein  Marktgebiet  herausgebildet,  das  zunächst 
allein  der  Träger  jener  besonderen  Rechte  war,  welche  dem  Markte  ver- 
liehen oder  zugestanden  wurden.  Bei  diesen  Städten  haben  wir  uns,  wenigstens 
für  die  frühere  Zeit,  den  Marktplatz  regelmässig  klein  zu  denken.  Der 
Markt  lag  in  der  Regel  neben  der  schon  bestehenden  Ansiedlung  und  um- 
fasste  zunächst  nur  das  Gebiet,  welches  thatsächich  der  Entfaltung  von 
Handel  und  Wandel  diente,  etwa  mit  Einschluss  der  Ansiedelung  der  Kauf- 
leute, welche  auf  und  an  diesem  Marktplatze  entstanden  war.  So  lag  in 
Köln,  Strassburg,  Regensburg  und  Augsburg,  vermuthlich  auch  in  Konstanz, 


528  Inama-Sternegg. 

der  Markt  ausserhalb  der  alten  Kömerstadt.  Schon  gegen  Ende  des  10.  Jahr- 
hunderts aber  bildet  die  Verschanzung  dieses  Marktgebietes  mit  dem  Gebiete 
der  älteren  Ansiedelung  (Altstadt,  Eömerstadt)  und  sogar  die  Erweiterung 
derselben  auf  umliegendes  Gebiet  die  Regel.  Doch  wurden  z.  B.  in  Köln 
noch  im  Jahre  1154  die  Bewohner  von  St.  Pantaleon  nicht  zur  Stadt  in 
diesem  Eechtssinne  gerechnet,  obwohl  dieser  Ort  gewiss  schon  städtischen 
Charakter  hatte,  und  das  Stadtgebiet  von  Worms  hat  erst  1220  eine  merk- 
liche Erweiterung  erfahren. 

Aber  auch  bei  eigentlichen  Städtegründungen  kommen  sehr  enge 
Marktgebietsgrenzen  vor;  für  die  Stadt  Radolfszell  wurde  1100  nur  ein 
kleines  Stück  innerhalb  der  Feldmark  von  Radolfszell  als  Markt  aus- 
gesondert und  mit  Marktrecht  bewidmet. 

Dieser  Begriff  der  Stadt  ist  also  für  die  Wirtschaftsgeschichte  nicht 
brauchbar.  Er  ist  im  allgemeinen  viel  zu  enge  gefasst,  um  die  Bedeutung 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  welche  den  Städten  als  wirtschaftlichen  und 
socialen  Centren  auch  schon  in  der  ersten  Periode  ihrer  Geschichte  zukommt. 
Ja  in  dieser  Begrenzung  wäre  in  der  Regel  eine  Stadt  im  volkswirtschaft- 
lichen Sinne  überhaupt  gar  nicht  möglich  gewesen.  Wie  wir  uns  eine  Stadt 
nicht  vorstellen  können,  die  nur  von  Kaufleuten  bewohnt  wäre,  so  ist  es 
auch  ausgeschlossen,  dass  im  Mittelalter  eine  solche  Stadtgründucg  versucht 
worden  wäre.  Das  locale  Kaufmannsgeschäft  konnte  doch  zunächst  ohne 
einen  entsprechenden  Consumentenkreis,  welcher  natürlich  ausserhalb  der, 
Kaufmannschaft  bestehen  musste,  nicht  gedeihen;  der  tägliche  Markt,  der 
im  Gegensatze  zu  dem  vorübergehenden  Jahrmarkt,  geradezu  der  Stadt 
charakteristisch  sein  soll  (Sohm),  ist  nur  unter  dieser  Voraussetzung  eine 
mögliche  wirtschaftliche  Einrichtung.  Innerhalb  des  Marktgebietes  aber 
konnten  diese  Consumentenkreise  nicht  wohnen;  denn  das  war  das  Gebiet 
der  Kaufleute  (vicus  mercatorum  z.  B.  in  Regensburg).  Wollen  wir  daher 
die  Stadt  als  einen  Markt  im  volkswirtschaftlichen  Sinne  auffassen,  womit 
doch  ihr  wahres  Wesen  zum  Ausdrucke  gelangt,  so  dürfen  wir  den  Begriff 
der  Stadt  nicht  auf  ihr  eigentliches  Marktgebiet  (im  rechtichen  Sinne) 
begrenzen. 

Aber  nicht  nur  die  eigentlichen  Consumentenkreise  kommen  hier  in 
Betracht,  sondern  auch  die  Kreise  der  Producenten,  deren  Producte  der 
Handel  zum  weiteren  Vertriebe  an  sich  zog.  Die  Erzeugnisse  der  Land- 
wirtschaft allerdings,  soweit  dieselben  als  Marktware  zur  Stadt  kamen, 
wurden  theils  von  den  Kaufleuten  selbst  auf  dem  Lande  aufgekauft,  theils 
von  den  Landieuten  auf  dem  Wochenmarkte  feilgeboten:  grosse  Grundherrn 
hielten  überdies  in  den  Städten  ihre  eigene  Fruchtspeicher  und  verkauften 
von  hier  aus  im  directen  Geschäfte  an  die  Kaufleute  oder  auch  an  die 
Consumenten.  Landwirtschaftliche  Producenten  mögen  also  immerhin  nicht 
als  nothwendige  Elemente  der  städtischen  Gesellschaft  gelten,  obwohl  sie 
thatsächlich  in  derselben  nicht  fehlen. 

Aber  die  Summe  der  Gewerbserzeugnisse,  welche  der  Handel  vertrieb, 
und  welche  er  zum  Theile  sebst  bedurfte,  konnte  doch  von  Anfang  an  nicht 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  529 

Wühl  ausschliesslich  oder  auch  nur  überwiegend  eingeführt  werden,  sondern 
setzt  eine  rege  Handwerksthätigkeit  in  der  Stadt  voraus.  Nun  ist  ja  im 
Jahrmarkt  wie  im  Woclienmarkt  auch  Gewerbsproduct  gewiss  immer  um- 
gesetzt worden  ;  auch  begreifen  die  mittelalterlichen  Ausdrücke  für  Kaufmann 
und  Handel  oft  (nicht  unter  allen  Umständen)  auch  den  Gewerbsmann,  der 
seine  eigene  Ware  feilbietet.  Aber  dennoch  ist  die  Classe  der  Handwerker 
in  der  Kegel  nicht  in  dem  Begriff  der  Stadt  eingeschlossen,  wenn  man 
diesen  auf  das  eigentliche  Marktgebiet  beschränkt.  Denn  das  Handwerk  hat, 
besonders  in  den  Anfängen  des  deutschen  Städtewesens,  seinen  regelmässigen 
Standort  ausserhalb  dieses  Gebietes,  in  den  Vorstädten,  im  Gebiete  von 
Frohnhöfen  oder  selbst  in  benachbarten  Vororten.  Mit  der  Einschränkung 
des  Stadtbegriffes  auf  das  Marktgebiet  würde  also  eines  der  am  meisten 
charakteristischen  Merkmale  der  städtischen  Wirtschaft  in  vielen  Fällen 
ausser  Betracht  bleiben. 

Uebrigens  fehlt  sogar  der  bestimmt  abgegrenzte  Marktbezirk  in  manchen 
Städten,  die  erst  später  Marktrechte  erhielten  (Meersburg  nach  Gothein), 
so  dass  der  Begriff  der  Stadt  überhaupt  nicht  ausnahmslos  nach  der  Aus- 
dehnung des  Marktbezirkes  bestimmt  werden  kann. 

Anders  freilich  ist  diese  Auffassung  zu  beurtheilen,  wenn  als  Stadt 
nicht  einfach  das  bestimmt  abgegrenzte  Marktgebiet,  sondern  auch  noch  ein 
weiteres  umliegendes  Gebiet  (z.  B.  die  alte  Römeransiedlung,  die  Burg,  der 
Frohnliof  u.  dgl.)  verstanden,  als  Stadt  demnach  eine  Ansiedelung  mit 
einem  Marktgebiete  bezeichnet  wird  (Sohm).  Für  diese  erweiterte  Vor- 
stellung insbesondere  hat  sich  der  Ausdruck  Weichbild  eingebürgert,  der. 
von  einem  Marktzeichen  abgeleitet,  eben  das  unter  Marktrecht  stehende 
Gebiet  andeutet.  (Schröder).  Diese  Vorstellung  kommt  jedenfalls  dem  volks- 
wirtschaftlichen und  socialen  Begriff  der  Stadt  schon  wesentlich  näher  als 
jene  aus  ältesten  Rechtszuständen  einzelner  Städte  abgeleitete  allzu  enge 
Begrenzung  des  Stadtbegriffes.  Aber  dennoch  entspricht  sie  nich  der  that- 
sächlichen  Verhältnissen,  und  ist  auch  inhaltlich  noch  viel  zu  unbestimmt, 
denn  auch  das  Weichbild  ist  keineswegs  immer  identisch  mit  der  ganzen 
geschlossenen  Ansiedelung,  welche  im  volksAvirtschaftlichen  und  socialen 
Sinne  eine  Einheit  darstellt,  und  im  einzelnen  besteht  auch  keinerlei  üeber- 
einstimmung  in  Bezug  auf  die  Einbeziehung  oder  Ausschliessung  der  Vor- 
städte, sowie  der  Frohnhöfe,  Burgen,  Klöster  u.  dgl.,  an  welche  sich  die 
Stadt  (das  Weichbild)  im  Laufe  der  Zeit  angeschlossen  hat. 

Eine  andere  Vorstellung  der  Grösse  der  Städte  wird  dadurch  erzeugt, 
dass  das  ummauerte  Gebiet  als  die  eigentliche  Stadt  angesehen  wird. 
Diese  Vorstellung  trifft  für  eine  Reihe  von  Städten  gewiss  zu;  insbesondere 
im  Colonisationsgebiete  des  östlichen  Deutschlands  sind  die  kleinen  be- 
festigten Orte,  welche  schon  seit  König  Heinrich  I.  Zeiten  dort  entstanden 
waren,  Burgen  oder  Burgstädte  in  diesem  Sinne;  aber  auch  in  Alt- 
Deutschland  ist  die  Anzahl  solcher  Burgstädte  eine  keineswegs  unbedeutende, 
wie  u.  a.  die  Beispiele  aus  dem  Schwarzwaldgebiete  (Fürstenberg,  Gei- 
singen, y/aldshut)  zeigen.   Aber  doch  eben   auch  nur  für  solche  Burgstädte 


530  Inama- Stern  egg. 

deckt  sich  das  ummauerte  Gebiet  mit  dem  socialen  Begriffe  der  Stadt. 
In  allen  anderen  Fällen  aber  ist  die  Stadtmauer  zwar  als  ein  sehr  wichtiges 
Attribut  der  Stadt  anzusehen;  die  Bedeutung  der  Stadt  beruht  jedoch 
keineswegs  auf  ihren  Mauern,  nicht  einmal  ihre  politische,  noch  viel  weniger 
ihre  wirtschaftliche  Bedeutung.  Sind  auch  die  Fälle  sehr  selten,  in  welchen 
die  städtischen  Festungsanlagen  ausgedehnter  sind  als  das  eigentliche  Stadt- 
gebiet (so  in  Eadolfszell  nach  Sohm).  so  stellt  umgekehrt  das  ummauerte 
Gebiet  oft  nur  einen  Theil  des  Gebietes  dar,  welches  der  Träger  städtischen 
Wesens  und  städtischer  Wirtschaft  gewesen  ist.  Schon  bei  so  wichtigen 
Festungsstädten  wie  Altbreisach  ist  das  der  Fall  (Gothein);  der  besonders 
ummauerte  Breisacher  Berg,  der  Sitz  der  Kaufmannschaft,  und  der  gleich- 
falls eigens  befestigte  Eckartsberg,  der  Sitz  der  Ministerialen,  bilden 
zusammen  das  alte  Breisach,  das  nicht  nur  als  Festung,  sondern  auch  als 
Wirtschaftscentrum  schon  frühzeitig  grosse  Bedeutung  für  die  ganze 
Gegend,  ja  theilweise  für  das  ganze  Reich,  hatte.  Aber  auch  in  all  den 
zahlreichen  Fallen,  in  welchen  die  königliche  Pfalz,  der  Bischofshof  oder 
Frohnhof,  von  welchem  aus  die  Gründung  der  Stadt,  vorwiegend  sogar  auf 
ihrem  eigenen  Gebiete  erfolgte,  ausserhalb  der  Stadtmauern  lag  (Worms, 
Freiburg,  Göttingen,  Corvej^-Höxter),  werden  wir  annehmen  müssen,  dass 
die  wirtschaftlichen  und  socialen  Beziehungen  zwischen  beiden  so  innig 
waren,  dass  sie  alle  zusammen  eine  Stadt  gebildet  haben. 

In  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird  immerhin  durch  die  Begrenzung  des 
Stadtbegriffs  auf  das  ummauerte  Gebiet  die  Avirkliche  Grösse  der  Stadt  im 
wirtschaftlichen  Sinne  eher  als  bei  ausschliessender  Berücksichtigung  des 
eigentlichen  Marktgebietes  getroffen.  Denn  gerade  die  kaufkräftigen  Kreise 
der  consumierenden  Bevölkerung,  die  ganze  Hofhaltung  des  Stadtherrn,  die 
Ministerialen  und  ihr  Gefolge,  aber  auch  die  freien  und  unfreien  Handwerker, 
soweit  sie  ausserhalb  des  Marktes  angesiedelt  sind,  werden  doch  in  der 
zumeist  innerhalb  der  Stadtmauern  zu  suchen  sein,  oder  sie  sind 
wenigstens  alsbald  bei  der  Errichtung  der  Stadtmauern  in  dieselben  ein- 
bezogen worden. 

Aber  vollständig  zutreffend  ist  diese  Vorstellung  doch  keineswegs, 
auch  wenn  wir  von  den  erwähnten  Divergenzen  absehen.  Schon  der  im 
Mittelalter  weit  verbreitete  Begriff  der  Pfahlbürger,  d.  h.  der  ausserhalb 
der  Mauern  angesiedelten  aber  den  Bürgern  gleichgestellten  Bevölkerung 
weist  darauf  hin,  dass  das  wirtschaftliche  Bedürfnis  zu  einer  Regelung  der 
Rechtsverhältnisse  der  Bevölkerung  gedrängt  hat,  welche  an  den  Mauern 
der  Stadt  nicht  halt  machen  konnte.  Umso  weniger  reicht  dieses  Moment 
für  die  Darstellung  des  Wirtschaftscharakters  der  Stadt  immer  aus,  da  ja 
auch  landwirtschaftliche  Betriebe  und  sonstige  Beschäftigung  ausserhalb  der 
Mauern  aber  doch  im  ausschliesslichen  Dienste  der  städtischen  Interessen 
stehen  konnten  und  thatsächlich  auch  gestanden  sind.  Dagegen  nöthigt  der 
Umstand,  dass  innerhalb  der  Stadtmauern,  z.  B.  in  Worms,  auch  land- 
wirtschaftlich benützte  Grundstücke  liegen  (Köhne)  keineswegs  dazu,  eine 
factische  Divergenz  von  Stadtgebiet  und  ummauertem  Gebiete  anzunehmen; 


üeber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  531 

denn  auch  solche  Grundstücke  stehen  doch  zweifellos  im  ausschliesslichen 
Dienst  des  städtischen  Wirtschaftslebens.  Dass  es  freilich  auch  Städte  gibt, 
welche  bei  ihrer  Gründung  überhaupt  nicht  ummauert  wurden  und  auch 
noch  lange  Zeit  der  Mauern  entbehrten  —  das  führt  nur  noch  weiter 
darauf,  dass  in  den  Stadtmauern  weder  ein  wesentliches  Erfordernis  der 
Stadt  im  Eechtssinne,  noch  unter  allen  Umständen  die  Grenze  des 
städtischen  Wesens  im  Sinne  der  Volkswirtschaft  erblickt  werden  darf. 
Besonders  charakteristisch  hiefür  sind  die  Verhältnisse  der  von  der  eigens 
ummauerten  Abtei  Corvey  im  10.  Jahrhundert  auf  dem  Boden  der  ihr 
gehörigen  alten  königlichen  Villa  Höxter  angelegten  Stadt.  Hier  wohnten 
die  zugezogenen  Handwerker  und  die  Ministerialen  von  Corvey,  hier  wurde 
auch  der  Markt  abgehalten.  Dieses  Gebiet  wurde  dann  erst  unter  König 
Konrad  HI.  mit  Einschluss  des  Königshofes  mit  einer  eigenen  Mauer 
umgeben,  während  der  Landbezirk  der  Villa  mit  mehreren  Nebenhöfen  nicht 
in  die  Stadt  einbezogen  wurden  (Hegel).  Den  Burgbann  hatte  jedoch  der 
Abt  von  Corvey  gleicherweise  über  die  Leute  in  Corvey  wie  in  Höxter,  und 
zweifellos  standen  auch  beide  in  dem  innigsten  Wechselverkehre  mit  einander, 
so  dass  es  sich  leicht  begreift,  dass  die  Stadt  selbst  in  den  alten  Quellen 
bald  den  Namen  Corvey,  bald  den  Namen  Höxter  führt. 

Auch  die  Vorstellung,  als  sei  das  Stadtgebiet  identisch  mit  dem 
Frohnhofsgebiete  des  Stadtherrn,  trifft  nur  in  wenigen  Fällen  that- 
sächlich  zu.  Wohl  sind  die  Städtegründungen  zumeist  von  grossen  Grund- 
herrn ausgegangen,  und  in  der  Kegel  ist  die  Stadt  unmittelbar  bei  einem 
Frohnhofe,  gewöhnlich  dem  Hauptsitze  der  grundherrlichen  Verwaltung,  auf 
grundherrlichem  Gebiete  angelegt.  Zuweilen  mag  sich  auch  das  Gebiet 
dieser  neugegriindeteu  Städte  mit  dem  arrondierten  Gebiete  eines  solchen 
Frobnhofes  decken.  Aber  weder  besteht  dafür  eine  innere  Nothwendigkeit, 
noch  ist  es  in  der  Kegel  thatsächlich  der  Fall  gewesen.  Kechtlich  ist  die 
Stadt  vielmehr  in  der  Kegel  ausserhalb  des  Frohnhofes,  wenn  auch  auf 
grundherrlichem  Gebiete,  entstanden;  volkswirtschaftlich  schliesst  das  Stadt- 
gebiet zwar  in  der  Kegel  diesen  Frohnhof  ein,  aber  ebensowohl  auch  häufig 
einen  oder  mehrere  andere  Frohnhofe,  wie  ja  deren  mehrere  sehr  wohl 
neben  einander  innerhalb  einer  und  derselben  grösseren  Ansiedelung  bestehen 
konnten.  Das  Frohnhofsgebiet  des  Stadtherrn  erstreckte  sich  aber  ebenso 
häufig  auch  über  die  Grenzen  der  städtischen  Ansiedelung  hinaus,  wenn 
auch  keineswegs  als  geschlossenes  Gebiet,  sondern  in  zerstreut  liegenden 
Stücken,  wie  es  eben  der  vielfach  zersplitterte  grundherrliche  Besitz  mit 
sich  brachte;  alle  diese  zerstreuten  Güter  gehörten  rechtlich  wie  wirt- 
schaftlich zum  Frohnhofe,  sofern  sie  nicht  einem  andern  Verwaltungs- 
Centrum  zugewiesen  waren. 

Trifft  also  diese  Vorstellung  von  der  Identität  des  Stadtgebietes  mit 
dem  Frohnhofsgebiete  schon  nicht  zu  für  Städte,  welche  von  den  Grund- 
herren auf  ihrem  eigenen  Gebiete  angelegt  wurden,  so  kann  davon  noch 
weniger  die  Kede  sein  in  den  althergebrachten  volkreichen  Wohnplätzen, 
die   in    der  Folge    zu  Städten   im  Sinne    des  mittelalterlichen  Verfassungs- 


532  Inama- Sternegg. 

rechtes  geworden  sind:  denn  hier  war  schon  längst,  vielleicht  überhaupt, 
keine  Rede  davon,  dass  das  ganze  Gebiet  dieser  Wohnplätze  ein  Frohnhofs- 
gebiet  bilde.  Hier  konnten  sich  vielmehr  Grundstücke  der  verschiedensten 
rechtlichen  Lage  nebeneinander  finden,  neben  einem  oder  mehreren  Frohn- 
höfen  zu  Lehen  oder  zu  Zins  ausgethane  Güter,  die  selbst  wieder  ver- 
schiedener Grundherrlichkeit  unterworfen  sein  konnten,  neben  ganz  freiem 
landrechtlichen  Grund-  und  Hausbesitz.  Die  Erwerbung  der  Grafschafts- 
rechte für  die  grossen  Grundherren,  besonders  für  die  Bischöfe  (ottonische 
Privilegien),  machte  zwar  den  Herrn  des  einen,  in  der  Regel  wichtigsten, 
Frohnhofes  in  der  Stadt  zum  Herrn  der  Stadt  selbst,  insoferne  er  die  Fülle 
der  obrigkeitlichen  Gewalt  über  ihr  Gebiet  nun  in  seiner  Hand  vereinigte, 
aber  sie  machte  damit  noch  nicht  das  Stadtgebiet  zu  einem  einheitlichen 
Frohnhofsgebiete,  ebensowenig  wie  die  städtische  Bevölkerung  dadurch  zu 
einer  hof hörigen  Bevölkerung  geworden  ist. 

Endlich  wird  unter  Hinweis  darauf,  dass  die  Stadtgemeinde  aus  der 
Landgemeinde  hervorgegangen  sei,  das  Stadtgebiet  als  das  Gebiet  einer 
Dorfmarkgenossenschaft  erklärt  (v.  Maurer,  v.  Below).  Diese  Auffassung 
kann  zunächst  selbstverständlich  in  allen  jenen  Fällen  überhaupt  nicht 
zutreffen,  in  welchen  die  Städte  vollkommene  Neugründungen  von  Ort- 
schaften sind.  Hier  tritt  von  Anfang  an  die  städtische  Ortschaft  in  be- 
stimmten Gegensatz  zu  der  Landgemeinde,  innerhalb  deren  Gemarkung  sie 
gegründet  ist,  ohne  dass  dadurch  die  Landgemeinde  wirtschaftlich  oder 
social  zur  Stadt  gezogen  werden  könnte.  Die  neugegründete  Stadt  mag  mit 
der  alten  Landgemeinde  eine  gemeinsame  Allmende  haben,  die  Städter 
mögen  innerhalb  der  Dorfgemarkung  Güter  und  Höfe  besitzen.  —  das 
Stadtgebiet  wird  trotzdem  viel  kleiner  sein  als  die  Gemarkung  der  Land- 
gemeinde, auf  deren  Gebiet  sie  gegründet  ist.  Ganz  ähnlich  verhalten  sich 
die  Dinge  da,  wo  das  Dorf,  als  der  gesellschaftliche  Mittelpunkt  der  Ge- 
markung der  Landgemeinde,  selbst  zur  Stadt  wird.  Die  Stadt  mag  hier 
immerhin  in  einzelnen  Fällen  das  ganze  Gemeindegebiet  ausfüllen,  aber 
nothwendig  ist  dies  keineswegs.  Nicht  nach  der  Grösse  des  Gemeinde- 
gebietes, sondern  nach  der  Grösse  der  Ortschaft  richtet  sich  ihre  wirt- 
schaftliche und  ihre  sociale  Bedeutung.  Insbesondere  ist  es  hiefür  und  für 
die  Entwickelung  der  Stadt  ganz  unwesentlich,  ob  sie  im  Besitze  einer  mehr 
oder  weniger  grossen  Allmende  sich  befand.  Konstanz  und  Freiburg  haben 
in  ihrer  älteren  Zeit  nahezu  keine  solche  besessen  (Gothein);  anderseits 
finden  sich  ebensowohl  Beispiele  von  grossen  wie  von  kleinen  Städten  mit 
einem  stattlichen  Allmendebesitz,  ohne  dass  dieser  einen  sichtlichen  Ein- 
fiuss  auf  das  Gedeihen  und  die  Grösse  der  Stadt  ausgeübt  hätte.  Auch  in 
unserer  Zeit  steht  die  Grösse  des  Gemeindegebietes  der  Städte  keineswegs 
in  einem  inneren,  nothwendigen  Zusammenhange  mit  der  Grösse  ihrer 
Bevölkerungszahl.  Wir  müssten  sonst  eine  Anzahl  winziger  Städte  als 
Grosstädte  charakterisieren.  Dasselbe  gilt  aber  auch  für  die  wirtschafts- 
geschichtliche Betrachtung  der  mittelalterlichen  Städte,  welche  in  Bezug 
auf  ihren  Allmendebesitz    sowie    auf  den  Grundbesitz    der   städtischen  Be- 


Ueber  die  Anfäno:e  des  deutschen  Städtewesens.  533 

völkerung  die  allergrössten  Unterschiede  aufweisen,  ohne  dass  diese  zugleich 
Unterschiede  der  wirtschaftlichen  und  socialen  Bedeutung  der  Städte  be- 
deuten würden. 

Ueberdies  sind  aber  auch  die  Fälle  gar  nicht  selten,  in  welchen  eine 
Stadt  aus  mehreren  Landgemeinden  hervorgegangen  oder  im  Laufe  der  Zeit 
gebildet  worden  ist.  Hier  müsste  nach  derselben  Auffassung  das  Stadtgebiet 
gleich  sein  der  Summe  aller  Landgemeindegebiete,  wie  sie  selbst  eine 
Vereinigung  mehrerer,  Aerschiedenen  Landgemeinden  angehöriger  Ortschaften 
darstellt.  Und  endlich  sind  auch  noch  die  Fälle  zu  berücksichtigren.  in 
Avelchen  ein  zur  Stadt  gewordenes  Dorf  einen  Antheil  einer  grösseren  Markt- 
genossenschaft bildet;  mit  dem  gleichen  Rechte,  mit  welchem  die  Dorf- 
allmende  als  Theil  des  Stadtgebietes  angesprochen  wird,  müsste  denn 
wolü  auch  noch  eine  weitere  Ausdehnung  dieser  Vorstellung  eintreten, 
damit  aber  wird  sie  vollkommen  als  unmöglich  gekennzeichnet. 

Wie  Avenig  geeignet  für  wirtschaftsgeschichtliche  Betrachtung  die 
Beschränkung  auf  das  eigentliche  Rechtsgebiet  der  Stadt  ist,  wird  schliess- 
lich besonders  deutlich  an  den  nicht  eben  seltenen  Fällen,  in  welchen  zwei 
oder  mehrere  ganz  selbständig  organisierte  Städte  doch  im  engsten  räum- 
lichen und  Avirtschaftlichen  Zusammenhange  stehen  und  daher  von  Anfang 
an  nur  als  eine  Stadt  im  volkswirtschaftlichen  Sinne  aufzufassen  sind. 
Beispiele  solcher  Doppelstädte  sind  Breisach,  Salzwedel,  Halle  a.  d.  S.; 
das  bekannteste  und  bemerkenswerteste  vielleicht  ist  Braunschweig,  das  aus 
fünf  ganz  abgesondert  organisierten  Stadtgemeinden  mit  besonderem  Stadt- 
gebiete einer  jeden  bestand  und  lange  Zeit  hindurch  nur  durch  das  herzog- 
liche Gericht  oder  die  Vogtei.  welche  gleichmässig  über  ihnen  stand,  zu 
einem  Ganzen  vereinigt  Avar  (Hegel). 

Keine  von  den  üblichen  Vorstellungen,  Avelche  den  Begriff"  der  Stadt 
aus  der  Begrenzung  ihres  Gebietes  klar  machen  sollen,  scheint  demnacli 
auszureichen,  um  das  zu  veranschaulichen,  Avas  die  deutschen  Städte  auch 
schon  in  der  ersten  Zeit  ihres  bedeutsamen  Hervortretens  in  der  Volkswirt- 
schaft waren. 

Marktgebiet  und  ummauertes  Gebiet,  Frohnhofs-  und  Gemeindegebiet 
bezeichnen  die  territoriale  Basis  von  Rechtskörpern,  aber  nicht  als  solche 
auch  der  Wirtschaftsgemeinschaft,  wie  sie  in  der  Stadt  in  eigenthümlicher 
Weise  entstanden  ist.  Viel  weniger  die  jeweilige  Abgrenzung  dieser  beson- 
deren Rechtssphären  ist  für  die  Bedeutung  der  Städte  massgebend  geAvesen, 
als  vielmelir  die  Menge  der  Menschen,  Avelche,  auf  engem  Gebiete  zusammen- 
gedrängt, sich  Avechselseitig  förderten  und  alle  zugleich,  als  Producenten 
oder  Consumenten  auf  die  specifisch  städtischen  Wirtschaftseinrichtungen, 
auf  den  Wochenmarkt  und  den  Jahrmarkt,  auf  die  ständigen  Warenlager 
der  Kaufleute  und  auf  die  regelmässig  functionierenden  W^erkstätten  der 
Handwerker,  auf  Gewerbeordnung  und  Marktpolizei,  auf  den  Geld-  und 
Credit  verkehr  angeAA'iesen  waren.  Darin  Avar  auch  von  Anfang  an  das  Ziel 
der  Städtegründung,  Avie  der  Ausbildung  der  städtischen  Ordnung  gesehen: 
nicht  um  Schöpfungen  der  Selbstverwaltung,  niclit  um  eine  Neuordnung  des 


534  Inama-Sternegg. 

Gerichtswesens,  nicht  um  die  Freiheit  der  Stadtbürger  oder  sonstige 
socialpolitische  Massregeln  war  es  den  Städtegründern  in  erster  Linie  zu 
thun,  sondern  um  die  Schaffung  eines  geregelten  Absatzes  für  landwirt- 
schaftliche und  gewerMiche  Producte,  um  die  sichere  Versorgung  des 
Bedarfes  an  solchen  Gütern  und  um  die  Sicherheit  für  Menschen  und 
Güter,  die  in  diesen  Verkehr  einbezogen  werden  sollten.  Zum  Vortheile 
des  Klosters  Corvey  Hess  schon  Ludwig  der  Fromme  im  Jahre  833  eine 
Münzstätte  daselbst  errichten,  weil  -jene  Gegend  noch  keinen  Marktort  hatte" 
und  hundert  Jahre  später  verlieh  König  Otto  L  dem  Abte  den  Burgbann 
„über  alle  Leute,  welche  in  dem  Kloster  und  der  bei  demselben  errichteten 
Stadt  Zuflucht  und  Arbeit  suchen."  Die  Organisation  des  Verkehrs  also, 
eines  Marktes,  an  welchem  Angebot  und  Nachfrage  sich  regelmässig  treffen, 
war  der  nächste  Zweck  der  Städtegrilndung  bei  der  Pfalz,  bei  dem  Frohnhof 
oder  Kloster;  einsichtige  Städtegründer  haben  wohl  alsbald  eingesehen,  dass 
dieser  Zweck  durch  Gewährung  einer  gewissen  Selbstverwaltung  wesentlich 
gefördert  werden  könne:  aber  dass  die  Städte  dann  zu  wirklichen  Burgen 
der  bürgerlichen  und  politischen  Freiheit  wurden,  das  war  nicht  das  plan- 
mässig  verfolgte  Ziel  ihrer  Gründer,  sondern  das  Werk  einer  in  Arbeit 
gestählten  und  in  Selbstzucht  gereiften  Bürgerschaft. 

IlT. 

Nicht  minder  gi'oss,  als  wie  bezüglich  der  Umgrenzung  des  Stadt- 
gebietes, ist  die  Unsicherheit  der  gangbaren  Vorstellungen  über  die  Stadt- 
bevölkerung und  ihre  Zusammensetzung.  Die  Beantwortung  dieser 
Frage  ist  aber  nicht  minder  wichtig,  um  ein  richtiges  Urtheil  über  die 
Grösse  der  mittelalterlichen  Städte  zu  gewinnen ;  zum  Theil  allerdings  liegt 
sie  schon  in  der  Abgrenzung  des  Stadtgebietes.  Es  gilt  aber  doch,  die 
Bevölkerungsclassen  noch  genauer  zu  bestimmen,  welche  innerhalb  dieses 
Gebietes  zusammenwohnten  und  schon  durch  diesen  räumlichen  Zusammen- 
hang wirtschaftlich  und  social  auf  einander  einwirkten  und  auf  einander 
angewiesen  waren. 

Die  ganz  überwiegende  Mehrzahl  der  Städte,  von  deren  Gründung 
wir  Kunde  haben,  ist  im  engsten  Anschlüsse  an  einen  Herrensitz  begründet, 
in  dessen  Interesse  die  Stadtgründung  zunächst  gelegen  war.  Auch  die  alten 
Pfalzstädte  und  Bischofsstädte,  deren  allmähliche  Entstehung  unserer  Kunde 
entzogen  ist,  lassen  einen  gleichen  Vorgang  wenigstens  vermuthen,  nur 
dass  bald  mehr,  bald  weniger  von  einer  schöpferischen  oder  organisierenden 
Thätigkeit  des  Stadtherrn  die  Rede  ist.  Es  wird  daher  im  allgemeinen  ange- 
nommen werden  dürfen,  dass  die  Pfalzen  und  Frohnhöfe  mit  ihrer 
ganzen  In  wohn  er  schaff  von  Anfang  an  ein  Bevölkerungselement  der 
Städte  gebildet  haben  und  zwar  neben  einer  etwa  vorhandenen  Bevölkerung 
der  zu  Städten  erhobenen  Dörfer  das  älteste,  das  schon  vor  der  Begründung 
der  Stadt  vorhanden  war.  Dass  die  Bischofssitze,  Abteien  und  Frohnhöfe 
vielfach  nicht  in  den  Stadtrechtskreis  einbezogen  sind,  hat  für  die  Frage 
nach   der  Grösse   der  Stadt  und  ihrer  Gesammtbevölkerung  zunächst  keine 


lieber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  585 

Bedeutung;  ein  lebhaftes  Interesse  an  der  Begründung  und  Entfaltung 
städtischen  Verkehrs  hat  in  diesen  Kreisen  jedenfalls  bestanden  und  in  der 
neugegründeten  oder  geordneten  Stadt  sollte  es  befriedigt  werden.  Und 
ebenso  war  doch  die  wirtschaftliche  Entwickelung  der  Stadt  ganz  wesentlich 
mit  auf  diese  wirtschaftlichen  und  socialen  Beziehungen  zu  der  Bevölkerung 
der  Pfalz,  des  Bischofs-  oder  Frohnhofs  begründet,  ohne  sie  vielfach 
wenigstens  gar  nicht  zu  denken.  Gribt  es  doch  auch  heute  noch  Städte,  für 
welche  eine  Hofhaltung,  eine  zahlreiche  Garnison  oder  Biireaukratie  wesent- 
liche Elemente  ihrer  Blüte  sind:  um  wie  viel  mehr  müssen  diese  Factoren 
in  den  Anfängen  des  Städtewesens  von  Bedeutung  gewesen  sein,  wo  noch 
überdies  eine  Menge  wirtschaftlich  bedeutender  Anforderungen  und  Leistungen 
von  den  Herrensitzen  ausgegangen  sind. 

Denn  ein  reichbewegtes  Leben  hatte  sich  in  den  Lieblingspfalzen  der 
Könige  wie  an  den  bedeutenderen  Biscliofssitzen  schon  längst  entwickelt, 
bevor  die  specifischen  Formen  des  städtischen  Lebens  gefunden  waren,  und 
eine  zahlreiche  Bevölkerung,  bedürfnisreich  und  kaufkräftig,  war  durch  die 
Vortheile  des  Lebens  an  diesen  Sitzen  der  politischen  und  der  wirtschaft- 
lichen Macht  angezogen  worden.  Die  Schilderungen,  welche  Hinkmar  im 
9.  Jahrhundert  von  dem  Leben  in  der  Pfalz  zu  Aachen  entwirft,  passen  in 
der  Hauptsaclie  gewiss  auch  noch  auf  die  Ottonenzeit;  ausser  einem  reichen 
persönlichen  Gefolge  des  Königs,  der  Königin  und  der  übrigen  Glieder  der 
königlichen  Familie  ist  gewiss  eine  stattliche  Schar  von  Dienern  aller  Art, 
zu  persönlichen  Dienstleistungen  wie  zu  Verrichtungen  in  Haus  und  Hof, 
in  Stall  und  Vorrathshäusern,  zu  Jagd  und  Reisen  vorhanden  gewesen; 
dann  der  ganze  Bearatenorganismus  der  königlichen  Centralverwaltung.  die 
bewaffnete  Garde,  die  Geistlichen  am  Hofe,  Lehrer,  Aerzte,  Kaufleute 
und  ständige  Boten:  dazu  Grosse  des^  Reiches,  welche  sich  freiwillig  am 
Hofe  aufhielten,  Vasallen  und  Schmarozer  des  Hofes,  mit  ihren  Familien; 
alle  überdies  mehr  oder  weniger  selbst  wieder  umgeben  von  Gefolge  und 
Dienerschaft:  und  auch  sonst  hat  sich  manches  Volk  zweifelhafter  Herkunft 
und  oft  dunkler  Beschäftigung  in  diesen  Brennpunkten  des  Lebens  einge- 
funden. Von  der  Grösse  der  königlichen  Hofhaltung  erhalten  wir  eine  Vor- 
stellung, wenn  der  Annalist  Saxo  zum  Jahre  965  berichtet,  dass  an  der  könig- 
lichen Tafel  täglich  1000  Schweine  und  Schafe,  10  Fuder  Wein,  10  Fuder 
Bier,  1000  Malter  Getreide,  8  Ochsen  gebraucht  wurden,  nicht  gerechnet  die 
Hühner  und  Ferkel,  Fische.  Eier,  Gemüse  und  vieles  andere.  Allerdings  haben 
die  deutschen  Könige  nicht  mehr  so  sehr  wie  die  Karolinger  an  bestimmten 
Pfalzen  regelmässig  Hof  gehalten;  gerade  ein  Ort  wie  Aachen,  dessen  Pfalz 
schon  im  9.  Jahrhundert  das  Gepräge  städtischen  Lebens  an  sich  trägt,  mochte 
dadurch  an  seiner  vollen  Entwickelung  zu  einer  grossen  Stadt  gehindert 
worden  sein.  Aber  auch  andere  berühmte  Pfalzen  (Ingellieim,  Tribur)  haben  es 
zu  keiner  städtischen  Entwickelung  gebracht,  während  benachbarte  Bischofs- 
sitze wie  Mainz  und  Worms  emporblühten.  Doch  haben  auch  die  deutschen 
Könige  eine  Reihe  von  Pfalzen  vor  anderen  bevorzugt  und  ihnen  damit 
wesentliche  Bedingungen  eines  regen  Lebens  verschafft.  (Dortmund,  Goslar). 


536  Inama-Sternegg. 

Mehr  als  die  Pfalzen  aber  kommen  in  der  Periode  der  deutschen 
Kaiserzeit  die  reichen  Bischofssitze  auch  als  Verkehrscentren  und  kräftige 
Anziehungspunkte  der  Bevölkerung  zur  Geltung.  Alle  die  Bevölkerungs 
elemente,  welche  das  Leben  auf  der  Pfalz  charakterisieren,  finden  sich  auch 
hier  und  die  Hofhaltung  manchen  Bischofes  wird  der  königlichen  nicht  viel 
nachgegeben  haben.  Vom  Erzbischof  von  Köln  erfahren  wir  aus  dem 
12.  Jahrhundert,  dass  er  an  täglichem  Dienste  bezogen  habe:  über  60  Malter 
Getreide,  32  Schweine,  V2  Kuh,  25  Stück  Geflügel,  230  Eier,  24  Käse. 
6  Eimer  Bier,  5  Malter  Brod,  1  Malter  Salz  und  vieles  andere,  nicht 
gerechnet,  was  aus  seinem  eigenen  Vorrath  für  die  Mahlzeiten  zur  Ver- 
fügung stand.  An  den  Bischofssitzen  ist  aber  ausser  der  Hofhaltung  des 
Bischofes  selbst  regelmässig  noch  ein  eigenes  Domcapitel,  meistens  auch 
noch  das  eine  oder  andere  CoUegialstift  und  Kloster  vorhanden,  wieder  mit 
allerhand  abhängiger  .Bevölkerung:  auch  die  kriegerische  Dienstmannschaft 
fehlte  nicht,  welche  um  den  Bischofssitz  angesiedelt  war.  Dass  auch  diese 
Kreise  zur  Stadtbevölkerung  zählten,  zeigt  beispielsweise  das  Augsburger 
Stadtrecht,  das  für  alle  galt,  die  in  der  Stadt  wohnen,  Bürger,  Pfaften  und 
Laien,  wie  denn  auch  Dienstmannen,  Chorherren  und  Bürger  in  Bezug  auf 
den  Brückenzoll  gleich  behandelt  wurden.  Auch  Kaufleute,  Handwerker  und 
Ackersleute  zur  Bewirtschaftung  des  herrschaftlichen  Sallands  werden  vielfach 
in  engstem  räumlichen  Verband  mit  dem  Bischofshofe  selbst  ihre  Wohnstätte 
gehabt  haben,  wie  das  z.  B.  in  sehr  anschaulicher  Weise  in  dem  grossen 
erz stiftischen  Urbare  von  Trier  aus  dem  Anfange  des  13.  Jahrhunderts  zu 
ersehen  ist.  Man  wird  nicht  weit  fehl  gehen,  wenn  man  die  Gesammtbevölkerung 
solcher  grossen  Bischofshöfe  und  der  mit  ihnen  im  Zusammenhang  stehenden 
geistlichen  Anstalten  allein  auf  einige  tausend  Personen  annimmt.  Aber 
freilich,  nicht  alle  Bischofssitze  haben  eine  gleich  ausgebildete  Hofhaltung 
gehabt;  und  noch  weniger  kann  das  von  den  Frohnhöfen  weltlicher  Grund- 
herren gelten,  selbst  wenn  sie,  was  ja  durchaus  nicht  immer  der  Fall  gewesen 
ist,  dort  ihren  ständigen  Wohnsitz  gehabt  haben.  Kleinere  Frohnhöfe,  die 
in  Meierverwaltung  standen,  sind  auch  dann,  wenn  sie  innerhalb  eines 
städtischen  Weichbildes  lagen,  doch  in  der  Regel  für  die  Charakteristik  der 
städtischen  Bevölkerung  ohne  weiteren  Belang;  höchstens  dass  sie  dazu  bei- 
tragen konnten,  den  agrarischen  Einschlag  zu  verstärken,  welchen  die  Stadt- 
bevölkerung dort  hatte,  wo  sie  aus  alten  Dorfschaften  sich  zu  städtischer 
Ordnung  emporgeschwungen  hat. 

lieber  der  eigentlichen  Frohnhofsbevölkerung  kommt  die  kriegeriscJie 
Dienstmannschaft  als  ein  selbständiger  Bestandtheil  der  städtischen 
Bevölkerung  in  Betracht.  Natürlich  nicht  die  ganze  Dienstmannschaft,  denn 
diese  wohnte  im  Lande  zerstreut  auf  ihren  Burgen.  Edelsitzen  oder  ein- 
fachen Höfen,  die  sie  zu  Eigen,  zu  Lehen  oder  als  Dienstgut  hatten.  Seit 
aber  Heinrich  I.  angefangen  hatte,  in  den  östlichen  Marken  planmässig 
Burgen  zur  Landesvertheidigung  zu  baii^n  und  sich  hiezu,  sowie  zur  Ver- 
theidigung  des  Landes  von  diesen  Burgen  aus  seiner  kriegerischen  Dienst- 
mannschaft  bediente,  vollzieht  sich  ununterbrochen   ein  Zuzug  derselben  in 


Ueber  die  Anlange  des  deutschen  Städtewesens.  537 

die  Städte  auch  im  Inneren  Deutsclilands,  und  wird  um  so  bedeutsamer, 
je  mehr  eine  Stadt  auch  als  befestigter  Ort  für  die  Landesvertheidigung 
von  Wichtigkeit  war.  Am  wichtigsten  Avar  dieses  Bevölkerungselement  der 
Natur  der  Sache  nach  immer  in  den  Burgstädten,  wo  die  Milites  den 
Kern  der  städtischen  Bevölkerung  gebildet  haben.  Aber  auch  da,  wo  sie 
wie  z.  B.  in  Breisach,  in  eigenthümlicher  Trennung  von  der  eigentlichen 
Bürgerschaft  stehen,  indem  den  Dienstmannen  der  eine  Theil  (das  Castell) 
zur  Wohnung  angewiesen  ist,  während  die  Bürger  den  anderen  Theil  (die 
Stadt  im  engeren  Sinne)  bewohnen,  auch  da  ist  die  Existenz  einer  zahl- 
reichen und  wohlorganisierten  Dienstmannschaft  natürlich  für  die  Schicksale 
der  Stadt  von  weitreichendem  Einflüsse  geworden.  Weniger  zahlreich  und 
wichtig  ist  die  kriegerische  Dienstmannschaft  schon  in  den  meisten  Bischofs- 
städten, obgleich  in  einigen  unter  ihnen,  wie  in  Strassburg,  Augsburg  und 
Basel,  doch  auch  durch  dieses  Bevölkerungselement  die  Geschicke  der 
Stadt  wesentlich  beeinflusst  worden  sind. 

Am  wenigsten  kommen  die  Dienstmannen  in  den  eigentlichen  Kauf- 
mannsstädten in  Betracht,  welche  als  Neugründungen  ohne  militärische 
Bedeutung  keine  besondere  Anziehungskraft  auf  sie  übten  und  auch,  wie 
es  scheint,  keine  Neigung  zeigten,  dieses,  den  specifisch  mercantilen 
Interessen  fremde  Element  bei  sich  aufzunehmen.  Hier  sind  sie  denn  auch 
unter  Umständen  (wie  z.  B.  in  Freiburg  im  Br.)  geradezu  von  der  Stadt 
ausgeschlossen  und  nur  in  einzelnen  Ausnahmen  wurden  Ministerialen  mit 
Zustimmung  der  gesammten  Bürgerschaft  in  die  Stadt  aufgenommen. 

Es  ist  daher  doch  nur  ein  Missverständnis,  wenn  vielfach  behauptet 
wird,  die  Dienstmannen  seien  überhaupt  kein  oder  wenigstens  kein  irgend 
belangreiches  Element  der  städtischen  Bevölkerung  gewesen.  Im  Gegentheil 
sehen  wir  überall,  wo  nicht  die  erwähnten  exceptionellen  Verhältnisse 
bestanden  haben,  die  Dienstmannen  in  der  Stadt  und  auch  mit  den 
Interessen  der  Stadt  sehr  nahe  verknüpft.  Schon  dass  die  städtischen 
Aemter  in  der  ältesten  Zeit  durchwegs  mit  Ministerialen  besetzt  sind,  weist 
darauf  hin.  Es  geht  aber  doch  nicht  an,  diejenigen  Elemente,  aus  denen 
die  Besetzung  der  Aemter  erfolgte,  und  welche  demnach  mit  dem  Wohl 
und  Wehe  der  Stadt  aufs  innigste  verknüpft  sind,  als  nicht  zur  Stadt- 
bevölkerung gehörig  anzusehen.  Nun  gab  es  aber  nicht  nur  die  wenigen 
Stadtbeamten,  sondern  zahlreiche  andere  Ministerialen  (Skarmannen  u.  a.)  in  den 
Städten;  die  ganze  Burgbesatzung  und  andere  Kitter,  welche  in  der  Stadt 
Avohnten;  sie  stehen  allerdings  in  vielen  Städten  ausserhalb  des  Stadtrechtes, 
aber  sie  gehören  doch  social  und  wirtschaftlich  ebensowohl  zur  städtischen 
Bevölkerung  wie  die  ganze  Bewohnerschaft  der  Frohnhöfe,  wenn  diese  auch 
als  Enclaven  innerhalb  des  Weichbildes  der  Städte  von  der  Wirksamkeit 
des  Stadtrechtes  ausgeschlossen  waren. 

Die  Bedeutung  nun,  welche  diese  ministerialische  Classe  der  städtischen 
Bevölkerung  für  das  ganze  Leben  der  Stadt  hatte,  war  eine  sehr  vielseitige. 
Die  kriegerische  Ministerialität,  mochte  sie  ihr  Verhältnis  zunächst  nur 
zum  Keiche  oder  zu  Bischöfen    und  Aebten   oder  zu  weitlichen  Grossen    in 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  IV.   Heft.  35 


538  Inama-Sternegg. 

Abhängigkeit  stellen,  war  doch  schon  frühzeitig  ziemlich  selbständig,  ins- 
besondere der  Frohnhofsverwaltung  gegenüber  und  auch  keineswegs  geneigt, 
sich  ihr  unterzuordnen.  Ihre  Einkünfte  zogen  sie  aus  den  Dienstgütern. 
Lelien  und  Allodien,  an  deren  Erwerbung  und  Bewirtschaftung  sie  durch 
ihre  Stellung  keineswegs  verhindert  waren,  ausserdem  aber  aus  den  Gefällen 
ihrer  dienstlichen  Stellung,  über  die  ja  bald  auch  wie  über  einen  sonstigen 
Besitz  verfügt  wurde.  Bei  ihrer  angesehenen  Stellung,  die  sie  wohl  auch 
bedürfnisreicher  und  zahlungsfälliger  machte  als  die  überwiegende  Melir- 
zahl  der  sonstigen  Stadtbewohner,  bildeten  sie  eine  Classe  von  sehr  wich- 
tigen Consumenten,  von  denen  die  städtische  Wirtschaft  vielfach  angeregt 
wurde.  Handelschaft  und  Handwerk  fand  in  den  Beziehungen  zur  Mini- 
sterialität  seine  Rechnung.  Gerade  auf  diese  Bevölkerungkreise  sind  gewisse 
Handwerker,  welche  in  der  Regel  sogar  zu  den  ältesten  der  Stadt  gehörten, 
besonders  berechnet:  die  Bogner  und  Harnischmacher,  die  Lederarbeiter  und 
Schwertfeger,  zum  Theile  auch  die  Wirte  und  Futterer.  Social  wurden 
die  Kriegsdienstmannen  in  den  Städten  alsbald  tonangebend  wegen  ihrer 
an  Bildung,  Ansehen,  Einfluss  und  Standesbewusstsein  hervorragenden 
Stellung.  Und  ihr  politischer  Einfluss  ist  ebenso  in  der  Organisation  der 
Stadtverwaltung  zu  bemerken  wie  in  der  ganzen  Haltung  der  Städte, 
welche  König  und  Reich  zugeneigt  war  nicht  bloss  wegen  der  bürger- 
freundlichen Haltung  einzelner  Herrscher,  sondern  auch  wegen  des  einheit- 
lichen politischen  Geistes,  der  die  kriegerische  Dienstmannschaft  durchzog 
und  ihre  Opposition  gegen  die  localen  Gewalten  ebenso  begreiflich  macht. 
wie  ihr  Streben  nach  Reichsunmittelbarkeit. 

Freilich  ergaben  sich  im  Laufe  der  Zeit  viele  Misshelligkeiten  und 
Conflicte  zwischen  der  Dienstmannschaft  und  den  Bürgern,  welche  eben  auf 
die  Verschiedenheit  der  Lebensanschauungen  und  Gewohnheiten,  auf  den 
Gegensatz  der  Allgemeinbildung  wie  der  Interessen  zurückzuführen  sind. 
Aber  zunächst  bewiesen  doch  auch  diese  Vorkommnisse  das  Vorhandensein 
einer  bedeutenden  Anzahl  von  Ministerialen  in  den  Städten.  Daneben  aber 
stehen  die  nicht  minder  zahlreichen  Aeusserungen  aus  dem  Stadtleben, 
welche  uns  zeigen,  wie  Dienstmannen  und  Bürger  Hand  in  Hand  gegen  die- 
Bedrückungen  der  Vögte  oder  gegen  den  Stadtherrn  selbst  sich  wenden, 
gemeinschaftlich  für  städtische  Angelegenheiten  und  Interessen  sich  ein- 
setzen (Augsburg  1004,  Mainz  1105,  Höxter  1148).  Auch  ist  es  für  die 
Angewöhnung  städtischen  Lebens  in  den  Kreisen  der  Dienstmannschaft 
gewiss  charakteristisch,  dass  dieselben  regelmässig  in  eine  Stadt  einreiten, 
wenn  es  gilt  für  ihren  HeiTn  oder  für  einen  Genossen  Einlager  zu  halten, 
sowie  dass  sie  anfangen  städtische  Steuern  und  Lasten  (Schatz  und  Schuld) 
mitzutragen,  wogegen  sie  dann  von  specifischen  ministerialischen  Leistungen 
(Hergewette  und  Gerade)  befreit  wurden  (Lüneburg  1247).  Endlich  ist 
auch  nicht  zu  übersehen,  wie  mächtig  gerade  unter  dem  Einflüsse  der 
ritterlichen  Gewohnheiten  der  Dienstmannen  selbst  die  vermögenderen 
Kreise  der  eigentlichen  Bürgerschaft  angezogen  wurden  und  alsbald  mit  ihnen 
zu  einem  einheitlichen  Patriciat  verschmolzen,  bei  dem  schwer  zu  entscheidea 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  539 

ist,  ob  die  alten  Traditionen  der  Erwerbsstände  oder  der  Dienstmannen  den 
Ausschlag  für  seine  aristokratische  Haltung  gegeben  haben. 

Vielleicht  am  schwierigsten  ist  die  Entscheidung  über  die  Bedeutung, 
welche  der  rein  agrarischen  Bevölkerung  in  den  Anfängen  des  städti- 
schen Lebens  zukommt.  Dass  dieses  Element  gänzlich  gefehlt  habe,  ist 
doch  nur  in  den  allerseltensten  Fällen  anzunehmen.  Selbst  die  reinen 
Burgstädte,  in  denen  neben  dem  Stadtherrn  oder  dessen  Vertreter  die 
kriegerische  Besatzung  den  Ton  angab,  Handwerk  und  Kaufmannschaft 
vorwiegend  im  Dienste  der  militärischen  Interessen  und  ihrer  Träger  stand, 
haben  doch  daneben  eine  mit  der  unmittelbaren  Nutzung  der  in  der 
städtischen  Gemarkung  liegenden  Grundstücke  beschäftigte  Einwohnerciasse, 
in  der  Kegel  wohl  unfreien  Standes ,  besessen ,  mag  sie  auch  nicht 
zahlreich  und  social  wie  wirtschaftlich  w^enig  belangreich  gewesen  sein.  Für 
die  zunächst  zur  Förderung  des  Marktverkehrs  angelegten  eigentlichejj 
Kaufmannsstädte  anderseits  ist  doch  in  der  Kegel  ein  Standort  gewählt, 
welcher  auch  vorher  schon  durch  seine  natürliche  Lage  oder  durch  seine 
Beziehungen  zur  Grundwirtschaft  und  die  dadurch  hervorgerufenen  Ansiede- 
lungen belangreich  geworden  war.  Die  Bevölkerung  solcher  Orte  in  ihrer 
vorstädtischen  Periode  muss  aber  zum  Theile  wenigstens  eine  agrarische 
gewesen  sein,  denn  aller  andere  nationale  Erwerb  war  ja  doch  immer  auf 
die  Bodenbewirtschaftung  angewiesen  und  nur  in  den  nächsten  Beziehungen 
zu  ihr  denkbar,  solange  nicht  eben  durch  die  Organisation  städtischer 
Gemeinwesen  die  wichtigsten  Bedingungen  für  eine  in  der  Gliederung  der 
Ansiedelungen  und  ihrer  Bevölkerung  zum  Ausdruck  kommende  Arbeits- 
theilung  und  Concentration  des  gewerblichen  und  kaufmännischen  Betriebes 
geschaffen  waren.  Ein  sehr  gutes  Beispiel  ist  hier  die  Städtegründung  von 
Stendal,  welche  Albrecht  der  Bär  auf  seiner  eigenen  Villa  im  Jahre  1151 
unternommen  hat.  Obwohl  diese  Gründung  zunächst  nur  im  Interesse  des 
Marktverkehrs  erfolgte,  wurde  doch  bestimmt,  dass  alle  Einwanderer  gleichen 
Antheil  an  Wasser,  Weide  und  Wald  mit  den  ersten  Einwohnern  erhalten 
sollen.  Es  handelt  sich  hiebei  offenbar  um  eine  agrarische  Bevölkerung  der 
Villa,  welche  nun  auch  zu  einem  Theile  der  städtischen  Bevölkerung  wird. 
Es  war  das  aber  die  gewöhnliche  Form,  wie  nachmals  die  deutschen  Städte- 
gründungen in  den  slavischen  Ländern  ausgeführt  wurden  (Hegel).  Immerhin 
mögen  auch  in  solchen  Kaufmannsstädten  die  agrarischen  Elemente  des 
Wohnplatzes  verhältnismässig  wenig  zahlreich  und  zunächst  von  dem 
besonderen  Kechte  der  Stadtgemeinde  oder  wenigstens  des  Marktverkehres 
ausgeschlossen  gewesen  sein.  So  ist  der  alte  Weiler  bei  Freiburg  eine 
Ansiedlung  der  niederen  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  und  nicht  mit 
Stadtrecht  versehen  (Gothein). 

Doch  findet  sich  anderseits  in  der  Neustadt  Salzwedel,  welche 
seit  1247  die  gleichen  Kechte  wie  die  Altstadt  hat,  freier  Einzug 
gestattet  jedem,  der  Bürger  werden  will  und  Erbrecht  demjenigen  zuer- 
kannt, der  dort  Erbe  kauft  und  Jahr  und  Tag  darin  gesessen  ist.  Dass 
sich   daselbst    auch    in    der    That   deutsche    und    slavische    Bauern    ange- 

35* 


540  Inama-Sternegg. 

siedelt  haben,  ist  schon  aus  der  CTründungsurkmide  der  Neustadt 
ersichtlich    (Hegel). 

Im  directen  Gegensatze  hiezu  hat  es  aber  auch  eine,  obgleich  wenig 
liäufige  Stadtbildung  in  der  Weise  gegeben,  dass  bestehenden  Dörfern 
einfach  ein  Stadtrecht  verliehen  wurde  und  unter  seinem  Schutze  nun  die 
Gewerbetreibenden  und  Kaufleute  erst  allmählich  ihren  Einzug  hielten  in 
ein  vorhandenes,  zunächst  rein  agrarisches  Gemeinwesen.  Hier  geboren  dann 
natürlich  die  Bauern  nebst  der  etwa  vorhandenen  Frohuhofsbevölkerung 
nicht  nur  zu  dem  ursprünglichen  Bevölkerungselemente  der  Stadt,  sondern 
sie  geben  solchen  Ackerstädten  auch  zunächst  ihr  Gepräge;  regelmässig 
bleiben  sie  weit  zurück  in  ihrer  Entwickelung  gegenüber  den  Städten, 
welche  unter  anderen  Bedingungen  entstanden  und  eine  anders  geartete 
Zusammensetzung  ihrer  Bevölkerung  aufweisen. 

Entscheidend  für  die  Würdigung  der  Kolle,  welche  den  rein  agra- 
rischen Elementen  in  der  Entwickelung  des  deutschen  Städtewesens  zugefallen 
ist,  wird,  was  die  personale  Seite  der  Frage  betrifft,  immer  ihr  Auftreten 
in  den  grösseren,  alten  Städten  sein,  deren  Aufblühen  in  der  Zeit  des 
12.  Jahrhunderts  überhaupt  der  volkswirtschaftlichen  Entwickelung  ihre 
charakteristische  Signatur  verleiht.  In  den  rheinischen  und  süddeutschen 
Bischofs-  und  Pfalzstädten,  sowie  in  den  norddeutschen  Handelsstädten  ist 
das  agrarische  Element,  das  innerhalb  und  ausserhalb  der  Mauern  ange- 
siedelt war,  nicht  zu  übersehen  und  nicht  zu  unterschätzen.  Das  ergibt 
sich  schon  aus  der  Thatsache  der  häufigen  Stadterweiterungen  und  der 
vielfach  lang  erhaltenen  bauerschaftlichen  Einrichtungen  in  diesen  Städten. 
Aber  auch  die  Stadtrechte  selbst  sprechen  hier  eine  ziemlich  deutliche 
Sprache.  Wie  diese  Städte  überwiegend  eine  Allmende  haben,  welche 
zweifellos  aus  der  Zeit  vor  der  Schaffung  der  städtischen  Verwaltung 
stammt,  so  sind  auch  die  Dienste  und  Abgaben,  welche  die  städtische 
Bevölkerung  dem  Stadtherrn  zu  leisten  hat,  nur  unter  der  Voraussetzung 
eines  reichen  landwirtschaftliche;!  Betriebes  verständlich.  Dabei  liandelt  es 
sich  allerdings  um  Personen  der  verschiedensten  socialen  und  wirtschaft- 
lichen Lage.  Neben  grösseren  Grundherren  und  freien  Hofbesitzern,  die 
nur  den  Standort  ihrer  Verwaltung  in  der  Stadt,  ihren  Besitz  aber  vor- 
wiegend am  flachen  Lande  hatten  (die  lleichsleute  in  Dortmund!),  kommen 
Zinsleute  und  Unfi-eie,  neben  Erbpächtern  reine  Grundholden  in  Betracht; 
Kleinhäusler  (Söldner),  welche  gerade  in  der  Stadt  eher  die  Bedingungen 
einer  Ergänzung  ihres  bescheidenen  Landwirtschaftsbetriebes  durch  städti- 
schen Nebenerwerb  oder  landwirtschaftlichen  Specialbetrieb  (Gärtner  in 
den  Vorstädten  von  Konstanz!)  finden  konnten,  traten  neben  den  landwirt- 
schaftlichen Tagelöhnern,  die  jedes  Besitzes  bar  waren,  zu  den  verschiedenen 
Classen  grundbesitzender  und  landwirtschaftlicher  Elemente  hinzu  —  eine 
Bevölkerung,  ebenso  gemischt,  wie  sie  auf  jedem  grösseren  Dorfe  sich 
finden  konnte.  Numerisch  wird  diese  agrarische  Classe  der  Einwohner  in 
den  alten  grossen  Städten  nicht  gering  angeschlagen  werden  dürfen;  in  der 
aus    dem     10.    Jahrhundert    stammenden    Mauerbauordnung    von     Worms 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  541 

erscheinen  sie  noch  in  entschiedenem  Uebergewichte  (Köhne),  Für  die 
Entwickelung  der  Stadt  und  für  ihre  volkswirtschaftliche  Bedeutung  allerdings 
hat  sie  wenig  ausgetragen:  nicht  von  ihr  sind  die  Impulse  zur  Ausbildung 
der  Stadtfreiheit  und  städtischen  Verwaltung  ausgegangen  und  an  Markt 
und  gewerblicher  Production  hatte  sie  doch  allerwege  nur  ein  sehr 
beschränktes  Interesse  und  einen  sehr  geringen  Antheil.  Soferne  sie  später 
nicht  als  grössere  Grundbesitzer  in  das  Patriciat  übergiengen,  haben  sie 
sich  wohl  rasch  auch  gewerbsmässigen  Beschäftigungen  zugewendet  und  die 
Bewirtschaftung  des  Grundbesitzes  zur  Nebensache  gemacht. 

IV. 

Grundherren  und  Frohnhofsbevölkerung,  Ministerialen  und  Bauern 
bilden  zwar  wichtige  Bevölkerungselemente  auch  in  den  aufkeimenden 
Städten,  und  sind  in  denselben  bald  mehr  bald  weniger  zahlreich  vertreten; 
als  specifische  Stadtbevölkerung  können  sie  trotzdem  nicht  angesehen 
werden.  Sie  waren  zum  grossen  Theile  schon  vor  der  Stadtgründung  am 
Orte  vorhanden,  haben  auch  wohl  an  der  Stadtgründung  wesentlichen  An- 
theil, sind  an  dem  Gedeihen  der  Stadt  und  an  der  Ordnung  der  städtischen 
Verhältnisse  wesentlich  mitinteressiert,  ja  zum  Theile  haben  sie  sogar  den 
Schwerpunkt  ihrer  socialen  Interessen  in  der  Stadt  gefunden.  Für  das  Leben 
am  Frohnhofe  war  der  Anschluss  an  eine  Stadt  eine  erhebliche  Verbesse- 
rung seiner  wirtschaftlichen  Verhältnisse,  zunächst  in  dem  einen,  wenngleich 
immerhin  wichtigen  Punkte,  dass  damit  der  Absatz  der  eigenen  Producte 
und  der  Naturaleinkünfte  erleichtert,  der  eigene  Bedarf  besser  und  sicherer 
zu  decken  ^var;  für  den  Grund-  und  Stadtherrn  insbesondere  ergab  sich  aus 
der  Stadt  ausserdem  eine  Bereicherung  seiner  Einkünfte  aus  Zoll,  Markt 
und  Münze,  aus  Gerichtsgefällen  und  Zinsen,  eine  Wertsteigerung  seines 
Grundbesitzes  und  eine  bessere  Nutzung  desselben  in  der  Erbleihe;  auch 
die  fruchtbringende  Anlage  beweglichen  Capitals  im  Hausbau,  sowie  anderseits 
die  Vortheile  erleichterten  Creditverkehrs  mögen  vor  allem  ihm  zugekommen 
sein.  Für  die  Ministerialität  eröffnete  sich  ein  neues  Feld  der  Wirksamkeit, 
eine  Erweiterung  ihrer  Machtbefugnisse  und  ihrer  Einkünfte,  eine  Stärkung 
ihrer  ganzen  Position  auch  ihrem  Herrn  gegenüber.  Für  den  Bauern  bot 
der  Wochenmarkt  eine  Steigerung  der  Productenpreise  und  einen  sicheren 
Absatz,  der  ihn  in  seiner  Wirtschalt  selbständig  machte  und  ihm,  indirect 
wenigstens,  auch  eine  Wertsteigerung  seines  Gutes  brachte;  dazu  im  An- 
schlüsse an  die  gewerbliche  Production  und  an  die  Handelsthätigkeit  eine 
erwünschte  Gelegenheit  zu  Nebenerwerb,  wo  die  wirtschaftliche  Basis  seines 
Hauptbetriebes  etwa  zu  schmal  zu  werden  drohte. 

Aber  doch  hatte  jede  dieser  Classen  ihre  eigentliche  Existenzbasis 
ausserhalb  der  Stadtwirtschaft  und  hätte  im  Nothfalle  auch  ohne  die  Städte 
weiter  bestehen  können,  wie  sie  früher  bestanden  hatte  und  wie  sie  vielfach 
auch  fernerhin  ohne  Verbindung  mit  einer  Stadt  wirklich  weiter  bestanden 
hat.  Eben  deshalb  wird  sich  auch  nicht  behaupten  lassen,  dass  in  diesen 
Classen    der   Stadtbevölkeruno:    die   Elemente    zu    erblicken    sind,    welche 


542  Inama-Sternegg. 

zunächst  die  städtische  Entwickelung  herbeigeführt  und  sich  als  treibende 
Elemente  in  dem  wunderbar  raschen  Aufschwünge  der  Städte  bewiesen 
haben.  Sie  bildeten  vielmehr  den  Nährboden,  auf  dem  sich  anders  geartete 
wirtschaftliche  Bestrebungen  günstig  entwickeln,  neue  Gedanken  heranreifen 
und  Gestalt  gewinnen  konnten.  Es  lässt  sich  ohne  sie  wohl  kein  städtisches 
Gemeinwesen  denken,  aber  doch  hätten  sie  für  sich  allein  ein  solches  nicht 
zu  schaffen  vermocht. 

Mit  dieser  Auffassung  steht  die  herrschende  Städtegeschichtsschreibung 
keineswegs  in  TJeberein Stimmung.  Man  hat  sich  fast  schon  daran  gewöhnt 
in  den  Kaufleuten  und  Gewerbetreibenden  nicht  nur  die  specifische 
Städtebevölkeriing,  sondern  die  Städtebevölkerung  überhaupt  zu  erblicken, 
aber  freilich  wieder  in  sehr  verschiedenem  Sinne  und  mit  grossen  Unter- 
schieden der  Auffassung  im  Einzelnen.  Insbesondere  die  Kaufleute  sind  in 
neuester  Zeit  für  die  Würdigung  der  Stadtbevölkerung  in  das  hellste  Licht 
gerückt  worden;  die  Kaufleute  gelten  als  die  eigentliche  Stadtbevölkerung, 
durch  sie  und  für  sie  sind,  so  scheint  es,  die  Städte  gegründet;  es  gewinnt 
den  Anschein  als  hätte  es  Städte  gegeben,  in  denen  überhaupt  nur  Kauf- 
leute gelebt  hätten. 

Allerdings  erfährt  diese  Anschauung  sofort  eine  erhebliche  Modification 
dadurch,  dass  das  Wort  Kaufmann  in  einem  sehr  weiten  Sinne  gebraucht 
wird:  alle,  die  auf  dem  Markte  verkaufen,  sollen  Kaufleute  sein,  gleichviel 
ob  sie  eigene  oder  fremde  Producte  zu  Markte  bringen.  Damit  sind  denn  auch 
die  Gewerbetreibenden  zumeist,  ja  selbst  die  Verkäufer  von  Bodenproducten. 
die  Bauern  auf  den  Wochenmärkten,  die  Beamten  an  den  Eruchtspeichern 
der  Grundherren  als  Kaufleute  verstanden.  Und  anderseits  werden  sogar  die 
Grundbesitzer  in  den  Städten  mit  den  Kaufleuten  identificirt;  sie  sind  ja  nach 
den  Stadtrechten  zweifellos  Bürger  und  eben  die  Stadtrechte  gebrauchen 
nicht  selten  die  Ausdrücke  Bürger  und  Kaufleute  als  gleichbedeutend. 

In  dieser  Unbestimmtheit  ist  also  mit  der  Bezeichnung  der  Stadt- 
bevölkerung als  einer  Kaufmannsbevölkerung  nicht  viel  anzufangen.  Wir 
müssen  genauer  zusehen,  wie  es  in  der  beginnenden  Stadtwirtschaft  mit  den 
Kaufleuten  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  und  mit  den  Gewerbetreibenden 
bestellt  ist. 

Kaufleute  hat  es  natürlich  längst  gegeben,  bevor  von  Städten  in  dem 
specifischen  Sinne  der  späteren  Zeit  die  ßede  ist.  Sowohl  an  den  Pfalzen, 
wie  in  anderen  Frohnhöfen  der  geistlichen  und  weltlichen  Grossen  haben 
sich  auch  Kaufleute  aufgehalten,  welche  theils  im  unmittelbaren  Herren- 
dienste standen,  theils  von  der  Frohnhofsverwaltung  in  ihrem  Interesse  benutzt 
wurden,  daneben  aber  selbständig  Handelschaft  tiieben.  Dass  sie  es  ver- 
einzelt zu  Ansehen  und  Eeichthum  brachten,  ist  bezeugt.  Daneben  gab  es 
kleine  Händler,  die  meist  wohl  im  Umherziehen  Waren  einkauften  und 
absetzten,  eine  bescheidene  Existenz  führten  und  auch  eine  engbegrenzte 
Wirksamkeit  hatten.  Von  einer  zahlreichen  Klasse  der  Kaufleute  wird  dennoch 
im  Ganzen  nicht  geredet  werden  können;  der  Warenverkehr  war  in  der 
städtearmen  Zeit  doch  ein  geringfügiger,   die  Technik  und  Oekonomik   des 


üeber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  543 

Handels  gering  ausgebildet,  was  schon  daraus  hervorgeht,  dass  auch  die 
grossen  Kaufleute  beständig  auf  Reisen  sein  raussten.  Selten  nur  erscheinen 
Kaufleute  am  Lande  in  den  Urkunden  erwähnt  und  auch  die  eigene  Handels- 
thätigkeit,  welche  z.  B.  die  Klöster  durch  ihre  Mönche  und  Laienbrüder 
entfalten  mussten,  spricht  dafür,  dass  sich  die  Kaufmannschaft  zu  einem 
erheblichen  Zweig  des  nationalen  Erwerbslebens  noch  nicht  entwickelt  hatte. 

Mit  dem  Aufkommen  des  Städtewesens  haben  sich  die  Verhältnisse 
der  deutschen  Kaufmannschaft  dann  allerdings  sehr  rasch  und  entschieden 
zu  ihrem  Yortheile  verändert.  Schon  aus  den  Kaiserurkunden  der  Ottonen- 
zeit  ist  zu  ersehen,  wie  die  begünstigte  Stellung,  welcher  die  Kaufleute  sich 
am  königlichen  Hofe  zu  erfreuen  hatten,  ihnen  auch  anderwärts  verliehen 
wird.  Es  ist  den  Kaufleuten  damit  zunächst  die  Ansiedelung  in  verschiedenen 
Städten  unter  königlicher  Autorität  erleichtert,  ihnen  und  ihren  Geschäften 
der  Königsfrieden  in  der  Stadt  gesichert  und,  wenigstens  in  der  Folge,  auch 
das  Genossengericht  als  privilegierter  Gerichtsstand  in  Handelssachen  zuge- 
standen worden.  Aber  auch  überall,  wo  nun  im  Verlaufe  dieser  Entwickelung 
ein  Ort  mit  dem  besonderen  Rechte  des  Marktes  beliehen  wird,  kommen 
dieselben  Gesichtspunkte  zur  Geltung.  Allenthalben  sind  die  Begünstigungen, 
welche  den  in  die  neue  Stadt  Einwandernden  gewährt  oder  in  Aussicht 
gestellt  werden,  in  erster  Linie  auf  die  Kaufleute  berechnet.  Ja  man  kann 
in  der  That  von  Städtegründungen  sprechen,  welche  zunächst  für  Kaufleute 
bestimmt  waren;  es  handelt  sich  in  der  That  vielfach  im  Anfange  des 
Städtewesens  um  eine  Lokalisierung  des  Handelsverkehrs.  Den  Schwierig- 
keiten der  Beschaffung  von  fremder  Ware  und  des  Absatzes  der  Eigen - 
production  sollte  begegnet,  dazu  die  natürliche  Eignung  eines  Ortes  als 
Verkehrsmittelpunkt  ausgenutzt  werden.  Zu  diesem  Ende  kam  man  den 
Kaufleuten  entgegen,  welche  Productenüberschusse  aufkauften,  Warenvor- 
räthe  anlegten  und  Käufer  wie  Verkäufer  anlockten. 

In  ganz  neugegründeten  Städten  wie  Freiburg  i/B.  wurde  den  Kauf- 
leuten der  Boden  zum  Häuserbau  gegen  bescheidenen  Jahreszins  vom  Stadt- 
herrn reichlich  zugemessen  und  ihnen  bewilligt,  dass  sie  sich  derselben 
Vorrechte  erfreuen  sollen  wie  die  Kaufleute  in  Köln,  die  wahrscheinlich  die 
gleichen  waren,  wie  sie  auch  für  andere  Reichs-  und  angesehene  Bischofs- 
städte bereits  seit  längerer  Zeit  in  üebung  waren.  Neben  der  gesicherten 
Niederlassung,  der  geschützten  Freiheit  des  Marktverkehrs  und  dem  privi- 
legierten Gerichtsstand  in  Handelssachen  war  aber  überall  die  Befreiung 
von  den  zahlreichen  und  lästigen  Abgaben  zu  Wasser  und  zu  Lande  ein 
von  der  Kaufmannschaft  besonders  erstrebtes  Ziel;  die  Bischöfe  von  Strass- 
burg  haben  schon  in  der  Karolingerzeit  das  Privilegium  des  zollfreien  Handels 
im  ganzen  Reiche  für  ihre  Kaufleute  erworben  und  es  war  begreiflicherweise 
ein  mächtiger  Magnet  für  die  Einwanderung  der  Kaufleute,  wenn  sie  in 
einer  Stadt  besonderer  Vergünstigungen  dieser  Art  sich  erfreuen  konnten. 
So  sind  denn  auch  die  deutschen  Kaufleute  alsbald  viel  umworben  von  den 
in  rascher  Folge  begründeten  Städten;  frühzeitig  entsteht  eine  lebhafte 
Bewegung   aus-    und    einwandernder  Kaufleute,    welche    sich    den   vortheil- 


544  In  am a- Sternegg. 

haftesten  Standort  für  ihre  Handelschaft  aufsuchten;  nicht  wenige  von  den 
neuen  Stadtbürgern  kamen  aus  weiterer  Entfernung  und  trugen  auch  die 
Traditionen  der  Stadt  mit  sich,  welche  sie  verlassen  haben.  So  sind  Friesen 
in  Worms,  Lombarden  in  Konstanz,  Kegensburger  und  Flandrer  in  Wien 
durch  besondere  Privilegien  angelockt,  in  grösserer  Zahl  Bürger  dieser 
Städte  geworden;  gar  nicht  zu  gedenken  der  Juden,  welche  frühzeitig  in 
allen  Kaufmannsstädten  Eingang  fanden  und  von  denen  der  Bischof  von 
Speier  in  der  Grründungsurkunde  von  1084  sagt:  da  er  aus  dem  Orte  eine 
Stadt  machen  wollte,  habe  er  geglaubt,  die  Ehre  desselben  tausendfach  zu 
mehren,  wenn  er  daselbst  auch  Juden  versammle.  Auch  eine  absolute  Ver- 
mehrung des  Kaufmannsstandes  konnte  nicht  ausbleiben,  wo  so  viele  Vor- 
theile  gerade  diesem  Erwerbszweige  entgegenwinkten ;  es  begreift  sich  leicht, 
dass  gleichsam  mit  einem  Schlage  die  Stellung  des  Kaufmanns  und  seine 
Bedeutung  für  die  ganze  Volkswirtschaft  quantitativ  und  qualitativ  ausser- 
ordentlich gehoben  worden  ist. 

Unter  den  Kaufleuten,  um  deren  Gewinnung  die  städtegründenden 
Land-  und  Burgherren  sich  besonders  bemühten,  werden  wir  uns  im  Wesent- 
lichen eigentliche  Grosskaufleute  zu  denken  haben^  wie  sie  die  spätere 
Terminologie  als  Kaufherren  oder  Gewölbherren  von  den  Repräsentanten  der 
verschiedenen  Zweige  des  Kleinhandels  unterscheidet.  Diese  Kaufleute 
allein  waren  die  echten  Träger  des  Handels,  wie  ihn  die  StädtegTünder  im 
Auge  hatten  als  besonders  begehrenswerten  Zweig  der  nationalen  Betrieb- 
samkeit; erfahren  in  den  Zuständen  fremder  Städte  und  Länder,  ihrer  Pro 
ducte  und  Bedürfnisse,  vertraut  mit  den  weiten  Wegen,  den  Mitteln  und 
Gefahren  der  Handelsfahrt,  mit  Recht  und  Gewohnheit  der  Gebiete,  welche 
sie  durchzogen,  gerieben  in  der  Geschäftspraxis  des  Handels  und  unter- 
nehmend im  Abschlüsse  grosser,  weitaussehender  Geschäfte  mussten  diese 
Grosskaufleute  für  jede  auf  Belebung  des  Verkehrs  und  auf  Erringung 
einer  mercantilen  Machtstellung  bedachte  Wirtschaftspolitik  als  ein  unent- 
behrliches und  in  der  Regel  nur  zu  sehr  vermisstes  Element  der  städtischen 
Bevölkerung  erscheinen.  Als  Träger  des  mobilen  Capitals,  das  sie  im 
Warenverkehr  wie  im  Geldverkehr  rasch  und  gewinnbringend  umsetzten, 
galten  sie  zugleich  als  reiche  Leute,  welche  den  Wohlstand  einer  Stadt 
unmittelbar  durch  ihre  grossen  Warenvorräthe  wie  durch  ihre  grossen 
Einkünfte  erhöhten  und  zugleich  durch  ihren  persönlichen  und  geschäftlichen 
Credit  im  Stande  waren,  dem  städtischen  Wesen  jederzeit  noch  grössere 
Mittel  zur  V^erfügung  zu  stellen. 

Die  Stadtherren  konnten  wohl  auch  sicher  darauf  rechnen,  dass  von 
dieser  Quelle  des  Reichthums  etwas  in  ihre  eigene  Gasse  abfliessen  werde, 
und  hatten  anderseits  gewiss  schon  hinlängliche  Einsicht  in  den  inneren 
Zusammenhang  aller  wirtschaftlichen  Vorgänge,  um  die  belebende  Wirkung 
einigermassen  ermessen  zu  können,  welche  von  einer  regen  Handelschaft 
auf  alle  Kreise  der  nationalen  Production  ausgehen  musste.  Gründe  genug. 
um  solche  Kaufleute  durch  eine  Reihe  wertvoller  Privilegien  anzulocken, 
aber  auch   Erklärungsgründe    genug   für    die    Erscheinung,    dass    sich    die 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  545 

Kaiifleiite  im  jungen  städtischen  Leben  alsbald  allen  anderen  Classen  der 
Bevölkerung  überlegen,  alle  mehr  oder  weniger  von  sich  abhängig  fühlten 
und  demgemäss  mit  einer  die  Befestigung  ihrer  eigenen  Position  vor  allem 
anstrebenden  Politik  die  weitere  Entwickelung  des  städtischen  Gemeinw^esens 
zu  beeinflussen  suchten.  Insbesondere  ist  die  Strenge  bemerkenswert,  mit 
welcher  sich  die  Kaufmannsgilde  von  den  übrigen  erwerbtreibenden 
Classen  der  Stadtbevölkeruug  abschloss.  Es  ist  ein  häutig  wiederkehrender 
Satz  der  Gildestatuten,  dass,  wer  Gilderecht  erwerben  wolle,  zuerst  das 
Handwerk  abgeschworen  haben  musö  (Stendal);  es  wird  daraus  weiterhin 
deutlich  ersichtlich,  wie  wenig  vom  Standpunkte  der  Kaufleute  selbst  an 
eine  Identificierung  von  Kaufmann  und  Handwerker  zu  denken  ist,  während 
der  Eintritt  von  Angehörigen  anderer  Berufsstände  (Geistliche,  Ritter)  in 
die  Gilde  durchaus  nicht  zu  den  Seltenheiten  gehört.  Gerade  dadurch  wird 
de:  durchgreifende  aristokratische  Zug  in  der  Entwickelung  der  Kaufmanns- 
gilde vollkommen  erklärt,  dass  sie  sozusagen  nach  oben  hin  offen,  nach 
unten  zu  aber  geschlossen  war.  Spätere  Erscheinungen  des  Gildewesens, 
wie  die  Richerzechheit  in  Köln,  die  Reinoldsgilde  in  Dortmund  lassen  sich 
vielleicht  in  dieser  Weise  am  besten  erklären,  dass  sie  aus  Kaufmannsgrilden 
hervorgegangene  aristokratische  Bruderschaften  waren. 

In  älterer  Zeit  war.  soweit  wir  sehen,  der  deutsche  Kaufmann  noch 
kein  Specialist.  Er  handelt  mit  den  Droguen  und  Seidenstoffen  des  Orients 
ebenso  wie  mit  den  Hauptproducten  des  Nordens,  dem  Pelzwerk  und  dem 
Häring.  mit  Metallen  und  Geweben  aus  den  verschiedenen  Theilen  von 
Europa.  Aber  zum  Theil  gerade  deshalb  konnten  auch  nur  Wenige  sich 
solcher  Kaufmannschaft  widmen;  Fähigkeiten  und  Mittel  hiezu  Avaren 
beschränkt,  und  beschränkt  docl\  auch  noch  immer  der  Bedarf.  Eine 
wesentliche  Vermehrung  in  der  Zahl  der  Kaufleute  haben  wir  erst  mit  dem 
Eintreten  einer  gewissen  Specialisierung  der  Zweige  des  Handels  anzu- 
nehmen; diese  aber  war  doch  zunächst  bedingt  von  einer  Zunahme  der 
gewerblichen  Production,  auf  die  sich  der  Handel  dann  im  Einzelnen 
stützen  konnte.  Eine  solche  Vermehrung  der  Production  aber  trat  zunächst 
ein  in  der  Weberei  und  in  der  Metallgewinnung  und  daher  treten 
aucli  als  die  ersten  und  für  lange  Zeit  wichtigsten  Specialzweige  des 
Grosshandels  die  Gewaudschneiderei  (Tuchhandel)  und  der  Metall-  beson- 
ders Edelmetallhandel  auf.  Während  aber  der  letztere  durch  die  mono- 
polisierte Münze  vielfach  in  seiner  Entwickelung  behindert  war,  blühte 
der  Tuchhandel  um  so  rascher  auf  und  hat  zur  absoluten  Vermehrung 
der  Kaiifleute  in  den  Städten  bald  das  Wesentlichste  beigetragen.  In 
grossen  Städten  steht  er  bald  achtunggebietend,  ja  gleichwertig  der 
ganzen  übrigen  Kaufmannschaft  an  der  Seite,  in  kleinen  Städten  sind  die 
Gewandschneider  nicht  selten  die  einzigen  Repräsentanten  des  Grosshandels. 
Vereinzelt  und  insbesondere  im  deutschen  Norden  scheint  auch  der  Victualien- 
handel  einen  besonderen  Zweig  des  Grosshandels  gebildet  zu  haben; 
auf  ihn  speciell  sind  alte  kaiserliche  Privilegien  bezogen,  welche  einen 
eigenen  Gerichtsstand  der  Kaufleute  begründen  (Magdeburg,  Goslar,  Quedlin- 


546  Inama- Sternegg. 

bürg  1024).  Aber  anderwärts  ist  speciell  der  Vieh-  und  Kornbandel  schon 
frühzeitig  in  Misscredit  gekommen  und  ist  damit  dem  Kleinhandel  fast 
gewaltsam  in  die  Arme  gedrängt  worden  (Gothein). 

Dieser  Kleinhandel  in  Landesproducten  und  Gewerbserzeugnissen  ist 
die  zweite,  kaum  minder  alte  Form,  in  welcher  sich  in  den  Städten  eine 
Handelslhätigkeit  regte.  Aber  er  stand  doch  in  jeder  Beziehung  weit  ab 
von  der  wirtschaftlichen  und  socialen  Stellung,  welche  der  Grosshandel 
alsbald  einnahm;  ja  es  ist  kaum  anzunehmen,  dass  die  Krämer,  Höcker, 
Fragner  u.  dgl.  überhaupt  den  Kaufleuten  als  ebenbürtig  angesehen  worden 
seien.  Sie  waren  und  blieben  kleine  Leute,  deren  wirtschaftliches  Interesse, 
deren  Geschäftskreis  und  geschäftliche  Bedeutung  sie  viel  mehr  an  die 
Seite  der  Handwerker  als  der  Kaufleute  stellte.  Vereinzelt  sind  auch  solche 
Händler,  denen  man  nach  der  Natur  ihres  Geschäftsbetriebes  eine  Stellung  in 
der  Gruppe  der  Kleinhändler  anwies,  zu  grösserer  Geltung  gekommen,  wie  das 
frühe  Beispiel  der  Fischhändlerinnung  in  Worms  (1106)  bezeugt;  aber  die  breite 
Kegel  ist  doch  das  Gegentheil;  die  Krämer  halten  sich  selbst  vorwiegend 
zu  den  Handwerkern,  wie  sie  auch  in  ihrer  späteren  Entwickelung  die 
Schicksale  der  Zünfte  theilen.  Keine  Spur  des  aristokratischen  Zuges,  welcher 
die  Kaufleute  so  frühzeitig  auszeichnet,  ist  bei  ihnen  wahrnehmbar;  es  wäre 
auch  nicht  wohl  zu  verstehen,    woher    er   hätte  kommen  sollen. 

Krämer  sind  daher  wohl  nie,  am  allerwenigsten  aber  in  den  Anfängen 
der  städtischen  Entwickelung  mit  den  Kaufleuten  zu  identificie:en.  Um 
ihretwillen  ist  keine  Stadt  gegründet,  kein  Stadtprivilegium  verliehen 
worden.  Krämer  hätten  nie  das  Zeug  gehabt,  eine  städtische  autonome 
Verwaltung  zu  organisieren  und  eine  thatkräftige,  selbstbewusste  Bürger- 
schaft zu  erziehen.  Sie  nahmen  natürlich  theil  an  den  Vortheilen  und 
Segnungen  des  städtischen  Wesens  und  des  Marktverkehrs,  ja  auf  dem 
Wochenmarkte  sind  sie  sogar  wichtige  Personen;  aber  sowenig  „in  seinem 
Wochenmarkte  der  Ursprung  von  Kölns  Grösse  liegt"  (v.  Below),  sowenig 
ist  die  Bedeutung  der  Kaufmannschaft  für  die  Stadtentwickelung  nach  der 
Zahl  der  Krämer  zu  messen,  die  sich  daselbst  niedergelassen  hat. 

Schon  daraus  ergibt  sich,  wie  wenig  Berechtigung  die  Vermengung 
der  verschiedenen  Classen  von  Handeltreibenden  und  die  Zusammenfassung 
aller  unter  der  gemeinsamen  Quellenbezeichnung  der  Kaufleute  habe.  Es 
liegt  eine  ungeheure  üebertreibung  des  eigentlich  kaufmännischen  Elementes 
der  Stadtbevölkerung  darin.  In  Wahrheit  waren  die  Kaufleute  in  allen 
Städten  in  mehr  oder  weniger  starker  Minorität,  was  natürlich  keineswegs 
hinderte,  dass  diese  Minorität  in  der  Stadt  herrschte  und  dem  ganzen 
städtischen  Wesen  den  Stempel  ihres  eigenen  Wesens  aufzudrücken  suchte- 
Aber  ebenso  unberechtigt  ist  es,  die  gewiss  viel  zahlreichere  Classe  der 
Krämer  und  anderer  Kleinhandeltreibenden  deshalb,  weil  sie  nicht  voll- 
berechtigte Bürger,  ja  vielleicht  in  der  ältesten  Zeit  überhaupt  nicht 
Bürger  im  Rechtssinne  waren,  auch  gar  nicht  zur  Stadtbevölkerung  zu 
rechnen.  Auch  sie  lebten  in  der  Stadt  oder  knapp  vor  ihren  Thoren,  aucli 
sie  wirkten    und   schafi'ten    mit   an    der    städtischen    Wirtschaft,    auch    sie 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städte wesens.  547 

waren  nützliclie  Glieder  des  Gemeinwesens  durch  das,  was  sie  leisteten,  wie 
durch  das,  was  sie  bedurften.  Nicht  nach  den  Kategorien  der  rechtlichen 
Stellung,  sondern  nach  den  Grössenkategoiien  der  Berufs-  und  Erwerbs- 
classen  und  nach  der  qualitativen  Bedeutung  ihres  Antheils  an  den  Gesammt- 
leistungen  der  Stadtwirtschaft  wird  die  Wirtschaftsgeschichte  die  Zusammen- 
setzung der  städtischen  Bevölkerung  zu  beurtheilen  haben.  Und  unter  diesem 
Gesichtspunkte  kommt  sie  zu  dem  Schlüsse,  dass  in  den  aufkeimenden 
Städten  des  Mittelalters  den  Eepräsentanten  der  Handelschaft  eine  aller- 
dings sehr  verschieden  abgestufte,  im  ganzen  aber  doch  sehr  erhebliche 
Bedeutung  beizumessen  ist. 

Im  Vergleiche  zu  den  Kaufleuten  ist  in  den  Stadtrechtsprivilegien 
auffallend  wenig  von  den  Gewerbetreibenden  die  Eede.  und  doch  sind 
auch  sie  zweifellos  schon  in  der  ersten  Zeit  der  Stadtentwickelung  eine 
zahlreiche  Einwohnerciasse  und  haben  an  dem  wirtschaftlichen  Fortschritte 
der  Städte  kaum  einen  geringeren  Antheil  als  die  Kaufleute.  Aber  die  Um- 
stände, welche  in  der  Stadt  das  Handwerk  grosszogen,  waren  ganz  anders 
gelagert  als  diejenigen,  unter  denen  der  Handel  heranwuchs. 

Man  hat  früher  gerne  die  Handwerker  als  hofhörige  Leute  aufgefasst. 
welche  sich  allmälich  erst  aus  dem  Verbände  des  Frohnhofs  emancipierten. 
Damit  wäre  allerdings  eine  sehr  einfache  Erklärung  jener  Erscheinung 
gegeben,  dass  die  Gründungsurkunden  und  ältesten  Privilegien  der  Städte 
das  Vorhandensein  der  Handwerker  oft  ganz  übersahen.  Aber  so  einfach  sind  die 
Verhältnisse  doch  in  den  seltensten  Fällen  gelegen.  In  den  grossen  Frohn- 
höfen  waren  allerdings  gewisse  Zweige  des  Gewerbebetriebes  regelmässig 
vertreten;  die  bei  diesen  Gewerben  beschäftigten  Personen  arbeiteten  für 
den  laufenden  Bedarf  des  Frohnhofs,  unter  Umständen  auch  für  den  Markt, 
aber  doch  immer  unter  Aufsicht  der  Beamten  der  einzelnen  Hofämter  und 
für  deren  Hechnuns:  als  unfreie  Knechte.  Daneben  entwickelte  sich  dann  mit 
der  allgemeinen  Milderung  der  Unfreiheitsverhältnisse  allmählich  auch  eine 
gewisse  Vertretung  der  gewerblichen  Production  in  den  Classen  der  Cen- 
sualen  und  Vogteileute,  welche,  nicht  mehr  an  den  Frohnhof  gebunden, 
zerstreut  am  Lande  umher  oder  compacter  in  der  Nähe  grosser  Herren- 
höfe Sassen  und  nur  zu  bestimmten  gewerblichen  Verrichtnngen  oder  zur 
Lieferung  von  Gewerb sproducten  an  den  Herrenhof  verpflichtet,  im  übrigen 
aber  selbständig  in  der  Ausübung  ihres  Betriebes  waren.  Mit  der  Abnahme 
der  Frohnhofswirtschaft  und  der  Auflösung  grosser  herrschaftlicher  Betriebe 
in  kleine  Meierwirtschaften  ergab  sich  naturgemäss  eine  grössere  Selb- 
ständigkeit auch  des  gewerblichen  Betriebes;  die  Classe  der  zins-  und 
dienstpflichtigen  Gewerbetreibenden  vermehrte  sich,  wie  sich  die  Keihen 
der  hofhörigen  Handwerker  an  den  Herrenhöfen  selbst  lichteten  und  dieser 
Process  hat  in  der  Zeit  des  ersten  Aufblühens  der  Städte  schon  grosse 
Dimensionen  angenommen,  ia  er  steht  mit  den  raschen  Fortschritten  des 
städtischen  Lebens  selbst  in  einem  unverkennbaren,  inneren  Zusammenhange. 
Zunächst  freilich  erzeugte  die  Auflösung  der  grossen  herrschaftlichen  Betriebe 
eine   grössere  Atomisierung    der    gewerblichen    Kreise,    eine  Vereinsamung 


548 

und  einen  Mangel  an  wirtschaftlichem  Halt,  wie  ihn  seinerzeit  der  Frolin. 
liofsverband  geboten  hatte.  Die  nationale  Arbeitstheilung  nahm  zweifellos 
zu,  aber  die  Gliederung  der  arbeitstheiligen  Production  machte  eher 
Rückschritte.  Der  Vermehrung  der  absoluten  Zahl  der  Gewerbetreibenden 
entsprach  keineswegs  eine  absolute  Vermehrung  der  nationalen  Production 
von  Gewerbswaren;  und  selbst  die  Zunahme  der  Gewerbetreibenden  musste 
eine  nahe  Grenze  finden,  so  lange  die  Bedingungen  der  Productivität  gewerb- 
licher Arbeit  so  ungünstig  lagen  und  insbesondere  eine  nationale  Orga- 
nisation der  gewerblichen  Arbeit  und  des  regelmässigen  Marktes  für  ihre 
Producte  mangelte. 

Es  ist  daher  mindestens  eine  schiefe  Vorstellung,  wenn  die  Entstehung 
der  Stadt  in  der  Weise  aus  dem  Hofrechte  abgeleitet  wird,  dass  der 
Frohnhof  mit  seiner  ganzen  abhängigen  Bevölkerung  ursprünglich  selbst  die 
Stadt  dargestellt  hätte  und  diese  erst  allmählich  zu  grösserer  persönlicher 
und  wirtschaftlicher  Freiheit,  schliesslich  zur  Autonomie  ihrer  Verwaltung 
gekommen  sei.  Speciell  w^as  die  Kaufleute  und  Handwerker  anbetrifft,  so 
sind  diese  specifisch  wirtschaftlichen  Classen  der  Stadtbevölkerung  nur 
zum  kleinen  Theile  als  ursprünglich  in  deren  Hofverbande  stehend  zu 
denken.  Ihre  Hauptmasse  ist  vielmehr  eingewandert;  der  Markt,  die  Haus- 
leihe, die  Stadtprivilegien  und  die  besonderen  Verfügungen  der  Stadtherren 
selbst  haben  dazu  Veranlassung  geboten.  Die  Handwerker  aus  den  Classen 
der  Zinsleute,  welche  nicht  glebae  adscripti  waren,  konnten  verhältnismässig 
leicht  in  die  Städte  wandern,  auch  unter  Aufrechterhaltung  des  Verbandes 
mit  ihrem  Zinsherrn;  wir  wissen,  dass  das  unter  Umständen  zunächst  nur 
vorübergehend  geschah,  aus  Anlass  von  Jahrmärkten  oder  grösseren  Festen, 
wie  das  z.  B.  aus  Koblenz  (1104)  von  Bäckern  und  Schustern  berichtet  ist, 
wo  dann  diese  Handwerker  mit  Producten  des  eigenen  Gewerbefleisses 
Feilschaft  trieben  oder  solche  Producte  auf  kurze  Bestellung  lieferten.  Auch 
die  vielen  Unfreien,  welche  die  Grundherren  selbst  in  die  Städte  entliessen, 
dürfen  wir  wohl  vorzugsweise  als  Handwerker  ansprechen;  die  Auflösung 
von  Frohnhofsämtern,  in  welchen  solche  bisher  bedienstet  waren,  gab  dazu 
jedenfalls  ungleich  häufiger  Anlass  als  der  Wechsel  in  den  Einrichtungen 
des  landwirtschaftlichen  Betriebes,  der  ja  ohnehin  schon  zumeist  nicht 
mehr  in  eigener  Regie  der  Grundherren  geführt  wurde. 

Diese  Classen  unfreier  und  halbfreier  Gewerbetreibender  werden  wohl 
allenthalben  die  Hauptmasse  der  städtischen  Handwerker  in  der  ersten 
Zeit  des  städtischen  Lebens  ausgemacht  haben;  ihnen  mögen  sich  immer- 
hin auch  aus  den  sonstigen  Kreisen  der  nicht  grundbesitzenden  Bevölkerung 
gar  manche  Elemente  angeschlossen  haben,  ein  gewisser  Zuzug  auch  aus 
der  grundbesitzenden  Bevölkerung  gekommen  sein,  besonders  seit  die  freie 
Erbtheilung  immer  mehr,  im  abhängigen  wie  im  freien  Grundbesitz,  einer 
Primogenitur  oder  sonstigen  Individualsuccession  Platz  machen  musste. 
Im  grossen  und  ganzen  waren  diese  Handwerker  gewiss  arme  Leute,,  auf 
ihre  Handarbeit  angewiesen,  ohne  viel  geschäftliche  Bildung  und  Erfahrung; 
ihre    gewerblichen    Anlagen    höchst    bescheiden,    ihr    Betriebscapital    ver- 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  549 

schwindend.  Wohl  haben  auch  die  Handwerker  vereinzelt  schon  frühzeiti«- 
Grundbesitz  in  den  Städten  erworben,  aber  als  Kegel  kann  das  nicht  gelten. 
Die  Handwerker  lebten  zumeist  ärmlich  in  den  Vorstädten  (Basel,  Freiburg), 
wohnten  zur  Miete  oder  hatten  doch  ausser  dem  in  Erbleihe  genommenen 
Hause  keinen  unbeweglichen  Besitz  (Gothein).  Eine  Bevölkerungsciasse 
dieses  Ursprungs,  dieser  Lebensverhältnisse  konnte  keinen  besonderen 
Ansprach  auf  Beachtung  erheben;  ihr  war  die  Verbesserung  des  Loses  in 
der  Stadt  zunächst  Fortschritt  genug;  die  Machthaber  in  der  Stadt  aber 
schenkten  ihnen  wenig  Beachtung  bei  der  Kechtsbildung  der  neuen  Gemein- 
wesen; vom  Standpunkte  der  alten  socialen  Ordnung  erschienen  sie  als 
Landlose  und  Unfreie  doch  kaum  höher  als  ihre  Standesgenossen  auf  dem 
flachen  Lande;  wirtschaftspolitisch  waren  sie  anfänglich  gewiss  unterschätzt: 
im  Kaufmann  allein  erblickte  man  den  reichen  und  geschäftsgewandten 
Mann,  der  den  Markt  und  den  städtischen  Verkehr  allein  zu  beleben 
im  Stande  sei.  Der  Handwerker  ist  daher  keineswegs  vollberechtigt  in  der 
Stadt;  er  ist  nicht  Genosse  des  Stadtgerichts  und  der  Stadtverwaltung, 
nicht  Bürger  im  engeren  Sinn  des  Wortes.  Aber  er  participiert  doch  an 
den  Vortheilen  des  Marktes;  seine  eigene  Ware  dort  zu  verkaufen,  Kohstoff 
und  Hilfsstoff  dort  einzukaufen,  mag  ihm  niemand  wehren.  Und  ebenso 
steht  er  mit  den  specifisch  kaufmännischen  Interessen  in  naher  Beziehung, 
wohl  aber  nicht,  wie  man  gemeint  liat  (Sohm),  in  einem  Verhältnis  der 
Hörigkeit  zum  Kaufherrn,  sondern  in  durchaus  freiem  Vertragsverhältnisse. 
Frühzeitig  ist  das  Handwerk  in  der  Stadt  der  wichtigste  Lieferant  von 
Gevverbswaren  für  den  Kaufmann  geworden;  der  Handel  blüht  besonders 
da.  wo  er  auf  dem  breiten  Boden  einheimischer  Production  steht,  und  mit 
ihm  beruht  das  Gedeihen  der  städtischen  Wirtschaft  überhaupt  wesentlich 
auf  der  rasch  steigenden  und  tüchtigen  Arbeit  des  städtischen  Handwerks. 
Und  da  gewiss  ein  Kaufmann  genügt,  um  die  Producte  vieler  Gewerbs- 
leute, besonders  bei  dem  extensiven  Handwerksbetriebe  älterer  Zeit,  umzu- 
setzen, so  werden  wir  auch  im  allgemeinen  eine  viel  grössere  Zahl  von 
Handwerkern  als  von  Kaufleuten  in  den  Städten  annehmen  müssen. 

In  einzelnen  Städten  kommen  überdies  in  charakteristischer  Weise 
und  schon  frühzeitig  die  an  Bergbau  und  Salinenbetrieb  beschäftigten 
Personen  zur  Geltung.  Li  Goslar  am  Harz,  in  Halle  a.  d.  Saale,  Lüneburg, 
aber  auch  in  Friesach  in  Kärnten  wird  wohl  die  Entstehung  der  Stadt 
zunächst  auf  diese  Interessenkreise  zurückzuführen  sein.  Hier  spielen  sie 
auch  alsbald  die  hervorragendste  Rolle;  um  der  Interessen  dieser  Betriebe 
willen  ist  da  vorzugsweise  der  Markt  angelegt,  der  ein  reiches  geschäft- 
liches Leben  sclion  vorfand,  während  er  es  anderwärts  erst  erzeugen  sollte. 
Darum  steht  auch  der  kaufmännische  und  der  Handwerksbetrieb  hier  in 
zweiter  Linie;  die  Bergwerksinteressenten  geben  den  Ton  an,  sowohl  gemäss 
ihrer  numerischen  Ueberlegenheit  wie  auch  wegen  des  Reichthums,  den  sie 
sich  bei  der  Selbständigkeit  ihrer  Betriebsführung  zu  bilden  vermochten; 
die  genossenschaftliche  Organisation,  welche  sich  die  Bergleute  und  Salz- 
sieder    (Pfänner)    frühzeitig   zu    schaffen    verstanden,    gab    ihren    auf    die 


550  Inama- Sternegg. 

Herrschaft  in  der  Stadt  gerichteten  Bestrebungen  auch  alsbald  den  nöthigen 
Nachdruck  und  einen  sicheren  Kückhalt. 

Wie  die  Entstehung  der  deutschen  Städte  im  Wesentlichen  ein 
Product  der  nationalen  Arbeitstheilung  ist,  so  gebürt  auch  dem  Handwerke 
ein  hervorragender  Antheil  an  dieser  Entwickelung.  Denn  erst  durch  die 
Verselbständigung  der  gewerblichen  Arbeit  und  durch  ihre  Organisation  in 
der  Stadt  (Arbeitstheilung  und  Arbeitsgiiederung)  ist  die  städtische  Wirt- 
schaft überhaupt  zu  einem  Factor  von  so  specifischer  Wichtigkeit  für  die 
ganze  Volkswirtschaft  geworden  und  nichts  wäre  unberechtigter,  als  wegen 
der  rechtlichen  und  socialen  Vorzugsstellung,  welche  den  Kaufleuten  im 
Anfange  des  städtischen  Wesens  eingeräumt  und  von  ihnen  mit  grösster 
Schärfe  geltend  gemacht  worden  ist,  die  volkswirtschaftliche  Kolle  zu 
unterschätzen,  welche  das  Handwerk  auch  schon  in  einer  Zeit  spielte,  in 
welcher  es  noch  nicht  mit  dem  Weltruhme  geschmückt  war,  der  ihm  in 
den  deutschen  Städten  in  späteren  Jahrhunderten  zugefallen  ist. 

V. 

Die  Bevölkerung  der  Städte  setzt  sich  demnach  in  den  Anfängen  ihrer 
Entwickelung  zusammen  aus  einer  eigentlichen  Frohnhofsbevölkerung  und 
aus  den  ausserhalb  des  Frohnhofsverbandes  stehenden  ministerialischen, 
rein  agrarischen,  kaufmännischen  und  gewerblichen  Elementen.  Dazu  kann 
man  noch  eine  rein  dienende  Classe  rechnen,  welche  wenigstens  bei 
Ministerialen  und  Kaufleuten  nicht  unerheblich  gewesen  ist,  wie  sie  natürlich 
aucli  innerhalb  des  Frohnhofes  numerisch  ins  Gewicht  fällt.  Unter  dem 
Gesichtspunkte  einer  rein  wirtschaftlichen  Berufsgliederung  sind  natürlich 
Theile  der  Frohnhofsbevölkerung  auch  dem  Beamtenthum,  den  agrarischen, 
gewerblichen  und  kaufmännischen  Interessenkreisen  zuzutheilen,  wie  anderseits 
die  herrschenden  Kreise  des  Frohnhofes  mit  selbständigen  Grundbesitzern 
zusammen  eine  Classe  von  Rentnern,  die  Dienenden  aller  dieser  Kreise 
zusammen  eine  besondere  Berufsclasse  ausmachen. 

Das  numerische  Verhältnis,  in  welchem  diese  einzelnen  Bevölkerungs- 
kreise zu  einander  und  zum  Ganzen  stehen,  ist  natürlich  in  den  einzelnen 
Städten  verschieden,  wenn  wir  auch  im  Einzelnen  in  keiner  Weise  in  der  Lage 
sind,  es  mit  annähernder  statistischer  Genauigkeit  zu  bestimmen.  Es  ist 
auch  gewiss  durchaus  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  besondere  Entwickelung 
geblieben,  welche  die  Stadtverfassung  und  die  ganze  Ordnung  des  gemeinen 
Wesens  in  den  einzelnen  Städten  genommen  hat. 

Wenn  wir  sehen,  dass  Städte,  deren  Verfassungsgrundlagen  im  Wesent- 
lichen ganz  übereinstimmende  Züge  aufweisen,  im  Verlaufe  der  Zeit  eine  so 
ganz  verschiedenartige  Entwickelung  genommen  haben,  die  einen  rasch  zu 
wichtigen  Centren  des  Gewerbefleisses  und  Handelsverkehrs  werden,  die 
anderen  in  rein  agrarischen  Verhältnissen  verharren  oder  sogar  in  solche 
zurückfallen,  wenn  wir  den  Einfluss  des  Beamtenelements  bald  verschwinden, 
bald  sich  behaupten  sehen,  so  ist  der  Grund  dieser  Verschiedenheit  gewiss 
zum   guten  Theile    auch   in  dem  numerischen  Verhältnisse  zu  erblicken,  in 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  551 

welchem  die  einzelnen  Classen  der  städtischen  Bevölkerung  gleich  bei  der 
Begründung  der  Stadt  oder  in  der  ersten  Zeit  ihrer  Entwickelung  zu  einander 
gestanden  sind. 

Aber  mindestens  ebenso  wichtig  für  die  Ausgestaltung  der  Stadtver- 
fassung und  Stadtverwaltung  sind  die  Verbände  gewesen,  in  denen  sich 
die  einzelnen  Volkskreise  des  städtischen  Lebens  schon  von  Anfang  an 
befanden  und  in  deren  Formen  sie  auch  nach  der  Aufrichtung  eines  beson- 
deren städtischen  Gemeinwesens  noch  lange  Zeit  verharrten.  Dabei  handelt 
es  sich  nicht  so  sehr  um  die  rechtliche  Ordnung,  welche  diese  einzelnen 
Vo^kskreise  gegen  einander  abgrenzte,  und  ihnen  in  verschiedener  Weise 
ihre  subjectiven  Rechte  zumaass:  viel  entscheidender  sind  die  socialen 
Effecte,  welche  diese  öffentlichen  Ordnungen  und  Verbände  hervorbrachten. 
Wenn  wir  daher  nunmehr  die  Frage  zu  beantworten  haben,  was  die  ein- 
zelnen Bevölkerungselemente  der  Städte  zu  deren  Organisation,  zu  ihrer 
specifischen  Verfassung  beigetragen  haben,  so  wird  das  Augemerk  vornehmlich 
darauf  zu  richten  sein,  in  wie  weit  bestehende  Organisationsformen  der 
Bevölkerung  schon  vor  der  Aufrichtung  der  städtischen  Autonomie  ein 
sociales  Gemeinbewusstsein,  ein  Classen-  oder  Standesinteresse  erzeugt 
hatten,  das  in  den  Bestrebungen  nach  Ausgestaltung  der  besonderen  Art 
städtischen  Wesens  zur  Geltung  gebracht  oder  wenigstens  zur  Geltung  zu 
bringen  versucht  wurde. 

In  der  karolingischen  Zeit  begegnet  auf  deutschem  Boden  eine  einzige 
sociale  Organisation,  welche  unter  Umständen  für  die  Ausbildung  der  Stadt- 
verfassung bedeutsam  werden  konnte:  das  ist  die  Hofverfassung.  König- 
liche Pfalzen  wie  sonstige  Residenzen  geistlicher  und  weltlicher  Grossen 
waren  von  Landvecht  und  Grafengewalt  eximiert  und  bildeten  einen  eigenen 
Immunitätsbezirk,  der  allerdings  ausser  dem  eigentlichen  Frohnhof  mit 
seiner  unmittelbaren  Umgebung  eine  Reihe  von  mehr  oder  weniger  zerstreut 
liegenden  Exclaven  begreifen  konnte.  In  den  Mittelpunkten  eines  solchen 
Frohnhofsgebietes,  wo  zugleich  die  Residenz  des  Grundherrn  war,  umschlang 
das  Hofrecht  eine  vielfach  gegliederte  Menschenmenge;  Diener  zu  den 
täglichen  Verrichtungen  des  Hofhaltes  wie  zu  den  Leistungen  der  Gutsver- 
waltung, höhere  Bedienstete  zum  Schutze  des  Herrn,  zur  Aufrechterhaltung 
der  Ordnung  am  Hof,  zu  Reisen  und  Botendienst;  Bauern  sodann  zur 
Bearbeitung  der  Hofländereien,  w^elche  auf  Rechnung  der  Herrschaft  bewirt- 
schaftet wurde;  Handwerker,  die  für  den  Herrenhof  arbeiteten,  auch  wohl 
Kaufleute,  wo  der  Verkehr  besonders  lebhaft  war.  Ueber  die  einzelnen 
Gruppen  dieser  unfreien  Leute  waren  eigene  Vorsteher  gesetzt,  welche  in 
grossen  Frohnhöfen  selbst  wieder  eine  stattliche  Schar  ausmachen 
konnten. 

In  der  Begrenzung  auf  den  gemeinsamen  Wohnplatz  musste  die 
Gemeinschaft  des  Rechtes,  welche  alle  diese  Bevölkerungselemente  umschlang, 
unzweifelhaft  auch  einen  gewissen  Gemeinsinn,  ein  gleichmässiges  Gefühl 
der  Anhänglichkeit  an  den  Ort  erzeugen,  an  dem  alle  diese  Leute  zusammen 
lebten    und  wirkten,    gemeinsam    gute    und  schlechte  Tage  ertrugen.     Und 


552  Inama-Sternegg. 

gerade  die  Angelegenheiten  des  öffentlichen  Lebens,  die  ja  immer  in  eigen- 
thümlicher  Projection  zu  Angelegenheiten  der  Gemeinde  werden,  haben,  wie  zu 
aller  Zeit,  ihre  Behandlung  zunächst  aus  dem  Gesichtswinkel  dieser  örtlichen 
Gemeinschaft  gefunden. 

Aber  nicht  nur  diese  durch  den  Hofverband  erzeugte  örtliche  Gemein- 
schaft war  dem  Aufkommen  eines  Gefühls  und  eines  Bedürfnisses  der 
Zusammengehörigkeit  förderlich;  auch  das  Hofrecht  selbst  hat  mit  seiner 
den  gesammten  Rechtskreis  dieser  Bevölkerung  umfassenden  Wirksamkeit 
tiefe  Linien  in  die  Volksseele  eingegraben,  welche  zu  festen  Geleisen  für 
die  Weiterführung  der  Gedanken  einer  öffentlichen  Ordnung  volkreicher 
Orte  werden  konnten.  In  dem  Bauding  des  Hofrechts,  auf  welchem  die 
kleinen  Händel  des  geschäftlichen  Verkehrs  wie  die  Ordnung  der  täglichen 
Angelegenheiten,  der  persönlichen  Sicherheit  und  des  Familienrechtes,  des 
Grundbesitzes  und  der  Allmendebenutzung  verhandelt  wurden,  standen  die 
Genossen  des  Hofrechtes  als  Rechtsweiser  und  ürtheilsfinder  gleichwertig 
bei  einander;  in  den  Hofämtern  des  Kämmerers,  Marschalls,  Schenken  und 
Truchsess.  oder  wie  sonst  die  Gliederung  der  Ministerien  beschaffen  war, 
fand  sich  die  hofhörige  Bevölkerung  eingegliedert  und  zum  täglichen  Dienst 
verbunden  und  es  wird  der  Einfluss  nicht  leicht  überschätzt  werden  können, 
der  von  der  Gewöhnung  an  diese  Organisationsformen  des  täglichen  Lebens 
auf  die  ganze  Denkweise  und  Anschauung  der  Bevölkerung  ausgieng.  Auch 
ist  es  fast  selbstverständlich,  dass  die  Lösung  neuer  Aufgaben,  welche 
mit  den  Anfängen  städtischen  Lebens  gerade  auch  an  den  Sitzen  solcher 
Frohnhofsverwaltungen  gestellt  wurde,  zunächst  im  Rahmen  und  in  den 
Formen  schon  bestehender  Institutionen  versucht  wurde  und  neue  Organisations- 
formen erst  dann  aufgesucht  wurden,  wenn  die  vorhandenen  sich  hiefür  als 
ganz  ungeeignet  erwiesen  oder  von  der  Bevölkerung  im  Geiste  zielbewusster 
Reformen  zurückgewiesen  wurden. 

In  dieser  doppelten  Hinsicht  also,  durch  die  Gemeinsamseit  des 
Aufenthaltes  wie  durch  die  Theilnahme  an  gemeinschaftlichen  Institutionen, 
welche  schon  auf  eine  Ordnung  des  öffentlichen  Lebens  an  volkreichen 
Orten  berechnet  waren,  ist  in  der  Hof  Verfassung  ein  socialer  Kitt  vorhanden 
gewesen,  der  für  die  Bildung  städtischer  Gemeinwesen  von  Bedeutung 
werden  konnte.  Eine  Ableitung  der  städtischen  Verfassungsformen  aus  der 
Hofverfassung  wird  sich  niclit  behaupten  lassen,  höchstens  dass  in  Städten, 
welche  einem  starken  Einflüsse  des  grundherrlichen  Elementes  ausgesetzt 
waren,  von  einer  ursprünglichen  Anlehnung  die  Rede  sein  kann.  Eine  Ent- 
wickelurg  der  socialen  Ordnung  der  Stadt  aus  den  ständischen  Verhältnissen 
des  Frohnhofs  ist  ebenso  wenig  vorhanden,  denn  immer  ist  die  Frohnhofs- 
bevölkerung  nur  ein  Lheil,  und  wohl  alsbald  nur  ein  kleiner  Theil  der 
städtischen  Bevölkerung. 

Wenn  wir  nichtsdestoweniger  an  der  Ansicht  festhalten,  dass  der 
Hofverfassung  eine  wichtige  Stelle  in  der  Entwickelungsgescliiclite  der  Städte 
zufällt,  so  ist  das  nur  eine  Anerkennung  der  unleugbaren  Tliatsache,  dass 
an     demselben    Wohnplatze,    an    densell)en    socialen    und    Avirtschaftlichen 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Stiidteweseiis.  553 

Interessen,  uie  sie  eben  eine  Stadt  darstellte,  in  der  Reo-el  eine  hofhörige 
Bevölkerung  in  festgefügten  Formen  des  öffentlichen  Lebens  mit  anderen 
Bevölkerungselementen  theilnalim  und  dass  überall  eine  bestehende,  alt- 
eingelebte  Ordnung  der  Dinge  sich  einer  werdenden  Ordnung  der  Ver- 
liältnisse  gegenüber  in  einem  gewissen  Vortheil  befindet;  umsomehr  natürlich 
dann,  wenn,  was  doch  in  den  Anfängen  des  deutschen  Städtewesens  die 
Regel  bildet,  ein  Frohnhofsherr  zugleich  Stadtherr  ist  und  daher  mit  dem 
Willen  auch  die  Macht  verbindet,  an  den  gewohnten  Formen  der  Organisation 
festzuhalten. 

Die  Position  des  Frohnhofsherrn,  welcher  als  Herr  des  Stadtgrundes 
zugleich  Stadtherr  wurde,  ist  nun  überdies  noch  durch  die  Verleihung 
der  Grafschaftsrechte  an  diesem  Territorium  mittelst  der  sogenannten 
Ottonischen  Privilegien  in  einer  Weise  gestärkt  worden,  welche  es  wohl  recht- 
fertigt, auch  hierin  ein  für  die  Verfassungsentwickelung  der  deutschen  Städte 
wichtiges  Element  zu  erblicken.  Auch  dieser  Auffassung  ist  zuweilen  eine 
missverständliche  Deutung  gegeben  worden;  um  so  wichtiger  scheint  es, 
diejenigen  Gesichtspunkte  kurz  hervorzukehren,  unter  welchen  der  Zu- 
sammenhang dieser  beiden  Dinge  im  richtigen  Lichte  erscheinen  kann. 

Auf  dem  Boden  des  Grundherrn,  der  bestimmt  war  das  Stadtgebiet 
zu  bilden,  umsomehr  natürlich  in  Städten,  die  nicht  auf  solch  grundherr- 
schaftlichem Gebiete  angelegt  waren,  hatte  sich  im  Laufe  der  Zeit  eine 
Reihe  von  Bevölkerungselementen  angesiedelt,  welche  nicht  hofhörig  oder 
grundhörig  waren,  sondern  ihren  persönlichen  Gerichtsstand  vor  dem  Grafen 
hatten  und  nicht  unter  dem  Hofrechte  sondern  unter  dem  Landrechte  lebten; 
freie  Grundbesitzer,  welche  da  den  Standort  ihrer  Gutsverwaltung  hatten, 
Handwerker,  Kaufleute,  Censiten  der  verschiedensten  Art,  aber  auch  Beamte 
fremder  Grundherren,  Geistliche  und  Laien  und  manch  lediges  Volk. 

Schon  frühzeitig  ist  nun  zu  Gunsten  der  Bischöfe  der  Anfang  einer 
Ausdehnung  der  in  der  Immunität  liegenden  Gewalt  über  die  eigenen 
Besitzungen  und  die  auf  ihnen  sesshaften  oder  sonst  abhängigen  Leute 
hinaus  gemacht  (Waitz);  durch  die  sogenannten  ottonischen  Privilegien  ist 
dann  in  der  That  in  vielen  Bischofsstädten  die  volle  Gerichtsbarkeit  über 
alle  Bewohner  auf  die  geistlichen  Stifter  übergegangen.  Zwar  ist  damit 
allein  keineswegs  eine  Verschmelzung  von  Hofgericht  und  Landgericht  ein- 
getreten, der  Gerichtsstand  der  verschiedenen  Personenclassen  zunächst 
nicht  geändert.  Nur  dass  in  derselben  Hand  die  grundherrlichen  und  die 
Grafschaftsrechte  vereinigt,  die  hofhörigen  und  die  sonstigen  Einwohner 
eines  solchen  erweiterten  Herrschaftsgebietes  demselben  Herrn  unterworfen 
wurden.  Insbesondere  in  den  der  bischöflichen  Herrschaft  unterliegenden 
Städten  war  dieser  Process  der  Consolidierung  der  öffentlichen  Gewalt  doch 
nicht  ohne  tiefere  Bedeutung;  ward  hier  einmal  der  Bischof  Gerichtsherr 
auch  über  diejenigen,  welche  nicht  zu  seinem  Hofrechte  gehörten,  so  konnte 
dieses  Verhältnis  doch  leicht  auch  ein  einheitliches  socialpolitisches  Bewusst- 
sein  erzeugen,  umsomehr  als  diese  Einheit  in  allen  Zweigen  der  öffentlichen 
Verwaltung  auch  die  wirtschaftlichen  Beziehungen  der  Städter  ungleich  inniger 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft.  Socialpolitik  und  Verwaltung.  IV.  Hfft.  gß 


554  Inama-Sternegg. 

ZU  gestalten  geeignet  war.  Gieng  ja  doch  die  ganze  sociale  Entwictelung  der 
Stadt  dahin,  die  Unterschiede  des  alten  Personenstandes  mehr  und  melir 
zu  vernachlässigen  und  dagegen  die  Gleichartigkeit  der  socialen  und  ökono- 
mischen Existenzbedingungen,  wie  sie  die  Stadt  bot,  zum  Ausgangspunkte 
eines  einheitlichen  Stadtbürgerthums  zu  nehmen. 

Die  ottonischen  Privilegien  waren  weit  davon  entfernt,  einen  directen 
organisatorischen  Einfluss  auf  die  Stadtverfassung  auszuüben  oder  gar  diese 
selbst  zu  schaffen;  aber  mittelbar  ist  die  neue  Gestaltung,  welche  sie  der 
öffentlichen  Gewalt  in  den  Bischofsstädten  gaben,  doch  auch  für  die  Ent- 
wickelung  der  Stadtverfassung  und  des  Stadtbürgerthums  besonders  in  ihren 
Anfängen  belangreich  geworden. 

Auch  die  Ministerialen,  welche  innerhalb  des  Bereiches  städtischer 
Wirtschaft  wohnten  und  wirkten,  hatten  ihre  eigene  Organisation  und  damit 
einen  gemeinsamen  Kechtsboden,  von  dem  aus  sie  auf  die  Gestaltung  der 
öffentlichen  Ordnung  in  den  Städten  einen  gewissen  Einfluss  nehmen  konnten. 
Theils  war  das  in  ihrem  ständischen  Sonderrechte,  dem  Dienstmannsrecht 
begi'ündet,  das  sie  genossenschaftlich  verband  und  ihnen  das  Genossen- 
gericht unter  dem  Vorsitze  ihres  Herrn  sicherte;  theils  war  die  Dienst- 
kriegsverfassung, welclie  die  zum  Heeresdienste  verpflichtete  Dienstmann- 
schaft militärisch  organisierte,  der  Kitt,  der  auch  für  die  übrigen  Lebens- 
verhältnisse den  Dienstmannen  ein  wirksames  Bindemittel  wurde;  theils 
endlich  ist  in  den  besonderen  Kechtsverhältnissen  der  Burghut  eine  engere 
Verbindung  der  Ministerialen  in  den  Burgstädten  geschaffen  w^orden.  Ein 
solcher  standesmässiger  Zusammenschluss  der  Ministerialität  musste  aller- 
dings erheblich  zur  Stärkung  der  socialen  Position  der  Ministerialen  beitragen, 
und,  insoferne  sie  überhaupt  in  der  Stadt  in  grösserer  Zahl  vorhanden 
waren,  konnte  daraus  auch  für  die  Organisation  des  öffentlichen  Lebens  in 
den  Städten  ein  wirksamer  Einfluss  erwachsen.  Speciell  in  den  Städten,  in 
welchen  die  Leitung  der  öffentlichen  Angelegenheiten  im  Auftrage  des 
Stadtherrn  von  den  Ministerialen  geübt  wurde,  lag  es  nahe,  dass  die  specielle 
Organisation  der  Ministerialen  auch  auf  die  Ausbildung  der  Organe  der 
städtischen  Verwaltung  und  auf  deren  Wirksamkeit  zurückwirkte.  Waren  doch 
die  Burggrafen,  die  obersten  Verwaltungsbeamten  der  Stadt,  immer,  selbst 
die  Schultheissen  sehr  oft  aus  den  Ministerialen  genommen  und  ebenso 
bildet  es  in  der  älteren  Zeit  die  Kegel,  dass  die  Vorsteher  der  Zünfte,  gleich 
den  Meistern  der  hofhörigen  Handwerker,  dem  Kreise  des  ministerialen 
Beamtenthums  entnommen  waren.  Auch  die  sonstigen  Aemter  der  städtischen 
Verwaltung  waren  in  den  Händen  der  Ministerialen:  der  Zöllner,  der  Münzer, 
so  dass  es  kaum  anders  möglich  war,  als  dass  auch  in  den  Stadtrechten  und 
in  der  Verwaltungsordnung  der  Stadt  den  Interessen  und  Bestrebungen  der 
Ministerialität  weithin  Kechnung  getragen  wurde. 

Freilich  gab  es  daneben  auch  eine  Reihe  von  Städtegründungen,  bei 
welchen  die  Ministerialen  ihre  Hand  nicht  im  Spiele  hatten,  und  Stadtrechte, 
welche  gewiss  nicht  unter  ihrem  Einflüsse  concipiert  sind.  Auch  in  den 
alten   Heichs-  und   Bischofsstädten    ist   der   Einfluss  der  Ministerialität  auf 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  555 

die  Stadtverfassung  ein  sehr  verschiedener;  in  Strassburg  und  Basel  ist 
unter  ihrer  Obhut  die  Selbstverwaltung  der  Stadt  erwachsen,  hier  haben 
sie  bei  der  Zusammensetzung  des  Käthes  ihre  Stellung  gewahrt,  hier  haben 
sie  sogar  dem  ganzen  herrschenden  Patriciat  seine  Farbe  gegeben  (Gotheim); 
anderseits  lässt  sich  in  Konstanz  und  Köln  ein  Einfluss  der  Ministerialität 
auf  die  Ausgestaltung  der  städtischen  Verwaltung  nicht  nachweisen. 

Auch  die  kirchlichen  Institutionen  enthalten  schon  frühzeitig 
Ansätze  zu  einer  Organisation  des  städtischen  Lebens,  welche  keineswegs 
ganz  bedeutungslos  für  die  wirkliche  Ausgestaltung  der  städtischen  Ver- 
fassungen geblieben  sind.  Vor  allem  sind  schon  die  Beziehungen,  in  welche 
frühzeitig  die  Kirchspiele  (Parochien)  mit  den  Dorfgemeinden  gesetzt 
wurden,  vielfach  Veranlassung  zu  einer  Vermischung  dieser  beiden  Arten 
von  Gemeinden  geworden.  Die  Vertretung  der  Marktgemeinde  ist  zugleich 
die  Vertretung  des  Laienelementes  in  der  Pfan-gemeinde ;  die  Genossen  der 
einen  fühlen  sich  zugleich  als  Genossen  der  anderen,  und  die  wenn  auch 
aus  ganz  verschiedenem  Boden  erwachsenen  Competenzen  gehen  leicht  in 
einander  über.  So  entwickelt  sich  gleichsam  aus  doppelter  Wurzel  ein  ein- 
heitliches Gemeindebürgerthum,  das  um  so  bedeutsamer  wurde,  je  mehr  in 
der  Parochie  das  persönliche  Moment  gegenüber  dem  in  der  Marktgemeinde 
vorwiegend  geltenden  Momente  des  Realbesitzes  betont  wurde.  xAllerdings 
fielen  die  Grenzen  der  Pfarrsprengel  keineswegs  immer  mit  den  Grenzen  der 
Marktgemeinde  zusammen;  aber  soferne  diese  Uebereinstimmung  bestand, 
ist  sie  doch  zugleich  eine  kräftig  wirkende  Ursache  der  Verstärkung  des 
Gemeindebewusstseins  und  des  Gemeindezusammenhaltes  für  die  ganze 
Bevölkerung  geworden. 

Auch  innerhalb  der  Städte  spielen  die  Pfarrsprengel  nicht  selten  eine  be- 
deutsame Bolle  für  die  Ordnung  des  öffentlichen  Lebens.  In  Köln  ist  die  älteste 
Stadteinth eilung  geradezu  durch  die  7  Parochien  gebildet.  In  Hamburg  sind 
die  4  Kirchspiele  lange  Zeit  hindurch  wenigstens  bei  allen  wichtigen 
Rathsverhandlungen  besonders  vertreten.  In  Mainz  haben  sich  die  Pfarr- 
sprengel noch  im  15.  Jahrhundert  auch  für  das  städtische  Regiment  als 
massgebend  erhalten.  In  Worms  ist  die  alte  Eintheilung  der  Stadt  in 
4  Parochien  auch  für  weltliche  Zwecke  benutzt.  Auch  in  Speier,  Basel, 
Augsburg  und  anderen  Städten  sind  Symptome  vorhanden,  dass  die  Pfarreien 
weltlichen  Gemeinden  (Specialgemeinden  in  der  Stadt)  entsprochen  haben. 
Hatte  doch  in  Augsburg  jede  Pfarre  ihren  eigenen  Hirten;  zog  aber  ein 
Bürger  aus  zwingender  Noth  in  einen  anderen  Pfarrsprengel,  so  durfte  er 
den  bereits  entrichteten  Hirtenlohn  dem  neuen  Hirten  in  Abrechnung 
bringen,  was  doch  nur  bei  einheitlicher  Ordnung  des  Weidewesens  möglich 
war.  Zuweilen  hat  auch  der  Umstand,  dass  die  Marktgemeinde  zugleich 
Stifter  und  Patron  der  Pfarrkirche  gewesen  ist,  darauf  eingewirkt,  die 
Beziehungen  zwischen  der  weltlichen  und  der  kirchlichen  Gemeinde  besonders 
innig  zu  gestalten. 

Das  wichtigste  Beispiel  von  der  Bedeutung  der  Kirchspiele  für  das  öffent- 
liche Leben  in  der  Stadt  bleibt  aber  immerhin  Köln.  Jede  ihrer  Parochien  hatte 

36* 


^^(5  Inania -Sternegg. 

eine  eigene  verwaltende  Behörde,  ein  eigenes  Gemeindereclit,  einen  besondern 
Erwerbsact  für  die  Mitglieder  des  Kirchspiels,  ein  eigenes  Ding-  und  Yer- 
sammlungshans  und  eine  eigene  Schatz-  und  Urkundenlade  (Schrein),  in 
welcher  die  auf  Immobilienerwerb  sich  beziehenden  Urkunden  hinterlegt 
wurden  (Gengier).  Die  noch  unvollendete  Ausgabe  der  Kölner  Schreinsacteu 
von  Höniger  ist  ein  überzeugender  Beweis  von  der  grossen  Tragweite  dieser 
Institution  für  die  ganze  Ordnung  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  in  dieser  Stadt. 

Von  besonderem  Belange  für  die  Gestaltung  des  Verkehrsrechtes  und  der 
Wirtschaftsordnung  in  den  Städten  wurde  die  Straf-  und  Rügegerichtsbarkeit 
der  Kirche.  Schon  frühzeitig  hatten  die  Bussordnungen  (Pönitentialbücher) 
der  Kirche  Handel  und  Wandel  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Sündhaftigkeit 
in  den  Bereich  ihrer  Anordnungen  gezogen  und  auf  den  Senclgerichten 
(Synoden)  wurde  über  Meinkauf  (Unredlichkeit  im  Verkehr)  im  weitesten 
Sinne  abgeurtheilt.  Die  Sendschöffen,  welche  das  Laienelement  bei  diesen 
Gerichten  bildeten  und  die  Heimburgen  (Orts Vorsteher),  welche  den  Send 
regelmässig  als  Rüger  besuchten,  waren  naturgemäss  Vermittler  der 
kirchlichen  und  der  weltlichen  Anschauungen  über  die  Zulässigkeit  der  ein- 
zelnen Verkehrsformen  und  Einrichtungen.  In  den  Städten  zogen  die  Send- 
gerichte insbesondere  auch  Fabrication  und  Handel  vor  ihr  Forum.  Es  gibt 
Sendweisthümer,  welche  sich  mit  der  Ordnung  der  Tuchbereitung,  der 
Maass-  und  Gewichtscontrole,  mit  den  Preisen  der  Kaufmannsgüter  sehr 
eingehend  befassen;  ja  bei  der  ConcuiTenz  der  weltlichen  und  der  geistlichen 
Gerichte  auf  diesem  Gebiete  der  Jurisdiction  darf  es  gar  nicht  Wunder 
nehmen,  wenn  die  Wirksamkeit  der  Sendgerichte  zuweilen  geradezu 
bestimmend  für  die  Gestaltung  der  Verkehrsfomen  und  der  Gewerbepolizei 
wurde,  ohne  dass  man  jedoch  wird  sagen  können,  dass  ein  grosser  Theil 
des  späteren  Gewerbe-  und  Zunftrechtes  geradezu  aus  den  Bussordnungen 
hervorgegangen  sei  (Schmoller).  Mithin  bedeutete  diese  kirchliche  Gerichts- 
barkeit viel  für  die  Ausbildung  gleichmässiger  Anschauungen  über  das 
Verkehrsleben  wie  der  kirchliche  Gemeindeverband  überhaupt  für  die  Aus- 
bildung eines  Gemeinbewusstseins  und  einer  gemeinnützigen  Wirksamkeit 
im  Geiste  der  Selbstverwaltung  öffentlicher  Angelegenheiten. 

Mit  besonderem  Nachdrucke  ist  neuestens  wieder  die  Ansicht,  welche 
schon  vor  mehr  als  einem  Menschenalter  Maurer  vertreten  hatte,  wenn  auch 
in  modificierter  Form  vertlieidigt  worden,  dass  der  Ursprung  der  Stadtge- 
meindeverfassung in  der  Landgemein  de  Verfassung  zu  sehen  sei,  welche 
nur  unter  dem  besonderen  Einflüsse  städtischer  Lebensverhältnisse  eine 
Umbildung  erfahren  habe  (v.  Below). 

Insoferne  damit  nichts  anderes  gesagt  sein  soll,  als  dass  die  Grund- 
linien der  jungen  städtischen  Verfassung  an  die  bereits  vorhandenen  realen 
Verhältnisse  der  Landgemeinden  anschlössen,  aus  denen  die  Städte  hervor- 
giengen,  trifft  diese  Ansicht  auch  gewiss  in  der  Melirzahl  der  Fälle  zu.  Auch 
die  Landgemeinden  hatten  in  der  Zeit  der  Entstehung  des  deutschen  Städte- 
wesens in  der  Regel  einen  Gemeindeherrn,  der  für  die  Verwaltung  der 
öffentlichen  Ano-elegenheiten  durcli  seine  Beamten,  den  Sclmltheiss  oder  den 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  557 

Meier,  Vorsorge  getroffen  hatte,  wie  anderseits  die  Vogteireclite  über  die 
Landbevölkerung  zunächst  auch  in  den  jungen  Städten  in  unverändeter 
Form  weiter  bestanden.  Audi  in  den  Landgemeinden  sind  die  Herrschafts- 
rechte schon  beschränkt  durch  die  Mitwirkung  der  Gemeindegenossen  im 
Bauding,  ebenso  wie  ja  auch  im  Land-  und  Hofgericht  die  Schöffen  aus 
ihrer  Mitte  genommen  sind.  Die  Competenz  freilich  der  autonomen  Gemeinde 
ist  ausserordentlich  verschieden  je  nach  der  concreten  Gestaltung  der 
Herrschafts-  und  Grundbesitzverhältnisse.  Wie  es  gewiss  in  jener  Zeit 
Gemeinden  gegeben  hat,  welche  sich  einer  sehr  weitgehenden  Selbständig- 
keit in  Bezug  auf  die  Verwaltung  ihrer  Allmende,  Aufnahme  in  die  Gemeinde, 
Polizei  und  Gericht  zu  erfreuen  hatten,  so  waren  doch  anderseits  auch 
weithin  Verhältnisse  ausgebildet,  welche  von  alledem  kaum  schwache 
Spuren  aufzuweisen  hatten.  Wie  aber  von  einer  einheitlichen  Gestaltung 
der  landgemeindlichen  Autonomie  keine  Eede  ist,  ebenso  wenig  kann  an 
einen  überall  in  gleicher  Weise  wirksamen  Einfluss  der  bestehenden  land- 
gemeindlichen Institutionen  auf  die  Gestaltung  der  städtischen  Verfassung 
und  der  socialen  Ordnung  in  den  Städten  die  Eede  sein.  Dazu  kommt  ins- 
besondere noch  in  sehr  maassgebender  Weise  der  Umstand  in  Betracht, 
dass  bei  der  Doppelstellung,  welche  der  Grundherr  zugleich  als  Gemeinde- 
herr einnahm,  die  Functionen  des  Gemeindevorstehers  und  des  grundherr- 
lichen Verwalters  (Meier)  ebenso  wie  das  Bauding  mit  dem  Hofgericht  leicht 
mit  einander  verschmolzen  und  damit  die  selbständige  Existenz  der  Gemeinde 
in  den  wichtigsten  Angelegenheiten  äusserlich  wenigstens  ganz  aufliören  konnte. 
Gerade  diejenigen  Factoren  aber,  welche  die  Städte  zu  dem  gemacht 
liaben,  was  sie  in  verhältnismässig  kurzer  Zeit  geworden  sind,  die  Ordnung 
des  Gewerbewesens  und  des  Markt  Verkehrs,  lagen  gänzlich  ausserhalb  des 
Bereichs  der  althergebrachten  communalen  Wirksamkeit  auf  dem  platten 
Lande.  Die  Frage,  aus  welchen  Ursachen  das  deutsche  Städtewesen  ent- 
standen ist,  kann  überhaupt  mit  dem  Hinweis  auf  die  Landgemeinde,  als 
organisatorisches  Vorbild  der  Stadt,  nicht  beantwortet  werden.  Aber  auch 
die  enger  begrenzte  Frage  nach  den  Ursachen,  aus  welchen  die  Stadtver- 
fassung ihre  charakteristischen  Formen  im  Gegensatze  zur  Landgemeinde- 
Verfassung  angenommen  habe,  findet  in  dem  Hinweis  auf  diese  selbst- 
verständlich keine  Antwort.  Dass  aber  in  der  Landgemeinde  eine  Form 
der  localen  Selbstverwaltung  bestand,  welche  unter  den  besonders  gün- 
stigen Umständen,  wie  sie  das  rasch  aufblühende  wirtschaftliche  Leben  der 
Städte  und  die  wesentlich  fördernde  sociale  Gliederung  der  Bevölkerung 
erzeugte,  geeignet  war,  sich  auch  grösseren  Aufgaben  entsprechend  auszu- 
weiten und  umzubilden,  daran  mag  nicht  gezweifelt  werden.  Auch  die  sehr 
beschränkte  autonome  Verwaltung,  welche  die  Landgemeinde  im  allgemeinen 
im  12.  .Jahrhunderte  aufzuweisen  hat,  mag  in  gewissem  Sinne  als  eine 
brauchbare  Vorschule  angesehen  werden,  welche  die  Bevölkerung  zur  Hand- 
liabuiig  der  erweiterten  Competenz  ihrer  Selbstverwaltung  erzogen  hat,  und  der 
Allmendebesitz  übte  auch  in  der  zur  Stadt  herangewachsenen  Landgemeinde 
nach  wie  vor  seine  bindende  und  verbindende  Wirksamkeit  aus  und  erhöhte 


558 

das  Gemeindebewusstsein  wie  er  die  materielle  Existenz  der  Gemeinde  zu 
kräftigen  bestimmt  war. 

Besonders  beachtenswert  für  diese  Frage  ist  der  Umstand,  dass  sehr 
viele  Städte  durch  Vereinigung  mehrerer  Landgemeinden  gebildet  sind,  welche 
auch  noch  innerhalb  der  Stadt  eine  selbständige  communale  Existenz  weiter- 
geführt haben  (Köln,  Dortmund,  Soest). 

Die  Einheit  der  städtischen  Verwaltung  beruht  hier  durchaus  auf  der 
Stadtherrschaft,  welche  Kichter  und  Schöffen  einsetzt,  die  städtische  Verwaltung 
leitet  und  die  Finanzen  der  Stadt  als  ihre  eigene  Angelegenheit  betrachtet. 

Mit  der  Erweiterung  des  Stadtgebietes  durch  Einbeziehung  von  Bauer- 
schaften erweitert  sich  zugleich  die  Befugnis  dieser  Centralgewalt,  während 
die  kleinen  communalen  Verbände  mit  der  Ausdehnung  und  Vervielfältigung 
der  öffentlichen  Angelegenheiten  keineswegs  eine  Erweiterung  ihrer  Com- 
petenz  erfahren,  sich  vielmehr  auf  einen  immer  unbedeutenderen  Wirkungs- 
kreis zurückgedrängt  sehen.  Nur  durch  ihre  Vorsteher  hatten  sie  muth- 
maasslich  eine  gewisse  Vertretung  in  dem  Rathe  der  Stadtverwaltung, 
womit  für  solche  Städte  ein  föderalistisches  Element  gegeben  war,  ohne 
jedoch  auf  die  einheitliche  Fortbildung  der  städtischen  Verfassung  einzu- 
wirken. Auch  durch  die  allmälige  erwachsende  städtische  Autonomie  sind 
diese  Verhältnisse  nicht  geändert  worden;  der  Stadtrath,  die  Gilden,  oder 
wer  immer  das  Stadtregiment  in  die  Hand  bekam,  verhielt  sich  den  Sonder- 
gemeinden in  der  Stadt  gegenüber  ebenso  wie  es  früher  der  Stadtherr 
gethan  und  mit  der  Vollendung  des  Baues  einer  autonomen  Bürger- 
gemeinde endet  in  der  Regel  auch  die  Existenz  der  Sondergemeinden. 

VI. 

Eigenthümliche  Schwierigkeiten  stellen  sich  der  Beantwortung  der  Frage 
entgegen,  was  die  handel-  und  gewerbetreibenden  Classen  der 
Stadtbevölkerung  zur  Ausbildung  der  städtischen  Organisation,  zur  Ent- 
wickelung  der  specifischen  Elemente  der  Stadtverfassung  beigetragen  haben. 
Nicht  um  das  handelt  es  sich  hiebei,  was  diese  für  das  Erwerbsleben  der 
Stadt  hervorragend  wichtigen  Classen  an  wirtschaftlichen  Leistungen  auf- 
zuweisen haben;  für  das  Problem  der  Entstehung  des  deutschen  Städte- 
wesens kommt  an  dieser  Stelle  vielmehr  der  Antheil  in  Betracht,  welchen 
diese  Erwerbsclassen  vermöge  der  eigenen  Organisation  ihrer  Berufsinteressen 
an  der  Entwickelung  des  städtischen  Gemeinwesens  im  ganzen  genommen 
haben.  Die  Städtegeschichte  hat  auf  diesem  Punkte  lange  Zeit  und  in 
besonders  nachdrücklicher  Weise  mit  der  Vorstellung  eines  weitverbreiteten 
tiefgi'eifenden  Gildeverbandes  gearbeitet,  welcher  bald  die  Kaufleute  oder 
die  Gewerbetreibenden  für  sich,  bald  beide  gemeinsam  zu  einem  Schutz- 
und  Trutzbündnis  gegen  den  Stadtherrn  verbunden  haben  soll.  In  diesen 
Gilden  soll  ein  Gemeingeist,  ein  specifisches  Stadtbürgerbewusstsein 
grossgezogen  worden  sein,  die  sich  ebenso  gegen  die  bestehende  ständische 
Ordnung,  wie  gegen  die  Machtstellung  des  Stadtherrn  und  seine  Einmischung 
n  die  inneren  Angelegenheiten  der  städtischen  Verwaltung  kehrten;  in  den 


lieber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  559 

Formen  der  Autonomie,  welche  sich  diese  Gilden  selbst  gegeben,  seien  die 
Grundlinien  der  späteren  Stadtverfassung  zu  erblicken;  mit  ihnen  sei  es 
den  Gilden  gelungen,  ihre  eigene  Verfassung  an  die  Stelle  der  anfäng- 
lichen herrschaftlichen  Ordnung  der  Dinge  zu  setzen,  ja  bei  neugegründeten 
Städten  sogar  gleich  anfangs  das  Stadtregiment  zu  übernehmen. 

Die  wohlbegründeten  Nachrichten  über  das  Gildenwesen  sind  aus  der 
älteren  Zeit  sehr  spärlich;  besonders  seit  man  mit  Recht  die  verschiedenen 
Andeutungen  der  Quellen  einer  sorgfältigen  kritischen  Würdigung  unterzogen 
hat,  ist  mancher  Anhaltspunkt  wieder  hinweggefallen,  den  die  ältere  Forschung 
unbedenklich  für  ihre  Anschauung  verwenden  zu  dürfen  geglaubt  hat. 
Trotzdem  ist  an  der  Thatsache  nicht  zu  zweifeln,  dass  insbesondere  im 
12.  Jahrhundert  eine  mächtige  gährende  Bewegung  durch  die  Städte  gieng, 
Avelche  ihren  Ausdruck  in  Schwurgenossenschaften  und  ähnlichen  Verbin- 
dungen der  Bürger,  ihren  Zielpunkt  in  der  Emancipation  von  der  Gewalt 
des  Stadtherrn  gehabt  hat.  lieber  die  Formen  und  organisatorischen  Ein- 
richtungen allgemeiner  Schwurgenossenschaften,  welche  etwa  die  ganze 
Bürgerschaft  verbunden  haben,  sind  wir  aus  deutschen  Städten  gar  nicht 
unterrichtet;  dass  sie  der  öffentlichen  Gewalt  durchaus  nicht  unbedenklich 
erschienen,  ist  besonders  aus  dem  strengen  und  nachdrücklich  festgehaltenen 
Verhalten  der  Reiohsregierung  gegen  sie  zu  ersehen;  nachdem  im  12.  Jahr- 
hunderte bereits  mehrere  Verbote  der  Kaiser  gegen  die  coniurationes 
ergangen  waren,  wurde  unter  Friedrich  1.  sogar  ein  Spruch  des  allgemeinen 
Fürstengerichts  provociert,  der  sie  neuerdings  verbot  und  in  Trier  das 
bürgerfreundliche  Verhalten  des  Pfalzgrafen,  der  zugleich  Obervogt  der 
Kirche  war,  desavouiert.  Lässt  sich  daraus  auch  vielleicht  entnehmen,  dass 
die  durch  solche  Schwurgenossenschaften  erzeugte  und  genährte  Bewegung 
doch  nicht  rein  revulutionäre,  sondern  nur  reformatorische,  wenngleich  den 
Interessen  der  herrschenden  Kreise  widerstrebende  Tendenzen  verfolgte,  so 
sind  wir  gleichwohl,  bei  dem  Mangel  einer  genaueren  Einsicht  in  diese 
Verhältnisse  ausser  Stande,  in  diesen  allgemeinen  Schwurgenossenschaften 
Ansätze  zum  Aufbau  der  Stadtverfassung  zu  erblicken. 

Ungleich  deutlicher  erkennbar  sind  schon  die  Grundzüge  der  eigent- 
lichen Gilden,  welche  insbesondere  die  Kaufleute  in  verschiedenen  Städten 
verbanden,  wobei  es  allerdings  eine  offene  Frage  bleibt,  ob  sie  nicht  selbst 
mit  den  nur  in  unbestimmten  Umrissen  geschilderten  Schwurgenossenschaften 
in  einer  inneren  Beziehung  stehen.  Dass  sich  unter  den  Kaufleuten  schon 
frühzeitig  nicht  bloss  geschäftliche,  sondern  geradezu  Schutzverbindungen 
entwickelten,  darf  bei  der  Art  des  Grosshandelsbetriebes  im  früheren  Mittel- 
alter nicht  Wunder  nehmen.  Die  weiten  Handelsfahrten,  welche  die  Haupt- 
form des  grossen  Handelsbetriebes  ausmachten,  der  höchst  mangelhafte 
Landfriede,  die  Nothwendigkeit  eines  geschlossenen  corporativen  Auftretens 
in  der  Fremde  musste  wie  von  selbst  den  Gedanken  einer  festen  Verbindung 
der  Kaufleute  erzeugen,  der  ja  auch  in  den  Geschäften  der  handeltreibenden 
Völker  allenthalben  hervortritt.  Die  Art  und  Weise,  wie  den  Kaufleuten  in 
den  Stadtrechtsprivilegien  ihre  Rechte  umschrieben,  in  den  fremden  Märkten, 


560  In  am  a- Stern  egg. 

die  sie  besuchten,  Privilegien  eingeräumt  wurden,  weist  auf  einen  bestehenden 
Verband  derselben  auch  dann  hin,  wenn  davon  nicht  ausdrücklich  die  Rede 
ist.  Wenn  der  Hansgraf  von  Regensburg  im  12.  Jahrhunderte  an  der  Zoll- 
stätte zu  Enns  die  Schiffsladungen  untersucht  und  sonstige  obrigkeitliche 
Befugnisse  ausübt,  so  macht  solche  Anerkennung  seiner  Stellung  im 
fremden  Lande  ebenso  das  Vorhandensein  einer  corporativen  Einigung  der 
Regensburger  Kaufleute  nothwendig,  als  wie  die  Thatsache,  dass  die  Kauf- 
leute aus  Köln  in  London  ein  eigenes  Kaufhaus  hatten,  nicht  wohl  anders 
als  auf  eine  auch  in  der  Heimat  bestehende  kaufmännische  Genossenschaft 
gedeutet  werden  kann.  Von  der  Kölner  Kaufmannsgilde  ist  aber  auch 
sonst  die  Rede;  in  Magdeburg  ist  die  Gilde  der  Gewandschneider,  welche 
wohl  die  bedeutendste  Classe  der  Kaufleute  gebildet  haben,  zugleich  eine 
der  frühesten  Institutionen  dieser  Art.  In  Stendal  ist  die  Gilde  der  Gewand- 
schneider und  Kaufleute  ebenfalls  die  älteste,  wahrscheinlich  bald  nach  der 
Gründung  der  Stadt  und  nach  dem  Muster  von  Magdeburg  eingerichtet  und 
ebenso  wird  in  Bremen  die  Gewandschneidergilde  früher  als  andere  Innungen 
und  unter  Umständen  erwähnt,  welche  eine  sociale  Vorzugsstellung  ihrer 
Mitglieder  erkennen  lässt.  In  dem  Privilegium  Herzog  Leopolds  für  die 
Flandrenser  in  Wien  (1208)  ist  ihre  Genossenschaft  ausdrücklich  anerkannt, 
ihr  ein  eximierter  Gerichtsstand  und  eine  ausschliessliche  Befugnis  zur 
Ausübung  ihrer  besonderen  Handelsgeschäfte  zugesprochen,  so  dass  Niemand 
solche  betreiben  durfte,  der  nicht  in  ihre  Gemeinschaft  (consortium)  auf- 
genommen war  und  mit  ihnen  die  öffentlichen  Lasten  trug. 

Die  als  Gilden  organisierten  Vereinigungen  der  Kaufleute  hatten  nun 
wohl  überall  eine  gewisse  Selbständigkeit  in  der  Ordnung  ihrer  inneren 
Angelegenheiten  gegenüber  dem  Stadtherrn:  das  Recht  ihre  Vorsteher  selbst 
zu  wählen,  Satzungen  für  sich  zu  machen,  Vermögen  zu  erwerben;  ausser- 
dem räumten  ihnen  aber  die  Privilegien,  welche  den  Kaufleuten  schon 
frühzeitig  gegeben  wurden,  das  Recht  ein,  Nichtmitglieder  von  der  Kauf- 
mannschaft auszuschliessen  und  in  Handelssachen  selbst  Recht  zu  finden. 
Damit  aber  war  die  Gilde  nicht  nur  eine  sociale  Institution,  welche  ihren 
Mitgliedern  eine  wertvolle  Stütze  ihrer  wirtschaftlichen  Bestrebungen  bot 
und  einen  auch  für  die  Geltendmachung  politischer  Interessen  wichtigen 
Verband  darstellte,  sondern  sie  griff  auch  unmittelbar  in  das  öffentliche 
Leben  der  Stadt  ein;  für  die  Ordnung  von  Recht  und  Verwaltung  konnte 
sie  maassgebend  werden,  indem  sie  einen  Theil  der  öffentlichen  Gewalt  in 
ihre  Hände  bekam.  Inwieweit  das  wirklich  geschah,  lässt  sich  bei  der 
Wichtigkeit  der  Nachrichten  über  die  Kaufmannsgilde  allerdings  nicht 
angeben;  wohl  aber  sind  wir  berechtigt  anzunehmen,  dass  überall,  wo  eine 
Kaufmannsgilde  bestand,  sie  in  der  That  zu  einem  wichtigen  Factor  für 
die  Gestaltung  des  Stadtrechtes  wurde. 

Die  privilegierte  Stellung,  welche  den  Kaufleuten  allenthalben  in  dem 
jungen  städtischen  Gemeinwesen  eingeräumt  wurde  und  die  Exemtion  des 
Marktes,  seiner  Jurisdiction  und  Verwaltung  von  den  ordentlichen  Obrig- 
keiten, sind  die  beiden  Hauptursachen,  durch  welche  die  Genossenschaft  der 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  561 

Kaiifleiite    zu    einer   über    den    Kreis    ihrer    Mitglieder    hinaus    wirksamen 
Stellung  in  der  Stadt  gelangen  konnte.    Von  jener   war   bereits  früher  die 
Rede.  Der  Inhalt  des  Marktrechtes    muss    noch   in    seinen   hauptsächlichen 
Zügen  dargestellt  werden,  nicht   nur  weil    die    neueste    Literatur   über    die 
Entstehung  des  deutschen  Städtewesens  dessen    Wurzeln    geradezu    nur   im 
Marktrechte  erblicken  will,  sondern  auch,  weil  in  der  That  mit  dem  Markt- 
rechte   neue    Gedanken    und  neue    Einrichtungen   in    die  Entwickelung   des 
städtischen  Wesens  gekommen   sind.    Die    Organisation    eines    Marktes    ist 
überall  für  die   Bildung    einer   Stadt    ein    wesentlicher    Factor.    Wenn     es 
Märkte  gegeben  hat   in    Orten,    welche    nicht    zu    Städten    geworden    sind. 
(Badenweiler),  so  ändert  das  an    dem    Zusammenhang    zwischen  Markt  und 
Stadt   im    grossen    und    ganzen    ebenso    wenig,    als    wenn    vereinzelt    eine 
Stadt  nachzuweisen    ist,    welche    erst   später   zu    einem    Markt    gekommen 
(Meersburg):  in  beiden  Fällen  handelt  es  sich  eben  um  unfertige  Bildungen. 
Das  besondere  Marktrecht,    mit   dessen    Verleihung    vielfach    geradezu    die 
Stadtgründung  inauguriert  wird,  ist  nun    zunächst   nichts    anderes    als    die 
erweiterte    Anwendung    des    Königsschutzes,    welchei-    den    Kaufleuten    im 
deutschen  Reiche  schon  längst  als  wertvolles  Privilegium  verliehen  war.  Dieser 
Schutz,  der  nun  dem  ganzen  Marktverkehr  zutheil   und   von    ihm    auf  den 
Marktplatz  übertragen  wurde,   bedeutete    in    seiner   erweiterten    Anwendung 
die  theilweise  Exemtion  von  den  localen    Obrigkeiten   und    die  Begründung 
eines  eigenen  Gerichts  und  einer  eigenen  Verwaltung  in  Sachen  des  Marktes , 
bald  auch  des  Marktplatzes.     Es  ist   leicht   begreiflich,    dass  die  Kaufleute 
für  die  weitere  Entwickelung  dieser   besonderen   Institutionen    des  Marktes 
bald  von  durchgreifendem  Einfluss    werden    mussten.    Waren    sie    ja    doch 
eigens  gerufen,  um  den  Markt  zu  bilden  und    seinen   Verkehr   zu   beleben, 
als  Käufer  wie  als  Verkäufer,  Kls  VoiTathhalter  und  Capitalisten  der   wich- 
tigste Factor  des  Marktes,    an    einem    gesicherten    Verkehr,    guter    Markt- 
polizei,   rascher    und     fachlicher    Rechtsprechung     im     höchsten     Maasse 
interessiert,  und  dazu  in  der  Regel  wohl  unter  sich  genossenschaftlich  ver- 
bunden zur  gemeinsamen   Verfolgung   ihrer    Zwecke    wie    zu    gemeinsamer 
Abwehr  fremder   Einmischung   in    ihre    Angelegenheiten.    Wohl    kamen  die 
Institutionen  des  Marktes    allen    zugute,   die    daran    theilnahmen;    auch   die 
Handwerker,    welche   ihre    Waren    feilboten,    wie    die    vom    flachen    Lande 
kommenden  Landleute,  welche  den  Wochenmarkt  belebten,  hatten  denselben 
Marktfrieden  und  dieselbe  Freiheit.    Aber   an   der  Verwaltung   des   Marktes 
und  seines  Gerichts  hatten  sie  ebenso  wenig  theil  wie  an  seiner  Rechtsbildung; 
dazu  waren  allein  die  Kaufleute  berufen,  deren  Kreis   allerdings   bald  enger 
bald  weiter  gezogen  sein  mag,  je  nachdem  in  einer  Stadt  die  aristokratisch 
abschliessenden  Tendenzen  der  eigentlichen  Grosshändler  mehr  oder  weniger 
zur  Geltung  kamen.  Auch  die  übrigen  Kreise  der  städtischen  Bevölkerung, 
die  Bewohner  der  Frohnhöfe,  die    Ministerialen,    die    agrarischen    Elemente, 
nahmen  ja  gewiss    Antheil    an    dem    Marktverkehre    der    Stadt:    aber   doch 
waren  seine    Institutionen    weder   auf  sie    besonders    berechnet,    noch    von 
ihnen  getragen.    Der  Stadtherr  setzte  wohl    gewöhnlich    die  Marktbehörden 


5(52  Inama- Sternegg. 

ein.  den  Burggrafen  wie  den  Stadtschultheissen,  den  Münzer  und  den  Zöllner; 
die  Schöffen  des  Marktgerichts  wie  die  Eäthe  des  Schultheissen.  die  Markt- 
geschwornen  und  die  Gewährsmänner  (Wien)  giengen  aus  der  Mitte  der 
haushäbig  auf  dem  Markte  angesessene  Bevölkerung  hervor.  So  enthält  die 
Organisation  des  Marktes  allerdings  wesentliche  Elemente  der  Stadtverfassung 
in  sich,  welche,  in  einfach  erweiterter  Form  auf  das  ganze  Stadtgebiet  und 
die  ganze  Stadtbevölkerung  übertragen,  ohne  Zweifel  einen  wichtigen  Einschlag 
in  das  Gewebe  der  städtischen  Verwaltung  bedeuteten.  Vieles  andere  freilich, 
was  in  der  Verfassung  und  Verwaltung  der  Stadt  zur  Geltung  kommt,  hängt 
so  wenig  mit  der  Organisation  des  Marktes  zusammen,  dass  aus  ihr  allein  die 
Entstehung  des  deutschen  Städtewesens  bei  weitem  nicht  hinlänglich  erklärt 
werden  kann.  Und  eben  deshalb  ist  die  Kolle  der  Kaufmannschaft,  selbst  in 
dem  günstigsten  Falle  einer  geschlossenen  kaufmännischen  Körperschaft, 
keineswegs  für  die  städtische  Entwickelung  allein  entscheidend  gewesen. 
Theilweise  in  anderer  Art  hat  sich  die  ältere  Städtegeschichtsschreibung 
die  Stellung  zurecht  gelegt,  av eiche  die  Verbände  der  Handwerker  in 
der  Stadt  eingenommen  haben;  aber  auch  ihnen  ist  ein  ziemlich  weit- 
reichender Einfluss  auf  die  Verfassung  und  die  Verwaltung  der  Stadt  zuge- 
schrieben. Man  ist  dabei  in  der  Kegel  davon  ausgegangen,  dass  schon  in 
der  Frohnhofverfassung  die  Handwerker  gewöhnlich  in  eigenen  Verbänden 
den  hofrechtlichen  Innungen,  organisiert  gewesen  seien;  mit  der  allmäh. 
liehen  Abschüttelung  der  Hörigkeitsfesseln  und  mit  der  Emancipation  des 
gewerblichen  Betriebes  zur  Freiheit  seiner  Ausübung  sei'  dann  auch  die 
Innung  selbständig  und  damit  gleich  zu  einem  wichtigen  Factor  der 
Stadt  Verfassung  geworden,  da  sie  eben  einen  wichtigen  Bestandtheil  der 
städtischen  Bevölkerung  in  einer  festgefügten  und  von  Alters  her  anerkannten 
Organisation  repräsentiert  habe.  Die  Auffassung  beruhte  auf  verschiedenen 
Voraussetzungen,  welche  sich  im  Verlaufe  der  Städteforschung  keineswegs 
als  zutreffend  erwiesen  haben.  Schon  das  Vorhandensein  gewerblicher 
Innungen  im  Frohnhofverbande  ist  in  der  Allgemeinheit,  wie  sie  behauptet 
wurde,  nicht  erweislich.  Allerdings  hatte  die  Verwaltung  der  grossen  Frohn- 
höfe  schon  frühzeitig  eine  gewisse  Gliederung  der  dienenden  Arbeit,  wie  auch 
der  dienenden  Hufen  nothwendig  gemacht;  und  auch  die  gewerbliche  Arbeit 
innerhalb  des  Frohnhofs  war  durchaus  dieser  Gliederung  in  Aemter  (officia, 
ministeria)  eingefügt.  Diese  nach  den  Hauptrichtungen  der  Verwaltungs- 
interessen abgegrenzten  Ministerien  konnten  aber  begreiflicherweise  Leute 
der  verschiedensten  Beschäftigungen  in  sich  begreifen.  Zunächst  kommen 
dabei  die  vier  alten  Hofämter  in  Betracht.  Die  Pferdeknechte,  Schmiede  und 
Wagner  gehörten  zum  Amte  des  Marschalk,  die  Bierbrauer  und  Küfer  zum 
Schenkenamte;  dem  Truchsessen  waren  die  Köche,  Bäcker,  Fleischer  und 
Fischer,  dem  Kämmerer  die  Zimmerleute  und  Maurer,  wohl  auch  die  Weber 
und  liichterzieher  zugetheilt.  Aber  auch  für  eine  weitere  Specialisierung 
der  Verwaltungszweige  waren  doch  immer  nur  administrative,  nicht  technische 
Gesichtspunkte  entscheidend.  Alle  zu  einem  solchen  Officium  gehörenden 
dienenden  Leute  bildeten  unter  sich  eine  Geraeinschaft,  über  deren  Leistungen 


lieber  die  Anfänge  des  deutschen  Städteweseus.  563 

der  Vorsteher  verfügt;  und  selbst  da,  wo  eine  grössere  Anzahl  von  Arbeitern 
desselben  Gewerbszweiges  unter  einen  eigenen  Meister  gestellt  und  das  Amt 
desselben  selber  zu  einem  Officium  wurde,  bleibt  nichtsdestoweniger  die 
Einordnung  unter  die  Yerwaltungszweige  bestehen  und  bildet  nach  wie  vor 
die  Grundlage  für  die  hörigen  Verbände  der  Handwerker. 

Von  hofhörigen  Innungen  im  Sinne  von  Handwerkerverbänden  ist  also 
in  keiner  Weise  zu  reden;  weder  bieten  die  Quellen  einen  directen  Anhaltspunkt 
hiefür,  noch  sind  sie  mit  der  ganzen  Structur  der  Frohnhofsverwaltung  vereinbar. 
Dagegen  erscheinen  allerdings  in  einigen  der  ältesten  Stadtrechte  solche  Hand- 
werksinnungen unter  Umständen,  welche  eine  ziemlich  weitgehende  Einfluss- 
nahme  des  Stadtherrn  ersehen  lassen  und  den  Gedanken  an  Beziehungen  der- 
selben zu  der  Frohnhofsverwaltung  des  Stadtherrn  nahe  legen.  Der  Stadtherr 
ernennt  da  die  Vorsteher  der  Innungen  und  zwar  aus  der  Reihe  seiner 
Ministerialen:  er  schreibt  ihnen  gewisse  Abgaben  und  Leistungen  vor,  welche 
zum  mindesten  einen  hofrechtlichen  Beigeschmack  liaben;  er  verleiht  und 
verweigert  unter  Umständen  das  Innungsrecht.  In  Strassburg  insbesondere  hat 
die  öffentliche  Gewalt  schon  vor  dem  ersten  Stadtrecht  (Anfang  des  12.  Jahrh.) 
eine  ziemlich  ausgebildete  Eintheilung  der  Handwerker  in  Zünfte  durchgeführt, 
für  welche  gleichzeitig  militärische  und  gewerbepolitische  Rücksichten 
maassgebend  waren.  Gerade  daraus  hat  man  vielfach  den  hofrechtlichen 
Ursprung  der  Handwerkerzünfte  abgeleitet;  in  Wahrlieit  ist  aber  die  älteste 
Zunftverfassung  selbst  in  solchen  Städten  nur  eine  gewisse  Analogie  der 
hofrechtlichen  Ordnung,  keineswegs  ein  Product  derselben.  Die  Handwerker 
in  diesen  Städten  waren  ja  in  der  That  zum  grossen  Theile  erst  aus  der 
Hofhörigkeit  entlassen  und  auch  überhaupt  in  keiner  irgend  angesehenen 
oder  einflussreichen  Stellung.  Da  lag  es  wohl  nahe,  ihnen  eine  Ordnung 
vorzuschreiben,  welche  vielfach  Elemente  der  hergebrachten  Frohnhofsver- 
waltung in  sich  aufnahm.  Auch  war  mit  der  Entlassung  aus  der  Hofhörig- 
keit  keineswegs  jedes  Band  zum  Frohnhof  gelöst;  auch  als  Censuale  konnte 
der  Handwerker  noch  Dienste  und  Abgaben  an  seinen  Herrn  zu  leisten 
haben,  und  überdies  ist  ja  auch  dem  Eintritte  hofhöriger  Handwerker  in 
die  Genossenschaft  vieler  Orten  nichts  im  Wege  gestanden.  Damit  hängt 
es  denn  auch  zusammen,  dass  die  Dienstpflicht  der  Handwerker  gegenüber 
dem  Grundherrn  in  solchen  städtischen  Innungen  keineswegs  eine  gleiche 
aller  Genossen  ist,  sondern  vorwiegend  auf  den  Hofhandwerkern  lastet.  Und 
dementsprechend  sind  auch  die  Gegenleistungen  der  Herrschaft  nicht  für 
alle  gleich  bestimmt,  sondern  gebüren  in  erster  Linie  eben  jenen  Handwerkeni, 
welche  in  einem  besonderen  Dienstverhältnisse  zur  Herrschaft  stehen.  Die 
dem  Herrenhofe  nicht  speciell  verpflichteten  Handwerker  helfen  jenen  subsidiär 
diese  Verpflichtungen  erfüllen;  darin  liegt  aber  nur  eine  allgemeine  dem  Stadt- 
herrn gegenüber  übernommene  Verpflichtung  ohne  hofrechtlichen  Ursprung 
und  eine  Aeusserung  des  genossenschaftlichen  Geistes  überhaupt,  der  ja 
überall  auf  wechselseitige  Unterstützung  in  allen  Lebenslagen  berechnet  war. 

Im    allgemeinen  sind  die  Handwerkerinnungen  in  den  Städten  gewiss 
als    ein   Product    des    selbständig   wirkenden    genossenschaftlichen    Geistes 


5ßj.  Inama-Sternegg. 

anzusehen,  der,  für  das  ganze  Mittelalter  cliarakteristiscli,  gerade  in  den 
Städten  den  besten  Nährboden  fand.  Wie  er  sich  in  Schwurgenossenschaften 
und  allgemeinen  Einungen  Luft  gemacht,  in  den  Kaufmannsgilden  Gestalt 
und  Wirksamkeit  gefunden  hat,  so  ist  er  auch  in  den  Handwerksverbänden 
wieder  zutage  getreten,  sobald  dem  Handwerk  nur  erst  so  viel  Raum  geschaffen 
war,  um  sich  tüchtig  regen  zu  können.  Dass  das  vielfach  in  Opposition  gegen 
den  Stadtherrn  geschah,  beweist  nur  die  gegensätzliche  Stellung  des  Hand- 
werks zur  Grundherrschaft;  den  Kampf  gegen  den  Stadtherrn  führten  die 
Handwerker  gleichsam  im  Namen  der  städtischen  Freiheit,  wie  sie  einen 
gleichen  in  der  Folge  nachmals  gegen  das  herrschende  Patriciat  in  den 
Städten  zu  führen  hatten.  Aber  was  die  Handwerker  in  jenem  ersten  Kampfe 
errangen,  war  doch  im  günstigsten  Falle  nur  die  Anerkennung  ihrer  Genossen- 
schaft als  Innung,  d.  h.  als  Körperschaft  mit  selbständiger  Wahl  ihrer 
Vorstände,  mit  ausschliessendem  Rechte  auf  die  Ausübung  ihres  Gewerbs- 
zweiges, mit  Autonomie  ihrer  inneren  Angelegenheiten;  einen  bestimmten 
Einfluss  auf  die  Stadtverwaltung,  eine  Theilnahme  am  Rathe,  ja  selbst  ein 
volles  Bürgerrecht  liaben  sie  vielfach  erst  später  sicli  erstritten.  Die  Kauf- 
mannsgilde schloss  sich  in  aristokratischer  Weise  gegen  das  Handwerk  ab; 
und  wenn  auch  die  Innungen  des  Handwerks  vieler  Orten  ebenso  früh  wie 
die  Kaufmannsgilden  entstanden  sind,  so  haben  sie  doch  nicht  ebenso  früh 
wie  diese  eine  führende  Rolle  in  der  Stadt  gespielt.  Es  gab  eben  auch  nur 
eine  Kaufmannsgilde  in  der  Stadt,  welche  alle  reichen  Elemente  und  oft 
auch  noch  dazu  die  einflussreiche  Beamtenschaft  der  Stadt  in  sich  vereinigte, 
während  die  Handwerker  sich  immer  in  einer  grösseren  Anzahl  von  Innungen 
vereinigten,  deren  Interessen  und  Bestrebungen  keineswegs  immer  identisch 
waren,  deren  gesammter  Einfluss  daher  auch  der  einer  grossen  Kaufmanns- 
vereinigung nicht  leicht  die  Wage  zu  halten  vermochte.  Und  damit  ist 
docli  auch  im  allgemeinen  die  Annahme  ausgeschlossen,  dass  von  den 
Innungen  der  Handw^erker  ein  bestimmter  Einfluss  auf  die  Anfänge  der 
Stadt  Verfassung  ausgegangen  sei;  wohl  aber  lässt  sich  behaupten,  dass  es 
zum  grossen  Theile  gerade  die  Handwerker  waren,  welche,  wie  sie  das 
arbeitstüchtigste  Element  der  Stadtwirtschaft  waren,  so  auch  das  treibende 
Element  in  der  Stadtbevölkerung  bildeten.  Die  Zunft  verband  die  besitzenden 
und  die  nichtbesitzenden  Handwerker,  die  Handwerker  in  der  Stadt  und  in 
der  Vorstadt,  die  nicht  zur  Bürgerschaft  gehörten  (Gothein).  So  von  Haus 
aus  demokratisch  veranlagt,  drängten  sie  zunächst  auf  eine  Erweiterung  des 
Kreises  der  rechtlichen  Stadtbevölkerung  hin,  um  dann  in  unaufhaltsamem 
Fortschritte  gleiche  Freiheit  für  alle  Classen  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
und  eine  vollkommene  Emancipation  aus  der  Grundherrschaft  und  ihren 
Consequenzen  für  die  Stadt  zu  erobern. 

vn. 

Ueberschauen  wir  diese  ganze  Fülle  der  Erscheinungen,  w^elche  das 
städtische  Leben  schon  an  der  Schwelle  seiner  so  bedeutsamen  Entwickelung 
In    den    deutschen    Landen    zeigt,   kann    es    wohl   keinem  weiteren  Zweifel 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  565 

unterliegen,  class  der  Ursprung  der  deutschen  Stadtverfassung  nicht  in  einer 
einzigen  Ursache  gesucht,  und  noch  viel  weniger  die  Entwickelung  der  wirt- 
schaftlichen Bedeutung  der  Städte  aus  einer  einzigen  Quelle  erklärt  werden 
kann.  Viele  im  Volke  rege  Kräfte  mussten  zusammenwirken,  um  das  herr- 
liche Ergebnis  herbeizuführen,  das  wir  in  den  deutschen  Städten  des  Mittel- 
alters bewundern.  Aber  auch  eine  Eeihe  von  Zuständen  mussten  entwickelt 
sein.  Avelche  mit  innerer  Nothwendigkeit  auf  diese  Neugestaltung  der  wirt- 
schaftliclien  und  socialen  Verhältnisse  hindrängten;  nimmermehr  hätte  eine 
wenm  auch  noch  so  einsichtsvoll  und  noch  so  thatkräftige  Leitung  der 
öffentlichen  Angelegenheiten,  nimmermehr  eine  wenn  auch  noch  so  energische 
Strömung  aus  einzelnen  Volkskreisen  heraus  dieses  Ergebnis  herbeiführen 
können,  wenn  nicht  tief  greifende  Wandlungen  in  den  allgemeinen  Existenz- 
bedingungen des  Volkes  den  Boden  hiefür  wirksam  vorbereitet  hätten.  Bei  den 
grossen  Landherren  vor  allem,  die  schon  in  einer  vorausgegangenen  Zeit 
in  so  wirksamer  Weise  Erzieher  des  Volkes  geworden  waren,  fand  sich  nicht  mü- 
der klare  Blick  für  den  grossen  Nutzen,  der  von  der  Schaffung  eines  geordneten 
Marktes,  von  dem  Emporblühen  von  Handel  und  Gewerbe  für  alle  Kreise 
des  Volkslebens  zu  erhoffen  war,  sondern  auch  der  gute  Wille  diese  Vor- 
theile  ihrem  Land  und  ihren  Leuten  zu  sichern;  sie  sind  die  Städtegründer 
und  die  ersten  Organisatoren  städtischen  Wesens;  und  wenn  dabei  auch 
egoistische  Motive  mit  unterliefen,  der  materielle  Gewinn  für  den  Stadtherrn 
vielleicht  nicht  an  letzter  Stelle  in  dem  Bereiche  ihrer  Erwägungen  stand, 
so  ist  doch  die  Thatsache  ausser  Frage,  dass  der  Anstoss  zu  der  über- 
raschend schnellen  Vermehrung  der  Städte  fast  ausnahmslos  von  ihnen  aus- 
gegangen ist.  Die  Ministerialen  sodann,  die  in  aller  Art  von  Verwaltungs- 
geschäften grossgewordene  Classe  der  höher  stehenden  Unfreien,  leisteten 
auch  bei  der  Gründung  und  ersten  Entwickelung  der  Städte  ihr  Bestes  und 
vermittelten  mit  Meisterschaft  den  Uebergang  zu  den  neueren  Zuständen 
und  Lebensformen,  mit  denen  sie  sich  alsbald  zum  guten  Theile  selbst 
identilicierten.  Auch  die  mit  der  Abschwächung  älterer  Unfreiheitsverhältnisse 
wieder  zu  selbständigem  Leben  gekommene  Landgemeinde  hat  ihren  Theil  an 
der  Erziehung  des  Volkes  zur  Behandlung  öffentlicher  Angelegenheiten,  zur 
Gewöhnung  an  die  Formen,  wie  an  die  Kechte  und  Pflichten  einer  auto- 
nomen localen  Verwaltung.  Die  grosse  Kaufmannschaft  brachte  mit  ihrem 
Reichthum  und  ihrem  Selbstbewusstsein  auch  ihre  Erfahrung  und  geschäftliche 
Schulung,  ihren  weiten  Horizont  und  ihre  genossenschaftlichen  Einrichtungen 
als  neu  belebende  Elemente  von  ganz  eigener  Art  in  die  Städte;  und  das 
fleissige  Handwerk,  in  der  harten  Schule  wirtschaftlicher  Vereinsamung  oder 
aber  strenger  Zucht  unfreier  Verhältnisse  erzogen,  lernte  sich  hier  alsbald 
als  das  wichtigste  Glied  des  städtischen  Nährstandes  begreifen  und  fühlen 
und  bikbte  so  den  nie  versiegenden  Born  für  den  Markt  und  den  Handel,  wie 
für  eine  wachsende  und  zunehmend  leistungsfähigere  Bevölkerung  der  Städte. 
Das  Alles  aber  vollzog  sich  in  einer  Zeit,  welche  längst  an  den  her- 
gebrachten Formen  der  Production  und  des  Verkehrs  nicht  mehr  ein 
Genügen  fand,  sie  zum  guten  Theil  schon  zerbrochen  hatte,  ohne  doch  mit 


5ß(3  Inama-Steroegg. 

Erfolg  neue  Schöpfungen  an  die  Stelle  gesetzt  zu  haben.  Die  alte  Orga- 
nisation der  grundherrscbaftlichen  Wirtschaft  war  in  voller  Auflösung,  die 
Elemente,  welche  sie  früher  vereinigt  hatte,  mehr  oder  weniger  sich  selbst 
überlassen,  freier  als  früher  aber  auch  hilfsloser,  selbständiger  aber  ohne 
festen  Halt.  Die  Naturalwirtschaft  mit  ihrer  Selbstgenügsamkeit  im  engen 
Kreise  fühlte  ihre  eigene  Dürftigkeit,  seit  ein  regerer  Verkehr,  die  Kreuz- 
züge, die  raschere  Entwickelung  der  westlichen  und  südlichen  Nachbarn  die 
Deutschen  mit  einer  Reihe  von  Gütern  bekannt  gemacht  und  damit  in  ihnen 
eine  Eeihe  von  Bedürfnissen  geweckt  hatten.  Der  Geldverkehr  fing  an  sich 
einzubürgern,  seit  eine  nationale  Arbeitstheilung,  zunächst  als  das  schmerzliche 
Ergebnis  der  allgemeinen  Auflösung  der  alten  Wirtschaftsverbände,  bald 
als  die  grösste  nationale  Wohlthat,  immer  weitere  Kreise  zog.  Kirche  und 
Staat,  so  weit  von  einem  solchen  die  Rede  sein  konnte,  wirkten  anderseits 
zusammen,  um  gegenüber  der  allgemeinen  Unsicherheit  wenigstens  wieder 
die  Ansätze  zu  einem  allgemeinen  Landfrieden  zu  schaffen,  welche  dann 
als  fruchtbares  Princip  einer  höheren  Friedebewahrung  ihren  Einzug  in  die 
Städte  hielten.  Und  die  Herren  am  Lande,  welche  solchem  Landfrieden 
doch  nicht  immer  trauten,  bauten  sich  um  die  Wette  ihre  festen  Burgen 
und  ummauerten  die  offenen  Flecken  wie  die  Klöster  und  Abteien,  damit 
sich  hinter  ihnen  die  friedliche  Arbeit  zu  schützen  vermöchte.  Alles  das 
waren  Impulse,  welche  für  die  Städteentwickelung  wirksam  werden  konnten, 
wenn  einmal  das  organisatorische  Princip  dafür  gefunden  war,  so  wenig  sie 
auch  für  sich,  einzeln  oder  zusammen  imstande  gewesen  wären,  gerade  die 
specifischen  Formen  städtischen  Lebens  zu  erzeugen. 

Was  aber  bedeutete,  gegenüber  all  diesen  wirksamen  Kräften  der 
städtischen  Entwickelung  die  königliche  Gewalt,  auf  welche  ja  doch  im 
letzten  Grunde  die  Städteprivilegien  und  Stadtrechte  zurückAveisen  ?  Auch 
diese  Frage  verlangt  noch  zum  Schlüsse  eine  Antwort;  die  Macht  des 
deutschen  Königthums,  so  ist  neuestens  mit  grossem  Nachdrucke  geltend 
gemacht  worden,  ist  es,  welche  die  Entwickelung  der  deutschen  Städte  zur 
Ausgestaltung  und  zum  Siege  führte;  das  Amtsrecht  des  germanischen 
Königthums  hat  machtvoll,  als  sein  lebenskräftigstes,  noch  heute  blühendes 
Erzeugnis  der  deutschen  und  der  ganzen  abendländischen  Entwickelung  das 
deutsche  Bürgerthum  geschenkt  (Sohm).  Diese  Auffassung  beruht  im 
Wesentlichen  darauf,  dass  nach  fränkischem  Amtsrecht  die  Stadt  eine  dem 
Könige  gehörige  Burg  und  demnach  der  Stadtfriede  dem  Königsfrieden 
gleich  zu  achten  sei,  welche  nicht  nur  allen  Bewohnern,  sondern  auch  den  zu 
und  von  der  Stadt,  d.  h.  dem  Könige  Reisenden,  mit  der  Verfronung  der 
Stadt  (missio  in  bannum)  zutheil  geworden  sei.  Die  königliche  Gewalt 
habe  in  der  Verleihung  des  Marktrechtes  und  der  Bannlegung  der  Märkte 
in  der  That  die  wesentlichsten  Voraussetzungen  für  die  Entwickelung  des 
besonderen  Stadtrechtes  geschaffen  und  habe  damit  eine  zielbewusste  und 
überaus  wirksame  wirtschaftliche  und  sociale  Politik  entfaltet,  welche  die 
Städte  ihrerseits  durch  ihre  Königstreue  auch  in  schwerer  Zeit  reichlich 
gelohnt  haben. 


Ueber  die  Anfänge  des  deutschen  Städtewesens.  567 

Auch  wenn  wir  den  immerhin  controversen,  rein  juristischen  Inhalt 
dieses  ganzen  Gedankenganges  beiseite  lassen,  wird  doch  der  Ausgangs- 
punkt dieser  Anschauung  als  zutreffend  bezeichnet  werden  müssen.  In  dem 
königlichen  Marktrechte  wurde  der  Königschutz,  dessen  sich  die  Kaufleute 
im  Eeiche  von  Alters  her  zu  erfreuen  hatten,  auf  die  Stätte  ihres  Wirkens 
übertragen.  Aus  gleichen  Wurzeln  giengen  die  Privilegien  der  Kaufleute 
und  die  Marktprivilegien  hervor,  beide  enthielten  schon  bedeutsame  Ansätze 
der  späteren  Stadt  Verfassung,  und  beide  leiten  sich  in  ihren  Anfängen 
zweifellos  von  der  königlichen  Gewalt  her.  Aber  auch  von  anderer  Seite 
her  wurde  die  Ausbildung  eines  besonderen  Marktrechtes  unter  königlichem 
Einflüsse  gefördert.  Das  alte  königliche  Kecht  auf  Erhebung  von  Zöllen 
vom  Handelsverkehr  und  Transport  erlangte  natürlich  an  festen  Märkten 
eine  besondere  Wichtigkeit.  Für  den  königlichen  Fiscus  war  damit  ein 
starker  Impuls  zur  Begründung  von  Märkten  gegeben.  Aber  auch  da,  wo  die 
königliche  Gewalt  solche  Einkünfte  an  geistliche  und  weltliche  Grosse  verlieh, 
wirkte  die  Aussicht  auf  Gewinn  in  der  gleichen  Richtung  und  die  Reichsgewalt 
hatte  darin  zugleich  ein  Mittel,  auf  die  Ausgestaltung  der  Märkte  einen 
bestimmenden  Einfluss  zu  nehmen,  die  Grundsätze  des  Reichszollrechtes  und 
die  Anerkennung  des  Königsbannes  an  den  Marktorten  zu  verbreiten. 

Neben  dem  Marktbanne  und  den  Marktabgaben  war  dann  die  Münze 
das  dritte  regelmässige  Attribut  des  Marktes,  ebenfalls  ein  Ausfluss  der 
königlichen  Gewalt.  Die  Verleihung  des  Münzrechtes  geht  mit  der  Ver- 
leihung des  Marktrechtes  durchaus  Hand  in  Hand;  so  lange  überhaupt  die 
Verwaltung  des  Reiches  noch  zielbewusst  in  die  wirtschaftlichen  Angelegen- 
heiten eingriff,  hat  sie  auch  immer  auf  Einheitlichkeit  wie  auf  Verbrei- 
tung des  Markt-  und  Münzverkehrs  hingewirkt.  Für  die  deutsche  Volks- 
wirtschaft ward  so  das  Marktrecht  mit  seinen  Attributen  eine  unschätzbare 
öffentliche  Einrichtung,  in  welcher  sich  der  Beginn  einer  Reichseentral- 
gewalt  noch  lange  Zeit  hindurch  fruchtbar  erwies.  Aber  freilich  gieng  diese 
selbst  nur  allzu  früh  in  die  Brüche;  die  kleinen  Gewalten  im  Reiche  absor- 
bierten die  Hoheitsrechte  der  Krone  eines  um  das  andere;  Marktrecht,  Zoll 
und  Münze  ward  zu  eigenem  Rechte  geübt,  die  königlichen  Städteprivilegien 
werden  verdrängt  durch  autonome  Bestimmungen  der  Land-  und  StadtherrenJ; 
an  die  Stelle  einheitlicher,  nach  grossen  Gesichtspunkten  concipierter  Ein- 
richtungen tritt  immermehr  die  locale  Besonderheit  und  schwächt  zum 
mindesten  die  günstigen  Wirkungen  ab,  welche  der  deutsche  Handel  unter 
dem  Schutze  eines  einheitlichen  deutschen  Marktrechtes  genossen  hatte. 
Für  die  Zeit  der  regsten  städtischen  Entwickelung,  um  die  Wende  des  12. 
und  18.  Jahrhunderts  ist  von  einer  zielbewussten  Städtepolitik  des  Reiches 
nicht  mehr  die  Rede;  aber  trotzdem  sind  die  Grundlinien,  welche  schon 
die  Ottonenzeit  der  beginnenden  Entwickelung  des  Marktes  gezogen  hat, 
auch  in  dieser  späteren  Zeit  noch  für  die  Gestaltung  der  Verfassungs- 
zustände  der  deutschen  Städte  nicht  ganz  verwischt. 

Es  wäre  auch  in  der  That  höchlich  zu  verwundern,  wenn  ein  so  tief 
greifender  und  folgenschwerer  Process,  wie  es  die  Entwickelung  des  deutschen 


568 

Städtewesens  ist,  sich  ganz  ohne  Einfluss  und  Mitwirkung  der  Staatsgewalt 
hätte  vollziehen  können.  Nicht  dass  er  bestand,  sondern  dass  er  nicht  in 
viel  stärkerem  Masse  vorhanden  war,  ist  für  die  mittelalterlichen  Staats- 
zustände  im  deutschen  Eeiche  charakteristisch.  Aber  auch  in  dem  be- 
schränkten Umfange,  in  welchem  die  Reich sgewalt  sich  bei  der  Bildung 
der  Stadtverfassung  bethätigte,  zeigt  sich  doch  in  überzeugender  Weise, 
wie  innig  schliesslich  alle  öffentlichen  Institutionen  zusammenhängen  und  wie 
sehr  gerade  die  Lösung  grosser  socialer  Probleme  auf  den  festen  Boden 
der  allgemeinen  Reichsverfassung  angewiesen  ist.  Und  ein  grosses  sociales 
Problem  ist  in  der  That  mit  dem  deutschen  Städtewesen  auf  Jahrhunderte 
hinaus  glücklich  gelöst  worden:  die  Verbindung  grosser  technischer  Fort- 
schritte im  arbeitsth eiligen  Process  der  nationalen  Production  mit  einer 
durchgreifenden  Besserung  der  persönlichen  Lebensstellung  der  arbeitenden 
Classen  in  der  deutschen  Bürgerschaft. 

Neueste   Literatur   über  die  Anfänge  des  deutschen   Städtewesens. 

Georg  V.  Below.  Die  Entstehung  der  deutschen  Stadtgemeinde.  Düssel- 
dorf 1889. 

Richard  Schröder  in  der  Festschrift:  Die  Rolande  Deutschlands. 
Berlin  1890. 

Rudolf  Sohm.  Die  Entstehung  des  deutschen  Städtewesens.   Leipzig    1890. 

Carl  Köhne.  Der  Ursprung  der  Stadtverfassung  in  Worms,  Speier  und 
Mainz.  Breslau  1890. 

Alois  Schulte.  Ueber  Reichenauer  Städtegrüngungen  im  10.  und  11.  Jahrh. 
(Zeitsch.  f.  Geschichte  des  Oberrheins.  N.  F.  Bd.  5.  1890). 

Ch.  Gross.  The  Gild  Merchant.  2  Bde.  Oxford  1890.  (Berücksichtigt  auch 
die  deutschen  Verhältnisse.) 

J.  E.  Kuntze.  Die  deutschen  Städtegründungen  oder  Römerstädte  und 
deutsche  Städte  im  Mittelalter.  1891. 

Karl  Hegel.  Städte  und  Gilden  der  germanischen  Völker  im  Mittelalter. 
2  Bände.  Leipzig  1891. 

Georg  Kaufmann.  Zur  Entstehung  des  Städte wesens  (Münsterer  Pro- 
gramm) 1891. 

Karl  Theodor  von  Inama-Sternegg.  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte  IL 
Leipzig  1891. 

Eberhard  Gothein.  Wirtschaftsgeschichte  des  Schwarzwaldes  und  der 
angrenzenden  Landschaften.  1.  Band.  Städte-  und  Gewerbegeschichte. 
Strassburg  1892. 

Georg  von  Below.  Der  Ursprung  der  deutschen  Stadtverfassung.  Düssel- 
dorf 1892. 

Karl  Wilhelm  Nitzsch.  Die  niederdeutsche  Kaufgilde.  Eine  nachgelassene 
Arbeit  (Zeitschrift  der  Savigny-Stiftung  für  Rechtsgeschiclite.  XIII.  Grm. 
Abth.)  1892. 


DIE  ABGABE  DER  WEHRDIENSTFßEIEN 


MIT 


BESONDERER  RÜCKSICHT  AUF  ÖSTERREICH-UNGARN. 

VON 

DR.  HEINRICH  GUSTAV  THIEEL  IN  WIEN. 


Einleitung. 
(Zur  G-eschichte  der  Abgabe.) 

Was  von  den  ältesten  Spuren  einer  Abgabe  der  Wehrdienstfreien 
berichtet  wird,  lässt  einen  inneren  Zusammenhang  mit  den  modernen  Ein- 
richtungen dieser  Art  nirgends  erkennen.  Das  Aes  hordearium  des  alten 
Eom,  das  Adjutorium  und  der  Heerbann  der  karolingischen  Monarchie  ^), 
das  französische  Wehrgeld  des  XIV.  Jahrhundertes  ^)  sind  isolierte  Phäno- 
mene. Adjutorium  (conjectus)  und  Heerbann  (heriscilling)  haben  in  der 
Gesetzgebung  ihrer  Zeit  eine  ziemliche  Ausbildung  erlangt.  Anfänglich 
bezeichnen  sie  zwei  wesentlich  verschiedene  Abgaben:  einen  Beitrag  der 
zum  persönlichen  Dienste  Unvermögenden  und  eine  Taxe  jener,  welche  der 
König,  obgleich  sie  dienstfähig  waren,  über  ihre  Bitte  vom  Dienste  befreite. 
Späterhin  verschmolzen  wohl  beide  in  eine  der  Loskauftaxe  ähnliche 
Leistung.  ^) 

Die  erste  französische  Kevolution  schuf  die  allgemeine  Wehrpflicht 
und  mit  ihr  die  Grundlage  der  heutigen  Wehrverfassung  des  continentalen 
Europa.  Innig  mit  dem  Wiesen  der  allgemeinen  Wehrpflicht  verknüpft,  hat 
auch  die  moderne  Wehrsteuer  in  jener  bewegten  Zeit  ihren  Ursprung. 
Schrittweise,  durch  die  Gesetze  vom  19.  Fructidor  VII  (8.  September  1798), 
17.   Ventose  VIII   (8.    März    1800),    28.    Floreal  X   (18.  Mai    1802)   und 

1)  Vgl.  F.  J.  Neu  mann,  Die  Wehrsteuer.  (Schanz'sches  Finanz  -  Archiv  IV., 
SS.  119  fg.)  —  J.  Marcino  wski,  Die  Wehrsteuer  im  deutschen  Eeich.  Berlin  1881. 
S.  1.  —  Preuss.  Jahrbücher,  1880,  4  H.,  S.  383 

2)  A.  Borst  orff,  Die  Wehrsteuer,  Tüb.  Zeitsch.  f.  d.  g.  St.  W.,  1886,  2  H. 
SS.  227  fg. 

^)  N  e  u  m  a  n  n,  a.  a.  0.,  S,  124 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.   IV.  Heft.  37 


570  Thierl. 

6.  Fructiclor  XIII  (26.  August  1805^)  erhob  sie  sich  dort  über  das  Aus- 
maass  der  ordentlichen  Steiierleistung,  wobei  indes  als  Maximum  1200  Frcs. 
7Ai  gelten  hatte.  Das  Erträgnis  blieb  wegen  der  ungeheueren  Aushebungen 
schwach.  Mit  der  Kestauration  fiel  sowohl  die  allgemeine  Wehrpflicht  als 
die  Wehrsteuer. 

Von  den  zahlreichen  Schweizer  Cantonsgesetzen ^)  über  die  Abgabe 
der  Wehrdienstfreien  fallen  die  ältesten  in  die  nämliche  Epoche.  Hieher 
gehören  die  Züricher  Gesetze  über  die  Montierungs-Abgabe  vom  23.  De- 
cember  1803  und  20.  December  1804.  daselbst  fortgesetzt  in  den  Jahren 
1816,  1831,  1834,  1848  und  1862.  Im  Jahre  1831,  bezw.  1834  wird  die 
Köpfsteuer  in  eine  Classensteuer  verwandelt,  die  Abgabe  „Militärpflichtersatz" 
genannt.  Diese  Bezeichnung  hat  sich  bei  sehr  namhaften  essentiellen  Ver- 
besserungen der  Abgabe  bis  heute  erhalten,  wohl  hauptsächlich  deshalb, 
weil  die  Bevölkerung  daran  gewöhnt  war  und  das  unbeliebte  Wort  „Steuer"* 
gerne  vermieden  wurde.  Durch  das  Bundesgesetz  vom  28.  Brachmonat 
1878*^')  sind  die  zahlreichen  Cantonsgesetze  über  den  Militärpflichtersatz 
ausser  Wirksamkeit  getreten;  letzterer  ist  seither  einheitlich  für  die  gesammte 
Eidgenossenschaft  geordnet.  Gegenüber  den  jüngsten  Cantonsgesetzen  zeigt 
das  Bundesgesetz  nur  in  der  Vereinfachung  der  Steuergrundlage  und  der 
Principien  für  die  Bestimmung  des  steuerpflichtigen  Vermögens,  bezw.  Ein- 
kommens einigen  Fortschritt.  Den  Vollzug  überwies  es  den  Cantonen  unter 
Anordnung  der  Aufsicht  des  Bundesrathes. 

Deutschlands  erste  Versuche  mit  einer  Abgabe  der  Wehrdienst- 
freien bilden  die  preussische  Mennonitensteuer ^),  welche  als  Kopfsteuer 
seit  1772  bestand  und  1830  in  eine  Einkommensteuer  umgewandelt  wurde, 
übrigens  in  den  Beiträgen  der  Quäker,  Separatisten  und  militärbefreiten 
Juden  ein  Analogen  besass;  dann  die  bayrische  Bürgerwehr-Eeluition  für 
die  Befreiung  von  der  Landwehrpflicht  aus  den  Jahren  1826,  1837  und 
1854.  Bayern  und  Württemberg  hoben  für  die  Militär -Entlass-  und 
Freischeine  seit  1828,  bezw.  1868  fixe  Stempelgebüren  von  6  fl.  (10  fl.), 
bezw.  20  fl.  ein;  Sachsen  legte  den  wegen  Dienstesunwürdigkeit  Aus- 
geschlossenen einen  Beitrag  von  300  Thalern  zum  Dienstalters-Zulagen-Fonde 
auf  (1866.^)  Die  Bemühungen,  eine  gemeinsame  Wehrsteuer  zustande  zu 
bringen,  äusserten  sich  im  norddeutschen  Reichstage  anlässlich  der  Wehr- 
gesetz-Berathung  (1867),  im  deutschen  Reichstage  anlässlich  der  Verhand- 
lung über  das  Reich s-Stempelgesetz  (1877).  Diese  Anregungen  veranlassten 
den  Gesetzentwurf  über  die  Wehrsteuer,  welcher  am   17.  März  1881  dem 


*)  Ausser  den  Genannten :  Engel,  Resultate  des  Ersatzaushebungsgeschäftes  im 
preussischen  Staate.  Zeitsch.  d.  preuss.  Statist.  Bur.  1864.  S.  S.  80  fg.,  181  fg.  —  G.  Cohn, 
Die  Mihtärsteuer,  Tüb.  Zeitsch.  f.  d.  g.  St.  W.  1879.  S.  S.  508  fg.,  679  fg.  —  M.  Block, 
Dictionnaire  de  TAdniinistration  fran^aise  („Recrutement"). 

^)  Insbesondere  Engel,  a.  a.  0.  (mit  Gesetzes- Abdrücken);  Cohn,  a.  a.  0. 

6)  Cohn,  a.  a.  0.  SS.  535  fg.  (Gesetzes-Abdruck). 

'')  Neumann,  a.  a.  0.  S.  129. 

®)  M  a  r  c  i  n  0  w  s  k  i,  a,  a.  0.  S.  2;  .1  o  1 1  y,  Die  Militärsteuer  oder  das  Wehrgeld. 
Zeitsch.  d.  preuss.  Statist.  Bur.  1869.  SS.  321  fg. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Rücksicht  auf  Oesterreich-Ungarn.     571 

Reichstage  unterbreitet  wurde.  Daselbst  fand  die  nach  dem  damaligen 
Stande  der  Dinge  recht  glücklich  verfasste  Vorlage  vielfache  Anerkennung, 
scheiterte  jedoch  schliesslich  (7.  Mai  1881)  an  der  Zerfahrenheit  der  Mei- 
nungen und  wohl  auch  an  der  durch  eine  starr  fiscalische  Erklärung  des 
Reichsschatz-Secretärs  Scholz  hervorgerufenen  Misstimmung.^) 

Belgien  und  Italien  sind  über  das  Stadium  der  Anregungen  und 
Entwürfe  nicht  hinausgekommen:  in  Italien  ist  übrigens  die  Einführung  der 
Abgabe,  auf  welche  sich  die  Regierungsvorlage  vom  17.  (25.)  November 
1882  bezog,  vielfach  erörtert  worden.  ^^) 

Frankreich  besizt  die  jüngsten  Wehrsteuernormen;  sie  finden  sich 
im  Recrutierungsgesetze  vom  15.  Juli  1889  und  in  dem  hiezu  erflossenen 
Reglement  des  Präsidenten  der  Republik  vom  30.  December  1890.^^)  Die 
Vorbereitung  derselben  war  eine  langwierige;  sie  reicht  bis  zu  den  bereits 
besprochenen  Bestrebungen  der  ersten  Revolutionsepoche  zurück.  Unter  der 
Herrschaft  Ludwig  Philipp's  begegnete  der  Gedanke  einer  Wiedereinfüh- 
rung der  von  seinen  Vorgängern  abgeschafften  Wehrsteuer  dem  öftentlichen 
Interesse.  Hieran,  zumal  an  die  vielgenannten  Studien  Joffres'  (1843  und 
1845  ^^)  knüpften  die  Versuche  der  zweiten  Republik,  die  Erträgnisse  des 
Loskaufes  durch  eine  Abgabe  der  nicht  losgekauften  Dienstbefreiten  zu 
erhöhen.  ^^)  Zur  Zeit  der  dritten  Republik  kam  die  Frage  mit  dem  Antrage 
des  Abgeordneten  Gaze  (1880)  neuerlich  in  Fluss.  Indes  wurde  erst  am 
25.  Mai  1886  dem  Abgeordneten-Hause  eine  bezügliche  Vorlage  der 
Regierung  zugemittelt.  Drei  weitere  Jahre  vergiengen,  bis  sie  zu  einem  end- 
giltigen  Beschlüsse,  viereinhalb  Jahre,  bis  sie  zur  wirklichen  Ausführung  gedieh. 

Ausser  der  Schweiz  und  Frankreich  steht  nur  in  Gesterreich- 
üngarn  und  in  Serbien^'*),  das  sich  dem  Beispiel  seines  grossen  Nachbars 
völlig  anschloss,  die  Wehrsteuer  in  Geltung;  in  Oesterreich-Ungarn  schon 
seit  dem  13.  Juni  1880,  von  welchem  Tage  in  den  im  Reichsrathe  vertre- 
tenen Ländern  das  Gesetz,  betreffend  die  Militärtaxe,  den  Militärtaxfond 
und  die  Unterstützung  der  hilfsbedürftigen  Familien  von  Mobilisierten,  in 
den    Ländern   der   unofarischen   Krone    das    Gesetz,    betreffend    die   Militär- 


9j  Marcinowski,  a.  a.  0.  SS.  13  fg.,  50. 

^^)  Neumann,  a.  a.  0.  S.  116.  —  C.  Ferraris,  L'iraposta  militare.  (Nuova 
Antologia.  1883.  SS.  321  fg.) 

")  Bulletin  de  Statistique  e-t  de  Legislation  comparee 
(Ministere  des  Finances)  13  Jhrg.,  Juli  1889;  15.  Jhrg.  Jänner  1891.  SS.  32  fg. 

12)  Etudes  sur  le  recrutement  de  Tarmee.  Nouvelles  etudes  sur  die  recrutement 
de  Tarmee. 

13)  Insbesondere  Engel,  a.  a.  0.  S.  185. 

1^)  Neumann,  a.  a.  0.  S.  131.  Ausführlicher  im  Berichte  des  norwegischen 
Premierlieutenants  Jens  Bratlie  über  seine  amtliche  Studienreise  in  die  Schweiz, 
Oesterreich,  Ungarn.  Serbien,  Italien,  Frankreich  und  Deutschland  (Rapport  fra  Premier- 
lieutenant Bratlie  til  den  Kongelige  norske  Regjerings  Forsvarsdepartement  i  Anledning 
af  en  i  Maanederne  Mai  til  og  med  Oktober  1888  foretagen  Stipendiereise  til  Schweitz, 
i^sterrig,  Ungarn,  Serbien,  Italien,  Frankrig  og  Tyskland  for  at  studere  Sp^^rgsmaalet  om 
Vsernepligtsskat  og  dens  mulige  Hensigtsmsessighed  for  Norge.  Kristiania,  28.  Februar  1889 
SS.  22  fg. 

37* 


572  Thierl. 

befreiungstaxe,  datiert.  Mehrfache,  zumal  parlamentarische  Anregungen  sind 
den  einschlägigen  Kegierungsentwürfen  zugrunde  gelegen,  so  in  der  west- 
lichen Eeichshäfte  die  Eesolutionen,  welche  das  Herrenhaus  am  19.  December 
1874,  das  Abgeordnetenhaus  am  15.  Mai  1879  beschlossen.^^) 


Erster  Theil. 

Die  bisherige   Literatur   und   Gesetzgebung. 

I.  Der  Charakter  der  Abgabe. 

Zur  Feststellung  des  Charakters  der  Abgabe  bedarf  es  vor  allem  der 
strengen  Scheidung  derselben  von  jenen  Leistungen,  durch  welche  der 
Loskauf  vom  Dienste,  bezw.  die  Beschaffung  eines  Stellvertreters  erlangt 
wird.  Diese  strenge  Scheidung  wird  nicht  durch  die  Rückwirkung  der 
Dienstesbefreiung  auf  das  Individuum  geboten,  denn  diese  Rückwirkung  ist 
naturgemäss  in  militärischer,  privat-  und  staatswirtschaftlicher  Hinsicht 
dieselbe,  mag  es  sich  um  einen  Loskauf  oder  um  eine  Dienstesbefreiung 
von  amtswegen  handeln.  Sie  stellt  sich  indes  zufolge  des  Grundgedankens 
der  allgemeinen  Wehrpflicht,  welcher  den  Loskauf  gänzlich  ausschliesst. 
als  unumgänglich  nothwendig  dar.  Es  kennzeichnet  die  Wehrsteuer,  dass 
ihre  Entrichtung  nicht  in  die  Wahl  des  wehrpflichtigen  Individuums  gestellt 
ist.  Die  Behörde  fällt,  lediglich  durch  öffentliche  Rücksichten  bestimmt, 
die  Entscheidung,  ob  ein  Individuum  dienstpflichtig,  ob  es  dienstfrei  sei. 
Hierbei  steht  völlig  ausser  Betracht,  welcher  Betrag  an  Wehrsteuer  dem 
Staatsschatze  zufliessen  solle.  Dann  kommt  ein  anderes  Forum  in  die  Lage, 
diese  Frage  bezüglich  der  Dienstfreien   zu  verhandeln   und  zu   entscheiden. 

Demnach  ist  die  Abgabenpflicht  der  Wehrdienstfreien  eine  obligato- 
rische, keine  facultative.  Es  liegt  nur  insofern e  bei  dem  Individuum,  sich 
von  dieser  Pflicht  zu  lösen,  als  dasselbe  seine  Dienstesbefreiung  nachträg- 
lich aufzugeben  und  sich  der  Dienstpflicht  zu  unterziehen  vermag.  Ob  und 
wann  dies  zulässig  ist,  bestimmt  das  Wehrgesetz. 

In  dem  weiten  Rahmen,  welchen  diese  erste  Kennzeichnung  der 
Abgabe  umgrenzt,  sind  verschiedene  Auffassungen  über  das  Wesen  des 
letzteren  nicht  zu  vermeiden  gewesen.  Die  ursprünglichste  derselben  geht 
von  der  ziemlich  einfachen  Erwägung  aus,  dass  dem  Staate  bei  den  Dienst- 
freien etwas  —  die  persönliche  Wehrdienstleistung  —  entgehe  und  dass 
er  daher  statt  der  Leistung  in  natura  die  Leistung  des  Geldwertes  als 
Aequivalent  verlangen  dürfe.  Eine  Wehrsteuer,  geformt  nach  der  Theorie 
des  Aequivalentes,  ist  vom .  Loskaufschilling  grundsätzlich  durch  ihren 
obligatorischen  Charakter  geschieden.  Aber  die  mechanische  Gleichstellung 
der  Erfüllung  einer  höheren  Pflicht  mit  einer  gewissen  Geldleistung,  die 
durch  diese  Gleichstellung  bedingte  Einheit  der  Geldleistung  für  alle  Fälle 


^^)  )X.  Session  des  Keichsrathes.  Beilagen  z.  d.  stenogr.  Protok.  des  Abg.  H.  Nr.  44, 
142,  203,  213;  Stenogr.  Protok.  d.  Abg.  H.  vom  6.  Novemb.  1879  bis  12.  Mai  1880.  —  Beilagen 
z.  d.  stenogr.  Protok.  d.  Herr.  H.  Nr.  68,  84;  Stenogr.  Protok.  des  Herr.  H.  vom  25.  Mai  1880. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdieiistfreien  mit  besond.  Rücksicht  auf  Oesterreich-Üngarn.     573 

sind  kräftige  äusseiiiclie  Momente,  welche  in  den  Augen  der  Menge  jenen 
grundsätzlichen  Unterschied  leicht  verlöschen.  Die  Entartung  der  Aequiva- 
lentsteuer  führt    möglicherweise  auf  einem  Umwege   zum  Loskaufe  zurück. 

Aeltere  Gesetzgebungen,  welche  sich  an  die  Epoche  des  Loskaufes 
anlehnen,  haben  die  Aequivalentsteuer  —  als  Kopfsteuer  ■ —  normiert.  ^^) 
In  der  Theorie  hat  sie  eine  exclusiv  ausgeprägte  Vertretung  nicht  gefunden; 
doch  lassen  einzelne  Schriftsteller,  zumal  aus  der  ersten  Zeit  der  theoreti- 
schen Behandlung  der  Abgabe  (z.  B.  C.  E.  Pönitz^'),  eine  schärfere  Stel- 
lungnahme gegen  dieselbe  vermissen,  nicht  selten  sogar  eine  verdeckte 
xlnnäherung  an  ihre  Grundlagen  erkennen. 

Viel  ausgesprochener  für  das  Verhältnis  der  Abgabe  zur  Finanzwissen- 
schaft zeigt  sich  die  Anschauung  derjenigen,  welche'  die  Abgabe  eine  Geühr 
nennen.  Also  einen  Beitrag  zu  den  allgemeinen  Staatslasten^  welchen  der 
Staat  aus  Anlass  des  Befreiungserkenntnisses,  einer  das  Privatinteresse  des 
einzelnen  Bürgers  berührenden  Amtshandlung,  von  diesem  einhebt.  Die 
Anhänger  des  Gebürenprincips,  Schäffle^^)  und  SchalP^),  haben  diesen 
Gedanken  im  Sinne  L.  v.  Stein's  ausgeweitet,  indem  sie  den  wirtschaftlichen 
Wert  der  zugestandenen  Befreiung  für  das  Vermögen,  bezw.  das  Einkommen 
des  Befreiten  als  Abgabenbasis  annahmen. 

Erst  hiedurch  wurde  die  Möglichkeit  geschaffen,  bei  der  Anlage  der 
Abgabe  über  den  Rahmen  einer  niedrigen  Fixsteuer  hinauszugehen.  Durch 
den  einfachen  ßegiiff  der  Gebür,  welcher  in  dieser  lediglich  eine  Vergütung 
der  durch  den  einzelnen  Bürger  veranlassten  Verwaltungskosten  sieht,  wäre 
dies  ausgeschlossen,  weil  die  Kosten  des  Befreiungserkenntnisses  bei  Reich 
und  Arm  ungefähr  die  gleichen,  und  stets  unbedeutend  sind.  Letztere  Auf- 
fassung haben  die  bayrischen  und  württembergischen  Gesetze,  welche  Stempel 
auf  die  Militärbefreiungs-    und  Entlass- Scheine    einführten,   verwirklicht.^*^) 

Am  deutlichsten  wird  das  Verhältnis  der  Abgabe  zur  Finanzwissen- 
schaft von  jenen  gekennzeichnet,  welche  dieselbe  einer  Steuer  gleichstellten. 
Abgesehen  von  Jolly^^),  sind  dies  insbesondere  Ad.  Wagner^^)  und  F.  J. 
Neumann. ^^)  Ad.  Wagner  anerkennt  die  Gleichstellung  nur  in  formeller 
Beziehung,  hinsichtlich  der  Gestaltung  der  Abgabe,  für  welche  er  den 
Typus  des  Einkommens,  resp.  Vermögenssteuern  verlangt.  Das  Wesen  der 
Abgabe  erfährt  durch  ihn  keine  wirkliche  Klärung.  Ob  die  Abgabe  einzu- 
führen sei  oder  nicht,  verweist  er  aus  dem  Gebiete  der  Finanzwissenschaft 
hinaus    in  jenes    der  Politik.    Dagegen    hat  F.  J.  Neumann    ^ie  Abgabe 


16)  Z.  B.  das  Züricher  Cantonsgesetz  vom  20.  December  1804  (Ergänzung  zum 
dortigen  Ges.  v.  23.  Decemb.  1803)  s.  Cohn,  a.  a.  0. 

i^j  Engel,  a.  a.  0.  S.  182. 

18;  Steuerpolitik  1880.  S.  502. 

19)  Schünberg'sches  Handbuch  der  politischen  Oekonomie  1891.  S.  97  fg.  III.  Bd. 

2«)  Marcinowski  F..  a.  a.  0.  SS.  138  fg. 

21)  „Die  Militärsteuer  oder  das  Wehrgeld".  (Zeitsch.  d.  preuss.  statist.  Bur.  1869. 
S.  319  fg.) 

22;  Schönberg'sches  Handbuch  der  politischen  Oekonomie  1891.  S.  S.  327  fg.  III.  Bd. 

23)  „Die  Wehrsteuer."  (Schanz'sches  Finanz- Archiv,  1887  (I.)  S.  109  fg. 


574  Thierl. 

völlig  nach  dem  von  ihm  ausgearbeiteten  Schema  einer  directen  Sonder- 
s teil  er  aufgebaut.  Directe  Sondersteuern  sind  für  ihn  solche,  welche  „einen 
Theil  der  zu  den  directen  Steuern  im  allgemeinen  herangezogenen  Bevöl- 
kerung belasten,  weil  ihnen  entweder  Befreiungen  dieses  Theiles  der 
Bevölkerung  von  anderen  Lasten  oder  aber  Bevorzugungen  desselben  anderer 
Art  entsprechen."  Hierbei  versteht  F.  J.  Neumann  unter  Steuern  alle 
Öffentlich-wirtschaftlichen  Einnahmen,  soAveit  sie  nicht  Gebüren  sind,  unter 
directen  Steuern  jene,  w^elche  im  Anschlüsse  an  dauernde  Dinge,  zuständ- 
liche  Verhältnisse  (Einkonmien,  Vermögen,  Ertrag,  Leben  der  Personen  etc.) 
veranlagt  werden. 

Schon  die  Anschauungen  Ad.  Wagner's  und  F.  J.  Neumann's  und 
in  gewissem  Sinne  auch  diejenige  SchalFs^^)  berühren  das  weite  Gebiet  der 
Ausgleichsbelastung.  Sie  scheiden  sich  indes  dadurch  von  den  Lehren 
der  Theoretiker  letzterer  Kichtung,  dass  sie  eine  Einreihung  der  Abgabe  in 
bestehende  finanzwissenschaftliche  Kategorien  vornehmen.  Ohne  diese  Eigen- 
thümlichkeit,  an  die  Theorie  der  Ausgleichsbelastung  angelehnt,  und  doch 
von  ihr  —  durch  die  vorzugsweise  Betonung  fremder  Momente  —  getrennt, 
zeigen  sich  die  geistvollen  Sondermeinungen  Knies'^^)  und  G.  Cohn's.^^) 
Knies  formt  die  persönliche  Dienstpflicht  und  ihre  Geltendmachung  nach 
dem  Muster  der  Expropriation.  Der  Staat  bedarf  der  persönlichen  Dienste 
der  Soldaten;  werden  sie  ihm  nicht  freiwillig  geboten,  so  schreitet  er  zur 
Zwangsaushebung.  Diese  verpflichtet  ihn  aber  zur  „Bezahlung  dieses  vom 
Einzelnen  erzwungenen  persönlichen  Dienstes  durch  das  volle  Entgelt  seines 
allgemeinen  Verkehrswertes  an  jeden  Ausgehobenen  aus  den  Beiträgen  Aller.'" 
Die  Uebertragung  eines  sachenrechtlichen  Institutes  auf  das  öffentliche 
Personenrecht,  der  Unterschied,  dass  es  sich  bei  der  Enteignung  noth- 
wendigerweise  um  das  speciell  bestimmte  Eigenthumsobject  handelt,  wäh- 
rend die  Aushebung  nur  eine  bestimmte  Anzahl  „Soldaten"  überhaupt  zu 
beschaffen  hat,  dass  daher  hier  der  Loskauf  des  Einzelnen  von  der  Leistung 
möglich,  dort  widersinnig  ist,  erregen  Bedenken.  Knies  bewegt  sich  in 
einem  Zirkel,  indem  er  beweisen  will,  dass  die  Geltendmachung  der  Wehr- 
pflicht eine  Expropriation  sei,  und  vorschlägt,  sie  so  auszugestalten,  dass 
sie  zur  Expropriation  werde. 

Der  Standpunkt  G.  Cohn's  beruht  auf  der  Anwendung  des  Gesetzes 
der  Arbeitsth eilung.  Gewisse  Staatsaufgaben  werden  nur  von  hiezu 
besonders  Vorgebildeten  gut  besorgt;  diese  empfangen  hiefür  eine  staatliche 
Entlohnung  aus  den  Beiträgen  Aller.  Die  allgemeine  Wehrpflicht  durch- 
bricht grundsätzlich  diese  staatliche  Arbeitsmaxime:  die  Gemeinwehr  ist 
Sache  aller  Staatsbürger.  Und  doch  kommt  auch  in  diesem  ausgesonderten 
Kreise  von  Staatsaufgaben  das  Princip  der  Arbeitstheilung  vollständig  zur 
Geltung;    den   persönlich   Dienenden    sollen    daher    ihre   Dienste    von   den 

2^)  S.  Anmkg.  19. 

^'^)  „Die  Dienstleistung  des  Soldaten  und  die  Mängel  der  Conscriptions-Praxis". 
Freiburg  i.  B.,  1860. 

Anmkg.  4. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mitbesond.  Kücksicht  auf  Oesterreicli-Uni 


0/0 


Übrigen  wehrdienstpflichtigen,  aber  nicht  wehrdienstleistenden  Bürgern  ver- 
gütet werden.  Nun  steht  allerdings  zweierlei  dieser  Anwendung  der  Theorie 
der  Arbeitsleistung  auf  das  Wehrwesen  im  Wege.  Erstens  w^erden  im  allge- 
meinen die  staatlichen  Functionen  durch  die  freie  Berufswahl,  also  unter  der 
Einwirkung  von  Angebot  und  Nachfrage,  übernommen:  so  die  entgeltlichen 
öffentlichen  Dienstesposten.  Für  die  Recrutierung  der  heutigen  Welirmacht 
kommen  aber  Momente,  wie  Berufswahl,  Angebot  und  Nachfrage,  nur  höchst 
secundär  in  Betracht.  Und  zweitens:  die  Angestellten  des  Staates  sind 
bezahlt,  aber  nicht  abgabenfrei;  analogerweise  müssten  die  vollbezahlten 
Soldaten  des  idealen  Wehrstaates  Cohn's  auch  die  Wehrsteuer  tragen.  Eine 
Wehrsteuerpflicht  der  Wehrdienste  Leistenden  ist  nun  mit  der  heutigen 
Vorstellung  von  der  Abgabe  der  Wehrdienstfreien  nicht  in  Einklang  zu  bringen. 

Den  realen  Verhältnissen  weitaus  näher  stehen  die  Theoretiker  der 
Ausgleichsbelastung.  Ihre  Ideen  sind  die  Frucht  der  Abklärung  des 
Aequivalentsgedankens,  von  dem  sie  sich  jedoch  völlig  getrennt  haben.  Es 
handelt  sich  hier  nicht  um  die  anstössige  Gleichung  zwischen  der  persön- 
lichen Dienstleistung  des  Individuums  nach  der  allgemeinen  Wehrpflicht 
und  einem  bestimmten  Geldbetrage.  Schon  Engel  (1864)  stellt  den  Aus- 
gangspunkt der  Theorie  dahin  fest,  „dass  diejenigen,  welche  wegen  ihrer 
körperlichen  Beschaffenheit  oder  wegen  ihrer  durch's  Los  bestimmten  Ueber- 
zähligkeit  von  der  persönlichen  Ableistung  der  Wehrpflicht  befreit  sind, 
mit  einer  Steuer  zu  belegen  seien,  die  äquivalent  dem  Vortheile  ist,  der 
ihnen  aus  dieser  Befreiung  erwächst. "  '^^) 

Nach  Engel  und  den  Aelteren  (z.  B.  Eotteck)  erscheinen  —  voil  Jolly's 
anlehnenden  Bemerkungen  abgesehen  —  Lesigang'^^)  und  Borstorff^^)  als 
die  entschiedensten  Vertreter  der  Theorie.  Ersterer  bedient  sich  gleichfalls, 
noch  des  nicht  unbedenklichen  Ausdruckes  „Aequivalent"  und  neigt  sich 
sehr  wenig  zu  einer  idealen  Auffassung  der  Wehrpflicht,  welche  er  für 
nichts  anderes,  als  eine  ungeheure  persönliche  und  wirtschaftliche  Benach- 
theiligung der  zum  Dienste  Herangezogenen  erklärt.  Durch  das  „Wehrgeld'* 
strebt  er  eine  Ausgleichung  der  wirtschaftlichen  Nachtheile  und  anderwei- 
tigen Opfer  an.  Viele  Mülie  verursacht  dem  Autor  die  Ausmittlung  der 
den  einzelnen  Nachtheilen,  bezw.  Opfern  entsprechenden  Ausgleichungs- 
beträge; nachdem  er  einen  sehr  grossen  Theil  seiner  Arbeit  diesem  Zwecke* 
gewidmet,  schliesst  er  mit  dem  Geständnisse,  dass  die  Praxis  dazu  drängen 
werde,  von  solch'  umständlichen  Nachforschungen  abzusehen  und  das  Wehr- 
geld schlechtweg  als  Vermögenssteuer  einzuführen. 

Weniger  schroff,  frei  von  der  gelegentlich  überschwängiichen  Aus- 
drucksweise Lesigang's  und  im  ganzen  vorsichtig,  gibt  sich  Borstorffs 
Essay.  Kennzeichnend  erscheint  die  Voranstellung  des  Gedankens  der  justitia 
distributiva,  die  Anerkennung  des  staatlichen  Forderungsrechtes  auf  ein 
sächliches  „Aequivalent"  für  die  nicht  zu  erreichende  persönliche  Leistung, 

2^)  S.  Annikg.  4. 

28)  S.  Anmkg.  1. 

29)  „Die  Wehrsteuer.''  Tüb.  Zeitsch.  f.  d.  g.  St.  W.  1886,  2  H.  SS.  223  fg. 


,  76  Thierl. 

die  Widmung  des  Wehrsteu erertrage s  zu  Gunsten  der  Dienenden,  bezw. 
deren  Angehörigen.  Warum  die  Ausgleichung  des  persönlichen  Wehr- 
dienstes nach  Maassgabe  der  wirtschaftlichen  Kraft  des  Dienstfreien 
geschehen  solle,  entbehrt  auch  hier  der  Begründung.  Dass  die  Besteuerung 
nach  der  Leistungsfähigkeit  überhaupt  ein  Stück  ausgleichender  Gerechtig- 
keit ist^  genügt  hiezu  nicht.  Zwischen  den  Anschauungen  Cohn's  und 
Borstorff's  liegt  die  Kundgebung  des  Italieners  Carlo  Ferraris^*^),  welche 
den  Theorien  der  Arbeitstheilung  und  der  Ausgleichsbelastung  leitende 
Momente  ohne  sonderlich  günstige  Verknüpfung  entlehnt  und  sich  der- 
gestalt den  gegen  diese  beiden  Theorien  erhobenen  Einwänden  aussetzt. 

Haben  die  erwähnten  Anhänger  der  Ausgleichsbelastung  die  sociale 
und  finanzielle  Ausgleichung  der  Nachtheile  des  persönlichen  Dienstes  in 
erste  Linie  gestellt,  so  war  es  einem  österreichischen  Officiere  vorbehalten, 
die  militärischen  Gesichtspunkte  zu  Gunsten  der  Abgabe  der  Wehrdienst- 
freien hervorzuheben.  Katzenhofer's  Buch^^)  erhebt  Forderungen,  welche 
die  Gegenwart  weder  erfüllen  will,  noch  auch  kann:  so  die  Deckung  des 
gesammten  ordentlichen  Heereserfordernisses  durch  die  Wehrsteuer.  Aber 
neben  diesen  Vorahnungen  einer  fernen  Zukunft  findet  sich  der  schon  jetzt 
vollgiltige  Hinweis  auf  die  militärische  Ausgleichung  zwischen  persönlich 
Dienenden  und  Dienstfreien,  bestimmter  als  bei  anderen  Schriftstellern, 
bestimmter  auch  als  bei  General  v.  Hartmann. ^^)  An  einer  folgerichtigen 
Entwicklung  der  Idee  der  militärischen  Ausgleichung,  an  einer  Verbindung 
derselben  mit  den  Ideen  der  socialen  und  finanziellen  Ausgleichung  gebricht  es. 
Teleologisch  bedeutsam  ist  die  Bemerkung  Katzenhofer's,  dass  die  Wehr- 
steuer die  Fähigkeit  besitze,  „den  Wehrdienst  und  hiermit  die  körperliche 
Vollendung  wertvoll  zu  machen." 

Die  meisten  der  bisherigen  Gesetze  oder  Gesetzesentwürfe  lassen  eine 
klare  Stellungnahme  zu  einer  der  besprochenen  Theorien  nicht  erkennen; 
doch  finden  sich  nahezu  in  allen  Anknüpfungen  an  die  Idee  der  Ausgleichs- 
belastung im  w^eiteren  Sinne.  Dies  gilt  insbesonder  von  dem  deutschen 
und  dem  italienischen  Entwürfe-  Das  französische  Gesetz  vom  15.  Juli 
1889  (Art.  35)  erklärt  sich  ausdrücklich  für  diese  Idee:  «...  Seront  assu- 
jettis  au  payement  d'une  taxe  militaire  annuelle  ceux  qui,  par  suite  d'exemp- 
tion  .  .  .  .  ou  pour  tout  autre  motif,  beneficieront  de  l'exoneration  du  service 
dans  Farmee  active." 

Undeutlicher  erscheint  der  theoretischen  Beurtheilung  der  Charakter 
des  schweizerischen  Militärpflichtersatzes,  dann  der  österreichischen,  bezw. 
ungarischen  Militär-,  bezw.  Militär-Befreiungs-Taxe.  Die  ältesten  Schweizer 
Montierungsabgaben  sind  nicht  unwahrscheinlich  erweise  als  Aequivalent  des 
persönlichen  Dienstes  gedacht  gewesen.  ^^)  Allmählich  vollzog  sich  mit  der 

^0)  S.  Anmkg.  10. 

31)  ^x)ie  Staats  wehr."  Stuttgart,  1881. 

32)  „Die  allgemeine  Wehrpflicht"  in  den  Zeitfragen  des  christlichen  Volkslebens." 
I.  Jhrg.  4H.;  2.  Aug.  1879. 

33j  S.  insbes.  bei  G.  Cohn  (ob.  Anmkg.  4). 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Rücksicht  auf  0 esterreich- Ungarn.     577 

Einführung  des  Typus  der  Gl assensteuer,  bezw.  classificierten  oder  percen- 
tuierten  Einkommensteuer  der  Uebergang  zur  Ausgieichsbelastung:  die  in- 
zwischen angenommene  Bezeichnung  „ Militärpflichtersatz "  erhielt  sich  trotz 
wesentlicher  Veränderungen  der  Abgabe  bis  heute,  wohl  vermöge  der 
Gewohnheit,  hergebrachte  tN'amen  zu  bewahren,  zumal  wenn  sich  durch 
sie  wenig  beliebte  Ausdrücke,  wie  „Steuer",  .,Taxe"  vermeiden  lassen. 

Für  die  österreichische  Militärtaxe  kommt  vorab  der  Gegensatz 
zwischen  dem  Motivenberichte  der  Kegierungsvorlage^*)  und  dem  ersten 
Ausschussberichte  des  Abgeordnetenhauses^^)  in  Betracht.  Ersterer  spricht 
von  der  Allgemeinheit  der  Wehrpflicht  und  meint,  dass  „daher  jeder  Staats- 
bürger dieser  Pflicht  in  irgend  einer  Form,  und  zwar  entweder  durch  die 
persönliche  Dienstleistung,  oder,  wenn  er  zu  einer  solchen  Dienstleistung 
nicht  herangezogen  werden  kann,  durch  ein  Aequivalent  entsprechen 
müsse.  Der  Eechtsanspruch  des  Staates  auf  die  Einhebung  einer  Militärtaxe 
als  Aequivalent  für  den  Entgang  der  persönlichen  Militärdienstleistung  ist 
auch  bereits  durch  den  §.  55  des  Wehrgesetzes  begründet." 

Diese  Auffassung  wurde  in  dem  vom  Abg.  Grafen  Eichard  Clam- 
Martinic  verfassten  Ausschussbericht  entschieden  bekämpft: 

„Es  muss  aber  hierbei  principiell  an  dem  Gedanken  festgehalten  werden, 
dass  es  sich  unter  keinen  Umständen  um  ein  Aequivalent  für  die  persön- 
liche Erfüllung  der  Wehrpflicht  handeln  darf,  wie  dies  bei  dem  unter  anderen 
Verhältnissen    früher    bestandenen    Loskaufe    vom   Militärdienste    der  Fall 

war Die  Bedeutung  der  Militärtaxe  soll  also  die  sein,  dass  sie  jenem, 

welcher  die  ihm  obliegende  Wehrpflicht  nicht  persönlich  ausüben  kann,  die 
Verpflichtung  auferlegt,  insolange  diese  Verhinderung  besteht,  für  den  Vor- 
theil,  welchen  ihm  dieser  zufällige  Umstand  im  Vergleiche  zu  seinen  Alters- 
genossen bietet,  ein  gewisses,  seiner  Leistungsfähigkeit  angemessenes  Opfer 
zum  allgemeinen  Besten  zu  bringen." 

Es  liegt  übrigens  keine  weitere  Aeusserung  der  Eegierung  vor.  welche 
den  Charakter  der  Abgabe  im  Sinne  der  Aequivalents -Theorie  festhalten 
würde.  Sie  hatte  sich  auf  den  §.  55  des  Wehrgesetzes  vom  5.  December 
1868  berufen,  welcher  lautet: 

„Die  Wehi-pflicht  ist  eine  allgemeine  und  muss  die  allgemeine  Pflicht 
von  jedem  wehrfähigen  Staatsbürger  persönlich  erfüllt  werden." 

Hieraus  schloss  sie  a  contrario:  von  jedem  Nichtwehrfähigen,  durch 
eine  Ersatzleistung  in  Geld,  also  eine  Art  Aequivalent.  Die  Debatte  im 
Hause  ^^)  förderte  dann  die  historisch  begründete,  von  der  Eegierung  nicht 
widersprochene  Deutung  des  §.  55  cit.  zu  Tage:  „persönlich",  d.  h.  es  gibt 
keinen  Loskauf  mehr.  Späterhin  bedienten  sich  die  Eegierungsorgane  bald 
des  Ausdruckes  „Steuer",  bald  des  allgemeineren  „Abgabe".  Unter  den 
Abgeordneten  fand  sich  keiner  bereit,  die  Theorie  des  Aequivalents,  welche 
mit  ihrer  Gleichung  gegen  das  Wehrpflichtideal  verstiess  und  den  Verdacht 

^*)  Beilg.  44  d.  IX,  Sess.  d.  Abg.  Hauses. 
35)  Beilg.  142  d.  IX.  Sess,  d.  Abg.  Hauses. 
'^)  S.  Anmkg.  15. 


578  '  Thierl. 

der  Neubelebuiig  des  Loskaufes  erweckte,  zu  bekennen.  Einzelne  erklärten 
die  Abgabe  als  , Steuer",  um  Grund  zu  haben,  sie  als  eine  iiscalische  Maass- 
regel zu  bekämpfen,  andere  als  „Taxe*,  entweder  weil  sie  den  odiosen 
Ausdruck  Steuer  vermeiden  w^ollten  oder  aber  hiedurch  den  abnormen 
Charakter  der  Abgabe  und  ihrer  Verrechnung  zu  kennzeichnen  glaubten. 
Eben  diese  letztere,  wie  sie  von  der  Kegierung  vorgeschlagen  worden, 
spricht  gegen  die  Annahme  einer  Steuer,  ohne  dass  deshalb  ihre  Aenderung 
im  fertiggestellten  Gesetze  für  diese  Annahme  zeugen  würde.  Die  verhältnis- 
mässig stärksten  Momente,  so  jener  Ausschussbericht  des  Abgeordneten- 
hauses, mehrfache  Aeusserungen  während  der  Debatte  in  diesem  Hause, 
endlich  der  Bericht  des  Herrenhaus -Ausschusses  vom  19.  Mai  1880^'), 
welcher  übrigens  auch  den  endlichen  Anschluss  der  Eegierung  an  diesen 
Standpunkt  erklärt,  rechtfertigen  die  Auffassung  der  Militärtaxe  als  Aus- 
gleichs-Belastung. 

Noch  schwieriger  gestaltet  sich  die  Erkenntnis  des  Wesens  der  unga- 
rischen Militärbefreiungstaxe  aus  den  parlamentarischen  Verhandlungen. 
Diese  fanden  bereits  im  November,  bezw.  December  1879  statt  und  nahmen 
viel  weniger  Zeit  in  Anspruch  als  westlich  der  Leitha.  Der  Ausschuss- 
Eeferent  (Abg.  Geoig  Molnär)  sah,  gleich  dem  Verfasser  des  österreichi- 
schen Motivenberichtes,  in  der  Abgabe  ein  Aequivalent  des  persönlichen 
Dienstes;  andere  verwarfen  sie  als  neue  Steuer  oder  schlechtweg  als  fisca- 
lische  Erfindung  oder  als  Ausfluss  der  von  ihnen  gehassten  gemeinsamen 
Wehrverfassung.  Die  äusseren  Stützen  für  die  Auffassung  der  Taxe  als 
Ausgleichsbelastung  sind  hier  geringer  als  in  der  westlichen  Keichshälfte; 
aber  der  im  ganzen  und  grossen  gleichartige  Aufbau  der  Abgabe  in  beiden 
Reichshälften  bildet  ein  starkes,  inneres  Motiv,  diese  Auffassung  auch  für 
Ungarn  zur  Geltung  zu  bringen.  ^ 

IL  Die  Subjecte  der  Abgabe. 

A.  Naturgemäss  sind  dies  die  Wehrdienstfreien.  Für  den  Fall, 
als  diese  kein  ausreichendes  selbständiges  Einkommen  haben  und  von  ihren 
bürgerlich -rechtlich  verpflichteten  Ascendenten  ganz  oder  theilweise 
erhalten  werden,  haben  die  meisten  Gesetze  letztere  zur  Abgabenleistung 
herangezogen. 

a)  Im  allgemeinen  umfasst  die  Classe  der  Wehr  dienstfreien  fünf 
Kategorien : 

1.  Die  Ausgeschlossenen  (Wehrdienst-Unwürdige); 

2.  die  Ausgemusterten  (Wehrdienst-Untaugliche); 

3.  die  zeitlich  Befreiten; 

4.  die  Auswanderer; 

5.  die  Ueberzähligen  oder  Freigelosten  (Wehrdienst -Entbehrliche). 
1.    Dem    österreichischen   und   ungarischen  Wehrrechte  ist  die  Aus- 
schliessung vom  persönlichen  Dienste  wegen  ünwürdigkeit  eigentlich  fremd.  Die 


^■^j  Beilg.  84  d.  IX.  Sess.  d.  Herrenhauses. 


Die  Abgabe  d.  Welirdienstfreien  mit  besoiid.  Eücksicht  auf  Oesterreich-Ungarn.     579 

strafgerichtliche  Untersuchung,  bezw.  Aburtheilung  bewirkt  Aufschub  der 
Stellung,  bezw.  des  Antrittes  der  Dienstpflicht,  Unterbrechung  und  Verlän- 
gerung der  Dienstleistung.^^)  Es  entfällt  daher  auch  die  Militärtaxpflicht 
solcher  Personen. 

Wohl  unter  dem  Einflüsse  besonderer  Bedachtnahme  auf  die  ideale 
Aufgabe  des  Wehrstandes,  auf  Disciplin  und  Kameradschaft  haben  auswär- 
tige Gesetze  die  Ausschliessung  der  wegen  grober  Delicte  Verurtheilten  für 
nöthig  erkannt. ^-^j  So  das  sächsische  Gesetz  vom  24.  December  1866 
(§.  17),  w^elches  dafür  die  Unwürdigen  mit  einem  Zuschüsse  von  300  Thalern 
zum  Dienstalters  -  Zulagenfonde  belegt:  die  bayrischen  Gesetze  vom 
30.  Jänner  1868  (Art.  16)  und  vom  29.  April  1868  (Art.  1  lit.  d)  und 
Art.  2  Schlussalinea);  der  deutsche  Entwurf  v.  J.  1881  (§.  1  Z.  1).  Das 
bayrische  Eecht  schliesst  von  der  Ehre  der  Waffen  aus,  wer  wegen  Ver- 
brechens oder  eines  Vergehens  des  Betruges,  der  Unterschlagung,  der 
Fälschung,  des  Diebstahls  oder  der  Hehlerei  verurtheilt  und  nicht  rehabili- 
tiert w^orden  ist,  und  verwendet  solche  Ausgeschlossene  nach  Thunlichkeit 
zu  anderen  militärischen  Arbeiten.^^)  Sehr  beachtenswerte  Dispositionen  hat 
in  Hinsicht  auf  die  Waffenunwürdigen  das  französische  Wehrgesetz  vom 
15.  Juli  1889^^)  getroffen.  Es  stellt  gewisse  von  sehr  schweren,  insbesonders 
infamierenden  Strafen  Betrofl:ene,  ebenso  wie  die  collectiv  Verbannten  zur 
Verfügung  des  Marineministers,  welcher  ihre  Verwendung  bestimmt.  Die 
mit  individueller  Verbannung  Belegten  bilden  die  zweite  Gruppe;  sie  werden 
in  die  Truppenkörper  der  Colonial-Sträflinge  eingereiht.  Die  dritte  Gruppe 
besteht  aus  den  blos  zu  Gefängnis  verurtheilten  Verbrechern  (Art.  463, 
cod.  pen.)  und  solchen,  welche  wegen  gewisser  Sittlichkeitsdelicte  zu  min- 
destens drei  Monaten  oder  überhaupt  zweimal  abgestraft  wurden;  sie  werden 
der  leichten  afrikanischen  Reiterei  incorporiert,  können  indes  bei  guter 
Aufführung  nach  Jahresfrist  zu  anderen  Truppenkörpern  versetzt  werden. 
Die  wegen  politischer  Delicte  Verurtheilten  werden  hiedurch  nicht  walfen- 
unwürdig  (Art.  6).  Gegenüber  dieser  relativen  Waffenunwürdigkeit  fehlt  es 
aber  im  Art.  35  W^.-G.  an  einer  ausdrücklichen  Unterwerfung  der  genannten 
Gruppen  unter  die  Militärtaxpflicht.  —  Die  Vorfrage,  ob  Waffenunwürdig- 
keit bestehen  solle  und  in  welchem  Umfange,  gehört  nicht  hieher,  sondern 
in  das  Gebiet  des  Wehrrechtes. 

2.  Die  Ausgemusterten  (Wehrdienst-Untauglichen)  bilden  durchwegs 
den  Hauptstock  der  Abgabenpflichtigen.   Dies  gilt  insbesondere  dann,  wenn 


38}  §.  90  I.  Theil  und  §.  56  II.  Theil  der  Wehrvorschriften,  enthaltend  die  Durch- 
führungsbestimmungen zum  österr,  Wehrgesetze.  (Normal -Vdg.- Blatt  f.  d.  k.  k.  Heer 
28.  Stück.)  Ausstossung  nur  bei  einzelnen  schwersten  Fällen  militärischer  Verbrechen 
(§§,  45  u.  47  des  öst.  Mil.-Straf-Ges.  v.  15.  Jänner  1855). 

39j  S.  bei  Jolly  (ob.  Anmkg  8). 

^^)  S.  bei  Marcinowski  (ob.  Anmkg.  2),  S.  147.  S.  übgs.  §.  18  d.  dtsch.  Keichs- 
Mil.-Ges.  V.  2.  Mai  1874,  §§.  28  u.  35  d.  Ersatzordnung  v.  28.  September,  bezw.  f.  Baiern 
V.  21.  November  1875;  §.  31  Reichs-Straf-Ges.-B.;  §.  31  Milit.-Straf-Ges.-B.  (bei  Mar- 
cinowski S.  72)  betr.  d.  Waffenun Würdigkeit  nach  deutsch.  Wehrrechte. 

41)  S.  Anmkg.  11. 


580  Thierl. 

man  hiezu  noch  die  aus  gewissen  meist  familiären  Gründen  zeitlich  Be- 
freiten und  die  Auswanderer  rechnet. 

Zu  den  Ausgemusterten  gehören  gemäss  §.  1  des  österreichischen 
Militärtax- Gesetzes*^):  die  wegen  üntauglichkeit  Gelöschten  oder  Zurück- 
gestellten, die  wegen  üntauglichkeit  vorzeitig  Entlassenen,  wenn  das 
Gebrechen  nicht  durch  die  active  Militärdienstleistung  herbeigeführt  wurde. 
Die  Kegierungsvorlage  Hess  die  Deutung  zu,  dass  auch  die  durch  ein 
w^ährend  der  Dienstzeit  entstandenes  Gebrechen  eingetretene  Erwerbsunfähig- 
keit (ohne  Kücksicht  auf  den  dienstlichen  Ursprung  des  Gebrechens)  von 
der  Taxpflicht  frei  machc^^);  später  flel  dies,  insbesondere  wegen  der  Begün- 
stigung der  vermöglichen  Erwerbsunfähigen  weg.  Im  ungarischen  Gesetze**) 
ist  diese  etwas  sonderbare  Einschaltung  eines  Befreiungsgrundes  inmitten 
der  Aufzählung  der  Taxpflichtfälle  beibehalten  worden.  Grundsätzlich  erscheint 
es  völlig  correct,  alle  Untauglichen  als  abgabenpflichtig  zu  erklären;  will 
der  Gesetzgeber  einzelnen  durch  ihr  Gebrechen  besonders  schwer  Getrofi'enen 
Schonung  angedeihen  lassen,  so  sind  solche  Ausnahmen  unter  den  Befreiungs- 
fällen anzuführen.  Naturgemäss  ist  die  Üntauglichkeit  —  sowohl  die  voran- 
gehende, als  die  nachfolgende  —  in  allen  Gesetzen,  bezw.  Entwürfen  als 
ein  Hauptfall  der  Abgabenpflicht  behandelt. 

3.  Die  aus  familiären  Gründen  zeitlich  Befreiten  unterliegen  der 
Abgabenpflicht  für  die  D^uer  ihrer  Befreiung.  Diesen  werden  die  aus  einem 
solchen  Grunde  vorzeitig  Entlassenen  gleichgehalten.  Hieher  gehören  z.  B. 
nach  österreichischem  und  ungarischem  Kechte*^)  der  einzige  Sohn 
eines  erwerbsunfähigen  Vaters  oder  einer  verwitweten  Mutter,  ein  ehelicher 
Bruder,  welcher  seine  ganz  verwaisten  Geschwister  erhält,  Eigenthümer 
ererbter  Landwirtschaften,  welche  daselbst  wohnen  und  die  Bewirtschaftung 
selbst  besorgen,  bei  einer  gewissen  Höhe  des  Wirtschaftsertrages.  Auch 
das  deutsche  Eeichs-Militärgesetz  (§§.  20  und  22,  52 — 55)  berücksichtigt 
ähnliche  bürgerliche  Verhältnisse  und  ausnahmsweise  Billigkeitsgründe *^), 
ebenso  wie,  wenigstens  theilweise,  das  frühere  bayerische  Wehrverfassungs- 
Gesetz  vom  30.  Jänner  1868  (Art.  11.*^)  Weitergehend  sind  in  mehrfacher 
Hinsicht  die  einschlägigen  Normen  des  Art.  21  des  französischen  Wehr- 
gesetzes vom  15.  Juli  1889. 

4.  Von  den  Auswanderern  verlangt  das  österreichische  und  das 
ungarische  Gesetz  f§.  9,  bezw.  §.  12)  die  Bezahlung  der  Abgabe  für  die 
ganze  restliche  Dauer  der  Abgabenpflicht  auf  einmal. 

5.  Der  Zahl  nach  wohl  nicht  überwiegend,  aber  von  namhafter  Bedeu- 
tung   sind   die    Ueberzähligen    oder   Entbehrlichen.     In    erster    Linie 


-»2)  Vom  13.  Juni  1880,  Reichs-Gesetz-Blatt  Nr.  70. 
^3)  Big.  44  d.  IX.  Sess.  d.  Abg.-Hauses;  §.   1,  Z.  3. 
'')  Vom  '3.  Juni  1880,  Ges.-Artik.  XXVIL  v.  J.  1880,  §.  1,  Z.  3. 
•'^)  S.  Durchfiihrungs-Bestimmungen,  I.  Theil,  §.  60  (s.  ob.  Anmkg.  38)  z.  d.  Wehr- 
gesetzen. 

^«)  S.  Marcinowski,  SS.  72,  73  und  85  (ob.  Anmkg    2). 
4^)  S.  Marcinowski,  S.  146  (ob.  Anmkg.  2). 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Rücksicht  auf  Oesterreich-Ungarn.     581 

gehören  hielier  die  unbedingt  Tauglichen,  welche  ihrer  hohen  Losnummer 
halber  nicht  zur  normalen  Dienstleistung  berufen  werden.  Sodann  dürften 
auch  die  bedingt  Tauglichen,  welche  an  einem  die  Leistungsfähigkeit 
beeinträchtigenden  Fehler  leiden,  dieser  Gruppe  zuzuzählen  sein.  Alle  diese 
werden  der  Ersatz-Reserve,  bezw.  nach  deutschem  Wehrrechte  der  Ersatz- 
Reserve  I.  oder  IL  Classe  zugewiesen ;  letzteres  verfügt  übrigens  auch 
bezüglich  der  zeitig  untauglichen  ebenso."*^)  Diese  Ersatz-Reservisten 
sind  grundsätzlich  abgabenpflichtig,  doch  kann  Umfang  und  Dauer  ihrer 
Abgabenpflicht  durch  eine  vorübergehende  Heranziehung  zum  Dienste  beein- 
flusst  werden.    (Z.  B.  §.  3  des  deutschen  Entwurfes.*^) 

b)  Ausser  den  Wehrdienstfreien  können  noch  andere  Personen  zur 
Abgabenleistung  herangezogen  werden.  Es  sind  dies,  abgesehen  von  dem 
Dienstgeber  (§§.  10  und  11  des  ungar.  Ges.)  und  dem  Vormunde  (§.  15 
des  Züricher  Ges.  vom  16.  Christmonat  1862^^),  welche  doch  nur  als 
Cassiere  des  Staates  aufgefasst  werden  sollen,  die  As ceu deuten,  bezw.  die 
alimentationspflichtigen  Verwandten  (Art.  13  des  baye.  Ges.  vom  29.  April 
1868).^^)  Die  Abgabenpfliclit  der  Ascendenten  ist  mannigfachen  theoretischen, 
wie  praktischen  Bedenken  unterworfen,  und  zwar  sowohl  in  subjectiver,  als 
auch  in  objectiver  Beziehung.  In  subjectiver  Beziehung,  weil  sie  eine  Ver- 
schiebung in  der  Person  des  Leistungspflichtigen  bewirkt  und  dadurch  den 
Parallelismus  zwischen  persönlicher  Dienstpflicht  und  Abgabenpflicht  zerstört, 
zumal  dann,  wenn  der  Ascendent  nicht  als  subsidiär  Haftender,  sondern  als 
primär  Verpflichteter  einzutreten  hat.  In  objectiver  Beziehung,  weil  sie  die 
gerechte  Festsetzung  der  Bemessungsgrundlage  sehr  erschwert. 

Bei  dem  gegenwärtigen  Stande  der  Wehrsteuer- Gesetzgebung,  bezw. 
der  zugehörigen  Gesetzentwürfe  stellt  sich  die  Abgabenpflicht  der  Ascen- 
denten lediglich  als  eine  nach  dem  Gesichtspunkte  der  Zweckmässigkeit 
getroffene  Einrichtung  dar.  Fraglich  bleibt  dabei,  ob  sie  diesem  Gesichts- 
punkte auch  wirklich  entspricht. 

Die  Stellungspflicht  tritt  an  die  jungen  Leute  zu  einer  Zeit  heran,  in 
welcher  ein  beträchtlicher  Bruchtheil  derselben  noch  nicht  in  der  Lage  ist, 
sich  zu  erhalten.  Insbesondere  gilt  dies  von  den  Söhnen  der  höheren  Stände, 
deren  Ausbildung  in  diesem  Alter  meistens  nicht  abgeschlossen  ist.  Lässt 
das  Gesetz  den  Beginn  der  Wehrsteuei-pflicht  mit  der  ersten  Zurückstellung 
zusammenfallen  und  anerkennt  dasselbe  nur  die  Steuerpflicht  der  Dienst- 
freien selbst,  so  gehen  die  Dienstfreien  aus  dem  berührten  Kreise  einige 
Jahre  hindurch  steuerfrei  aus.  Abgesehen  von  der  Minderung  des  allge- 
meinen Steuererträgnisses,  liegt  darin  eine  Verletzung  der  ausgleichenden 
Gerechtigkeit  zu  Gunsten  der  ohnedies  wirtschaftlich  in  besserer  Lage  Befind- 
lichen. Zudem  wird  es  für  sehr  natürlich  gehalten,  dass  die  zum  Unterhalte 
der  Dienstfreien  verpflichteten  und  denselben  auch  thatsächlich  bestreitenden 

^8)  S.  bei  Marcin  owski  SS.  72  n.  73.  (ob.  Anmkg.  2.) 
^^)  S.  bei  Marcin  owski  SS.  75  fg.  (ob.  Anmkg.  2.) 

50)  S.  bei  E  n  g  e  1  (ob.  Anmkg.  4),  S.  192. 

51)  S.  bei  M  a  r  c  i  n  0  w  s  k  i  (ob.  Anmkg.  2).  SS.  143  u.  144. 


582  '^hierl. 

Verwandten,  insbesondere  die  Ascendenten  auch  für  die  Wehrsteuer  auf- 
kommen. 

In  dreifacher  Weise  kann  sich  die  Verpflichtung  der  Ascendenten  geltend 
machen,  entweder  als  ausschliessliche  oder  als  concurrierende  (im  Sinne 
einer  Solidar-Obligatio)  oder  als  subsidiäre  (im  Sinne  einer  Intercessio). 
Die  ausschliessliche  Verpflichtung  der  Ascendenten  abstrahiert  gänzlich  von 
dem  persönlichen  Parallelismus  zwischen  Dienstpflicht  und  Wehrsteuerpflicht; 
in  dieser  besonders  dem  militärischen  Momente  der  Abgabe  wenig  genügenden, 
extremen  Position  vermag  nur  das  Regressrecht  der  Ascendenten  und  die 
Collationspflicht  der  dienstfreien  Descendenten  eine  Milderung  zu  schaffen. 

Das  österreichische  Militärtaxrecht  erklärt  die  Taxpflicht  der 
Ascendenten,  wo  es  dieselbe  eintreten  lässt,  für  eine  ausschliessliche 
(§§.  1  und  4).  Obwohl  es  nebstbei  die  Dienstfreien  als  ideell  taxpflichtig 
ansieht  (§.  4  cit.:  .ausser  den  im  §.  1  bezeichneten  Wehrpflichtigen"), 
nimmt  es  factisch  doch  die  strengste  Form  der  Ascendentenpflicht  an,  da 
es  weder  Regressrecht  noch  Collationspflicht  kennt.  In  Ungarn  entrichtet 
für  die  der  Taxe  unterworfenen  Dienstfreien  das  Familienhaupt  die  Taxe, 
und  zwar  auch  dann,  wenn  der  Descendent  unabhängig  steuerpflichtiges 
Vermögen  besitzt,  falls  die  Steuer  des  Ascendenten  grösser  ist  als  diejenige 
des  Descendenten  (§.  2  Ges. -Art.  IX  v.  J.  1883.^2^. 

Wenig  klar  ist  die  Fassung  des  deutschen  Entwurfs,  der  schwei- 
zerischen Gesetze  und  des  ehemaligen  bayerischen  Gesetzes.  Im  deut- 
schen Entwürfe  sind  die  Ascendenten  bezüglich  der  Fixsteuer  „  Selbst- 
schuldner"  (§.  7,  Alin.  2).  Bezüglich  der  Classen-,  resp.  Percentsteuer  fällt 
eine  sichere  Auslegung  der  §§.  8  und  9  in  Verbindung  mit  §§.  1  und  6 
schwer;  man  mag  zwei  Schuldverhältnisse,  jedes  mit  selbständigem  Inhalte, 
vermuthen,  zwischen  denen  dem  Reichsschatze  die  Wahl  zustünde  (also  eine 
Abart  der  concurrierenden  Verpflichtung)  —  oder  eine  ausschliessliche  Ver- 
pflichtung der  Ascendenten  annehmen.  Eine  merkwürdige  Deutung  weist 
auf  die  Absicht  einer  Cumulativ -Besteuerung.^^) 

Bei  den  Schweizer  Gesetzen,  welche  sich  grossentheils^*)  des  Aus- 
druckes -haftbar"  (responsable)  bedienen,  ist  est  zumeist  zweifelhaft,  ob 
diese  Haftbarkeit  über  die  Personaltaxe  hinausgeht.  Art.  9  in  Verbindung 
mit  Art.  3  und  5  des  Bundesgesetzes  scheint  dies  zu  verneinen.  Vielleicht 
gestattet  die  Veranschlagung  der  Hälfte  des  Vermögens  der  Eltern,  getheilt 
durch  die  Zahl  der  Kinder  (Art.  5  A,  Z.  2),  einen  gegentheiligen  Schluss. 

Durch  das  bayerische  Gesetz  werden  die  Rentämter  ermächtigt,  die 
rückständigen  Wehrgelder  „von  den  Pflichtigen,  deren  Eltern  oder  alimen- 
tätionspflichtigen  Verwandten  beizutreiben"  (Art.  13.^-'') 


52)  Sanction  v.  2.  Februar  1883. 

5')  S.  Marcinowski  S.  105,  Bemerkungen  zu  §.  8  (ob.  Anmkg.  2). 

5-')  Art.  9  des  Bundesgesetzes  (1878),  §.  8  d.  Berner  Gesetzes  (1863),  Art.  8  d, 
VVaadtländ.  Ges.  (1846);  s.  bei  Marcinowski,  S.  153;  bei  Engel  SS.  HO  u.  192  (ob. 
Annikgn.  2  u.  4). 

55)  S.  ob.  Anmkg.  51. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Rücksicht  auf  Oesterreich-Ungarn.     583 

Das  französische  Gesetz  (Art.  35,  §§.  3  und  6),  welches  die  Aseen- 
dentenpflicht  als  subsidiäre  anordnet^*''),  lässt  dieselbe  trotz  eigener  Per- 
sonalsteuer des  Descendenten,  bei  gemeinsamem  Domicile,  bezw.  noch  nicht 
erreichtem  30.  Lebensjahre  des  Descendenten,  zu;  hier  wie  dort,  wo  der 
dienstfreie  Descendent  nicht  selbst  personalsteuerpflichtig  ist,  entscheidet 
der  Ascendenten- Quotient:  sonst  die  Personalsteuer- Quote. 

Zumeist  hängt  die  Ascendentenpflicht  von  der  factischen  Gewährung 
des  gesetzlichen  Unterhaltes  ab;  der  italienische  Entwurf  verpflichtet  die 
Ascendenten  für  jeden  Fall.^^) 

B.  Die  Befreiung  von  der  Abgabe  ist  entweder  eine  dauernde 
oder  vorübergehende.  Zu  den  dauernd  Befreiten  zählen  nach  öster- 
reichischem Rechte  (§.  5)  die  Vermögens-  und  Einkommenslosen,  wegen 
geistiger  und  körperlicher  Gebrechen  Erwerbsunfähigen,  sowie  die  in  Armen- 
versorgung Befindlichen,  dann  die  vor  dem  Jahre  1875  wehrpflichtig 
Gewordenen.  —  Der  deutsche  (§.  5,  Z.  3)  und  italienische  Entwurf, 
das  Waadtländer  (Art.  3,  lit.  b),  württembergische  (Art.  2)  und 
französische  (Art.  35,  §.  4,  Alin.  2)  Gesetz  begnügen  sich  mit  der  Er- 
werbsunfähigkeit;  das  ungarische  (§.  4),  bayerische  (Art.  4),  Berner 
(§.  4,  lit.  b)  Gesetz  und  das  schweizer  Bundesgesetz  (Art.  2,  lit.  a)  verlangen 
den  Zutritt  der  Vermögenslosigkeit.  Der  entscheidende  Grund  ist  weniger  die 
allgemeine  Benachtheiligung,  welche  gebrechliche  Personen  aus  ihrem 
Defecte  für  das  Leben  erfahren  ^^),  als  die  üneinbringlichkeit  der  Abgabe, 
welche  bei  vermögenslosen  Erwerbsunfähigen  nicht  zweifelhaft   sein  kann. 

Keine  Rückwirkung  des  Gesetzes  bildet  die  Befreiung  jener,  welche 
vor  einem  gewissen  Jahre  wehrpflichtig  geworden.  Als  Grenztermin  bezeichnet 
das  österreichische  Gesetz  vom  Jahre  1880  (§.  5,  Z.  3)  den  1.  Jänner 
1875,  der  deutsche  Entwurf  vom  Jahre  1881  (§.  5,  Z.  1)  den  1.  Jänner 
1872.  Die  Wehrcommission  des  österr.  Herrenhauses  stützte  die  Annahme 
einer  Rückwirkung  darauf,  dass  die  Verpflichtung  zur  Militärtaxe  bereits 
durch  den  §.  55  des  Wehrgesetzes  vom  Jahre  1868  geschaffen  wurde.  ^^) 
Aber  diese  Gesetzesstelle  enthält  von  den  drei  wesentlichen  Momenten 
einer  Obligatio:  Rechtsgrund,  Bezeichnung  der  Person  des  Berechtigten 
und  des  Verpflichteten,  Bestimmtheit  des  Gegenstandes,  höchstens  das 
erste.  Die  beiden  übrigen  wurden  erst  durch  das  Gesetz  vom  13.  Juni  1880 
geschaffen. 

Eine  vorübergehende  Befreiung  von  der  Abgabe  wird  den  Pflich- 
tigen auf  Grund  einer  theilweisen  Leistung  des  Waffendienstes  schon  im 


56)  S.  ob.  Anmkg.  11. 

5"^)  „II  progetto  italiano  obbliga  gli  ascendenti  in  qualsiasi  caso,"  Ferraris,  S  340 
(s.  ob.  Anmkg.  10).  Den  Begriif  „Unterhalt"  bestimmt  Marcinowski  S.  87  (s.  ob. 
Anmkg.  2);  er  umfasst  hiernach  „Wohnung,  Kleidung,  Nahrung,  Bedienung,  Unterricht 
u.  a.  ähnliche  siandesmässig  gebotene  Aufwendungen."  Für  die  Gesetzgebung  kommen 
wohl  die  civilrechtlichen  Normen  des  einzelnen  Staates  zunächst  in  Betracht. 

58)  C  0  h  n  (bei  Marcinowski  S.  85,  s.  ob.  Anmkg.  2). 

59)  Big.  81  d.  IX.  Sess.  d.  H.-H. 


584  Thierl. 

alten  Waadtländer  (1846'''^)  und  in  den  meisten  Cantons-Gesetzen  der 
Schweiz  gewährt.  Nicht  so  im  Bundesgesetze,  welches  indes  —  wie  das 
Waadtländer  Gesetz  nebstbei  —  eine  Erleichterung,  Milderung  der  Abgabe 
dort  eintreten  lässt,  wo  der  Abgabenpflichtige  schon  vor  Eintritt  der  Ab- 
gabenpflicht eine  Zeit  lang  gedient  hat.''^)  Aehnliches  hat  der  deutsche 
Entwurf  bezüglich  der  Ersatz-Keservisten  I.  Classe  nach  beendigter  erster 
Waffenübung  angeordnet;  er  anerkennt  jedoch,  nach  waadtländischem  Muster, 
ausserdem  die  vorübergehende  Befreiung  während  der  Einziehung  zum 
activen  Dienste  (§.  3).  Der  italienische  Entwurf  und  das  französische 
Gesetz  (Art.  35,  §.  4)  normieren  nur  die  vorübergehende  Befreiung  nach 
Maassgabe  der  theilweisen  activen  Dienstleistung;  ersterer  rechnet  den 
begonnenen  Doppelmonat  für  vollendet,  letzteres  schlägt  Theile  eines  Monats 
nicht  an.  Waftenübungen  berücksichtigt  das  französische  Gesetz  gar  nicht.^^) 
Die  vorübergehende  Abgabenbefreiung  nach  Maassgabe  einer  theil- 
weisen Dienstleistung  entspricht  dem  Parallelismus  zwischen  Abgabenpflicht 
und  Dienstfreiheit;  die  Unterbrechung  der  letzteren  bewirkt  auch  eine  Unter- 
brechung der  ersteren.  Schwieriger  fällt  die  Rechtfertigung  des  Nachlasses 
an  der  Steuer-Quote  für  den  waffendienstfreien  Rest  der  Wehrperiode  bei 
jenen,  welche  vordem  gedient  haben.  Ist  deren  Waffendienstfreiheit  nunmehr 
eine  gänzliche,  so  bedeutet  dieser  Nachlass  eine  Ungleichheit  gegenüber 
den  anderen  Abgabenpflichtigen.  Die  eigenthümlichen,  noch  schwankenden 
wehrrechtlichen  Verhältnisse  der  Ersatz-Reservisten  mögen  *  allerdings  eine 
Ausnahme  von  dieser  Auffassung  gestatten. 

III.  Das  Ausmaass  der  Abgabe. 
A.  Nach  österreichischem  Rechte  ist  der  Gegenstand  der  Abgaben- 
Forderung  des  Staates  wohl  eine  gesetzlich  bestimmte  Summe  Geldes.  Die 
Terminologie  des  Gesetzes  selbst  weist  auf  eine  classenmässige  Abgabe ; 
nach  §  3  bewegen  sich  die  Sätze  für  die  1.  bis  14.  Classe  zwischen  100  fl. 
und  1  fl.  Ein  Antrag  (Abg.  Fax)  auf  Creierung  höherer  Classen  (150  fl., 
200  fl.,  300  fl.,  400  fl.  und  500  fl.)  wurde  abgelehnt.  Im  einzelnen 
Falle  erscheint  jedoch  der  Umfang  der  Steuer- Obligatio  des  betreffenden 
Wehrdienstfreien  nicht  zum  Voraus  bestimmt,  sondern  nach  den  gesetzlichen 
Merkmalen  innerhalb  der  gesetzlichen  Classensätze  bestimmbar.  Mehrere 
wirtschaftliche  Momente  in  ihrem  Zusammenhalte  ersetzen  die  Steuerbasis: 
Vermögens-  und  Erwerbs-Verhältnisse  des  Taxpflichtigen,  dessen  reines 
Einkommen,  dessen  directe  Steuerleistung.  Steuereinheit  und  Steuer- 
fuss  sind  nicht  gesetzlich  bestimmt.  Nur  eine  beiläufige  Richtschnur  für 
das  Arbitrium  der  Bemessungsbehörde  ist  es,  wenn  jener  Ciassensatz  in  der 
Regel  genommen  werden    soll,   welchem   das  Zehntel   an   directen    Steueru 


^^)  Art.  5,  alin.  2,  s.  bei  Engel  S.  192  (ob.  Anmkg.  4). 

^^)  Art.  6  d.  Bund.-Ges.,  Art.  4  d.  Waadtländ.  Ges.;  beidesmal  nur  die  Hälfte  bei 
8-;  resp.  3-jähriger  Dienstzeit.  (S.  Marcin  owski;  SS.  152  u.  153,  Engel  S.  192 
ob.  Anmkg.  2  u.  4.) 

62^  S.  ob.  Anmkgn.  10  u.  11. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreieii  mit  besoud.  Riicksidit  auf  Oesterreich-Ungarn.     585 

sammt  Staatszusclilägen  zunächst  entspricht.  Hiedurch  wird  die  Einreihung 
in  eine  höhere  oder  niedrigere  Classe  nach  Maassgabe  der  übrigen,  vorhin 
als. relevant  bezeichneten  Momente  nicht  ausgeschlossen.  Elementar-Ereignisse 
berechtigen  zur  Herabsetzung,  eventuell  gänzlichen  Nachsicht  der  Steuer. 
Die  Kegierungsvorlage  war  in  jeder  Beziehung  strenger  gewesen. 

Wesentlich  anders  zeigt  sich  das  Classensystem  des  ungarischen 
Gesetzes.  Es  theilt  sich  nach  fünf  Gruppen,  im  grossen  und  ganzen 
Erwerbs-Kategorien.  Bei  den  drei  ersten  entscheidet  der  Beruf,  bei  den  zwei 
letzten  die  Steuerleistung.  Die  Berufsgruppen  sind:  I.  niederes  Gesinde, 
Tagiöhner  (3  fl.),  IL  Hausgesinde,  Gehilfen,  Diurnisten,  Hausierer  etc.  (4  fl.). 
ni.  selbständige  Handwerker  (Kleingewerbetreibende)  (5  fl.).  In  die  Gruppe 
IV  fallen  die  der  Erwerbsteuer  II.  und  III.  Classe,  dann  der  Bergwerk- 
steuer Unterworfenen.  Die  Taxe  steigt  nach  dem  Gesetze  v.  J.  1880  (§.  10) 
von  5  fl.  (bei  50—100  fl.  Steuer)  auf  100  (über  3000  fl.  Steuer);  nach  der 
Novelle  v.  2.  Februar  1883  (§.  2.)^^)  von  3  fl.  (bei  Steuer  bis  10  fl.) 
auf  120  fl.  (über  1200  fl.  Steuer).  Zur  Gruppe  V  gehören  die  der  Erwerb- 
steuer IV.  Classe  (Lohnsteuer)  Unterliegenden  (bezw.  von  derselben  nach 
Pkt.  3.,  §.  5.  d.  Ges.-Art.  XXIX.  ex  1875  Befreiten).  Ihre  Taxe  beträgt 
mindestens  5  fl.  (bei  50 — 100  fl.  Steuer)  und  höchstens  100  fl.  (bei 
800  fl.  Steuer). 

Gegenüber  dem  österreichischen  Gesetze  besitzt  das  ungarische  den 
bedeutenden  Vorzug,  dass  der  Umfang  der  Steuer-Obligatio  für  jeden  indi- 
viduellen Fall  gesetzlich  bestimmt  ist.  Das  arbiträre  Ermessen  der  Be- 
messungsbehörde entfällt.  In  gleicher  Weise  sind  schon  die  classificierten 
Einkommensteuern  der  Wehrsteuergesetze  des  Canton  Waadts  (1846)  und 
Bayerns  (1868)  voraus.  Die  Wehrsteuer  bewegt  sich  dort  zwischen  3  Frcs. 
bis  60  Frcs.  für  Einkommen  von  1—300  Frcs.  und  über  5000  Frcs.  bzw. 
zwischen  3  fl.  bis  100  fl.  für  Einkommen  von  1—200  fl.  und  über  1600  fl.«^) 

Gänzlich  abseits  stehen  die  württembergischen  und  bayerischen 
Gebüren  (Fixstempel  von  20  fl.,  bezw.  10  fl.)  für  Militär-Entlass-  und 
Freischeine. ^^) 

Die  schweizer  Cantonsgesetze  bestimmen  vielfach  die  Abgabe  nach 
Altersstufen  und  innerhalb  jeder  derselben  1.  als  fixe  Personalabgabe, 
2.  als  Percentualabgabe  vom  eigenen  und  vom  erbsanwartschaftlichen 
elterlichen  Vermögen,  vom  Einkommen,  von  der  Handelsclassensteuer  und 
zwar  mit  Festsetzung  eines  Maximums  der  Percentual- Abgabe,  f'^) 
Im  Bundesgesetze  vom  28.  Brachmonat  1878  (Art.  3—7)  werden  diese 
Grundsätze  in  der  Hauptsache  beibehalten,  aber  vereinfacht.  Die  Personaltaxe 
beträgt  durchwegs  6  Frcs!;  das  Maximum  der  jährlichen  Steuer  3000  Frcs. 
Als  Steuerfuss  wird   IV2  Frcs.  für  jedes    Tausend   reinen    Vermögens    und 


03)  Ges.-Artikel  IX.  v.  J.  1883. 

ö^)  Engel  S.  192    (ob.  Anmkg.  4),  MarcinoAvski  S.  141  (ob.  Anmkg.  2).  Waadll. 
Ges.  Art.  6;  bayr.  Ges.  Art.  3. 

•^s)  Marcinowski  S.  138  u.  189  (ob.  Anmkg.  2). 
CO)  E  n  g  e  1  SS.  190  fg.  (ob.  Anmkg.  4). 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  IV.  Heft.  38 


586  Thierl. 

jedes  Hundert  reinen  Einkommens  normiert.  Vermögen  unter  1000  Frcs.,  Ein 
kommen  unter  100  Eres,  bleibt  ausser  Anschlag.  Nach  vollendetem  32.  Jahre 
zahlen  die  Pflichtigen  nur  die  Hälfte  obiger  Abgabe:  Pflichtige,  welche  schon 
8  Jahre  gedient  haben,  überhaupt  nur  die  Hälfte  der  sie  sonst  treftenden  Abgabe 
(also  eventuell  ein  Viertel).  Ausnahmsweise  kann  die  Bundesversammlung  für 
ausserordentlich  in  Anspruch  genommene  Jahrgänge  die  Abgabe  verdoppeln 
(Art.  6.  und  7.),  eine  Ermächtigung,  die  sich  analog  im  §.  22  des  Berner 
Gesetzes,  (1863)  findet  und  der  ausgleichenden  Gerechtigkeit  entspringt.''') 

Auch  der  deutsche  Entwurf  coordiniert  eine  „feste  Steuer"  (§.  7.) 
und  eine  „ Zuschlagsteuer "  (§.  8^^).  Erstere  beträgt  für  jeden  Abgaben- 
pflichtigen 4  Mk.  jährlich.  Letztere  richtet  sich  nach  dem  Einkommen;  sie 
ist  von  6000  Mk.  Einkommen  aufwärts  eine  Percentsteuer  (37())  ohne  Pro- 
gression mit  Stufen  von  je  1000  Mk.:  bis  zu  6000  Mk.  eine  classificierte 
Einkommensteuer  mit  beträchtlicher  Degression.  Der  Entwurf  kennt  kein 
Steuermaximum;  bei  ungünstiger  Lage  gestattet  er  die  Annahme  der  nächst 
niederen  Classenstufe.*^^) 

Ebenso  unterscheidet  der  italienische  Entwurf  zwischen  tassa  (quota) 
fissa  (6  Lire)  und  tassa  (quota)  proportionale  (von  IVo — 37o  steigend); 
letztere  erreicht  bei  einem  Einkommen  von  100.000  Lire  das  höchste  zu- 
lässige Ausmaass.^*-^) 

Serbien  hebt  10%  der  Staatssteuer  als  Militär-Taxe  ein.'^) 

Das  französische  Wehrsteuerrecht  normiert  die  fixe  Taxe  mit  6  Eres., 
die  proportionelle  gleich  dem  Hauptbetrage  (montant  principal)  der 
Personalsteuern  (cote  personnelle  et  mobiliere)  des  Abgabenpflichtigen. 
Besitzt  der  selbständig  steuerpflichtige  Wehrdienstfreie  noch  Ascendenten, 
hat  er  das  30.  Lebensjahr  noch  nicht  zurückgelegt  und  kein  von  dem 
Wohnsitze  der  Ascendenten  getrenntes  Domicil,  so  erhöht  sich  seine 
Proportional-Taxe  um  den  Quotienten,  welcher  aus  der  Theilung  der  Steuercote 
des  Ascendenten  durch  die  Zahl  der  Stirpes.  resp.  Substirpes  resultiert.  Diese 
erhöhte  Proportionaltaxe  trifft  den  Dienstfreien  selbst,  der  Ascendent  haftet 
indess  dafür  (Art.  35.  §.  3.'^) 

B.  Ausser  diesen  für  den  Gegenstand  der  Steuer- Obligatio  des 
Dienstfreien  bestimmenden  Grundsätzen  bestehen  vielfache  besondere 
Kegeln  zur  inhaltlichen  Festsetzung  der  Steuer-Obligatio  der  Ascendenten. 
Würde  hier,  wie  beim  Dienstfreien,  das  gesammte  Vermögen,  bezw.  Ein- 
kommen als  Steuerbasis  angenommen,  so  ergäbe  sich  gerade  wegen  der 
Gleichheit  des  Vorgehens  —  eine  Ungleichheit,  da  der  Ascendent  auch 
Vermögen,  bezw.  Einkommen  versteuern  müsste.  welches  nicht  dem  dienst- 


''')  M  arciri  0  w  sk  i  SS.  152  fg.  (ob.  Aninkg.  2r,   Engel  S.  191  (ob.  Annikg.  4). 

''*)  Marcinowski  SS.  94  fg.  Der  Ausdruck  „Zuschlagsteuer"  wird  nicht  im 
Gesetze,  sondern  in  der  Begründung  gebraucht  (S.  101  bei  Marcinowski). 

'•»)  Ferraris  S.  343  (ob.  Anmkg.  10).  Der  Entwurf  nimmt  22  Classen  für  die 
Einkommen  von  100 — 6000  Lire  und  94  Classen  für  die  höheren  Einkommen  an. 

"•';  Neumann  S.  131  (ob.  Anmkg.  2). 

'')  Ob.  Anmkg.  11. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfieien  mit  besond.  Rücksicht  auf  Oesterreich-üngarn.     587 

freien  Descendenten,  für  den  er  eintritt,  zugute  kommt,  sondern  ihm  selbst 
oder  anderen  Descendenten.  Wären  mehrere  Descendenten  dienstfrei,  so 
müsste  das  Vermögen,  bezw.  Einkommen  des  Ascendenten  sogar  mehrmals 
versteuert  werden.  Diese  äusserste  Consequenz  will  auch  der  sonst  strenge 
italienische  Entwurf  vermeiden.  Er  nimmt  zwar  das  ganze  Einkommen 
des  Ascendenten  als  Steuerbasis:  sind  aber  mehrere  Descendenten  zugleich 
taxpflichtig,  so  zahlt  der  Ascendent  die  Abgabe  nur  einmal.'^)  Den 
italienischen  Entwurf  übertrifft  an  Schärfe  das  ungarische  Gesetz,  bezw. 
die  Novelle  vom  J.  1883  (Ges.-Art.  IX,  §.  2).  womach  das  Familienhaupt, 
falls-  mehrere  Descendenten  taxpflichtig  sind,  für  einen  die  volle,  für  die 
übrigen  je  die  halbe  Taxe  leisten  muss. 

Eij^en  milderen  Standpunkt  nehmen  jene  Gesetze,  bezw.  Entwürfe  ein, 
welche  zur  Gewinnung  der  Steuerbasis  das  Vermögen,  bezw.  Einkommen 
des  x^scendenten  theilen.  Mittelbar  strebt  das  österreichische  Gesetz  eben 
dasselbe  an,  indem  es  das  Steuerzehntel  durch  die  Zahl  der  Kinder  (Wahl- 
kinder, Enkel),  für  deren  Unterhalt  der  Ascendent  ausschliesslich  oder  zum 
grössten  Theil  zu  sorgen  hat,  dividiert  (§.  4  Schlussatz).  In  der  Schweiz 
haben  schon  die  Cantonsgesetze  die  Theilung  des  Vermögens,  bezw.  Ein- 
kommens des  Ascendenten  durch  die  Zahl  der  unterhaltenen  Kinder  (Bern. 
§.  6)  oder  die  Theilung  des  erbanwartschaftlichen  Vermögens  (Zürich, 
§§.  3  und  4)  angeordnet;  das  Bundesgesetz  veranschlagt  nur  das  halbe 
Vermögen  der  Ascendenten  und  dies  bloss  nach  Verhältnis  der  Kinderzahl; 
es  lässt  den  Descendenten  ganz  frei,  wenn  der  Ascendent  selbst  Wehrdienst 
leistet  oder  Taxe  zahlt "^)  (Art.  5).  —  Verwandt  zeigt  sich  der  deutsche 
Entwurf,  welcher  (§.  9  Schlussatz)  das  Einkommen  des  Ascendenten  vorerst 
halbiert  und  dann  noch  durch  die  Kopfzahl  der  Descendenten  dividiert. ^^) 
Das  französische  Gesetz  (Art.  35,  §.  3)  hinwiederum  hält  sich  mehr  an 
den  in  Oesterreich  beobachteten  Vorgang,  insbesondere  was  das  System  der 
Stirpestheilung  anlangt;  die  Personalsteuer-Quote  wird  zuerst  durch  die 
Zahl  der  Stirpes,  der  sohin  sich  ergebende  Quotient  durch  die  Zahl  der 
Abstämmlinge  jener  Stirps,  welcher  der  betreffende  Dienstfreie  zugehört, 
getheilt."'') 

Das  Widerspruchsvolle  aller  dieser  Versuche  liegt  darin,  dass  man 
einerseits  die  Besteuerung  des  dienstfreien  Descendenten  für  unmöglich 
erachtet,  da  dieser  kein  selbständiges  Einkommen,  bezw.  Vermögen,  somit 
keine  selbständige  Steuerbasis  aufweist  und  dass  man  andererseits  mit 
vieler  Mühe  aus  dem  Vermögen,  bezw.  Einkommen   des  Ascendenten  jenen 

'-)  Art.  3.  „Allorquando  due  o  piü  fratelK  consaiiguinei  fossero  soggetti  per  ragione 
dietä,  in   osservanza  della  presente  legge,  alla  contemporanea  corresponsione  della  tassa, 

non  sarä  percetto  che  l'importare  di  quella  dovuta  dal  primo  dei   detti  fratelH " 

(Ferraris  S.  342.) 

'^j  Bei  Steuerleistungen  über  500  fl.  (directe  Staatssteuer  s.  Grundentlastungs- 
Zuschlag)  fällt  selbst  diese  Erleichterung  weg  (§.  2  Schlussatz). 

"')  Engel  SS.  190  fg.  (ob.  Anmkg.  4) ;  M  a  r  c  i  n  o  w  s  k  i  S.  152  (ob.  Anmkg.  2). 

''")  M  a  r  c  i  n  0  w  s  k  i  S.  108. 

"'')  S.  Aninkg.  71. 

38* 


588  Tlii.-rl. 

Theil  abzuscheiden  sucht,  welcher  gleichsam  das  abgeleitete  Vermögen, 
bezw.  Einkommen  des  Wehrdienstfreien  bildet.  Folgerichtig  sollte  man 
sich  für  einen  der  beiden  Grundsätze  entscheiden;  entweder  wird  nur  selb- 
ständiges, nicht  abgeleitetes  Einkommen  (Vermögen)  besteuert  oder  es  wird 
nur  von  demjenigen  die  Abgabe  eingehoben,  w^as  den  Dienstfreien  selbst  — 
mittelbar  oder  unmittelbar  zukommt.  Ersteren  Falles  würde  die  Theilung, 
welche  nur  eine  Art  Ausmittelung  des  den  Dienstfreien  mittelbar  zu- 
kommenden, also  abgeleiteten  Einkommens  (Vermögens)  bedeutet,  letzteren 
Falles  die  Hauptverpflichtung  des  Ascendenten  zu  beanständen  sein.  Theilung 
des  Einkommens  (Vermögen)  und  Hauptverpflichtung  des  Ascendenten 
dürfen  daher,  wo  sie  zusammen  vorkommen,  lediglich  durch  Erwägungen 
der  Opportunität  begründet  werden:  diese  bestehen  nur  insolange,  als  an  dem 
zeitlichen  Parallelismus  zwischen  Dienstpflicht  und  Abgabenpflicht,  welcher  den 
Ausweg  der  Ascendenten-Verpflichtung  nöthig  erscheinen  lässt,  festgehalten  wird. 
C.  Bei  dem  nicht  eben  häufigen  Vorkommen  des  Typus  der  classifi- 
cierten  und  percentuierten  Einkommensteuer  ist  den  Gesichtspunkten  des 
steuerfreien  Minimums  und  der  Progression,  bezw.  Degression  des 
Steuerfusses  nur  wenig  Geltung  verschafft  worden.  Nach  dem  Bern  er 
Gesetze  vom  9.  Mai  1863  bleibt  Einkommen  oder  Erwerb  bis  einschliesslich 
300  Frcs.  steuerfrei,"')  das  Bundesgesetz  (Art.  4)  lässt  Vermögen  von  weniger 
als  1000  Frcs.  ausser  Berechnung  und  bringt  vom  reinen  Einkommen  600  Frcs. 
nicht  in  Anschlag.  Die  Classensätze  des  deutschen  Entwurfes  (§.  8)  beginnen 
erst  bei  1000  Mk.  Einkommen  und  zeigen,  wie  schon  erwähnt,  eine  beträchtliche 
Degression  des  Steuerfusses  (von  ca.  3^  („  [148  Mk.  für  5000  Mk.]  bis  ca. 
0*8%  [12  Mk.  für  1500  Mk.J).  Weder  bei  dem  österreichischen,  noch  bei  dem 
ungarischen  Gesetze  treten  die  fraglichen  Gesichtspunkte  selbständig  zu- 
tage: die  Classensätze  dieser  Gesetze  schliessen  sich  eben  nicht  au  das 
Einkommen,  sondern  an  die  Steuerleistungen.  Bei  der  IV.  Gruppe  des 
ungarischen  Gesetzes  erscheinen  die  höher  Besteuerten  bei  der  Militär- 
Befreiungs-Taxe  sogar  percentuell  begünstigt  (z.  B.  Taxe  3  fl.  bezw.  5  fl.  bei 
Steuer  bis  10  fl.  bezw.  25  fl..  Taxe  80  fl.  bei  Steuer  von  1000— 1200  fl."^) 

IV.  Die  Dauer  der  Abgabenpflicht. 
In  der  Gesetzgebung,  wie  in  den  Entwürfen,  welche  die  Abgabe  der 
Wehrdienstfreien  behandeln,  hat  der  zeitliche  Parallelismus  zwischen  per- 
sönlicher Dienstpflicht  und  Abgabenpflicht  volle  Anerkennung  gefunden. 
Hiernach  beginnt  die  Abgabenpflicht  mit  dem  Zeitpunkte,  in  welchem  die 
persönliche  Dienstpflicht  beginnen  würde,  wenn  nicht  ein  Befreiungs- Er- 
kenntnis gefällt  worden  wäre.  Sie  endigt,  bei  fortdauernder  Befreiung,    mit 


'^')  §.  5,  Ht.  c.  Eigenes  Vermögen  von  8000  Frcs.,  bezw.  erbanwartschaftliclies 
(v.  Seite  d.  Eltern)  von  3000  Frcs.,  dann  reines  Einkommen  von  400  Frcs.  bei  den 
Erwerbsunfähigen  (§.  4,  lit.  b).  Bei  den  Descendenten  erbanwartschaftliclies  Vermögen  von 
3000  Frcs.,  berechneter  Einkommens-Antheil  von  300  Frcs.  (§.  6)  s.  bei  p]  n  g  e  ]  S.  190 
(ob.  Anmlig.  4). 

'^;  Marcinowski  SS.  100  fg.,  152  (ob.  Anmkg.  2)  und  s.  Anmkg.  63. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Eücksicht  auf  Oesterreich-Ungarn.     589 

dem  Zeitpunkte,    in    welchem    die    persönliche    Dienstpflicht   im    stehenden 
Heere,  in  der  Eeserve  und  Landwehr  geendet  hätte. 

Ziemlich  ausführlich  entwickelt  diesen  Grundsatz  das  österreichische 
Gesetz  (§.  2)  und  zwar  im  Besonderen  für  jede  Kategorie  der  Wehrdienst- 
freien. Die  Taxpflicht  der  Zurückgestellten  dauert  solange,  als  ihre  Dienst- 
pflicht gedauert  hätte,  wenn  sie  assentiert  w^orden  wären.  Bei  den  zeitlieh 
Befreiten  und  Entlassenen  hängt  sie  von  der  Dauer  ihres  Befreiungs-  bezw. 
Entlassungs-Titels  ab.  Ein  ähnlicher  ist  der  Gedanke  des  Gesetzgebers  bezüg- 
lich der  Auswanderer;  soviel  lässt  sich  trotz  der  unvortheilhaften  Textierung 
der  einschlägigen  Stelle  (§.  2,  lit.  c)  erkennen. 

Die  Normen  des  ungarischen  Gesetzes  weichen  von  denen  des  öster- 
reichischen im  Wesentlichen  nicht  ab.  —  Nach  dem  italienischen  Ent- 
würfe entspricht  die  Dauer  der  Abgabenpflicht  jener  des  Militärbandes.  — 
Das  französische  Gesetz  stellt  die  Taxe  mit  dem  1.  Jänner  ein.  welcher 
der  Versetzung  der  Altersclasse  des  Taxpflichtigen  in  die  Eeserve  der  Land- 
wehr (armee  territoriale)  folgt  (Art.  35,  §.  5,  alin.  3).  Eine  diesem  Gesetze 
eigenthümliche  Endigungsart  der  Taxpflicht,  jene  infolge  dreijähriger  Präsenz - 
dienstzeit  oder  Eintragung  in  die  Matrikel-Register  der  Marine-Inscription, 
schliesst.  strenge  genommen,  einen  Befreiungstitel  in  sich.  Ausdrücklich 
erwähnt  das  französische  Recht  die  Suspendierung  der  Taxpflicht  durch  den 
freiwilligen  Eintritt  des  Taxpflichtigen  in  den  Wehrdienst  (Art.  31  des 
Reglements  v.  30.  Dec.  1890. '•') 

Der  deutsche  Entwurf  (§.  2)  setzt  die  längste  Dauer  der  Wehr- 
steuerpflicht mit  zwölf  Jahren  fest  und  bezeichnet  als  ihren  Anfangspunkt 
den  1.  April,  welcher  der  endlichen  Feststellung  der  Wehrdienstfreiheit 
(Ausschliessung,  Ausmusterung,  Ueberweisung  in  die  Ersatz-Reserve  I.  und 
IL  Classe,  bezw.  Seewehr  IL  Classe)  zunächst  folgt.  Gemäss  §§.  6,  50  und 
62  des  Reichsgesetzes  vom  2.  Mai  1874,  §.  7  des  Reichsgesetzes  vom 
9.  November  1»67  und  §§.  6,  7,  12  und  13  der  Ersatz-Ordnung  währt  die 
Dienstpflicht  im  stehenden  Heere,  bezw.  in  der  Marine  sieben  Jahre,  in  der 
Landwehr  fünf  Jahre,  zusammen  zwölf  Jahre. *^'^) 

Für  den  zeitlichen  Parallelismus  zwischen  persönlicher  Dienstpflicht 
und  Abgabenpflicht  spricht  ein  moralisches,  der  Verwirklichung  des  Belastungs- 
ausgleiches wichtiges  Moment:  es  wird  hiedurch  in  der  Bevölkerung  das 
Gefühl  geweckt,  dass  die  Dienstfreien  die  Abgabe  leisten  müssen,  damit 
sie  die  Belastung  der  Wehrpflicht  in  etwas  mittragen  helfen,  und  nicht 
etwa  nur  deshalb,  damit  die  Einzüge  des  Staatsschatzes  auf  eine  neue  Art 
vermehrt  würden.  Auch  schlägt  zu  Gunsten  des  Parallelismus  die  Erwägung 
aus,  dass  die  Abgabenpflichtigen  in  späteren  Jahren  gesteigerte  ökonomische 
Anforderung  seitens  des  Gemeinwesens  und  der  Familie  treffen. 

Sobald  aber  die  Bevölkerung  durch  die  Gewöhnung  an  die  correct 
eingerichtete  Abgabe  die  richtige  Auffassung  über  die  Ziele  dieser  letzteren 
o-ewonnen  hat,  entfällt  die  Nothwendigkeit  eines  solchen  moralischen  Factor?. 


'»)  S.  ob.  Anmkg.  11  (S.  38  d.  Bulletin). 

8'J)  S.  bei  Marcin  0  WS  ki  SS.  09  u.  70  (ob.  Anmkg.  2). 


590  Tbierl. 

Der  Hinweis,  auf  die  stärkeren  Lasten,  welche  das  Individuum  in  späteren 
Jahren  auf  sich  nehmen  muss,  wird  durch  die  Einwendung  abgeschwächt, 
dass  die  Leistungsfähigkeit  des  Individuums  zumeist  erst  in  diesen  Jahren 
zum  wirtschaftlichen  Erfolge  gelangt.  Weiters  erfährt  das  Ausmaass  der 
Abgabe  eine  vielleicht  durch  staatliche  Bedürfnisse  gebotene  Steigerung,  so 
kann  diese  unter  Umständen  eine  üeberanstrengung  der  Steuerkraft  des 
Individuums  bewirken,  wenn  nicht  der  Ausweg,  die  Gesammtleistung  an 
Wehrsteuer  auf  einen  längeren  Zeitraum  als  die  Dauer  der  Wehrpflicht  zu 
vertheilen,  offen  steht. 

Endlich  ist  der  zeitliche  Parallelismus  zwischen  persönlicher  Dienst- 
pflicht und  Abgabenpflicht  die  Ursache  einer  mit  den  leitenden  Momenten 
der  Abgabe  schwer  vereinbaren  Einrichtung,  der  Abgabenpflicht  der  Ascen- 
denten.  Zur  Zeit  des  Beginnes  der  Wehii)flicht  sind  die  zur  Stellung 
kommenden  jungen  Leute  vielfach  noch  wirtschaftlich  unselbständig,  von 
ihren  Eltern  etc.  ganz  oder  zum  Theile  abhängig.  Erst  einige  Jahre  später 
treten  sie  als  Wirtschafts-Subjecte  auf,  in  dem  Sinne  wenigstens,  dass  sie 
ihren  Unterhalt  aus  ihrem  Erwerbe,  bezw.  Einkommen  bestreiten.  Würde  die 
Abgabenpflicht  in  dieser  späteren  Lebensperiode  beginnen,  so  vermöchte 
jeder  Wehrdienstfreie  derselben  persönlich  genügen  und  es  fiele  damit  jene 
seltsame  Incongruenz  weg,  dass  wohl  die  persönliche  Dienstpflicht  stets  dem 
Wehrpflichtigen  selbst,  nicht  aber  die  Abgabenpflicht  stets  dem  Wehr- 
dienstfreien selbst  fühlbar  wird.  Die  Zeit  der  militärischen  Eignung  und  der 
wirtschaftlichen  Entwicklung  des  Mannes  decken  sich  eben  nicht.  Am 
besten  ist  es  offenbar,  für  jedes  von  beiden,  Waffendienst  und  Abgaben- 
leistung jene  Zeit  auszuwählen,  wo  der  Mann  sie  bestens  erfüllen  kann. 
Dann  ist  es  aber  auch  am  besten,  den  Beginn  der  Abgabenpflicht  etwa  bis 
zum  vollendeten  24.  Lebensjahre  oder  noch  weiter  hinauszuschreiben.  Ebenso 
dürfte  es  unter  gewissen  Verhältnissen  rathsani  sein,  die  Abgabenpflicht 
durch  eine  längere  Reihe  von  Jahren  aufrecht  zu  erhalten,  um  die  einzelnen, 
insbesondere  die  ersten  Jahresquoten  niedriger  ansetzen  zu  können. 

Der  zeitliche  Parallelismus  zwischen  persönlicher  Dienstpflicht  und 
Abgabenpflicht  besitzt  somit  für  die  erste  Einführung  der  Abgabe  einen 
gewissen  moralischen  Wert ;  er  ist  indes  weder  eine  durch  das  Wesen  der 
Abgabe  geschaffene  Nothwendigkeit.  noch  auch  nur  für  die  weiteren  Stadien 
der  Abgabe  mit  Vortheil  in  Wirksamkeit  zu  belassen. 

V.  Die  Veranlagung  der  Abgabe. 
Für  die  zahlreichen  Mängel,  welche  der  formelle  Theil  überhaupt  und 
speciell  die  Veranlagung  der  Abgabe  in  den  meisten  Abgaben-Gesetzen 
aufweisen,  bestehen  drei  Ursachen.  Vorerst  der  Wunsch  der  Regierungen, 
in  ihrer  discretionären  Gewalt  nicht  durch  positive  Bestimmungen  eingeengt 
zu  sein,  dann  die  Schwierigkeit,  ein  dem  Wesen  der  Abgabe  entsprechendes 
Verfahren  bis  ins  Detail  festzustellen,  endlich  der  grosse  Widerstreit  der 
Meinungen  über  grundlegende  Fragen  des  Steuerprocesses.  insbesondere 
desjenigen  der  Personal-Einkommensteuer. 


Die  Abgabe  d.  WehrJieiistfreien  mit  besoiul.  Rücksicht  auf  0 esterreich  ==  Ungarn.     591 

Auch  die  Gesetze,  bezw.  Entwürfe,  betreffend  die  Abgabe  der  Wehr- 
dienstfreien, weisen  selbst  nur  den  Versuch  eines  Ausbaues  des  formellen 
Theiles  nicht  auf. 

Von  den  älteren  schweizer  Gesetzen  wird  die  Feststellung  der 
Abgabe  —  ohne  Theilnahme  der  Abgabenpflichtigen  —  einer  aus  Cantons- 
und  Gemeindebeamten,  dann  Officieren  bestehenden  Commission  (§.  12 
Berner  Ges.,  Art.  10  Waadtl.  Ges.)  oder  den  Gemeinderäthen,  bei  Vor- 
behalt der  Prüfung  durch  die  Bezirkscommanden  (Zürich,  Ges.  §§.  10  fg.), 
zugewiesen. '^^)  Das  Bundesgesetz  iiberlässt  die  Ordnung  des  Anlage  Ver- 
fahrens den  Cantonen  unter  Genehmigung  des  Bundesrathes  (Art.  12  und  17). 
Des  letzteren  Vollzugsverordnungen  ^-)  gehen  über  dürftige  Verfügungen 
hinsichtlich  Ersatzregister.  Rechtszug,  Execution,  Bundescontrole,  dann 
einige  Erläuterungen  hinsichtlich  der  Taxation  nicht  hinaus.  Die  Cantons- 
Reglements  (z.  B.  Wallis  vom  11.  Juli  1879.  Solothurn  v.  5.  August  1879) 
bestimmen  nach  dem  Muster  der  älteren  Cantonsgesetze:  Taxation  durch 
den  Gemeinderath.  Ueberprüfung  durch  die  Taxations-Commission.  öffentliche 
Auflegung  der  Tabellen  behufs  Reclamation.  Die  Steuerpflichtigen  sind  nur 
bei  Aenderung  der  Taxe  zu  befragen.  Ihre  Rechte  im  Zuge  des  Anlage- 
Verfahrens  sind  sonst  nirgends  ausgedrückt:  es  fehlt  Selbstverwaltung  der 
Abgabenpflichtigen  und  richterliche  Controle.  Angesichts  der  überaus 
volksthümlichen  Amtsverfassung  der  schweizer  Cantone  mag  dies,  zumal 
in  der  praktischen  Durchführung,  weniger  beschwerlich  erscheinen.^^) 

Im  bayerischen  Gesetze  handelte  ein  eigener  Abschnitt  über  das 
Verfahren  bei  Festsetzung  des  Wehrgeldes  (Art.  7—11).  Der  Ausschuss, 
bestehend  aus  Staats-  und  Gemeindebeamten,  dann  bürgerlichen  Mitgliedern, 
hatte  sich  in  der  Geschäftsordnung  nach  den  Normen  des  Einkommen- 
steuer-Gesetzes vom  31.  Mai  1856  (Art.  22)  zu  richten.  Weitere  Bestimmungen 
betreffen  die  Anlegung,  Veröffentlichung  und  Anfechtung  der  Listen. ^^) 

Der  deutsche  Entwurf  verweist  die  Regelung  des  Verfahrens  in  die 
Competenz  des  Bundesrathes  (§.  18).  Es  wurde  dies  mit  der  grossen  Ver- 
schiedenheit des  formellen  Personalsteuerrechtes  in  den  einzelnen  deutschen 
Bundesstaaten  begründet,  über  welche  man  sich  nicht  hinaussetzen  zu 
dürfen  vermeinte.^^) 

Da  das  österreichische  Gesetz  eine  unabhängige  Feststellung  der 
Bemessungs-Grundlagen  abweist,  legt  es  auf  genaue  Normen  über  das 
Einsteuerungs- Verfahren  keinen  Wert.  Es  steht  im  grossen  und  ganzen 
auf  dem  Standpunkte  der  schweizer  Gesetze.    Die  Bemessungs-Commission 

SM  S.  bei  Engel  SS.  190  fg.  (ob.  Anmkg.  4). 

^2)  Bundesordnung  v.  1.  Juli  1879  (Bund.-Ges.- Sammig.,  IV.  Bd.  Neue  Folge, 
SS.  188—192.)  —  Kreisschreiben  des  eidgenöss.  Finanz -Depart.  an  sämmtl.  Cantons- 
Regierungen  v.  5.  Juli  1879  (Bund.-Bl.  III.  Bd.,  S.  30—32);  s.  bei  Marcinowski 
SS.  153,  154  u.  159  fg.  (ob.  Anmkg  2). 

S3)  S.  bei  M  a  r  c  i  n  0  w  s  k  i  SS.  161  fg.  (ob.  Anmkg.  2). 

s^)  S.  bei  Marcinowski  SS.  142  fg.  (ob.  Anmkg.  2). 

^•')  S.  bei  Marcinowski  S.  123  (ob.  Anmkg.  2). 


592  Thierl. 

(g.  8)  bestellt  aus  drei  Staatsbeamten  und  zwei  von  den  Gemeindevorstehern, 
bezw.  Bezirksvertretungen  oder  Gemeinderäthen  gewählten  Laien;  sie  ent- 
scheidet über  die  Taxpflicht  und  Höhe  der  Taxe  nach  den  Erhebungen  der 
Bezirksbehörde,  bezw;  nach  Einvernahme  der  Gemeindevorsteher.  Die  Ver- 
zeichnisse über  die  Taxpflichtigen  und  ihre  Schuldigkeit  liegen  gemeinde- 
weise durch  vierzehn  Tage  zur  öffentlichen  Einsicht  auf.  Auch  die  Yollzugs- 
Verordnung  vom  20.  März  1891,  K.-G.-B.  Nr.  26,  sichert  nicht  die  Mit- 
wirkung des  Abgabenpflichtigen  bei  Feststellung  der  Steuergrundlagen. 
Kaum  wesentlich  weiter  geht  das  ungarische  Gesetz:  nur  die  Evidenz 
der  Taxpflichtigen  durch  Gemeindeorgane,  Bezirksstuhlrichter  und  kgl. 
Steuer-Inspectoren ,  statt  welch  letzterer  jetzt  (ausserhalb  Budapest)  die 
kgl.  Finanz-Directionen  fungieren,  ist  hier  ausführlicher  behandelt. 

Das  französische  Gesetz  gibt  die  Eegelung  des  Anlage  Verfahrens 
der  Yerordnungsgewalt  der  öffentlichen  Verwaltung  anheim  (Art.  35,  §.  8); 
es  normiert  nur  den  Zuschlag  von  5,  bezw.  3  Cent,  per  Frc.  für  die  Kosten 
der  Veranlagung,  bezw.  Einhebung  (Art.  35,  §.  7).  Dem  durch  das  Eeglement 
vom  30.  December  1890  geschaffenen  Anlageverfahren  ist  ein  bureaukra- 
tischer  Charakter  aufgeprägt;  es  fällt  in  die  Competenz  der  Organe  der 
directen  Besteuerung  (agents  des  contributions  directes),  welche  sich  der 
Mitwirkung  der  Gemeindevorstände  (maires)  zu  bedienen  haben.  Bei 
Differenzen  holt  der  Director  des  directen  Steuerdienstes  die  Entscheidung 
des  Präfecten  ein,  muss  sich  aber  nicht  mit  ihr  begnügen,  sondern  kann 
an  den  Finanzminister  berufen.  Der  Präfect  verleiht  den  Steuerrollen  die 
Kraft  eines  Erkenntnisses  (^arret)  und  damit  die  Executionsfähigkeit 
(Art.  9—13  d.  Regl.s«) 

VI.  Die  Einbringung  der  Abgabe. 

Die  Einbringung  der  x\bgabe  ist  entweder  eine  freiwillige  oder  zwangs- 
weise, ersteren  Falles  entweder  eine  rechtzeitige  oder  verspätete. 

Zur  rechtzeitigen  Abstattung  der  Schuldigkeit  bestimmt  das  Gesetz 
einen  oder,  wenn  es  die  Theilung  der  Schuldigkeit  gestattet,  mehrere 
Termine.  Das  österreichische  Gesetz  verpflichtet  zur  Zahlung  der  Abgabe 
bis  Ende  April  des  nächsten  Jahres  (§.  9);  Kegierungs vorläge  und  erster 
Ausschussbericht  des  Abg.-H.  hatten  die  Frist  mit  Ende  Jänner  des  Nachjahres 
beantragt.^')  —  JnUngarn  wurde  dieserVorschlag  im  Jahre  1880  Gesetz(§.18): 
aber  die  Novelle  vom  Jahre  1883  (§.  5)  erweiterte  den  Termin  bis  Ende 
October.  Im  deutschen  Entwürfe  gilt  die  quartalweise  Entrichtung  der 
Abgabe  als  Regel;  die  Abstattung  eines  Jahresbetrages  auf  Einmal  ist 
hiedurch  nicht  ausgeschlossen  (§.  12.^^)  Frankreich  begnügt  sich  mit 
der  Einhebung  nach  Zwölfteln;  das  Reglement  richtet  sich  in  der  Haupt- 
sache nach  den  Grundsätzen  für  die  Einbringung  der  personnelle-mobiliere 


80)  S.  ob.  Anmkg.  11;  SS.  34  u.  35  d.  Bulletin. 

s'j  S.  ob.  Anmkg.  34  u.  35. 

85)  M  a  r  c  i  n  0  w  s  k  1  S.  1 13  (ob.  Anmkg.  2). 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Eiicksicht  auf  Oesterreicli-Ungarn.     593 

(Art.  26 — 33).  Andere  Gesetze,  so  das  schweizer  Bundesgesetz  (Art.  17)  und 
das  bayerische  i'Art.  12).  überlassen  die  einschläsfio-en  Anordnungen  der 
Yerordnungsgewalt.^^) 

Wenig  ausgebildet  erscheint  die  Ahndung  der  zwar  freiwilligen,  aber 
verspäteten  Entrichtung.  Das  österreichische  Militärtax-Eecht  kennt 
weder  Ordnungsstrafe  noch  Verzugszinsen  :  das  ungarische  (§.  18)  beo-ehrt 
6%  Verzugszinsen.  Im  französischen  Gesetze  (Art.  35,  §.  6,  Schlussalin.) 
erwächst  die  Taxe,  sobald  der  Eückstand  drei  aufeinander  folgende  Zwölftel 
erreicht,  zum  Doppelten. 

Für  die  zwangsweise  Einbringung  geben  die  allgemeinen  Normen 
über  die  Execution  in  Sachen  öffentlicher  Abgaben  fast  überall  das  Vorbild. 
Diese  geschieht  entweder  durch  die  Verwaltungsbehörde  selbst  oder  mittelst 
richterlicher  Intervention;  in  Oesterreich  speciell  auf  dem  ersteren  Wege, 
demjenigen  der  sog.  politischen  Execution. 

Theilweise  wird  bei  Uneinbringlichkeit  der  Abgabe  eine  Um- 
wandlung der  Taxe  in  Arbeit  ausgesprochen.  So  in  Bern  (§.  20;  1  Arbeits- 
tag =172  Eres.),  in  Zürich  (§.17:  1  Arbeitstag  zz:  2  Eres.).  Das  Berner 
Gesetz  unterstützt  übrigens  die  Einbringung  durch  die  Anordnung  der 
richterlichen  Verhängung  des  Wirtschaftsverbotes  im  Nichtzahlungsfalle. 
Vor  der  Eheschliessung  muss  der  Bräutigam  dem  Priester  ausweisen,  dass 
er  seinen  Pflichtersatz  bezahlt  habe.  (§§.  20  und  21.^^) 

Bei  den  kleineren  Beträgen  bietet  die  ratenweise  Abstattung  eine  un- 
nöthige  Erschwernis.  Die  Einforderung  von  Verzugszinsen  genügt  einem 
doppelten  Zwecke.  Sie  hält  den  Gläubiger  für  den  Zwischengewinn  schadlos 
und  stellt  eine  gewisse  Sühne  für  die  strafbare  mora  debitoris,  besonders 
dann,  wenn  das  Ausmaass  den  normalen  Zinsfuss  überschreitet.  Bedenklich 
bleibt  indes,  dass  die  Verzugszinsen  den  Zahlungsfähigen  und  den  Zahlungs- 
unwilligen gleich  treffen.  Durch  Ordnungsstrafe  würde  dieser  Anstand  zu 
vermeiden  sein.  Die  Zulassung  der  politischen  Execution  bedeutet  die 
Fortsetzung  einer  den  Gläubiger  ungewöhnlich  begünstigenden  Ausnahme, 
für  deren  Nothwendigkeit  ein  Beweis  noch  nicht  erbracht  wurde. 

VII.  Die  Rechtsmittel. 

Rechtsmittel  im  eigentlichen  Sinne  sind  Abhilfen  gegen  eine  Ver- 
letzung oder  Verkennung  eines  Rechtes.  Im  uneigentlichen  Sinne  gehören 
auch  die  zu  Gunsten  von  Ansprüchen  der  Billigkeit,  des  jus  aequum,  offen- 
stehenden Schritte  zu  den  Rechtsmitteln. 

Diese  betreffen  entweder  eine  das  Ergebnis  des  Anlage  Verfahrens 
enthaltende  Schlussfassung  oder  eine  Verfügung  im  Zuge  des  Verfahrens. 
Oft  sind  Beschwerden  gegen  Zwischenverfügungen  mit  der  Beschwerde  in 
der  Hauptsache  zu  verbinden. 


8^)  Marcin  owski  SS.  154  u.  143  (ob.  Anmkg.  2) 
9^^j  Engel  SS.  191  u.  192  (ob.  Anmkg.  4). 


594  Thieil. 

Generelle  Rechtshilfen,  z.  B.  die  Eeclamation  (im  zumeist  üblichen 
Verstande^^),  kommen  jedem  Interessierten,  nicht  bloss  dem  Betroffenen  zu; 
individuelle,  z.  B.  der  Recurs,  sind  zumeist  auf  diejenige  Person  ein- 
geschränkt, gegen  welche  sich  die  anzufechtende  Maassregel  unmittelbar  kehrt. 

Rechtsmittel-Instanzen  sind  theilweise  unter  Mitwirkung  der  Abgaben- 
pflichtigen gebildete  Commissionen,  theilweise  Staatsbehörden,  selten 
richterlichen  Charakters. 

Oesterreich  lässt  die  Berufung  *an  die  politische  Landesstelle  binnen 
30  Tage  ab  intimato  zu.  Gegen  deren  abänderndes  Erkenntnis  besteht  die 
weitere  Berufung  an  das  Landesvertheidigungs-Ministerium  (§.  8  d,  Ges.). 
Nach  Erschöpfung  dieses  administrativen  Rechtszuges  erübrigt  noch  die 
Beschwerde  an  den  mit  cassatorischer  Competenz  ausgestatteten  Ver- 
waltungs-Gerichtshof. Weder  Berufung,  noch  Beschwerde  hemmen  die  Ein- 
bringung der  Abgabe. 

Im  ungarischen  Gesetze  (§.  14)  entspricht  das  Rechtsmittelver- 
fahren den  Eigenthümlichkeiten  der  bisher  dort  bestandenen  Verwaltung. 
Acht  Tage  liegen  die  Bemessungslisten  zur  öffentlichen  Einsicht  auf;  binnen 
weiteren  15  Tagen  kann  gegen  dieselben  an  den  Verwaltungsausschuss 
der  Jurisdiction  (Comitat,  selbständiges  städtisches  Municipium)  appelliert 
werden.  Beschliesst  dieser  theilweise  abweichend,  so  läuft  eine  neuerliche, 
15tägige  Frist  zur  weiteren  Appellation.  Hierüber  entscheidet  das  Finanz- 
Ministerium  im  Einvernehmen  mit  dem  Landesvertheidigungs-Ministerium. 
Der  Vertreter  des  Staatsschatzes  im  Verwaltungsausschusse  (Steuer-Inspector. 
jetzt  Mitglied  der  Finanz-Direction)  hat  die  Pflicht,  gegen  Beschlüsse 
dieses  Ausschusses,  welche  das  Gesetz  oder  das  Interesse  des  Fiscus  ver- 
letzen, an  das  Finanz-Ministerium  zu  appellieren. 

Nach  der  Theilüberschrift  „Reclamation  und  Recurs''  vor  §.13  des 
deutschen  Entwurfes  wäre  ein  doppeltes  Rechtsmittel  anzunehmen;  that- 
sächlich  spricht  §.  13  selbst  nur  von  Beschwerden  schlechtweg.  Sie 
sind  binnen  4  Wochen  nach  Kundmachung  der  Heberolle,  bezw.  nach 
individueller  Verständigung  des  Pflichtigen  bei  der  Veranlagungs- Instanz 
einzubringen  und  werden  von  der  Bezirkssteuerbehörde  des  betreffenden 
Bundesstaates  entschieden.  Binnen  weiteren  4  Wochen  steht  eine  zweite 
Beschwerde  an  die,  oberste  Landes-Finanzbehörde  offen.  Deren  Entscheidung 
ist  endgiltig.  Die  Beschwerden  sind  ohne  aufschiebende  Wirkung. 

Dagegen  laufen  in  den  älteren  schweizer  Cantons- Gesetzen  Recla- 
mation  und  Recurs  nebeneinander.  Erstere  ist  eine  Einsprache  gegen  die 
Bemessungs-Erkenntnisse  vor  der  Zahlung;  letztere  eine  Beschwerde  gegen 
eine  bezahlte  Abgabe.  Ueber  jene  entscheidet  öfters  eine  Central-Commission. 
über  diese  entweder  der  Staatsrath  oder  der  Regierungsrath  oder  die  Finanz- 
Direction.^2)    Das  Bundesgesetz  überlässt  die  Einrichtung  der  Rechtsmittel- 


^^)  Abweichende  Anwendung  des  Ausdruckes,  z.  B.  in  schweizer  Cantons-Gesetzen 
und  im  französischen  Reglement. 

^'-)  AVaadt  ^rt.  10),  Bern  (§§.  13,  15  u.  IG),  Zürich  (§§.  12—14),  s.  bei  E  n  g  e 
SS.  190  fg.  (ob.  Annikg.  4). 


Die  Abgabe  d.  Welirdienstfreien  mit  besond.  Rücksicht  auf  Oesterreich-Ungarn.     595 

Instanzen  den  Cantonen  nnter  Oberaufsicht  des  Bundesrathes.  welchem 
zudem  das  Revisionsrecht  gewahrt  bleibt  (Art.  12).  Recurs-Instanzen  sind 
bald  der  Regierungsrath  (z.  B.  Solothurn),  bald  der  Staatsrath  (z.  B.  Wallis). 
Die  Recursfrist  beträgt  10,  bezw.  14  Tage;  die  Frist  für  die  eventuelle 
weitere  Appellation  an  den  Bundesrath,  z.  B.  in  Wallis:  10  Tage  (Art.  14 
des  Cantonal-Reglements). 

Das  französische  Rechtsmittelverfahren  folgt  den  einschlägigen  für 
die  personnelle-mobiliere  geltenden  Normen.  Der  Einspruch  (reclaraation ) 
des  Taxpflichtigen,  bezw.  verantwortlichen  Ascendenten  geht  an  den 
Präfecturrath;  es  ist  auch  die  Anrufung  (pourvoi)  des  Staatsrathes,  der 
obersten  administrativen  Rechtsmittel-Instanz  zulässig  (Art.  34  u.  39  d.  RegL). 
Die  Wirkung  des  Rechtsmittels  ist  bis  zu  drei  Zwölftel  der  Taxe  auf- 
schiebend. Dem  Obsiegenden  wird  der  zuviel  gezahlte  Betrag  und  ausserdem 
soviel  vergütet,  als  er  im  Falle  des  Unterliegens  an  Busse  (Doppeltaxe)  hätte 
zahlen  müssen  (Art.  35,  §.  6  des  Gesetzes). 

Bezeichnend  erscheint  im  Allgemeinen  die  Anlehnung  an  die  Rechts- 
mittel des  directen  Steuerwesens,  die  Vermengung  commissioneller  und 
rein  bureaukratischer  Rechtsmittel-Instanzen,  der  Ausschluss  einer  richter- 
lichen Intervention,  welche  nicht  einmal  in  reinen  Rechtsfragen  und  auch 
nicht  für  andere,  vom  ordentlichen  Civilrißhter  verschiedene,  unabhängige 
judicielle  Factoren  zugelassen  wurde,  der  Mangel  eines  mündlichen  und 
öffentlichen  Rechtsmittelverfahrens,  mehrfach  selbst  der  Mangel  irgend 
einer  Ordnung  der  Rechtsmittel  im  Gesetze  bei  üeberweisung  dieser 
Ordnung  an  die  vollziehende  Gewalt. 

VIII.  Die  Verjährung  der  Abgabe. 
Das  österreichische  Gesetz  (§.  10,  AI.  3)  wendet  die  Normen  vom 
18.  März  1878,  R.-G.-B.  Nr.  31,  betreffend  die  Verjährung  der  öffentlichen 
Abgaben,  auf  die  Militärtaxe  an,  eine  Ergänzung,  die  auf  Antrag  des  Abg. 
Dr.  Russ  der  Regierungsvorlage  beigefügt  wurde.  Im  ungarischen 
Gesetze  und  im  französischen  Reglement  fehlt  eine  besondere  Aeusserung 
über  die  Verjährung  der  Taxe,  beide  (§.  19,  bezw.  Art.  26)  beziehen 
jedoch  die  für  die  directen  Steuern,  bezw.  Personalsteuern  geltenden  Ein- 
bringungs -Normen  im  allgemeinen.  Ausdrückliche  Specialbestimmungen 
über  die  Verjährung  enthalten  das  schweizerische  ßundesgesetz  und  der 
deutsche  Entwurf.  Ersteres  setzt  die  Frist  für  Landesanwesende  auf  5, 
für  Landesabwesende  auf  10  Jahre,  vom  Ablaufe  des  Fälligkeitsjahres  an 
gerechnet,  fest  (Art.  11).  Letzterer  bestimmt  eine  vierjährige  Verjährung,  vom 
selben  Termine  an  gerechnet,  d.  h.  nach  Ablauf  des  Steuerjahres,  in  welchem 
die  jüngste  Aufforderung  dem  Steuerpflichtigen  zugestellt,  die  Zwangsvoll- 
streckung verfügt  worden  oder  die  bewilligte  Frist  abgelaufen  war  (§.  16.^^) 
Es  ist  aber  eine  Verjährung  des  Einforderungsrechtes,  nicht  des  Bemessungs- 
rechtes darin  bekundet;  eine  Nachforderung  (Nachtragsvorschreibung)  findet 


3)  S.  bei  Marcin  owski,  SS.  120  u.  153  (ob.  Anmkg.  2). 


596  Thierl. 

nur  für  das  Steuerjahr  statt,  in  welchem  dieselbe  geltend  gemacht  wurde. 
Diese  Aufnahme  einer  sehr  kurzen  Präclusivfrist  —  an  Stelle  einer  Ver- 
jährungsfrist — ,  sowie  das  Verbot  einer  Reformatio  in  peius  schützen  den 
deutschen  Entwurf  vor  dem  Verdachte  fiscalischer  Begünstigung  des 
Staatsschatzes. 

In  dem  berufenen  österreichischen  Verjährungsgesetze  vom  18.  März  1878 
herrscht  die  Unterscheidung  zwischen  Verjährung  des  Einforderungs-  und 
des  Bemessungsrechtes.  Die  Fristen  betragen  6  Jahre,  bezw.  4  Jahre  (für  Stempel 
und  unmittelbare  Gebüren  6.  bezw.  5  Jahre).  Eine  Verjährung  des  Bemessungs- 
rechtes ist  natürlich  dem  bürgerlichen  Eechte  fremd;  die  civile  Präscription 
zielt  nur  auf  die  Einforderung  ab.  Begründet  wird  die  Besonderheit  durch  den 
Unterschied,  welcher  bezüglich  der  Nascenz  der  finanzrechtlichen  und  der 
bürgerlich  rechtlichen  Obligatio  obwaltet.  Diese  empfängt  zumeist  aus  dem 
Vertrage  u.  s.  w.  ihre  für  beide  Theile  abschliessende  Bestimmung,  während 
jene  gewöhnlich  einer  speciellen  Constatierung  ihrer  Nascenz  durch  eine 
Aeusserung  der  Staatsbehörde  (als  Vertreterin  des  Gläubigers)  über  Fällig- 
keit und  Umfang  der  Belastung,  d.  i.  durch  einen  Zahlungsauftrag,  bedarf. 
Erst  hiedurch  wird  der  Steuerträger  verbunden,  zu  zahlen,  obwohl  seine 
Leistungspflicht  bereits  vordem  durch  das  Gesetz  und  den  Eintritt  der 
subjectiven,  wie  objectiven  Voraussetzungen  des  Gesetzes  gegeben  war. 

Das  österreichische  Gesetz  lässt  hemmenden  und  unterbrechenden 
Einflüssen  Raum.  —  Hieher  zählt  die  Heranziehung  des  Abgabenpflichtigen 
zur  persönlichen  Dienstleistung,  aus  dem  praktischen  Grunde,  weil  solche 
Individuen  aus  der  Evidenz  der  für  die  Beitreibung  der  Abgabe  bestimmten 
Behörden  gerathen  und  bei  ihnen  eine  rückständige  oder  noch  vorschreib- 
bare Wehrsteuer  schwierig  einzubringen  ist.  Bei  dem  Mangel  dringender 
Nothwendigkeit  auf  Seiten  des  Staatsschatzes,  sowie  eines  Verschuldens  auf 
Seiten  des  Abgabenpflichtigen  genügt  für  die  Regel  die  schwächere  Wirkung 
der  Hemmung   (Analogie    des  §.  1496  des  österr.  allgem.  bürgl.  Ges.  B.). 

IX.   Verrechnung   und  Verwendung    d  e  r  A  b  g  a  b  e. 

Verrechnung  und  Verwendung  der  Abgabe  stehen  in  einem  inneren 
Zusammenhange.  Die  Verwendung  der  Abgabe  für  genau  umschriebene 
Zwecke  der  öffentlichen  Fürsorge  hat  dazu  geführt,  dass  eine  besondere 
Verrechnung  der  Abgabe  ausserhalb  des  Rahmens  des  Budgets  in  Erwägung 
gezogen  wurde.  Es  war  beabsichtigt,  aus  den  Eingängen  der  Abgabe  einen 
Fond  zu  bilden;  die  Gebarung  der  sonstigen  öffentlichen  Fondsbeiträge 
geschieht  in  gewissen  Staaten  ohne  budgetäre  Controle;  folglich  analoger- 
weise auch  die  Gebarung  der  Abgabe  der  Wehrdienstfreien. 

Hieran  knüpfen  sich  mehrere  Fragen  von  Belang.  Erstens,  ob  die 
fondsmässige  Aufspeicherung  der  Abgabe  nothwendig  oder  auch  nur  zweck- 
dienlich ist,  eventuell  zweitens  ob  die  Ausscheidung  der  öffentlichen  Fonds- 
beiträge überhaupt  aus  dem  Budget  mehr  als  hergebracht,  nämlich  durch 
das  Wesen  derselben  begründet  erscheint,  endlich  drittens,  ob  die  analoge 
Beliandlung  der  Abgabe  sich  rechtfertigen  lässt. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Rücksicht  auf  Oesterreich-Ungarn.     597 

Die  Gründe  für  die  fondsmässige  Aufspeicherung  der  Abgabe  ergeben 
sich  aus  der  Verwendung  der  letzteren.  Wird  die  Abgabe  für  gewisse, 
derzeit  noch  nicht  vorhandene,  aber  zu  irgend  einer  künftigen  Zeit  unab- 
Aveisliche  Bedürfnisse  der  Verwaltung,  wie  z.  B.  die  Unterstützung  der 
Familien  der  Mobilisierten,  gewidmet,  so  gewährt  die  Ansammlung  der  Ein- 
gänge die  Bürgschaft,  dass  bei  dem  Eintritte  des  Bedürfnisses  die  Mittel 
zur  Befriedigung  bereit  sein  werden. 

In  der  österreichischen  Kegierungsvorlage  (§.  5)  waren  als  Ver- 
wendungsziele der  Militärtaxe  angeführt:  1.  die  Aufbesserung  der  Invaliden- 
Versorgung.  2.  die  Versorgung  der  hilfsbedürftigen  Witwen  und  Waisen 
der  vor  dem  Feinde  Gefallenen,  bezw.  den  Kriegsstrapazen  Erlegenen,  3.  die 
Unterstützung  der  hilfsbedürftigen  Familien  der  Mobilisierten.  Diese  sind 
es  auch  im  Gesetze  geblieben.  Der  Unterschied  liegt  nur  darin,  dass  nach 
der  Vorlage  (§.  6)  der  ganze  Ertrag  der  Taxe  in  einen  Fond  fliesst,  welcher 
vom  Finanzminister  ohne  budgetäre  Controle  verwaltet  wird  und  von  welchem 
ein  specieller  Theil  —  mit  einem  Jahreszuschusse  von  1,142.530  fl.  —  für 
die  sub  1.  und  2.  bezeichneten  Zwecke  vorbehalten  wird,  während  das 
Gesetz  (§.  11)  die  ganzen  Abgabeneingänge  in  den  Staatsvoranschlag  ein- 
stellen lässt,  hieven  den  obigen  Betrag  für  die  sub  1.  und  2.  bezeichneten 
Zwecke  einem  Fonde  zuführt,  dessen  Kechnungsabschluss  dem  Reichsrathe 
jährlich  zur  Genehmigung  vorzulegen  ist  (§.  14),  und  den  Rest  als  allge- 
meine Staatseinnahme  behandelt.  Dafür  übernimmt  der  Staat  die  Verpflich- 
tuno- hinsichtlich  des  sub  3.  bezeichneten  Zweckes  aus  den  laufenden 
Staatseinnahmen  vorzusorgen. 

Letztere  Unterstützungen  finden  ebenso,  wie  die  Aufbesserung  der 
Invalidengenüsse  im  Gesetze  (§§.  15,  17—23)  ihre  ausführliche  Regelung; 
die  Versorgung  der  Witwen  und  Waisen  der  Gefallenen  etc.  bleibt  einer 
besonderen  gesetzlichen  Regelung  anheimgestellt  (§.  16). 

Das  ungarische  Gesetz  weicht  von  dem  österreichischen  darin  ab, 
dass  es  auch  die  Unterstützung  der  hilfsbedürftigen  Familien  von  Mobili- 
sierten erst  durch  ein  künftiges  Gesetz  regeln  lässt  (§.  9  d.  Ges. 
V.  J.  1880). 

Für  beide  Reichshälften  werden  die  Ruhegenüsse  der  Invaliden  percen- 
tuell  erhöht,  soferne  sie  aus  der  Zeit  vor  dem  Pensionsgesetze  vom  27.  De- 
cember  1875,  R.-G.-Bl.  Nr.  158,  bezw.  Ges.-Art.  LI  ex.  1875,  stammen: 
die  nach  diesen  Gesetzen  Versorgten  können  nur  die  gnadenweise  Ver- 
leihung von  Zulagen  erwirken.  Nach  den  diesseitigen  Normen  bezieht  die 
Familie  der  Mobilisierten  eine  Un  t  erh  altsgeb  ür,  welche  für  den  Kopf 
der  Höhe  der  Militär-Durchzugsverpflegung  gleichkommt  und  eine  Unter- 
kunft sgeb  ür,  gleich  der  halben  Unterhaltsgebür ;  für  Kinder  unter 
8  Jahren  erhält  sie  nur  die  Hälfte:  insgesammt  nicht  mehr  als  den  durch- 
schnittlichen Tagesverdienst  des  Einberufenen. 

Nach  dem  W  a  a  d  1 1  ä  n  d  e  r  Cantonsgesetze  dient  der  Ertrag  des  Militär- 
pflichtersatzes der  Ausrüstung  der  Truppe  (Art.  9),  nach  dem  schweizer 
Bundesgesetze  (Art.  14,  AI.  3)in    einer    vom  Bundesrathe    zu  bestimmenden 


598  Thierl. 

Quote    des   halben   Brutto-Ertrages,    welcher   der  Bundescasse    zufliesst,^^) 
zur  „Aeufimiig-  des  Militär-Pensionsfondes. 

Dem  deutschen  Entwürfe  ist  eine  Weisung  über  die  Verwendung 
der  xlbgabe  fremd.  Im  Laufe  .der  Debatte,  welche  die  mannigfachsten 
Gesichtspunkte  bot,  w^urde  seitens  des  Keichs-Schatzsecretärs  Scholz  der 
Vorsorge  gedacht,  welche  für  die  bedürftigen  Familien  zum  Dienste  ein- 
berufener Keserve-  und  Landwehr- Männer  in  Preussen  durch  das  Gesetz 
vom  27.  Februar  1850.  im  norddeutschen  Bundesgebiete  seit  7.  November 
1867,  für  die  der  Ersatzreservisten  seit  8.  April  1868  getroffen  ist. 

Frankreichs  Gesetz  und  Italiens  Entw^urf  bestimmen  die  Ab- 
gabeneingänge zur  Bestreitung  der  Dienstesprämien  für  die  freiwillige 
Verlängerung  der  activen  Dienstzeit. 

Erschöpfend  sind  die  erwähnten  Verwendungsarten  keineswegs.  Von 
ihnen  bis  zu  dem  Ziele,  welches  Knies  und  G.  Cohn  durch  ihre  theore- 
tischen Ausführungen  in  den  Gesichtskreis  der  Mitzeit  gerückt,  bis  zur 
Entschädigung  der  persönlich  Dienenden  für  ihre  Dienstleistung  oder  doch 
für  die  daraus  entstandene  wirtschaftliche  Einbusse.  ist  ein  weiter  Weg. 
Welchen  praktischen  Schwierigkeiten  man  auf  demselben  begegnet,  dafür 
geben  Lesigang's  Versuche,  Kegeln  für  die  Ausmittlung  der  Entschädigung 
aufzustellen,  Zeugnis. 

Eine  fondsmässige  Aufspeicherung  der  Abgabe  hat  bloss  in  dem 
Sinne  eine  Berechtigung,  dass  hiedurch  ein  Nothpfennig  für  den  Fall  des 
Krieges  und  des  damit  gegebenen  plötzlichen  und  ungeheueren  Anschwellens 
der  Entschädigungsansprüche  geschaffen  wird.  Freilich  dürfte  dieser  Noth- 
pfennig nur  für  den  ersten  Anprall  zureichen:  das  Uebrige  müssen  doch 
die  allgemeinen  wirtschaftlichen  Kräfte  des  Staates  aufbringen.  Den  ge- 
summten. Ertrag  der  Abgabe  zu  fondieren,  erscheint,  soferne  nur  einiger- 
maassen  namhafte  Entschädigungsansprüche  im  Frieden  zu  gewärtigen  sind, 
unthunlich. 

Die  Verrechnung  der  Abgabe  in  Oesterreich-Ungarn  erfolgt  grund- 
sätzlich in  der  Weise,  dass  der  ganze  Ertrag  als  Bedeckung  unter  die 
Staatseinnahmen  und  ein  vereinbarter  Theilbetrag  als  Zuschuss  zum  Militär- 
tax  Fonde  unter  die  Staatsausgaben  eingestellt  wird.  Letzterer  Theilbetrag  belief 
sich  für  die  Reichshälfte  w^estlich  der  Leitha  bis  1882  auf  1,142.330  Gulden, 
nachher  auf  1,171.465  Gulden  ö.  W. :  die  östliche  Eeichshälfte  leistet  den 
auf  2  Mill.  Gulden  fehlenden  Rest.  Der  Ueberschuss  über  den  Fondsbeitrag 
wurde  in  der  östlichen  Reichshälfte  bedeutend  (ca.  2V2  Mill.  Gulden),  in 
der  westlichen,  wenn  überhaupt  vorhanden,  winzig  budgetiert;  öfters  war 
eine  Ergänzung  der  Eingänge  auf  den  Fondsbeitrag  aus  den  übrigen  Staats- 
einnahmen vorgesehen. 

Nicht  völlig  klar  ist  die  staatsreclitliche  Stellung  des  Militärtaxfondes 
die  abgesonderte  Verwaltung  durch  die  Finanzminister  beider  Reichs- 
hälften,   das  jedem    der   beiden    Landesvertheidigungs- Minister   zustehende 

^^)  Die  andere  Hälfte  den  Cantonen:  Art.  14  Bund. -Ges..  s.  b.  M  a  r  c  i  11  o  w  s  k  i 
S.  154  (oh.  Anmkcr.  2). 


Die  Abgabe  d.  Wehrclienstfreien  mit  besond.  Eücksicbt  auf  Oesterreich-Ungarn.     5V)9 

Verfügimgsrecht.  sprechen  sehr  gegen  den  Bestand  eines  gemeinsamen 
Fondes.  Doch  ist  durch  die  Anordnung,  wornach  beide  Eeichshälften  jälir- 
lich  eine  Hauptsumme  von  2  Mill.  Gulden  zusammensteuern,  wornach  die 
Verfügungen  des  Landesvertheidigungs- Ministers  im  Einverständnisse  mit 
dem  Keichskriegs- Minister  getroffen  werden  sollen,  endlich  durch  die  Ein- 
beziehung der  aus  dem  gemeinsamen  Heeres-Etat  versorgten  Invaliden  eine 
engere  Verbindung  zwischen   den  Fonden   beider  Eeichshälften    geschaffen. 

Eine  ausserbudgetäre  Behandlung  der  Abgabeneingänge  kann,  wie 
das  Beispiel  Oesterreich- Ungarns  zeigt,  nicht  für  eine  nothwendige  Folge 
der  Fondsbildung  angesehen  werden;  sie  verstösst  sogar  gegen  die  allge- 
meinen Grundsätze  über  die  Verrechnung  der  öffentlichen  Einnahmen.  Ob 
eine  solche  Behandlung  bei  Fondsbeiträgen  anderer  Art  hergebracht  ist 
oder  nicht,  bleibt  demnach  für  die  Abgabe  der  Wehrdienstfreien  belanglos. 

Anderwärts  gebricht  es  an  ähnlichen  Normen  über  die  Verrechnung 
der  xibgabe.  Der  deutsche  Entwurf  (g.  20)  weist  den  Reinertrag  —  nach 
Abzug  der  Eückvergütungen,  der  Erhebungs-  und  Verwaltungskosten  —  den 
Bundesstaaten  zu:  nach  dem  schweizer  Bundesgesetze  (§.  14,  Alin.  2) 
liefern  die  Cantone  von  dem  Brutto -Ertrnge  die  Hälfte  an  die  Bundes- 
casse  ab. 

X.    Strafen. 

Solche  Vorkehren  zum  Schutze  des  Gesetz  Vollzuges  finden  sich  in 
einfacher  Form  schon  in  den  älteren  Cantonsgesetzen  der  Schweiz.  So 
im  Berner  (§.  18)  in  Gestalt  einer  Abgabenverdoppelung  bei  Steuerentzie- 
hungen, im  Züricher  (§.  20)  in  Gestalt  einer  Ahndung  nachlässiger  Functio- 
näre  durch  Vorenthalt  der  gesetzlichen  Tantiemen  (1 — 3  Proc.j. 

Die  bezüglichen  Mängel  des  Bundesgesetzes  werden  durch  Bestim- 
mungen der  cantonalen  Reglements  wenigstens  theilweise  ersetzt;  so  belegt 
AVallis  (Art.  22  und  23)  nachlässige  oder  rechtswidrig  zu  Gunsten  der 
Parteien  vorgehende  Gemeinde-Organe  mit  einer  Busse  von  10 — 100  Frcs.. 
Hinterzieher  der  Abgabe  mit  einer  solchen  von  20 — 50  Frcs.^^) 

Seitens  des  deutschen  Entwurfes  (g.  19)  werden  Geldstrafen  für 
Zuwiderhandlungen  bis  zu  300  Mk.  in  Aussicht  genommen.  Eine  Umwand- 
lung in  suppletorische  Freiheitsstrafe  findet  nicht  statt.  Die  Verjährungs- 
frist für  die  Strafverfolgung  beträgt,  wie  für  die  Strafvollstreckung,  fünf 
Jahre. '^")  In  formeller  Beziehung  gelten  ungefähr  die  sonstigen  Grundsätze 
des  deutschen  Steuerstrafrechtes  (§g.  465 — 469  dtsch.  Eeichs-Strafprocess) : 
es  greift  die  richterliche  Entscheidung  Platz,  soferne  sich  nicht  der  Beschul- 
digte mit  der  in  der  Eegel  eintretenden,  vorläufigen  Festsetzung  der  Geld- 
strafe durch  die  Bezirkssteuerbehörde  zufrieden  gibt. 

In  Ungarn  werden  Taxpflichtige,  welche  vorgeschriebene  Anzeigen 
über  ihre  Personalverhältnisse  unterlassen,  abgeforderte  Daten  nicht  recht- 
zeitig einliefern,  ohne  Taxzahlung  und  ohne  Erlaubnis  aus  ihrer  Domicils- 

^'^)  Marcinowski  SS.  161  fg.  (ob.  Anmkg.  2). 

^ö|  Nach  §^.  C)7,  bezw.  70,  Z.  5  d.  dtsch.  Rdis.-Straf-Ges.:  3,  bezw.  5  Jahre. 


600  Thierl. 

Gemeinde  sich  entfernen,  mit  dem  Drei-  bis  Sechsfachen  der  Abgabe  belegt. 
Wegen  mangelhafter  Evidenzhaltung  oder  Nachweisung  treifen  die  Gemeinde- 
Vorstände  und  Bezirksstuhlrichter  Bussen  von  5 — 50  11.  Unterlassen  Eltern, 
Vormünder,  Gattinnen  die  vorgeschriebene  Todesanzeige  bezüglich  des 
Taxpflichtigen,  so  ist  dies  mit  einer  Strafe  von  1 — 5  fl.  zu  ahnden.  Bei 
Uneinbringlichkeit  tritt  Umwandlung  in  Arrest  ein ;  ein  Tag  wird  gleich 
zehn  Gulden  Strafe  gerechnet  (Maximum:  30  Tage).  Die  Strafcompetenz 
kommt  dem  Steuer -Inspector,  bezw.  seit  1889  der  Finanz -Direction  zu 
(§§.  20-22  d.  Ges.  v.  J.  1880). 

Das  französische  Eecht  kennt  nur  die  Taxverdoppelung  bei 
Saumsal,  sobald  drei  Zwölftel  rückständig  geworden  sind  (§.  6  des  Art.  35 
des  Wehrgesetzes,  Art.  13  und  28  des  Eeglements). 

Jeder  Strafbestimmung  entbehrt  das  österreichische  Militärtax- 
Gesetz.  Es  erübrigen  hier  nur  die  den  politischen  Behörden  zustehenden 
allgemeinen  Rechtsmittel  zur  Erzwingung  des  Gehorsams  gegen  amtliche 
Weisungen. 

Die  Nothwendigkeit  der  Aufnahme  von  Strafsanctionen  in  Wehrsteuer- 
Gesetze  beruht  nicht  auf  der  Besonderheit  der  hier  möglichen  Zuwider- 
handlungen, sondern  auf  dem  Mangel  einer  gehörig  ausgebildeten  admini- 
strativen Strafgesetzgebung,  Avelche  für  viele  im  W^esentlichen  gleichartige 
Fälle  von  Defrauden,  bezw.  Ungehorsam  durch  einige  wenige  bewegliclie 
Strafsätze  ausreichend  Vorsorgen  könnte.  Jedenfalls  bedürfen  die  Haupt- 
fragen, betreffend  die  Sicherung  der  Steuerwilligkeit  der  Abgabenpflichtigen 
und  der  pflichtgemässen  Obsorge  der  Hilfsorgaue,  betreffend  die  Zulassung 
von  Freiheitsstrafen,  betreffend  die  richterliche  Competenz,  insbesondere  bei 
Freiheitsstrafen,  betreffend  die  Rechtsmittel  gegen  den  Strafentscheid,  dann 
die  Verjährung,  eines  Austrages. 


Zweiter  Theil. 
Zup  Theorie  den  Abgabe. 

Der  Gedanke  der  Ausgleichsbelastung  im  weitesten  Sinne  des 
Wortes  findet  sich  in  allen  theoretischen  Auffassungen  der  Abgabe  wieder. 
Am  schwächsten  in  der  Theorie  des  Aequivalentes  und  in  der  Gebüren- 
Theorie,  deshalb,  weil  diese  vom  Standpunkte  der  öffentlichen  Verwaltung 
ausgehen  und  die  Frage  aufwerfen,  was  dem  Staate  bei  den  Wehrdienst- 
freien entgeht,  bezw.  welche  Amtshandlungen  derselbe  im  Interessenkreise 
des  Letzleren  vornimmt.  Ueberall  sonst  steht  aber  der  Standpunkt  der 
Wehrpflichtigen,  bezw.  der  Wehrdienstfreien  im  Vordergrunde  und  mit  ihm 
die  Erwägung,  dass  diese  gegenüber  ihren  wehrdienstpflichtigen  Mitbürgern 
leichter  belastet  erscheinen.  Nur  die  hieraus  gezogene  Folgerung  differenziert 
sich:  bald  wird  die  Ergänzungsbelastung  der  Wehrdienstfreien,  bald  die 
Entschädigung  der  Wehrdienstpflichtigen  hauptsächlich  betont.  Unter  den- 
jenigen, welche  die  ersteren  fordern,  haben  manche    die    durch  die    Wehr- 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Rücksicht  auf  Oesterreich-Ungarn.     60 1 

dienstleistung  bewirkte  Beeinträchtigung  der  privaten  —  wirtschaftlichen 
oder  persönlichen  —  Interessen,  manche  die  Beeinträchtigung  der  Steuer- 
lahigkeit  im  Auge.  Vereinzelt  wird  der  Gedanke  gestreift,  dass  die  Abgabe, 
auch  lediglich  wehrpolitisch  betrachtet,  ein  Postulat  der  Gerechtigkeit  sei. 
Keines  dieser  nach  einer  Kichtung  ausblickenden  Urtheile  erfasst  die 
Aufgabe  der  Wehrsteuer  vollständig.  Die  Ausgleichung,  welche  die  letztere 
von  Gerechtigkeitswegen  schaffen  soll,  muss  vielmehr  allen  diesen  Exigenzen 
insgesammt  genügen:  sie  muss  eine  sociale,  finanzielle  und  militärische 
zugleich  sein. 

I.  Die  militärische  Ausgleichung. 

In  dem  Wesen  der  persönlichen  Wehrdienstpflicht  liegt  der  natürliche 
Ausgangspunkt  für  die  Theorie  der  Wehrsteuer.  Die  allgemeine  Wehrpflicht 
fordert  es,  dass  ihre  Last  allen  Bürgern  gegenüber  zur  Geltun  g gebracht 
werde.  Wo  dies  aus  irgend  welchen  Gründen  nicht  geschieht,  entsteht  eine 
Ungleichheit,  welche  den  Charakter  dieser  Wehrpflicht  verletzt.  Zur  Aus- 
gleichung dieser  Ungleichheit  ist  die  Abgabe  der  Wehrdienstfreien  berufen. 
Sie  bedarf  daher  einer  Einrichtung,  welche  dem  militärischen  Momente 
Genüge  leistet,  ohne  der  socialen  und  finanziellen  Exaequation  zii  vergessen. 

Sowohl  aus  der  historischen  Betrachtung,  als  aus  der  Einzelbeobachtung 
staatlicher  Phänomene  ergibt  sich,  dass  die  natürliche  Kraft  des  Menschen 
zuerst  in  den  Dienst  der  Vertheidigung  seiner  Güter  gestellt  wird,  die 
Einziehung  sachlicher  Beisteuern  in  eine  spätere  Periode  fällt.  Die  per- 
sönliche Dienstleistung  ist  somit  das  Primäre  im  Wehrwesen,  die  Abgaben- 
leistung der  Wehrdienstfreien  das  Secundäre,  ein  Correlat  für  den  Fall  der 
Nichterfüllung  der  persönlichen  Dienstpflicht. 

Die  ursprüngliche  und  zugleich  ideale  Gestaltung  des  Wehrdienstes 
ist  das  freiwillige  Eintreten  Jedes  für  Jeden,  aller  Männer  einer  bestimmten 
Altersstufe  für  die  Gesammtheit.  Seither  ist  die  völlig  freiwillige  Leistung 
des  persönlichen  Dienstes  die  Ausnahme  geworden;  der  Antrieb  hiezu  hat 
durch  die  Gewöhnung  an  friedliche  Beschäftigung  und  durch  die  Zeit  der 
geworbenen  Heere  ungemein  abgenommen,  die  Fähigkeit  der  Bürger,  den 
physischen  Anforderungen  des  Soldatenstandes  zu  entsprechen,  ist  gemin- 
dert, ein  Bedürfnis  des  Gemeinwesens,  alle  Bürger  unter  Waffen  zu  haben, 
nicht  vorhanden. 

Dem  Mangel  des  Antriebes  zum  freiwilligen  Einsätze  der  Persönlich- 
keit begegnet  das  Gemeinwesen  durch  den  Zwang.  Wer  sich  nicht  bis  zu 
einem  gewissen  Termine  freiwillig  meldet,  kann  zur  persönlichen  Dienst- 
leistung genöthigt  werden.  Bei  den  physisch  Untauglichen  und  den  Ueber- 
schüssigen  entfällt  diese  Nöthigung;  die  Allgemeinheit  der  Wehrpflicht 
erheischt  hier  ein  SuiTOgat.  Nämlich  ein  Opfer,  welches  1.  durch  sie 
geleistet  werden  kann,  2.  gleichfalls  im  Interesse  der  Staats Avelir  liegt, 
3.  von  ihnen,  wenigstens  annähernd  als  eben  so  schwerer  Druck  empfunden 
wird,  wie  der  persönliche  Waffendienst  von  der  Mehrzahl  der  dadurch 
Betroffenen. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung,  IV.  Heft.   •  ?,r' 


602  Thierl. 

Das  Opfer  sollte  ein  gleichwertiges  sein;  doch  nur  der  Einsatz  der 
ganzen  Persönlichkeit  wäre  ein  solches.  Für  gewöhnlich  vermag  es  den 
normalen  persönlichen  Beschränkungen  und  wirtschaftlichen  Nachtheilen  des 
Waffendienstes  nur  nahezukommen.  Es  ist  entweder  ein  persönliches  oder 
ein  sachliches. 

Persönliche  Dienstleistungen  im  Interesse  der  Staatswehr,  jedoch 
ausserhalb  der  Waffen,  finden  oft  statt,  führen  jedoch  fast  nie  zu  einer 
entsprechenden  Benützung  der  Arbeitskräfte  des  Individuums  und  nehmen 
dieses  auch  intensiv  viel  weniger  in  Anspruch,  als  den  Waffendienst.  Nur 
bei  sachlichem  Unvermögen  bilden  sie  einen  passenden  Ersatz. 

Sachliche  Leistungen  lassen  nur  schwer  einen  Yergleichungs- 
I^Iaasstab  gegenüber  dem  Waffendienste  entdecken.  Vielfach  werden  die 
mit  dem  letzteren  verbundenen  Lasten  in  persönliche  und  sachliche 
zerlegt.  Erstere,  nämlich  die  persönliche  Willensbeschränkung  und  die 
Ertragung  vitaler  Gefahren  gelten  als  unschätzbar.  Bei  den  sachlichen 
Lasten,  den  wirtschaftlichen  Nachtheilen  der  Wehrdienstleistenden,  fehlt  der 
logisch  begründete  Uebergang  zum  generellen  Steuerfusse. 

Die  gemeinhin  angenommene  Unschätzbarkeit  der  persönlichen  Lasten 
leidet  indes  eine  Anfechtung.  Gewiss  ist  eine  Schätzung  nach  der  Formel 
einer  Gleichung  unmöglich.  Aber  bei  einer  gewissen  Höhe  des  Geld- 
opfers sind  die  meisten  Menschen  geneigt,  die  Alternative  zwischen  dem 
Vermögensnachtheile  und  einer  persönlichen  Last  ernstlich  in  Betracht  zu 
ziehen.  Diese  Grenze  verschiebt  sich  nach  der  Härte  des  persönlichen 
Druckes,  der  Wahrscheinlichkeit  des  Eintrittes  der  Gefahr  einerseits,  der 
ökonomischen  Kraft  des  Betroffenen  andererseits.  Dafür,  dass  die  Aufer- 
legung von  Geldopfern  für  Beeinträchtigungen  idealer  Güter,  wie  Ehre, 
Unverletztheit  u.  a.  der  Volksethik  nicht  widerspricht,  liefern  viele  Poenen 
des  bürgerlichen  Rechtes,  im  besonderen  die  Sühnen  des  alten,  deutschen 
Rechtes,  die  Genugthuung  für  Schimpf  und  Schaden  nach  englischem 
Rechte,  hinlänglichen  Beweis.  Niemand  soll  sich  unter  dem  Schilde  der 
Unschätzbarkeit  idealer  Güter  an  diese  ungestraft  heranwagen  dürfen.  Nicht 
eine  verächtliche  Gleichstellung  der  idealen  Güter  mit  einer  jDestimmten 
Summe  Geldes,  sondern  eine  besondere  Wertschätzung  dieser  Güter  prägt 
sich  also  in  der  Verhängung  der  Geldopfer  aus. 

Für  den  Anschlag  des  Ersatzopfers  entscheidet  nicht,  dass  der 
Waffendienst  eine  Ehrenpflicht  ist,  welche  Jedermann  mit  Begeisterung  auf 
sich  nehmen  sollte.  Maassgebend  sind  die  thatsächlichen  Verhältnisse.  Die 
grosse  Masse  des  Volkes  fühlt  den  Waffendienst  als  Zwangsdienst  und 
würde  sich,  wenn  im  Besitze  der  erforderlichen  Mittel,  gerne  von  seinem 
Drucke  durch  eine  angemessene  Geldleistung  befreien.  In  dieser  letzteren 
läge  wirklich  eine  Selbstschätzung  aller  —  persönlichen  wie  sachlichen  — 
Lasten  des  Dienstes,  ein  einheitliches  Maass  für  den  gesammten  Be- 
lastungsdruck. Gelänge  es  ein  Beispiel  dieser  Selbstschätzung  für  einen 
einzelnen   Fall  zu  finden,  so  wäre  die    Feststellung    des    generellen    Füssen 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Rücksieht  auf  Oesterreieh-Ungarn.     (303 

der  Abgabe    angebahnt.     Eine  Sonderung   von  persönlichen  und  sachlichen 
Lasten  des  Waffendienstes  würde  ganz  entbehrlich. 

Die  theoretische  Behandlung  der  Abgabe  hat  nun  wiederholt  auf 
ein  solches  Beispiel  einer  Selbstschätzung  verwiesen,  indem  sie  an  die 
Stellvertretungskosten  erinnerte.  Mehrfach  wurde  in  diesen  Kosten  ein 
sehr  genaues  Maass  der  durch  den  persönlichen  Dienst  bewirkten,  auf  dem 
Wege  des  Soldes  nicht  ausgeglichenen  Belastung  erblickt,  ganz  nach  dem 
Ansprüche  J.  B.  Say's  „La  conscription  militaire  peut  se  mesurer  par  le 
prix  du  remplacement".  Eine  so  weitgehende  Auffassung  konnte  nicht  ohne 
Widerspruch  bleiben.  Jelly ^^)  entdeckte  in  ihr  eine  unzulässige  Verwechs- 
lung von  Gebrauchs-  und  Tauschwert.  Der  erstere  möge  beim  Stellvertreter 
und  bei  irgend  einem  anderen  Soldaten  der  gleiche  sein,  da  der  Staat 
beiläufig  von  jedem  dasselbe  fordere,  nicht  aber  der  „Tauschwert",  der 
Verkehrswert. 

Mit  dem  gebotenen  Beispiele  würde  sich  indes  das  Auslangen  linden 
lassen,  wenn  man  vorerst  annehmen  dürfte,  dass  die  Stellvertretungskosten 
für  eine  gewisse,  in  ihren  wirtschaftlichen  Verhältnissen  annähernd  bestimm- 
bare Classe  von  Bürgern  einen  generellen  Maasstab  der  Vergütung  dessen 
bilden,  was  sie  an  Lasten  durch  die  freiwillige  Unterwerfung  unter  die 
Pflicht  des  Wehrdienstes  zu  gewärtigen  haben.  Zu  dieser  Feststellung  kann 
man  nur  durch  eine  statistische  Untersuchung  der  Stellvertretergruppe  nach 
den  ökonomischen  Merkmalen  gelangen.  Es  ist  zu  vermuthen,  dass  Per- 
sonen auf  einer  gewissen  ökonomischen  Stufe  im  Falle  der  freien  Wahl 
zwischen  Loszählung  vom  Dienste  und  Empfang  der  Stellvertreterprämie 
noch  für  diese  optieren,  weil  sie  bei  ihren  wirtschaftlichen  Verhältnissen 
keine  Sicherheit  besitzen,  dass  es  ihnen  gelingen  werde,  in  der  nämlichen 
Zeit  einen  gleich  hohen  Capitalsbetrag  zu  ersparen.  Diese  ökonomische 
Stufe,  deren  Vertreter  aber  nicht  vereinzelt  vorkommen  dürfen,  stellt  die 
obere  Grenze  und  damit  zugleich  den  Vergleichungsfactor  dar;  es  heisst 
z.  B.:  für  Einkommen  von  300  fl.  bildet  die  Stellvertreterprämie  von  450  fl. 
noch  eine  hinreichende  Entschädigung. 

Nun  kann  es  nicht  genügen,  zu  wissen,  dass  Leute  auf  einer  gewissen 
ökonomischen  Stufe  in  einem  bestimmten  Capitalsbetrage  (der  Stellvertreter- 
prämie), welche  sie  sonst  kaum  zu  ersparen  vermöchten,  eine  hin- 
reichende Entschädigung  für  solche  persönliche  und  sachliche  Opfer  finden. 
Man  müsste  vielmehr  feststellen,  ob  die  ökonomisch  besser  Gestellten  im 
Falle  freier  Wahl  für  eine*  derartige  —  verhältnismässig  gesteigerte  — 
Entschädigung  optieren  würden.  Selbstverständlich  sind  bei  der  Einzel- 
beobachtung alle  abnormen  Fälle  ausgeschlossen.  Die  Frage  geht  dahin: 
wenn  sich  unter  denjenigen,  welche  die  Stellvertreterprämie  von  450  fl. 
annehmen,  eine  genügende  xinzahl  mit  dem  Maximaleinkommen  z.  B.  von 
300  fl.  ausmitteln  lässt,  ist  es  wahrscheinlich,  dass  auch  Personen  mit 
einem  Einkommen  von  3000  fl.  —  u.  zw.  nicht  vereinzelt  —   den   persön- 


97)  S.  ob.  Anmkg  21   (S.  325). 

39^ 


604  Thierl. 

liehen  Wehrdienst  gegen  irgend  eine  Entschädigung,  bezw.  eine  solche  von 
4500  fl.  oder  9000  fl.  antreten  würden?  Grundsätzlich  hätte  die  Antwort 
bejahend  zu   lauten. 

Gewiss  ist,  dass,  wenn  es  möglich  wäre,  sich  durch  den  Erlag  eines 
gewissen  Ersatzgeldes  vom  persönlichen  Dienste  zu  lösen,  diese  Personen 
einen  weit  höheren,  wahrscheinlich  mehr  als  den  zehnfachen  Betrag  dessen 
opfern  würden,  wozu  sich  die  Personen  mit  Einkommen  von  300  fl.  verstehen 
wollten.  Begreiflicherweise;  denn  mit  dem  erübrigenden  Beste  vermöchten 
jene  ihre  Bedürfnisse   noch   immer   ausgedehnter   zu  befriedigen    als    diese. 

Es  tritt  also  das  Princip  der  Proportionalität,  erweitert  durch 
Progression,  in  Wirksamkeit. 

Indess  nicht  ein  Maasstab  selbst,  sondern  nur  ein  Mittel,  zu  einem 
solchen  zu  gelangen,  ein  erster,  roher  Anhaltspunkt  sind  die  Stellvertretungs- 
kosten. Sie  sind  auch  nicht  das  einzige  derartige  Mittel,  sondern  höchstens 
das  bequemste,  weil  sie  bis  in  die  letzten  Jahrzehnte  hereinreichen,  für 
welche  statistisches  Materiale  verfügbar  ist.  Ohne  eine  mehrfache  Umformung 
eignen  sie  sich  schwerlich  zu  irgend  welcher  Anwendung.  Es  muss  Bedacht 
genommen  werden  auf  die  Aenderung  der  Kaufkraft  des  Geldes,  auf  die  Erhöhung  • 
der  Einkommen  gleichstehender  ökonomischer  Stufen,  auf  die  Verschiebungen 
in  der  Dauer  und  im  Inhalte  des  Wehrdienstes.  Eine  Reduction  der  Prämie 
auf  das  heute  angemessene  Ausmaass  würde  einerseits  eine  Steigerung, 
andererseits  eine  Herabminderung  bedingen.  Die  Aenderung  der  Kaufkraft  des 
Geldes  und  die  Erhöhung  der  Einkommen  gleichstehender  ökonomischer 
Stufen  brauchen  sich  hierbei  nicht  zu  compensieren:  für  ein  als  passend 
gewähltes  Mitteljahr  lauten  möglicherweise  die  Verhältniszahlen  2  :  1  und 
5  :  8.  Bei  den  Verschiebungen  hinsichtlich  Intensität  und  Extensität  des 
Wehrdienstes  kommt  die  Kürzung  der  activen  und  Reserve-  bezw.  Landwehr- 
Dienstzeit  überhaupt,  dann  der  activen  Dienstzeit  (einschliesslich  der 
Waffen  Übungen  in  der  Reserve  und  Landwehr)  speciell  in  Betracht.  Für  das 
gewählte  Mitteljahr  erstreckte  sich  z.  B.  letztere  auf  10  Jahre:  heute  beträgt 
sie    3  Jahre    und    4  Waffenübungen    zu  je    4  Wochen,    also    beiläufig   das 

Drittel  von  früher.    Die  reducierte  Prämie  ergibt  sich  hiernach  mit  — ^r— 

o 

.     f        300  fl.  X  8  I 

=  300  fl.  für  das  entsprechende  Einkommen  von  480  fl.      = — — 

i  ^  ) 

Auf  zwölf  Jahre ^^)  vertheilt,  mit  Rücksicht  auf  Zinsen  und  Zinseszinsen, 
berechnet  sich  die  Leistung  im  ersten  Jahre  auf  fl.  14*6,  in  den  folgenden 
auf  15-2,  16,  16-8,  17-6,  18'o,  19*4,  20-4,  21-5,  22-6,  23-7,  25  fl..  im 
Durchschnitte  fl.  17-6'  d.  i.  3-667o  von  480  fl.  Nach  diesem  Beispiele, 
dessen  Unübertrefflichkeit  nicht  im  entferntesten  behauptet  wird,  ist  S-Gö*^  „ 
der  normale  Steuerfuss  für  Einkommen  von  480  fl.,  also  ca.  500  fl.  Zu 
einer  Ausmittlung  der  Progression,  bezw.  Degression  des  Steuerfusses 
fehlt  es  an  besonderen  Anhaltspunkten.    Es  verdient  nur  hervorgehoben  zu 


^)  3  Jahre  activ,  7  Jahre  Reserve,  2  Jahre  Landwehr. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Rücksicht  auf  Oesterreich-üngani.      605 

werden,  class  die  Grundziffern  dieser  Berechnung  das  sociale  Moment  der 
Ausgleichung  bereits  sehr  stark  berücksichtigen,  denn  die  Stellvertreter- 
Prämie  ist  ihrer  Natur  nach  auch  eine  Entschädigung  für  die  socialen  Nach- 
theile, welche  die  privatwirtschaftliche  Entwicklung  des  Individiums  durch 
seine  Heranziehung  zum  persönlichen  Dienste  erfährt.  Diese  Berücksich- 
tigung müsste  indess,  früher  oder  später,  vom  Standpunkte  der  socialen 
Ausgleichung,  bei  der  Wehrsteuer  ohnehin  erfolgen. 

IL  Die  sociale  Ausgleichung. 

Kein  Moment  der  Abgabe  der  Wehrdienstfreien  hat  in  der  Literatur 
soviel  Beachtung  gefunden,  als  die  sociale  Ausgleichung.  Begreiflicherweise. 
Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  diejenigen,  welche  der  W^ehrpflicht  genügen, 
gewisse  Einbussen  an  ihrem  Vermögen,  an  ihrem  Einkommen  erleiden.  Um 
bei  der  Gütervertheilung  die  übrigen  nicht  zu  begünstigen,  müssen  diesen 
Abzüge  an  ihrem  Vermögen,  bezw.  an  ihrem  Einkommen  gemacht  werden, 
und  zwar  unmittelbar  oder  mittelbar  zu  Gunsten  der  Waffendienste  Leistenden. 
Wenn  die  Abgabe  eine  volksthümliche  Seite  besitzt,  so  ist  es  diese. 

Die  so  geschaffene  Ausgleichung  erscheint  nicht  als  sociale  im  eigent- 
lichen Sinne,  denn  die  Wehrlast  berührt  nicht  die  Vertheilung  der  Güter 
unter  die  verschiedenen  Classen  der  Gesellschaft.  Aber  indem  sie  alle 
socialen  Classen  durchschneidet,  schafft  sie  in  der  grossen  Erwerbsgesell- 
schaft des  Gemeinwesens  einen  Gegensatz  von  wirtschaftlich  Begünstigten 
und  wirtschaftlich  Benachtheiligten,  dessen  Behebung  zum  Mindesten  ein 
quasi  sociales  Werk  darstellt. 

in.  Die  finanzielle  Ausgleichung. 

In  der  Theorie,  zumal  durch  die  schematischen  Ausführungen 
F.  J.  Neumann's  ziemlich  vollständig  erfasst,  ist  dieses  Moment  in  der 
praktischen  Ausgestaltung  missverstanden  worden.  Weniger  vorsichtige 
Erklärungen,  wie  z.  B.  jene  des  Reichs-Schatzsecretärs  v.  Scholz,  ^^)  nährten 
die  Vorstellung,  dass  schlechtweg  nur  das  Bestreben,  die  Staatseinnahmen 
zu  vermehren,  obwalte.  Gerade  für  das  Moment  der  finanziellen  Ausgleichung 
ist  diese  Einnahmenvermehrung  belanglos;  denn  das  berührte  Moment 
schlägt  nur  an  die  Grundsätze  der  Vertheilung  der  Abgaben.  Zwei 
gleiche  Reineinkommen,  von  denen  das  eine  einem  Wehrpflichtigen  zugehört, 
sind  nicht  gleich  steuei  kräftig.  Wer  persönlich  gedient  hat,  erwirbt  schwieriger, 
als  derjenige,  welcher,  durch  keine  militärische  Dienstleistung  gehemmt, 
seiner  Erwerbsthätigkeit  ununterbrochen  nachgehen  konnte.  Entweder  müssen 
sich  die  Wehrdienstfreien  einen  Zuschlag  gefallen  lassen,  oder  denen,  welche 
Wehrdienst  geleistet  haben,  wird  an  der  gewöhnliche  Einkommensteuer  ein 
Abschlag  gemacht,  bezw.  eine  Herabsetzung  der  allgemeinen  Steuerbasis 
zuerkannt. 

Als  Correctur  der  allgemeinen  Einkommen-,  bezw.  Vermögensteuer 
läuft    die   Abgabe    den  Ergänzungssteuern    parallel.     Während    aber   diese 

90)  Marcinowski  S.  50  (ob.  Anmkg.  2). 


606 


Thierl. 


eine  mangelhafte  Erforschung  des  reinen  Einkommens  oder  Vermögens  zur 
Voraussetzung  haben,  kann  die  Abgabe  als  singulare,  durch  besondere  Ver- 
hältnisse anderer  als  staatswirtschaftlicher  Natur  bedingte  Sondersteuer 
auch  bei  vollkommener  Erforschung  des  Einkommens  wohl  bestehen.  Sie 
ist  den  Ergänzungssteuern  nicht  coordiniert,  sondern  dem  Organismus  der 
Einkommensteuer  selbst  eingeschaltet.  Es  wäre  möglich,  die  durch  die 
Wehrdienstleistung  geschehene  Beeinträchtigung  der  Steuerkraft  bei  denen, 
welche  Wehrdienst  geleistet  haben,  als  Abzugspost  anzuerkennen;  bequemer 
und  vom  Standpunkte  der  Steuervertheilung  gleichwertig  erscheint  die 
Zusatzsteuer,  mit  welcher  man  die  übrigen  trifft. 

IV.   Die  Stellung   der  Abgabe  zur  Finanzwissenschaft. 

Eine  gegenseitige  Kreuzung  findet  unter  den  drei  Momenten  der  Abgabe, 
dem  militärischen,  socialen  und  finanziellen,  nicht  statt:  sie  stellen  vielmehr 
nur  drei  verschiedene  Seiten  der  Ausgleichung  dar.  Eine  Abgabe,  welche 
lediglich  das  eine  oder  das  andere  Moment  verwirklichen  wollte,  würde  als 
unzureichend  angefochten  werden  können.  Für  das  harmonische  Verhältnis 
der  Momente  untereinander  zeigt  der  Umstand,  dass  sie  sich,  historisch 
und  pliilosophisch,  das  eine  aus  dem  anderen  entwickeln  lassen  und  dass 
sie  sämmtlich  auf  das  reine  Einkommen  des  Wehrdienstfreien  zurückleiten. 
Aus  dem  Gedanken,  dass  die  Wehrdienstfreiheit  einzelner  Staatsbürger  eine 
Verletzung  des  Grundsatzes  der  allgemeinen  Wehrpflicht  in  sich  schliesse 
und  eine  Ausgleichung  nach  Maassgabe  des  Einkommens,  bezw.  Vermögens 
erheische,  weil  sonst  einige  den  besonderen  Anforderungen  der  Staatswehr 
völlig  sich  entziehen,  fliesst  naturgemäss  die  Erwägung,  dass  jene, 
welche  zum  Dienste  herangezogen  werden,  hinsichtlich  der  Güterverth eilung 
gegenüber  den  Befreiten  im  Nachtheile  seien.  Und  hält  man  an  dieser 
Auffassung,  so  findet  man  es  bald  auffällig,  dass  die  Besteuerung  der 
Staatsbürger,  welche  die  Umstände  der  Erwerbung  des  steuerpflichtigen 
Einkommens  in  Betracht  zieht,  auf  die  Erschwernis,  welche  viele  Staats- 
bürger durch  ihre  Heranziehung  zum  Waffendienste  in  ihrem  Erwerbe 
erfahren,  nicht  Rücksiclit  nehmen  sollte.  Auf  jeder  der  drei  Seiten,  welche 
die  Beurtheilung  der  Abgabe  der  Wehrdienstfreien  berührt,  werden  jene 
Factoren.  nach  denen  sich  die  wirtschaftliche  Leistungsfähigkeit  des  Indivi- 
duums bestimmt,  als  Maasstäbe  des  Ersatzes  anerkannt.  Das  Vermögen, 
die  eigenen  Bedürfnisse  möglichst  ausgedehnt  zu  befriedigen,  die  Güter- 
vertheilung  im  weiteren  Sinne,  die  Steuerfähigkeit  sind  durchwegs  Momente, 
welche  mit  dem  reinen  Einkommen  in  causale  Verbindung  gebracht  werden 
müssen. 

Vorhin  wurde  festgestellt,  dass  die  militärische  Ausgleichung, 
welche  die  Abgabe  zu  bewirken  hat,  auf  dem  Wege  einer  percentuellen 
Besteuerung  des  reinen  Einkommens  zu  verfolgen  sei.  Die  Proportionalität 
dieser  Belastung  erhält  noch  ein  besonderes  Gepräge  durch  den  Hinzutritt 
eines  Progressions-,  bezw.  Degi'essions-Coefficienten. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Rücksicht  auf  Oesterreich- Ungarn.     607 

Da  die  finanzielle  Ausgleichung  durch  die  Abgabe  sich  wie  im 
Eahmen  der  Personal-Einkommensteuer  vollziehen  soll,  so  wird  von  diesem 
Standpunkte  aus  der  Abgabe  keine  andere  Gestaltung  gegeben  Averden 
können,  also  jene  der  Hauptsteuer.  Für  die  finanzwissenschaftlichen  An- 
schauungen, w^elche  den  Typus  der  progressiven  oder  degressiven  percentuierten 
Einkommensteuer  als  den  vollkommensten  erachten,  ist  dessen  Annahme 
zum  Zwecke  der  durch  die  Abgabe  der  Wehrdienstfreien  zu  bewirkenden 
finanziellen  Ausgleichung  hiernach  unvermeidlich.  Der  Effect  erweist  sich 
hinsichtlich  der  Steuervertheilung  als  der  nämliche,  wie  wenn  den  zum 
persönlichen  Dienste  Herangezogenen  bei  der  Einkommenbesteuerung  ein 
Abschlag  gemacht  würde. 

Verhältnismässig  am  schwierigsten  gestaltet  sich  die  Wertschätzung 
des  socialen  Momentes  der  Abgabe.  Die  Gütervertheilung  deckt  sich  nicht 
mit  der  Vertheiluug  des  reinen  Einkommens,  denn  die  Art  des  Erwerbes 
macht  einen  bedeutenden  socialen  Unterschied  aus.  Aber  in  der  Durch- 
führung der  progressiven  Proportionalbesteuerung  können  die  Provenienzen 
des  Einkommens  in  Kücksicht  gezogen  werden.  Hierdurch  nähern  sich  die 
Isohypsen  der  Gütervertheilung  und  der  Percentual-Einkommensteuer,  bezw. 
der  Abgabe  der  AVehrdienstfreien.  Die  fixen  Steuersätze  sind  für  solche 
Unterschiede  naturgemäss  unempfindlich,  Classensteuern  werden  von  ihnen 
nur  in  den  gröbsten  Punkten  beeinflusst,  classificierte  Einkommensteuern 
bedeuten  ein  niedrigeres  Stadium  der  Entwicklung  vor  der  Percentualsteuer, 
und  diese  selbst  bleibt  als  reine,  vom  Progi*essions-,  bezw.  Degressions- 
Coefficienten  ledige,  gegenüber  der  progressiven,  bezw.  degresslyen  darin 
zurück,  dass  letztere  mit  der  Ausnützung  der  gesteigerten  Leistungsfähig- 
keit höherer  Einkommen  an  sich  ein  Werk  socialer  Ausgleichung  schafft. 
Auch  für  das  sociale  Moment  der  Abgabe  darf  somit  der  Formentypus  der 
progressiven,  bezw.  degressiven  percentuierten  Einkommensteuer,  zum 
Mindesten  als  der  relativ  angemessenste  gelten. 

Vermöge  dieser  Feststellung  ist  die  Grundlage  für  die  Erkenntnis  des 
Verhältnisses  gegeben,  in  welchem  sich  die  Abgabe  der  Wehrdienstfreien 
zur  Finanzwissen  schaff  befindet.  Das  finanzielle  Moment  der  Abgabe 
begründet  die  materielle  Zugehörigkeit  der  Abgabe  zum  Bereiche  dieser 
Wissenschaft.  Es  kommt  ihr  daselbst  ein  Platz  unter  den  Ergänzungs- 
steuern zu.  welche  die  theoretisch  erkannten  Mängel  der  Personal-Ein- 
kommensteuer mildern.  Sie  setzt  indess  nicht,  wie  z.  B.  die  Objectsteuern, 
eine  gewisse  Unvollständigkeit  in  der  Erhebung  des  Einkommens  voraus, 
sondern  bedeutet  nur  eine  singulare  Berücksichtigung  anderer  als  streng 
staatswirtschaftlicher  Factoren.  Sie  ist  auch  den  übrigen  Ergänzungssteuern 
nicht  coordiniert,  sondern  in  den  engsten  Kreis  der  Personal-Einkommen- 
steuer als  Hilfsorgan  eingeschaltet. 

Die  Finanzwissenschaft  kann  jedoch  nicht  übersehen,  dass  das  militä- 
rische und  das  sociale  Moment  der  Abgabe  die  materielle  Behandlung  der 
letzteren  auch  einem  anderen  wissenschaftlichen  Gebiete,  jenem  der  V  e  r- 
waltuno-slehre.  offen  hält.  Hinsichtlich  dieser  beiden  Momente  erscheint 


608  ™''^- 

die  Beziehung  der  Abgabe  zum  Bereiche  der  Finanzwissenschaft  nur  als 
formelle  Anlehnung,  indem  der  auch  diesen  Momenten  entsprechende 
Formentypus  der  progressiven,  bezw.  degressiven  percentuierten  Einkommen- 
steuer von  dieser  Disciplin  geschaffen  wurde.  Eine  innere  Verbindung 
besteht  hier  nicht;  denn  die  Grundsätze  der  Finanzwissenschaft  werden 
weder  durch  militärische,  noch  durch  sociale  Kücksichten  bestimmt  oder 
auch  nur  beeinflusst. 


Dritter  Theil. 
Uebep  die   nächsten   Ziele  den   Reform. 

Diese  abschliessenden  Ausführungen,  welche  das  theoretische  Gebiet 
verlassen  und  sich  auf  den  Boden  der  angewandten  Lehre  begeben,  können 
nur  die  hauptsächlichsten  Punkte  der  Keform  streifen.  Als  solche  erscheinen 
die  Bestimmung  der  Subjecte  und  des  Ausmaasses  der  Abgabe,  das  Anlage- 
verfahren, das  Kechtsmittelverfahren  und  die  Verwendung  der  Abgabe. 

1.  Die  Subjecte  der  Abgabe. 

In  erster  Linie  kommt  die  Abgabenpflicht  der  theilweise  Befreiten, 
insbesondere  der  Ersatzreservisten,  dann  die  besondere  Abgabenpflicht  der 
Landsturmfreien,  ferner  die  Heranziehung  der  Ascendenten,  endlich  jene  der 
Weiber  in  Betracht. 

Der  Wechsel  der  Fälle,  welcher  hier  eintreten  kann,  hängt  mit  den 
Veränderungen  der  Wehrgesetzgebung  zusammen.  Mochte  früher  die  Militär- 
Verwaltung  bei  gewissen  Stellungspflichtigen  nur  die  Wahl  zwischen  gänz- 
licher Freilassung  und  gänzlicher  Dienstleistung  haben,  soferne  überhaupt 
nicht  schon  von  Gesetzwegen  die  Freilassung  eintrat,  so  sind  allmählich 
einzelne  Kategorien  von  Wehrpflichtigen  festgestellt  worden,  von  welchen 
zum  mindesten  eine  theilweise  Erfüllung  der  persönlichen  Dienstpflicht 
gefordert  wird.  Hiezu  gehören  insbesondere  die  Ersatzreservisten,  welche, 
nachdem  das  Stadium  ihrer  Enthebung  von  jeder  activen  Dienstleistung  im 
Frieden  aufgehört,  zuerst  zu  einer  zweimonatlichen  Kecruten-Ausbildung. 
dann  auch  zu  einzelnen  Waffenübungen  herangezogen  werden. ^^^)  Für  die  Zeit 
dieser  Stellung  in  activen  Dienst  kommt  ihnen,  falls  ihre  Wehrsteuerpflicht 
im  allgemeinen  feststeht,  ein  entsprechender  Ausfall  an  der  Abgabe  zu 
statten.  Die  Unterschiede  zwischen  der  Dauer  der  activen  Dienstzeit  im 
stehenden  Heer,  der  Keserve  und  der  Landwehr  verdienen  gleichfalls  Be- 
achtung. Ein  zum  stehenden  Heer  Assentierter  leistet  daselbst  drei  Jahre 
in  der  Reserve  drei  Waffenübungen  zu  je  vier  Wochen,  in  der  Landwehr 
eine  ebenso  lange  Waffenübung,  zusammen  drei  Jahre  sechzehn  Wochen, 
falls  er  ein  Jahr  früher  beurlaubt  wird,  beiläufig  zwei  und  ein  Drittel  Jahr 
activen  Dienst.  Dagegen  kommt  ein  zur  Landwehr  d  i  r  e  c  t  Assentierter 


^^^)  Marcinowski  SS.   71  fg.   (ob    Anmkg.  2)  insbesondere  bezüglich   der  Wehr 
steuerpflicht  der  übungspflichtigen  Ersatzreservisten  I.  Classe. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Eücksicht  auf  Oesterreich-üngarn.     (309 

eventuell  uiit-  vierundzwanzig  Wochen  activen  Dienstes  davon.  Auch  hier 
scheint  das  Bedürfnis  einer  Ausgleichung  auf  dem  Wehrsteuerwege  zu  bestehen. 

Bisher  wurde  von  der  Lan  d stur mp flicht  der  Abgabenpflichtigen 
abgesehen,  namentlich  deshalb,  weil  die  Abgabe  historisch  nur  als  Exae- 
quation  gegenüber  der  persönlichen  Dienstpflicht  im  stehenden  Heere,  in 
der  Keserve  und  in  der  Landwehr  betrachtet  worden  ist.  Es  entspricht  aber 
nicht  ganz  der  Billigkeit  und  auch  nicht  den  Charaktermomenten  der 
Abgabe,  die  Landsturmfreien  bezüglich  letzterer  den  Landsturmpflichtigen, 
die  den  Territorial-Bataillonen  Zugetheilten  den  in  Auszugs-Bataillone  Ein- 
gereihten gleichzustellen.  Umso  weniger  dann,  wenn  von  den  Landsturm- 
pflichtigen überhaupt  oder  doch  von  einzelnen  derselben  selbst  Dienstlei- 
stungen im  Frieden  verlangt  werden. 

Jene  Einrichtung,  welche  gestattet,  von  der  Heranziehung  der 
Ascendenten  zur  Abgabenleistung  Umgang  zu  nehmen,  besitzt,  wie 
schon  vorhin  erwähnt,  einen  unbestrittenen  Vorzug.  Dort,  wo  man  sich 
indessen  noch  nicht  zu  derselben  entschliesst,  weil  man  —  in  W'ahrheit 
nur  aus  fiscalischen  Gründen  —  die  Mitvei-pflichtung  dritter  Personen, 
welche  im  persönlichen  Dienste  nicht  unmittelbar  betheiligt  sind,  nicht  auf- 
geben will,  muss  doch  daran  festgehalten  werden,  dass  die  Ascendenten 
nur  ihre  wehr-  oder  abgabenpflichtigen  Descendenten  vertreten.  Völlig  selb- 
ständig kann  die  Abgabenpflicht  der  Ascendenten  keinesfalls  gedacht  werden; 
sie  würde  sonst  auch  nach  dem  Tode  des  Descendenten  fortdauern.  Daher 
wird  man  sich  sowohl  bezüglich  des  Eintrittes,  als  bezüglich  des  Umfanges 
der  Ascendentenpflicht  auf  das  Nothwendigste  zu  beschränken  haben,  ins- 
besondere soll  man  dieselbe  nicht  früher  geltend  machen  dürfen,  als  bis 
feststeht,  dass  der  Descendent  die  Abgabe  nicht  leisten  kann,  und  zur 
Bemessungsgrundlage  keinen  höheren  Betrag  annehmen,  als  der  Descen- 
dent für  seinen  Unterhalt  gesetzlich  zu  fordern  hätte. 

Die  Abgabenpflicht  des  Weibes  setzt  eine  von  unserer  heutigen 
wesentlich  verschiedene  Wehrverfassung  voraus.  Gegenwärtig  gilt  die  Aus- 
schliessung des  Weibes  von  allen  irgendwie  militärischen  Dienstverrichtungen 
für  so  selbstverständlich,  dass  der  Gesetzgeber  dieselbe  nicht  einmal  aus- 
drücklich anordnet.  Man  will  eben  das  Weib  in  der  militärischen  Dienstes- 
sphäre so  wenig,  dass  nicht  einmal  die  Frage  aufgeworfen  wird,  ob  es 
in  irgend  einer  Kichtung  hiefür  eine  Eignung  besässe.  Das  militärische 
Moment  der  Abgabe  würde  also  der  Abgabenpflicht  des  Weibes  wider- 
streben, das  finanzielle  wäre  in  Hinblick  auf  die  geringe  Anzahl  einkommen- 
steuerpflichtiger Frauen  und  Mädchen  ziemlich  gegenstandslos,  das  sociale 
bei  der  anders  gearteten  Stellung  des  Weibes  in  der  Güterwelt  schwer 
durchführbar.  In  der  weitaus  überwiegenden  Zahl  der  Fälle  müsste 
die  Intercession  eines  Ascendenten  oder  des  Ehegatten  bei  Entrichtung 
der  Abgabe  aus  dem  Grunde  stattfinden,  weil  das  Weib  kein  ausreichendes 
selbständiges  Einkommen  besitzt.  Die  Nachtheile,  welche  der  Abgaben- 
pflicht der  Ascendenten  anhaften,  würden  sich  hier  im  verstärkten  Maasse 
wiederholen. 


610 


Thierl. 


II.  Das  A  u  s  m  a  a  s  s  der  Abgabe. 

Allem  Anscheine  nach  liegen  die  grössten  Schwierigkeiten  für  die 
Keform  der  Abgabe  hier.  Sie  betreffen  die  materiellen  Anhaltspunkte  für 
die  Bestimmung  der  Abgabe  im  einzelnen  Falle,  d.  i.  den  Typus  der  Abgabe 
und  die  Höhe  des  Abgabenfusses.  Hauptsächlich  den  ersteren. 

Dem  Typus  der  progressiven,  bezw.  degressiven  percentuierten 
Einkommensteuer  treten  voraussichtlich  lebhafte  Einwendungen  vom 
praktischen  Standpunkte  entgegen.  Wo  eine  ähnlich  eingerichtete  Personal- 
Einkommensteuer  nicht  besteht,  müssten  die  zeitraubenden  und  kostspieligen 
Erhebungen,  welche  dieser  Typus  erheischt,  für  die  Abgabe  der  Wehrdienst- 
freien selbständig  angestellt  werden.  Freilich  würde  dies  einen  wertvollen 
Versuch  für  die  künftige  Personal-Einkommensteuer  abgeben.  Aber  gegen 
solche  experimentelle  Erfahrungen  wird  geltend  gemacht  werden,  dass  man 
die  progressive,  bezw.  degressive  Personal-Einkommensteuer  gar  nicht  ein- 
führen wolle,  oder  dass  die  Ergebnisse  des  Experimentes  für  die  seiner- 
zeitige Einführung  der  Personal-Einkommensteuer  nicht  verwertbar  seien, 
weil  man  doch,  um  jetzt  verlässlichere  Zahlen  zu  erhalten,  einräumen  sollte, 
dass  die  derzeitigen  Feststellungen  nur  für  die  Abgabe  der  Wehrdienstfreien 
benützt  werden  dürfen.  Ein  wesentlich  theoretisches  Bedenken  fliesst  aus 
dem  finanziellen  Momente  der  Abgabe;  die  Hilfs-  oder  Ergänzungs- 
steuer kann  nicht  auf  einer  typi^jch  höheren  Stufe  stehen,  als  die  zu  ergän- 
zende Hauptsteuer. 

Von  den  übrigen  Typen  ist  derjenige  der  Fix  st  euer  für  sämmtliche 
drei  Abgabenmomente  unempfindlich.  Derjenige  der  Classen Steuer 
genügt  denselben  nur  oberflächlich;  die  Classen  schliessen  nach  oben  zu 
bald  ab  und  eröffnen,  wenn  das  Gesetz  nicht  sehr  sorgfältig  bei  Bestimmung 
der  Merkmale  für  die  Einclassierung  vorgeht,  die  Gefahr,  dass  die  Ent- 
scheidung, welche  Classe,  nach  dem  Gutdünken  des  Verwaltungsorganes 
erfolgt.  Letzterer  Anstand  fällt  bei  der  c  1  a  s  s  i  f  i  c  i  e  r  t  e  n  Einkommen- 
steuer weg,  weil  hier  der  Zusammenhang  zwischen  Einkommen  und 
Steuerbetrag  gesetzlich  sichergestellt  ist.  Die  Erhebungen  sind  genauer, 
umständlicher  und  auch  kostspieliger  als  bei  der  Classensteuer,  aber  geringer 
als  bei  einer  Percentualsteuer.  Die  reine  P er centuals teuer  verursacht 
dieselben  Kosten  wie,  die  progressive  (degressive),  verspricht  aber  geringeren 
Ertrag.  Dort  wo  man  grundsätzlich  sich  gegen  jede  Progression  (Degression) 
des  Steuerfusses  auflehnt,  bedeutet  sie  den   Gipfel  des  Erreichbaren. 

Für  die  nächsten  Ziele  der  Keform  kommt  die  classifi eierte 
Einkommensteuer  gegenüber  der  gänzlich  unbrauchbaren  Fixsteuer 
und  der  hilflosen  Classensteuer  sehr  in  Betracht.  Die  Classensteuer  reicht 
höchstens  für  die  niederen  und  mittleren  Einkommens-Kategorien  aus.  Den 
obersten  Einkommen  wird  nur  eine  percentuierte  Abgabe  die  entsprechende 
Belastung  bringen.  Ein  solches  Uebergangsstadium  wäre  z.  B. : 

a)  bis  5000  fl.  Einkommen       ....     Classensteuer, 

b)  von  5 — 50.000  fl.  Einkommen       .     .     classificierte  Einkommensteuer 

c)  über  50.000  fl.  Einkommen       .     .     .     percentuierte  ,. 


Die  Abgabe  d.  Wehrdienstfreien  mit  besond.  Rücksicht  auf  Oesterreich-Ungarn.     611 

Die  classificierten  Sätze  der  zweiten  Gruppe  sollen,  wie  der  Percent- 
fuss  bei  der  dritten  Gruppe  eine  gewisse  Progression  zeigen.  Alle  Vor- 
schläge, welche  an  der  Classensteuer  durchwegs  festhalten,  aber  zum 
höchsten  Ciassensatz  einen  fixen  Zuschlag  für  jedes  die  Grenze  überstei- 
gende Tausend  hinzufügen,  sind  nur  ein  Anerkenntnis  der  Hilflosigkeit  jeder 
Classensteuer. 

Weitere  Bedeutung  besitzt  für  die  nächste  Eeform  das  System  der 
Einkommenserhebung,  dann  die  prägnante  Festsetzung  jener 
gesetzlichen  Directiven.  durch  welche  das  arbiträre  Ermessen  der  Behörde 
bei  Auswahl  des  Classensatzes  beschränkt  wird.  Statt  der  Einkommens- 
Erhebung  wird  eine  Quotisierung  nach  der  allgemeinen  directen  Steuer- 
leistung des  Individuums,  jedoch  mit  grosser  Vorsicht,  zulässig  sein.  Die- 
selbe hat  eine  ziemlich  gerechte  Verth eilung  der  allgemeinen  directen 
Steuerlast  zur  Voraussetzung,  ist  daher  dort  ausgeschlossen,  wo,  wie  z.  B. 
in  0 esterreich,  abnorm  hohe  Kealsteuern  bestehen.  Letztere  wären  zum 
mindesten  auszuscheiden  und  zu  einem  geringeren  Bruchtheile  zu  veran- 
schlagen, lieber  die  Grenze  der  classificierten  Einkommensteuer  hinaus 
lässt  sich  dieser  Ausweg,  die  Kosten  vollständiger  Einkommenerhebungen 
zu  vermeiden,  nicht  einhalten;  die  Gefahr  des  Abgabenentganges  ist  in 
jedem  einzelnen  Falle  zu  gross.  Je  weniger  Erhebungen,  desto  weniger 
Kosten,  desto  weniger  Verletzung  der  privaten  Empfindlichkeit  —  desto 
Aveniger  Ertrag. 

III.  Das  An  läge  verfahren. 
Wie  bei  jeder  anderen  Einkommenbesteuerung  stehen  auch  hier  die 
Hauptrichtungen  (Einbekennung  —  Einsteuerung;  Theilnahme  der  Steuer- 
träger an  der  Veranlagung  selbst  —  rein  staatliche  Veranlagung)  einander  nur 
theilweise  vermittelt  gegenüber.  Abgesehen  davon  ist  der  Vortheil  erschöpfender 
Hilfsvorschriften  über  Zeugnispflicht.  Vereidigung,  Anzeigepflicht  derAbgaben- 
subjecte.  bezw.  der  Localbehörden  (Gemeindevorsteher  etc.)  hinsichtlich 
gewisser,  die  Abgabe  beeinflussender  Umstände,  Strafbefugnis  der  Veran- 
lagungsbehörden im  Auge  zu  behalten.  Mit  Kücksicht  auf  das  finan- 
zielle Moment  der  Abgabe  empfiehlt  sich  die  Zuweisung  der  Veranlagung 
und  Einhebung  der  Abgabe  an  die  Finanzbehörden,  zumal  letztere  ihrer 
theoretischen  und  praktischen  Vorbildung  nach  geeignetere  Organe  besitzen 
als  die  politischen  Behörden. 

IV.  Das  E  e  c  h  t  s  m  i  1 1  e  1 V  e  r  f  a  h  r  e  n. 
Eine  wirkliche  Reform  auf  diesem  Gebiete  ist  nach  dem  Grade  der 
Annäherung  zu  schätzen,  welche  dieselbe  an  den  Grundsatz  der  Entscheidung 
streitiger  administrativer  Rechtsfragen  durch  unabhängige  Verwaltungsrichter 
vollzieht.  Der  Widerstand,  welcher  hier  vorausgesehen  werden  muss,  lässt 
eine  ausgiebigere  Besserung  in  vielen  Ländern  so  bald  nicht  erwarten.  Dort, 
wo  Selbstverwaltung  im  Anlageverfahren  zugestanden  wird,  bezeichnet  eine 
gemischte,  aus  Steuerträgern  und  Staatsorganen   zusammengesetzte  Rechts- 


(■)12  Thierl. 

mittel -Instanz  wohl  das  Aeusserste  des  zunächst  Erreichbaren.  Auch  die 
Heranziehung  von  Bürgern,  welche  nicht  dem  Kreise  der  Abgabenpflichtigen 
angehören,  zum  Anlage-  und  Eechtsmittelverfahren  sollte  nicht  ohne  Erör- 
terung von  der  Hand  gewiesen  werden,  da  in  diesen  ein  unbefangeneres 
Element  gewonnen  würde. 

V.    Die  Verwendung    der   Abgabe. 

Liegt  in  der  Verwendung  der  Abgabe  die  abschliessende  Erfüllung, 
insbesondere  der  militärischen,  dann  auch  der  socialen  Mission  derselben, 
so  mögen  die  Fortschritte,  welche  in  dieser  Eichtung  sich  erzielen  lassen, 
zu  den  wesentlichsten  im  Bereiche  der  Abgabe  gezählt  werden.  Die  Ver- 
sorgung der  Invaliden,  der  Witwen  und  Waisen  der  in  Ausübung  ihres 
Dienstes  Verstorbenen,  der  Eamilienangehörigen  der  Mobilisierten  während 
der  Mobilisierung,  bezw.  der  zur  Waffenübung  Einberufenen  während  der 
Waffenübung,  die  Prämiierung  der  über  die  Zeit  dienenden  Unterofficiere  — 
alle  diese  Zwecke  sind  schon  heute  in  diesem  oder  jenem  Lande  für  die 
Verwendung  des  Abgabenertrages  gesetzlich  bestimmt.  Andere  erscheinen 
kaum  minderer  Berücksichtigung  würdig :  so  die  Verbesserung  der  Mann- 
schaftskost, zumal  durch  Einführung  einer,  wenngleich  dürftigen,  Abend- 
speise für  den  gegenwärtig  von  etwa  11  Uhr  vormittags  bis  5  Uhr  früh 
des  nächsten  Tages  ohne  andere  Nahrung  als  Brod  belassenen  Soldaten,  die 
Ausfolgung  eines  kleinen  Handgeldes  an  die  aus  dem  activen  Dienste  in 
die  Reserve,  bezw.  den  nichtactiven  Stand  Versetzten,  endlich  ausnahms- 
weise die  Unterstützung  der  Angehörigen  activ  Dienender  ausser  dem  Falle 
der  Mobilisierung,  bezw.  Waftenübung.  Auch  die  Erhöhung  des  kärglichen 
Soldes  der  untersten  Soldclassen  darf  als  eine  Aufgabe  der  künftigen  Zeit 
betrachtet  werden. 

In  der  Verfolgung  solcher  Absichten,  durch  welche  das  Los  der  per- 
sönlich Dienenden  erleichtert,  die  oft  nur  dem  Zufalle  verdankte  behagliche 
Stellung  der  W^ ehrdienstfreien  zu  Gunsten  ihrer  mehr  angestrengten  Mit- 
bürger geschmälert  wird,  liegt  eine  Bürgschaft  für  die  Annäherung  dieser 
beiden  Gruppen  der  staatlichen  Gemeinschaft,  für  die  allmähliche  Ueber- 
windung  der  Abneigung,  welche  weite  Kreise  noch  heute  gegen  die  Mühen 
und  Einschränkungen  des  persönlichen  Dienstes  empfinden.  Damit  scheint 
die  Brücke  zu  den  idealen  Ziele,  welches  die  Erfüllung  der  allgemeinen 
Wehrpflicht  als  Eins  mit  dem  freiwilligen  Einsätze  der  Persönlichkeit 
für  die  Gesammtwehr  erkennt,  in  ihren  ersten  Anfängen  gegründet. 


ABÄNDERE NGS-VOßSCHLÄGE  FÜR  DIE 
UNFALLVERSICHERUNG. 

VON 

KKEISGERICHTSRATH  DR-   B.   H  I  L  S  E. 


JDereits  in  der  Reichstagssitziiiig  vom  11.  Juni  1890  anerkannte  der 
Staatssetretär  des  Innern  Dr.  v.  Bötticher  die  Zweckmässigkeit  einer  Revision 
der  Unfall-Versicherungs-Gesetze,  welche  in  einzelnen  Punkten  der  Verbesserung- 
fähig, ja  sogar  bedürftig  seien  und  sagte  in  der  Reichstagssitzung  vom  6.  Februar 
1892  zu,  dass  dem  nächstzusammentretenden  Reichstage  eine  bereits  in  Aus- 
arbeitung begriftene  diesbezügliche  Vorlage  zugehen  werde.  Inzwischen  hat  der 
Reichstag  durch  die  am  8.  Februar  1892  beschlossene  üeberweisung  der  Anträge 
Auer  und  Genossen,  sowie  Hartmann -Möller  und  Genossen  auf  baldige  Revision 
der  Unfall-Versicherung  seine  Absicht  zu  erkennen  gegeben,  von  der  Reichs- 
regierung die  diesbezügliche  Vorlage  möglichst  bald  entgegennehmen  zu  wollen. 
Es  lässt  sich  deshalb  erwarten,  dass  letzteres  geschehen  werde.  Damit  rechtfertigt 
sich  aber  gleichzeitig  die  Erörterung  derjenigen  Gesichtspunkte,  auf  welche  die 
geplante  Revision  sich  werde  zu  erstrecken  haben,  um  auf  diese  Weise  beizu- 
tragen,  das  Augenmerk  der  maassgebenden  Kreise  darauf  zu  lenken. 

Die  Nachweisungen  über  die  gesammten  Rochnungsergebnisse  der  Berufs- 
genossenschaften seit  Beginn  deren  Thätigkeit  bis  zum  Abschlüsse  des  Rechnungs- 
jahres 1890.  also  aus  einem  fünfjährigen  ßeobachtungszeitraum,  verschaffen  einen 
beachtenswerten  Einblick  über  die  Wirksamkeit  derselben  und  über  die  wohl- 
thätigen  Ziele  der  Unfall- Versicherung;  sie  lassen  aber  auch  deutlich  erkennen, 
in  wie  hohem  Grade  die  Industrie  dadurch  belastet,  folgeweise  gefährdet  wird, 
durch  Steigerung  der  Herstellungskosten  allmählich  die  Goncurrenzfähigkeit  auf 
dem  Weltmarkte  zu  verlieren,  wenn  es  nicht  gelingen  sollte,  Wege  aufzufinden, 
auf  welchen  dieser  eine  Erleichterung  verschafft  werden  kann,  ohne  die  Aufgaben 
und  Zwecke  der  Unfallfürsorge  zu  gefährden. 

Denn  innerhalb  dieser  Periode  wurden  insgesammt  21,285.284  Arbeiter 
beschäftigt,  welche  von  93.210  Betriebsunfällen  betroffen  wurden,  von  denen 
15.278  zu  16-39  Proc.  den  Tod,  10.459  =  11*22  Proc.  völlige,  dauernde  Erwerbs- 
unfähigkeit des  Verletzten  zur  Folge  hatten.  Zu  deren  Schadloshaltung  waren  bisher 


614 


Hilse. 


44,356.521-05  31.  erforderlich.  Diesen  letzteren  treten  noch  55,838.705-49  M. 
Rücklagen  zum  Reservefonds,  sowie  die  Kosten  des  Heilverfahrens,  der  Schadens- 
ermittelung, des  Schiedsgerichtes  und  der  Verwaltung  hinzu,  so  dass  117,745.048-15M. 
aufzubringen  waren.  Während  die  Durchschnittsziffer  der  Betriebsverletzten  im 
Verhältnisse  zu  den  Beschäftigten  0-44  Proc.  erreicht,  so  ist  doch  in  den  einzelnen 
Jahren  des  Beobachtungszeitraumes  solche  auf  0-28;  0*41;  0*41;  0*47;  0*53  Proc. 
ermittelt,  welche  Steigerung  ihren  G-rund  darin  findet,  dass  erst  allmählich  die 
Beschäftigten  die  richtige  Erkenntnis  von  dem  Umfange  der  ihnen  zugebilligten 
Rechte  erlangten  und  deshalb  ursprünglich  nur  die  folgeschweren,  später  aber 
auch  die  ganz  leichten  Verletzungen  zur  Anzeige  gelangten,  sobald  nur  ein 
Zusammenhang  zwischen  der  Betriobsthätigkeit  und  ihrem  Entstehen  nachweisbar 
wurde.  Dies  tritt  unverkennbar  hervor  bei  einem  Gegenüberstellen  der  Verlaufs- 
folge. Denn  die  Todesgefahr  fiel  von  24-78  im  ersten  auf  13'62  Proc.  im  letzten 
Heobachtungsjahre  und  diese  der  völligen  Erwerbseinbusse  von  15*95  auf  7*08  Proc. 
In  gleichem  Verhältnisse  stieg  die  Ziffer  derjenigen  Fälle,  in  welchen  bloss 
theilweise  oder  gar  nur  vorübergehende,  d.  h.  längstens  in  sechs  Monaten  beendete, 
Erwerbsminderung  sich  zeigte. 

Aber  auch  einander  gegenübergehalten,  ist  das  Verhältnis  zwischen  Be- 
schäftigung und  Verletzung  einerseits,  andererseits  zwischen  letzterer  und  deren 
Verlaufsfolgen  in  den  verschiedenen  Gruppen  der  einzelnen  Industriezweige  sehr 
verschieden.  Während  z.  B.  in  der  Schornsteinfeger-Berufsgenossenschaft  die 
ünfallsgefahr  bloss  0*27  Proc.  beträgt,  erreicht  die  Todesgefahr  31 '58  Proc.  Die 
höchste  Unfallgefahrenziffer  weist  die  Brauerei  und  Mälzerei  mit  0*99  Proc,  bez  w 
der  Tiefbau  mit  0-60  Proc.  auf,  während  bei  beiden  der  Tod  in  13-18  Proc.  bezw. 
13-00  Proc.  Fällen  eintrat.  Die  grosse  Gruppe  der  Baugewerbe  schliesst  sich 
mit  0'46  Proc.  Unfällen  an.  Doch  vertheilen  sowohl  diese,  als  deren  Verlauf  sich 
innerhalb  der  12  Baugewerks-Berufsgenossenschaften  sehr  unterschiedlich,  was 
deren  Zusammenstellen  veranschaulicht.     Denn  es  erreichte  die  Ziffer  der: 

"^1 


Arbeiter 

1          Unfallverlaufsgefalir 

In  der 

be- 
schäftigte 

verletzte 

|;         Tod 

Erwerb 

sverlust 

abs. 

|mO/„ 

|j  abs.    1  in  <Vo 

abs. 

1  in  %  i 
11-81: 

Magdeburi^ischen      .        ... 

1 

380227 

826 

0-22 

1; 

139 

16-51 

98 

Sächsischen 

553273 

1882 

0-34 

359 

21-01 

265 

14-09 

Hannoverschen         

347104 

1217 

0-35 

224 

18-36 

173 

1418 

Thüringischen 

127820 

538 

0-42 

1        95 

17-59 

63 

11-67 

Schlesisch-Posenschen    .    .    . 

32G995 

1412 

0  43 

1      363 

25-74 

145 

10-28 

Hessen-Nassauischen  .... 

2300.99 

1079 

0-47 

'      197 

18-24 

237 

21-94 

Hamburgischen     . 

211237 

1020 

0  48 

j       189 

18-53 

354 

34-71 

Rheinisch- Westphälischen 

422870 

2188 

051 

1      420 

1918 

285 

1301 

Südwestlichen 

194626 

1024 

0-52 

1      182 

17-77 

155 

15-13 

Nordöstlichen 

601240 

3556 

0-59 

506 

14-21 

581 

16-32 

1    Württembergischen      .... 

106131 

648 

0-61 

113 

17-39 

46 

708 

''    Bayrischen         

355470 

2358 

0-66 

395 

16-64 

250 

1059 

Beisammen  . 

1    3857392 

17748 

0-46' 

3182 

1793 

265-2 

1494 

Tiefbau       

440996 

2666 

060 

347 

13  00 

46 

1-72 

Abänderuiigs -Vorschläge  für  die  Unfallversicherung.  615 

Hieraus  erhellt  ein  Schwanken  der  Unfallsziffer  zwischen  0*22  bis  0*66  Proc, 
welches  unwillkürlich  dahin  führen  muss,  den  Grund  hiefür  aufzufindeu.  Denn 
es  kann  nicht  der  blosse  Zufall  hierfür  ausschlaggebend  sein,  muss  vielmehr  ein 
Umstand  hinzutreten,  welcher  in  den  gewerblichen  oder  territorialen  Verhältnissen 
zu  suchen  ist. 

Die  Vorstände  der  Hochbau-Berufsgenossenschaften  glauben  die  Ursachen 
dieser  Erscheinung  in  der  fehlenden  gewerblichen  Vorbildung  eines  erheblichen 
Bruchtheiles  der  Betriebsunternehmer  im  Baufache  erkennen  und  daraufhin  die 
Forderung  begründen  zu  sollen,  den  Befähigungsnachweis  für  die  Baugewerbe 
einzuführen.  Nun  lässt  sich  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  ein  erheblicher 
Bruchtheil  der  Betriebsunfälle  darauf  zurückzuführen  ist,  dass  untüchtige  Gerüste, 
unrichtige  Constructionen,  untaugliches  Material  bei  Ausführung  der  Bauten  zur 
Verwendung  kamen  und  dass  diese  sich  in  überwiegender  Mehrzahl  würden 
haben  vermeiden  lassen,  w^enn  wissenschaftlich  und  technisch  vorgebildete 
Baugew^erksmeister  die  Ausführung  der  Arbeiten  und  die  Anstellung  der  Arbeiter 
geleitet  hätten. 

Ebenso  ist  statistisch  nachweisbar  ein  grosser  Bruchtheil  aller  Schadensfälle 
darauf   zurückzuführen,    dass    den    Bauunternehmern,    bei    welchen    solche    sich 
ereigneten,  der  erforderliche  Grad  von  Zuverlässigkeit,  Gewandtheit  und  Standesehre 
fehlte,   welche   einem  geprüften  Baugewerksmeister,   insonderheit   einem  Innungs- 
mitgliede,  w^ohl  beizuwohnen  pflegt.     Allein  dies  kann  nicht  ausschlaggebend  für 
die  Unfallsziffer  gewesen  sein.  Zwar  beträgt  solche  für  die  das  Königreich  Sachsen 
umfassende  Bauberufsgenossenschaft  0*34  Proc,  aber   für  diese  des  Königreichs 
Baiern  0*66  Proc,  ein  Umstand,  welcher  deshalb  schwer  in  das  Gewicht  fällt,  weil 
in  Sachsen  eine   staatlich   organisierte  Prüfungscommission  noch  fortbesteht,  vor 
welcher   der  bei  weitem    grösste  Theil   der   dortigen  Baugewerksmeister   sich  der 
Prüfung  unterzog,  so  dass  thatsächlich  der  geführte  Befähigungsnachweis  daselbst 
die  Regel  bildet,  während  in  Bayern  ein  solcher  niemals  sich  eingebürgert  hatte, 
woraus    sich    erklären   lässt,    dass    der    Grad    der    gewerblichen   Ausbildung    der 
Baugewerksmeister   hier   ein   geringerer   sein  könnte.     Allein  in  Miterwägung  ist 
zu    ziehen,    dass    in  Württemberg    die   Ausbildungsverhältnisse    ähnliche    wie    in 
Sachsen  sind  und  dennoch  die  Unfallsziffer  hier  0*61  Proc.  erreicht,  während  die 
niedrigste    mit  0*22  Proc.  in    der  Provinz  Sachsen    anzutreffen   ist,  woselbst  die 
Gew.-Ord.    vom    17.    Jänner    1845    und  vom   21.  Juni  1869   ihre    zerstörenden 
Wirkungen   gleichfalls  hervorzurufen  vermochten,    wenn  solche  aus  der  Gewerbe- 
freiheit   sich    thatsächlich  sollten  entwickeln  können.     Dass  die  durchschnittliche 
Todesgefahr  in  der  Gesammtindustrie  16*39,   in   den  Baugewerben    17-93  Proc, 
sowie  die  Gefahr  eines  völligen  Erwerbsverlustes  dort  11*22,  hier  aber  14*94  Proc. 
erreichte,    kann    nicht    zum  Nachtheile    der    baugewerblichen  Ausbildung  heran- 
gezogen   werden.     Denn  in    dem    Schornsteinfegergewerbe  beträgt    erstere    doch 
sogar    31*58   Proc,   obschon   hierin    für    den    selbständigen   Gewerbebetrieb    der 
Befähigungsnachweis    gefordert   zu  werden  pflegt.     Auch  die  Erfahrungen  in  den 
mit  den    Baugew-erks-Berufsgenossenschaften    verbundenen  Versicherungsanstalten 
zur    Schadloshaltung    der    auf   Grund    des  B.-U.-V.-G.    vom    11.   Juli    1887    im 
ßegiebaue  beschäftigten  Bauarbeiter  liefern  einen  nur  schwachen  Belag.   Denn  von 


6)6  Hilse. 

sämmtlicheii  in  dem  dreijährigen  Beobachtungszeitraume  ereigneten  1227  Betriebs- 
unfällen verliefen  bloss  211  ziz  17*19  Proc.  tödlich  und  gar  nur  66  ^  5*38  Proc. 
völlig  erwerbsmindernd.  Während  die  Verlaufsziffer  also  hinter  ditser  der  Bau- 
betriebe zurückbleibt,  so  kommt  dennoch  hier  als  ein  nicht  zu  unterschätzender 
Erwägungsgrund  hinzu,  dass  im  Eegiebaue  erfahrungsgemäss  meist  nur  geringere 
an  sich  minder  gefahrvolle  Arbeitsthätigkeit  ausgeübt  wird,  als  in  den  gewerbs- 
mässigen Hochbaubetrieben,  woraus  wohl  der  Schluss  gerechtfertigt  und  die 
Ueberzeugung  gewonnen  werden  kann,  dass  wegen  des  geringeren  Grades  der 
Zuverlässigkeit  der  Regiebau-Unternehmer  der  Verlauf  der  Unfälle  sich  erheblich 
ungünstiger  gestaltet,  als  des  in  ordnungsgemässen  Baubetrieben  der  Fall  sein 
würde.  Dennoch  müsste  zur  Führung  eines  stricten  Beweises  die  statistische 
Erhebung  sich  mit  darauf  erstrecken,  worin  die  Ursache  des  schädigenden 
Ereignisses  erkannt  worden  ist.  was  bisher  unterblieb.  Deshalb  lässt  sich 
auf  Grund  der  statistischen  Erhebungen  die  Behauptung  nicht  aufstellen» 
dass  der  eingeführte  Befähigungsnachweis  auf  Abnahme  der  Unfalls-  und  der 
Verlaufs- Gefahr  einflussvoll  sein  müsse,  obschon  die  Wahrscheinlichkeit  hierfür 
nahe  liegt. 

Weit  erfolgversprechender,  d.  h.  auf  Abnahme  der  Unfälle  und  deren 
Verlaufsgefahr  hinzielend,  wird  es  sein,  w^enn  der  Arbeiter  über  den  Umfang 
der  ihm  aus  der  öffentlichrechtlichen  Versicherung  entspringenden  Eechte  und 
Verbindlichkeiten  ein  richtiges  Verständnis  erlangt,  infolgedessen  ihm  möglich 
wird,  der  sein  Leben  und  seine  Gesundheit,  mithin  seine  Erw^erbsfähigkeit 
gefährdenden  Zufälle  sich  zu  entziehen.  Dies  kann  auf  zweifache  W^eise  bewirkt 
werden;  nämlich  durch  Aufklärung  und  Belehrung  einerseits,  andererseits  durch 
Abschreckung  vor  den  drohenden  Folgen. 

Was  den  ersteren  Weg  anlangt,  so  ist  derselbe  derart  einfach,  dass 
es  Wunder  nehmen  muss.  ihn  bisher  noch  nicht  an  maassgebender  Stelle 
aufgefunden  und  eingeschlagen  zu  haben.  Die  Hebung  der  wirtschaftlichen 
Lage  der  arbeitenden  Bevölkerung  ist  der  leitende  Grundgedanke  des  heutigen 
Arbeiterschutzes  und  der  öffentlichrechtlichen  Versicherung.  Er  soll  davor 
verschont  bleiben,  dass  seine  Arbeitskraft,  also  die  Möglichkeit,  solche  verwerten 
und  daraus  die  Mittel  zur  Befriedigung  seiner  Lebensbedürfnisse  gewinnen 
zu  können,  schneller  abgenutzt  und  verbraucht  werde,  als  dies  naturgemäss 
zu  erwarten  steht,  und,  sobald  diese  Erwerbsunfähigkeit  dennoch  eintritt,  der 
»iffentlichen  Armenpflege  mit  ihren  beschämenden  Wirkungen  zu  verfallen. 
Zur  Erreichung  dieses  Zweckes  sollen  die  Schutzvorrichtungen  und  Sicherungs- 
einrichtungen dienen,  zu  welchen  Gew.-Ord.  §§  120  a  ff.  in  der  Fassung  des 
G.  vom  1,  Juni  1891  den  Arbeitgeber  verpflichten,  sowie  die  Unfallverhütungs- 
Vorschriften,  deren  Erlass  des  U.-V.-G.  vom  6.  Juli  1884  §  78  vorsieht.  AVas 
nützen  diese  aber,  solange  der  Arbeiter,  für  den  sie  doch  bestimmt  sind,  deren 
Zweckmässigkeit  verkennt,  deren  Befolgen  nicht,  als  in  seinem  Interesse  liegend, 
sich  angelegen  sein  lässt?  Deshalb  ist  die  heranwachsende  gewerbliche  Jugend 
über  deren  Zweckmässigkeit,  sowie  über  die  Art  ihres  Gebrauches  gründlich  aufzu- 
klären. Die  Gelegenheit  hierzu  bieten  die  gewerblichen  Fachschulen,  bezw.  die 
Fortbildungsschulen,    in    deren  Lehrplan    die    Unterweisung    in    den  Grundlehren 


Abänderungs-Vorschläge  für  die  Unfallversicherung.  617 

des  Gewerberechtes,  des  Arbeiterschutzes,  der  öffentlichrechtlichen  Versicherung 
deshalb  aufzunehmen  sein  wird.  Bei  einer  gemeinverständlichen  Vortragsweise 
werden  diese  Unterrichtsgegenstände  den  Schüler  ansprechen,  dessen  Aufmerk- 
samkeit fesseln  und  ihm  reiche  für  sein  zukünftiges  Berufsleben  hochwichtige, 
Kenntnisse  verschaffen,  vorausgesetzt,  dass  der  Lehrende  den  Stoff  beherrscht 
und  darin  zu  unterrichten  versteht.  Gleichzeitig  wird  auf  diese  Weise  vorgebeugt, 
dass  der  Schüler  absichtlich  über  den  Wert  dieser  Einrichtungen  deshalb  sach- 
widrig aufgeklärt  werde,  um  ihn  mit  den  derzeitigen  gesellschaftlichen  Zuständen 
unzufrieden,  folgeweise  aber  auc^  empfänglich  zu  machon,  den  die  Staatsordnung 
zersetzenden  Irrlehren  sich  zuzuneigen  und  dementsprechenden  Parteiinteressen 
zu  dienen.  Deshalb  sollte  sowohl  in  Eegierungskreisen,  wie  in  solchen  der 
Arbeitgeber,  darauf  Bedacht  genommen  werden,  um  noch  zu  retten,  soviel  zu 
retten  ist,  und  zwar  beizeiten,  damit  nicht  zu  spät  die  Eeue  über  das  Versäumte 
aber  nicht  mehr  Nachzuholende  sich  herausstellt. 

Eine  beachtenswerte  Erscheinung  der  heutigen  Arbeiterschutzgesetzgebung 
ist  darin  zu  finden,  dass  nur  den  Arbeitgeber  Strafen  und  Vermögensnachtheile 
treffen,  wenn  er  etwas  thut  oder  verabsäumt,  was  im  Gesetze  anders  vorgesehen 
wurde,  stets  aber  der  dagegen  fehlende  Arbeiter  davor  verschont  bleibt.  Dieser 
Grundsatz  muss  aufgegeben,  wenigstens  doch  beschränkt  verlassen  werden.  Die 
privatrechtliche  Versicherung  wird  von  dem  leitenden  Grundsatze  beherrscht,  dass 
stets  nur  ein  Schade  abgewendet,  niemals  aber  ein  Gewinn  erlangt  werden 
soll,  weshalb  das  übernommene  Risico  bei  zutreffendem  Verschulden  des  Ver- 
sicherungsnehmers nicht  in  Kraft  tritt.  Für  die  öffentlich  rechtliche  Unfallver- 
sicherung ist  derselbe  verlassen.  Denn  nach  U.-V.-G.  vom  6.  Juli  1884  §  5,  7. 
wird  das  Eentenbezugsrecht  nur  verwirkt,  wenn  der  Verletzte  den  Betriebsunfall 
vorsätzlich  herbeigeführt  hat.  Jede  andere,  selbst  die  gröbstfahrlässige  Handlung 
desselben,  vermag  nicht,  den  Entschädigungsanspruch  aufzuheben  oder  abzu- 
schwächen. Wenn  mit  Bewusstsein  und  mit  voller  Würdigung  der  daraus  zu 
gewärtigenden  nachtheiligen  Folgen  die  dargereichten  Schutzvorrichtungen  nicht 
angewendet,  die  vorhandenen  Sicherungseinrichtungen  nicht  beachtet,  die  erlassenen 
Unfallverhütungsvorschriften  nicht  befolgt  werden,  dann  hat  solches  alles  keinen 
Einfluss  auf  die  Schadloshaltungspflicht  der  Berufsgenossenschaft.  Ein  auf  diese 
Weise  selbstverschuldeter  Unfall  verschafft  die  Unfallrente.  Nicht  selten  wird  die 
erforderliche  Aufmerksamkeit  absichtlich  ausserachtgelassen,  um  solche  sich  zu 
erwerben.  Dem  muss  gesteuert  werden,  indem  das  gänzliche  oder  theilweise 
Verwirken  der  Unfallrente  für  den  Fall  gesetzliche  Anerkennung  findet,  dass  der 
Verletzte  infolge  absichtlichen  Zuwiderhandelns  gegen  die  zu  seinem  Schutze 
dienenden  Schutzvorrichtungen,  Sicherungseinrichtungen,  Unfallverhütungen  die 
Unfallursache  verschuldet  hat. 

Aber  auch  nach  Eintritt  des  schädigenden  Ereignisses  kann  durch  selbst- 
thätiges  Eingreifen  in  das  Heilverfahren  oder  durch  passiven  Widerstand  gegen 
dasselbe  die  Beseitigung  der  nachtheiligen  Folgen  vereitelt  werden.  In  dem 
Beobachtungszei träume  hat  sich  ein  Eückgang  in  der  Verlaufsgefahr  feststellen 
lassen,  was  die  nachstehende  Uebersicht  erkenntlich  macht. 

Zoitscbrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltimg.  IV.  Heft.  40 


618 


Hilse. 


Erwerbsverlust 


Gesammtindustrie 
Hochbau  .  .  .  . 
fJegiebau  .  .  .  . 
Tiefbau  .... 
Brauerei  .  .  .  . 
Schornsteinfeger  . 


1886 

24-78 
29-2'6 


1887 

18-48 
20'35 


19-94  16-28 
50-00;  35-29 


1888 


1889 


1890 


1886 


15.65  1514!  13-62  15-95 
17-39  16-67j  13-62  23-7-2 
26-26  17-441 14-40|    - 
14-36  1404  11-43;    — 


10-69: 12-83 
25-00  27-77 


10-62  20-23 
27-27 


1888 
10-03 


1887 

17-67 
26  96  12-21 
—  7-26 
-  2  33 
15-56  10-10 
2941' 


1889 

10-45 

13  42 

6-05 

2-22 

21-76 

5-55 


1890 

7-08: 

7-45J 

4-371 

0-98! 

11-221 


Dass  solche  als  Folge  der  ünfallverhütungsvorschriften  erachtet  werden 
kann,  lässt  aus  der  Thatsache  sich  ableiten,  dass  erst  von  Inkrafttreten  dieser 
die  Abnahme  bemerkbar  wird  und  dass  diese  in  gleichem  Verhältnisse  steigt, 
wie  jene  sich  eingebürgert  haben.  Dieselbe  wird  unanzweifelbar  in  erhöhtem  G-rade 
noch  in  Erscheinung  treten,  sobald  das  Krankenversicherungs-G.  v.  10.  April  1892 
Gesetzeskraft  erlangt  und  die  Berufsgenossenschaften  auf  Grund  deren  §§  76  a — c 
in  den  Stand  versetzt  werden,  schon  vorher  das  Heilverfahren  zu  übernehmen,  in 
dessen  Gang  einzugreifen  und  eine  Heilmethode  zu  wählen,  welche  zwar  kost- 
spieliger ist,  aber  verspricht,  die  Störung  der  Unversehrtheit  möglichst  zu  besei- 
tigen, damit  aber  die  Erwerbsfähigkeit  ganz  oder  doch  auf  höherem  Grade  zu 
erhalten.  Zur  Erreichung  dieses  Zweckes  dürften  aber  zwei  Vorschriften  von  der 
Reichsregierung  zu  erlassen  sein.  Die  eine  richtet  sich  gegen  den  Betriebs- 
verletzten, die  andere  gegen  die  Leiter  der  Verkehrsanstalten  und  der  Curorte. 
Um  mit  letzterer  zu  beginnen,  so  empfiehlt  sich,  dass  den  Berufsgenossenschaften 
als  Trägern  der  Versicherung  eine  Erleichterung  in  ihren  Lasten  in  der  Weise 
verschafft  werde,  dass  für  die  ihrerseits  in  Krankenhäusern  und  Curanstalten 
unterzubringenden  Betriebsverletzten  eine  Herabsetzung  der  Fahrpreise  und  der 
Curtaxen  zugestanden  werde.  Auf  diese  Weise  wird  deren  Geneigtheit  zur  Wahl 
einer  derarten  Cur  erheblich  vermehrt  und  manche  Arbeitskraft  erhalten  werden, 
welche  sonst  verloren  gehen  möchte.  Das  Gemeinwesen  hat  aber  ebenfalls  ein 
w^esentliches  Interesse  an  Erhalten  der  Arbeitskraft,  welche  das  Nationalvermögen 
erhöht  und  Gegenstand  der  Versteuerung  bildet.  Das  Entgegenkommen,  welches 
der  preuss.  Verkehrsminister  durch  seinen  Erlass  vom  7.  März  1891  den  milden 
Stiftungen  bethätigte,  indem  er  diesen  Verkehrserleichterungen  zubilligte,  ver- 
dienen zweifelsohne  die  Träger  der  öffentlichrechtlichen  Versicherung  in  gleichem 
Maasse.  Hinsichtlich  der  Betriebsverletzten  ist  die  verschiedene  Eechtsanschauung 
zwischen  dem  Reichsversicherungsamte  und  dem  Reichsgerichte  über  die  Duldung 
der  Vornahme  eines  operativen  Eingriffes  im  Wege  der  Gesetzgebung  zu  regeln. 
Denn  selbst  abgesehen  davon,  dass  die  Rechtssicherheit  nicht  erhöht  und  das 
Vertrauen  auf  eine  gerechte  Rechtspflege  nicht  gehobeu  wird,  wenn  in  grund- 
legenden Fragen  die  höchsten  ürtheilsgerichte  zu  diametralen  Aussprüchen 
gelangen,    indem    ersteres    in    den    Rec.-Entsch.    vom    14.  Mai    1888   und   vom 


Abänderungs- Vorschläge  für  die  Unfallversiclierung.  Q\g 

11.  Juni  1888  den  Betriebs  verletzten  für  nicht  verpflichtet  erklärt,  sich  einer 
Operation  zu  unterwerfen,  dieses  aber  in  den  Urth.  vom  22.  December  1890 
und  vom  30.  Jänner  1891  auf  Verwirken  der  Haftpflichtentschädigung  erkennt, 
weil  es  eine,  den  Entschädigungsanspruch  aufhebende,  Arglist  darin  findet,  dass 
Jemand  den  zur  Herstellung  seiner  Gesundheit  geeigneten  Maassnahmen  sich 
grundlos  entzieht,  vermag  der  Besitz  eines  verkrüppelten  Gliedes  erfahrungs- 
gemäss  dessen  Besitzer  mehr  Schmerzen  zu  verursachen,  erheblicher  zu  entstellen 
und  im  Gebrauche  der  gesunden,  also  in  Verwertung  seiner  verbliebenen  Arbeits- 
kraft zu  stören,  als  dessen  Verlust.  Deshalb  erscheint  es  angezeigt,  das  Ver- 
wirken des  Entschädigungsanspruches  auch  dann  gesetzlich  anzuerkennen,  wenn 
grundlos  die  Vornahme  einer  Operation  verweigert  wird,  welche  nach  ärztlichem 
Gutachten  gefahrlos,  aber  auch  geeignet  ist,  die  Störung  der  Erwerbsfähigkeit 
zu  beseitigen. 

Ein  Ruhen  des  ßentenbezugsrechtes  erkennt  das  österreichische  Ü.-V.-G. 
vom  28.  December  1887  im  §  40  für  den  Fall  an,  dass  der  Rentenempfänger 
einen  dem  früheren  Arbeitsverdienste  gleichen  und  diesem  der  unversehrten  Mit- 
arbeiter gleich  hohen  Erwerb  zu  erzielen  vermag,  solange  dieser  Zustand  dauert, 
ferner  das  I.-V.-G.  vom  22.  Juni  1889  in  §  34  für  die  Dauer  der  einen  Monat 
übersteigenden  Freiheitsentziehung.  Das  Eeichsversicherungsamt  vertritt  in  seiner 
Eec.-Entsch.  Nr.  582  vom  30.  April  1888  die  Eechtsüberzeugung,  dass  nach 
den  Grundsätzen  der  öffentlichrechtlichen  Unfallversicherung  auch  während  der 
Dauer  einer  Strafverbüssung  die  Rentenzahlung  nicht  eingestellt  werden  dürfe. 
Hierin  stellt  es  sich  gleichzeitig  wieder  in  Widerspruch  zu  den  Ausführungen  des 
Reichsgerichtes  in  den  Urth.  vom  23.  December  1879  und  vom  9.  October  1890, 
worin  ausgeführt  wird,  dass  die  Haftpflichtrente  nur  einen  Ausgleich  zwischen  der 
Höhe  des  Erwerbes  eines  Versehrten  Arbeiters  zu  diesem  eines  unversehrten 
Fachgenossen  zu  bilden  bestimmt  sei,  weshalb  ein  Bezugsrecht  darauf  nur  so 
lange  und  unter  der  Voraussetzung  bestehen  könne,  dass  der  Inhaber  der  Arbeits- 
kraft auch  in  der  Lage  sich  befinde,  solche  zu  verwerten.  Deshalb  habe  Der- 
jenige keinen  rechtsbegründeten  Anspruch  darauf,  bei  welchem  diese  Voraussetzung 
fortfalle,  welcher  also,  wie  der  Strafthäter,  sich  selbst  ausserstande  gesetzt  hätte, 
über  seine  Arbeitskraft  verfügen  und  einen  Erwerb  daraus  erzielen  zu  können, 
weil  er  für  diese  Zeitdauer  ja  einen  Vermögensnachtheil  infolge  seiner  körperlichen 
oder  geistigen  Versehrtheit  nicht  erleide.  Inwieweit  es  berechtigt  erscheint,  hierin 
eine  Unterscheidung  zwischen  der  öffentlichrechtlichen  und  der  privatrechtlichen 
Schadloshaltung  zu  treffen,  d.  h.  ob  der  leitende  Grundgedanke,  welcher  die 
Unfallversicherung  beherrscht,  sowie  der  Wortlaut  der  maassgebenden  Gesetzes- 
stellen die  Auffassung  des  Reichsversicherungsamtes  zu  unterstützen  vermöge, 
soll  hier  unerörtert  bleiben.  Denn  solange  diesem  das  höchste  Entscheidungsrecht 
zusteht,  lässt  an  dessen  Rechtsgrundsätzen  sich  umsoweniger  rütteln,  als  es  infolge 
seines  höchsten  Aufsichtsrechtes  gleichzeitig  die  Macht  hat,  deren  strictes  Befolgen 
seitens  der  Genossenschaftsvorstände  zu  erzwingen.  Nur  darauf  darf  hingewiesen 
werden,  dass  der  Grundsatz  des  U.-V.-G.  vom  6.  Juli  1884  §  65  sich  im 
wesentlichen  deckt  mit  diesem  des  Hft.-Pfl.-G.  vom  7.  Juni  1871  §  6,  5.,  weshalb 
der   Schluss   wohl   gerechtfertigt    erscheint,    dass,    weil   dieselben   gesetzgebenden 

40* 


620 


Hilse. 


Körperschaften  beiden  ihre  Zustimmung  ertheilten,  auch  der  gleiche  Sinn  beiden 
innewohnen  sollte.  Noch  mehr  tritt  für  die  öflfentlichrechtliche  Unfallversicherung 
dies  aus  dem  Umstände  hervor,  dass  für  die  Invaliden-  oder  Alters-Rente  das 
Ruhen  des  Rentenbezugsrechtes  angeordnet  ist.  Der  Gesetzgeber  wurde  dabei  eben 
von  der  auch  seitens  des  Reichsgerichtes  vertretenen  Anschauung  geleitet,  dass 
für  den,  der  sich  ausserstande  gesetzt  habe,  erwerben  zu  können,  auch  von  einer 
Erwerbseinbusse  keine  Rede  sein  könne  und  wollte  Zustände  vermeiden,  welche 
rechtswidersinnige  Consequenzen  nach  sich  zu  ziehen  vermögen,  wie  solche  that- 
sächlich  infolge  des  Rechtssatzes  Nr.  526  gezeitigt  sind,  wonach  für  Strafver- 
büssende  bisweilen  recht  hohe  Capitalien  anzusammeln  waren,  welche  zu  dem 
Ergebnisse  eines  Strafgewinnes  an  Stelle  des  zuerkannten  Strafübels  führen  mussten. 
In  der  Reichstags-Sitzung  vom  17.  November  1891  wurde  dies  auch  in  so  scharfer 
Weise  gemissbilligt,  dass  mit  Sicherheit  zu  erwarten  steht,  es  werde  eine  dem 
I.-V.-Gr.  §  34  gleiche  Vorschrift  in  der  Unfallversicherungsnovelle  gewünscht. 
Aber  auch  die  Rechtsregel,  dass  nur  insoweit  ein  Schaden  auszugleichen 
sei,  als  er  thatsächlich  auf  die  durch  die  Betriebsverletzung  verursachte  Störung 
der  Erwerbsfähigkeit  zurückzuführen  ist,  darf  für  die  öffentlichrechtliche  Unfall- 
versicherung nicht  aufgegeben  werden.  Auf  ihr  beruht  der  Grundsatz  des  öster- 
reichischen Ü.-V.-G.  §  40.  Derselbe  ist  mit  Rücksicht  auf  die  im  U.-V.-G.  vom 
6.  Juli  1884  §  3  gegebenen  Berechnungsgrundsätze  für  die  Ermittelung  des 
Arbeitsverdienstes  der  noch  kein  volles  Jahr  beschäftigten  Arbeiter  einerseits, 
andererseits  zur  Abwehr  der  Möglichkeit  gerechtfertigt,  aus  dem  Betriebsunfälle 
insofern  einen  bisweilen  recht  erheblichen  Gewinn  zu  erzielen,  als  gleichzeitig  aus 
verschiedenen  Berufsgenossenschaften  dadurch  ein  Rentenanspruch  sich  verschafft 
wird,  dass  infolge  Wechsels  der  Beschäftigung  eine  Schadloshaltung  Versehrter 
Gliedmaassen  eintritt,  welche  für  die  neuaufgenommene  gar  nicht  störend  oder 
erwerbsmindernd  sind.  Im  Hinblick  auf  die  seitens  der  Industrie  aufzubringenden 
Geldmittel  für  Entschädigungszwecke  darf  wohl  daran  gedacht  werden,  solche 
einzuschränken.  Der  verstümmelte  Arbeiter,  welcher  das  gleiche  Arbeitsverdienst 
seines  unversehrten  Fachgenossen  zu  erwerben  vermag,  wird  durch  den  Bezug 
der  Unfallrente  gegen  diesen  besser  gestellt,  was  möglichst  zu  vermeiden  ist. 
Bei  ihm  trifft  aber  auch  nicht  die  Voraussetzung  für  eine  Entschädigungspflicht 
zu,  weil  er  den  solcher  zugrunde  liegenden  Erwerbsverlust  gar  nicht  hat.  Nicht 
veränderte  Umstände,  welche  gemäss  Ü.-V.-G.  §  65  eine  Abänderung  des  Renten- 
festsetzungsbeschlusses rechtfertigen,  liegen  hier  vor,  vielmehr  ein  zeitweiser 
Wegfall  des  Entschädigungsgrundes.  Deshalb  darf  die  zugebilligte  Rente  weder 
in  ihrer  Höhe  herabgesetzt,  nosh  weniger  gänzlich  abgesprochen  werden,  vielmehr 
bleibt  der  zuerkannte  Anspruch  in  vollem  Umfange  zu  Recht  bestehen,  nur  ruht 
das  Bezugsrecht  darauf  zeitweise,  um  unverändert  wieder  zu  erwachen,  sobald 
auch  bloss  vorübergehend  die  sein  Ruhtin  bedingende  Beschäftigung  endet.  In 
logischer  Folge  ist  dieser  Grundsatz  auch  als  anwendbar  zu  erklären  für  die  Zeit, 
während  welcher  der  Bezugsberechtigte  seiner  Militärpflicht  genügt  oder  in  einer 
Trinkerheilanstalt  untergebracht  wurde.  Dabei  soll  nicht  verkannt  werden,  dass 
das  Bundesamt  für  das  Heimatswesen  allerdings  in  den  Erk.  vom  4.  Februar 
1888  und  vom  8.  November  1890  sich  zu  dem  Rechtssatze  bekannte,  dass  infolg-e 


Abänderungs-Vorschläge  für  die  Unfallversicherung.  (521 

der  öffeiitlichrechtlichen  Versicherunsr  die  armen  rechtliche  Hilfsbedürftigkeit  ruht 
und  danach  ein  scheinbarer  Widerspruch  gegen  das  vorangestellte  Verlangen 
besteht.  Allein  dieser  findet  seine  Lösung  einfach  darin,  dass  es  doch  dem 
leitenden  Grundgedanken  der  Unfallversicherung  widerstreitet,  die  Industrie  als 
Trägerin  dieser  zum  Aufbringen  von  Geldmitteln  anzuhalten,  welche  nicht  dem 
Betriebsverletzten  selbst,  vielmehr  bloss  dem  Gemeinwesen  zugute  kommt. 

In  der  Eeichstags-Sitzung  vom  17.  November  1891  wurde  zum  Beschlüsse 
erhoben,  die  mit  an  sich  versicherungspflichtigen  Arbeiten  beschäftigten  Straf- 
gefangenen jeder  Art  in  den  Kreis  der  versicherungspflichtigen  Personen  hinein- 
zuziehen, insonderheit  aber  dann,  wenn  Pächter  ihrer  Arbeitskraft  sie  zur  Her- 
stellung industrieller  Erzeugnisse  verwenden.  Einer  dementsprechenden  Vorschrift 
darf  deshalb  in  der  Vorlage  wohl  entgegengesehen  werden.  Desgleichen  enthalten 
die  so cialdemokrati sehen  Anträge  die  Forderungen: 

1.  Die  Unfallfürsorge  unmittelbar  mit  Abschluss  des  Heilverfahrens  beginnen 
zu  lassen; 

2.  eine  bezogene  ünfallrente  bei  Berechnen  der  Witwen-  und  W^aisenrente 
eines  durch  einen  neuen  Betriebsunfall  Getödteten  in  Mitberücksichtigung  zu  ziehen; 

3.  Maassnahmen  zu  treffen,  welche  wirksam  zu  verhindern  vermögen,  dass 
der  Betriebsunternehmer  seine  Verpflichtungen  aus  der  öffentlichrechtlichen  Ver- 
sicherung auf  die  beschäftigten  Arbeiter  abwälzt. 

In  der  Eeichstags-Sitzung  vom  8.  Februar  1892  wurde  die  Berechtigung 
dieser  Forderungen  im  allgemeinen  anerkannt,  dagegen  die  Bedürfnisfrage  mehr- 
fach in  Abrede  gestellt.  Insonderheit  machten  Zweifel  sich  dahin  geltend,  dass 
es  denkbar  sei,  es  könne  vor  Ablauf  von  13  Wochen  ein  Heilverfahren  abge- 
schlossen, also  der  Grund  für  eine  fernere  Krankenfürsorge  fortgefallen  und 
dennoch  eine  Erwerbsunfähigkeit,  welche  den  Eintritt  der  Unfallfürsorge  gebiete, 
zurückgeblieben  sein.  Diese  Anschauung  entspricht  nicht  den  thatsächlichen  Ver- 
hältnissen. Denn  es  gibt  viele  Verletzungen,  bei  welchen  die  Krankheitserschei- 
nungen in  verhältnismässig  sehr  kurzer  Zeit  sich  beseitigen  lassen,  obschon  als 
Folge  eine  bisweilen  sogar  völlige  Vernichtung  der  Erwerbsfähigkeit  zurückbleibt. 
Die  Entfernung  eines  Auges  ist  eine  einfache  Operation  mit  kurzdauerndem  Ver- 
laufe. Die  Entfernung  von  Gliedmaassen  eines  in  jugendlichem  Alter  Stehenden 
heilt,  wenn  nicht  ungesunde  Säfte  vorhanden,  meist  in  wenigen  Wochen.  Und 
dennoch  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  der  Verlust  des  Auges  dauernde,  die 
zurückgebliebene  Schwäche  des  ganzen  Armes  vorübergehende  Erwerbsunfähigkeit 
bedingt.  Die  Krankencasse  braucht  hierfür  füglich  nicht  mehr  einzustehen,  weil 
nicht  Krankheitserscheinungen,  vielmehr  Störungen  der  körperlichen  Unversehrtheit 
vorliegen,  welche  durch  ein  Heilverfahren  nicht  mehr  zu  mildern  und  zu  besei- 
tigen sind.  Aber  auch  der  vorzeitige  Eintritt  der  Berufsgenossenschaft  in  das 
Heilverfahren  gemäss  K.-V.-G.  v.  10.  April  1892  §  76  c)  schafft  nicht  genügende 
Abhilfe.  Nur  ein  Recht,  nicht  aber  eine  Pflicht,  hierzu  wird  begründet,  weshalb 
letzterer  im  Wege  der  Gesetzgebung  einzuführen  sein  wird,  um  dem  Uebelstande 
vorzubeugen,  dass  die  schnelle  Heilung  eines  verstümmelten  Betriebs  verletzten  für 
diesen  den  Erfolg  haben  kann,  eine  Zeitlang  ohne  die  ihm  zustehende  Ent- 
schädigungsrente zu  bleiben. 


622  Hilse. 

Das  an  sich  Gute  muss  stets  anerkannt  und  nachgeahmt  werden,  sobald 
es  erkannt  und  auf  seine  Zweckmässigkeit  geprüft  wurde.  Dies  trifft  auch  zu, 
hinsichtlich  des  Grundsatzes  des  österreichischen  U.-V.-G.  vom  28.  December  1887 
§  7,  welches  den  Fall  vorsieht,  dass  in  den  Arbeiterkreisen  die  Frau  die  Erwer- 
berin des  Unterhaltes  für  die  Familie  sein  kann.  Denn  es  billigt  eine  ünfallrente 
auch  dem  Witwer  zu,  wenn  und  solange  er  erwerbsunfähig  ist.  Desgleichen 
unterscheidet  es  folgeweise  nicht  dahin,  wie  Ü.-V.-G.  vom  6.  Juli  1884  §  6, 
dass  das  Kind  vaterlos  und  mutterlos  wird,  vielmehr  ob  bloss  ein  oder  ob  beide 
Elterntheile  ihm  entrissen  wurden.  Während  in  Deutschland  das  Kind  einer 
betriebsgetödteten  Arbeiterin  bloss  dann  Anspruch  auf  Waisenrente  erlangt,  wenn 
es  unehelich  erzeugt  oder  seine  Mutter  Witwe  zur  Zeit  ihres  Ablebens  war,  wird 
in  Oesterreich  dem  ausserehelichen  Kinde  die  Hälfte  des  einem  elternlosen  zuste- 
henden Eentenbetrages  zugebilligt  und  das  seiner  Mutter  beraubte,  aber  im  Besitze 
seines  Vaters  erhaltene,  ganz  gleich  mit  dem  gestellt,  dessen  Vater  starb  und 
dessen  Mutter  lebt.  Dem  Geiste  und  leitenden  Grundgedanken  der  Unfallversiche- 
rung entspricht  dies  jedenfalls  mehr,  als  wenn  das  verloren  gegangene  Arbeits- 
verdienst der  Mutter  gar  keine  Berücksichtigung  findet.  Die  gesellschaftlichen 
Zustände  unter  den  Arbeitern  bedingen  einmal,  dass  die  Frau  mitthätig  und  mit- 
ei*werbend  für  Beschaffung  des  Unterhaltes  der  Familie  sein  muss.  Mancher 
Hausstand  beruht  mehr  auf  dem  Erwerbe  der  Frau,  als  auf  diesem  des  Mannes. 
Mit  Wegfall  jenes  tritt  eine  Lücke  ein,  welche  sich  recht  fühlbar  hei  den  Familien- 
gliedern äussert,  d.  h.  oft  genug  Entbehrungen  fordert,  weil  die  Mittel  zum 
Beschaffen  der  Bedürfnisse  fehlen.  Hier  einen  Ausgleich  zu  schaffen,  ist  eben 
Aufgabe  der  Unfallversicherung.  Dagegen  fehlt  es  an  jedem  vernunftgemässen 
Grunde,  weshalb  der  Betriebsunternehmer,  welcher  Frauen  beschäftigt,  frei  davon 
sein  soll,  auch  deren  Betriebsunfälle  schadlos  zu  halten,  wenn  sie  Ehefrauen  sind. 
Darin  liegt  eine  Unbilligkeit,  von  dem  Zufalle  abhängig  zu  machen,  ob  eine 
Waisenrente  den  Kindern  der  Betriebsgetödteten  zusteht  oder  nicht.  Unbekümmert 
um  das  Leben  des  Mannes  muss  den  Kindern  derjenige  Schaden  ersetzt  werden, 
welchen  der  Tod  der  Mutter  bereitet.  Denn  dass  auch  das  Kind  einer  betriebs- 
getödteten Witwe  ebenso,  wie  das  aussereheliche ,  Anspruch  auf  Waisenrente 
erlangt,  kann  rechtlich  nicht  zweifelhaft  sein.  Gleich  unbillig,  wie  es  ist,  dem 
unehelichen  Kinde  von  vornherein  20  Proc.  zuzubilligen,  es  also  gegen  das  ehe- 
liche günstiger  zu  stellen,  ebenso  ungerecht  erscheint  das  Vorenthalten  jedes 
Entschädigungsanspruches  gegen  die  Mutter  bei  Lobzeiten  des  Vaters.  Welche 
grosse  Fülle  vom  Gesetzgeber  nicht  gewollter  Misstände  bei  Handhabung  der 
Unfallversicherung  gerade  aus  der  Fassung  des  ang.  §  6  hervorgetreten,  lässt 
daraus  sich  ermessen,  dass  infolge  der  Freizügigkeit  in  zahlreichen  Fällen  Arbeiter 
ihre  Heimat  verliessen,  um  in  entfernten  Orten  Beschäftigung  aufzunehmen,  wäh- 
rend Frau  und  Kinder  zurückblieben.  Nicht  selten  wurde  von  dem  getrennt 
lebenden  Ehegatten  die  eheliche  Pflicht  vergessen,  ein  des  gesetzlichen  Anerkennt- 
nisses entbehrendes  Zusammenleben  eingegangen,  aus  welcher  wilden  Ehe  Kinder 
hervorgiengen,  welche  gewissenhaft  von  dem  männlichen  Arbeiter  ernährt  wurden, 
der  die  Mittel  zur  Bestreitung  des  Unterhaltes  erw'arb  und  hergab.  Erst  ein 
Betriebsunfall  mit  tödlichem  Ausgange  schaffte  hierin  Wandlung.  Nicht  die  der- 


Abänderungs -Vorschläge  für  die  Unfallversicherung.  623 

zeitige  Hausgenossin,  nicht  die  beiderseitigen  Kinder,  welchen  der  Verstorbene 
so  lange  sorgsamer  Ernährer  war,  vielmehr  die  längst  vergessene  fernlebende 
Ehefrau  bisweilen  "mit  im  Ehebruche  erzeugten,  bloss  aus  gesetzlicher  Fiction  als 
ehelich  erkannten  Kindern  traten  in  den  Genuss  der  Witwen-  und  Waisen-Eente. 
Dies  für  die  Zukunft  unmöglich  zu  machen  und  zu  verhindern,  dass  eheliche 
Untreue  einen  Vortheil  verschafft,  muss  in  der  neuen  Vorlage  vorgesehen  werden, 
zumal  der  heutige  Zustand  den  Aufgaben  des  Versicherungsrechtes  ebenso,  wie 
denen  des  Sittengesetzes  widerstreitet. 

Der  Ausbau   der  Unfallversicherung  durch  die  Gesetze   vom  6.  Juli  1884, 
28.  Mai  1885,   5.  Mai  1886,  11.  und  13.  Juli  1887  mag  der  Grund  dafür  sein, 
dass   die  Zuständigkeitsfrage   nicht   selten   den  Betriebsverletzten   in  Verlegenheit 
bringt.    Der  Begriff  „Eegiebau"   oder  „Nebenbetrieb  des  Hauptbetriebes"  ist  ein 
sehr  vager.  Das  Eeichsversicherungsamt  nimmt  Anstand,  ihn  genau  zu  begrenzen. 
Daraus  entstehen  zahlreiche  Streitfälle  unter  den  Berufsgenossenschaften  über  die 
Pflicht  zur  Uebernahme  des  Schadensfalles,  welche  stets  für  den  Betriebsverletzten 
den  Nachtheil  erzeugen,  dass  er  bis  zur  endgiltigen  Beilegung  desselben  unent- 
schädigt,   mithin   ununterstützt  auf  das   Wohlwollen   Anderer    angewiesen   bleibt. 
Dies  widerstreitet   dem   gesetzgeberischen  Willen.    Deshalb   wird  in   der  Vorlage 
Vorsorge  zu  treffen  sein,  dass  fernerhin  solche  Unzuträglichkeiten  sich  vermeiden 
lassen,  indem  Grundsätze  aufgestellt  werden,  welche  einmal  die  ersatzverpflichtete 
Berufsgenossenschaft  leichter  feststellen  lassen,   sodann  aber  anordnen,  dass  die 
zunächst  angerufene  den  Schadensfall  regelt,  welcher  dann  in  der  Lage,  in  der  er 
sich  gerade  befindet,  von  derjenigen  zu  übernehmen   sein   wird,  welche  endgiltig 
von   dem  Eeichsversicherungsamte   als   die   wirklich   verpflichtete   erkannt  wurde. 
Für  diese  höchste  Eeichsbehörde  würde,  was  auch  in  der  Eeichstags-Sitzung  vom 
17.  November  1891   angeregt   ist,   der  Geschäftsgang  gesetzlich   auch   dahin   zu 
regeln  sein,  dass  die  einzelnen  Senate  nicht  unter  sich  widersprechende  Eechts- 
grundsätze    aufstellen,    vielmehr    ein   Ausweg,    vielleicht    durch    Plenarbeschluss, 
gefunden   wird,   auf  dem  Fragen   von  principieller  Bedeutung  in   einem   sie  alle 
gleichmässig  bindenden  Sinne  zur  Feststellung  gelangen.  Vielleicht  wird  dies  sich 
leichter  bewirken  lassen,  wenn  das  höchste  Aufsichts-  und  das  höchste  Entschei- 
dungsrecht, von  einander  getrennt,  entweder  verschiedenen  Abtheilungen  derselben 
oder    ganz    anderen,    selbständigen    Behörden    übertragen    werden.     Dabei    kann 
schliesslich  auch  noch  in  Erwägung  kommen,  ob  die  bisher  gemachte  Erfahrung 
es  nicht  vielleicht  rechtfertigt,  den  Eecurs  des  U.-V.-G.  vom  6.  Juli  1884,  §  63, 
durch  die  Eevision  des  I.-V.-G.  vom  22.  Juni  1889,  §  80,  in  der  neuen  Vorlage 
zu  ersetzen.  Wenigstens  würde  dadurch  den  vielen  Eechtsmitteln  gesteuert  werden, 
deren  Ziel   nur  »dahin   geht,   über   die  Höhe   des  Eentenanspruches   zu  feilschen, 
eine  Handlungsweise,  welche  wenig  dazu  beiträgt,  die  Achtung  vor  der  höchsten  . 
Spruchbehörde  und  das  Vertrauen  zu  einer  gerechten  Eechtspflege  zu  befestigen. 
Wird  der  Anlass  zu  Streitfällen  beseitigt,  so  muss  ferner  der  Möglichkeit  vorgebeugt 
werden,  durch  Unklarheit  der  Gesetzesstellen  dem  Betriebsuntemehmer  Straffolgen 
zuzuziehen.    Dies  ^'eschieht,  wenn  der  Begriff  ,. Beschäftigungsort"  im  Sinne   des 
U.-V.-G.  vom  6.  Juli  1884,  §  1,  mit  B.-U.-V.-G.  vom  11.  Juli  1887,  §  3  bestimmt 
dahin  gegeben  wird,  dass,  wie  im  Ausd.-G.  vom  28.  Mai  1885,  §  15,  L.-U.-V.-G. 


624  Hilse. 

vom  5.  Mai  1886,  §  10,  J.-Y.-a.  vom  22.  Juni  1889,  §  41,  K.-V.-G.  vom 
10.  April  1892,  §  5a  er,  dem  Dienstorte  des  Ü.-W.-G.  vom  6.  Juni  1870 
§  29  entsprechend,  dahin  begrenzt  wird,  dass  alle  von  demselben  Betriebsunter- 
nehmer an  verschiedenen  Arbeitsstätten  beschäftigten  Personen  als  bei  der  für 
den  Betriebssitz  zuständigen  Berufsgenossenschaft  versichert  gelten,  gleichviel,  ob 
sie  im  Haupt-  oder  in  einem  Nebenbetriebe  Verwendung  finden,  was  auch  im 
„Gerichtssaal"  (Bd.  46.  S.  299)  und  in  der  „Zeitschrift  für  die  gesammte  Straf- 
rechtswissenschaft" (Bd.  12.  S.  564)  vom  strafrechtlichen  Standpunkte  aus 
gefordert  wird. 


DIE  NEUE 

WÄHRUNGS-  UND  MÜNZ-GESETZGEBUNG 

VON 

ÖSTERREICH  UND  UNGARN. 


EINGELEITET  VON 

KARL  THEODOR  v.  INAMA-STERNEGG. 


Die  tiefgreifenden  Veränderungen,  welche  im  Laufe  der  beiden  letzten 
Decennien  auf  dem  Weltmarkte  der  Edelmetalle  vor  sich  gegangen  sind,  haben 
auch  den  Bestand  des  Geldwesens  in  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie 
nicht  unberührt  gelassen.  Obwohl  durch  das  Ueberwuchern  der  papierenen  Um- 
laufsmittel nahezu  isoliert,  hat  sich  dennoch  die  gesetzliche  Silberbasis  unseres 
Geldes  immer  noch  wirksam  gezeigt,  bis  sie  durch  die  fortgesetzte  Entwertung 
des  Silbers  schliesslich  geradezu  zu  einer  Gefahr  für  Staats-  und  Volks- 
wirtschaft wurde. 

War  damit  allein  schon  für  die  Regierungen  beider  Reichshälften  ein 
mächtiger  Anstoss  gegeben,  die  Lösung  des  alten  Valutaproblems  nicht  länger 
mehr  hinauszuschieben,  so  bot  sich  andererseits  in  der  günstigen  Finanzlage 
beider  Staaten,  sowie  in  den  momentanen  Conjuncturen  des  Edelmetallmarktes 
und  der  internationalen  Zahlungsbilanz  ein  so  ungewöhnlich  geeigneter  Zeitpunkt 
fiir  die  Inangriffnahme  der  Aufgabe  dar,  dass  jedes  weitere  Zögern  eine  neue 
Gefahr  und  vielleicht  ein  unwiederbringlicher  Verlust  gewesen  wäre. 

In  der  wissenschaftlichen  wie  in  der  Tagesliteratur,  in  den  parlamentarischen 
und  fachlichen  Kreisen  der  Monarchie  hat  sich  nun  in  den  letzten  Jahren  so 
Wesentliches  zur  Klärung  des  schwierigen  und  verwickelten  Problems  ergeben, 
dass  auch  die  Regierungen  eine  kräftige  Förderung  ihrer  Bestrebungen  darin 
erblicken  konnten.  Die  Resultate  der  in  beiden  Reichstheilen  im  Frühjahr  1892 
einberufenen  Enqueten  waren  überdies  ein  Beweis  einer  schon  weitgediehenen 
Klärung  der  Anschauungen  über  die  Grundzüge  der  Währungs-  und  Münzreform. 
So  konnte  es  endlich  gelingen,  für  das  grosse  Problem  eine  Formel  zu  finden, 
welche,  wenn  auch  vielleicht  im  einzelnen  noch  Unsicherheit  oder  Bedenken 
belassend,  doch  in  der  Hauptsache  eine  glückliche  Lösung  zu  verbürgen 
geeignet  ist. 


ß26  Inaina-Sternegg. 

Es  ist  daher  wohl  berechtigt,  wenn  wir  im  folgenden  unsem  Lesern  den 
Wortlaut  des  ganzen  Gesetzgebungswerkes,  auf  welchem  die  künftige  Ordnung 
unseres  Greldwesens  beruhen  wird,  mittheilen.  Um  aber  zugleich  eine  Art  von 
Commentar  zu  demselben  zu  bieten,  möge  auch  der  Bericht  eine  Stelle  finden, 
welchen  einer  der  Herausgeber  dieser  Zeitschrift  im  Namen  der  Specialcommission 
des  Herrenhauses  über  diese  Gesetzentwürfe  erstattet  hat.  Derselbe  darf  vielleicht 
auch  zugleich  als  der  abgeklärteste  Ausdruck  der  Anschauungen  des  österreichischen 
Parlamentes  dienen,  insoferne  er  nicht  nur  die  Billigung  aller  Gruppen  des 
Herrenhauses  gefunden,  sondern  auch  dem  in  den  Verhandlungen  des  Abge- 
ordnetenhauses  geltend   gemachten   Standpunkte  vollauf  Eechnung  getragen    hat. 

Bericht  der  Specialcomniission    des  Herrenhauses  über  die  Gesetz- 
entwürfe, betreifend  die  Regelung  der  Yaluta  und  die  Conyertierung 
einiger  Kategorien  der  Staatsschuld. 

I.    Einleitung. 

Seit  dem  kaiserlichen  Patente  vom  20.  Februar  1811  (J.  G.  929),  mit 
welchem  die  Periode  der  Zerrüttung  der  Geldverhältnisse  abgeschlossen  und  der 
Anfang  einer  Heilung  namenloser  Uebel  gemacht  worden  ist,  hat  Oesterreich  die 
Ordnung  seines  Geldwesens  immer  als  eine  seiner  wichtigsten  Angelegenheiten 
betrachtet. 

Zwar  haben  die  erschütternden  Ereignisse  des  Jahres  1848  neuerliche 
Störungen  in  die  kaum  geregelte  Circulation  gebracht,  aber  doch  schon  wenige 
Jahre  später  gelang  es  den  energischen  Anstrengungen  der  Regierung,  durch 
die  Umwandlung  der  Staatsnoten  in  Banknoten  die  Ordnung  der  Geldverhältnisse 
wenigstens  wieder  anzubahnen. 

Noch  einmal  hat  sich  dann  im  Jahre  1866  die  Regierung  genöthigt  gesehen, 
den  eingeschlagenen  Weg  zu  verlassen;  aber  doch  schon  anderthalb  Jahre  später, 
in  dem  Ausgleiche  mit  Ungarn  vom  Jahre  1867,  wurde  die  Wiederherstellung 
einer  geregelten  Geldcirculation  wieder  in  Aussicht  genommen. 

Seitdem  hat  die  Regierung  wohl  keinen  Anlass  vorüber  gehen  lassen,  ohne 
die  bestehenden  Anomalien  im  Zustande  der  Geldverhältnisse  anzuerkennen ;  und 
ebenso  haben  das  Parlament  und  die  verschiedenen  Kreise  der  öffentlichen  Ver- 
waltung, die  Geschäftswelt  wie  die  Wissenschaft  nie  einen  Zweifel  darüber  auf- 
kommen lassen,  dass  die  Entwertung  unserer  Valuta  vielleicht  das  grösste  üebel 
sei,  an  welchem  die  A^olks-  und  die  Staatswirtschaft  unseres  Vaterlandes  kranke. 
Sowohl  bei  der  ersten  Erneuerung  des  Zoll-  und  Handelsbündnisses  mit  Ungarn 
im  Jahre  1878  als  auch  bei  der  Fortsetzung  desselben  im  Jahre  1887  ist  die 
Herstellung  vollkommen  geordneter  Geldverhältnisse  unter  die  Programmspunkte 
aufgenommen,  welche  durch  das  Zusammenwirken  der  beiderseitigen  Regierungen 
zu  verwirklichen  seien. 

So  wird  es  keiner  weiteren  Ausführungen  bedürfen,  dass  die  definitive 
Regelung  der  Valuta  ein  Gebot  der  staatlichen  und  volkswirtschaftlichen  Noth- 
wendigkeit  ist.  Und  wenn  bis  vor  kurzem  die  ungünstige  Finanzlage  immer  als 
das  Hindernis  einer  Regelung  der  Valuta  in  diesem  Sinne  bezeichnet  wurde  und 


Die  neue  Währungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oest erreich  und  Ungarn.        627 

in  der  That  auch  dem  jederzeit  vorhandenen  guten  Willen  hiezu  immer  wieder 
aufs  neue  unüberwindliche  Schwierigkeiten  entgegenstellte,  so  fordert  doch  unsere 
Zeit,  in  welcher  das  so  sehnlichst  herbeigewünschte  Gleichgewicht  im  Staatshaushalte 
erreicht  ist,  gebieterisch  die  Erfüllung   dieser   alten  und   schweren  Verpflichtung. 

Um  aber  die  definitive  Eegelung  der  G-eldverhältnisse  mit  Aussicht  auf 
Erfolg  in  Angriff  nehmen  zu  können,  muss  bei  den  gegenwärtigen  Verhältnissen 
des  Geldwesens  zunächst  eine  grosse  Aufgabe  erfüllt  werden,  ohne  deren 
fruchtbare  Lösung  auch  das  Ganze  nicht  gelingen  könnte :  der  Währungswechsel 
und  die  damit  zu  erzielende  Wei-tbeständigkeit  unseres  Geldes.  Die  Schicksale, 
welche  das  Silber,  die  gesetzliche  Basis  der  österreichischen  Währung  seit  1857, 
im  Laufe  der  letzten  beiden  Decennien  erfahren  hat,  drängen  mit  unausweichlicher 
Nothwendigkeit  dazu,  diese  Aufgabe  zu  lösen. 

Auch  diese  Nothwendigkeit  besteht  nicht  erst  seit  gestern;  schon  seit  dem 
Anfange  der  Sechziger-Jahre  reifte  die  Einsicht,  dass  in  einem  Culturstaate  mit 
dem  Silber  als  alleiniger  Währungsbasis  für  die  Dauer  nicht  mehr  gerechnet 
werden  könnte. 

Die  Regierungen  der  beiden  Staatsgebiete  der  österreichisch-ungarischen 
itonarchie  haben  schon  in  dem  ersten  Zoll-  und  Handelsbündnisse  vom  Jahre  1867, 
Artikel  XII,  dieser  Ueberzeugung  Ausdruck  gegeben,  vielleicht  in  einer  allzusehr 
auf  die  augenblickliche  Constellation  der  internationalen  Verhältnisse  zugespitzten 
und  darum  auch  in  der  Folge  nicht  haltbaren  Form,  aber  mit  einem  gewiss 
berechtigten  Grundgedanken.  Auch  die  im  Jahre  1870  verfügte  Ausprägung  von 
Goldmünzen,  wenn  auch  ohne  Währungseigenschaft,  die  Emission  von  Goldrente 
in  beiden  Eeichshälften  (1876)  waren  zweifellos  noch  Ausflüsse  desselben.  Dann 
aber  hörten  die  Manifestationen  der  Staatsgewalt  zu  Gunsten  der  Goldwährung 
auf;  schon  in  der  neuen  Redaction  des  österreichisch-ungarischen  Zoll-  und 
Handelsbündnisses  vom  Jahre  1878  ist  nur  mehr  von  der  Wiederherstellung 
der  metallischen  Circulation  die  Rede. 

Die  Regierungen  zogen  sich  von  der  Währungsfrage  zurück ;  die  gesetzliche 
Silberwährung  blieb  vorläufig  noch  unangefochten.  Inzwischen  hatte  sich  vom 
Jahre  1851  bis  1875  die  Jahresausbeute  an  Gold  etwa  zehnmal  so  hoch  gestellt, 
als  sie  in  den  Vierziger-Jahren  war,  und  der  Antheil  der  Goldproduction  an 
der  gesammten  Edelmetallproduction  war  auf  15  bis  18  Procent  gQgan  3  Procent 
in  denVierziger  -Jahren  gestiegen;  die  Wertrelation  stand  1850  bis  1870  dauernd 
unter  1  :  15*5.  Man  hätte  in  dieser  Zeit  nahezu  kostenlos  zur  Goldwährung  über- 
gehen können ;  aber  dem  Gedanken  daran  lähmte  der  Zustand  der  Finanzen  und 
die  entwertete  Papiervaluta  die  Schwingen  ;  ein  blosser  Wechsel  des  Währungs- 
metalles  hätte  zunächst  doch  nur  eine  Goldrechnung,  aber  keine  Goldcirculation» 
erzeugen  können. 

Dennocli  ist  es  nicht  unwichtig,  darauf  hinzuweisen;  bis  zum  Jahre  1866 
wurde  Silber  in  London  ohne  Aufgeld  gehandelt  und  selbst  1873  bis  1874  hatte 
es  nur  5  Procent  Agio  gegen  Gold  zu  zahlen.  Dann  war  diese  „goldene'^  Zeit 
für  Oesterreich-Ungarn  einstweilen  vorüber;  bereits  im  Jahre  1879  war  die  Durch- 
schnittsrelation 1  :  18-3,  Silber  hatte  ein  Aufgeld  von  20  Procent  zu  zahlen  und 
unaufhaltsam  vollzog  sich  das  Sinken  des  Silberwertes. 


528  Inama-Sternegg. 

Während  man  aber  in  dem  ersten  Decennium  des  Ausgleiches  noch  an  die 
Einführung  der  Goldwährung  allerdings  mehr  theoretisch  dachte,  hatten  sich 
bereits  Ereignisse  vorbereitet,  welche  diesen  Gedanken,  auch  bei  gebesserter 
Finanzlage,  als  vorläufig  unausführbar  erscheinen  lassen  mussten^ 

Europa  w^ar  durch  die  Goldausbeuten  von  Amerika  und  Australien,  sowie 
von  Eussland  schon  hinlänglich  mit  Gold  gesättigt;  es  war  leicht  und  ohne 
Prämie  zu  erhalten.  Aber  auch  die  Silbergewinnung  begann  nachzuholen,  was 
die  vorausgegangene  Periode  versäumt  hatte;  es  war  an  eine  Minderbewertung 
des  Goldes  nicht  mehr  zu  denken;  der  nachhaltige  Silberzufluss  war  gesichert, 
aber  doch  keineswegs  so  gross,  um  eine  Entwertung  des  Silbers  besorgen  zu  müssen. 

Im  Jahre  1865  wurde  die  lateinische  Union  gegründet  und  damit  dem 
Gedanken  der  Doppelwährung  auf  einem  w^eiten  geld-  und  verkehrsreichen 
Gebiete  Geltung  verschafft.  Im  Jahre  1867  wurden  von  dem  damals  auch  politisch 
so  mächtigen  Frankreich  starke  Anstrengungen  zu  Gunsten  einer  Verallgemeinerung 
des  Systems  der  Doppelwährung  gemacht;  und  wenn  auch  diese  Bemühungen 
zunächst  erfolglos  waren,  so  blieb  doch  nach  wie  vor  die  Constellation  des 
allgemeinen  Edelmetallmarktes  diesem  Gedanken  günstig. 

Im  Jahre  1873,  als  das  Deutsche  Reich  sein  Goldwährungssystem  ausbaute, 
die  skandinavische  Union  nach  manchen  Schwierigkeiten  auf  der  Grundlage  der 
alleinigen  Goldwährung  zustande  kam,  da  trübten  sich  schon  die  Aspecte  der 
Doppelwährung. 

Im  Jahre  1875,  als  auch  Holland  zum  Golde  übergieng,  die  lateinische 
Union  (seit  1874)  die  Silberausprägung  auf  ein  Minimum  einschränkte,  die 
Eelation  sich  für  das  Silber  um  11  Procent  verschlechterte,  ja  im  Sommer  1876 
vorübergehend  auf  1  :  20  gekommen  war,  da  verschwand  auch  in  Oesterreich- 
Ungam  die  Doppelwährung  aus  dem  Kreise   ernsthafter  praktischer  Ei-wägungen. 

Alles,  was  der  spätere  Verlauf  der  Währungsverhältnisse  gebracht  hat, 
war  eine  ununterbrochene  Kette  von  Erscheinungen,  welche  den  Verfall  der  Rolle 
des  Silbers  als  Währungsmetall  bedeuteten:  die  beständige  Erhöhung  der  Relation, 
die  vollständige  Einstellung  der  Silberprägungen  in  der  lateinischen  Union  seit  1878, 
die  Einstellung  der  Silberprägungen  für  private  Rechnung  in  Oesterreich-Ungarn 
und  die  Aufhebung  der  Pflicht  der  österreichisch-ungarischen  Bank,  Silber  ein- 
zulösen, die  Annahme  der  Goldbasis  in  den  Balkanländern,  die  Silberpolitik 
Hollands.  Ja  sogar  der  sichere  Abnehmer  überschüssiger  europäischer  Silber- 
quantitäten, Indien,  versagte,  und  Japan  fieng  an,  das  scharfsinnig  herausgefundene 
Charakteristikum  modern  europäischen  Verkehres  auch  als  nothw^endiges  Attribut 
seiner  neuen  Civilisation  anzusehen,  indem  es   1870  den  Gold-Yen  schuf. 

Die  gewaltsamen  Eingriffe  in  diesen  natürlichen  Verlauf  der  Dinge,  welche 
mehrmals  die  amerikanischen  Silberpolitiker  versuchten,  erwiesen  sich,  trotz  ihrer 
relativen  Grossartigkeit,  dennoch  im  ganzen  als  wirkungslos.  Auch  den  amerika- 
nischen Verkehr  beherrscht  das  Gold,  wie  es  längst  schon  in  den  Ländern  der 
lateinischen  Union  die  führende  Rolle  übernommen  und  selbst  in  Oesterreich- 
Ungarn  „für  die  Totalität  unserer  Währungsverhältnisse  schon  unter  den  gegen- 
wärtigen Umständen  allerdings  nur  indirectden  Wertmaasstab  abgibt."  (Regierungs- 
motive Seite  6.) 


Die  neue  Währungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreich  und  Ungarn.        629 

Verhältnismässig  früh  haben  die  Kegierungen  von  Oesterreich  und  Ungarn 
diese  Situation  erkannt  oder  wenigstens  geahnt  und  ein  erster  energischer  Schritt 
zur  bereits  unvermeidlich  gewordenen  Währungsreform  folgte  dieser  Erkenntnis 
auf  dem  Fusse:  zu  Anfang  des  Jahres  1879  wurde  auf  Grund  ministerieller 
Weisungen  an  die  Münzstätten  in  Wien  und  Kremnitz  keine  weitere  Anmeldung 
von  Privaten  zur  Ausprägung  von  gesetzlicher  Landessilbermünze  mehr  ange- 
nommen und  fortan  nur  noch  in  bescheidenen  Grenzen  auf  Rechnung  der 
Regierungen  Silber  geprägt;  zugleich  wurde  die  Bank  für  die  Dauer  der  Sistierung 
der  freien  Silberprägung  der  Verpflichtung  enthoben,  Silberbarren  währungs- 
gemäss  anzunehmen. 

Das  war  eine  Maassregel  von  einschneidender  Bedeutung  für  die  Währungs- 
verhältnisse. Zunächst  vielleicht  nur  bestimmt,  um  dem  unnatürlichen  Anschwellen 
der  Umlaufsmittel  ein  Halt  zu  setzen,  wirkte  sie  doch  sofort  auch  in  ganz  anderer 
Weise;  sie  negierte  zunächst  eine  Wesenseigenschaft  jeden  Währungsgeldes, 
nämlich  die,  jederzeit  von  den  staatlichen  Münzstätten  in  beliebiger  Menge  erhältlich 
zu  sein  und  beschränkte,  ähnlich  wie  bei  der  Scheidemünze,  den  Eintritt  von 
neuem  Silber  in  den  Verkehr,  auf  die  von  den  Regierungen  einseitig  fixierten 
Beträge  der  jährlichen  Ausprägung;  sie  hielt  aber  zugleich  den  gesetzlichen 
Wert  des  Courantsilbers  nach  dem  Münzfusse  aufrecht,  obgleich  der  innere  Wert 
desselben  im  freien  Verkehre  diesem  gesetzlichen  Werte  nicht  mehr  entsprach; 
sie  schuf  daher,  wie  bei  den  Scheidemünzen,  einen,  wenn  gleich  sehr  beschränkten 
Umlauf  von  Geld  mit  theilweise  fiduciärem  Werte  und  sie  bewirkte,  wie  bei  den 
Scheidemünzen,  dass  dieser  fiduciäre  Wert  den  Wertbewegungen  des  eigentlichen 
factischen  Währungsgeldes,  der  Note,  folgte. 

Die  Einstellung  der  Silberprägungen  erhielt  also  nicht  dem  Silber  seinen 
Wert  —  das  konnte  keine  Regierungsmaassregel  —  sondern  sie  zwang  nur  den 
internen  Verkehr  von  der  bereits  eingetretenen  Entwertung  des  Silbers  abzusehen 
und  geringwertige  Gulden  ebenso  wie  geringwertige  Zwanzig-  und  Zehnkreuzer- 
Stücke  für  vollwertig  anzunehmen.  Nur  in  einem  Punkte  unterscheidet  sich 
fortan  das  Courantsilber  von  der  gesetzlichen  Scheidemünze:  es  kann  gesetzlich 
zu  Zahlungen  in  unbeschränktem  Maasse  verwendet  werden,  während  bei  der 
gesetzlichen  Scheidemünze  eine  beschränkte  Annahmepflicht  besteht.  Das  aber 
schwächt  die  Wirkung  nicht  ab,  sondern  steigert  sie,  denn  fortan  kann  mit  . 
fiduciärem  Silber  unbegrenzt  gezahlt  werden,  während  jedes  gut  geordnete 
Währungswesen  solchen  Zahlungen  ängstlich  knappe  Grenzen  zu  ziehen  sich  ver- 
pflichtet fühlt. 

Dass  dieser  Zustand  auf  die  Dauer  ebenso  unhaltbar  ist,  als  wie  der  Zustand 
einer  vollen  Preisgebung  unserer  Währungsbasis  an  die  unberechenbaren  Schwan- 
kungen des  Silberpreises,  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Beweise.  Allerdings  ist 
durch  die  Einstellung  der  Silberprägung  im  Jahre  1879  grosser  Schaden  verhütet 
worden  und  man  wird  den  Regierungen  dankbar  dafür  sein  müssen,  dass  sie  das 
bewirkt  haben.  Aber  wir  wissen  keinen  Augenblick,  ob  nicht  ungleich  grösserer 
Schaden  daraus  entsteht;  denn  nun  ist  unsere  Valuta  im  labilen  Gleichgewichte 
und  jede  Verrückung  des  Schwerpunktes  müsste  für  sie  gefährlich  werden.  Dass 
es  nicht  geschehen  ist,  verdanken  wir  den  ruhigen  Verhältnissen   der  Achtziger- 


(330  Inama-Sternegg. 

Jahre,  dem  besonnenen  Verhalten  unserer  Eegierungen,  dem  gebesserten  Vertrauen 
in  die  politische  und  finanzielle  Position  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie. 
Aber  es  ist  trotzdem  ein  beunruhigender  Zustand;  der  ganzen  Bevölkerung  wird 
ein  Stein  vom  Herzen  fallen,  wenn  die  Schicksale  unseres  Geldwesens  nicht  mehr 
von  den  täglichen  Constellationen  des  Geldmarktes  abhängig  sind. 

So  stellt  sich  denn  die  Eegelung  der  Valuta  als  eine  doppelte  Aufgabe  dar, 
deren  nächstgelegene  die  Aenderung  unserer  metallischen  Währungsbasis,  deren 
zweite,  erst  nach  erfolgreicher  Durchführung  der  ersten  zu  lösende,  die  definitive 
Regelung  unserer  Circulationsmittel  ist;  beide  gleich  wichtig  für  die  Wahrung 
der  volkswirtschaftlichen  und  staatswirtschaftlichen  Interessen,  beide  aber  auch 
geboten  vom  Standpunkte  der  rechtlichen  Ordnung  des  Geldwesens. 

il.   Die   Goldwährung. 

Von  den  beiden  Aufgaben,  welche  nach  dem  Vorstehenden  auf  dem  Gebiete 
unseres  Geldwesens  zu  erfüllen  sind,  wird  nach  den  Vorlagen  der  hohen  Regierung 
nur  die  eine,  die  Reform  unserer  Währungsverhältnisse,  sofort  in  Angriff 
genommen,  die  zweite  aber,  die  definitive  Ordnung  unserer  Circulation,  nur  vor- 
bereitet. Es  ist  aber  ausdrücklich  anerkannt,  dass  die  beiden  Gruppen  von 
Maassregeln  in  dem  innigsten  Zusammenhange  miteinander  stehen  und  ein  ein- 
heitliches letztes  Ziel,  die  volle  Ordnung  unseres  Geldwesens  im  Auge  haben. 

Dass  die  Regierang  mit  der  Reform  der  Währung  den  Anfang  machen 
will,  kann  nur  gebilligt  werden,  ja  es  ist  wohl  selbstverständlich.  Unser  gegen- 
wärtiges gesetzliches  Metallgeld  eignet  sich  eben  in  keiner  Weise  mehr  zu  Bar- 
zahlungen; sein  gegenwärtiger  gesetzlicher  Wert  ist  zum  grossen  Theil  fiduciär, 
und  eine  Herabsetzung  seines  gesetzlichen  Wertes  auf  seinen  wirklichen  inneren 
Wert  würde  unberechenbaren  Schaden  stiften,  abgesehen  davon,  dass  ja  auch 
das  nur  durch  eine  Währungsänderung  zu  erzielen  wäre. 

Um  also  das  Geldwesen  vollkommen  ordnen  zu  können,  müssen  wir  vorerst 
die  Währung  ändern,  darin  ist  sowohl  die  Reihenfolge  der  Operationen,  als  auch 
ihr  innerer  Zusammenhang  ausgedrückt. 

Nach  der  Regierungsvorlage  soll  an  die  Stelle  der  bisherigen  österreichischen 
Währung  die  Goldwährung  treten.  Dass  damit  die  unter  den  gegenwärtigen 
Verhältnissen  allein  mögliche  Grundlage  einer  rationellen  Währungsreform  gewählt 
ist,  geht  schon  aus  den  früher  gemachten  Bemerkungen  über  die  Schicksale 
des  Silbers  und  über  die  Bedingungen  der  Doppelwährung  hervor.  Aber  auch 
der  Umstand  ist  hiefür  bestimmend,  dass  Gold  die  rechtlich  oder  wenigstens 
factisch  alleinige  Basis  des  Geldwesens  in  allen  Ländern  ist,  mit  welchen  wir 
in  directem  Handelsverkehre  stehen;  90  Procent  des  Wertes  unseres  gesammten 
auswärtigen  Handels  betreffen  Goldwährungsländer.  Der  freie  geschäftliche  Verkehr 
der  civilisierten  Welt  kennt  überhaupt  keine  andere  Vertragsbasis;  wie  schon  im 
14.  und  15.  Jahrhundert  das  Gold  die  Wertbildung  des  grossen  Handelsverkehres 
beherrscht  hat,  obwohl  die  Silberwährung  allenthalben  Landeswährung  war,  so 
lehnt  auch  jetzt  trotz  einer  starken  silberfreundlichen  Strömung  die  amerikanische 
Geschäftspraxis  jeden  nicht  auf  Gold  gestellten  Vertrag  ab.  Es  gibt  eben  zu 
jeder    Zeit    ein    führendes    Metall    in    der   Weltwirtschaft,    das    mit    elementarer 


Die  neue  WähiTings-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreich  und  Ungarn.        631 

Gewalt,  allen  staatlichen  Normen  zum  Trotz,  sich  zur  Geltung  durchdringt;  und 
in  unserer  Zeit  ist  es  das  Gold. 

Mit  diesem  Princip  soll  also,  nach  dem  allgemein  giltigen  Begriff  der 
Währung  wie  nach  dem  Inhalte  der  vorliegenden  Gesetzentwürfe  und  nach  den 
ausdrücklichen  Erklärungen  der  Regierung  (Motive  Seite  7)  das  Gold  der  vom 
Gesetze  allein  anerkannte  allgemeine  Wertmaasstab  und  das  rechtlich  allein 
anerkannte  allgemeine  Zahlungsmittel  sein.  Doch  ist  dieser  Grundsatz  nicht  sofort 
in  vollem  Umfange  zu  verwirklichen,  sondern  nur  als  Abschluss  des  ganzen 
Processes  der  Währungsreform  in  Aussicht  genommen.  Die  in  dem  Gesetze  I 
statuierten  einstweiligen  Ausnahmen  von  dem  Grundsatze  der  Goldwährung 
charakterisieren  dasselbe  als  eine  Uebergangsgesetzgebung.  Diese  Ausnahmen 
sind  zunächst: 

1.  Die  Belassung  der  auf  Grund  des  kaiserlichen  Patents  vom  19.  Sep- 
tember 1857,  R.  G.  Bl.  Nr.  169,  ausgeprägten  Landessilbermünzen  zu  2,  1  und 
\  4  Gulden  österreichischer  Währung  im  gesetzlichen  Umlauf. 

2.  Die  fernere  Ausprägung  von  Landessilbermünzen  der  österreichischen 
Währung  aus  jenen  Silbermengen,  welche  sich  bereits  im  Besitze  der  Finanz- 
verwaltung befinden  oder  von  derselben  zu  Münzzwecken  erworben  sind  (Artikel  X). 
Diese  Ausprägung  soll  übrigens  nach  den  Erklärungen  der  Regierung  nur  nach 
deren  Ermessen  stattfinden  (Motive  Seite  19). 

Diese  Ausnahmen  werden  von  der  Regierung  theils  mit  finanziellen 
Erwägungen  (Motive  Seite  19),  theils  mit  dem  Hinweise  auf  den  fortlaufenden 
Bedarf  der  Monarchie  an  Zahlungsmitteln  und  insbesondere  an  solchen  in 
klingender  Münze  motiviert  (Motive  Seite  20).  In  ersterer  Beziehung  kommen 
offenbar  zumeist  Zinsenverluste  und  Entgang  an  Münzgewinn  in  Betracht;  in 
letzterer  Beziehung  ist  der  Umstand  maassgebend.  dass  Silbermünzen  des  neuen 
Währungssystems  nicht  rasch  und  reichlich  genug  in  Umlauf  gebracht  werden 
können,  um  bei  dem  Uebergange  einen,  wenn  auch  nur  vorübergehenden  Münz- 
mangel zu  verhüten,  und  dass  wir  vorläufig  noch  Silberverpflichtungen  haben, 
welchen  mit  Silbercourant  entsprochen  werden  muss. 

Diese  Vorsicht  der  Regierung  kann  nur  gebilligt  werden;  sie  ist  auch  bei 
allen  analogen  Vorgängen  angewendet  worden,  um  dem  Verkehre  Zeit  zu  gewähren, 
sich  den  neuen  Verhältnissen  ohne  Störung  anzubequemen. 

Die  weitere  Ausprägung  von  Landessilbermünzen  der  österreichischen 
Währung  dagegen  ist  nur  als  eine  Mögiickeit  ins  Auge  gefasst  und  wohl  nur 
für  vorübergehenden  aussergewöhnlichen  Bedarf  berechnet;  die  nothwendige  be- 
ständige Ergänzung  des  monetären  Bestandes  wird  durch  successive  Ausgabe 
von  Silbermünzen  des  neuen  Währungssystems  zu  bewirken  sein;  auch  liegt  es 
im  Interesse  des  Verkehres  und  gleichsam  auch  des  Prestige  der  Währungsreform, 
mit  der  Hinausgabe  von  Silbermünzen  des  neuen  Systemes  nicht  zu  zögern  und 
die  Zeit  und  den  Umfang  einer  parallelen  Verwendung  von  Silbermünzen  beider 
Systeme  möglichst  einzuschränken,  demnach  auch  mit  der  Neuausprägung  von 
Silbermünzen  alten  Stiles  nicht  ohne  zwingende  Gründe  vorzugehen. 

Es  handelt  sich  dabei  nach  den  Erklärungen  des  Herrn  Finanzministers 
in  der  Valutacommission  um  einen  .ungefährten  Betrag  von  32  Millionen  Gulden 


(532  Inama-Stemegg. 

Silber,  gegenüber  einer  Gesammtsumme  von  200  Millionen  Kronen  (zz  100 
Millionen  Gulden),  welche  in  Silbermünzen  des  neuen  WJihrungssystems  ausgeprägt 
^Verden  sollen. 

Nach  den  Erklärungen  Seiner  Excellenz  des  Herrn  Finanzministers  im 
Ausschusse  des  Abgeordnetenhauses  vom  22.  Juni  1.  J.,  wornach  diese  Silber- 
vorräthe  zur  Ausprägung  des  im  Artikel  IX.  des  ET.  Gesetzes  bestimmten  Betrages 
von  200  Millionen  Silberkronen  mit  in  Eechnung  gezogen  worden  sind,  ist  auch 
in  der  That  eine  Besorgnis  in  dieser  Eichtung  nicht  zu  hegen. 

In  gleicher  Weise  aber  beruhigt  auch  die  Fassung  des  Motivenberichtes, 
mit  welchem  die  Yalutavorlagen  im  ungarischen  Abgeordnetenhause  ausgestattet 
wurden,  wonach  dort  die  Ausprägung  der  Silbercourantmünzen  alten  Stiles  voll- 
ständig und  definitiv  eingestellt  werden  soll;  endlich  auch  noch  die  Bemerkung 
des  Herrn  Finanzministers  in  der  früher  erwähnten  Sitzung,  dass  die  Silber- 
guldenstücke zunächst  in  der  Hauptsache  in  der  österreichisch-ungarischen  Bank 
verbleiben  werden,  da  gerade  bei  den  Silbergulden  die  Gefahr  der  üeberwertigkeit 
näher  liege,  als  bei  den  Silberkronen,  und  man  jene  daher  nicht  ohneweiters 
hinausgeben  dürfe,  um  nicht  ihr  Abfliessen  nach  dem  Auslande  besorgen  zu  müssen. 

Nach  diesen  Aeusserungen  des  Herrn  Finanzministers  werden  also  die 
Silbergulden  überhaupt  im  gewöhnlichen  Verkehre  keine  grosse  Rolle  spielen, 
jedenfalls  von  der  Regierung  nicht  in  Verkehr  gesetzt  werden,  und  damit  erscheint 
jene  oben  angedeutete  Anomalie  eines  Fortbestandes  der  alten  Währungsform 
neben  der  neuen  Währungsform  des  Silbergeldes  zum  mindesten  in  ihrer  Bedeutung 
so  verringert,  dass  auch  die  in  Artikel  X  der  Finanz  Verwaltung  zu  ertheilende 
Ermächtigung,  nöthigenfalls  selbst  nach  Einführung  der  Goldwährung  noch 
Silbergulden  österreichischer  Währung  zu  prägen,  unbedenklich  ist. 

Im  übrigen  ist  durch  den  Artikel  X  des  ersten  Gesetzes  der  vorläufig 
aufrecht  erhaltene  Umlauf  von  Silbercourant  österreichischer  Währung  dennoch 
sofort  seiner  Währungseigenschaft  im  Sinne  eines  selbständigen  Wertmaasstabes 
entkleidet  und  der  neuen  gesetzlichen  Goldwährung  eingefügt,  indem  der  legale 
Wert  des  Courantsilbers  österreichischer  Währung  im  festen  Verhältnisse  aus 
iler  neuen  Währungsbasis,  dem  Golde,  abgeleitet  wird  (Artikel  X). 

Es  wird  sich  also  auch  nicht  sagen  lassen,  dass  das  Gesetz  für  die  Ueber- 
gangszeit  zwei  Währungen  nebeneinander  bestehen  lasse,  es  erhält  vielmehr  nur 
dem  bisherigen  Courantsilber,  das  ja  ohnehin  schon  seit  1879  seine  volle 
Währungseigenschaft  eingebüsst  hat,  vorläufig  noch  die  eine  Function  eines 
Währungsgeldes  aufrecht,  volles  Zahlungsmittel  im  inländischen  Verkehre  zu 
sein;  aber  auch  diese  Function  des  Courantsilbers  österreichischer  Währung  wird 
fortan  nur  auf  der  Grundlage  der  gesetzlichen  Goldwährung  ausgeübt. 

Eine  weitere  Ausnahme  von  dem  Principe  der  Goldwährung,  wodurch  das 
vorliegende  Gesetzeswerk  gleichfalls  als  Uebergangsgesetzgebung  charakterisiert  ist, 
liegt  in  den  Bestimmungen  der  Artikel  XXIII  und  XXIV  des  I.  Gesetzes, 
wonach  die  auf  österreichische  Währung  lautenden  Papiergeldzeichen  einst- 
weilen noch  mit  voller  gesetzlicher  Kraft  im  Umlauf  erhalten  werden,  mag  es 
sich  dabei  um  Zahlungen  handeln,  welche  gesetzlich  in  österreichischer  Währung 
oder  in  der  neuen  Kronenwährung  zu  leisten  sind.  Doch  sind  auch  diese  Papier- 


Die  neue  Währuiigs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreich  und  Ungarn.         (333 

geldzeichen  insofern  sofort  der  neuen  gesetzlichen  Goldwährung  eingefügt,  als  in 
denselben  Artikeln  ihr  legaler  Wert  in  festen  Verhältnissen  aus  der  neuen 
Währungsbasis,   dem  Golde,   abgeleitet  wird.  (Artikel  XXIII.) 

Auch  bezüglich  dieses  Umlaufes  wird  sich  nicht  von  dem  Nebeneinander- 
bestehen mehrerer  Währungen  reden  lassen.  Gold  allein  wird  der  Wertmaasstab 
sein,  Gold  allein  wird  einen  unbeschränkten  Umlauf  haben;  die  volle  Zahlkraft 
des  Courantsilbers  österreichischer  Währung  wie  des  Papiergeldes  ist  schon  durch 
die  Contingentierung  ihrer  umlaufenden  Beträge  eine  beschränkte. 

Aber  auch  in  dieser  sehr  restringierten  Aufrechterhaltung  des  bisherigen 
Geldsystems  bedeutet  doch  das  Nebeneinanderbestehen  von  goldenen,  silbernen 
und  papierenen  Umlaufsmitteln  verschiedener  Systeme,  aber  doch  mit  gleicher 
voller  Zahlkraft,  eine  Unzukömmlichkeit  für  den  Verkehr  und  eipe  Gefahr  für 
das  Gelingen  des  ganzen  Eeformwerkes.  So  sehr  es  daher  auch  als  unvermeidlich 
bezeichnet  werden  muss,  in  der  von  dem  Gesetzentwurfe  angedeuteten  Weise 
vorzugehen,  so  liegt  doch  anderseits  in "  diesen  Erwägungen  eine  Aufforderung, 
sowohl  die  Ersetzung  des  Silbercourant  österreichischer  Währung,  als  auch  die 
Fundierung  des  Staatspapiergeldes  derselben  durch  Courantgeld  der  Goldwährung 
nicht  lange  zu  verzögern  und  damit  wenigstens  einen  vorläufigen  Abschluss  der 
Währungsreform  herbeizuführen. 

Die  Einführung  oder  vorläufige  Aufrechterhaltung  einer  sonstigen  Aus- 
nahme von  dem  Princip  der  Goldwährung  hat  der  Gesetzentwurf  nicht  in  Aussicht 
genommen;  insbesondere  ist  in  den  Gesetzesvorlagen  keine  Rede  davon,  dass  ein 
Silbercourantgeld  des  neuen  Systems  geschaffen  werden  solle.  Im  Gegentheil 
bestimmt  das  Gesetz  I,  dass  die  Silbermünzen  der  Kronenwährung  nur  bis  zum 
Betrage  von  50  Kronen  allgemein  gesetzliche  Zahlkraft  haben  (Artikel  XIX),  mit 
geringerem  Feingehalt  als  die  Goldmünzen  (Artikel  XU),  und  nur  auf  Eechnung 
des  Staates  in  dem  contingentierten  Betrage  von  140  Millionen  Kronen  (für  die 
diesseitige  Reichshälfte)  ausgeprägt  werden  (Artikel  XIV),  lauter  Bestimmungen, 
welche  über  den  Charakter  des  Silbergeldes  des  neuen  Systems  als  Scheidemünze 
keinen  Zweifel  bestehen  lassen.  Dagegen  wird  demselben  allerdings  innerhalb 
der  Scheidemünzen  eine  bevorzugte  Stelle  eingeräumt,  indem  den  Silberkronen 
bei  allen  öffentlichen  Gassen  unbeschränkte  Zahlkraft  zugestanden  ist  (Artikel  XIX), 
bei  ihrer  Ausprägung  auf  die  Einhaltung  des  Normalgewichtes  und  des  Normal- 
gehaltes gesehen  und  demnach  eine  allerdings  weiter  als  bei  den  Goldmünzen 
gezogene  Toleranzgrenze  bestimmt  wird.  (Artikel  XII.)  Diese  bevorzugte  Behandlung 
des  Silbergeldes  des  neuen  Systems  bedeutet  aber  keineswegs  die  Schaffung  eines 
Silbercourants,  sondern  ist  nur  eine  allerwärts  als  nothwendig  befundene  Rücksicht 
auf  den  Kleinverkehr,  welcher  sich  ganz  vorzugsweise  dieser  Münzen  zur  Erfüllung 
seiner  wichtigsten  Verbindlichkeiten  bedient  und  daher  auch  einen  begründeten 
Anspruch  darauf  hat,  dass  ihm  der  innere  Wert  und  die  Zahlkraft  dieser 
Münzen  nicht  mehr  geschmälert  werde,  als  dies  mit  den  Principien  einer  gesunden 
Münzpolitik  unvermeidlich  ist. 

Dieser  in  den  vorliegenden  Gesetzen  genau  umschriebenen  Stellung  des 
Silbers  innerhalb  des  neuen  Währungssystems  gegenüber  hat  sich  die  hohe 
Regierung  in  wiederholten,  während  der  parlamentarischen  Verhandlung  abgegebenen 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  IV.  Heft.  41 


g34  Inama- Sternegg. 

Erklärungen  die  Freiheit  der  Entschliessung  in  Bezug  auf  die  mit  der  Einbe- 
rufung der  Silbergulden  notbwendig  werdende  definitive  Eegelung  der  Silberfrage 
vorbehalten  zu  müssen  geglaubt.  Da  diese  Entscheidung  wesentlich  von  der 
künftigen  Gestaltung  des  Edelmetallmarktes  abhängt  und  diese  wenigstens  in 
Bezug  auf  das  Silber  in  der  That  im  gegenwärtigen  Augenblicke  unberechenbar 
ist,  so  erschien  es  nicht  angemessen  und  auch  durch  nichts  geboten,  jetzt  schon 
in  dieser  Frage  Stellung  zu  nehmen  und  die  von  der  hohen  Eegierung  mit  Recht 
in  Anspruch  genommene  Freiheit  der  Entschliessung,  welche  ja  doch  der  Cognition 
des  Parlaments  unterliegt,  durch  ein  vorläufiges  Votum  in  dieser  Sache  zu 
beeinträchtigen. 

IM.    Das  Weptvenhältnis  der   Goldwährung  zur  östeppeichischen 

Wähpung. 

Mit  der  Annahme  des  Principes  der  Goldwährung  ist  zugleich  auch  die 
Nothwendigkeit  gegeben,  ihr  Wertverhältnis  zu  der  österreichischen  Währung 
gesetzlich  festzustellen.  Eine  Eelation  überhaupt  derzeit  gesetzlich  nicht  aufstellen 
zu  wollen,  während  doch  schon  alle  Vorbereitungen  zur  Annahme  der  Gold- 
währung und  zur  Aufnahme  der  Barzahlungen  getroffen  werden  sollen,  nicht 
bloss  eine  Goldbeschaffung  sondern  auch  schon  eine  Goldprägung  eingeleitet 
werden  soll  —  das  wäre  eine  Unmöglichkeit.  Die  gesetzliche  Eelation  ist  die 
Grundbedingung  für  die  Wertbeständigkeit  unserer  bisherigen  Währung  und  damit 
für  die  sichere  Hinüberleitung  derselben  in  die  neue  Währung,  für  die  gesetzliche 
Anordnung  und  Durchbildung  der  Goldwährung,  für  die  Gewinnung  einer  wenigstens 
annähernden  Sicherheit  darüber,  dass  die  Annahme  des  Principes  der  Goldwährung 
und  seine  Ausgestaltung  nicht  bloss  theoretisch  unanfechtbar,  sondern  auch  in 
der  That  dem  Staate  und  dem  Volke  zum  Nutzen  gereichen  werde. 

Für  diese  Aufgabe  der  Feststellung  des  Wertverhältnisses  der  Goldwährung 
zur  österreichischen  Währung  sind  nun  die  gangbaren  Vorstellungen  des  Wert- 
verhältnisses der  beiden  Edelmetalle  zu  einander  nicht  anwendbar.  Wenn  in 
anderen  Staaten  bei  einem  Währungswechsel  die  Frage,  ob  das  althergebrachte 
Verhältnis  1  :  15*5  aufrecht  erhalten  oder  modificiert  werden  solle,  die  Cardinal- 
frage  bildete,  so  handelte  es  sich  dabei  immer  nur  um  das  Verhältnis  zweier  voll- 
kommener Metallwährungen  zueinander.  Oesterreich-Üngarn  aber  hat  der  Gold- 
währung keine  vollkommene  Metallwährung  gegenüber  zu  stellen. 

Das  Silber  ist  wichtiger  Währungseigenschaften  schon  seit  langer  Zeit  ent- 
kleidet; es  bildet  in  dem  Zustande,  in  welchem  es  sich  innerhalb  unseres  Geld- 
wesens befindet,  kein  geeignetes  Vergleichsmoment  mehr;  denn  der  gegenwärtige 
Legalwert  unseres  Silbergeldes  ist  ein  abgeleiteter,  wie  der  der  Scheidemünzen. 
Die  metallische  Grundlage  unserer  Währung  ist  seit  1879  imaginär  und  eine  ganz 
selbständige  Wertbildung  des  Papiergeldes  stellte  sich  ein,  von  welcher  fortan 
das  Silbergeld  seinen  Wert  abgeleitet  hat.  Wir  haben  in  der  That  nichts  als 
eine  Papierwährung,  welche  wir  mit  der  Goldwährung  in  Bezug  auf  ihren  Wert 
in  Vergleichung  setzen  können. 

Zu  diesem  Werte  der  Papierwährung,  einer  Creditbewertung  im  vollen 
Sinne  des  Wortes,  muss  die  Goldwährung  in  gesetzliche  Eelation  gesetzt  werden. 


Die  neue  Währungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreich  und  Ungarn.        635 

Die  Aufgabe  schien  sehr  einfach  zu  sein.  Täglich  setzte  ja  die  Börse  diese 
Eelation  factisch  fest  und  alle  Geschäfte,  bei  welcher  sie  in  Frage  kam,  regelten 
sich  nach  diesen  täglichen  Festsetzungen. 

Man  brauchte  nur  das  factische  Verhältnis  rechtlich  anzuerkennen,  und 
konnte  mit  der  Ueberzeugung  der  Unverantwortlichkeit  und  jener  Gerechtigkeit, 
welche  das  stetig  fliessende  Leben  gewährt,  vor  die  Bevölkerung  treten.  Freilich 
stellte  sich  bei  näherer  Betrachtung  der  Verhältnisse  alsbald  die  Wahrnehmung 
ein,  dass  auch  hiemit  dem  natürlichen  Verlaufe  der  Dinge  Einhalt  geboten, 
also  ein  Eingriff  in  die  freie  Bildung  der  Eelation  doch  unvermeidlich  sei.  Denn 
da  die  Eelation  die  Grundlage  aller  Berechnungen  für  die  Goldbeschaffung,  für 
das  Münzsystem,  für  die  finanziellen  und  volkswirtschaftlichen  Eücksichten  der 
verschiedensten  Art  bildet,  so  musste  doch  von  einer  Tagesrelation  schon 
bei  dem  Entwürfe  der  Gesetzvorlagen  ausgegangen  werden,  welche  dann  sofort 
höchst  störend  für  den  weiteren  Verlauf  der  freien  Bildung  der  Eelation,  steigernd 
oder  hemmend,  werden  musste  und  überdies  doch  der  Eegierung  das  Odium  der 
Wahl  eines  bestimmten  Augenblickes  mit  dem  vollen  Maasse  der  Verantwort- 
lichkeit aufbürdete. 

Es  ist  trotzdem  begreiflich,   wenn  der   Gedanke,   an   die   Tagesrelation   an- 
zuknüpfen,   insbesondere    in    kaufmännischen    Kreisen    gehegt   wurde,    wo    man 
gewöhnt  ist,  rasch  zu  liquidieren  und  sich  mit  den  momentanen  Ereignissen  abzu- 
finden. Aber  ein  anderes  ist  doch  die  Eelation,    welche  nur   auf  den  Tag  wirkt 
und  etwas  anderes  die  Eelation,  welche  nun  bleibend  sein  soll  in  ihren  Wirkungen. 
Von  der  gesetzlich    gewählten    Eelation    geht    eine    ganz    bestimmende    Wirkung 
auf   alle    Geschäfte   aus,    welche   noch    der   Liquidierung   harren   und  nun   nach 
dieser  Eelation  liquidiert  werden  müssen,  mögen   sie   zu   welchem   früheren  Zeit- 
punkte immer  abgeschlossen  worden  sein.  Es  ist  daher  nicht  minder  begreiflich, 
wenn  das  Verlangen  derjenigen  Kreise,  welche  Vermögensfragen,  die  auf  längere 
Zeit  zurückreichen,  zu  ordnen  haben,    auf   eine    Eelation    gerichtet   war,    welche 
nicht  von  den  Constellationen  des  Tages  bestimmt  ist,   sondern   mindestens   den 
Ausdruck    eines    mittleren    Wertes    unserer    bisherigen    Währung,    einen    Durch- 
schnittscours,  zur  Geltung  bringen  würden.  Dieses  Verlangen  trat  umso  bestimmter 
hervor,  als  die  Tagescourse  gerade  in  der  Zeit,  in  welcher  die  Frage  der  Eelation 
in   dem   Mittelpunkte   der   öffentlichen  Discussion   stand,   erheblich   günstiger  für 
unsere  Papierwährung  standen,  als  je  zuvor,  seit  mit  der  Einstellung  der    freien 
Silberprägung  die  Situation  unserer  Währungsverhältnisse  geschaffen  worden  war. 
Ganz  anders  war  von  Anfang    an   jene  Gegnerschaft   des  Tagescourses   zu 
beurtheilen,  welche  aus  den  Kreisen  des  geschäftsmässigen  Exports  entstand.  Hier 
handelte   es   sich   zwar  auch   nur    um    kurzfristige   Geschäfte,    welche    sich    den 
Tagescoursen  anpassen  mussten,  aber  man  empfand  doch  weithin  ein  Unbehagen 
über  die  fortschreitend  sinkende  Tendenz  unseres  Goldagios,  aus  dessen  früherem 
Steigen    diese   Kreise    einen    nicht    unerheblichen  Vortheil    gezogen    hatten.    Die 
Gegnerschaft  gegen  den  Tagescours  war  hier  also   eigentlich  nur   das  Verlangen 
nach  Herbeiführung  einer  rückläufigen  Bewegung,  wenigstens  bis  zu  dem  Augen- 
blicke,   in   welchem    die    Eegelung  unserer   Geldverhältnisse    dem    schwankenden 
Werte   unserer  Valuta   definitiv    ein    Ende    bereiten    würde.   Dort    war    also    der 

41* 


^36  Inama-Sternegg. 

Standpunkt  der  Grercchtigkeit  angerufen,  hier  stand  man  ausschliesslich  auf  dem 
Standpunkte  des  Interesses,  wenn  auch  immerhin  eines  volkswirtschaftlichen 
Interesses;  denn  dass  es  die  Gerechtigkeit  verlange,  dass  unsere  Währung  möglichst 
entwertet  werde,  das  konnte  doch  nicht  behauptet  werden. 

Für  das  Verhalten  der  Eegierung  in  dieser  schwierigen  Frage  bot  der 
Standpunkt  des  Durchschnittscourses  einen  entschiedenen  Vortheil  dar.  Es  konnte 
zwar  auch  hier  noch  zweifelhaft  sein,  welche  Periode  von  Jahren  der  Durch- 
schnittsberechnung zu  Grunde  zu  legen  sei  und  diese  Rechnung  musste  ein  ver- 
schiedenes Ergebnis  liefern,  je  nachdem  einfach  das  arithmetische  Mittel  oder 
irgend  ein  anderes  gewählt  wurde,  welches  den  späteren  Cours  als  die  Function 
des  früheren  Coursstandes  auffasst;  aber  jedenfalls  war  dem  Subjectivismus  der 
Regierung  damit  eine  viel  engere  Grenze  gezogen  und  sie  konnte  mit  dem  Hinweise 
auf  das  Ergebnis  der  Berechnung  aus  lauter  ganz  abgeschlossenen  Thatsachen 
selbt  den  Schein  einer  willkürlichen  Beeinflussung  der  Relation  von  sich  abweisen. 

Vom  Standpunkte  der  Gerechtigkeit  aber  ist  überhaupt  kein  bestimmter 
Cours  zu  ermitteln,  also  auch  keine  feste  Norm  für  das  Verhalten  der  Eegierung 
oder  der  Gesetzgebung  in  der  Frage  der  Relation  aufzustellen;  auf  dem  Boden 
der  Papierw^ährung  gibt  es  nur  ein  positives  Recht  der  Relation,  das  ist  das 
Recht  der  täglichen  Schwankung.  Wäre  es  anders,  so  würde  bei  der  gesetzlichen 
Fixierung  des  Tagescourses  das  Recht  der  Vergangenheit,  bei  der  gesetzlichen 
Fixierung  des  Durchschnittscourses  nicht  bloss  das  Recht  der  Gegenwart  und  der 
voraussichtlichen  Zukunft,  sondern  auch  noch  eine  unübersehbare  Menge  indivi- 
dueller Rechte  aus  älterer  Zeit  verletzt,  indem  doch  die  Zahl  der  Verträge, 
welche  gerade  unter  der  Herrschaft  des  nun  ermittelten  Durchschnittscourses  ge- 
schlossen wurden,  verschwindend  gering  ist  gegenüber  denjenigen,  welche  auf  Grund 
einer  höheren  oder  einer  niedrigeren  Relation  entstanden. 

Die  gesetzliche  Feststellung  der  Relation  wird  also  immer  von  dem  Boden 
de'r  realen  Gestaltung  des  Wertverhältnisses  unserer  Papierwährung  aus,  unter 
Berücksichtigung  der  volkswirtschaftlichen  Wirkungen  desselben  vorgenommen 
werden  müssen;  die  volkswirtschaftliche  Richtigkeit  der  getroffenen  Wahl  wird 
sich  darin  äussern  müssen,  dass  die  Wertproportionen  der  Ansprüche  und 
Leistungen  und  die  Preisverhöltnisse  der  einzelnen  Güter  aus  dieser  Ursache  gar 
keine  Veränderunsr  erfahren. 

Während  nun  diese  Probe  auf  die  Richtigkeit  der  getroffenen  Wahl  selbst- 
verständlich erst  in  der  Zukunft  angestellt  werden  kann,  beruht  das  Urtheil 
über  die  voraussichtliche  Richtigkeit  derselben  auf  einer  eingehenden  Würdigung 
aller  Factoren  welche  dem  Einflüsse  der  gewählten  Relation  unterliegen  und 
möglicherweise  auf  die  künftige  Preisgestaltung  einwirken  können. 

Dabei  ist  nun  vor  allem  die  Natur  der  Relation  scharf  im  Auge  zu  be- 
halten. Diese  drückt  das  Wertverhältnis  unserer  Papierwährung  zur  herrschenden 
Goldwährung  aus;  in  dem  Aufgelde,  welches  für  Papier  zu  zahlen  ist,*  um  Gold 
im  gleichen  Nominalbetrage  zu  erhalten,  ist  die  Minderwertigkeit  unserer  Papier- 
währung gegenüber  dieser  Goldwährung  ausgedrückt.  Das  Goldagio  unserer  Noten 
ist  also  gleichsam  der  Distanzmesser  unserer  Entfernung  von  der  herrschenden 
Goldwährung.     Bei     der    allgemeinen    Herrschaft    des    Goldmaasstabes    für    die 


Die  neue  Währungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreich  und  Ungarn.        (337 

Messung    des    Wertes    internationaler    Verbindlichkeiten    ist    es   begreiflich,    dass 
auch  unser  Papiergeld  nur  mehr  mit  diesem  Maasstabe  gemessen  wird. 

Daraus  folgt  zunächst,  dass  der  Wert  unseres  Papiergeldes  nicht  an  dem 
Silber  gemessen  werden  kann,  dass  also  auch  nicht  von  einer  überwertigen, 
sondern  nur  von  einer  unterwertigen  Valuta  die  Rede  sein  kann,  und  es  fallen 
damit  alle  die  Besorgnisse  hinweg,  welche  in  Bezug  auf  die  allgemeine  Wert- 
und  Preisbildung  aus  einer  angeblichen  unnatürlichen  W^ertsteigerung  unserer 
Valuta  resultieren  sollen.  Solche  Vergleiche  sind  Anachronismen,  sie  setzen  noch 
immer  die  Silberwährung  bei  uns  voraus,  die  factisch  nicht  mehr  besteht. 

Es  folgt  daraus  aber  auch,  dass  der  Wert  unserer  Papiervaluta  nicht  ge- 
messen werden  darf  an  dem  Verhältnisse  zwischen  Gold  und  Silber,  welches  in 
den  Ländern  der  lateinischen  Union  noch  immer  wie  1  :  15*5  künstlich  aufrecht 
erhalten  wird,  in  vielen  Staaten  bei  dem  seinerzeitigen  Uebergange  aus  der 
Silberwährung  zur  Goldwährung  im  gleichen  oder  ähnlichen  Betrage  zu  Grunde 
gelegt  war,  und  auch  bei  uns  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  in  ähnlichem 
Ausmaasse  angewendet  und  von  der  Gesetzgebung  anerkannt  worden  ist.  Nicht 
weil  wir  diese  Eelation  selbst  nie  anerkannt  hätten,  sind  wir  nicht  an  sie  ge- 
bunden, sondern  weil  gar  kein  Grund  vorliegt,  bei  der  gegenwärtigen  Ordnung 
unserer  Währungsverhältnisse  uns  an  eine  Relation  gebunden  zu  erachten,  welche 
früher  einmal,  unter  ganz  anderen  Voraussetzungen,  angenommen  war  und  weil 
diese  Relation  jetzt  überall  als  antiquiert  gilt.  Nur  insoweit,  als  wir  dem  Aus- 
lande bestimmte  Versprechungen  in  dieser  Relation  gemacht  haben,  müssen  wir 
sie  auch  in  derselben  erfüllen,  im  übrigen  aber  ist  der  Wert  unserer  Papier- 
valuta dem  Golde  gegenüber  durch  den  Cours  der  Weltmärkte  auch  für  jedes 
Ausland  auf  das  allerbestimmteste  bezeichnet. 

Nach  den  Gesetzesvorlagen  soll  nun  der  Uebergang  zur  Goldwährung  auf 
der  Basis  von  100  :  119  erfolgen,  welches  Verhältnis  auch  ungefähr  aus  dem 
Durchschnittscourse  der  letzten  dreizehn  Jahre  resultiert;  diesem  Verhältnisse 
haben  sich  auch  schon  die  Tagescourse  angepasst,  und  es  ist  schon  durch  die 
vorläufige  Festsetzung  der  Relation  eine  Stetigkeit  unserer  Valutacourse  erreicht 
worden,  wie  sie  früher  nie  zu  verzeichnen  war.  Um  somehr  kann  füglich  erwartet 
werden,  dass  nach  der  gesetzlichen  Fixierung  der  Relation  diese  Stetigkeit  sich 
auch  in  der  Zukunft  erhalten  werde,  so  lange  nicht  ganz  ungewöhnliche  Ereig- 
nisse eintreten.  Damit  ist  aber  auch  jenen  Factoren,  welche  früher  ihren  Ein- 
fluss  auf  die  täglichen  Variationen  der  Course  ausgeübt  haben  und  welche  damit 
auch  die  tägliche  Preisbildung  unsicher  und  schwankend  gemacht  haben,  ihr 
Einfluss  auf  die  normale  Preisgestaltung  entzogen.  Abgesehen  von  den  ganz 
vorübergehenden  Gewinnen  und  Verlusten,  welche  infolge  der  geringen  Abweichung- 
der  gewählten  Relation  von  den  unmittelbar  vor  dieser  Wahl  herrschenden  Coursen 
entstanden  sind,  wird  nicht  anzunehmen  sein,  dass  bei  stabil  gewordenen  Coursen 
überhaupt  eine  Verschiebung  der  Wertproportionen  und  der  Preissätze  aus  dem 
Anlasse  der  Fixierung  der  Relation  entstehen  werde,  und  damit  sind  alle  die 
Vermuthungen  über  die  in  den  einzelnen  Interessenkreisen  zu  erwartende  Bevor- 
theilung  oder  Benachtheiligung  zum  mindesten  als  ganz  unwahrscheinlich  zu  be- 
zeichnen. Vielmehr   ist  mit  der  erlangten  Stetigkeit  der  Course  ein  erster,  schon 


ß38  In  ama- Sternegg. 

jetzt  erzielter  und  nicht  zu  unterschätzender  Gewinn  für  die  ganze  Volkswirtschaft 
zu  verzeichnen. 

Sollte  sich  dazu  noch,  wie  es  jetzt  schon  den  Anschein  hat,  die  Hoffnung 
yerwirklichen,  dass  durch  die  gewählte  Relation  ein  Zufluss  von  Gold  im  freien 
Verkehre  erleichtert  werde,  so  wird  darin  nur  ein  weiteres  Argument  zu  ihren 
Gunsten  erblickt  und  die  Hoffnung  gestärkt  werden  können,  dass  auch  die 
ferneren  Schwierigkeiten  der  Währungsreform  nicht  unüberwindlich  sind. 

Im  übrigen  aber  wird  es  die  Aufgabe  des  Münzsystems  sein,  durch  eine 
den  gangbarsten  Preisstufen  der  Artikel  des  täglichen  Lebensbedarfes  angepasste 
Stückelung  der  Münzeinheit  zu  verhindern,  dass  der  Währungswechsel  zum 
unberechtigten  Anlasse  von  Preissteigerungen  im  Kleinverkehre  missbraucht  werde. 

Alle  diese  Erwägungen  führen  schliesslich  doch  zu  dem  Ergebnisse,  dass 
die  von  der  Regierung  vorgeschlagene  und  dem  Entwürfe  des  Münzsystems 
zu  Grunde  gelegte  Relation  die  relativ  beste,  den  Verhältnissen  und  Interessen 
der  Gesammtheit  angemessenste  ist.  Vorläufig,  und  auch,  wenn  diese  Vorlage 
Gesetzeskraft  erlangt  haben  wird,  ist  freilich  auch  mit  dieser  Relation  keine 
endgiltige  Fixierung  des  Wertverhältnisses  unserer  Papierwährung  zum  Golde 
geschaffen,  denn  noch  immer  behält  ja  diese  Papierwährung  wichtige  Functionen 
für  unser  Geldwesen  und  immerhin  können  Ereignisse  eintreten,  welche  das 
gesetzlich  fixierte  Wertverhältnis  in  der  Praxis  nicht  aufrecht  erhalten  lassen. 
Ja,  man  hat  es  dieser  Art  der  Wertbestimmung,  wie  sie  das  Gesetz  vornehmen 
will,  geradezu  zum  Vorwurfe  gemacht,  dass  sie  zwar  eine  weitere  Besserung  des 
Wertes  unserer  gegenwärtigen  Valuta  ausschliesse,  gegen  eine  Verschlechterung 
derselben  aber  nicht  zu  schützen  vermöge.  Eine  solche  Verschlechterung  ist 
aber  doch  nur  unter  zwei  Voraussetzungen  denkbar:  durch  eine  allgemeine 
Erschwerung  der  Goldbeschaffung  und  durch  Verschlechterung  unseres  Credites. 
In  der  letzteren  Hinsicht  kann  und  wird  eine  vorsichtige  Finanzgebarung  und 
eine  zielbewusste  Friedenspolitik  schützen;  in  der  ersteren  Hinsicht  allerdings 
sind  die  Factoren  von  uns  nicht  zu  beherrschen,  und  darum  liegt  auch  hierin 
eine  energische  Aufforderung,  die  definitive  Regelung  unserer  Geldverhältnisse 
consequent  im  Auge  zu  behalten;  damit  allein  ist  auch  diese  Gefahr  definitiv 
zu  beseitigen. 

IV.   Der   Münzfuss. 

Mit  der  Wahl  der  Relation  soll  der  Thatsache,  dass  der  Wert  unserer 
österreichischen  Währung  sich  zu  dem  Werte  der  fremden  Goldwährung  wie 
100  :  119  verhält,  auch  eine  gesetzliche  Anerkennung  gegeben  werden. 

Damit  ist  zwar  der  Wahl  des  Münzfusses  nicht  unbedingt  präjudiciert, 
aber  es  ist  derselben  doch  schon  die  Richtung  gewiesen.  Es  wäre  nämlich 
principiell  immerhin  auch  bei  dieser  Relation  möglich,  zum  Münzfusse  der 
deutschen  Reichswährung  oder  der  lateinischen  Union  überzugehen;  nur  müssten 
in  diesem  Falle  alle  bisher  auf  österreichische  Währung  gestellten  Preise  im 
Verhältnisse  von  100  :  119  in  die  neue  Währung  umgerechnet  werden. 

In  einer  Zeit,  in  welcher  der  Gedanke  einer  internationalen  Münzeinheit 
mit    einer    gewissen  Begeisterung    gehegt    wurde,    würde    man  vielleicht    um    der 


Die  neue  Währungs-  und  Münzgesetzgebung  von  0 esterreich  und  Ungarn.        639 

Erreichung  dieses  Vortheiles  willen  die  Uebelstände  jener  Umrechnung  leichteren 
Herzens  in  Kauf  genommen  haben;  unsere  Zeit  ist  in  Bezug  auf  internationale 
Münzeinigung  überhaupt  durch  die  Erfahrung  von  mehr  als  zwanzig  Jahren 
ziemlich  entnüchtert;  den  Glauben  an  einen  internationalen  Münzbund  aber, 
welcher  ^och  die  Grundbedingung  für  die  volle  Fruchtbarmachung  einer  inter- 
nationalen Münzeinheit  bilden  würde,  den  hat  sie  vollends  verloren. 

Unter  diesen  Umständen  ist  die  Rücksicht  auf  den  möglichen  Anschluss 
Oesterreich-Ungarns  an  eines  der  bestehenden  Münzsysteme  begreiflicherweise  von 
Anfang  an  sehr  in  den  Hintergrund  getreten  und  die  Rücksichtnahme  auf  die 
Bedürfnisse  des  eigenen  inneren  Verkehres  haben  sich  in  entscheidender  Weise 
Geltung  verschafft.  Anstatt  dem  internationalen  Verkehre  eine  Münze  zu  schaffen, 
welche  ohne  Umrechnung  nach  allen  Richtungen  hin  zu  Zahlungen  verwendet 
werden  könnte,  war  die  Aufgabe  vielmehr  die,  für  den  internen  Verkehr  einen 
Münzfuss  zu  entwickeln,  vermittels  dessen  nun  auch  wirklich  erreicht  würde, 
was  schon  mit  der  Wahl  der  Relation  angestrebt  war,  nämlich  eine  Umwandlung 
der  österreichischen  Währung  in  die  Goldwährung,  ohne  dass  überhaupt  eine 
Umrechnung  der  Preise  aus  der  alten  in  die  neue  Währung  erfolgen  müsse. 

War  dieses  Ziel  zu  erreichen,  dann  konnte  auch  gehofft  werden,  dass  sich 
der  Uebergang  ohne  jede  Störung  des  Verkehres,  ohne  jede  sonst  bei  Münz- 
veränderungen nur  allzuleicht  sich  einstellende  Vertheuerung  des  Lebens  voll- 
ziehen werde;  man  konnte  erwarten,  dass  sich  unter  dieser  Voraussetzung  auch 
die  neue  Währung  rasch  einbürgern  und  keinerlei  Misstrauen  in  dieselbe  ent- 
stehen werde.  Dann  war  auch  jede  Gefahr  einer  Benachtheiligung  einzelner  Kreise 
der  Bevölkerung  zu  Gunsten  anderer  Kreise  beseitigt;  ohne  krampfhafte  Er- 
schütterungen, ja  ohne  jede  Störung  des  Verkehres  konnte  das  grosse  Ziel  einer 
Hinüberleitung  unseres  Geldwesens  auf  eine  den  modernen  Ansprüchen  ent- 
sprechende metallische  Basis  erreicht  werden. 

Dabei  kamen  neben  diesem  durchschlagenden  Gesichtspunkte  allerdings 
auch  noch  andere  Rücksichten  bei  der  Wahl  des  Münzfusses  zur  Geltung.  Es 
war  vor  allem  darauf  Bedacht  zu  nehmen,  dass  der  gegenwärtige  Wert  der 
österreichischen  Währung  in  dem  rechnungsmässig  entsprechenden  Ausmaasse 
von  Gold  in  der  neuen  Münzeinheit  seinen  Ausdruck  finde  und  dass  auch  dieser 
AusdrucK  keinerlei  Umrechnung  nöthig  mache,  sondern  unmittelbar  ein  Ausdruck 
der  Wertgleichheit  der  alten  und  der  neuen  Hauptmünze  sei. 

Das  hätte  nun  allerdings  streng  genommen  zu  der  Consequenz  führen 
müssen,  als  die  neue  Münzeinheit  einen  Gulden  Gold  anzunehmen,  welcher 
einem  Gulden  österreichischer  Währung  vollkommen  gleichgestellt  worden  wäre. 
Gegen  die  volle  Annahme  dieser  Consequenz  haben  sich  triftige  praktische 
Bedenken  ergeben:  die  leichte  Verwechslung  mit  dem  seit  1870  vorhandenen, 
wenn  schon  nicht  währungsmässigen  Goldgulden  und  das  Bedürfnis,  gleich  den 
meisten  der  vorgeschrittensten  europäischen  Staaten  zu  einer  kleineren  Münz- 
einheit überzugehen.  So  wurde  die  Hälfte  eines  Guldens  Gold  nach  dem  neuen 
System  als  Münzeinheit  gewählt,  bei  welcher  die  Umrechnungen  ausserordentlich 
leicht  und  ganz  unbedenklich  erschienen,  und  dieser  neuen  Münzeinheit  wurde 
der   Name    Krone    gegeben,    welcher    auf   den  Münzen    selbst  unter  Festhaltung 


640  Inania-Sternegg. 

bc'^teheudeii  alterthümlichen  Gebrauches  der  Müiiztechnik  in  der  lateinischen 
Aiisdrucksweise  abgekürzt  als  Cor.  erscheint.  Da  diese  Modificationen  des  oben 
entwickelten  Principes  dasselbe  in  der  Hauptsache  nicht  alterieren,  mag  es  wohl 
zulässig  erscheinen,  dieselben  angesichts  der  bereits  erfolgten  Zustimmung  der 
bereits  zum  Worte  gekommenen  legislativen  Factoren  beider  Eeichshälften  auch 
dem  hohen  Herrenhause  zur  unveränderten  Annahme  zu  empfehlen. 

Ein  Uebelstand  musste  bei  der  Entwicklung  dieses  Münzsystems  allerdings 
mit  in  den  Kauf  genommen  werden:  Die  Hauptgoldmünze  des  neuen  Systems 
hat  ein  ganz  irrationelles  Gewicht  erhalten,  sowohl  im  Eohgewichte  als  im  Fein- 
gewichte; es  lässt  sich  daher  auch  das  einzelne  Goldstück  nur  mit  besonders 
hiefür  adjustierten  Gewichtsstücken  genau  nachmessen;  aber  diesen  nur  vom 
Standpunkte  einer  ideal  ausgestatteten  Münztechnik  geltend  zu  machenden  Uebel- 
stand wird  der  Verkehr  gar  nicht  empfinden  und  überdies  theilt  ihn  das  neue 
österreichisch-ungarische  Münzsystem  mehr  oder  weniger  mit  den  Münzsystemen 
aller  Goldwährungsländer. 

Endlich  sollte  mit  der  Wahl  des  Münzfusses  doch  auch  nach  Thunlichkeit 
auf  die  Bedürfnisse  des  ausländischen  Verkehres  Eücksicht  genommen  und  daher 
darauf  gesehen  werden,  dass  bis  auf  nicht  vermeidbare  kleine  Bruchtheile  die 
Umrechnung  der  neuen  Münzeinheit  in  die  Münzeinheiten  jener  Staaten,  mit 
denen  wir  den  intensivsten  Verkehr  pflegen,  also  einerseits  des  Deutschen  Eeiches 
und  Grossbritanniens,  anderseits  aller  Länder  mit  dem  Münzsystem  der  lateinischen 
Union  sich  in  runden  Zahlen  vollzieht.  Das  ist  denn  auch  annähernd  gelungen, 
indem  in  ganz  unbedeutend  abgerundeten  Beträgen  1  Krone  =  85  Pfennige  zu 
10  Pence  i=  1  Francs  5   Centimes  gelten  wird. 

Die  weitere  Ausbildung  des  Systems  der  Goldmünzen,  die  Stückelung  der- 
selben zu  20  und  zu  10  Kronen,  die  äussere  Gestalt  derselben,  Toleranz,  Passier- 
gewicht und  Prägegebür  schliesst  sich  theils  enge  an  die  bewährte  Praxis  der 
übrigen  Staaten  mit  Goldwährung  und  ist  anderntheils  in  der  Eücksicht  auf  die 
Bedürfnisse  unseres  Verkehres  wohl  begründet.  Ebenso  rechtfertigt  sich  die  Ein- 
stellung der  Prägungen  von  Goldgulden  (nach  dem  Gesetze  vom  9.  März  1870) 
und  die  Aufrechterhaltung  der  Ducatenprägung,  welche  vorwiegend  in  unserem 
Handelsinteresse  gelegen  ist. 

Für  die  weitere  Gliederung  des  Münzsystems  kommen,  nachdem  die  Gesetzes- 
vorlagen nicht  von  einer  gemischten,  sondern  nur  von  der  Goldwährung  aus- 
gehen, nur  Scheidemünzen  in  Betracht.  Dass  hier  vor  allem  eine  ausgiebige 
Verwendung  von  Silber  eintreten  muss,  ist  ebensowohl  in  unseren  bisherigen 
Währungszuständen  und  den  infolge  davon  vorhandenen  Silberbeständen,  als 
auch  in  der  allgemeinen  Lage  begründet,  in  der  sich  das  Silber  auf  dem  Edel- 
metallniarkte  befindet;  auch  wird  dieser  Vorgang  durch  die  analogen  Zustände 
des  Münzwesens  in  den  übrigen  Staaten  der  Goldwährung  gerechtfertigt. 

Die  Silberkrone  wird  die  wichtigste  Münze  des  Kleinverkehres  sein;  daher 
rechtfertigt  sich  auch  ein  relativ  hoher  Feingehalt  (^''^*''/iooo)'  ^^^^  ^^^^  ^^^^^  ^i" 
gleicher  Feingehalt  wie  bei  den  Courantsilbermünzen  des  alten  Systems  oder  bei 
den  Goldmünzen  des  neuen  Systems  gerechtfertigt  wäre.  Auch  die  Vorschriften 
über  die  Genauigkeit  in  der  Einhaltung  des  Eohgewichtes  und  des  Feingewichtes 


Die  neue  Währungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreioh  und  Ung;ini.         (341 

sind    in    dieser    hervorragenden    Function    der  Silberkrone    für   den  Kleinverkehr 
wohl  begründet. 

Der  Höhe  des  Contingents  der  Silberkronenprägung  (Artikel  XIV)  kann 
nur  eine  vorläufige  Bedeutung  beigemessen  werden.  So  lange  noch  Silbergulden 
alten  Systems  und  Staatspapiergeld  in  Umlauf  ist,  wird  voraussichtlich  die 
Prägung  den  gesetzlichen  Maximalbetrag  nicht  zu  erreichen  brauchen.  Ergibt 
sich  aber,  wie  wahrscheinlich,  nach  definitiver  Beseitigung  dieser  älteren  Zahl- 
mittel das  Bedürfnis  nach  vermehrtem  Silberumlaufe  im  Rahmen  der  Goldwährung, 
so  wird  diesem  Bedürfnisse  durch  Erhöhung  des  Contingentes  Rechnung  getragen 
werde  können,  ohne  dass  dadurch  das  Münzsystem  oder  gar  die  Währung 
irgendwie  tangiert  würde. 

Für  die  kleinen  Theilmünzen  sollen  an  die  Stelle  des  reinen  Kupfers  zwei 
Metalle,  reines  Nickel  und  Bronze,  in  Verwendung  kommen.  Die  hiefür  geltend 
gemachten  technischen  und  finanziellen  Gründe  lassen  diese  Maassregel  als  voll- 
kommen gerechtfertigt  erscheinen.  Dasselbe  gilt  von  den  Bestimmungen  über  die 
Ausstattung,  die  weiteren  Modalitäten  und  die  nach  dem  Metalle  verschieden 
abgestufte  Zahlkraft  der  verschiedenen  Theilmünzen. 

Die  Contingente  dieser  beiden  Arten  von  Scheidemünzen  zusammen  ent- 
sprechen ungefähr  den  bisher  ausgegebenen  Beträgen  von  Scheidemünzen  in 
Silber  und  Kupfer,  wenigstens  dann,  wenn  angenommen  werden  darf,  dass  ein 
Theil  der  Zwanzig-Kreuzerstücke  (circa  sieben  Millionen  von  etwa  20  Millionen 
Gulden)  durch  Ein-Kronenstücke  im  Umlaufe  ersetzt  wird. 

Die  Aufrechterhaltung  der  Prägung  von  sogenannten  Levantiner  Thalern 
ist  durch  die  triftigsten  Handelsinteressen  der  Monarchie  noch  immer  geradezu 
gefordert.  Ihr  Umlauf  in  der  Levante  ist  ein  schöner  und  wertvoller  Beweis  des 
grossen  Ansehens,  dessen  sich  unsere  Monarchie  auch  in  fernen  Verkehrsgobieten 
seit  der  Regierung  der  Kaiserin  Maria  Theresia,  glorreichen  Angedenkens,  zu 
erfreuen  hat. 

Das  im  Gesetze  entwickelte  Münzsystem,  sowie  die  mit  demselben  gegebene 
ausschliessliche  Rechnung  in  der  Kronenwährung  soll  übrigens  nicht  sofort  mit 
dem  Inkrafttreten  dieses  Gesetzes  obligatorisch  sein;  eine  Reihe  von  legislativen 
und  administrativen  Maassnahmen,  welche  den  geordneten  Uebergang  in  die  neuen 
Währungsverhältnisse  regeln  sollen,  die  Ordnung  der  Verhältnisse  des  allgemeinen 
Münzverkehres,  die  Bestimmungen  über  die  Anwendung  der  neuen  Währung  auf 
die  Rechtsverhältnisse,  die  Verfügungen  über  die  vorläufig  noch  in  Umlauf  ver- 
bleibenden Landessilbermünzen  österreichischer  Währung,  ferner  die  Verfügungen 
über  die  Einlösung  der  Staatsnoten,  die  Bestimmungen  über  die  Ordnung  der 
Papiergeldcirculation  und  endlich  die  Verfügungen  über  die  Aufnahme  der  Bar- 
zahlungen werden  durch  besondere  Gesetze  festgestellt  werden  müssen,  durch 
welche  dann  erst  das  ganze  Werk  seinen  Abschluss  findet. 

Dagegen  werden  alle  Münzen  des  neuen  Systems  wohl  alsbald  nach  dem 
Inkrafttreten  dieses  Gesetzes  successive  zur  Ausprägung  gelangen  und  können 
innerhalb  der  ihnen  von  dem  Gesetze  zuerkannten  Zahlkraft  auch  zu  allen  Zah- 
lungen verwendet  werden,  welche  gesetzlich  in  österreichischer  Währung  —  sei 
es  in  klingender  Münze  oder  nicht  —  zu  leisten  sind.  (Artikel  XXIV.) 


g42  Inama- Sternegg. 

V.   Den   Münz-   und   Wähpungsventrag  mit   Ungarn. 

Der  von  dem  Ministerium  der  im  Keichsrathe  vertretenen  Königreiche  und 
Länder  mit  dem  Ministerium  der  Länder  der  ungarischen  Krone  auf  Grund  des 
staatsrechtlichen  Verhältnisses  beider  Theile  der  Monarchie  abzuschliessende 
Münz-  und  Währungsvertrag  soll  auf  die  Dauer  von  18  Jahren,  das  heisst  bis 
zum  Ende  des  Jahres  1910,  abgeschlossen  werden,  und  falls  er  nicht  ein  Jahr 
vor  seinem  Ablaufe  von  einem  der  vertragschliessenden  Theile  gekündigt  würde, 
auf  weitere  zehn  Jahre  in  Geltung  verbleiben. 

Damit  ist  dem  neu  zu  begründenden  Vertragsverhältnisse  jedenfalls  eine 
genügend  lange  Dauer  gesichert,  um  das  Work  der  Währungsreform  und  die 
damit  in  untrennbarem  Zusammenhange  stehenden  weiteren  Schritte  zur  definitiven 
Regelung  unserer  Geldverhältnisse  zum  vollständigen  Abschlüsse  bringen  zu 
können.  Es  sind  damit  auch  die  Münz-  und  Währungsverhältnisse  losgelöst  von 
der  zehnjährigen  Dauer  des  Zoll-  und  Handelsbündnisses  zwischen  den  beiden 
Reichshälften,  und  damit  für  die  ungestörte  Erhaltung  eines  der  wichtigsten 
Fundamente  für  die  höhere  wirtschaftliche  Einheit  der  Monarchie  neue  Garantien 
geschaffen. 

Die  einzelnen  Bestimmungen  des  Vertrages  beziehen  sich  theils  auf  die 
volle  Erhaltung  der  Münz-  und  Währungseinheit  auch  auf  der  neuen  Währungs- 
basis, theils  auf  die  Wahrung  des  vollsten  Einvernehmens  bei  allen  Schritten, 
welche  jedes  der  beiden  Staatsgebiete  zur  Ausgestaltung  seines  Münzwesens  selbst- 
ständig zu  unternehmen  in  der  Lage  ist,  theils  endlich  in  der  Sicherstellung 
eines  vollkommen  gleichzeitigen  und  harmonischen  Vorgehens  in  allen  weiteren 
Angelegenheiten,  welche  die  definitive  Ordnung  des  Geldwesens  in  beiden  Theilen 
der  Monarchie  erfordern  werden. 

Insoweit  bei  der  Regelung  dieser  Angelegenheiten  eine  Auseinandersetzung 
über  die  damit  begründeten  Rechte  und  Verbindlichkeiten  nach  fest  bestimmten 
Antheilssätzen  in  Frage  kommt,  ist  allgemein  der  Quotenschlüssel  von  70  Procent 
für  die  im  Reichsrathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder,  und  30  Procent  für 
die  Länder  der  ungarischen  Krone  bestimmt. 

Dieses  Quotenverhältnis  entspricht  zwar  nicht  dem  für  die  Tragung  der 
Kosten  der  beiden  Theilen  der  Monarchie  gemeinsamen  Angelegenheiten  dermalen 
staatsrechtlich  begründeten  Verhältnisse.  Aber  es  muss  anerkannt  werden,  dass 
es  sich  in  dem  gegenwärtigen  Augenblicke,  in  welchem  die  Festsetzung  dieses 
Quotenverhältnisses  für  die  Währungsreform  nothwendig  ist,  um  eine  von  keiner 
Seite  bestrittene,  durch  verschiedene  specielle  Abmachungen  in  Geldangelegenheiten 
der  Monarchie  begründete  Rechtsbasis  handelt,  und  dass  der  gegenwärtige 
Anlass  nicht  geeignet  war,  an  eine  Revision  dieser  älteren  vertragsmässigen  Fest- 
stellungen zu  gehen. 

VI.   Die  sonstigen  Correcturen   unseres  Währungswesens. 

Nachdem    in   Gemässheit   des   Artikels  IX   des  I.  Gesetzes   die    durch  das 

Gesetz  vom  9.  März  1870,   R.-G.-Bl.  Nr.  22,  eingeführten  Goldmünzen  zu  acht 

und  vier  Gulden  nicht  mehr  geprägt  werden  sollen,  ergab  sich  die  Nothwendig- 

keit,    angesichts    der    bestehenden    in    solchen  Münzen   zu  leistenden  öffentlichen 


Die  neue  Währungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreich  und  Ungarn.        643 

und  privaten  Verpflichtungen,  dafür  zu  sorgen,  dass  aus  dieser  Einstellung  der 
Prägungen  keinerlei  Störungen  im  Eechtsverkehre  entstehen.  Auf  dem  Boden 
unseres  bürgerlichen  Gesetzbuches  ergibt  sich  für  diesen  Fall  eine  einzige,  aber 
auch  vollkommene  Lösung  dieser  Frage;  nach  §  989  a.  b.  G.-B.  sind  für  den 
Fall,  dass  Zahlungen  in  einer  bestimmten  Münzsorte  verabredet  wurden,  der- 
gleichen Münzsorten  aber  zur  Zeit  der  Rückzahlung  im  Staate  nicht  in  Umlauf 
sind,  zunächst  ähnliche  Geldstücke  in  solcher  Zahl  und  Art  zur  Zahlung  zu 
verwenden,  dass  der  Gläubiger  den  zur  Zeit  des  Darleihens  bestandenen,  inneren 
Wert  dessen,  was  er  gegeben  hat,  erhalte. 

Als  solche  ähnliche  Geldstücke  ergeben  sich  aber  die  nach  dem  I.  Gesetze 
zu  prägenden  Landesgoldmünzen  der  Kronenwährung,  da  ja  ähnliche  Goldstücke 
einer  ausländischen  Währung  nicht  als  bei  uns  im  Umlaufe  befindlich  ange- 
nommen werden  können.  Das  dabei  angewendete  Verhältnis  von  42  Goldgulden 
zz  100  Kronen,  entspricht  dem  in  dem  Gesetze  vom  Jahre  1870  und  in  dem 
neuen  Gesetze  über  die  Kronenwährung  (Artikel  III)  normierten  Feingehalte 
dieser  Münzsorten. 

Der  im  IV.  Gesetze  vorgeschlagene  Zusatz  zu  Artikel  87  der  Sta- 
tuten der  österreichisch-ungarischen  Bank  ist  ebenfalls  mit  der  beab- 
sichtigten Währungsreform  im  engsten  Zusammenhange.  Wie  es  zum  Wesen  des 
Währungsgeldes  gehört,  dass  es  jedermann  jederzeit  in  gesetzlich  unbeschränk- 
tem Maasse  zugänglich  sein  muss,  so  gehört  es  anderseits  zum  Wesen  einer 
Zettelbank,  als  des  grossen  Regulators  des  freien  Umlaufes,  dass  das  Währungs- 
geld und  das  Metall  desselben  jederzeit  ungehinderten  Zutritt  zur  Bank  haben 
und  durch  dieses  Reservoir  auch  wieder  Eingang  in  den  allgemeinen  Verkehr 
finden  können.  Die  Norm  für  dieses  Verhalten  der  Bank  besteht  darin,  dass 
dieselbe  gesetzlich  verpflichtet  wird,  das  geprägte  und  ungeprägte  Währungs- 
metall jederzeit  zum  gesetzlichen  Mütizfusse  gegen  ihre  Noten  einzulösen. 

Diese  gesetzliche  Verpflichtung  der  Bank  besteht  dermalen  nach  §  87  des 
Bankstatuts  bezüglich  der  gesetzlichen  Silbermünzen  der  österreichischen  Währung. 
Bezüglich  der  Silberbarren  ist  sie  seit  1879  suspendiert.  Entsprechend  der  freien 
Goldausprägung,  welche  mit  dem  Inslebentreten  der  vorliegenden  Gesetze  begonnen 
werden  soll,  ist  es  wichtig,  dass  die  Bank  diese  ihre  regulierende  Function  auch 
bezüglich  des  Goldumlaufes  sofort  aufnehmen  könne.  Aus  diesem  Grunde  muss 
auch  die  hier  vorgeschlagene  gesetzliche  Bestimmung  sofort  dem  Bankstatute 
hinzugefügt  werden,  während  eine  Reihe  anderer  mit  der  successiven  Regelung 
unseres  Geldwesens  nothwendig  werdenden  Reformen  der  Bankgesetzgebung  erst 
in  einem  späteren  Zeitpunkte  in  Angriff  zu  nehmen  sind. 

Es  konnte  aber  doch  anderseits  nicht  daran  gedacht  werden,  dass  die  Bank 
gleichzeitig  mit  der  Uebernahme  der  Verpflichtung  zur  Einlösung  gesetzlicher 
Goldmünzen  und  Goldbarren  von  der  Verpflichtung  freigesprochen  werde, 
gesetzliche  Silbermünzen  einzulösen,  da  dieselben,  wenn  auch  nicht  mehr  volles 
Währungsgeld,  so  doch  vollgiltige  Zahlmittel  geblieben  sind.  In  einer  wohl- 
verstandenen Bankpolitik  ist  es  aber  allerdings  begründet,  dass  die  Bank  von 
ihrer  vorläufig  unangetasteten  Berechtigung,  weiterhin  Silberbarren  zur  Verstärkung 
ihres  Metallschatzes  einzulösen,  keinen  Gebrauch  mehr  mache,  und  der  Beschluss 


g^^  Inama-Sternegg. 

der  ausserordentlichen  Generalversammlung  der  Bank  vom  23.  Mai  1.  J.,  in  diesem 
Sinne  vorzugehen  und  sich  auch  den  beiden  Eegierungen  gegenüber  zu  einem 
solchen  Verhalten  zu  verpflichten,  zeigte,  dass  die  Bank  die  gegenwärtige  Situation 
richtig  erfasst  und  in  loyaler  Weise  ihre  Mitwirkung  zur  Umwandlung  unseres 
Währungswesens  zur  Verfügung  stellt. 

Angesichts  dieses  Verhaltens  der  Bank  lässt  es  sich  wohl  auch  mit 
Bestimmtheit  erwarten,  dass  die  Bank,  so  viel  an  ihr  liegt,  nichts  verabsäumen 
wird,  um  die  geldersparenden  Einrichtungen  ihres  Geschäftsverkehrs,  welche 
allerdings  erst  mit  der  Aufnahme  der  Barzahlungen  ihre  volle  Wirksamkeit 
äussern  können,  in  einer  den  weitestgehenden  Bedürfnissen  des  Verkehres 
entsprechenden  Weise  auszugestalten  und  dass  sie  auch  im  Abrechnungsverkehre 
mit  dem  Staate  ihre  guten  Dienste  nicht  versagen  werde. 

VII.    Die  Vorbereitungen   zur    Fundienung   und    Einlösung  des 
Staats  Papiergeldes. 

Streng  genommen  bilden  zwar  alle  in  Berathung  stehenden  Gesetzvorlagen 
eine  Vorbereitung  zur  Fundierung  und  Einlösung  des  Staatspapiergeldes.  Ohne 
die  Beziehung  auf  dieses  Ziel  würde  die  Währungsreform  und  der  damit  verbundene 
Aufwand  mindestens  zu  einem  grossen  Theile  seiner  inneren  Berechtigung- 
entbehren. Ganz  speciell  diesem  Ziele  zugewendet  ist  jedoch  das  V.  Gesetz, 
durch  welches  die  Ermächtigung  zu  einem  Goldanlehen  im  Betrage  von  183,456.000 
österreichischen  Goldgulden  ertheilt  werden  soll. 

Mit  dem  Erlös  aus  dieser  Anleihe  soll  die  Möglichkeit  geschaffen  werden. 
in  grösserem  Maasstabe  als  dies  mittels  der  in  Gold  vorhandenen  Cassenbestände 
des  Staates  möglich  wäre,  an  die  Ausprägung  von  Landesgoldmünzen  der  Kronen- 
währung für  Eechnung  des  Staates  zu  schreiten. 

Schon  die  Ziffer  des  in  Anspruch  zu  nehmenden  Anleihebetrages  lässt  mit 
vollkommener  Deutlichkeit  ersehen,  dass  es  sich  hiebei  nur  um  die  Beschaffung 
der  Mittel  zur  Fundierung  und  Einlösung  der  Staatsnoten  handle.  Denn  von  den 
312  Millionen  Gulden  österreichischer  Währung,  welche  als  gesetzliches  Contingent 
der  eine  gemeinsame  schwebende  Schuld  bildenden  Staatsnoten  im  Umlauf  ist, 
entfallen  nach  dem  Quotenschlüssel  von  70  :  30  auf  die  im  Eeichsrathe  ver- 
tretenen Königreiche  und  Länder  218,400.000  fl.  oder  436*8  Millionen  Kronen, 
welche,  mit  Beziehung  auf  das  Verhältnis  ihres  Feingehaltes  zu  dem  Feingehalte 
der  österreichischen  Goldgulden  umgerechnet,  eben  den  in  Anspruch  genommenen 
Anlehensbetrag  ergeben.  Auch  ist  nach  den,  dem  Gesetze  V  beigegebenen  Motiven 
und  nach  den  ausdrücklichen  Erklärungen  Seiner  Excellenz  des  Herrn  Finanz- 
ministers jeder  Zweifel  darüber  ausgeschlossen,  dass  der  Erlös  der  projectierten 
Anleihe  zu  irgend  anderen  Zwecken  als  ausschliesslich  zum  Zwecke  der  Fundierung 
und  Einlösung  der  Staatsnoten  verwendet  werde.  Die  in  dem  Gesetze  selbst 
aufgestellten  Cautelen,  welche  der  Legislative  und  der  von  derselben  eingesetzten 
Staatsschuldencontrolscommission  die  weitestgehende  Ingerenz  in  Bezug  auf  die 
Verfügung  und  die  Controle  über  diese  Geldbeträge  einräumt,  entsprechen  nicht 
nur  der  ausserordentlich  grossen  Bedeutung,  welche  diesem  staatlichen  Goldschatze 
für  die  glückliche  Lösung   des   Problems    der   Valutaregelung    zukommt,    sondern 


Die  neue  Wälirungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreich  und  Ungarn.        (545 

sind  auch  speciell  im  Interesse  der  Stärkung  des  vollsten  Vertrauens  der 
Bevölkerung  in  den  Ernst  und  das  zielbewusste  Vorgehen  der  Regierung  in 
dieser  Angelegenheit  gewiss  von  den  günstigsten  Wirkungen. 

Die  Wahl  der  mit  dem  Gesetze  vom  18.  März  1876  creierten  Goldrente 
als  Anlehensform  wird  damit  begründet,  dass  dieses  Papier  auf  dem  internationalen 
Markte  schon  beliebt  ist  und  die  Einführung  einer  ganz  neuen  Anlehensform 
zunächst  mit  manchen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen  hätte. 

In»  keinem  unmittelbaren  Zusammenhange  mit  der  Währungsreform  und  mit 
den  weiteren  Vorbereitungen  zur  Aufnahme  der  Barzahlungen  steht  die  letzte 
(VI.)  Gesetzvorlage,  betreffend  die  Convertierun  g  der  5procentigen  steuerfreien 
Notenrente  und  zweier  Kategorien  von  Eisenbahnschuldverschreibungen.  Doch 
bildet  die  damit  intendierte  Zinsenersparung  immerhin  ein  wichtiges  Glied  im 
Finanzplan  der  Valutaregelung  und  findet  sowohl  hierin,  als  auch  in  den  gegen- 
wärtigen Cours-  und  Zinsfussverhältnissen  unserer  Staatsschuldverschreibungen 
genügende  Rechtfertigung. 

VIII.   Die   Aufnahme  der   Barzahlungen   als   letztes  Ziel   den 
Valutaregelung. 

Die  sechs  Gesetzvorlagen  enthalten  zwar  keine  directe  Bestimmung  über 
die  Aufnahme  der  Barzahlungen,  und  im  Laufe  der  Verhandlungen  ist 
wiederholt  darauf  hingewiesen,  dass  die  Lösung  dieser  Frage  der  Zukunft  vor- 
behalten werden  müsse,  weil  sich  dermalen  die  Bedingungen  und  die  voraus- 
sichtlichen Wirkungen  der  Aufnahme  der  Barzahlungen  noch  keineswegs  mit 
genügender  Sicherheit  überblicken  lassen. 

Nichtsdestoweniger  ist  jeder  Zweifel  darüber  ausgeschlossen,  dass  das  in 
Angriff  genommene  Reformwerk  dieses  letzte  Ziel  nicht  nur  überhaupt,  sondern 
in  ganz  bestimmter  Weise  in  Aussicht  nimmt. 

Es  wird  daher  zum  Sclilusse  wohl  auch  nothwendig  sein,  die  Vorlagen 
auf  den  Punkt  hin  zu  prüfen,  ob  durch  sie  alles  geschehen  ist,  was  überhaupt 
gegenwärtig  schon  zur  Vorbereitung  der  Erreichung  dieses  letzten  und  höchsten 
Zieles  der  Geldreform  der  österreichisch -ungarischen  Monarchie  geschehen  konnte. 

Wesentliche  Voraussetzungen  für  die  Aufnahme  der  Barzahlungen  sind 
zweifellos  durch  die  vorliegenden  Gesetzentwürfe  schon  erstellt;  die  Einführung 
der  Goldwährung,  die  Herbeiführung  der  Wertstetigkeit  unserer  Valuta,  die 
vorsichtige  Vermeidung  aller  Umstände,  welche  eine  grössere  Geldknappheit 
herbeiführen  könnten,  die  Verpflichtung  der  österreichisch- ungarischen  Bank  zur 
Einlösung  von  Gold  und  die  Aufnahme  einer  Goldanleihe  zum  Zwecke  der 
Fundierung  und  seinerzeitig.:'n  Einlösung  der  Staatsnoten  sind  ebenso  deutliche, 
wie  wirksame  Etappen  auf  diesem  Wege.  Bezüglich  keiner  dieser  Maassregeln 
besteht  ein  berechtigter  Zweifel  an  der  Erreichung  des  zunächst  damit  beab- 
sichtigten Erfolges;  der  Boden  ist  geebnet,  auf  welchem  nun  die  der  österreichisch- 
ungarischen Volkswirtschaft  günstigen  Verhältnisse  auch  für  eine  naturgemässe 
Verbesserung  unserer  Geldverhältnisse  wirksam  werden  können.  Insbesondere 
werden  schon  durch  die  nunmehr  in  Angriff  zu  nehmenden  Reformen  die 
Bedingungen    wesentlich    günstiger,     unter    welchen    ein    freier    Geldzufluss    aus 


546  Inama-Sternegg. 

allgemein  volkswirtscliaftliclieii  Ursachen  sich  entfalten  kann.  War  dieser  bisher 
trotz  einer  günstigen  Handels-  und  Zahlungsbilanz  durch  die  minderwärtige 
Papiervaluta  gehemmt,  so  wird  künftig  unser  internationales  Activum  auch  zu 
directen  Geldzuflüssen  führen ;  durch  die  in  diesem  Jahre  abgeschlossenen  Handels- 
verträge mit  den  mitteleuropäischen  Staaten  sind  überdies,  soweit  das  bei  der 
allgemeinen  Eichtung  der  Handelspolitik  überhaupt  möglich  war,  die  Bedingungen 
für  die  Erhaltung  des  Exportes  vorläufig  wenigstens  hinlänglich  gesichert.  Auch 
aus  unserer,  infolge  der  Papierwährung  chronischen  Geldknappheit  mid  dem 
daraus  resultierenden  höheren  Zinsfusse  werden  wir  zunächst  eine  Förderung 
dieser  Geldzuflüsse  erwarten  können,  um  dann  umso  sicherer  auch  auf  eine  den 
allgemeinen  Verkehr  belebende  Ermässigung  unseres  Zinsfusses  rechnen  zu  können. 

Speciell  wird  auch  der  zusehends  wachsende  Capitalreichthum  unserer 
Volkswirtschaft  ein  gesunder  Nährboden  einer  steigenden  Circulation  werden 
können,  insbesondere  wenn  er  sich  mehr  in  der  Eichtung  einer  harmonischen 
Ausbildung  der  einheimischen  Bedarfsdeckung  als  in  der  einseitigen  Eichtung  der 
Productionssteigerung  entwickelt.  Eine  zunehmende  Emancipation  vom  auswärtigen 
Capitalmarkte  bei  steigender  Befruchtung  der  einheimischen  Arbeit  und  erhöhter 
Consumtionskraft  der  gesammten  Bevölkerung  ist  das  Ziel  dieser  Entwicklung, 
mit  welcher  auch  der  Erhaltung  der  einheimischen  Goldbestände  und  der 
dauernden  Ordnung  unseres  Geldwesens  die  besten  Bedingungen  zu  schaffen  sind. 

Allerdings  liegt  es  nicht  in  der  Macht  der  Gesetzgebung  und  der  Eegierung, 
diese  Gunst  der  allgemeinen  volkswirtschaftlichen  Verhältnisse  zu  erzwingen  und 
zu  erhalten.  Aber  Wesentliches  trägt  hiezu  immerhin  eine  zielbewusste  Wirtschafts- 
politik bei.  Ihr  fällt  die  Hauptaufgabe  bei  den  weiteren  Schritten  zu,  welche  in 
der  Eichtung  nach  vollständiger  Ordnung  des  Geldwesens  zu  machen  sind. 
Klugheit  und  Umsicht,  aber  auch  Ausdauer  und  lebhaftes  Gefühl  der  Pflicht 
werden  sie,  wie  bisher,  auch  in  der  Folge  leiten  müssen ;  und  alle  Kreise  der 
Bevölkerung  werden  gewiss  in  patriotischer  Hingabe  an  ihrem  Theile  mitarbeiten 
in  dem  Bewusstsein,  dass  Wohl  und  Wehe  der  Monarchie  zum  grossen  Theile 
durch  eine  glückliche  Lösung  dieser  schweren  und  verantwortungsvollen  Aufgabe 
bestimmt  wird. 


I.   Gesetz  vom   2.   August  1892,   womit  die   Kronenwährung 

festgestellt  wind. 

Mit  Zustimmung   beider  Häuser   des   Eeichsrathes   finde   ich   zu   verordnen, 

wie  folgt: 

Artikel   I. 

An    die  Stelle    der    bisherigen    österreichischen  Währung    tritt    die    Gold- 
währung, deren  Eechnungseinheit  die  Krone  ist. 

Die  Krone  wird  in  hundert  Heller  eingetheilt. 

Artikel  II. 
Das  Münzgrundgewicht  ist  das  Kilogramm  mit  seiner  decimalen  Abstufung, 
wie  dasselbe  durch  das  Gesetz  vom  23.  Juli   1871,  E.-G.-Bl.  Nr.  16  ex  1872, 
als  allgemeines  Gewicht  eingeführt  worden  ist. 


Die  neue  Währungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oeaterreich  und  Ungarn.        647 

Artikel  IIL 

Die  Landesgoldmünzen  werden  im  Mischungsverhältnisse  von  900  Tausend- 
theilen  Gold  und  100  Tausendtheilen  Kupfer  ausgeprägt. 

Auf  Ein  Kilogramm  Münzgold  gehen  2952  Kronen,  demnach  auf  Ein  Kilo- 
gramm feinem  Goldes  3280  Kronen. 

Artikel  IV. 
Von  Landesgoldmünzen  werden  ausgeprägt: 

a)  Zwanzig-Kronenstücke, 

b)  Zehn-Kronenstücke. 

Aus  Einem  Kilogramm  Münzgold  werden  147*6  Stücke  zu  zwanzig  Kronen, 
beziehungsweise  295*2  Stücke  zu  zehn  Kronen,  daher  aus  Einem  Kilogramm 
feinen  Goldes  164  Stücke  zu  zwanzig  Kronen,  beziehungsweise  328  Stücke  zu 
zehn  Kronen  ausgebracht. 

Das  Zwanzig-Kronenstück  hat  sonach  das  Kohgewicht  von  6*775067  und 
das  Feingewicht  von  6*09756  Grammen,  das  Zehn-Kronenstück  das  Eohgewicht 
von  3-3875338  und  das  Feingewicht  von  3-Ö4878  Grammen. 

Artikel  V. 

Diese  Goldmünzen  werden  auf  der  Aversseite  Mein  Brustbild,  auf  der 
Keversseite  den  kaiserlichen  Adler  mit  der  Wertbezeichnung  20,  beziehungsweise 
10  Cor.,  sowie  die  Jahreszahl  der  Ausmünzung  tragen.  Die  Umschrift  hat,  in 
angemessener  Abkürzung,  zu  lauten:  „Franciscus  Josephus  I.  D.  G.  Imperator 
Austriae,  Eex  Bohemiae,  Galiciae,  Ulyriae  etc.  et  Apostolicus  Eex  Hungariae*. 

Der  Eand  wird  glatt  sein  und  bei  den  Zwanzig-Kronenstücken  in  ver- 
tiefter Schrift  die  Worte :  „Viribus  Unitis"  enthalten.  Bei  den  Zehn-Kronenstücken 
wird  der  Eand  eine  •  vertiefte  Verzierung  enthalten. 

Die  innere  Einfassung  besteht  auf  beiden  Seiten  aus  einem  flachen  Stäbchen, 
dessen  inneren  Umfang  ein  Perlenkreis   (Perle  an  Perle  anliegend)  berührt. 

Die  Goldmünzen  zu  20  Kronen  werden  21  Millimeter,  jene  zu  10  Kronen 
werden  19  Millimeter  im  Durchmesser  betragen. 

Artikel  VL 

Das  Verfahren  bei  der  Ausprägang  dieser  Münzen  soll  die  vollständige 
Genauigkeit  der  Münzen  nach  Gehalt  und  Gewicht  sicherstellen. 

Soweit  eine  absolute  Genauigkeit  bei  dem  einzelnen  Stücke  nicht  einge- 
halten werden  kann,  wird  eine  äusserste  Abweichung  in  Mehr  oder  Weniger 
gestattet,  welche  im  Eohgewichte  2  Tausendtheile  und  im  Feingehalte  1  Tausend- 
theil  nicht  überschreiten  darf. 

Artikel  Vn. 

Das  Passiergewicht  des  Zwanzig-Kronenstückes  wird  mit  6*74  Grammen, 
dasjenige  des  Zehn-Kronenstückes  mit  3*37  Grammen  festgestellt. 

Goldmünzen,  welche  durch  den  gewöhnlichen  Umlauf  nicht  unter  dieses 
Gewicht  verringert  sind,  sind  bei  den  Staats-  und  den  übrigen  öffentlichen  Gassen 
und  im  Privatverkehre  als  vollwichtig  bei  allen  Zahlungen  anzunehmen. 


648  Inama-Sternesrof. 


OO' 


Dagegen  werden  Goldmünzen,  welche  infolge  längerer  Circulation  und  Ab- 
nützung am  Grewichte  so  viel  eingebüsst  haben,  dass  sie  das  Passirgewicht  nicht 
mehr  erreichen,  für  Eechnung  des  Staates  zum  Einschmelzen  eingezogen.  Zu 
diesem  Zwecke  sind  derlei  abgenützte  Goldmünzen  bei  allen  Staats-  und  den 
übrigen  öffentlichen  Kassen  stets  voll  zu  ihrem  Nennwerte  anzunehmen  und  im 
Wege  der  k.  k.  Staats- Centralkasse  in  Wien  an  das  k.  k.  Hauptmünzamt  in 
Wien  abzuführen. 

Münzen,  welche  in  anderer  Art  als  durch  den  gewöhnlichen  Umlauf  am 
Gewichte  verringert  wurden,  werden  von  den  Staats-  und  den  übrigen  öffentlichen 
Kassen  im  Yorkommensfalle  gegen  Ersatz  des  ihnen  zukommenden  inneren 
Wertes  eingezogen  und,  wie  oben  festgesetzt,  der  Umprägung    zugeführt  werden. 

Artikel  YIII. 

Die  Ausprägung  der  Landesgoldmünzen  erfolgt  auf  Eechnung  des  Staates. 
Zwanzig-Kronenstücke  werden  auch  für  Eechnung  von  Privatpersonen  und  zwar 
soweit  ausgeprägt  werden,  als  das  k.  k.  Münzamt  nicht  für  den  Staat  beschäftigt  ist. 

Die  bei  der  i\.usprägung  für  Privatrechnung  für  Prägekosten  einzuhebende 
Gebür  wird  im  Verordnungswege  festgesetzt;  sie  darf  indes  bei  den  Zwanzig- 
Kronenstücken  das  Maximum  von  0*3%   des  Wertes  nicht  übersteigen. 

Artikel  IX. 
Ausser    den    bezeichneten  Landesgoldmünzen    werden    die    österreichischen 

189 
Ducaten.  wie  bisher,  81— —  Stücke  aus  einer  Wiener  Mark  (0*280668  Kilogramm) 
355 

(9867  \ 
———^1  als  Handels- 
münze ausgeprägt. 

Die  durch  das  Gesetz  vom  9.  März  1870,  E.-G.-Bl.  Nr.  22,  eingeführten 
Goldmünzen  zu  Acht  und  Vier  Gulden  werden  nicht  mehr  geprägt  werden. 

Artikel  X. 
Die  auf  Grund  des  kaiserlichen  Patentes  vom  19.  September  1857,  E.-G.-Bl. 
Nr.  169,  ausgeprägten  Landessilbermünzen  zu  2,  1  und  7^  Gulden  österreichischer 
Währung  haben  bis  auf  weiteres  im  gesetzlichen  Umlaufe  zu  verbleiben.  Landes- 
silbermünzen der  österreichischen  Währung  sind  nicht  mehr  auszuprägen,  ausser 
aus  jenen  Silbermengen,  welche  sich  bereits  im  Besitze  der  Finanzverwaltung 
befinden,   oder  von  derselben  zu  Münzzwecken  erworben  worden  sind. 

Insolange  die  bezeichneten  Landessilbermünzen  nicht  ausser  Verkehr  gesetzt 
werden,  sind  dieselben  bei  allen  Zahlungen,  welche  gesetzlich  in  der  Kronen- 
währung zu  leisten  sind,  von  Staats-  und  den  übrigen  öffentlichen  Gassen 
und  von  Privatpersonen  in  Zahlung  anzunehmen  und  zwar  dergestalt,  dass 
gerechnet  wird : 

das  Zwei-Guldenstück  z=     4  Kronen. 
„     Ein-  „  zz:     2  ,, 

.    Viertel-       „  z=  50  Heller. 


Die  neue  Wübrungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreich  und  Ungarn.        649 

Artikel  XL 
Ausser    den    LandesgoldmÜBzen    werden    zunächst    rolgende    Münzen     der 
Kronenwähmng  ausgeprägt : 

1.  Silbermünzen: 
Ein-Kronenstücke. 

2.  Nickelmünzen: 

a)  Zwanzig-Hellerstücke, 

b)  Zehn-Hellerstücke. 

3.  Bronzemünzen: 

a)  Zwei-Hellerstücke, 

b)  Ein-Hellerstücke. 

Artikel  XH. 

Die  Ein-Kronenstücke  werden  im  Mischungsverhältnisse  von  835  Tausend- 
theilen  Silber  und  165  Tausendtheilen  Kupfer  ausgeprägt. 

Aus  dem  Kilogramme  Münzsilber  werden  200  Ein-Kronenstücke  ausgebracht. 
Es  werden  demnach   die  Ein-Kronenstücke  das  Gewicht  von  5    Grammen   haben. 

Bei  der  Ausprägung  der  Ein-Kronenstücke  muss  das  Normalgewicht  und 
der  Normalgehalt  eingehalten  werden.  Soweit  eine  absolute  Genauigkeit  bei  den 
einzelnen  Stücken  nicht  eingehalten  werden  kann,  wird  eine  Abweichung  in  Mehr 
oder  Weniger  gestattet,  welche  im  Feingehalte  Viooo  ^^^  ^^  Gewichte  ^Viooo 
nicht  übersteigen  darf. 

Artikel  XHI. 

Die  Ein-Kronenstücke  werden  im  Averse  Mein  Brustbild,  im  Reverse  die 
kaiserliche  Krone,  die  Wertbezeichnung,  sowie  die  Jahreszahl  der  Ausmünzung 
tragen.  Die  Umschrift  hat,  in  angemessener  Abkürzung,  zu  lauten:  „Franciscus 
Josephus  I.  D.  G,  Imperator  Austriae,  Eex  Bohemiae,  Galiciae,  Hlyriae  etc.  et 
Apostolicus  Eex  Hungariae." 

Der  Band  der  Ein-Kronenstücke  wird  glatt  sein  und  mit  vertieften  Buch- 
staben   den  Wahlspruch:   „Viribus  unitis"   enthalten. 

Der  Durchmesser  der  Ein-Kronenstücke  wird  23  Millimeter  betragen. 

Artikel  XIV. 
Die  Ausprägung  der  Ein-Kronenstücke  erfolgt  nur  für  Eechnung  des  Staates. 
Es  sind  für  140  Millionen  Kronen  Ein-Kronenstücke  auszuprägen. 
Im    Verordnungswege    wird    bestimmt   werden,    in    welchen    Terminen   die 
Ausprägung  und  Hinausgabe  der  Ein-Kronenstücke  stattzufinden  hat. 

Artikel  XV. 

Die  Nickelmünzen  werden  aus  reinem  Nickel  geprägt.  Aus  dem  Kilogramme 
reinen  Nickels  werden  250  Zwanzig-Hellerstücke,  beziehungsweise  333  Zehn- 
Hellerstücke  ausgebracht. 

Der  Avers  der  Nickelmünzen  trägt  den  kaiserlichen  Adler,  der  Eevers 
enthält  die  Wertangabe  und  die  Jahreszahl  der  Ausmünzung. 

Der  Eand  wird  gerippt  sein. 

Der  Durchmesser  wird  bei  den  Zwanzig-Hellerstücken  21  Millimeter,  bei 
don  Zehn-Hellerstücken  19  Millimeter  betragen. 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung,  IV.  Heft.  42 


550  luama-Sternegg. 

Artikel  XVI. 

Die  Ausprägung  der  Nickelmünzen  findet  nur  für  Eechnung  des  Staates  statt. 

Nickelmünzen  sind  bis  zum  Betrage  von  42  Millionen  Kronen  auszuprägen. 

Die  Ausgabe  derselben  erfolgt  unter  Einziehung  der  Silberscheidemünzen 
zu  20,  10  und  5  Kreuzern  österreichischer  Währung. 

Im  Verordnungswege  wird  bestimmt  werden,  in  welchen  Terminen  die 
Ausprägung  und  Ausgabe  dieser  Münzen,  sowie  die  Einziehung  der  Silberscheide- 
münzen  österreichischer  Währung  stattfindet. 

Artikel  XVII. 
Die    Bronzemünzen    werden    aus    einer  Legierung    von  95  Theilen  Kupfer, 
4  Theilen  Zinn  und  1   Theil  Zink  geprägt. 

Aus  dem  Kilogramme  dieser  Legierung  sollen: 

a)  300  Stücke  zu  2  Hellern, 

b)  600  Stücke  zu  1  Heller  ausgebracht  werden. 

Der  Avers  der  Bronzemünzen  trägt  den  kaiserlichen  Adler,  der  Eevers 
enthält  die  Wertangabe  und  die  Jahreszahl  der  Ansmünzung. 

Der  Eand  wird  glatt  sein.  » 

Der  Durchmesser  dieser  Münzen  wird  auf  19  und  beziehungsweise  17  Milli- 
meter festgesetzt. 

Artikel  XVIIL 

Die  Ausprägung  der  Bronzemünzen  findet  nur  für  Eechnung  des  Staates 
statt  und  darf  insgesammt  den  Betrag  von  18,200.000  Kronen  nicht  übersteigen. 
Sie  dürfen  nur  unter  Einziehung  der  Kupferscheidemünzen  zu  4,  1  und  Vio 
Kreuzern  österreichischer  Währung  ausgegeben  werden. 

Im  Verordnungswege  wird  bestimmt  werden,  in  welchen  Terminen  die 
Ausprägung  und  Ausgabe  dieser  Münzen,  sowie  die  Einziehung  der  Kupfermünzen 
österreichischer  Währung  stattzufinden  hat. 

Artikel  XIX. 

Die  Ein-Kronenstücke,  sowie  die  Nickel-  und  Bronzemünzen  der  Kronen- 
währung werden  bei  allen  Staats-  und  den  übrigen  öffentlichen  Gassen  nach 
ihrem  Nennwerte  in  Zahlung  genommen,  und  zwar  die  Ein-Kronenstücke  unbe- 
schränkt, die  Nickel-  und  Bronzemünzen  bis  zum  Betrage  von   10  Kronen. 

Ausserdem  sind  dieselben  bei  den  alsVerwechslungscassen  fungierenden  Gassen 
im  Wege  der  Verrvechslung  gegen  gesetzliche  Landesmünzen  (Artikel  IV  und  X) 
unter  den  im  Verordnungswege  festzusetzenden  näheren  Bedingungen  anzunehmen. 

Hinsichtlich  des  Privatverkehres  wird  festgesetzt,  dass  niemand  verpflichtet 
ist,  Ein-Kronenstücke  im  Betrage  von  mehr  als  fünfzig  Kronen,  Nickelmünzen  im 
Betrage  von  mehr  als  zehn  Kronen  und  Bronzemünzen  im  Betrage  von  mehr  als 
einer  Krone  in  Zahlung  zu  nehmen. 

Artikel  XX. 

Die    Bestimmungen    des    vorstehenden    Artikels    haben    auf   durchlöcherte 

oder  sonst  auf  andere  Weise    als    durch   den  gewöhnlichen  Umlauf  am  Gewichte 

verringerte,  sowie   auch   auf  verfälschte  Münzstücke   keine  Anwendung  zu  finden 

Kommen    verfälschte   Münzstücke   bei    den  Staats-   oder   den    übrigen  öffentlichen 


Die  neue  Währungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreich  und  Ungarn.        (551 

Gassen  vor,  so  sind  dieselben  sofort,  ohne  jeden  Ersatz,  einzuziehen  und  an 
das  k.  k.  Hauptmünzamt  in  Wien  einzusenden.  Münzen,  welche  durchlöchert 
oder  sonst  auf  andere  Weise,  als  durch  den  gewöhnlichen  Umlauf  am  Gewichte 
verringert  wurden,  sind  im  Falle  ihres  Vorkommens  bei  den  Staats-  oder  den 
übrigen  öffentlichen  Gassen  mit  einem  Merkmale  zu  kennzeichnen,  welches  sie 
aus  dem  gesetzlichen  Umlaufe  ausschliesst. 

Silber-,  Nickel-  und  Bronzemünzen,  welche  infolge  längerer  Girculation 
und  Abnützung  an  Gewicht  oder  Erkennbarkeit  erheblich  eingebüsst  haben, 
werden  zwar  von  den  öffentlichen  Gassen  in  Zahlung  oder  in  Verwechslung  an- 
genommen, sind  aber  auf  Rechnung  des  Staates  zur  Umprägung  einzuziehen. 

Artikel  XXI. 

Die  auf  Grund  des  kaiserlichen  Patentes  vom  19.  September  1857, 
ß.-G.-Bl.  Nr.  169,  der  kaiserlichen  Verordnung  vom  21.  October  1860,  E.-G.-Bl. 
Nr.  230,  des  Gesetzes  vom  1.  Juli  1868,  R.-G.-Bl.  Nr.  84,  des  Gesetzes  vom 
30.  März  1872,  R.-G.-Bl.  Nr.  44,  des  Gesetzes  vom  16.  April  1878,  R.-G.-Bl. 
Nr.  55,  des  Gesetzes  vom  26.  Februar  1881,  R.-G.-Bl.  Nr.  20,  des  Gesetzes 
vom  10.  März  1885,  R.-G.-Bl.  Nr.  92,  und  des  Gesetzes  vom  10.  Juni  1891, 
R.-G.-Bl.  Nr.  90  geprägten  Silber-  und  Kupferscheidemünzen  österreichischer 
Währung  haben  solange  im  Umlaufe  zu  verbleiben,  bis  deren  Einziehung  verfügt 
werden  wird. 

Diese  Verfügung  wird  im  Verordnungswege  im  Zusammenhange  mit  der 
Durchführung  dieses  Gesetzes  erfolgen.  Auch  wird  im  Verordnungswege  ein 
letzter  Termin  ausgesprochen  werden,  bis  zu  welchem  die  einberufenen  Münzen 
von  den  Staatscassen  einzulösen  sind.  Mit  dem  Ablaufe  dieses  Termines  ist  jede 
Verpflichtung  des  Staates  zur  Einlösung  dieser  Münzen  erloschen. 

Bis  dahin  sind  dieselben,  und  zwar  die  Zwanzig  Kreuzerstücke  mit  40  Hellern, 
die  Zehn-Kreuzerstücke  mit  20  Hellern,  die  Fünf-Kreuzerstücke  mit  10  Hellern, 
die  Kupfermünzen  zu  4  Kreuzer  mit  8  Hellern,  die  Ein-Kreuzerstücke  mit  2  Hellern, 
die  ^/lo-Kreuzerstücke  mit  1  Heller  zu  rechnen  und  nach  Maassgabe  des  Artikels  X 
des  Gesetzes  vom  1.  Juli  1868,  R.-G.-Bl.  Nr.  84,  in  Zahlung  anzunehmen. 

Artikel  XXII. 

Die  sogenannten  Levantiner -Thaler  mit   dem  Bildnisse   der  Kaiserin   Maria 

Theresia    glorreichen    Andenkens    und     mit    der    Jahreszahl    1780    werden    im 

damaligen    Schrot     und    Korn,    wie    bisher    12     Thaler     aus    1     Wiener    Mark 

(0*280668  Kilogramm)  feinen    Silbers   in   dem  Feingehalte  von  13    Loth  6  Gran 

'1^  \ 

als  Handelsmünze  ausgeprägt  werden. 


/833V3\ 
\  1000  / 


Artikel  XXIII. 
Die  auf  österreichische  Währung  lautenden  Papiergeldzeichen  sind  bis  zu 
ihrer  Einziehung  bei  allen  Zahlungen,  welche  gesetzlich  in  Kronenwährung  zu 
leisten  sind,  von  allen  Staats-  und  den  übrigen  öffentlichen  Gassen,  sowie  von 
Privatpersonen  anzunehmen  und  zwar  dergestalt,  dass  je  ein  Gulden  öster- 
reichischer Währung  des  Nennwertes  der  betreffenden  Papiergeldzeichen  gleich 
zwei  Kronen  gerechnet  wird. 

42* 


ß52  Inama- Sternegg. 

Artikel  XXIY. 

Die  allgemeine  Einführung  der  obligatorischen  Rechnung  in  der  Kronen- 
^Yährung  im  Zusammenhange  mit  der  Ordnung  der  Verhältnisse  des  allgemeinen 
Münzverkehres  und  den  Bestimmungen  über  die  Anwendung  der  neuen  Währung 
(Artikel  I)  auf  die  Eechtsverhältnisse,  sowie  die  Verfügungen  in  Bezug  auf  die 
nach  dem  gegenwärtigen  Gesetze  im  umlaufe  verbleibenden  Landessilbermünzen 
zu  2,  1  und  Y^  Gulden  österreichischer  Währung,  ferner  die  Verfügungen  über 
die  Einlösung  der  Staatsnoten,  die  Bestimmungen  über  die  Ordnung  der  Papier- 
geldcirculation  und  die  Verfügungen  über  die  Aufnahme  der  Barzahlungen,  werden 
durch  besondere  Gesetze  festgestellt  werden. 

Es  können  jedoch  alle  Zahlungen,  welche  gesetzlich  in  österreichischer 
Währung  —  sei  es  in  klingender  Münze  oder  nicht  —  zu  leisten  sind,  schon 
von  dem  Zeitpunkte  an,  da  gegenwärtiges  Gesetz  in  Kraft  treten  wird,  nach 
Wahl  des  Schuldners  auch  in  Landesgoldmünzen  der  Kronenwährung  dergestalt 
geleistet  werden,  dass  das  Zwanzig -Kronenstück  zum  Werte  von  10  Gulden 
österreichischer  Währung  und  das  Zehn -Kronenstück  zum  Werte  von  5  Gulden 
österreichischer  Währung  gerechnet  wird. 

Dasselbe  gilt  von  den  Ein  -  Kronenstücken  und  den  Nickel-  und  Bronze- 
münzen der  Kronenwährung  nach  Maassgabe  der  denselben  im  Artikel  XIX  dieses 
Gesetzes  eingeräumten  Zahlkraft,  und  zwar  dergestalt,  dass  das  Ein -Kronenstück 
zum  Werte  von  50  Kreuzern  österreichischer  Währung,  das  Zwanzig  -  Hellerstück 
zum  Werte  von  10  Kreuzern  österreichischer  Währung,  das  Zehn -Hellerstück 
zum  Werte  von  5  Kreuzern  österreichischer  Währung,  das  Zwei- Hellerstück  zum 
Werte  von  1  Kreuzer  österreichischer  Währung  und  das  Ein -Hellerstück  zum 
Werte  von  ''^/\^^  Kreuzern  österreichischer  Währung  gerechnet  wird. 

Artikel  XXV. 

Dieses  Gesetz  tritt  zugleich  mit  dem  Gesetze,  wodurch  das  Ministerium  der  im 
Eeichsrathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder  zum  Abschlüsse  eines  Münz-  und 
Währungsvertrages  mit  dem  Ministerium  der  Länder  der  ungarischen  Krone  ermächtigt 
wird,  in  Kraft. 

Artikel  XXVL 

Meine  Minister  der  Finanzen  und  der  Justiz  sind  mit  dem  Vollzuge  des 
gegenwärtigen   Gesetzes  beauftragt. 

II.   Gesetz    vom    2.   August   1892,   wodurch    das    Ministerium    der    im 

Reichsrathe    vertretenen     Königreiche    und     Länder    zum    Abschlüsse 

eines     Münz-    und     Währungsvertrages     mit     dem     Ministerium     der 

Länder  der   ungarischen    Krone  ermächtigt  wird. 

Mit  Zustimmung  beider  Häuser  des  Reichsrathes  finde  Ich  zu  verordnen, 
wie  folgt: 

Das  Ministerium  der  im  Reichsrathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder  wird 
ermächtigt,  mit  dem  Ministerium  der  Länder  der  ungarischen  Krone  auf  Grund  des 
§.  2,  Z.  3  des  Gesetzes  vom  21.  December  1867,  R.-G.-Bl.  Nr.  146,  betreffend  die  allen 
Ländern  der  österreichischen  Monarchie  gemeinsamen  Angelegenheiten  und  die  Art 
ihrer  Behandlung,  nachfolgenden  Münz-  und  Währungsvertrag  abzuschliessen : 


Die  neue  Währungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreicli  und  Ungarn.         653 

Artikel  I. 

In  beiden  Staatsgebieten  der  Monarchie  tritt  an  die  Stelle  der  bisherigen 
österreichischen  Währung,  die  Goldwährung,  deren  Rechnungseinheit  die  Krone  ist. 

Die  Krone  wird  in  hundert  Heller  getheilt. 

(Die  Artikel  11 — III  sind  nahezu  gleichlautend  mit  den  Artikeln  11 — HI 
des  Gesetzes  über  die  Kronenwährung.) 

Artikel  IV. 

(Nahezu  gleichlautend  mit  Artikel  lY  des  Gesetzes  über  die  Kronenwährung.) 

(Sodann:)  Der  Durchmesser  hat  zu  sein: 

Bei  den  Zwanzig-Kronenstücken  21  Millimeter,  bei  den  Zehn-Kronenstücken 
19  Millimeter. 

Die  Inschrift  dieser  Münze  hat  die  deutliche  Angabe  des  Wertes  20, 
beziehungsweise  10  Kronen  und  die  Jahreszahl  der  Ausmünzung  zu  enthalten. 
Die  sonstige  Ausstattung  dieser  Goldmünzen,  sowie  der  übrigen  Münzen  der 
Kronenwährung  hat  eine  möglichst  übereinstimmende  zu  sein.  Es  wird  hierüber 
zwischen  dem  kaiserlich -königlichen  und  dem  königlich -ungarischen  Finanz- 
ministerium das  Einvernehmen  gepflogen  werden. 

(Folgen  nahezu  gleichlautend  die  Bestimmungen  des  Artikel  VI  des  Gesetzes 
über  die  Kronenwährung.) 

Artikel  V, 

Die  Landesgoldmünzen  der  Kronenwährung  werden  von  den  beiden  Re- 
gierungen in  ihren  Münzstätten  für  ihre  eigene  Rechnung  geprägt  werden.  Diese 
Ausprägung  unterliegt  der  Höhe  nach  keiner  Beschränkung. 

Ausserdem  werden  die  beiden  Regierungen  gestatten,  dass  Zwanzig-Kronen- 
stücke  auch  für  Rechnung  von  Privaten  ausgeprägt  werden,  soweit  ihre  be- 
treffenden Münzämter  nicht  mit  Ausprägungen  für  Rechnung  des  Staates  in 
Anspruch  genommen  sind. 

Für  die  Ausprägung  für  Privatrechnung  darf  keine  höhere  Prägegebür  als 
bei  Zwanzig-Kronenstücken  0*3  Procent  des  Wertes  in  Abzug   gebracht  werden. 

Die  Festsetzung  der  Prägegebür  innerhalb  dieser  Maximalgrenze  erfolgt 
nach  üebereinkommen  der  beiden  Minister  der  Finanzen  im  Verordnungswege, 
und  werden  die  übrigen  Bedingungen  der  Ausprägung  für  Privatrechnung  nach 
zu  vereinbarenden  einheitlichen  Grundsätzen  ebenfalls  im  Verordnungswege 
geordnet  werden. 

Artikel  VI. 

Die  im  Sinne  der  vorstehenden  Bestimmungen  in  beiden  Staatsgebieten 
ausgegebenen  Goldmünzen,  welche  durch  den  gewöhnlichen  Umlauf  nicht  unter 
das  nachstehend  noriiiierte  Passiergewicht  am  Gewichte  verringert  sind,  sind  iu 
beiden  Staatsgebieten  bei  den  Staats-  und  den  übrigen  öffentlichen  Gassen  und 
im  Privatverkehre  als  vollwichtig  bei  allen  Zahlungen  anzunehmen. 

(Folgen  nahezu  gleichlautend  die  Bestimmungen  des  Art.  VII,  al.  1  und  2 
des  Gesetzes  über  die  Kronenwährung.) 

Die  Münzen  des  eigenen  Gepräges  werden  sohin  von  der  betreffenden 
Staatscentralcasse  zur  Umprägung  an  das  Münzamt  abgegeben.  Die  eingezogenen 
Münzen,  welche  das  Gepräge  des  andern  Staatsgebietes  tragen,   werden   dagegen 


g54  Inama-Sternegg. 

an  dessen  Finanz  Verwaltung  gegen  Ersatz  in  gleichen  umlaufsfähigen  Stücken 
zur  Umprägung  übergeben  werden. 

Ueber  die  Durchführung  dieser  Bestimmungen  wird  zwischen  den  beiden 
Finanzministern  ein  üebereinkommen  geschlossen  werden. 

(Folgen  nahezu  gleichlautend  die  Bestimmungen  des  Art.  VII,  al.  3  des 
Gresetzes  über  die  Kronenwährung.) 

Artikel  VII. 

Keine  der  beiden  Eegierungen  wird  andere  als  die  vorbenannten  Landes- 
goldmünzen der  Kronenwährung  in  ihren  Münzstätten  prägen  lassen. 

Die  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  9.  März  1870,  E.-G.-Bl.  Nr.  22, 
respective  des  Gesetzartikels  XII  ex  1869  eingeführten  Goldmünzen  zu  acht  und 
vier  Gulden  werden  in  den  beiden  Staatsgebieten  nicht  mehr  geprägt  werden. 

Es  bleibt  jedem  der  den  Vertrag  schliessenden  Theile  freigestellt,  Ducaten 
in  der  Art,  wie  sie  im  Artikel  20  des  Gesetzes  vom  19.  September  1857, 
E.-G.-Bl.  Nr.  169,  respective  Gesetzartikel  VII  ex  1868  zur  Prägung  zugelassen 
sind,  auch  des  w^eiteren  auszuprägen. 

Artikel  VIII. 
(Nahezu  gleichlautend    mit   Art.    XI,  Xn,    XIH,  al.    3,   XV  und  XVII  des 

Gesetzes  über  die  Kronen  Währung.) 

Artikel  IX. 

(üebereinstimmend  mit  Art.  XIV,  XVI  und  XVIII  des  Gesetzes  über  die 
Kronen  Währung.) 

Artikel  X. 

Die  in  dem  Artikel  IX  festgesetzten  Contingente  von  Ein-Kronenstücken, 
Nickel-  und  Bronzemünzen  werden  im  Verhältnisse  von  70 :  30  auf  die  im  Eeichs- 
rathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder  und  auf  die  Länder  der  ungarischen 
Krone  aufgetheilt. 

In  demselben  Verhältnisse  werden  die  Kosten  der  Einlösung  der  Münzen 
der  österreichischen  Währung  jeder  Art  und  Prägung  auf  die  beiden  Staats- 
gebiete aufgetheilt  werden. 

Artikel  XI. 
(Nahezu  gleichlautend  mit  Art.  XIX  und  XX  des  Gesetzes  über  die  Kronenwährung.) 

(Sodann:)  Die  Münzen  des  eigenen  Gepräges  werden  sohin  von  der  betreffenden 
Staatscentralcasse  zur  Umprägung  an  das  Münzamt  abgegeben.  Die  eingezogenen 
Münzen,  welche  das  Gepräge  des  anderen  Staatsgebietes  tragen,  werden  von 
dessen  Finanzverwaltung  gegen  Ersatz  des  Nennwertes  zur  Umprägung  über- 
nommen werden. 

Ueber  die  Durchführung  dieser  Bestimmung  wird  zwischen  den  beiden 
Finanzministern  ein  Üebereinkommen  geschlossen  werden. 

Artikel  XIL 
(Nahezu  gleichlautend  mit  Art.  X,  al.   1    des  Gesetzes  über  die  Kronenwährung.) 
(Sodann:)   Die  Feststellung  dieser  Silbermengen  wird   einverständlich  durch 
hiezu  von  den  beiden  Finanzministerien  entsendete  Beamte  geschehen. 


Die  neue  Wälirungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreich  und  Ungarn.       655 

Ueberhaupt  wird  über  die  Art  jeder  Beschaffung  von  Silber  für  Münzzwecke 
stets  ein  Einverständnis  zwischen  den  beiden  Finanzministerien  zu  erfolgen  haben 
(Folgen    nahezu    gleichlautend    die    Bestimmungen-  des   Art.   X,   al.  2  des 
Gesetzes  über  die  Kronenwährung.) 

Artikel  XIII. 
(Nahezu    gleichlautend    mit    Art.    XXI    des    Gesetzes    über    die   Kronenwährung.) 

Artikel  XIV. 
(Nahezu    gleichlautend    mit  Art.  XXII    des    Gesetzes    über  die   Kronenwährung.) 

Artikel  XV. 

Die  Ausmünzungen  beider  Staatsgebiete  werden  in  den  beiderseitigen 
General-Probier-Aemtern  gegenseitig  geprüft. 

Zur  Durchführung  dieser  Bestimmung  wird  zwischen  den  beiden  Finanz- 
ministern  ein  üebereinkommen  geschlossen  werden. 

Es  werden  unter  öffentlicher  Controle  Gewichte  justiert,  gestempelt  und  zu  dem 
Gestehungspreise,  welcher  über  getroffenes  Einverständnis  der  beiden  Finanzmiuister 
im  Verordnungswege  festgesetzt  werden  wird,  verkauft  werden,  welche  das  Normal- 
gewicht und  andere,  welche  das  Passiergewicht  der  Landesgoldmünzen  haben  werden. 

Artikel  XVI. 

Nach  Ablauf  jeden  Monates  hat  jede  der  beiden  Eegierungen  der  anderen 
einen  Ausweis  über  die  im  Laufe  desselben  vorgenommenen  Ausmünzungen  neuer 
Münzen  und  über  die  Einziehung  und  Einschmelzung  alter  Münzen  mit  Angabe 
der  Münzsorten,  des  Feingehaltes  und  des  Gewichtes  mitzutheilen. 

Ebenso  werden  die  beiden  Finanzminister  alle  Gesetze  und  Verordnungen, 
welche  zur  Regelung  des  Münzwesens  im  Sinne  des  gegenwärtigen  Vertrages 
ergehen  werden,  einander  mittheilen. 

Artikel  XVIL 
(Nahezu   gleichlautend    mit  Art.   XXIII   des   Gesetzes   über   die  Kronenwährung.) 

Artikel  XVIIL 
(Nahezu    gleichlautend    mit    Art.   XXIV   des  Gesetzes    über   die  Kronenwährung.) 

Artikel  XIX. 

Die  Eegierungen  der  beiden  Staatsgebiete  werden  im  geeigneten  Zeit- 
punkte im  gegenseitigen  Einvernehmen  bei  den  beiden  Legislativen  Vorlagen 
über  die  Einlösung  der  Staatsnoten  einbringen. 

Die  Kosten  der  Einlösung  dieser  eine  gemeinsame  schwebende  Schuld  bil- 
denden Staatsnoten  werden  nur  bis  zum  Betrage  von  312  Millionen  Gulden 
österreichischer  Währung  gemeinsam,  und  zwar  von  den  im  Eeichsrathe  vertre- 
tenen Königreichen  und  Ländern  mit  70  Procent,  von  den  Ländern  der  unga- 
rischen Krone  mit  30  Procent  getragen  werden. 

In  Betreff  des  Vorganges  bei  Einlösung  der  Staatsnoten  wird  schon  gegen- 
wärtig vereinbart,  dass  seitens  der  beiden  Eegierungen  in  erster  Linie  die  Ein- 
lösung der  Staatsnoten  zu  Einem  Gulden  und  der  Ersatz  derselben  durch  andere 
gesetzliche  Zahlungsmittel,  jedoch  unter  Ausschluss  von  Staatsnoten,  bewirkt 
werden    soll.     Die    aus    dem  Umlaufe  gezogenen   Staatsnoten   sind  zu  vernichten 


556  Inaiiia-Steniegg. 

und    ist    der    Betrag    derselben    von  dem  Staatsnotenumlauf e   von  312  Millionen 
Gulden  als  getilgt  abzuschreiben. 

Üeber  die  Ordnung  der  Papiergeldcirculation,  sowie  bezüglich  der  Auf- 
nahme der  Barzahlungen  werden  im  angemessenen  Zeitpunkte  von  den  Regierungen 
der  beiden  Staatsgebiete  Vereinbarungen  getroffen  werden. 

Artikel  XX. 

Die  Bestimmungen  dieses  Vertrages  haben  bis  einschliesslich  Ende  des 
Jahres   1910  zu  gelten. 

Sollte  gegenwärtiger  Vertrag  ein  Jahr  vor  seinem  Ablaufe  seitens  eines 
der  beiden  vertragschliessenden  Theile  gekündigt  werden,  so  sind  die  beiderseits 
vertragsmässig  geprägten  Münzen  noch  wenigstens  durch  zwei  Jahre  entsprechend 
den  Bestimmungen  des  gegenwärtigen  Vertrages  in  beiden  Staatsgebieten  zuzulassen. 
Zugleich  verpflichten  sich  die  beiden  Regierungen,  innerhalb  dieser  Zeit  die  Kronen- 
währung nach   dem  vertragsmässigen  Münzfusse   und  Münzsysteme   beizubehalten. 

Nach  Ablauf  der  bezeichneten  Frist  ist  jeder  Theil  verpflichtet,  die  inner- 
halb des  anderen  Staatsgebietes  befindlichen  Ein-Kronenstücke,  Mckel-  und 
Bronzemünzen  der  Kronenwährung  seines  Gepräges  gegen  gesetzliche  Landes- 
münzen  zurückzulösen. 

Der  Anspruch  auf  diese  Zurücklösung  erlischt  nach  Ablauf  eines  weiteren 
Jahres . 

Falls  gegenwärtiger  Vertrag  ein  Jahr  vor  seinem  Ablaufe  von  keinem  der 
beiden  vertragschliessenden  Theile  gekündigt  wird,  so  hat  derselbe  in  seiner 
Gänze  auf  weitere  zehn  Jahre  in  Geltung  zu  verbleiben. 

In  diesem  Falle  treten  die  obigen  Bestimmungen  für  den  Ablauf  der  ver- 
längerten Vertragsperiode  in  Kraft. 

Artikel  XXI. 
Unmittelbar  nach  dem  Inkrafttreten  dieses  Vertrages  werden  die  beiden 
Regierungen  die  Verhandlungen  fortsetzen,  um  die  über  die  allgemeine  Einfüh- 
rung der  obligatorischen  Rechnung  in  der  Kronenwährung  im  Zusammenhange 
mit  der  Ordnung  des  allgemeinen  Münzverkehres,  ferner  die  über  die  Ordnung 
der  Papiergeldcirculation,  sowie  die  bezüglich  der  Aufnahme  der  Barzahlungen 
zu  erlassenden  gesetzlichen  Verfügungen  zu  vereinbaren. 

Artikel  XXII. 
Dieser  Vertrag  tritt  mit  dem  Tage  der  Kundmachung,  welcher  von  den  beiden 
Regierungen  zu  vereinbaren  sein  wird,  in  beiden  Staatsgebieten  in  gesetzliche  Kraft. 

MI.   Gesetz    vom    2.   August  1892,    betreffend   die    Erfüllung   von    auf 
Goldgulden     lautenden    Verpflichtungen     in     Landesgoldmünzen     der 

Kronenwährung. 
Mit   Zustimmung  beider   Häuser   des   Reichsrathes   finde  Ich  zu  verordnen. 

wie  folgt: 

Artikel  I. 
Zahlungsverbindlichkeiten,  welche  in  österreichischen  oder  ungarischen  Gold- 
gulden effectiv  zu  leisten  sind,  können  nach  Wahl  des  Schuldners  und  nach  dem 


Die  neue  Währungs-  und  Münzgesetzgebung  von  Oesterreich  und  Ungarn.        657 

im  Artikel  II  des  gegenwärtigen  Gesetzes  festgesetzten  Wertverliältnisse  auch  in 
den  gemäss  dem  Gesetze,  wodurch  das  Ministerium  der  im  Eeichsrathe  vertre- 
tenen Königreiche  und  Länder  zum  Abschlüsse  eines  Münz-  und  Währungsver- 
trages mit  dem  Ministerium  der  Länder  der  ungarischen  Krone  ermächtigt  wird, 
und  dem  Gesetze,  womit  die  Kronenwährung  festgestellt  wird,  geprägten  Landes- 
goldmünzen der  Kronenwährung  beiderlei  Gepräges  erfüllt  werden. 

Artikel  n. 
Bei    solchen   Zahlungen    sind,    in  Festhaltung   des  Grundsatzes  des  §  989 
a.  b.  G.-B.,  wornach  der  innere  Wert   des  zu  Leistenden  ungeändert  zu  bleiben 
hat,    je    42    österreichische   oder   ungarische   Goldgulden   gleich    100  Kronen   in 
Landesgoldmünzen  der  Kronenwährung  zu  rechnen. 

Artikel  IIL 
Diese    Bestimmungen    haben   insbesondere  auch  bei  Zollzahlungen  Anwen- 
dung zu  finden. 

Artikel  IV. 

Dieses  Gesetz  tritt  zugleich  mit  dem  Gesetze,  wodurch  das  Ministerium 
der  im  Eeichsrathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder  zum  Abschlüsse  eines 
Münz-  und  Währungsvertrages  mit  dem  Ministerium  der  Länder  der  ungarischen 
Krone  ermächtigt  wird,  in  Kraft. 

Artikel  V. 
Mit  dem  Vollzuge    dieses  Gesetzes   sind  Meine  Minister   der  Finanzen,  der 
Justiz  und  des  Handels  beauftragt. 

IV.  Gesetz  vom  2.  August  1892,  betreffend  einen  Zusatz  zu  Artikel  87 
den  Statuten   den   Oesterreichisch-ungarischen   Bank. 
Mit    Zustimmung    beider    Häuser    des    Reichsrathes    finde    Ich   anzuordnen, 

wie  folgt: 

I. 

Zu  dem  -Artikel  87  der  Statuten  der  Oesterreichisch-ungarischen  Bank,  wie 
derselbe  mit  dem  Gesetze  vom  27.  Juni  1878,  ß.-G.-Bl.  Nr.  66  festgesetzt  und 
durch  das  Gesetz  vom  21.  Mai  1887,  E.-G.-Bl.  Nr.  51  für  die  Zeit  der  Ver- 
längerung des  Privilegiums  vom  1.  Jänner  1888  bis  31.  December  1897  bei- 
behalten worden  ist,  hat  folgender  Zusatz  zu  treten: 

„Die  Bank  ist  verpfiichtet,  gesetzliche  Goldmünzen  zum  Nennwerte  und 
Goldbarren  gemäss  dem  gesetzlichen  Münzfusse  dej  Kronenwährung  gegen  Bank- 
noten bei  ihren  Hauptanstalten  in  Wien  und  Budapest  auf  Verlangen  jederzeit 
einzulösen. 

Die  Bank  ist  berechtigt,  hiebei  die  Goldbarren  auf  Kosten  des  Abgebers 
durch  die  von  ihr  bezeichneten  Techniker  prüfen  und  scheiden  zu  lassen,  ferner 
die  von  den  Eegierungen  diesfalls  festgesetzten  und  verlautbarten  Prägegebüren 
in  Abzug  zu  bringen." 

II. 

Mit  dem  Vollzuge  dieses  Gesetzes,  welches  zugleich  mit  dem  Gesetze,  wo- 
durch das  Ministerium   der   im   Eeichsrathe   vertretenen   Königreiche   und  Länder 


558  Inama- Sternegg. 

zum  Abschlüsse  eines  Münz-  und  Währungsvertrages  mit  dem  Ministerium  der 
Länder  der  ungarischen  Krone  ermächtigt  wird,  in  Kraft  tritt,  ist  Mein  Finanz- 
minister beauftragt. 

V.  Gesetz  vom  2.  August  1892,  durch  welches  der  Finanzministep 
ermächtigt  wind,  ein  Anlehen  zun  Beschaffung  von  effectivem  Gold 
behufs  der  Ausprägung  von  Landesgoldmünzen  der  Kronenwährung 
für  Rechnung  des  Staates  aufzunehmen,  und  womit  Bestimmungen 
über  die  Gebarung  und  Controle  hinsichtlich  dieser  neugeprägten 
Landesgoidmünzen   erlassen   werden. 

Mit  Zustimmung  beider  Häuser  des  Reichsrathes  finde  Ich  zu  verordnen, 
wie  folgt : 

Artikel  I. 

Der  Finanzminister  wird  ermächtigt,  ein  Anlehen  mittels  Begebung  von 
durch  das  Gesetz  vom  18.  März  1876,  E.-G.-Bl.  Nr.  35,  geschaffenen,  mit 
4  Procent  in  Gold  verzinslichen  Rente  -  Obligationen  in  jenem  Gesammtausmaasse 
aufzunehmen,  welches  erforderlich  ist,  um  in  effectivem  Golde  einen  Betrag  von 
Einhundertdreiundachtzig  Millionen  vierhundertsechsundfünfzig  Tausend  öster- 
reichischer Goldgulden  zu  erlösen. 

Artikel  II. 
Der  erlöste  Goldbetrag  ist  sofort  in  Landesgoldmünzen  der  Kronenwährung 
auszuprägen. 

Artikel  III. 
Diese  Goldmünzen  sind  in  der  k.  k.  Staatscentralcassa,    oder   im  Auftrage 
und  für  Rechnung  der  Finanzverwaltung  in  der  Oesterreichisch- ungarischen  Bank 
zur  gesonderten  Verwahrung  zu  erlegen. 

Artikel  IV. 
Verfügungen    über    die    nach    dem   vorstehenden    Artikel    in    Verwahrung 
erlegten  Goldmünzen  können  nur  durch  die  Gesetzgebung  getroffen  werden. 

Artikel  V. 

Zur  Controle  über  die  Einhaltung  der  Bestimmungen  der  Artikel  III  und 
IV  dieses  Gesetzes  ist  die  Staatsschulden-Controlcommission  des  Reichsrathes  berufen. 

Zu  diesem  Zwecke  übt  die  Controlcommission  die  Gegensperre  über  den 
Erlag   dieser  Goldmünzen. 

Die  Commission  hat  über  die  Ausübung  ihrer  Controle,  so  oft  sie  es 
angemessen  erachtet,  jedoch  alljährlich  mindestens  einmal,  einen  besonderen 
Bericht  an  den  Reichsrath  zu  erstatten. 

Artikel  VI. 
Der  Finanzminister  wird  angewiesen,  über  die  Ordnung  der  mit  dem 
Maximaibetrage  von  Einhundert  Millionen  Gulden  österreichischer  Währung 
begrenzten  schwebenden  Schuld  in  Partial- Hypothekar- Anweisungen,  beziehungs- 
weise in  den  dieselben  in  der  Circulation  vertretenden  Staatsnoten  eine  besondere 
Gesetzvorlage  rechtzeitig  einzubringen. 


Die  neue  Währungs-  und  Älünzgesetzgebung  von  Oesterreieh  und  Ungarn.         659 

Artikel  VII. 
Mit  dem  Vollzuge    dieses    Gesetzes,    welches   mit    dem   Tage    seiner  Kund- 
machung in  Wirksamkeit  tritt,    ist  Mein  Finanzminister  beauftragt. 

VI.  Gesetz  vom  2.  .August  1892,  betreffend  die  Conventierung  den 
Obligationen  den  fünfppocentigen  steuerfreien  Notenrente,  der 
fünfprocentigen  Eisenbahn-Staatsschuldverschreibungen  der  Vorarl- 
berger Bahn  und  der  4%- pf'ocentigen  Eisenbahn  -  Staatsschuld- 
verschreibungen der  Kronprinz  Rudolf-Bahn. 
Mit  Zustimmung  beider  Häuser  des  Eeichsrathes  finde  Ich  anzuordnen, 
wie  folgt: 

Artikel  I. 
Zum  Behuf e  der  Eückzahlung 

a)  der  Obligationen  der  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  11.  April  1881,  K.-G.-Bl. 
Nr.  33,  ausgegebenen,  mit  5  Procent  in  Noten  steuerfrei  verzinslichen  Eenten- 
schuld  der  im  Eeichsrathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder, 

b)  der  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  8.  April  1884,  E.-G.-Bl.  Nr.  51,  aus- 
gegebenen und  noch  nicht  zur  Verlosung  gelangten,  im  Eisenbahnbuche  ob 
den  Linien  der  Vorarlberger  Bahn  pfandrechtlich  sichergestellten,  mit  jährlich 
5  Procent  österreichischer  AVährung  in  Silber  verzinslichen  und  längstens 
bis  zum  Jahre  1962  rückzahlbaren  Eisenbahn  -  Staatsschuldverschreibungen 
de  dato   12.  December  1886, 

c)  der  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  8.  April  1884,  E.-G.-Bl.  Nr.  51,  aus- 
gegebenen und  noch  nicht  zur  Verlosung  gelangten,  im  Eisenbahnbuche  ob 
den  Linien  der  Kronprinz  Eudolf-Bahn  pfandrechtlich  sichergestellten,  mit 
jährlich  4^4  Procent  österreichischer  Währung  in  Silber  verzinslichen  und 
längstens  bis  zum  Jahre  1960  rückzahlbaren  Eisenbahn -Staatsschuldver- 
schreibungen de  dato   12.  Juli   1888. 

wird  die  Eegierung  ermächtigt,  mit  höchstens  vier  Procent  steuerfrei  verzinsliche 
Anlehen,  und  zwar  in  Ansehung  der  unter  a)  bezeichneten  Obligationen  in  Form 
einer  Eentenschuld  der  im  Eeichsrathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder,  in 
Ansehung  der  unter  b)  und  c)  bezeichneten  Titres  mittels  Ausgabe  von  Eisenbahn - 
Staatsschuldverschreibungen  mit  der  bisherigen  Hypothek  und  den  gleichen  Eück- 
zahlungsfristen  in  der  Art  aufzunehmen,  dass  dadurch  eine  dauernde  Ersparung 
für  den  Staatsschatz  gegenüber  der  gegenwärtigen  Annuität  erzielt  wird.  Die 
benannten  drei  Schuldgattungen  sind  demnach  auf  einmal  oder  partienweise  zur 
Eückzahlung,  beziehungsweise  Umwandlung  mit  der  Wirkung  einzuberufen,  dass 
mit  Ablauf  des  vom  Finanzminister  zu  bestimmenden  Endtermines  die  Verzinsung 
der  einberufenen  Titres  aufhört. 

Artikel  IL 

Mit    dem  Vollzuge    dieses   Gesetzes,   welches   mit    dem   Tage   seiner  Kund- 
machung in  Wirksamkeit  tritt,  wird  Mein  Finanzminister  betraut. 


LITERATURBERICHT. 


Luigi  Cossa,  Professore  nella  E.  Universitä  di  Pavia.  lutrocluzione  allo  studio 
<le]l'  economia  politica.  Dritte  vollständig  umgearbeitete  Auflage  des  „Guida"  desselben 
Verfassers.  Höpli,  Mailand  1892,  594  SS. 

Luigi  Cossa  ist  ein  Name,  der  weit  über  die  Grenzen  seines  Vaterlandes  in 
der  wissenschaftlichen  Welt  bekannt  und  geehrt  ist.  Zur  äusseren  Verbreitung  seiner 
Popularität  haben  wohl  am  meisten  seine  „Elementi  di  Economia  Politica"  beigetragen, 
welche  das  Muster  eines  kurzen,  klaren  und  inhaltsreichen  Compendiums  unserer  Wissen- 
schaft sind;  Vorzüge,  welche  demselben  bereits  zur  neunten  Auflage  in  der  Ursprache, 
und  zur  seltenen  Ehre  der  Uebeisetzung  in  alle  oder  fast  alle  Cultursprachen  verholfen 
haben.  So  sehr  ich  aber  die  seltene  Kunst,  die  Cossa  in  seinen  „Elementi"  bekundet 
hat,  zu  schätzen  weiss,  so  glaube  ich  doch,  dass  er  durch  eine  andere  Seite  seines  Wirkens 
seinen  Namen  noch  tiefer  in  die  Geschichte  unserer  Wissenschaft  eingezeichnet  hat. 
Mit  seinem  Namen  ist  die  Regenerierung  der  ökonomischen  Wissenschaft  Italiens  und 
der  ausserordentliche  Aufschwung  unzertrennlich  verbunden,  welchen  die  Pflege  derselben 
in  diesem  Lande  während  der  letzten  Decennien  genommen  hat. 

Ich  glaube  mit  der  Annahme  nicht  fehl  gehen,  dass  der  grössere  Theil  der  Männer, 
welche  heute  in  so  ehrenvoller  Weise  die  volkswirtschaftliche  Literatur  Italiens  vertreten, 
aus  der  Schule  Cossa's  hervorgegangen  ist,  oder  ihm  doch  wissenschaftliche  Anleitung 
und  Anregung  verdankt.  Pavia  ist  durch  Cossa  Centrum  und  Pflanzstätte  der  wirt- 
schaftswissenschaftlichen Bildung  in  Italien  geworden.  Dabei  ist  eines  besonders  beachtens- 
wert. Sonst  kommt  es  gewöhnlich  vor,  dass  wissenschaftliche  Korj^phäen,  welchen  es 
gelingt,  „Schule  zu  machen",  diesen  ihren  Einfluss  in  einseitiger  Ptichtung  geltend  machen; 
sie  lenken  ihre  Schüler  in  eine  bestimmte,  durch  Vorliebe  und  Abneigung  beeinflusste 
Forschungsbahn.  Cossa's  erzieherisches  Wirken  ist  von  solcher  Einseitigkeit  bemerkens- 
wert frei  geblieben.  Wenn  wir  einen  Schluss  ziehen  dürfen  aus  der  ausserordentlichen 
Vielseitigkeit,  mit  welcher  Cossa's  einstige  Schüler  die  verschiedenen  Gebiete  dieser 
weiten  Wissenschaft  erfolgreich  bearbeiten,  so  scheint  es,  dass  Cossa's  Unterweisung  von 
jeder  engherzigen  Beschränkung  frei  und  nur  auf  ein  Ziel  gerichtet  gewesen  ist:  zur 
wahren  Wissenschaftlichkeit  anzuleiten.  Wir  erkennen  Cossa's  Einfluss  in  der  tiefen 
und  gründlichen  Kenntnis  der  fremden,  und  zumal  der  deutschen  Literatur,  welche  wir. 
im  Unterschiede  zu  vergangenen  Zeiten,  in  den  Werken  der  neueren  Schrifsteller  Italiens 
anzutreff'en  pflegen,  wir  erkennen  ihn  in  der  Pflege  gründlicher  historischer  Studien 
wir  erkennen  ihn  aber  auch  nicht  minder  in  der  scharfsinnigen  Bearbeitung  der  theoretischen 
Probleme  der  Wissenschaft  und  in  der  Uebung  einer  geschickten,  feinen,  oft  haarscharfen 
Kritik.  Kurz,  in  der  Schule  Cossa's  scheinen,  um  ein  bekanntes  Wort  aus  einem  andern 
Gebiete  zu  variiren,  alle  Genres  erlaubt  zu  sein,  mit  Ausnahme  eines  einzigen:  des  „genre 
inscientifique" ! 

Wer  seit  Jahrzehenten  so  erfolgreich  der  wissenschaftliche  Führer  seiner  Nation 
gewesen  ist,  hat  damit  in  der  denkbar  beweiskräftigsten  Weise  seinen  Beruf  dazu  legitimiert, 
auch  einen  „Führer"  für  seine  Wissenschaft  zu  schreiben.  Das  hat  Cossa  schon  vorlängst 
mit  seinem  rühmlichst  bekannten  „Guida  allo  studio  delP  economia  politica"  gethan. 
Dieses   Werk    hat    gleichfalls    wiederholte    Auflagen    erlebt    und    in   Uebersetzungen    die 


Literaturbericlit.  661 

Wanderung  in  fremde  Literaturen  angetreten.  Von  ihm  liegt  soeben  unter  dem  Titel 
„Introduzione  allo  studio  delF  econoniia  politica"  eine  neue  Auflage  vor,  welche  der 
Verfasser  als  eine  „gänzlich  umgearbeitete"  bezeichnet.  Sie  ist  es  auch,  und  sie  ist  bei 
dieser  Gelegenheit  innerlich  und  äusserlich  so  emporgewachsen,  dass  das  Werk  in  seiner 
jetzigen  Gestalt  weit  mehr  hält,  als  was  sein  bescheidener  Titel  verspricht.  Eine  blosse 
„Einleitung"  nennt  es  sich;  und  es  bietet  in  dem  ersten  der  beiden  Theile,  in  die  es 
zerfällt,  eine  der  reifsten  Erörterungen  über  die  so  schwierigen  Probleme  der  Methodologie 
und  Systematik  unserer  Wissenschaft,  während  der  zweite  „historische"  Theil  nichts 
geringeres  darstellt  als  eine  wohlausgewachsene  Geschichte  der  Wissenschaft,  die  trotz 
ihres  keineswegs  übermässigen  Umfangs  alle  bisherigen  Geschichtswerke  in  Bezug  auf 
Vollständigkeit  in  den  Schatten  stellt. 

lieber  Inhalt  und  Gliederung  des  Werkes  muss  ich  mich  hier  auf  wenige  orientierende 
Worte  beschränken.  Der  erste  „theoretische"  Theil  behandelt  in  8  Capiteln  auf  130  Seiten 
die  allgemeinen  Verhältnisse  der  politischen  Oekonomie :  Begriff,  Grenzen,  Eintheilung, 
Charakter,  Bedeutung  dieser  Wissenschaft,  dann  in  zwei  besonders  interessanten  Capiteln 
die  Terminologie  und  Definitionenlehre,  sowie  die  Methodologie  unserer  Disciplin.  Ueber 
dieses  letztere,  in  neuerer  Zeit  bis  zum  üeberdruss  viel  erörterte  Thema,  das  sich  gleich- 
wohl oft  und  insbesondere  in  einem  Werke  vom  Charakter  des  Cossa'schen  nicht  umgehen 
lässt,  spricht  sich  unser  Autor  mit  einer  ungemein  wohlthuenden  Mässigung  und 
Unparteilichkeit  aus.  Er  bezeichnet,  worin  ich  ihm  Wort  für  Wort  nur  beistimmen  kann, 
die  politische  Oekonomie  als  eine  „Erfahrungswissenschaft"  (scienza  d'osservaziont),  welche 
sich  sowohl  des  inductiven  als  des  deductiven  Denkprocesses  bedienen  muss,  wobei 
jedoch  der  Gebrauch  beider  in  den  verschiedenen  Theilen  der  Wissenschaft  abwechselnd, 
und  zwar  in  verschiedenen  Functionen  von    verschiedener  Wichtigkeit  stattzufinden  hat. 

Der  historische  Theil  (SS.  131 — 564)  behandelt  der  Reihe  nach  die  „fragmentarische 
Epoche"  unserer  Wissenschaft,  die  der  Autor  das  Alterthum  und  Mittelalter  umfassen 
und  in  der  Neuzeit,  wenigstens  für  einen  Theil  d'  r  Schriftsteller,  noch  bis  zum  Ende 
des  17.  Jahrhunderts  reichen  lässt;  weiter  die  Periode  der  „empirischen  Systeme  und  der 
Monographien"  (vom  16.  bis  in  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts),  sodann  die  Periode  der 
„wissenschaftlichen  Systeme"  (Physiokraten  und  A.  Smith),  endlich  die  „kritische  Periode 
der  Jetztzeit",  welche  der  Verfasser  getrennt  nach  Ländern  und  Nationen  zur  Darstellung 
bringt.  Den  Charakter  der  Darstellung  kann  ich  vielleicht  am  besten  durch  die  Gegen- 
überstellung mit  andern  'bekannten  Geschichtswerken  der  Nationalökonomie  schildern. 
Cossa  schreibt  seine  Geschichte  wesentlich  anders  als  Dühring,  Eisenhart  und 
Ingram  sie  geschrieben  haben.  So  sehr  sich  die  ebengenannten  Historiker  untereinander 
unterscheiden  mögen,  so  stimmen  sie  doch  in  einer  gewissen  Art  des  Vorgehens  überein: 
sie  heben  die  Hauptlinie  der  Entwicklung  —  oder  was  sie  dafür  halten  —  ungemein 
kräftig  hervor,  und  lassen  daneben  alles  übrige  im  tiefen  Schatten  oder  wenigstens 
Halbschatten.  Iliebei  gewinnen  natürlich  snbjective  Tendenzen  des  Darstellers  einen 
unverhältnismässig  grossen  Einfluss  auf  die  Darstellung;  sie  entscheiden  sowohl  darüber, 
welche  Figuren  überhaupt  in  den  Vordergrund  gestellt,  und  welche  bei  Seite  gelassen 
werden,  als  auch  darüber,  ob  ihnen,  als  Förderer  oder  Opponenten  gegen  die  vom 
Darsteller  als  die  Linie  des  wahren  Fortschritts  gepriesene  Bewegungsrichtung,  Gunst 
oder  Ungunst  zu  spenden  sei.  Cossa  ist  anders.  Er  bemüht  sich  fast  bis  zum  üeberraass 
unparteiisch  und  gleichmässig  zu  referiren.  Er  verhimmelt  nichts  und  niemanden,  und  er 
unterdrückt  nichts  und  niemanden.  Natürlich  lässt  er  auch  seine  eigene  kritische 
Meinung  zum  Worte  kommen,  und  hält  mit  Lob  und  Tadel  nicht  zurück;  aber  er  lässt 
sie  nie  sich  bis  zur  Leidenschaft  steigern.  Er  zeigt  diejenige  Art  von  Toleranz  und 
Wohlwollen,  wie  sie  Männern  eigen  zu  sein  pflegt,  die  viel  gesehen  und  erfahren  haben. 
Seine  Art  der  Geschichtschreibung  ist  infolge  von  alldem  gewiss  nicht  so  pikant  oder 
dramatisch  bewegt  als  die  einiger  seiner  Vorgänger,  aber  sie  ist  dafür  musterhaft 
objectiv,  getreu  und  vollständig:  so  vollständig,  wie  sie  von  einem  Manne  erwartet 
werden  konnte,  der  wahrscheinlich  unter  den  jetzt  lebenden  Nationalökonomen  der 
gründlichste  Literaturkenner  ist:  und  so  vollständig,  dass  sie  geeignet  ist.  zugleich  auch 


QQ2  Literaturbericht. 

als  Bibliografie  unserer  Wissenschaft  zu  dienen.  Ich  halte  das  Buch  in  seiner  jetzigen 
Gestalt  für  ein  unentbehrliches  Requisit  für  jeden  Nationalökonomen;  und  ich  wünsche 
ihm  dasselbe  freundliche  Geschick,  welches  allen  früheren  Werken  Cossa's  gelächelt 
hat,  und  unter  anderem  auch,   dass   es  bald  einen  deutschen   Uebersetzer  finden  möge. 

E.  Böhm-Bawerk. 
Lesebuch  zur  Geschichte  der  deutschen  Staatswissenschaft  von  Engelbert 
V.  Volkersdorf  bis    Joh.    St.    Pütter.    Zum  akademischen  Gebrauche  bearbeitet  und 
herausgegeben  von  Geor^  MoUat.    Tübingen  1891.  Verlag  der  H.   Laupp'schen  Buch- 
handlung. Lex.  80  132  und  VIII  Seit.  —  3  Mk. 

Ein  Lesebuch,  dürften  viele  von  den  Lesern  der  vorliegenden  Sammlung  von 
Ausschnitten  staatswissenschaftlicher  Arbeiten  verwundert  ausrufen.  Man  ist  gewohnt 
Lesebücher  von  Materien  in  die  Hand  zu  bekommen,  welche  in  niederen  Schulen  gelehrt 
werden,  nicht  jedoch  von  Wissenschaften,  welche  wie  die  Staatswissenschaft  doch  nur 
an  Hochschulen  vorgetragen  werden.  Immerhin  ist  der  Gedanke,  welcher  der  Sammlung 
zugrunde  liegt,  ein  recht  glücklicher.  Es  ist  hier  gewissermaassen  das  Princip  des  An- 
schauungsunterrichtes übertragen  auf  eine  geschichtliche  Wissenschaft.  Wie  man  heutzu- 
tage Literaturgeschichte  vorwiegend  an  der  Hand  von  Beispielen  lehrt,  ja  so  weit  geht, 
das  Ideal  der  Lehre  in  der  möglichst  reichen  Ausstattung  der  Darstellung  mit  Bildnissen, 
Handschriften,  Abbildungen  der  denkwürdigen  Wohnstätten  u.  s.  w.  zu  suchen,  so  ist 
auch  hier  der  Versuch  gemacht,  die  Entwickelung  der  deutschen  Staatswi^senschaft  vom 
14.  Jahrhundert  bis  zur  Mitte  des  18.  mit  Hilfe  von  kurzen  Abschnitten  aus  kleineren 
und  grösseren  Werken  von  26  bedeutenden  Männern,  die  sich  mit  staatsrechtlichen 
Fragen  beschäftigten,  zu  schildern. 

Man  lernt  dadurch  aber  nicht  bloss,  welche  staatswissenschaftlichen  Fragen  die 
einzelnen  Männer,  die  verschiedenen  Zeiten  am  meisten  beschäftigten,  wie  diese  Fragen 
behandelt  wurden,  wie  sich  der  Kreis  derselben  zusehends  erweiterte  und  wie  sich 
daraus  eine  Staatswissenschaft  entwickelte,  sondern  man  lernt  auch  etwas  viel  Bedeuten- 
deres, man  lernt  erkennen,  wie  sich  die  Sprache,  und  da  doch  die  Sprache  nur  die  Form 
des  Denkens  ist,  wie  sich  das  Denken  im  Laufe  der  Jahrhunderte  mächtig  ausgebildet 
hat  und  anderer-eits  welche  unverwüstliche,  ewige  Dauer  einzelnen  staatswissenschaft- 
lichen Fragen  zukommt.  Oder  ist  es  nicht  dasselbe,  was  Luthern  bewegte,  als  er  in 
seiner  Abhandlung  von  des  christlichen  Standes  Besserung  gegen  die  Einmischung  des 
Papstes  in  weltliche  Händel  donnerte,  und  dasjenige  was  heutzutage  die  französischen 
Royalisten  und  das  katholische  Centrura  des  deutschen  Reichstages  erregt?  Oder  werden 
je.  solange  eine  Herrschergewalt  besteht,  solange  ein  Staat  besteht,  die  Fragen,  welche 
Zwingli  behandelte,  nach  dem  Rechtsgrund  des  HeiTSchens  der  Obrigkeit,  nach  den 
Grenzen  der  Staatsgewalt  unerörtert  bleiben  können?  Speciell  in  dem  drohenden  socia- 
listischen  Staat  werden  sie  am  allerhäufigsten  zu  behandeln  sein.  Und  wie  werden  diese 
und  andere  ewig  gleiche  Fragen  behandelt.  Gewiss  tiefsinnig  und  recht  verständig,  aber 
wie  mühsam  und  schwerfällig;  man  hört  das  Keuchen  der  Denkmaschine.  Wenn  wir 
heutzutage  solche  Fragen  erörtern,  dann  bedarf  es  nicht  gar  so  vieler  Worte,  oder  wenn 
wir  weiter  ausgreifen,  was  ziehen  wir  da  alles  in  unseren  Gedankenkreis  herein,  wie 
unendlich  weit  dehnt  sich  unser  geistiger  Horizont.  Es  darf  das  nicht  verwundern.  Ein 
einfacher  Satz  bringt  heutzutage  nicht  bloss  den  einzelnefft  Gedanken,  den  er  enthält,  in 
unser  Bewusstsein,  sondern  ein  unendlich  reicher  Gedankencomplex  steigt  gleichzeitig 
mit  ihm  empor.  In  früheren  Jahrhunderten  und  je  weiter  zurück  desto  mehr  mussten  die 
Schriftsteller  versuchen  den  Inhalt  dieser  Gedankencomplexe  aufzuzählen,  um  sich  ver- 
ständlich zu  machen,  und  das  war  mühsam,  vollkommen  überhaupt  nicht  durchzuführen. 
Damals  fielen  die  Worte  wie  Steine  in  einen  weichen  Lehmboden,  heutzutage  wie  Steine 
in  tiefes,  ruhiges  Wasser,  in  welchem  sich  die  Bewegung  fortpflanzt  —  tief  und  weit  nach 
allen  Seiten.  Dass  dies  heutzutage  der  Fall  ist,  das  eben  ist  das  Verdienst  der  vergan- 
genen Gelehrtengeschlechter;  und  dass  man  diese  Entwickelung  an  der  Hand  der  Be- 
handlung gleicher  Fragen,  wie  in  der  Handhabung  der  deutschen  oder  der  lateinischen 
Sprache  bequem  verfolgen,  ja  förmlich  sehen  kann,  das  ist  das  Verdienst  von  Sammlungen 


Literatlirbericht,  gß  3 

wie  die  vorliegende.  Freilich  sollten  sie,  um    diesem  hohen  Zweck  zu   dienen,  inhaltlich 
reicher,  umfassender  sein,  wie  diese. 

Gleichwohl  ist  auch  in  dieser  Beziehung  die  vorliegende  Arbeit  nicht  ärmlich.  Es 
sind  in  derselben  mit  ein  oder  mehreren  Abschnitten  berücksichtigt  (und  wir  nennen  nur 
besonders  hervorragende  Namen)  Bebenburg,  Luther,  Zwingli,  Limnaeus, 
Oonring,  Pufendorf,  v.  Seckendorff,  Leibnitz,  Thomasius,  Coc- 
c  e  j  i,  W  0  1  f  f,  Friedrich  der  Grosse,  Moser,  P  ü  1 1  e  r  etc.  Obwohl  beschränkt, 
ist  diese  Auswahl  der  Männer,  wie  ihrer  Arbeiten  eine  recht  glückliche  zu  nennen  und 
wir  glauben,  dass  an  der  Hand  derselben  Vorträge  über  die  Entwickelung  der  Staats- 
wissenschaften recht  belebt  werden  können.  Was  sonst  mühsam  aus  verschiedenen,  meist 
recht  schwer  zu  beschaffenden  Ausgaben  der  Werke  einzelner  Schriftsteller  beschafft 
werden  muss,  hier  ist  es  im  engen  Rahmen  verbunden  dargeboten.  Da  dies  so  bequem 
der  Fall  ist,  sollte  man  nicht  leicht  mehr  auf  die  Unterstützung  verzichten ,  welche  ein 
derartiger  Vortrag  durch  solch  ein  „Lesebuch"  gewinnen  kann  und  von  deren  Bedeutung 
wir  vorhin  einiges  hervorzuheben  versuchten.  Abgesehen  von  der  Förderung  akademischer 
Vorträge  dürfte  dies  „Lesebuch"  auch  sonst  allen  denjenigen  eine  Förderung  sein, 
welche  sich  über  ein  oder  die  andere  Frage  aus  der  älteren  Staatswissenschaft  oder  über 
Fragen  von  allgemeiner  Wichtigkeit  besser  belehren  oder  aber  ihr  Bild,  dass  sie  von 
einzelnen  Gelehrten  besitzen,  besser  auffärben  wollen.  Freilich  dürfen  sie  dann  ihr 
Latein  nicht  ganz  vergessen  haben.  Juraschek. 

Oesterreicliisclies  Staatsrecht.  Bearbeitet  von  Dr.  J.  Ulbrich.  2.  gänzlich  um- 
gearbeitete Auflage.  Freiburg  i.  B.  1892.  Von  J.  C.  B.  Mohr.  —  Lex.  8^264  und  XII  Seit. 
—  6  Mk.  —  aus  dem  4.  Bande  von  Marquardsen's  Handbuch  des  öffentlichen  Rechts.  — 

Die  Sammlung  Marquardsen's,  welche,  ein  modernes  Seitenstück  zur  berühmten 
Sammlung  Elze  vir 's,  das  Staats-  und  Verwaltungs-Recht  der  europäischen  und  vieler 
aussereuropäischer  Staaten  zur  Darstellung  bringt,  ist  einem  sehr  glücklichen  Gedanken 
entsprungen,  gleichwohl  legt  der  Zwang  der  Sammlung  den  Verfassern  der  einzelnen 
Staatsrechte  Beschränkungen  auf,  welche  nicht  gestatten  diese  Einzelarbeiten  ohne  Rück- 
sichtnahme auf  das  Ganze  zu  beurtheilen.  Diese  Beschränkungen  treten  besonders  stark 
bei  Staaten  hervor,  welche  wie  Österreich-Ungarn  ein  complicierteres  Staatsrecht  besitzen 
und  eingehende  allgemein  staatsrechtliche  Erörterungen  verlangen,  die  aber  mit  Rück- 
sicht auf  den  ersten  Band  der  Sammlung  nur  ganz  knapp  ausfallen  können.  Ebenso  ist 
durch  die  Anlage  der  Sammlung  ein  Zusammenwerfen  von  Staats-  und  Verwaltungsrecht 
o-efordert,  was  keineswegs  von  Vortheil  ist; 

Aus  dieser  schwierigen  Situation  hat  sich  Ulbrich  mit  besonderem  Glücke  heraus- 
gezogen, wie  auch  die  Thatsache  beweist,  dass  sein  Buch  bereits  in  2.  Auflage  vorliegt. 
Eine  2.  Auflage,  was  kann  da  ein  Recensent  noch  weiter  loben?  Gleichwohl  möchten 
wir  Einiges  bemerken. 

Ulbrich  fasst  Oesterreich-Ungam  als  Realunion,  die  beiden  Theile  der  Monarchie 
als  selbständige  Staaten  auf  und  schrieb  von  diesem  Standpunkte  aus  ein  österreichi- 
sches Staatsrecht,  wobei  freilich  auch  noch  eingewendet  werden  kann,  dass  ein  „Oester- 
reich"  als  ein  Theil  der  Monarchie  gesetzlich  nicht  existirt,  obschon  sich  diese  Bezeich- 
nung für  die  im  Reichsrathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder  immer  mehr  einbürgert, 
wie  ja  auch  der  Verfasser  bald  diesen,  bald  jenen  Ausdruck  gebraucht.  Für  die  Monarchie 
bestehen  ferner  nach  dem  Verfasser  (S.  19)  nur  besondere  Organe  zur  Bildung  eines 
Societätswillens  und  gemeinsame  Angelegenheiten.  Trotz  dieser  Anschauung  spricht  der 
Verfasser  von  einem  „Gesammtstaat"  und  handelt  in  abgesonderten  Abschnitten  von  den 
Organen  0 esterreich- Ungarns  (S.  21—26),  von  den  wirtschaftlichen  Beziehungen  der  beiden 
Theilstaaten  (S.  26—35)  und  von  der  Verwaltung  der  gemeinsamen  Angelegenheiten 
(S.  246—256),  wobei  das  Merkwürdige  passiert,  dass  das  Papier-  und  Münzwesen,  die 
Beitragsleistung  Ungarns  zur  Staatsschuld  u.  s.  w.  unter  und  neben  den  verfassungs- 
rechtlichen Fragen,  der  Aemterorganismus  in  Bosnien  aber  unter  den  gemeinsamen  Ver- 
waltungsangelegenheiten nebenher  besprochen  wird.  Die  Folge  dieser  geringen  Consequenz 
ist.  dass  einzelne  Institutionen  an  zwei  und  mehr  Orten  besprochen  werden ,  so  der  Mon- 


554  Literaturbericht. 

arch,  die  Ministerien  etc.,  dass  anderes  wie  das  Staatsgebiet,  wovon  doch  auch  die 
pragmatische  Sanction  handelt,  zwar  nur  einmal  im  Verfassungsrechte  der  Keichsraths- 
länder  behandelt  wird,  dass  aber  gerade  durch  den  Gegensatz  zu  dem  ersteren  Vorgange 
dadurch  eine  gewisse  Unklarheit  hervorgerufen  wird  und  dass  überhaupt  diese  Methode 
die  richtige  und  vollständige  Erfassung  der  einzelnen  Institution  sehr  erschwert,  wenn 
nicht  unmöglich  macht.  Bei  der  Anschauung  des  Verfassers  gehört  eben  die  Darstellung 
des  Societätsverhältnisses  in  das  Capitel,  welches  er  mit  „der  Staat  der  Gegenwart"  über- 
schrieb und  ist  das  österreichische  Staatsrecht  in  der  Weise  darzustellen,  dass  bei  jeder 
einzelnen  Institution  angegeben  wird,"  wodurch  sie  in  das  gemeinsame  Societätsverhältnis 
hineinragt,  wie  sie  durch  diese  Theilnahme  selbst  verändert  wurde  und  wie  sie  mitwirkt 
zur  Herstellung  des  Societätswillens.  Es  ist  dies  um  so  nöthiger,  als  das  Zusammensein 
mit  Ungarn  nicht  bloss  die  Organisation  und  Verwaltung  der  gemeinsamen  Angelegen- 
heiten, sondern  auch  ganz  abseits  liegende  Dinge  beeinflusst,  bei  welchen  dann  doch 
wieder  auf  die  Verbindung  mit  Ungarn  zurückgegangen  werden  muss :  so  ist  z.  B.  der 
Ungar  in  Österreich  Ausländer,  aber  er  wird  doch  nicht  so  behandelt  wie  ein  anderer 
Ausländer,  eben  weil  sein  Heimatland  ein  Bestandtheil  der  Monarchie  ist. 

Auch  im  übrigen  scheint  uns  das  System  nicht  ganz  zutreffend  zu  sein.  Es  ist 
schade,  dass  sich  der  Verfasser  über  dasselbe,  vielleicht  mit  Eücksicht  auf  die  allge- 
meinen Darstellungen  im  ersten  Bande  der  Sammlung  nicht  ausspricht.  Es  wäre  dies 
aber  schon  deshalb  nöthig  gewesen,  weil  in  die  Darstellung  des  Staatsrechtes  auch  das 
Verwaltungsrecht  einbezogen  würde  und  der  Verfasser  bekanntlich  für  den  selbständigen 
Ausbau  beider  Disciplinen  eintrat,  ja  dies  auch  in  diesem  Buche  sagt  (S.  X)  und  dabei 
nur  bemerkt,  dass  die  Rücksicht  auf  einen  weiteren  Leserkreis  die  Aufnahme  der  ver- 
waltungsrechtlichen Partien  fordert.  In  dem  System  sind  nun,  wie  es  scheint,  ohne 
zwingenden  Grund  beide  Disciplinen  etwas  durcheinander  geworfen.  Das  Buch  zerfällt 
nämlich  in  folgende  8  Abschnitte:  1.  Geschichtliche  Einleitung.  2.  die  österreichisch- 
ungarische Monarchie,  3.  das  Verfassungsrecht  der  Reichsrathsländer,  4.  die  Willens- 
functionen  des  S  aates,  5.  die  Finanzwirtschaft,  6.  die  Gemeinde-  und  Provincialverbände, 
7.  die  allgemeine  Landesverwaltung,  8.  die  Verwaltung  der  gemeinsamen  Angelegenheiten. 

Die  geschichtliche  Einleitung  ist  sehr  knapp  gerathen;  auch  enthält  sie  eine 
Charakteristik  der  gegenwärtigen  rechtlichen  Natur  der  Monarchie,  sowie  Oesterreichs, 
bei  welch  letzterer  sich  der  Verfasser  vielleicht  etwas  zu  lang  mit  der  Widerlegung  der 
mehr  als  sonderbaren  Anschauung  aufhält,  wornach  die  im  Eeichsrathe  vertretenen 
Länder  eine  Art  Bundesstaat  bilden.  Der  Abschnitt  über  die  östereichisch-ungarische 
Monarchie  handelt,  wie  erwähnt,  von  den  gemeinsamen  Organen,  aber  auch  von  den 
wirtschaftlichen  Beziehungen  der  Theilstaaten,  worunter  das  Reichsfinanzwesen,  während 
doch  im  8.  Abschnitte  die  gemeinsame  Verwaltung  der  auswärtigen  Angelegenheiten, 
des  Occupationsgebietes  und  des  Heerwesens  dargestellt  wird.  Das  Verfassungsrecht  der 
Reichsrathsländer  gibt  auch  den  Aemterorganismus,  jedoch  nur  den  der  Ministerien  für 
Inneres,  Cultus  !»nd  Unterricht,  Handel,  Ackerbau  und  Justiz,  während  die  Organe  der 
Finanzverwaltung  bei  der  Finanzwirtschaft,  das  Landesvertheidigungsministerium,  wie 
überhaupt  die  Landwehr  in  dem  Capitel  über  das  gemeinsame  Heerwesen  berücksichtigt 
werden.  Die  Behörden  der  Landesverwaltung  werden  nur  allzu  flüchtig  erwähnt ,  dagegen 
wird  alles,  was  sich  auf  die  Justizorgane,  wie  die  Justizverwaltung  bezieht,  hier  ziem- 
lich eingehend  erörtert.  Der  4.  Abschnitt  behandelt  unter  den  Willensfunctionen  auch  die 
Zwangsvollstreckung,  die  doch  mehr  ist  als  bloss  Willensäusserung.  Der  Abschnitt  Finanz- 
wirtschaft bespricht  die  Organe  und  die  Gebiete  derselben,  endlich  auch  den  Staatshaus- 
halt. In  ähnlicher  Weise  erörtert  der  Abschnitt  „Gemeinde-  und  Provincialverbände" 
(letzterer  ein  für  Oesterreich  ganz  unpassender  Ausdruck)  die  Organisation  und  Verwal- 
tung derselben  und  selbst  in  dem  7,  Abschnitt  Landesverwaltung  wird  die  Organisation 
eines  Verwaltungszweiges,  wie  auch  die  ganze  Rechtsstellung  der  Religionsgesellschaften 
behandelt.  Mit  dieser  Vertheilung  der  Materie  können  wir  uns  wohl  kaum  befreunden, 
wobei  jedoch  nicht  gesagt  sein  soll,  dass  wir  eine  scharfe  Scheidung  und  Gegenüber- 
stellung des  Verfassungs-  und  Verwaltungsrechtes,  der  Organisation  und  Bethätigung  als 


Literafurbericht.  (3ß5 

das  einzig  Mögliche  erklären;  wir  wünschen  nur,  dass  ein  durchschlagendes  Princip  ein- 
gehalten wird,  welches  die  leichte  Orientierung,  das  rasche  Auffinden  der  einzelnen 
Materien  auch  den  minder  Kundigen  ermöglicht. 

Im  einzelnen  ist  die  Behandlung  der  Materie  eine  recht  glückliche.  Eegelmässig 
wird  der  Darstellung  des  geltenden  Rechtes  eine  geschichtliche  Einleitung  vorausgeschickt, 
die  besonders  belehrend  ist,  so  (S.  226,  227)  die  Darstellung  der  Schulverhältnisse  unter 
Maria  Theresia  und  Kaiser  Josef  II.  (S.  232—233),  die  der  Rechtsverhältnisse  zwischen 
der  katholischen  Kirche  und  dem  Staate  seit  den  Reformen  des  Kaiser  Josefs  II.,  bei 
welcher  Gelegenheit  auch  das  Concordat  von  1855  zur  Erinnerung  vollinhaltlich  einge- 
schoben wird.  Das  geltende  Recht  wird  allgemein  verständlich,  ohne  flüchtig  zu  werden, 
eingehend,  ohne  allzuviel  Detail  zu  geben,  ganz  dem  Zwecke  entsprechend  behandelt.  Die 
brennendsten  Tagesfragen  (so  die  Nationalitätenfrage  in  Böhmen,  S.  13),  die  neuesten 
legislativen  Erscheinungen  (so  das  Gesetz  zur  Regelung  der  Rechtsverhältnisse  der  israe- 
litischen Religionsgesellschaft  von  1890,  S.  243),  die  jüngsten  Versuche  zur  Lösung  des 
socialen  Problemes  (so  die  in  Betreff  der  Arbeiterversicherung,  S.  174)  kommen  hier  zur 
Darstellung.  Aus  derselben  kann  aber  nicht  bloss  die  Kenntnis  des  Bestehenden  geschöpft 
sondern  auch  die  Anregung  zur  Reform  desselben  gefunden  werden,  indem  der  Verfasser 
sich  nicht  scheut,  die  Mängel  aufzudecken.  So  wird  (S.  224)  darauf  aufmerksam  gemacht,  das- 
die  Unternehmer  gewisser  Häuser  das  Delict  des  §.  512  des  St.-G.-B.  begehen,  ohne 
dafür  bestraft  zu  werden,  dass  dies  nur  unter  Umständen  geschieht,  ein  Zustand  der  gewiss 
nach  Abänderung  schreit.  Wenn  an  all  diesen  Darstellungen  etwas  auszusetzen  wäre. 
so  scheint  es  uns  dies  zu  sein,  dass  der  Verfasser  fast  durchwegs  referiert,  auch  dort, 
wo  man  mit  Recht  erwartet,   dass  er  entscheidend  seine  eigene  Meinung  feststelle. 

Dass  es  bei  einem  so  umfassenden  Werke  ohne  kleine  Verstösse  und  Irrungen 
nicht  abgeht,  wird  man  wohl  nicht  erwarten,  besonders  wenn  man  bedenkt,  dass  der 
Verfasser  keinen  Vorgänger  hat.  Wir  möchten  hier  nur  die  eine  irrige  Angabe,  wornach 
auch  Tirol  Bezirksvertretungen  besitzt  (S.  160),  zur  Correctur  stellen.         Juraschek. 

Die  Frage  der  Zolleinigung  mit  Oesterreich-Ungarn.  Orientierende  Darlegung 
der  Gründe  und  Gegengründe.  Von  Dr.  K.  Walker.  —  Leipzig,  Rossberg'sche  Buch- 
handlung 1892.  8'  29  und  VI  Seit.  —  Pr.   1  Mk. 

Mit.  Vergnügen  begrüssen  wir  in  dem  Verfasser  des  vorgenannten  Schriftchens  einen 
energischen  Freund  der  Zolleinigung  des  Deutschen  Reiches  mit  Oesterreich- Ungarn, 
welcher  bereits  1880  für  dieselbe  Idee  eintrat.  Diesmal  hat  derselbe  die  an  den  ver 
schiedensten  Orten  verstreuten  Erklärungen  für  die  Zolleinigung  vom  deutschen,  wie  vom 
österreichisch -ungarischen  Standpunkte  gesammelt  und  in  kurzen  Sätzen  dargestellt 
Allerdings  sind  auch  einige  Gegengründe  diesen  zustimmenden  Erklärungen  gegenüber- 
gestellt, aber  dieselben  werden  sofort  durch  entsprechende  Bemerkungen  des  Verfassers 
niedergemäht.  Durch  diese  Zusammenstellung  hat  der  Verfasser,  obschon  er  in  die  Tiefe 
des  Gegenstandes  gar  nicht  eindringt  und  sich  auch  von  jeder  sorgfältigeren  Erörterung 
des  Details  fernhält,  immerhin  der  Idee  der  Zolleinigung  einen  guten  Dienst  geleistet. 
da  hiedurch  auch  weitere  Kreise  auf  dieses  Ziel  der  kommenden  wirtschaftlichen  Ent- 
wickelung  aufmerksam  und  mit  dem  Für  und  Wider  des  Gegenstandes  wenigstens  theil- 
weise  bekannt  gemacht  werden.  Die  Gegengründe  werden  freilich  etwas  leicht  genommen 
und  leichter  abgethan,  als  das  Schwergewicht  derselben  zulässt,  denn  man  begreift  bei 
dieser  Darlegung  des  Sachverhaltes  kaum,  warum  nicht  schon  längst  die  Zolleinigung 
durchgeführt  worden  ist;  aber  der  Verfasser  ist  ja  selbst  weit  davon  entfernt,  die  Zoll- 
einigung als  in  nächster  Zeit  durchführbar  zu  bezeichnen,  er  will  nur  vorbereiten,  er 
will  nur  die  Sache  zur  Discussion  stellen.  Das  Einzige,  was  er  unmittelbar  in  Angriff 
genommen  wissen  will,  ist  die  Gründung  eines  Vereines,  der  in  Wien  seinen  Sitz  haben, 
in  den  österreichischen  Provinzstädten  möglichst  häufig  Wanderversammlungen  abhalten 
und  für  die  Zolleinigung  Propaganda  machen  soll. 

Kann  man  in  diesen  Beziehungen  dem  Verfasser  ziemlich  ungetheilten  Beifall 
zollen,  so  muss  man  ihm  in  anderer  Richtung  um  so  entschiedener  entgegentreten;  es  ist 
eben  vollkommen  unrichtig,  wenn  der  Verfasser  (S.  20)  behauptet  „die  Deutschen  hätten 

Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Socialpolitik  und  Verwaltung.  IV.  Heft.  43 


(366  Literaturbericht. 

im  Donaureiche  eine  gefährdete,  helotenartige  Lage,"  oder  wenn  er  (S.  17)  sagt  „slavi- 
sierte,  besonders  aber  magyarisifirte  Deutsche  müssen  ihren  Familiennamen  übersetzen. 
Ebenso  ist  es  ganz  ungerechtfertigt  von  einer  babylonischen  Sprachenverwirrung  in  unserer 
Armee  zu  reden  (S.  17),  da  die  Commandosprache  die  deutsche  Sprache  ist,  und  diese 
auch  allgemein  verstanden  wird.  Desgleichen  dürfte  sich  der  Verfasser  ein  klein  wenig 
irren,  wenn  derselbe  meint,  „dass  die  Aufhebung  der  Fideicommisse,  die  Einziehung  der 
Latifundien  der  todten  Hand,  die  Zerschlagung  der  Latifundien  derselben  und  der  Mag- 
naten blosse  Fragen  der  Zeit  sind,"  (S.  8,  auch  13);  wenn  er  glaubt,  dass  „Millionen  (!) 
der  jüngeren  Söhne  deutscher  Eittergutsbesitzer  und  Bauern  im  Laufe  der  Zeit  als 
Verwalter,  Pächter,  Käufer  von  Gütern  im  Donaureiche  gute  Versorgung  finden  werden" 
(S.  8);  wenn  er  überhaupt  von  der  Germanisierung  der  Monarchie  als  etwas  selbstver- 
ständlichem und  leicht  durchführbarem  spricht.  Wir  in  Oesterreich  dürften  von  all  dem 
wohl  eine  andere  und  tiefer  begründete  Meinung  haben.  Wenig  Kenntnis  von  der  Frei- 
heit unserer  Selbstverwaltung  verräth  ferner  die  Forderung  einer  Vorschrift,  welche  den 
Gebrauch  der  deutschen  Sprache  in  allen  Gemeindevertretungen  gestattet  (S.  11),  und 
ganz  unklar  erscheint  die  Forderung,  dass  den  Keichsdeutschen  das  Recht  gewährt  werde, 
deutsche,  protestantisch-paritätische  Gymnasien  und  Volksschulen  zu  begründen  (S.  10). 
Gegenüber  den  (S.  20)  angeführten  Wertangaben  der  Einfuhr  aus  Deutschland  nach 
Oesterreich-Ungarn,  resp.  der  Ausfuhr  von  da  nach  Deutschland  im  Jahre  1889  nach  der 
österreichischen  Statistik  muss  noch  bemerkt  werden,  dass  die  österreichische  Statistik  bis 
zum  Jahre  1891  die  Ursprungs-  und  Bestimmungsländer  der  ein-  resp.  ausgeführten 
Waren  gar  nicht  erhob,  daher  auch  keine  Angaben  über  die  Einfuhr  aus,  resp.  die  Aus- 
fuhr nach  einem  bestimmten  Lande  machen  konnte.  Bis  1891  hat  die  österreichische 
Statistik  eben  nur  Menge  und  Wert  der  über  eine  bestimmte  Grenzstrecke,  so  über  die 
Seegrenze,  über  die  Grenze  gegen  Deutschland  u.  s.  w.  ein-  resp.  ausgeführten  Waren 
angegeben,  unbekümmert  darum  woher  diese  Waren  kommen,  wohin  sie  gehen.  Es  liegt 
also  da  eine  Verwechslung  vor  und  diese  erklärt  auch  die  grossen  Differenzen  zwischen 
den  Angaben  der  österreichischen  und  jenen  der  deutschen  Statistik.  Höchst  charakteri- 
stisch für  unsere  Zeit,  wenn  auch  wenig  erfreulich,  ist  die  Häufigkeit,  mit  welcher  der 
Verfasser  immer  wieder  das  confessionelle  Moment  in  die  Discussion  zieht;  bald  ist  es 
die  Confession  der  Bevölkerung  eines  Landstriches,  bald  die  eines  Staatsmannes  oder  die 
des  Vertreters  einer  bestimmten  wirtschaftlichen  Anschauung,  welche  besonders  hervor- 
zuheben nöthig  scheint.  Wenn  man  dies  Zusammenwerfen  von  confessionellen  und  wirt- 
schaftlichen Momenten  so  oft  wiederkehren  sieht,  dann  fragt  man  sich  unwillkürlich,  ob 
es  denn  wirklich  wahr  ist,  dass  für  unsere  Zeit  ein  Josef  11.,  ein  Friedrich  11.  mit  ihren 
Toleranzedicten  gar  nicht  gelebt  hat,  ein  Nathan  nicht  geschrieben  wurde.    Juraschek. 

Beiträge    zur   Währungs-Frage    in    Oesterreich-Ungarn.     Von    Prof.    Karl 
Menger.  Jena  1892.  S.  59. 

Der  Uebergang  zur  Groldwährung.  Untersuchungen  über  die  Wertproblenie 
der   öst.-ung.   Valutai'eform.   Von  Prof.  Karl  Menger.   Wien,  Leipzig  1892,   S.  36. 

Die  erste  der  beiden  Schriften  ward  zuerst  in  den  Jahrbüchern  für  Nationalökonomie 
und  Statistik  III.  Folge,  Band  IIL  veröffentlicht.  In  den  ersten  Abschnitten  ist  eine  äusserst 
exacte  Darstellung  der  Währungszustände  der  Monarchie  seit  1848  gegeben,  insbesondere 
lässt  die  Markierung  der  Anomalien  der  österr.  Währung  an  instructiver  Pointierung 
nichts  zu  wünschen  übrig.  Der  Zustand  des  internationalen  Silbermarktes  wird  dahin 
charakterisiert,  dass  der  heutige  Preisstand  des  Silbers  kein  künstlich  herabgedrückter, 
sondeni  ein  künstlich  gehaltener  ist.  Die  de  lege  ferenda  angestellten  Erörterungen  sind 
eine  höchst  dankenswerte  genauere  Ausführung  der  vom  Verfasser  bei  der  Währungs- 
Enquete  ausgesprochenen  Ansichten.  Dieselben  sind  in  diesen  Blättern  durch  Prof. 
V.  Mataja  (Die  öst.  Währungs-Enquete)  dargelegt  worden.  Prof.  Meng  er  ist  bekanntlich 
ein  grundsätzlicher  Monometallist.  Wir  lesen  diesfalls  (S.  25),  die  Herstellung  eines 
bestimmten  Wertverhältnisses  zwischen  dem  Golde  und  dem  Silber  sei  ein  „an  sich  nicht 
erstreckenswertes  Ziel",  indem  durch  eine  diesfällige  internationale  Action  die  Erhaltung 
der  Wertbeständigkeit  des  Geldes  bedroht  werden  würde.    Stets  bestrebt,  die  Wertbe- 


Literaturbericht.  ßß7 

ständigkeit  des  Geldes  zu  erhalten  und  zu  sichern,  findet  sich  Menger  auch  nur  mit 
einer  gewissen  Einschränkung  für  die  Einführung  der  Goldwährung  in  0 esterreich  aus- 
zusprechen. Der  berühmte  Theoretiker  der  Werttheorie  und  ihrer  Probleme  hat  sich  nun 
das  grosse  Verdienst  erworben  uns  die  verschiedene  praktische  Gestaltung  des  Währungs- 
Problemes  unter  diesen  streng  logischen  Gesichtspunkten  vorzuführen.  Immerhin  muss  es 
uns  mit  Beruhigung  erfüllen,  dass  auch  das  Eesultat  so  scharfsinniger  und  tiefer  Unter- 
suchung zu  Gunsten  des  Ueberganges  Oesterreich-Ungarns  zur  Goldwährung  lautet.  Freilich 
entspringt  auch  die  Gegnerschaft  Mengers  gegen  die  nunmehr  zur  Durchführung 
gelangenden  Eeformpläne  eben  dieser  seiner  tiefsten  wissenschaftlichen  Ueberzeugung. 
Er  nimmt  es  als  zweifellos  an,  dass  die  Währungsreform  und  die  damit  verbundenen 
^oldbeschaffungen  der  Monarchie  nicht  unwesentlich  zur  generellen  Steigerung  des  Gold- 
wertes beitragen  werden.  Er  verkennt  zwar  die  Zulässigkeit  der  Anwendung  von  Pal- 
lativmitteln  nicht,  welche  hauptsächlich  auf  eine  Beschränkung  des  Goldbedarfes  abzielen, 
er  plaidiert  auch  in  diesem  Sinne  für  die  Einführung  von  Silber- Centificaten,  indes 
scheint  ihm  die  Eücksicht  auf  die  voraussichtliche  Wertsteigeruhg  des  Goldes  so  ent- 
scheidend wichtig,  dass  er  anräth  (S.  42)  die  Relationsfrage  erst  nach  Effectuierung  der 
Goldeinkäufe  zu  entscheiden.  Es  musste  mit  Grund  dagegen  erinnert  werden,  dass  ein 
solcher  Aufschub  der  Vertagung  der  Valuta-Regulierung  gleichbedeutend  sei,  und  dass 
Menger  selbst  eine  baldige  Abhilfe  dringend  nothwendig  findet.  Ebenso  müsste  aber 
auch  in  Betracht  gezogen  werden,  dass  durch  die  erfolgreiche  Goldbeschaffung  die  grössten 
Chancen  für  die  Wertsteigerung  unseres  Währungsgeldes  eröffnet  würden,  welcher  wir  nur 
durch  solche  Mittel  begegnen  könnten,  welche  die  Möglichkeit  der  Reform  selbst  endlich 
gefährden  müssten. 

Das  Kriterium  der  Wahl  der  Münzeinheit  ist  nach  Menger  Folgendes:  Die  Münz- 
einheit ist  in  dem  Maasse  richtiger  gewählt,  in  welchem  deren  hundertster  Theil  sich  als 
die  kleinste,  für  den  allgemeinen  Verkehr  wirklich  noch  nothwendige  Theilmünze  darstellt. 
Diese  Eigenschaft  vindiciert  nun  Menger  nur  dem  Gulden  ö.  W.  Wir  müssen  gestehen, 
dass  uns  in  der  Richtung  der  schlagende  Beweis  nicht  erbracht  scheint. 

Die  weit  wichtigere  Schrift  dürfte  indes  die  zweite  sein.  Die  Darstellung  ist  kurz 
und  durch  ihre  Gemeinverständlichkeit  allgemein  zugänglich.  Wir  wollen  nur  einige 
unserer  Anschauung  widersprechende  Behauptungen  und  Schlussfolgerungen  herausheben. 

Reine  Wilkür  scheint  bei  der  Berechnung  der  von  der  Regierung  beantragten 
Relation  denn  doch  nicht  gewaltet  zu  haben.  Allerdings  entspricht  sie  nicht  einer  gewöhn- 
lichen Durchschnittsberechnung,  sondern  entstammt  dem  methodischen  Vorgange  der 
Ermittlung  der  mittleren  Zahl,  welcher  die  Möglichkeit  einer  objectiven  Correctur  in  sich 
bietet.  Es  wäre  ganz  gut,  wenn  noch  zur  deutlicheren  Erhellung  des  auch  wissenschaftlich 
so  interessanten  Sachverhaltes,  dieser  methodische  Vorgang  zu  seiner  ganzen  Consequenz 
erweitert,  wenn  alle  Tagescourse  der  Jahre  1879  bis  1891  berücksichtigt  würden.  Dass 
Menger  die  Steigerung  des  Goldwertes  in  den  Jahren  1879  bis  1891  als  eine  zweifellose 
Thatsache  hinstellt,  wurde  schon  oben  betont.  Die  Wissenschaft  sowie  die  Praxis  sind 
aber  über  die  Richtigkeit  dieser  Thatsache  noch  im  Streite.  Eine  solche  hätte  aber  mit 
unserer  Relation  principiell  nichts  zu  thun,  da  Meng  er  selbst  behauptet  (S.  10),  dass 
unsere  Valuta  gegenüber  dem  Golde  sich  in  steigender  Tendenz  befand.  Das  (auf  S.  9) 
hervorgehobene  statistische  Analogen  der  Geburtsziffer- Steigerung  könnte  daher  auch  nicht 
in  Mengers  Sinne  angewendet  werden.  Ob  durch  die  Festsetzung  einer  höheren  Relation 
zwischen  unserem  Papiergelde  und  dem  Golde  die  Wirkungen  einer  allgemeinen  Wert- 
steigerung des  Goldes  bekämpfbar  wären,  ist  äusserst  fraglich,  ein  principieller  Grund 
liegt  für  diese  Annahme  nicht  vor. 

Aus  dem  stets  festgehaltenen  Axiom  einer  zu  erwartenden  absoluten  Steigerung 
des  Goldwertes  wird  endlich  das  Wiederauftreten  eines  Goldagios  prognosticiert.  Auch 
diese  Prognose  entbehrt  des  stringenten  Schlusses.  Um  ein  solches  hervorzurufen, 
müssten  andere  wirtschaftliche  Misstände  dazutreten;  nur  eine  allgemeine  Preis- 
depression könnte  die  directe  Folge  einer  allgemeinen  Wei-tsteigerung  des 
Goldes  sein. 

43* 


ß5§  Literaturbericht. 

Trotz  solcher  abweichender  Ansichten  finden  wir  uns  dem  Verfasser  für  seine  gewohnte, 
meisterhafte  Untersuchung  des  Wertproblemes  zu  grösstem  Dank  verpflichtet  und  zweifeln 
nicht,  dass  dieses  Gefühl  jeder  Leser  theilen  wird.  Dr.  J.  Grub  er. 

Mataja^  Victor,  Dr.,  a.  o.  Professor  an  der  Universität  Innsbruck.  Grossmaarazine 
und  Kleinhandel.  105  S.,  Leipzig  1891,  Duncker  &  Humblot. 

Mit  Recht  betont  der  Verfasser  der  zeitgemässen  Schrift  in  der  Einleitung,  dass 
unter  den  Factoren  der  neuzeitlichen  socialen  und  wirtschaftlichen  Entwicklung  ins- 
besondere die  Industrie  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen  habe.  Während  die  Schriften 
hierüber  Legion  bilden,  trete  uns  ein  ganz  anderes  Bild  entgegen,  wenn  wir  uns  dem 
Kaufmannsstand  zuwenden :  hier  seien  die  Untersuchungen  über  die  Betriebsformen  des 
Handels,  über  die  Verhältnisse  seiner  Angehörigen,  über  Lohn  und  Arbeitszeit  äusserst' 
spärlich  gesäet.  Ueber  die  Industrie  berichten  Theoretiker,  Arbeitsinspectoren,  arbeits- 
statistische Aemter,  Enqueten  und  Zeitschriften  in  ausführlicher  Weise,  so  dass  der- 
jenige, der  Material  darüber  sammle,  mehr  mit  der  Verlegenheit  zu  kämpfen  habe, 
dasselbe  zu  sichten,  als  solches  überhaupt  zusammen  zu  bekommen;  die  Aufgabe  des- 
jenigen, welcher  sich  mit  dem  Handelsstande  und  den  diesen  berührenden  Fragen 
beschäftigen  wolle,  sei  hingegen  eine  ganz  andere:  Materiale  zu  gewinnen,  ist  für  ihn 
die  grössere  Schwierigkeit,  nicht  aber  sie  zu  übersehen  und  zu  ordnen. 

So  erhebt  Dr.  Mataja  die  Frage,  ob  das  Zurücktreten  der  Beachtung  vielleicht 
in  der  Annahme  zu  suchen  sei,  dass  hier  alles  in  Ordnung  sei  und  die  Verhältnisse  eine 
wünschenswerte  Stetigkeit  —  das  Zeichen  der  Gesundheit  —  besitzen.  Gerade  das  Gegen- 
theil  sei  richtig.  Der  Handelsbetrieb  sei  in  der  nämlichen  Umwälzung  begriffen  wie  das 
Gewerbe  —  ein  Umstand,  der  gar  nicht  befremden  könne,  wenn  man  erwäge,  wie 
abhängig  Erzeugung  und  Absatz  voneinander  sind,  wie  wenig  es  daher  zu  vermuthen 
sei,  dass  die  Kräfte  der  Entwicklung,  welche  zu  einer  Umgestaltung  der  ersteren  geführt, 
nicht  auch  zu  einer  Umgestaltung  des  letzteren  drängen  sollten.  Diese  zu  verfolgen  und 
die  Einflüsse  zu  zeigen,  welche  das  alte  Gefüge  des  Handels  zu  zersetzen  drohen,  ist 
die  Aufgabe  der  neuen,  dem  Grossmagazinswesen  gewidmeten  Schrift. 

Im  ersten  Capitel  wird  zuerst  der  Begriff  des  Magazins-  und  Grossmagazins- 
systems erörtert.  Der  Ausdruck  Grossmagazin  als  oberste  Stufe  des  Magazinsystems  ist 
nur  Nachbildung  eines  Französischen.  Die  Worte  „Grands  Magasins"  sind  in  Frank- 
reich zu  typischer  Bedeutung  gelangt,  und  jene  kaufmännischen  Etablissements,  welche 
diese  Bezeichnung  in  erster  Linie  führen  und  verdienen,  wie  der  Louvre,  der  Bon  Marche, 
der  Printemps,  sind  nicht  bloss  stadt-  sondern  weltbekannt,  ohne  dass  sich  die  Eeihe 
der  in  Frankreich  vorhandenen  Grossmagazine  erschöpfen  würde.  Darunter  werden  die 
auf  den  Verkehr  mit  den  wirklichen  Consumenten  berechneten  Geschäfte,  also  Detail- 
geschäfte in  grösstem  Stile  bezeichnet,  ohne  dass  es  möglich  wäre  ein  bestimmtes 
Merkmal  anzugeben,  wo  der  Kleinhandel  aufhöre  und  das  Grossmagazin  anfange.  Sodann 
gibt  der  Verfasser  ein  Bild  über  die  Ausbreitung  des  Grossmagazinswesens  in  den  ver- 
schiedenen Ländern. 

Was  Europa  anbelange,  so  scheinen  sich  die  Grossmagazine  zuerst  und  am 
beträchtlichsten  in  den  Hauptstädten  zu  entwickeln;  Frankreich  und  England  besitzen, 
was  die  Grösse  der  Etablissements  betrifft,  den  Vorrang. 

In  Frankreich,  speciell  Paris,  gehe  die  Entwicklung  der  Grossmagazine  zum 
mindesten  schon  auf  die  Zeit  Louis  Philipps  zurück.  Für  ihr  Wachsthum  scheine  ins- 
besondere günstig  die  Zeit  des  zweiten  Kaiserthums  gewesen  zu  sein,  als  sich  das  Luxus- 
bedürfnis erheblich  verbreitete,  demokratisierte  und  immer  mehr  und  mehr  auch  solche 
Kreise  ergriff,  denen  ihre  ökonomischen  Mittel  einige  Beschränkung  geboten.  Heute 
bilden  die  Grands  Magasins  de  Nouveautes  ohne  Zweifel  eine  Sehenswürdigkeit  von  Paris, 
Dem  Beschauer  würden  sich  jene  Magazine  als  mächtige  Hallen  darstellen,  voll  von 
Tischen  und  Küsten,  die  beladen  sind  mit  allen  erdenklichen  Gegenständen  für  die 
Bekleidung  und  sonstige  äussere  Ausstattung  des  Menschen,  namentlich  des  weiblichen 
Geschlechts,  dessen  Bedürfnisse  daran,  zumal  in  Paris,  einige  Vielseitigkeit  besitzen; 
daneben  werde    noch    eine  Fülle    anderer  Sachen    und   Sächelchen    feilgeboten,    die    zur 


Literaturbericht.  669 

Ausschmückung  des  Zimmers  oder  zu  sonstigen  Zwecken  dienen.  Eine  nach  Hunderten 
und  oft  nach  Tausenden  zählende  Menge  woge  herum,  die^  nervöse  Hast  des  Geschäfts- 
lebens scheine  hier  keine  Stätte  zu  haben,  da  alle  lange  betrachten,  beschauen,  prüfen 
mit  jener  Sorgsamkeit,  mit  welcher  der  Mensch  die  Frage  zu  behandeln  pflege,  ob  der 
Stoff  um  einen  Schatten  dunkler  oder  lichter  zu  wählen  sei.  Nichts  werde  versäumt,  um 
die  Aufmerksamkeit  des  Publicums  zu  gewinnen  oder  der  Bequemlichkeit  der  Kunden  zu 
dienen.  Die  Keclame  wird  im  grossen  betrieben,  Preislisten  in  der  Stärke  eines  Buches 
gelangen  zur  Ausgabe;  einige  der  grössten  Magazine  haben  sogar  in  ihren  Localitäten 
Büffets  und  Lesesalons  errichtet. 

An  der  Spitze  dieser  Unternehmungen  stehen  der  Bon  Marche  und  der  Louvre. 

Ersterer  habe  sich  unter  Leitung  Boucicauts  zu  seiner  grossen  Bedeutung  empor- 
geschwungen und  bilde  gegenwärtig  eine  Commandit-Gesellschaft  auf  Actien  (1890:  ein- 
gezahltes Capital  20  Mill.,  Reserven  21-8  Mill.  Franken).  Die  von  ihm  erzielten  Geschäfts- 
gewimie  werden  wie  folgt  angegeben: 

1872  kaum 25  Mill.  Francs 

1877      „  .......      95  „ 

1884  ungefähr 100  „ 

1886  „  112  „ 

1887  „  118  , 

1888  „  124  „ 

1889  „  134  '  „ 

Die  Zahl  der  Angestellten  werde  auf  rund  4000  geschätzt. 

Auch  der  Louvre  bilde  seit  1890  eine  Actiengesellschaft;  sie  betreibe  die  bekannten 
Magazine  und  daneben  noch  zwei  Ilötels  —  Hotel  du  Louvre  und  Hotel  Terminus.  Das 
(Kapital  beträgt  22  Mill.  Franken  (440  Actien  ä  50.000  Franken,  von  denen  sich  freilich 
iiber  drei  Viertel  in  zwei  Händen  befinden  sollen.)  Der  Cassenumsatz  der  Louvremagazine 
wird  für  1889  mit  135  Mill.  Franken  angegeben. 

Diesen  beiden  Häuptern  schliesse  sich  sodann  der  Printemps  an  (Actien-Comman- 
ditgesellschaft  Jules  Jaluzot  &  Co.,  betreibe  auch  Zuckerraffinerien,  Actiencapital  35  Mill. 
Franken)  mit  60  Mill.  Frcs.  Umsatz  (1889),  sowie  eine  Reihe  anderer  Magazine  mehr 
oder  minder  bedeutenden  Umfangs,  welche  zum  Theil  auch  den  Schwerpunkt  ihrer 
Thätigkeit  nicht  in  besseren  Confections-Modewaren  suchen,  wie  die  vorerwähnten,  sondern 
in  minderen  Bekleidungsartikeln,  Haushaltungs-  und  Gebrauchsgegenständen. 

Das  Grossmagazinswesen  scheine  in  Frankreich  noch  im  Aufblühen  zu  sein, 
dagegen  zeige  sich  eine  Tendenz  zum  Verschwinden  der  Magazine  mittleren  Ranges. 
Dass  solche  Grossmagazine  nicht  mehr  auf  Paris  allein  beschränkt  seien,  zeige  Lyon, 
das  schon  zwei  hervorragende,  nach  Art  der  Pariser  Etablissements  eingerichtete  Unter- 
nehmungen besitze  (Les  Deux  Passages  und  Le  Grand  Bazar  zum  Verkaufe  aller  Arten 
von  Toiletteartikeln,  Tapeten,   Möbeln    etc.,   letzterer   auch   von   Haushaltungsartikeln). 

Durch  ein  kunstvoll  organisiertes  Versandtgeschäft  würden  die  Pariser  Etablisse- 
ments jedoch  einen  ausgedehnten  Absatz  sowohl  in  den  Orten  der  Umgebung  von  Paris 
wie  überhaupt  in  ganz  Frankreich  und  selbst  im  Auslande  finden. 

Unermüdlich  werde  für  Reclame  und  Bekanntmachungen  aller  Art  gesorgt,  dem 
Publicum  durch  zeitweilige  Ausverkäufe  der  in  der  Saison  befindlichen  Artikel  immer 
wieder  Neues  geboten,  der  Eifer  der  Verkäufer  durch  Provisionen  auf  die  gemachten 
Verkäufe  und  Wiederabzug  derselben  bei  retournierten  Waren  aufs  höchste  angespornt, 
wie  überhaupt  das  Prämiensystem  im  weitesten  Umfang  angewendet.  So  seien  denn  die 
Pariser  Grands  Magasins,  was  die  Energie  beim  Vertrieb  der  Waren  betrifft,  geradezu 
mustergiltig  für  ähnliche  Schöpfungen  in  anderen  Ländern  geworden. 

Grossbritannien  zähle  eine  beträchtliche  Menge  Detailgeschäfte  grösster  Aus- 
dehnung, die  vor  allem  in  London  zu  suchen  seien.  Obenan  stehen  die  verschiedenen 
Beamten-  und  Militär-Consumvereine,  die  aber  fast  richtiger  als  Actiengesellschaften 
zum  Betriebe    des   Handels    aufzufassen    seien   und    ihren  Actionären    ganz    bedeutende 


570  Literaturbericht. 

Dividenden  abwerfen.  Dieselben  würden  die  Pariser  Grands  Magasins  zwar  nicht  an  Grösse 
des  Umsatzes  übertreffen,  wohl  aber  an  Vielseitigkeit;  sie  führen  alle  erdenklichen 
Waren.  Man  finde  bei  ihnen  Medicinen  und  chirurgische  Instrumente,  Equipagen  und 
Kinderspielzeug,  Pianisten  und  Veranstalter  komischer  und  anderer  Soireen  zu  fixen 
Taxen,  sie  liefern  Grabsteine  und  besorgen  Leichenbegängnisse.  Man  sei  also  in  der 
Lage,  sich  durch  sie  unterhalten,  beköstigen,  bekleiden,  seine  Heiratsausstattung  an- 
fertigen, sich  curieren  und,  wenn  das  nicht  gelingt,  beerdigen  zu  lassen.  Neben  diesen 
Corporativ-Gesellschaften  gäbe  es  noch  Actien-  und  Pri^atunternehmungen  für  den 
Detailyerkauf  in  grösstem  Stile  —  das  bedeutendste  sei  das  Haus  Whiteley  mit  angeb- 
lich 5000  Bediensteten. 

Die  Londoner  Cooperativ-Gesellschaften  seien,  wenn  sie  auch  die  den  Continentalen 
vielleicht  irreführende  Bezeichnung  einer  Cooperative  Society  tragen,  thatsächlich  eher 
Actiengesellschaften,  mit  der  Beschränkung  freilich,  dass  die  Actien  nur  im  Besitze  von 
Civilbeamten  bezw.  Officieren  sein  dürfen.  Kaufberechtigt  in  den  Niederlagen  sind  aber 
nicht  bloss  die  Actienbesitzer,  welche  jedoch  allein  den  Gewinn  beziehen  und  auf  die 
Verwaltung  Einfluss  haben,  sondern  auch  andere  Personen,  die  eine  Karte  auf  Lebens- 
zeit—  solche  kommen  jedoch  nicht  bei  allen  Gesellschaften  vor  —  oder  eine  Jahreskarte 
lösen.  Die  Kartenbesitzer  würden  dann  auch  als  Mitglieder  bezeichnet.  Um  aber  eine 
solche  die  Kaufberechtigung  gewährende  Karte  erwerben  zu  können,  müsse  man  ent- 
weder selbst  dem  Kreise  angehören,  aus  welchem  die  Actienbesitzer  stammen,  also 
Beamter  oder  Officier  sein,  oder  durch  ein  Mitglied  empfohlen  werden  ohne  weitere 
Ptücksicht  auf  den  Beruf.  Die  Gesellschaften  sollen  eben  den  Mitgliedern  und  ihren 
„Friends"  dienen.  Einzelne  Gesellschaften  (Army  and  Navy  junior)  würden  selbst  von 
dieser  im  allgemeinen  nicht  schwer  erhältlichen  Empfehlung  absehen  und  lassen  einfaches 
Ansuchen  genügen,  dem  freilich  die  Verwaltung  dann  entsprechen  könne,  aber  nicht 
müsse.  Die  Gebür  für  die  Jahreskarte  sei  ganz  gering,  sie  betrage  gewöhnlich  2  Schilling 
6  Pence  (=  2V2  Mark),  wobei  selbst  noch  Beamten  eine  Begünstigung  erfahren. 

Als  die  wichtigsten  Gesellschaften  werden  die  folgenden  genannt: 

1.  Civil  Service  Supply  Association. 

Actiencapital  353.232  Pf.  St. 

1889  Zahl  der  Mitgliedskarten  für  Beamte     .      8.999 

1889     „        „  „  „    Empfohlene  27.065 

Bruttogewinn  1889     .     231.481  Pf.  St. 

2.  The  Army  and  Navy  Cooperation  Society. 

Actiencapital  60.000  Pf.  St. 

18^8  1889 

Bruttogewinn 284.426  Pf.  St.     285.825  Pf.  St. 

Superdividende  (über  die  5%ige  Verzinsung  des  Actien- 

capitals) 60.000       „  60.000       „ 

3.  Junior  Army  and  Navy  Stores. 

Actiencapital 150.000  Pf.  St. 

Bruttogewinn 600.724      „ 

Dividende 5% 

4.  Civil  Service  Cooperative  Society. 

Actiencapital 100.000  Pf.  St. 

Bruttogewinn 75.337      ,. 

Pieingewinn 16.647      „ 

Aus  diesen  angeführten  Zahlen  ergibt  sich  eine  zum  Theil  fabelhafte  Eentabilität 
der  Gesellschaften,  gleichwohl  aber  auch,  dass  sie  nur  einen  verhältnismässig  sehr 
niedrigen  Zuschlag  zu  den  Gestehungskosten  der  Waren  erheben  (rund  10—15%),  dies 
beweise,    dass   ihre  Verwaltung    eine    rationelle    und  ökonomische  ist  und  dass  sie  dein 


Literaturbericht.  Q'J\ 

Publicum  eine  sehr  vortheilhafte  Einkaufs  quelle  bieten.  Der  Zuschlag  sei  nirgends  ein 
sehr  erheblicher  und  lasse  sich  bei  den  Ausweisen  einzelner  Gesellschaften  auch  für 
einzelne  Warengruppen  sondern,  wo  er  sich  dann  als  ein  ziemlich  gleichmässiger  darstelle. 

So  betrug  1889  bei  der  Army  and  Navy  C.  S.: 

der  Zuschlag  auf  den  Einkaufspreis  insgesammt .     .     .     .  11'71% 

„  „         bei  der  Gruppe  Esswaren  etc ll'l  « 

r  V  r,      „  r        Schreibwaren 14-5  „ 

r  „  „      „  „        Luxuswaren 13-7  „ 

«      r  r        Tuch  etc 10-8  „ 

«  «  „      „  „        Confection  etc 10.7  „ 

Der  Verfasser  verfolgt  sodann  das  Grossmagazinswesen  in  den  Vereinigten  Staaten, 
Italien,  Belgien,  Dänemark  und  zuletzt  dem  Deutschen  Eeiche,  dessen  Handel  sich  in 
einem  Zustande  grosser  Zersplitterung  befinde.  Hier  würden  nur  drei  Unternehmungen 
deutlich  die  Merkmale  modernen  Grossmagazinswesens  an  sich  tragen:  der  deutsche 
Officiers- Verein,  das  Warenhaus  für  deutsche  Beamte  und  der  Kaiserbazar  in  Berlin. 

Hiernach  dürfte  es  als  feststehend  erachtet  werden,  dass,  was  Europa  anlangt,  der 
eigentliche  Sitz  der  Grossmagazine  in  den  Hauptstädten  ist;  Frankreich  und  England 
besitzen  hinsichtlich  der  Ausdehnung  der  Etablissements  den  Vorrang.  Der  Bon  Marche 
und  Louvre  seien  als  die  grössten  Detailgeschäfte  der  Welt  zu  bezeichnen. 

Im  zweiten  Capitel,  „Grossmagazin  und  Handel"  betitelt,  wird  zunächst  unter- 
sucht, wie  überhaupt  die  neuzeitliche  Entwicklung  die  Stellung  des  Handels  beeinflusst. 

Man  könne  nicht  sagen,  dass  die  moderne  wirtschaftliche  Entwicklung  nur  in 
einer  einzigen  bestimmten  Eichtung  auf  den  Wirkungskreis  des  Handels  Einfluss  genom- 
men habe.  Der  Bedarf  an  kaufmännischer  Thätigkeit  habe  im  Laufe  der  Zeit  gewisser- 
maassen  an  umfang  gewonnen,  dafür  aber  an  Intensität  eingebüsst.  Oder  mit  anderen 
Worten:  Die  Warenmenge,  um'  deren  Umsatz  es  sich  handle,  hat  beträchtlich  zuge- 
nommen, die  Bewerkstelligung  dieses  Umsatzes  kann  aber  vielfach  mit  einfacheren, 
leichteren  Mitteln  geschehen. 

Während  aber  auf  der  einen  Seite  eine  Erweiterung  des  Umfanges  der  kauf- 
männischen Thätigkeit  zu  bemerken  sei,  mache  sich  auf  der  anderen  Seite,  umgekehrt 
auf  dem  beregten  Gebiete  auch  eine  Tendenz  zur  Vereinfachung  der  dem  Verkehre 
dienenden  Vorkehrungen,  geradezu  zur  Abstossung  von  Mittelspersonen  geltend. 

Diese  Tendenz  sei  sogar  eine  sehr  mächtige  und  gelange  vor  allem  im  Kreise  der 
Producenten,  ja  des  Handels  selbst  zur  Wirksamkeit.  Immer  mehr  suche  der  Detail- 
händler den  Grosshändler  zu  umgehen  und  begegne  bei  diesem  Bestreben  ähnlichen 
Wünschen  der  grossen  Fabrikanten,  welche  vielfach  eine  directe  Verbindung  mit  den 
Detailhändlern  suchen.  Diese  Erscheinung  steht  in  innigstem  Zusammenhang  mit  der 
Vervollkommnung  der  Verkehrsmittel.  Hierzu  geselle  sich  ein  anderer  Factor  moralischer 
Art,  die  zunehmende  Verkehrsgewandtheit. 

Eine  nicht  unwichtige  Rolle  in  dieser  Entwicklung  spiele  unser  Ankündigung s- 
und  Reclamewesen.  Durch  dasselbe  werden  die  Kauflustigen  auf  neue  Einkaufs wege 
und  Einkaufsquellen  aufmerksam  gemacht,  welche  sie  andernfalls  vielleicht  nie  beachtet, 
von  deren  Existenz  sie  vielleicht  nie  etwas  erfahren  hätten. 

Hierauf  sucht  Dr.  Mataja  die  Stellung  zu  kennzeichnen,  welche  die  Grossmagazine 
in  der  Entwicklung  des  Handels  einnehmen. 

Das  Grossmagazinswesen  sei  nur  eine  der  Formen,  in  welchen  sich  die  Waren- 
austheilung  d.  i.  die  Zuführung  der  Erzeugnisse  an  den  Consumenten  der  neuzeitlichen 
Entwicklung  gemäss  vollziehe.  Diese  letztere  dränge  aber  vor  allem  auf  Vereinfachung 
der  Veranstaltungen,  nämlich  auf  Abstossung  unnützer  Mittelglieder  und  auf  Aneignung 
der  Vortheile,  die,  wie  schon  auf  so  vielen  arideren  Gebieten,  auch  hier  der  Grossbetrieb 
gewähre. 

In  beiden  Beziehungen  komme  aber  mit  dem  Grossraagazin  auch  das  Consum- 
Vereinswesen  in  Betracht.    Sei  letzteres  —  in  seiner  reinen  Form   —   direct  auf  die 


(^72  Literaturbericht. 

Beseitigung  des  Zwischenhandels  gerichtet,  so  wirke  das  Grossmagazin  zum  mindesten 
auf  eine  Einschränkung  desselben  hin.  Das  Magazin  sei  aber  wegen  seiner  Grösse 
imstande,  seinen  Bedarf  unmittelbar  aus  erster  Hand  zu  decken,  und  strebe  also  auch 
darnach,  die  Verbindung  zwischen  Producent  und  Consument  möglichst  aller  Umwege 
zu  entkleiden.- 

Somit  wirken  Consumvereine  und  Grossmagazine  darauf  hin,  das  Gebiet  ein- 
zuengen, welches  bisher  der  Kleinhandel  innehatte. 

Doch  würden  sie  sich,  trotz  der  in  den  obersten  Spitzen  sich  ergebenden  An- 
näherungen, durchaus  nicht  auf  der  ganzen  Linie  Concurrenz  machen,  sondern  vielmehr 
den  Angriff  von  wesentlich  verschiedenen  Seiten  her  vornehmen.  Die  wichtigsten  Gegen- 
stände für  das  Consumvereinswesen  sind  Nahrungs-  und  Haushaltungs-Artikel,  während  die 
Grossmagazine  überall  in  erster  Linie,  wo  nicht  gar  ausschliesslich,  sich  mit  Artikeln 
der  Bekleidungsindustrie  befassen,  welchen  sich  freilich  häutig  genug  schon  die 
Gegenstände  für  Wohnungseinrichtung  und  Wohnungsausschmückung,  Galanterie-  und 
Spielwaren,  Objecte  des  Hausbedarfs  u.  dergl.  anschliessen,  kurz  insgesammt  Producte 
der  Industrie,  welche  vorwiegend  der  Luxusconsumtion  dienen  und  nicht  Object  eines 
wohlorganisierten  Engroshandels  sind. 

Diese,  wenn  auch  nicht  ganz  consequent  durchgeführte,  so  doch  in  der  Haupt- 
sache nach  unverkennbare  Trennung  des  Wirkungskreises  sei  kein  Zufall. 

Dass  das  Grossmagazin  nur  schwer  dazu  gelangen  kann,  in  Nahrungsmitteln  und 
den  diesen  verwandten  Waren  den  kleinen  Detailgeschäften  Concurrenz  zu  machen,  sei 
leicht  begreiflich.  Seine  eigenthümlichen  Vorzüge,  wie  beispielsweise  die  reiche  Auswahl, 
welche  seine  grossen  Warenvorräthe  gestatten,  würden  hier  an  sich  viel  weniger  ins 
Gewicht  fallen,  dagegen  mache  sich  namentlich  der  Nachtheil  aus  der  Entfernung  der 
Verkaufsstätte  geltend.  Hier,  wo  es  sich  um  alltägliche  Einkäufe  handle,  von  welchem 
jeder  einzelne  gewöhnlich  nur  geringen,  oft  nur  ganz  geringen  Wert  hat,  sei  natürlich 
die  Nähe  der  Einkaufsstelle  von  besonderer  Bedeutung,  hier  seien  also  die  zahllosen 
kleinen,  über  die  ganze  Stadt  zerstreuten  Geschäfte  fürs  Publicum  bequemer  als  das  für 
die  meisten  entfernt  gelegene  centralisierte  Verkaufsmagazin.  Wenn  daher  schon  zum 
Händler  gegangen  wird,  so  erhalte  regelmässig  der  nähere  den  Vorzug. 

Hinsichtlich  der  Industrie-Erzeugnisse,  insbesondere  der  für  den  Luxusconsum. 
liegen  die  Dinge  doch  ganz  anders.  Namentlich  was  die  Bekleidungsgegenstände  anbe- 
lange, trübt  die  Mode  gewaltig  den  ruhigen  Verlauf  des  Geschäftes.  Hier  gelte  es 
auch,  die  Kauflust  zu  reizen,  Neues  und  Originelles  zu  bieten;  ein  reich  ausgestattetes 
Lager  bedinge  auch  ein  grosses  Risico,  bedeutende  Warenmengen  entwerten  sich  durch 
den  Wechsel  der  Mode  und  der  Jahreszeiten,  und  sei  es  dann  nöthig,  diese  rasch  abzu- 
stossen.  Ausserdem  eigne  sich  daher  dieser  Handelszweig  ungleich  weniger  für  die 
Abwicklung  durch  ein  beamtenmässig  arbeitendes,  jedes  Wagnis  vermeidendes  Consum- 
vereinswesen. Beiden  —  Grossmagazinen  und  Consumvereinen  —  gemeinsam  ist  die 
im  Sinne  des  modernen  Güterverkehrs  gelegene  Verkürzung  der  Kette,  welche  Producent 
und  Consument  verbindet. 

Dr.  Mataja  sucht  sodann,  ausgehend  von  der  das  wirtschaftliche  Leben  heutzutage 
so  sehr  beherrschenden  Tendenz  zum  Grossbetrieb,  von  welcher  nicht  bloss  die  Industrie, 
sondern  auch  die  mannigfachsten  anderen  Erwerbszweige  wie  Transportwesen,  Bergbau, 
Banken  etc.  ergriffen,  die  Vorzüge  und  die  Nachtheile  der  beiden  Formen  der  Handels- 
organisation zwischen  Kleinhandel  und  Grossmagazinssystem  gegenüberzustellen.  Sein 
Urtheil  fällt  zu  Gunsten  des  letzteren  aus.  Das  Grossmagazinssystem  gestatte  nicht  bloss 
eine  kaufmännisch  überlegene  Leitung,  sondern  tendiere  auch  zu  einer  höheren  Solidität 
im  Handel  und  Wandel. 

Nachdem  der  Verfasser  im  dritten  Gapitel  den  Zusammenhang  des  Grossmagazins- 
wesens mit  der  Entwicklung  des  industriellen  Grossbetriebes  dargelegt,  beleuchtet  er  in 
dem  folgenden  die  Bekämpfung,  welche  die  Grossmagazine  in  den  einzelnen  Ländern, 
besonders   in   Frankreich    erfahren,    wo    sich    wider    dieselbe    ein    eigener   Verband   — 


Literaturbericht.  673 

—  33.000  Mitglieder  zählend  —  die  „Ligne  syndicale  pour  la  Defense  des  Interets  du 
Travail,  de  Tlndustrie  et  du  Commerce"  gebildet  habe. 

Das  fünfte  und  letzte  Capitel  ist  der  socialpolitischen  Würdigung  des  Gross- 
magazinswesens im  Wirtschaftsleben  der  Völker  gewidmet. 

Vor  allem  könne  nicht  daran  gezweifelt  werden,  dass  dem  Grcssmagazinssystem 
ein  weites  Gebiet  gesichert  erscheint  und  dass  dies  nicht  Zufall,  nicht  Product  eines 
Speculationsfiebers  des  Capitals  ist,  sondern  auf  innern  ökonomischen  Gründen  beruhe. 
Das  Magazinssystem  sei  vielmehr  eine  nothwendige  Folge  der  neuzeitlichen  industriellen 
und  commerziellen  Verhältnisse  und  das  Grossmagazinswesen  wiederum  dessen  logische 
Consequenz,  der  Punkt,  auf  den  unbestreitbar  die  Entwicklung  des  ersteren  hintreibe. 
Das  Magazinssystem  ergreife  freilich  nicht  gleichmässig  alle  Artikel  oder  Waren,  sondern 
beschränke  sich  im  wesentlichen  auf  Industriepro ducte,  namentlich  solche  des  feineren 
und  Luxusconsums.  Ihren  Sitzen  nach  werden  sich  die  echten  Grossmagazine  auf  die 
grossen  Städte  concentrieren  müssen;  ihre  Wirksamkeit  aber  sei  für  die  kleineren  Orte 
nicht  aufgehoben,  sondern  nur  eingedämmt,  indem  sie  auch  diese  im  Wege  des  Versandt- 
geschäftes zu  treffen  wissen.  Mit  der  steten  Verwohlfeilung  der  Transportmittel  und  der 
wachsenden  Verkehrsgewandtheit  des  Publicums  habe  dieses  Versandtgeschäft  günstige 
Aussichten  für  sich.  Zweifellos  werde  damit  der  Kleinhandel  und  das  Gewerbe  in 
empfindlicher  Weise  getroffen.  Daneben  leiden  aber  auch  Zwischenhändler  und  selbst 
Fabrikanten  aller  Art,  da  die  Grossmagazine  wegen  directen  Einkaufes  an  erster  Quelle 
auch  den  Engrosshandel  umgehen,  manche  Fabrication  selbst  in  die  Hand  nehmen. 
Somit  würden,  wie  nicht  zu  verkennen  sei,  zahlreiche  Existenzen  geschädigt,  Erwerbs- 
zweige bedroht,  auf  deren  selbständiger  Besorgung  der  Mittelstand  beruhe, 

Dies  führt  den  Verfasser  auf  die  Frage,  ob  man  dem  Aufkommen  des  Gross- 
magazinswesens künstliche  Hindernisse  bereiten  oder  den  Dingen  freien  Lauf  lassen  solle. 

Die  Antwort  scheine  nicht  zweifelhaft  zu  sein.  Sofern  das  Grossmagazinssystem 
die  überlegene  Betriebsform  sei,  sofern  es  also  die  Bedürfnisse  der  Consumenten  besser 
oder  wohlfeiler  befriedige,  sich  besser  einfüge  in  den  Rahmen  der  heutigen  Volkswirtschaft 
und  die  einmal  erforderlichen  Leistungen  mit  einem  geringeren  Kraftaufwand  vollziehe, 
streite  für  die  Gewährung  ruhiger  Entwicklung  der  wichtigste  Factor,  welcher  in  solchen 
Fragen  angerufen  werden  könne:  das  allgemeine  Interesse. 

Die  künstliche  Behinderung  des  Grossmagazinswesens  sei  aber  nicht  im  allgemeinen 
Interesse  gelegen  und  auch  für  die  Dauer  nicht  durchführbar,  der  Versuch  hierzu  könne 
nicht  einmal  als  dem  wahren  Interesse  der  Betheiligten  entsprechend  erachtet  werden. 
Es  handle  sich  hier  um  keinen  Kampf  von  Personen  gegeneinander,  sondern  um 
einen  Wettstreit  von  ünternehmungsformen. 

Uebrigens  dürfe  man  den  Stand  der  Dinge  auch  nicht  für  noch  gefährlicher 
ansehen,  als  er  ist.  Nicht  allein  die  Länge  der  Uebergangsepoche  sei  es,  die  man  für 
eine  etwas  freundlichere  Auffassung  der  Lage  anrufen  könne,  sondern  namentlich  auch 
der  Umstand,  dass  schon  jetzt  sich  gewisse  Schranken  angeben  lassen,  innerhalb 
welcher  sich  auch  in  absehbarer  Zukunft  der  Klein-  und  Mittelbetrieb  des  Handels  werde 
behaupten  können. 

Namentlich  gelte  dies  für  kleinere  Orte,  in  welchen  das  Grossmagazin  nur  im 
Wege  des  Versandtgeschäftes  wirken  kann.  Aus  praktischen  Rücksichten  sei  es  aber  schon 
ausgeschlossen,  dass  man  sich  j  edes  Stück,  welches  man  braucht,  aus  der  Ferne  kommen 
lasse.  Der  an  Ort  und  Stelle  befindliche,  ein  Lager  haltende  Kaufmann  werde  somit 
unter  allen  Umständen  zu  thun  bekommen.  Aber  selbst  in  den  Grosstädten  werde  dem 
kleineren  Geschäfte,  selbst  die  höchste  Entfaltung  des  Magazinssysteras  vorausgesetzt, 
noch  immer  ein  weiter  Spielraum  bleiben.  Nicht  bei  jedem  Einkauf  kann  man  der  Nähe 
der  Bezugsquelle  entrathen,  und  dann  gibt  es  auch  eine  Menge  von  Artikeln,  bei  welchen 
in  manchen  Beziehungen  die  Begünstigung  des  Grossbetriebes,  wie  er  sie  sonst  durch 
die  Ermöglichung  reicherer  Auswahl  oder  ähnliche  Momente  bietet,  entfalle.  Immer 
werde  es  ferner  eine  Kundschaft  geben,  die  eine  individualisierende  Behandlung  erfordere. 
Hier  würden  aber  die  Monstrebetriebe  schon  in  Nachtheil  gerathen,  gerade  so,  wie  sich 


ß74  Literaturbericht. 

das  einzelne  Fuhrwerk  nach  den  Wünschen  des  Fahrgastes  richten  kann,  dort  Aufenthalt 
nehme,  wo  er  es  wünscht  und  sich  in  Bewegung  setze,  wann  er  es  will,  nicht  aber  die 
Eisenbahn  oder  das  Dampfschiff  mit  ihrer  festen  Eegelmässigkeit. 

Dr.  Mataja  glaubt  daher,  dass  es  sich  nicht  um  Verdrängung,  sondern  nur  um 
Zurückdrängung   des   Klein-    und  Mittelbetriebes    des   Detailgeschäftes   handeln   könne. 

Zuletzt  wird  noch  die  Frage  erörtert,  welchen  Einfluss  die  Entwicklung  des 
Grossmagazinswesens  auf  die  Lage  des  Personals,  speciell  der  Handlungsgehilfen  ausübe, 
kurz,  ob  sie  durch  dieselbe  verlieren  oder  gewinnen. 

Sie  verlieren  sicherlich,  insoweit  ihre  Aussichten,  einmal  selbständig  zu  werden, 
dadurch  verringert  werden.  Der  selbständige  Geschäftsmann  habe  eben  dem  Handlungs- 
gehilfen Platz  gemacht,  dem  Handlungsgehilfen  ohne  Aussicht,  die  dienende  Stellung 
dereinst  verlassen  zu  können.  Dagegen  komme  als  Lichtseite  in  Betracht,  dass  in  Betreff 
der  allgemein  kärglichen  Bezahlung  und  der  oft  geradezu  unmässigen  Arbeitszeit  der 
Handlungsgehilfen,  in  beiden  Beziehungen  das  Grossmagazin  seinen  kleineren  Con- 
currenten  zumeist  überlegen  sei,  wie  überhaupt  die  grösseren  Geschäfte  häufig  günstigere 
Arbeitsbedingungen  als  die  kleineren  bieten.  Was  Sicherheit  der  Stellung,  Möglichkeit 
des  Vorwärtskommens,  Wohlfahrtseinrichtungen  und  Aehnliches  betrifft,  geniesse  der 
Dienst  im  Grossmagazin  jedenfalls  den  Vorrang.  Das  Lehrlingsunwesen,  welches  im 
kaufmännischen  Stande  soviel  Unheil  schaffe  und  bei  den  Klein geschäften  in  so  verderb- 
licher Weise  zur  künstlichen  Vermehrung  und  Stellenlosigkeit  vieler  junger  Kaufleute 
führe,  sei  beim  Grossmagazin  ausgeschlossen,  zum  mindesten  sehr  eingedämmt.  Aufs 
Lehrlingszüchten  habe  sich  noch  kein  Grossmagazin  der  Welt  verlegt. 

Zugegeben  müsse  freilich  werden,  dass  mit  der  Ausbreitung  des  Grossmagazins- 
wesens das  Selbständigwerden  erschwert  werde.  Dagegen  müsse,  da  ein  so  grosses 
Unternehmen  nicht  ausschliesslich  und  durchgreifend  von  einem  Punkte  aus  geleitet 
werden  könne,  vielen  ein  mehr  selbständiger  Wirkungskreis,  ein  gewisser  Antheil  an  der 
Geschäftsführung  eingeräumt  werden.  Der  Privatbesitz,  welcher  beim  Selbständigmachen 
eine  grosse  EoUe  spielt,  trete  hier  gänzlich  zurück,  ausschlaggebend  werde  das  persön- 
liche Verdienst. 

Der  Verfasser  vertritt  auch  die  Ansicht,  dass  für  die  Angestellten  der  Dienst  bei 
einer  Actienges ellschaft  im  allgemeinen  vortheilhafter  sei  als  der  Privatdienst  und  dass 
demnach  aus  der  grossen  Eignung  des  Grossmagazinswesens  für  den  Actienbetrieb  eine 
Gefahr  für  die  Bediensteten  nicht  erwachse. 

Dagegen  werde  sich  die  Organisation  der  Handlungsgehilfen  als  nothwendig 
erweisen;  denn  in  jenen  grossen  Magazinen  sei  der  einzelne  Angestellte  widerstandslos 
wie  ein  Atom,  das  in  der  Masse  verschwindet.  Je  mehr  in  dem  Kaufmann sstand  sich 
die  Verhältnisse  den  grossindustriellen  nähern,  desto  mehr  würden  auch  zwischen 
Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  Beziehungen  gleich  denen  in  der  Industrie  eintreten. 
Keime  von  Organisationstendenzen  und  vereinter  Interessenvertretung  seien  ja  jetzt 
schon  unter  den  Handelsangestellten  wahrzunehmen;  sie  werden  durch  das  Umsich- 
greifen der  Grossmagazine  wesentliche  Aneiferung  erfahren, 

Dr.  Mataja  fasst  seine  interessanten  Ausführungen  dahin  zusammen,  dass  man 
die  Ausdehnung  des  Grossmagazinswesens  nicht  in  Abrede  stellen  könne;  sei  doch 
unsere  Zeit  den  Grossmagazinen  sehr  günstig.  Das  Grossmagazinswesen  werde  sich 
übrigens  im  wirtschaftlichen  Leben,  welches  sich  vor  unseren  Augen  entwickele,  keineswegs 
störend  oder  auffallend  ausnehmen ;  im  Gegentheil,  es  dürfte  dazu  wie  hineingegossen 
passen.  Der  Grossbetrieb  dränge  sich  eben  auf  den  verschiedenartigsten  Gebieten  vor 
und  zwar,  wie  man  nicht  vergessen  dürfe,  wegen  seiner  technisch  ökonomischen  Vortheile, 
die  zugleich  eine  Minderung  des  Tributs  bedeuten,  welchen  die  Natur  dem  Menschen 
auferlegt  habe  zum  Zwecke  der  Befriedigung  der  Lebensnoth dürft  und  der  als  Schranke 
dastehe  für  die  freie  Entwicklung  seiner  Persönlichkeit. 

Die  Betrachtung  des  Grossmagazinswesens  habe  ferner  Licht-  und  Schattenseiten 
ergeben,  es  habe  sich  auch  gezeigt,  dass  das  Grossmagazinssystem  unter  verschiedenen 
Formen  auftrete,  welche  Vorzüge  und  Nachtheile  in  verschiedenem  Grade  an  sich  tragen. 


Literaturbericht.  675 

es  habe  sich  endlich  auch  herausgestellt,  dass  trotz  der  günstigen  Aussichten,  welche 
die  weitere  Ausdehnung  des  Grossmagazinssystems  besitze,  auch  dem  Kleinhandel  ein 
Feld  zur  Bethätigung  übrig  bleibe,  sowie  dass  dem  durch  die  Umwandlung  des  Detail- 
handels zunächst  berührten  Theile  der  Lohnarbeit,  den  Handelsangestellten,  aus  dieser 
Veränderung  mancherlei  Gefahren,  aber  auch  mancherlei  Vorthei.le  erwachsen.  Sei  der 
Umwandlungsprocess  selbst,  der  sich  vor  unseren  Augen  vollziehe,  wohl  kaum  aufzuhalten, 
so  gelte  es  umsomehr  das  Gute,  das  er  bringe,  möglichst  zu  fördern. 

Der  Verfasser  der  besprochenen  Schrift  hat  das  Verdienst,  dass  er  sich  zum 
erstenmal  der  dankenswerten  Aufgabe  unterzogen,  die  mit  dem  Grossmagazinssystem 
verknüpften  Vorzüge  und  Nachtheile  einander  gegenübergestellt  und  somit  über  die 
in  der  volkswirtschaftlichen  Literatur  noch  wenig  behandelte  Materie  Klarheit  verbreitet 
zu  haben.  Diese  Untersuchung  dürfte  Anregung  geben,  auch  einmal  die  Bedeutung 
anderer  Betriebsformen  des  Handels  z.  B.  das  System  der  vielfach  in  letzter  Zeit  in 
Aufschwung  gekommenen,  von  einer  Centrale  aus  geleiteten  Filial-Detail-Geschäfte  sog. 
Engros-  oder  Fabriksniederlagen  im  Lichte  der  Volkswirtschaft  zu  prüfen.     E.  Elkan. 

Karl  Bücher,  Die  gewerblichen  Betriebsformen  in  ihrer  historischen  Entwicklung. 
Karlsruhe,  1892.  (Sonderabdruck  aus  der  Festschrift  der  technischen  Hochschule  zu 
Karlsruhe  zum  40jährigen  Regierungsjubiläum  Sr.  K.  H.  des  Grossherzogs  Friedrich 
von  Baden.  Französisch:  Las  formes  d'industrie  dans  leur  developpement  historique. 
Paris,  1892,  Extrait  de  la  Revue  d'Economie  Politique.) 

HeiT  Prof.  Karl  Bücher  hat  sich  während  seiner  Lehrthätigkeit  an  der  Basler 
Universität  und  an  der  technischen  Hochschule  zu  Karlsruhe  wiederholt  in  eingehender 
Weise  mit  der  Frage  der  gewerblichen  Betriebsformen  beschäftigt.  Die  Spuren  dieses 
Interesses  fanden  sich  nicht  allein  in  den  Dissertationen  seiner  Schüler,  es  hat  auch  zu 
drei  eigenen  Arbeiten  des  Leipziger  Gelehrten  geführt :  zu  einer  Artikelserie  über  „Haus- 
lieiss  und  Hausindustrie"  im  Wiener  „Handelsmuseum"  (1890,  Nro.  31 — 33),  zu  der  oben 
bezeichneten  Festschrift,  welche  in  der  deutschen  Ausgabe  allerdings  nicht  in  Buchhandel 
gekommen  ist,  und  endlich  zu  dem  Aufsatz  „Gewerbe"  in  Conrad's  Staatswörterbuch 
(Bd.  III.  S.  922 — 950),  welcher  mit  jener  zusammen  betrachtet  werden  muss,  da  er  für 
manche  dort  einfach  hingestellte  Behauptungen  die  nähere  Begründung  bringt.  Versuchen 
wir  hier  die  historische  Reihenfolge  der  Betriebsformen,  die  ja  alle  noch  heute  neben 
einander  bestehen,  mit  der  Charakteristik  Büchers  kurz  zu  präcisieren. 

Bis  tief  in  die  geschichtlichen  Zeiten  hinein  bildet  allerdings  das  Ziel  jeder 
Einzelwirtschaft  ausschliesslich,  sämmtliche  Bedürfnisse  ihrer  Angehörigen  durch  Eigen- 
production  zu  befriedigen.  Die  Bedürfnisbefriedigung  wird  besser  und  reicher  in  dem 
Maasse,  als  die  Technik  der  Stoffumwandlung  sich  innerhalb  der  geschlossenen  Haus- 
wirtschaft weiter  entwickelt,  als  es  möglich  ist,  die  erforderliche  Arbeit  unter  den  Gliedern 
des  Hauses  zu  theilen.  Daher  werden  in  den  Haushalt  nichtverwandte  Elemente  aufge- 
nommen: es  entsteht  Sclaverei,  Hörigkeit,  Leibeigenschaft,  das  Haus  entwickelt  sich  zur 
grossen  Sclavenwirtschaft  der  Karthager  und  Römer,  zu  den  Villen  Karls  des  Grossen,  zur 
deutchen  Fröhnerwirtschaft,  zur  russischen  Grossfamilie,  zur  südslavischen  Hausgemeinschaft 
—  Wirtschaftsformen,  die  der  Nöthigung  entspringen,  das  Haus  mit  seiner  inneren  Arbeits- 
gliederung wirtschaftlich  autonom  zu  erhalten.  Nur  dem  eigenen  Bedarf  angepasst  ist 
die  Arbeit;  hingegen  produciert  das  Haus  aber  alle  Brauchbarkeiten,    deren  es  bedarf. 

Auch  heute  noch  ist  der  Bauer  in  Russland  oder  Bukowina  zu  allem  geschickt 
(wir  verweisen  hier  auf  unsere  eigene  Darstellung  im  ersten  Heft  dieser  Zeitschrift, 
S.  148  fg.).  In  der  Familie  der  Römer  finden  wir  Sclaven  als  Müller,  Bäcker,  Köche, 
Schmiede,  Zimmerleute,  Kalkbrenner,  Wollschläger,  Weber,  Walker,  Schneider  u.  s.  w. 
Der  Grundeigenthümer  ist  dort  der  Producent  schlechthin;  die  verkehrsmässige  Verbindung 
der  Einzelwirtschaften  ist,  wie  zwischen  den  sich  selbst  erhaltenden  Bauernhöfen, 
beschränkt. 

Noth  und  Ungleichheit  des  Grundbesitzes  führen  zur  zweiten  Stufe  des  Haus- 
fleisses;  er  ist  da  nicht  mehr  reine  Bedarfsproduction,  vielmehr  kommen  seine  Ueberschüsse 
zu  Markte.  Nicht  allein   die  heutigen  Bauern  im   Osten    Europas    (vgl.    das   erste  Heft 


676 


Literaturbericlit. 


dieser  „Zeitschrift",  S.  152  fg)  stehen  auf  dieser  Stufe;  die  Klosterwirtschaften  des 
frühen  Mittelalters,  die  für  eine  bestimmte  Fabricationstechnik  abgerichteten  Sclaven 
in  Athen  erzeugten  so  Gewerbeproducte  für  den  Markt;  die  griechische  Kunstindustrie, 
die  Gerberei  des  Kleon,  die  Flötenfabrik  von  Isokrates'  Vater  und  zahlreiche  andere 
Betriebe,  von  denen  berichtet  wird,  standen  auf  der  Stufe  des  einseitig  fortgebildeten 
Hausfleisses,  bei  der  es  sich  um  eine  besondere  Art  der  Vermögensnutzung  des  Oikos, 
die  Exploitation  seines  Menschenmateriales  handelt. 

Eine  weitere  Stufe  der  Entwicklung,  in  Griechenland  und  Eom  sowie  im  Mittel- 
alter leicht  verfolgbar,  tritt  ein  mit  der  Emancipation  des  gewerblichen  Arbeiters  von 
dem  Hauswesen,  dem  er  bis  dahin  als  unfreies  oder  doch  abhängiges  Glied  allein  seine 
Dienste  zu  widmen  hatte.  Griechische  und  römische  Herren  vermieten  ihre  Sclaven, 
oder  gestatten  Arbeitern  von  besonderer  Kunstfertigkeit,  ihre  Geschicklichkeit  gegen 
Lohn  anderen  anzubieten.  Die  Quellen  der  Juristen  sprechen  daher  von  den  „servi  qui 
aliqua  parte  anni  agrum  colunt,  aliqua  parte  in  mercedem  mittuntur"  und  von  dem 
„servus  arte  fabrica  peritus,  qui  annuam  mercedem  praestat";  dieser,  für  sich  wohnend, 
liefert  den  grössten  Theil  seines  Verdienstes  an  den  Herrn  ab;  er  findet  sich  vielfach 
thatsächlich  auf  der  Vorstufe  zur  Freilassung.  Auf  dem  Frohnhof  des  frühen  Mittelalters 
sind  die  Industriearbeiter  Hörige  oder  Colonen,  d.  h.  sie  sind  entweder  in  der  Nähe 
des  Frohnhofes  angesiedelt  und  leisten  ihre  Arbeit  nach  Bedarf  auf  dem  Hofe,  oder 
aber  sie  arbeiten  daheim  und  liefern  fertige  Gewerbeproducte  als  Zins  für  die  ihnen 
zugewiesene  Landnutzung.  Bei  dem  freieren  Verhältnis,  in  dem  diese  hörigen  Leute  zur 
Gutsherrschaft  standen,  boten  sie  bald  auch  anderen  ihre  Dienste  an  und  gelangen  später 
in  die  Stadt. 

Die  beiden  gekennzeichneten  Typen  von  Frohnarbeit  enthalten  bereits  die  beiden 
Formen  des  Lohnwerks  in  sich,  bei  dem  der  Arbeiter  aus  dem  Hause  tritt  und  für 
fremde  Consumenten  Rohstoffe  und  Halbfabrikate  umformt.  Der  Lohn  werker  tritt 
1")  als  Tag-  oder  Stücklöhner  in  die  Wirtschaft  des  Kunden  ein,  erhält  hier  Kost,  oft  auch 
das  Nachtlager  und  bleibt  so  lange,  bis  dem  vorhandenen  Bedarfe  des  Hauses  genügt 
ist:  er  ist  mit  einem  Wort  Stör  er,  Arbeiter  auf  des  Bauern  Stube  —  oder  er  hat 
2*^)  eine  feste  Betriebsstätte,  in  der  er  den  ihm  von  den  Kunden  gelieferten  Rohstoff 
gegen  Stücklohn  bearbeitet:  er  ist  Heimwerker  (Bücher). 

Beide  Formen  treten  im  römischen  Rechte  sehr  scharf  auf;  die  locatio  conductio 
operis  ist  das  Heimwerk,  sagt  Bücher,  die  „operarum"  die  Stör;  im  ersten  Fall 
nimmt  der  Arbeiter  den  Rohstoff  mit,  im  zweiten  holt  der  Hausvater  den  Arbeiter,  dessen 
Dienste  er  zeitweise  bedarf,  ins  Haus.  Soll  der  üebernehmer  auch  den  Stoff  zu  der  zu 
verfertigenden  Sache  liefern,  so  ist  das  Geschäft  nicht  locatio  conductio,  sondern  emtio 
venditio:  Kauf  (Quellenstellen  bei  Arndts  §  315,  Anm.  1.). 

Bis  ins  XIV.  Jahrhundert  sind  die  städtischen  Handwerker  in  Mitteleuropa  zum 
allergrössten  Theile  ebenfalls  Lohnwerker.  Störer  sind  nebst  den  Bauleuten  aller  Art: 
Zimmerern,  Maurern,  Dachdeckern, .  Glasern,  Malern  etc.,  jene  Gewerbetreibenden,  deren 
Werkzeug  sich  leicht  transportieren  lässt,  wie  Schneider,  Schuhmacher,  Sattler,  zuweilen 
aber  auch  Weber,  •)  Schreiner,  Fassbinder  u.  s.  w.,  Heimwerker  die,  deren  Werkzeug 
eine  feste  Betriebsanlage  erfordert,  wie  Müller,  Bäcker,  Leinenweber,  Färber,  Wagner. 
Die  Materiallieferung  durch  den  Besteller  herrschte  bei  den  grösseien  zünftig  geordneten 
Handwerken  bei  weitem  vor;  der  Normalhandwerker  der  deutschen  Stadt  des  Mittel- 
alters war  mithin  keineswegs  ein  kleiner  Unternehmer.  Der  Verkehr  zwischen  dem  Lohn- 
werker  und  seinen  Kunden  ist  das  Altgewohnte;  erst  allmählich,  mit  der  Verwirklichung 
der  Geld-  und  Verkehrswirtschaft,  wird  die  Stofflieferung  durch  den  Meister  häufiger 
und  wird  die  Regel.  Damit  tritt  an  Stelle  des  Lohnwerkers  der  Handwerker. 

Das  Handwerk  ist  eine  Productionsform,  bei  welcher  der  Gewerbetreibende  zugleich 
Arbeiter    und   Eigenthümer    der  Roh-   und  Hilfsstoffe    ist  und   Tauschwerte    für   nicht 

»j  Das  letztere  ist  auch  heute  noch  in  gewissen  von  den  Bahnen  abseits  gelegenen  Thälern  Nieder- 
Oesterreichs  der  Fall,  wo  Lohnwerker  Hanf-  und  Sohafwollgarne  der  Bauern  zu  Leinen  oder  Lodenstoffeu 
verweben.  Ref. 


Literaturbericlit.  677 

seinem  Haushalte  angehörende  Consumenten  erzeugt.  „Mochte  anfänglich  der  Consument 
aus  alter  Gewohnheit  noch  den  Eohstoff  selbst  einkaufen,  mochte  er  später  den  Handwerker, 
weil  dieser  sich  besser  auf  die  Sache  verstand,  dabei  als  Vermittler  benutzen  oder  ihm 
einen  Vorschuss  geben,  damit  er  selbst  das  Nüthige  beschafie,  schliesslich  gelangte  der 
Lohnwerker  bei  Fleiss  und  Sparsamkeit  selbst  zu  den  nothwendigsten  Mitteln  und  die 
Materialbeschaffung  gieng  ganz  an  ihn  über."  Die  Arbeitsmiete  verwandelt  sich  in  eine 
emtio  venditio,  das  Lohnwerk,  nach  Büchers  Ausdruck,  in  ein  Preisw^erk,  wie  man  in 
Niederösterreich  sagte,  in  „Kaufarbeit".  Diesem  Uebergange  von  der  Gebrauchswert-  zur 
Tauschwert-Production  muss  die  Ausbildung  des  Gesellenwesens  zugeschrieben  werden. 
Ursprünglich  ein  minder  glücklicher  Arbeitsgenosse,  wird  der  Geselle  nun  Knecht  dessen, 
der  zum  Eigenthümer  des  Betriebscapitals  wurde. 

Am  frühesten  vollzog  sich  der  üebergang  vom  Lohnwerk  zum  Preiswerk  in  den 
kleinen  nichtzünftigen  Gewerben;  die  grossen  zünftigen  Gew^erbe  folgten  nur  langsam; 
Bäcker,  Metzger,  Gerber,  Schuster  betrieben  das  ganze  Mittelalter  hindurch  nebeneinander 
Lohn-  und  Preiswerk,  das  eine  für  die  wohlhabenden,  das  andere  für  die  ärmeren  Con- 
sumenten. 

Mit  dem  Üebergang  zum  Preiswerk  wird  aber  das  Lohnwerk  Gegenstand  der 
Verfolgung  seitens  der  Meister:  besass  der  Gesell  sein  eigenes  Werkzeug,  und  das  ist 
iin  Mittelalter  Jahrhunderte  lang  der  Fall,  so  gab  es  kaum  ein  sachliches  Hindernis  für 
ihn,  auf  eigene  Hand  Kundenarbeit  anzunehmen.  Die  Zunftmeister  suchten  die  Störer 
(dieser  Name,  der  nach  Schmeller  von  Stör  oder  St  er  =—  Mühseligkeit  stammt,  erhält 
nun  einen  Doppelsinn:  Störarbeiter  =  Pfuscher)  in  den  Häusern  ihrer  Kunden  aufzuspüren 
und  sie  zur  Verantwortung  zu  ziehen  (die  viel  berufene  Bönhasenjagd,  —  Bön  oder 
Bün  =  Obergeschoss),  ein  Brauch,  dem  die  Landeshoheit  entgegentritt,  ohne  jedoch  im 
grossen  ganzen  die  Verdrängung  des  Lohnwerkes  durch  das  Preiswerk  hindern  zu 
können.  1) 

Mit  der  Ausbildung  des  Lohnwerks  trat  bloss  der  Arbeiter  aus  der  Wirtschaft 
des  Grundeigenthümers  aus,  jetzt  folgen  die  Productionselemente;  das  directe  Verhältnis 
zwischen  Handwerker  und  Consumenten,  die  Kundenproduction,  bedingt  die  Kleinheit 
der  Betriebe.  Die  Arbeitstheilung  des  Mittelalters,  sagt  Bücher,  ist  die  Specialisation, 
die  Berufstheilung2),  die  immer  neue  Existenzen  schafft  und  später  zu  jener  eifersüchtigen 
Abgrenzung  der  Arbeitsgebiete  führte,  welche  einen  guten  Theil  der  Kraft  des  Zunft- 
wesens in  inneren  Streitigkeiten  aufzehrt.  Es  traten  hiebei  auch  lebensunfähige  Gebilde 
auf,  daher,  schon  damals,  die  sehr  häufige  Verbindung  zweier  verschiedener  Berufsarten, 
eines  zünftigen  und  eines  nichtzünftigen  Gewerbes. 

Mit  dem  Entstehen  des  centralisierten,  modernen  Staates  und  der  Beseitigung 
der  inneren  Zunftschranken  erweitert  sich  der  enge  städtische  Markt  zum  nationalen,  ja 
zum  internationalen:  an   Stelle  der  localen  Arbeitstheilung  tritt  die  nationale. 

Unter  der  Wirkung  des  vergrösserten  Absatzgebietes  entsteht  zunächst  im  16. — 18. 
Jahrhundert  das  Verlagsystem  (die  Hausindustrie),  Wie  Bücher  auf  Grund  von 
Quellenstudien  nachweist,  kommt  es  in  den  Seestädten  schon  im  Mittelalter  häufiger 
vor,  dass  Kaufleute  durch  Lohnwerker  Waren  zum  Export  anfertigen  oder  veredeln 
lassen;  ähnliches  beweisen  einige  von  Max  Weber  (Zur  Geschichte  der  Handelsgesell- 
schaften im  Mittelalter,  Stuttgart  1889)  publicierte  Urkunden  in  Bezug  auf  die  Erzeugung 
von  Exportartikeln  in  oberitalienischen  Städten;  allmählich  entwickelt  sich  mehr  und 
mehr  ein   gleiches  Verhältnis   zwischen   den  kleineren   Handwerkern  und  den   grösseren. 


»)  Aus  dem  Lohnwerke  entwickelten  sich  auch  die  Wandergewerbe,  welche  in  Russland  noch 
eine  grosse  Rolle  spielen.  Der  Arbeiter  gliedert  sich  da  zeitweise  im  fremden  Hause  ein,  oder  er  schlägt  im 
Freien  seine  unstete  Werkstatt  auf,  oder  mietet  sich  für  kurze  Zeit  ein  nothdürftiges  Betriebslocal;  er  ist 
liOhnwerker  und  nur  wo  er  mit  ganz  billigem  Material  arbeitet  (Siebmacher,  Korbflechter,  Drahtbinder; 
nimmt  sein  Betrieb  einen  handwerksmässigen  Charakter  an. 

^)  Von  den  Küfern  trennen  sich  die  Kühler,  von  den  Wagnern  die  Pflugmacher,  von  den  Webern 
die  Kämmer,  Wollschläger,  Spuler,  Zauer,  Walker,  Färber  und  Tuchscherer;  die  Lederer  zerfallen  in  Loh- 
und  Weissgerber,  die  Schreiner  in  Zimmerleute  und  in  Tischler;  von  den  Sattlern  splittern  sich  die  Kummeter, 
Riemenschneider  und  Rentier  ab,  von  den  Schneidern  die  Hutmacher  und  die  Seidensticker. 


(378  "  Literaturbericht. 

welche  die  entfernteren  Messen  beziehen.  Die  Möglichkeit  des  Absatzes  im  grossen 
erzeugt  aber  bald,  im  17.  und  18.  Jahrhundert  noch  eine  weitere  Betriebsform,  eine 
gewerbliche  Unternehmung  für  einen  nur  indirect  erreichbaren  Consumentenkreis :  die 
Fabrik. 

Social  leitet  sich  die  Entstehung  des  Heimarbeiterstandes  aus  den  untersten 
Schichten  des  städtischen  Handwerkes  und  dem  Kleinbauerstande  ab. 

Das  Product  des  Verlagsystems  ist  ein  Weltmarktartikel,  Dutzendware.  Um  dies 
zu  erreic"hen  liefert  der  Verleger  den  Eohstoff  und  die  Arbeitsmodelle  und  übernimmt 
oft  auch  die  letzte  Zurüstung  des  Erzeugnisses  in  einer  eigenen  Fergstube.  Charakteristisch 
ist,  dass  das  Product,  ehe  es  in  die  Hand  des  Consumenten  gelangt,  noch  ein-  oder 
mehrmal  Warencapital,  d.  h.  Erwerbsmittel  für  eine  oder  mehrere  nicht  an  der  Production, 
sondern  an  der  Circulation  betheiligte  Personen,  wird.  Die  Charakteristik  des  Verlag- 
systems sind  daher:  stossweise  üeberspannung  der  Production,  schwere  Krisen,  das 
Trucksystem  und  Abrechnungsmissbräuche ^  wucherische  Schuldverhältnisse,  niedere 
Arbeitslöhne,  ungeregelte  Arbeitszeit,  Frauen-  und  Kinderarbeit,  sociale  Hoffnungslosig- 
keit der  Arbeiter. 

Im  Gegensatz  zur  comraerziellen  Zusammenfassung  von  gleichartigen  Einzelkräften 
im  Verlag,  bedeutet  die  Fabrik  die  technische  Zusammenfassung  und  Discip linierung 
verschiedenartiger  (qualificierter  wie  unqualificierter) Kräfte  für  eine  einzige  gewerbliche 
Productionsaufgabe.  Ein  kaufmännischer  Unternehmer  hält  hier  die  verschiedenen  Arbeiter 
zusammen,  deren  Hände  ein  Manufactur-  oder  Fabriksproduct  bis  zu  seiner  Vollendung 
zu  durchlaufen  hat.  Er  vereinigt  die  Productionsmittel  in  seinem  Besitz,  während  sich 
zugleich  damit  für  die  Arbeiter  die  Aussichten,  zu  einem  eigenen  selbständigen  Betriebe  zu 
gelangen,  vermindern.  Durch  die  Arbeitszerlegung,  d.  i.  die  Trennung  der  qualificierten 
von  der  ungelernten,  der  schweren  von  der  leichten  Arbeit,  die  Auflösung  aller  Arbeits- 
vorgänge in  ihre  einfachsten  Elemente,  kann  die  Fabrik  die  verschiedenartigsten  Kräfte 
entsprechend  und  mit  Eücksicht  auf  die  Productivität  am  vortheilhaftesten  beschäftigen. 
Wo  die  Zurückführung  der  Arbeit  auf  einfache  Bewegungen  gelungen  ist,  tritt  die 
Maschine  in  die  Arbeitsgliederung  ein.  Die  fortgesetzte  Vervollkommnung  des  mechanisch- 
technischen Apparates  hat  zwar  auf  manchen  Productionsgebieten  bereits  dahin  geführt, 
dass  der  lebendigen  Menschenkraft  nur  noch  die  Lücken  auszufüllen  bleiben,  allein  die 
Maschine  ist  gleichwohl  nicht  das  Wesentliche  bei  der  Fabrik.  „Maschinen  hat  man  seit 
alter  Zeit  im  Gewerbe  beschäftigt,  Arbeits-  und  Kraftmaschinen";  sie  wurden  erst  mit 
der  Erfindung  der  Dampfmaschinen,  die  nie  den  Dienst  verweigerten  und  sich  überall 
anwenden  Hessen,  zu  einem  wichtigen  Element  der  Erzeugung,  das  die  Ausbreitung  des 
Fabriksystems  gewaltig  förderte.  Dessen  ökonomische  Stärke  liegt  aber  in  der  zweck- 
mässigen Arbeitsverwendung;  dies  erfordert  indes  nothwendig  bedeutende  Capitalien, 
den  Grossbetrieb. 

Als  Mittelglied  zwischen  Handwerk  und  Fabrik  tritt  der  Verlag  in  der  Textil- 
industrie, insbesondre  der  Baumwollspinnerei  und  -Weberei  ein;  auf  anderen  Gebieten 
der  Production  gehen  nur  einzelne  zu  fabriksmässiger  Massenerzeugung  geeignete  Artikel 
und  einzelne  dem  System  der  Heimarbeit  widerstrebende  Warenqualitäten  an  die  Fabrik 
über.  Wo  es  sich  aber  z.  B.  um  Waren  rasch  wechselnder  Nachfrage  und  grosse  Mannig- 
faltigkeit der  Sorten  handelt,  bleibt  die  Hausindustrie  bestehen,  denn  sie  gestattet  einen 
grossen  Theil  des  Betriebsrisicos  von  dem  Unternehmer  auf  den  Arbeiter  zu  überwälzen 
(vgl.  das  dritte  Heft  dieser  „Zeitschrift",  S.  490 — 1).  Anderwärts  gliedert  sich  die  Fabrik 
den  Heimarbeiter,  sowie  Handwerker  auch  äusserlich  an.  Hierauf  haben  wir  ebenfalls 
bereits  in  dieser  Zeitschrift  hingewiesen  (Heft  I,  S.  102  fg.).  Sobald  jedoch  solche  Arbeiten 
regelmässiger  werden,  wird  es  oft  vortheilhaft,  in  den  Räumen  der  Fabrik  selbst  eineo 
Nebenbetrieb  dafür  einzurichten.  Ueberhaupt,  sagt  Bücher,  geht  das  Streben  aller 
grossen  Etablissements  mehr  und  mehr  darauf  hinaus,  ihren  ganzen  Bedarf  an  fremden 
Gewerbeproducten  selbst  zu  erzeugen  und  sich  bezüglich  des  Bezuges  von  Halbfabrikaten, 
Hilfsstoffen  und  sonstigen  Productionsmitteln  unabhängig  zu  stellen.  Sie  greifen  dabei 
einerseits  bis  zur  Urproduction    zurück,   anderseits   dehnen   sie  ihre   Thätigkeit  bis  zum 


Literaturbericht.  ß79 

Kleinverschleiss  ihrer  Fabrikate  aus.  Es  bildet  sich  so  die  gewerbliche  Riesenunternehmung 
aus,  die,  zugleich  Verlag  und  Fabrik,  auch  noch  die  verwandte  ürproduction  und  den 
Handel  verschlingt. 

Mit  grossen  Verbänden,  die  durch  die  Blutsverwandtschaft,  die  Autorität  des 
Familienhauptes  zusammengehalten  werden,  beginnt,  mit  grossen  Verbänden,  deren 
Organisation  auf  dem  abstracten  Rechtsprincip  des  freien  Vertrags  beruht,  schliesst 
heute  die  gewerbliche  Entwicklung  ab.  Auf  der  Stufe  des  Hausfleisses  gibt  es  noch  kein 
Capital  im  Sinne  der  Theorie,  sondern  nur  Gebrauchgüter;  beim  Lohnwerk  ist  nur  das 
Werkzeug  Capital  in  der  Hand  des  Ai-beiters;  im  Handwerk  sind  es  Werkzeug,  Betriebs- 
stätte und  Rohstoff;  im  Verlag  wird  es  auch  das  Product  —  doch  nicht  ünternehmungs- 
capital  des  Arbeiters,  sondern  einer  ganz  neu  auf  dem  Plane  erscheinenden  Person,  des 
kaufmännischen  Unternehmers.  In  der  Fabrik  hat  der  Arbeiter  alle  Productionsmittel 
aus  der  Hand  verloren,  diese  vereinigt  der  Fabriksuntemehmer  für  den  auch  der  Antheil 
des  Arbeiters  am  Producte  Betriebscapital  ist.^) 

Diese,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  bereits  im  Alterthum  vollzogene  und  dann  im 
Mittelalter  ganz  gleichmässig  wieder  beginnende  Entwicklung  der  Formen  des  gewerblichen 
Betriebes,  dann  die  historische  Aufeinanderfolge  von  Handwerk,  Verlag  und  Fabrik  legen 
den  Gedanken  an  die  äussere  Bedingtheit  dieser  morphologischen  Reise  nahe,  Dass  sie 
ihre  Ursache  nicht  in  den  Fortschritten  der  Technik  habe,  vielmehr  beides,  Betriebs- 
form wie  Technik,  von  den  Absatzverhältnissen  abhängig  sind,  ist  bereits  behauptet 
worden.  Auch  aus  der  Bücher'schen  Darstellung  spricht  die  Grundanschauung,  dass  der 
Wechsel  der  Betriebssysteme  durch  die  Veränderung  der  Absatzkreise  (Haus,  Stadt- 
gebiet, Staat,  Welt)  bedingt  und  erzwungen  wird  —  nicht  durch  die  Ausdehnung  des 
Absatzkreises  an  sich,  sondern  die  Länge  des  Weges,  Zahl  wie  Art  der  Zwischenhände, 
welche  das  Product  vom  Erzeuger  bis  zum  Verbraucher  passieren  muss. 

E.  Schwiedland. 


»)  Von  zwei  Seiten,  sagt  Bücher,  empfangt  das  Productionsgebiet  des  Gewerbes  immer  neuen 
Zuwachs:  i.  von  Seiten  der  alten  Haus-  und  Landwirtschaft,  von  denen  sich  immer  noch  Theile  ablösen 
und  zu  selbständigen  Gewerbezweigen  werden,  und  2.  durch  „stete  Vervollkommnung"  und  Vermehrung 
der  Güterwelt,  welche  zur  Befriedigung  unserer  Bedürfiiisse  dient.  Wir  müssten  da  gegen  die  „Vervoll- 
kommnung" Einsprache  erheben,  indem  sich  die  Güter  seit  geraumer  Zeit  dank  der  modernen  Productions- 
vmd  Vertriebsweise,  soweit  sie  Erzeugnisse  des  Verlages  oder  der  Fabrik  sind,  unseren  Beobachtungen  nach 
in  der  Qualität  im  allgemeinen  eher  verschlechtem  als  vervollkommnen,  doch  ist  hier  vielleicht  vom  Autor 
nicht  die  Verbesserung  der  Qualität  bereits  vorhandener  Spezien  verstanden,  sondern  der  stets  fortschreitende 
Process  der  Ersetzung  unvollkommenerer  durch  ein  Bedürfnis  vollkommener  befriedigende  Güter,  wie  etwa 
die  allmähliche  Ersetzung  und  Aufeinanderfolge  des  Kienspans,  Talglichtes,  der  Oellampe,  des  Leuchtgases, 
des  elektrischen  Lichtes,  u.  dgl.  m. !  . 


ZEITSCHßlFTEX-ÜBERSICHT 


Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und  Statistik,  hgg.  v.  Conrad,  Elster,  Loening  u.  Lexis-. 
III.  F.  IV.  Bd. 

II.  Heft:  ynstro7i>:  Vermögenssteuer  u.  ihre  Einführung  ins  preuss.  Steuersystem.  —  Neumann; 
Zur  Lehre  von  den  Lohngesetzen ;  Nationalök.  Gesetzgebung.  — Hanipke:  Der  deutsche  Innungs-  u.  allgem. 
Ilandwerkertag  v.    14—17.   Febr.    1892.  —  Heckel:    Der   Staatshaushalt   Preussens    18P2/;^3.  —  Recensionen. 

III.  Heft:  Friedberg:  Zur  Reform  der  Gemeindebesteuerung  in  Preussen.  —  Sartorius:  Colonisation 
u.  Agrarverfassung  der  Insel  Nantucket  im  17.  u.  18,  Jahrh.  —  Kenmanu-.  Zur  Lehre  von  den  Lohngesetzen. 
Literatur.  —  Heckel:  Haushalts-Etat  des  deutschen  Reichs  1892/93.  —  Diezniann:  Aussenhandel  der  Ver- 
einigten Staaten.  —  Hampke:  Reichsversicherungsanstalt  oder  Berufsgenossenschaft  als  Träger  der  Unfall- 
versicherung. —  Diezniann:  Englands  Aussenhandel  1891.  —  Recensionen. 

Tierteljahresschrift  für  Volkswirtschaft,  Politik  und  Cnltnrgeschichte ,  hgg.  v.  C.  Braun. 
XXIX.  Jgg.  III.  Bd.,  II.  Heft. 

y.  -cj.  Held:  Zur  Lehre  von  der  Entstehung  des  Staates  u.  der  Staatsgewalt.  —  Lewinstein\  Der 
Entwurf  eines  deutschen  Check-Gesetzes.  —  Bttck:  Die  Goldvorräthe  der  russischen  Regierung.  —  Syrkin: 
l'^eber  die  russische  Handelsbillanz.  —  Bücherschau. 

IV.  Bd.  I.  Heft.  Rainsperger:  Die  Schweizer  Eisenbahnfrage,  Studienreisen  eines  jungen  Staats- 
mann.«; in  England  am  Ende  des  vorigen  Jahrhundertes.  —  Volkswirtsch.  Correspondenz.  Bücherschau. 

Journal  des  'Economistes.  Redacteur  en  chef:  M.  G.  de  Molinari.  Librairie  Guillaumin  et  Cie, 
nie  Richelieu,  11.    Paris.  51e   annee. 

Sommaire  du  numero  d'aoiit  1892:  Les  lois  naturelles  de  Teconomie  politique  et  le  socialisme.  — 
I/agiotage  du  temps  de  Calonne.  —  Le  mouvement  agricole.  —  Revue  critique  des  publications  economiques 
«■u  langue  francaise.  —  L'esprit  d'initiative  en  France.  Protectionisme  et  exportation.  —  La  suppression 
des  bureanx  d'enregistrement.   —  Le  quatrieme  congri's  des  banques  populaires.  — Ralph. -Waldo  Emerson 

—  Bulletin.   —    Societe    d'economie   politique    (Reunion    du   5   aout    1892).  —   Comptes    rendus    et    Notices 
bibliographiques.  —  Chrouique  economique. 

Sommaire  du  niimero  de  septembre  1892:  La  reaction  protectionniste.  —  Le  bon  vieux  temps  — 
De  la  societe  moderne  d'apres  la  derniere  publication  de  Courcelle-Seneuil.  —  Mouvement  scientifique  et 
industriel.  —  Revue  de  TAcademie  des  sciences  morales  et  politiques.  —  La  loi  cooperative  et  participa 
tionniste.  —  Le  meeting  annuel  du  Cobden  Club.  —  Le  Congres  economique  d'Anvers.  —  La  doctrinc 
economique  de  rEncyclique  sur  la  condition  des  ouvriers.  —  Lettre  d'Italie:  Les  societös  cooperatives.  — 
Lettre  de  Suisse  :  Les  syndicats  obligatoires.  —  Le  cours  d'economie  politique  de  la  Chambre  de  commerce 
de  Bordeaux.  —  Bulletin.  —  Societe  d'economie  politique  (Reunion  du  5  septembre  1892).  —  Discussion: 
Ny  aurait-t-il  pas  opportunite  ä  röduire  en  France  le  taux  de  Finteret  legal.  —  Comptes  rendus.  —  Chronique 
rconomique. 

Revue  d'Econoniie  Politique,  hgg.  v.   Camv^s,   Gide,  Schwiedland  u.    Villey. 

Nr.  7.  hsdietv:  La  famine  en  Russie.  —  N'itti:  La  legislation  sociale  en  Italic,  difficulte»  quo 
rcncontre   son   etablissement.  —  Chronique   legislative.    —   Chronique.  —  Bulletin  bibliogr. 

Nr.  8.  Meneghelli:  Le  mouvement  cooperatif  en  Italie.  —  Sauzet:  Essai  histor.  de  la  legislation 
industr.  de  la  France.  —  Oczapotuski :  L'histoire   economique  et  .sociale  de  FAngleterre.  —  Chronique  legisl. 

—  Bulletin  bibliogr. 

Nr.  9.  H.  Crüger:  Les  societes  cooperatives  en  AUemagne.  —  M.  Barckhausen:  Idee  de  l'Etat.  — 
J.  Oczapowski:  L'histoire  Economique  et  sociale  de  l'Angleterre.  —  Ch.  Gide:  Chronique.  —  Bulletin 
bibliogr. 

The  economic  Jonrnnl,  edit.  by  F.   \\  Edgeiuorth,  Vol.  IL,  No.  7.  Sept.  1892. 

Dtickivorth:  The  Australian  strike  1890.  —  Frie:  Profit-Sharing  and  cooperative  production.  — 
Giffen:  Fancy  monetary  Standard.  —  BageJwt:  A  New  Standard  of  value.  —  Nicholson:  Capital  and  labour, 
their  relative  strength.  —  Cnnningham:  The  perversion  of  economic  history.  —  Marshall:  A  reply.  — 
Review^s,   Notes   and   Memoranda. 

Anuals  of  the  American  Acadenijr  of  pol.  and  social  science,  Vol.  III.  No.  2.  Sept.  1892,  edit.  by 
James,   Falkner,  Robinson. 

Patten:  Economic  causes  of  moral  progress.  —  Herriott:  Sir  Wm  Temple  on  the  origin  and  nature 
ff  government.  —  Kinley.  Influence  on  business  of  the  independent  treasui-y.  —  Robinson:  Sidgwick'.s 
Elements  of  Politics.  —  Rceve;  Prevent.  legislation  in  relation  to  crime.  —  Personal  notes,  Book  reviews 
and  notes. 

Political  Science  Quarterly,   Columbia  College,   A'ol.  VII.  No.  3.  Sept.  1892. 

Moore:  Asylum  in  legations  and  in  vessels.  —  Stevens:  The  Utility  of  speculation.  —  Holmes-. 
Usurj'  in  law  and  in  practice.  —  Thompson:  Control  of  national  expenditures.  —  Macy:  The  Crown  and 
Democracy  in  England.  —  Dnnning:  Irish  Land  legislation.  —  Morse:  The  Republican  Party.  —  Reviews, 
Book  Notes. 

Glornale  degli  Economisti.  Direzione:    Vit i  de  Marco,  Mazzola,  Pantaleoni,  Zorll    1892. 

Agosto:  X:  La  situazione  del  mercato  monetario.  —  Ferozzo:  Gli  uffici  tecnici  di  finanza.  —  Fareto: 
Considerazioni  sui  principi  fondamentali  dell'econ.  pol.  pura.  —  C  F.  Ferraris:  Nota  suUa  tecnica  della 
statistica  criminale.  —  CorrLspondenze,  Previdenza,  Cronaca,  Supplemento. 

Settembre:  X:  La  situazione  del  mercato  monetario.  —  Sqjülletta:  La  nazione  armata.  —  Benini: 
SuHe  dottrine  economiche  di  A.  Serra.  —  Ypsilon:  Le  intromissioni  del  governo  nelle  casse  di  risparmio 
libere.  —  Note,  Corrispondenza,  Bibliografia. 

Ottobre:  X.:  La  situazione  del  mercato  monetario.  —  Pasolini:  Monografie  di  alcuni  operaj 
l-raccianti  nel  Comnne  di  Ravenna.  —  Squilletta:  La  nazione  armata.  — Nota,  rivista  del  credito  popolare, 
Cronaca.  supplemento. 

L'Economlsta,  direz.:  De  Johannis,  Anno  XIX.  Vol.  XXIII.  952— 9r,2. 


BINDiNG  SECT.    AUG    21967 


Zeitschrift  für  VoUcswirt- 
Schaft  und  Sozialpolitik 


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