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Full text of "Zeitschrift für Volkskunde"

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ZEITSCHRIFT 

des 


Vereins  für  Volkskunde. 


Neue   Folge  der  Zeitschrift  für   Völkerpsychologie  und  Sprachivissenschaft, 
begründet  von  M.  Lazarus  und  H.  Steinthal. 


Im  Auftrage  des  Vereins 


herausgegeben 


Karl  Weinhold. 


Dritter  Jahrgang. 


1893. 


Mit  drei  Bildtafeln  und  mehreren  Abbildungen  im  Text. 


BERLIN. 

Verlag   von   A.   Asher&Co. 


I 

Jq.3 


Inhalt 


Abhandlungen.  Seite 

Der  Wettlauf  im  deutschen  Volksleben  von  K.  Weinhold 1 

Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit  von  H.  Lewy    .    23.     130.  238 

Aus  Gossensass.    Arbeit  und  Brauch  in  Haus,  Feld,  Wald.  I.  Von  M.  Rehsener.    .    .  40 

Zur  Mythendeutung  von  K.  Bruchmann 55 

Her  Sehwank  von  den  drei  lispelnden  Schwestern  von  J.  Bolte 61 

Rätselfragen,  Wett-  und  Wunschlieder  von  J.  Schröer 67 

Volksrätsel  aus  der  Grafschaft  Ruppin  von  K.  E.  Haase 71 

Zur  Volksdichtung  von  Cäsar  Flaischlen 70 

Volkstümliche  Schlaglichter  IV.  von  W.  Schwartz 117 

Aus  dem  mittelschlesischen  Dorfleben  von  A.  Baumgart 144 

Bilder  aus  dem  fseröischen  Volkslehen  von  Hammershaimh,  aus  dem  Freröischen  über- 
tragen von  Jiriezek 155.  285 

Sagen  und  Gebräuche  im  Stubaitba]  in  Tirol  von  Greussing 169 

Zu  den  deutschen  Volksliedern  aus  Böhmen  und  Hessen  von  Voretzsch    .    .    .      176.  337 
Der  Wolf  mit  dem  Wockenbriefe.     Märchen,   mitgeteilt  von  E.  Damköhler,   erläutert 

von  K.  Weinhold 188 

Die  Thorah -Wimpel  oder  Mappe  von  G.  Minden .   .   .  205 

Das  Lebeu  Jesu  von  P.  Martinas  von  Cochem  als  Quelle  geistlicher  Volksschauspiele 

von  J.  J.  Ammann 208.  300 

Das  Saterland  von  Tb.  Siebs 239.  373 

Allerlei  Inschriften  aus  den  Alpenländern  von  Fr.  üwof 278 

Volksrätsel  aus  dem  Bergischen  von  0.  Schall 293 

Villotte  friulane  von  E.  Schatzmayr 329.  4)1 

Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen  von  Fr.  Vogt 349 

Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen  von  August 

Gittee 415 

Der  Geruch  vom  Standpunkte  der  Volkskunde  von  M.  Höfler 438 

Kleine  Mitteilungen. 

Regenzauber  in  Osteuropa  von  J.  Polek  85. 

Miscellen  von  S.  Fraenkel  87. 

Grozdanka  und  AalSafo]  von  G.  Godden  88. 

Gefesselte  Götter  von  M.  Godden  89.    von  Schwartz  448. 

Aus  Ostfriesland  von  C.  Dirksen  90. 

Zur  Sage  von  den  drei  Jungfrauen  von  G.  Müller  93. 

Eine  westpreussische  Spukgeschichte  97. 

Schwur  unter  dem  Rasen  von  K.  Weinhold  224. 

Zum  Aberglauben  auf  Island  von  K.  Maurer  225. 

Volkstümliche  Kirchendarstellungen  von  Mielke  225. 

Sommer-  und  Winterspiel  aus  Schlesien  von  Honig  226. 

Sommersonntag  in  Heidelberg  228. 

Volksreime  auf  Bettlerhochzeiten  von  K.  Weinhold  228. 

Bitten  um  Regen  in  Japan  von  R.  Lange  334. 

Ostfriesisches  Märchen  von  C.  Dirksen  336. 

Die  falsche  Braut  von  Frischauf  451. 


IV  Inhalt. 

Des  Schneiderleins  Glück,  ein  Märchen  452. 

Märchen  von  der  Königstochter,  die  nicht  lachen  konnte,  von  H.  Carstens  456. 

Zu  Glückshafen  und  Wettlauf  von  A.  Herrmaun  459. 

Über  das  wendische  Sprachgebiet  von  Müller  460. 

Nochmals  das  Märchen  von  den  sieben  Grafen  462. 

Bücheranzeigen. 

Gr.  Allen,  The  Attis  of  Catullus,  von  H.  Diels  98. 

Stolz,  Die  Urbevölkerung  Tirols,  von  G.  Kossirina  98. 

F.  Jönsson,  V.  Gudmundsson,  B.  Melstcdt.  Thriar  ritgjördir.  von  K.Maurer  100. 

Schweizerisches  Idiotikon,  Heft  20—23,  von  Weinhold  107. 

Jacobs,  Indiau  Fairy  Tales,  von  A.  Weber  108. 

Günther,  Aus  dem  Sagenschatz  der  Harzlande  109. 

Pineau,  Le  Folklore  du  Poitou,  von  Weinhold  110. 

Harou,  Contributions  an  Folklore  de  la  Belgique  111. 

Hofer,  Weihnachtsspiele,  von  K.  W.  111. 

Branky,  Eulennamen  112. 

Zivaja  Starina  IL  1—3.  112  L'esky  Lid  113.  468.  Wisla  V.  4.  VI.  1—3.  S.  115. 
von  A.  Brückner. 

Svmons,  Ontwikkelungsgang  der  Germaansche  Mythologie  230. 

Fr.  Sander,  La  Mythologie  du  Nord  231. 

Plutarchs  Romane  questious,  by  Holland  and  Jevens  232. 

A.  Graf,  Miti  Legende  e  Superstizioni  IL  232. 

H.  Gaidoz,  Un  vieux  rite  medical  232. 

M.  R.  Cox,  Cinderella  233. 

Thuriet,  Traditions  populaires  du  Haute-Saöne  von  Ch.  Marelle  234. 

Bielenstein,  Grenzen  des  lettischen  Volksstamrnes  von  K  W.  234. 

Büttner.  Snaheli-Schriftstücke  von  M    Hartmann  236. 

The  International  Folklore  Congress  1891.  338. 

Uppsalastudier  tillegnade  S.  Bugge.  —  Germanistische  Abhandlungen  zum  Geburts- 
tage K.  v.  Maurers,  von  K.  Weinhold  339. 

Macdonald,  Religion  und  Mythologie,  von  I!.  Meyer  340. 

R.  Heim,  Incantamenta  magica  341. 

D.  Macritchie,  Underground  life  341. 

Brenner  und  Hartmann,  Bayerns  Mundarten  IL  1.  342. 

W.  Müller.  Zur  Volkskunde  der  Deutschen  in  Mähren,  von  Piger  342. 

Merkens,  Was  sich  das  Volk  erzählt  344. 

Neubaur,  Neue  Mitteilungen  über  die  Sage  vom  ewigen  Juden  :;44. 

Cerny,  Mythiske  bytosce  luziskich  Serbow  von  A.Brückner  345. 

Ethnologische  Mitteilungen  aus  Ungarn  III.  1.  2  von  M.  Höfler  345. 

v.  Wlislocki.  Aus  dem  Volksleben  der  Magyaren  von  J.  Schröer  346. 

Fr.  Krauss.  Böhmische  Korallen  348. 

Stern,  Die  Analogie  im  volkstümlichen  Denken  463. 

Lukas.  Grundbegriffe  in  den  Kosmogonien,  von  M.  Rödiger  464. 

Schneller,  Beiträge  zur  Ortsnamenkunde  Tirols.  I.  von  Fr.  Stolz  464. 

v.  Wlislocki,  Volksglaube  der  Siebenbürger  Sachsen,  von  A.John  465. 

Jacobs  More  english  fairy  tales  466. 

Harou.  Melanges  de  Traditionisme  de  la  Belgique.  —  Le  Folklore  de  Godarville  467. 

E.  Martinengo-Cesaresco,  La  poesie  populaire  467. 

Lewalter,  1  Lutsche  Volkslieder  aus  Niederhessen.  4.  Heft,  von  K.W.  467. 

Auszüge  aus  den  Sitzungs-Protokollen  des  Vereins  von  A.  Brückner  116.  237.  469. 
Register  470. 


Der  Wettlauf  im  deutschen  Volksleben. 

Von  Karl  Weinhold. 


Übungen  der  körperlichen  Stärke  und  Gewandtheit  gehören  von  alters 
her  zu  der  Erziehung  des  Menschen,  und  Wettspiele,  in  denen  sich  die 
Leute  einer  Gemeinde  oder  eines  Stammes  untereinander  oder  mit  den 
Nachbarn  messen,  sind  wohl  bei  den  meisten  Völkern  Brauch  gewesen. 
So  auch  bei  den  Germanen.  Wenn  wir  aus  den  ältesten  Zeiten,  den 
Schwerttanz  etwa  ausgenommen,  keine  schriftlichen  Urkunden  davon  haben, 
so  darf  das  nicht  verwundern.  Diese  Wett-  und  Kampfspiele  waren  etwas 
so  Gewöhnliches  und  Natürliches,  dass  darüber  nicht  berichtet  ward,  und 
so  blieb  es  auch  in  dem  Mittelalter.  In  der  ritterlichen  Gesellschaft  bildeten 
sich  dann  die  Turniere  aus,  die  Wettkämpfe  zu  Ross  mit  ritterlichen 
Waffen.  Unter  dem  Landvolke  aber  blieben  die  alten  Spiele,  die  wir  in 
Ring-,  Lauf-  und  Wurfspiele  (bei  den  letzteren  die  Wettschiessen)  teilen 
können,  in  lebendiger  Übung.  Besonders  zäh  hafteten  sie  in  den  deutschen 
Alpenländern.  Ich  erinnere  an  die  Schwingfeste  in  der  Schweiz1),  an  die 
Ringspiele  in  den  Salzhurger  Gebirgsgauen  (Pongau,  Pinzgau)  und  im 
nordöstlichen  Tirol.  Hier  waren  und  sind  es  noch  zum  Teil  Volksfeste 
im  Hochsommer,  zu  denen  sich  die  Bewohner  der  Nachbargaue  auf  dazu 
geeigneten  Stellen  des  Gebirges  sammeln,  auf  den  danach  genannten  Spiel- 
bergen, Spielbüheln,  Spielkogeln,  Spielfeldern,  Spielwangen,  Spielangern, 
um  ihre  Kraft  und  Gewandtheit,  nameutlich  im  Ringen  (ränggeln)  in  der 
Wette  zu  erproben.  Nicht  bloss  die  Sieger  selbst,  sondern  auch  ihre 
Heimatgaue  erwarben  dort  Ehren.  Auf  Hochfilzen  in  der  Pinzgauer  Urslau 
trafen  die  Pon-  und  Pinzgauer,  auf  dem  Jochberg  im  Tiroler  Bezirk  Kitz- 
büchel  die  Pinzgauer  und  Tiroler,  am  Hundsstein  im  Mitterpinzgau  die 
Leute  aus  den  Bezirken  Zell,  Saalfelden  und  Taxenbach,  auf  der  Platnitz- 
alp,  wo  Salzburg,  Steiermark  und  Kärnten  grenzen,  die  Leute  aus  diesen 
drei  Ländern  zum  Kampfspiel  zusammen3). 


1)  Stalder  Fragmente  über  Entlebuch  II,  12—48. 

2)  Vgl.  Ang.  Prinzinger  in  den  Mitteil,  der  Gesellsch.  f.  Salzburger  Landeskunde 
XX,  123  f.  und  in  dem  Verzeichnis  der  •wichtigeren  Quellen  zur  Laudeskunde  des  Herzogt. 
Salzburg  S.  33  f. 

Zeitschrift  d.  Vereins  f.  Volkskunde.     1893.  1 


•_»  Weinhold: 

Ich  will  von  den  Leibesübuugeu  hier  aber  nur  den  Wettlauf  behandeln. 

Die  Schnellfussigkeit  war  für  den  Helden,  das  ist  den  zu  Schutz  und 
Trutz  tüchtigen  Mann,  bei  den  Germanen  so  gut  als  bei  den  Griechen  eine 
notwendige  Eigenschaft.  In  unserer  alten  Poesie  ist  snel  ein  stehendes 
schmückendes  Beiwort  der  Recken  und  Degen  wie  aodojz^g  für  den 
homerischen  Helden.  Siegfried  und  Achilleus  waren  ausgezeichnete  Läufer, 
und  gerade  die  Lust,  diese  seine  Tüchtigkeit  in  der  Wette  zu  beweisen, 
benutzte  nach  den  deutscheu  Xibelungeliedern  Hagen,  um  den  Mord  au 
Kriemhildens  Manu  auszuführen. 

Wie  Stellen  bei  zwei  österreichischen  Dichtern  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts (Helbling  3.  35.  Jüugling  35)  darthun,  wandte  man  Mittel  an. 
die  Glieder  der  Läufer  geschmeidig  und  gelenk  zu  machen:  man  strich 
Rücken,  Beine  und  Arme,  man  massierte  sie,  wie  man  heute  sagen  würde. 

Bei  den  deutschen  Volksspielen,  die  wir  vorhin  erwähnten,  haben 
Wettläufe  in  früherer  Zeit  immer  ihre  Stelle  gehabt,  wenn  sie  auch  weniger 
in  Ansehen  stunden  als  die  Ringkämpfe,  weil  sie  weniger  Stärke  und  Mut 
forderten  und  daher  auch  von  Mädchen  und  Frauen  ausgeführt  werden 
konnten.  Bei  einem  Armbrustsehiessen  im  Kanton  Solothurn  im  Jahre 
1488  findet  sich  nehen  anderen  Leibesübungen  auch  der  Wettlauf  genannt; 
seitdem  wird  er  aber  bei  den  Schweizer  Nationalfesten  nicht  mehr  erwähnt1). 
\\<>hl  aber  finden  wir  ihn  bis  in  die  Gegenwart  in  den  österreichischen 
Alpenländern,  namentlich  im  Herzogtum  Salzburg,  sowohl  im  Plachgau  als 
im  Gebirge2)  als  Volksbelustigung.  Und  dasjenige,  das  wir  im  folgenden 
über  sein  Vorkommen  an  bestimmten  Jahreszeiten  ausführen  wollen,  wird 
reichlich  beweisen,  dass  der  Wettlauf  über  ganz  Deutsehland  bis  in  unser 
Jahrhundert,  ja  vielfach  bis  zur  Gegenwart  seine  alte  Stellung  im  Volks- 
leben behauptet  hat.  Ohne  Unterschied  des  Geschlechts  der  Läufer  lebte 
er  fort,  und  bei  den  Kinder-  und  Schulfesten  hat  er  sein  altes  Recht  als 
volkstümliche  Lustbarkeit  neu  verbrieft  erhalten. 


Lust  und  Ehre  bereiteten  die  Wettspiele.  Auf  einer  Bildungsstufe 
nun,  wo  die  naive  kindliche  Auffassung  alles  Seienden  herrschte,  haben 
die  Meuscheu  geglaubt,  was  ihnen  selbst  grosse  Freude  mache,  werde  auch 
den  Göttern,  den  himmlischen  wie  den  unterirdischen,  gefallen  und  die- 
selben in  gleichem  Masse  als  die  Opfergaben  für  diejenigen  freundlich 
stimmen,  welche  ihnen  jene  Lust  bereiteten.  So  sind  die  Wettspiele  ein 
Teil  des  Kultus  der  alten  Völker  geworden  und  haben  religiöse  Bedeutung 


1)  Mitteilungen  L.  Toblers  in  Zürich. 

2)  Hübner,  Beschreibung  des  Erzstiftes  und  Reichsfürstentunis  Salzburg  I.  251, 
II.  397.  Winielhofer,  Geographie  des  Salzachkreises.  Salzburg  1813.  Priuzinger  in  den 
Mitteil.  d.  Geseüsch.  f.  Salzb.  Landeskunde  XX,  124.  Schober.  Die  Völker  Österreich- 
Pnganis.    Wien  1881.   I.  3S2. 


Der  Wetflauf  im  deutschen  Volksleben.  3 

gewonnen.  Das  ist  von  den  griechischen  Spielen  namentlich  bekannt  und 
bei  den  Germanen  ist  es  nicht  anders  gewesen.  Kämpfe  mit  den  "Waffen, 
die  bis  zum  Blutopfer  sich  steigerten,  Ringkämpfe,  Wettläufe  und  Wett- 
rennen, Tänze,  waren  die  Arten  dieser  Vorführungen. 

Wir  besitzen  nur  wenige  direkte  Angaben  über  den  Gottesdienst  der 
heidnischen  Germanen.  Das  meiste  darüber  müssen  wir  durch  vergleichende 
Schlüsse  gewinnen,  wofür  teils  schriftliche  Zeugnisse,  teils  die  Beobachtung 
des  Volkslebens  die  Unterlage  geben.  Auch  zur  Erkenntnis  der  alten 
religiösen  Verwendung  der  Wettspiele  können  wir  nur  diese  Quellen  an- 
schlagen, und  sind  darauf  angewiesen,  die  Volksgebräuche  an  den  hohen 
Zeiten    des  Jahres  und  des  menschlichen  Lebens  darnach  zu  untersuchen. 

Der  Suchende  findet.  Gerade  für  den  Wettlauf  begegnen  uns  reich- 
liche Beweise,  dass  er  ein  Spiel  gewesen,  das  mit  alten  Kulthandlungen 
verbunden  war  in  den  Frühlings-  und  Erntefesten  und  bei  bedeutenden 
Ereignissen  des  häuslichen  und  öffentlichen  Lebens.  Dasjenige,  das  wir 
noch  heute  gewinnen  können,  deutet  auf  die  Fülle,  die  einst  vorhanden  war. 


Die  heidnischen  germanischen  Feiern  für  die  Wiederkehr  der  im 
Winter  verschwundenen  Sommergottheiten  waren  nach  der  Bekehrung  auf 
die  hohen  Feste  Ostern  und  Pfingsten  übertragen  worden.  Jeue  Feiern 
waren  in  einer  Zeit  fest  gestaltet,  als  die  Deutschen  noch  überwiegend  von 
der  Viehzucht  lebten,  wenn  sie  auch  längst  daneben  Ackerbau  trieben. 
Es  waren  daher  Spiele  der  Hirten,  womit  diese  den  Göttern  dafür  dankten, 
dass  sie  nuu  wieder  für  die  Herden  und  für  sich  volle  reichliche  Nahrung 
auf  den  Weiden  fanden. 

Der  Wettlauf  uud  das  Wettrennen,  letzteres  von  den  Rosshirten  ge- 
halten, nahmen  nun  dabei  eine  grosse  Stelle  ein. 

Mannhardt  fasste  die  Sache  anders.  Er  sah  in  dem  Wettlauf  der 
Frühlingsgebräuche  den  Einzug  der  Pflanzengenien  in  Wald  und  Feld 
nachgebildet;  den  Maibaum,  das  gewöhnliche  Ziel  des  Renneus,  erklärte 
er  auch  für  einen  Vertreter  der  Pflanzenwelt1).  Schon  das  erregt  Bedenken, 
und  Mannhardt  kommt  dann  bei  dem  Erntefest,  wo  ebenfalls  Wettläufe 
stattfinden,  mit  seiner  Erklärung  in  Verlegenheit. 

Ich  halte  es  allein  für  richtig,  die  Wettrennen  zu  Fuss  und  zu  Ross 
für  einen  Teil  des  Festes  zu  nehmen,  das  die  Hirten  und  die  Landbauern 
in  Dankbarkeit  und  Verehrung  der  segenspendenden  Gottheit  veranstalteten. 
Sie  müssen  ein  Ziel  haben,  im  Frühling  den  Maibaum,  das  Kultzeichen  der 
Frühlingsgottheit,  im  Herbst  die  letzte  Garbe.  Der  Sieger  muss  ferner 
einen  Preis  gewinnen,  der  entweder  in  einem  Kranze  oder  —  was  die 
jüngere  Zeit  brachte  —  einem  einigermassen  wertvollen  Gegenstand  bestund, 


1)    Wald-  und  Feldkulte  I,  392.  397. 


4  Weinhold: 

oder  auch  im  Gewinn  einer  Würde  bei  dem  Festaufzug,  die  ihm  wahr- 
scheinlich für  das  ganze  Jahr  einen  Vorzug  gab.  bis  dann  ein  anderer 
seine  Stelle  gewann,  wenn  er  sie  nicht  behaupten  konnte. 

Einige  Beispiele  zunächst  aus  der  Osterzeit  werden  das  näher  be- 
leuchten. 

Auf  dem  Kalbeschen  Werder  in  der  Altmark  herrschte  der  Brauch, 
dass  ilie  Jungen,  die  im  Sommer  die  Pferde  hüten  sollten,  am  ersten  Oster- 
tag  (in  einigen  Dörfern  auch  am  Charfreitage) l)  auszogen,  um  die  Brach- 
weide (das  Heigras)  für  den  zu  Pfingsten  kommenden  Austrieb  auszu- 
stecken. Auf  einem  Hügel  ward  von  den  ältesten  Jungen,  die  schon  das 
Jahr  vorher  gehütet  hatten,  eine  Taune  aufgepflanzt,  an  deren  behackten 
Asten  sie  die  Knochen  aufsteckten,  welche  die  neuen  Jungen  vorher 
sammeln  mussten.  Auf  den  Gipfel  des  Baumes  kam  ein  Pferdeschädel. 
Dieser  Knochengalgen,  wie  man  den  Baum  nannte,  war  das  Ziel  des  Wett- 
laufs sämtlicher  Pferdejungeu.  Der  Sieger  ward  zum  König  ernannt2),  der 
letzte  hiess  der  lahme  Zimmermann.  Der  Pestzug,  der  sich  anschloss,  war 
freilich  zu  einem  Bettelzug  herabgekommen,  bei  dem  für  den  hinkenden 
und  verbundenen  Zimmermann  Gaben  im  Dorfe  gesammelt  wurden3). 

Ganz  verwandt  war  die  Sitte  in  Plessau  bei  Osterburg  in  der  Altmark. 
Hier  wurde  die  Pfingstweide  von  den  Schafhirten  vor  Ostern  schon  ab- 
gesteckt und  am  Pfingstfest  selbst  ein  Wettreiten  der  Hirten  auf  der  Weide 
gehalten,  nach  welchem  ein  Galgen  gebaut  und  mit  möglichst  viel  Knochen 
behängt  ward.  Der  Sieger  hiess  der  Dauslöper,  der  letzte  am  Ziel  der 
Piugstkäm  *). 

Dauslöper,  der  Tauschlepper  oder  Daustriker  (Taustreicher)  bezeichnet 
den  ersten,  der  durch  den  frischen  heilkräftigen  Maitau  des  Weidegrases 
schleift  und  streift,  und  ist  ein  Ehrenname  des  Hirten,  der  mit  seinem  Tier, 
au  dessen  Schweif  ein  Maienbusch  gebunden  war,  der  den  Tau  aufsammelte, 
zuerst  die  Weide  erreichte.     Die  Namen  der  letzten  sind  Spottnamen5). 

Den  Knochenbaum  oder  Knochengalgen  halte  ich  für  einen  Opferbauni, 
an  dem  die  Hirten  ursprünglich  die  Gebeine  und  den  Schädel  des  der 
Gottheit  dargebrachten  Opfertiers   aufhingen  nach  uraltem  Kultbrauche6). 


1)  Auch  in  Oberschwaben  fand  am  Karfreitag  vor  Sonnenaufgang  (also  zu  besonders 
heiliger  und  heilbringender  Zeit)  ein  Wettreiten  der  Rossbuben  statt.  Die  Tiere  wurden 
dadurch  nach  der  Meinung  für  den  Sommer  gegen  die  Bremsen  geschützt:  BMiuger, 
Volkstümliches  aus  Schwaben  2,  78. 

2)  Der  Wettlauf  hiess  daher  der  Königslauf. 

3)  Aus  dem  3.  Jahresbericht  des  Altmärkischen  Vereins  bei  Adalb.  Kuhn,  Märkische 
Sagen  und  Märchen,  323  f. 

4)  A.  Kuhn  und  W.  Schwartz,  Norddeutsche  Sagen,  Märchen  und  Gebräuche,  S.  379. 

5)  Vgl.  u.  a.  TJ.  Jahn,  Opferbräuche  S.  305  f.  309.  Über  das  Taustreichen  A.  Kuhn, 
Westfälische  Sagen  2,  165. 

6)  Mannhardt,  Mythologische  Forschungen  189  sah  in  dem  Knochenbaum  auch  wieder 
eine  Veranschaulichung  seines  Vegetationsdämons. 


Der  Wettlaut'  im  deutschen  Volksleben.  ,"i 

Bei  dem  grossen  Siegesopfer,  das  die  verbündeten  Deutschen  nach  der 
Varusschlacht  ihrem  Kriegsgott  brachten,  wurden  die  Schädel  der  gefallenen 
Rosse  an  die  Bäume  genagelt  (Tac.  annal.  1,  61).  Die  Gebeine  und  die 
Schädel  der  Opfertiere  waren  das  Bleibende  derselben,  aus  denen  die  gött- 
lichen Wesen  sie  stets  wiederbeleben  konnten,  sobald  nur  kein  Knochen 
verletzt  war1). 

Wie  beliebt  die  Wettläufe  in  der  Osterzeit  gewesen  sind,  beweist  am 
schlagendsten  ihre  Einfügung  in  deutsche  Osterspiele  des  XIV.  und 
XV.  Jahrhunderts,  indem  in  mehreren  derselben2)  der  Gang  der  Jünger 
Petrus  und  Johannes  zum  Grabe  des  Herrn  in  einen  komischen  Wettlauf 
ausgeartet  ist. 

Bei  den  Hirtenfosten  zu  Pfingsten  ist  das  gewöhnliche  Ziel  des 
Wettlaufs  der  Maibaum,  auch  Maibusch  genannt:  gewöhnlich  ein  junger 
grüner  Laubbaum  (Birke.  Buche)  oder  eine  hohe  Baumstange  mit  grünem 
Wipfel,  der  mit  einem  Kranz,  mit  Tüchern,  Bändern,  einem  Hut  als  Preisen 
geschmückt  war.  Zuweilen  ward  auch  nur  um  die  Ehre  des  Sieges  gelaufen 
oder  geritten. 

Wir  deuteten  schon  oben  den  Maibaum  als  das  alte  Kultzeichen,  die 
effigies  oder  das  sign  um  des  sommerlichen  Himmelsgottes,  dem  das 
Frühlingsfest  im  freudigen  Dankgefühl  von  den  Menschen  veranstaltet 
ward,  und  erklärten  das  Laufspiel  für  einen  Teil  des  religiösen  Aktes,  an 
den  sich  der  feierliche  Umzug  anschloss,  dessen  Führer  durch  die  Wett- 
handlung bestimmt  worden  war. 

Bis  gegen  die  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  waren  diese  Wett- 
läufe oder  Wettrennen  im  Mai  oder  zu  Pfingsten  in  Westfalen,  in  der 
Altmark,  in  Ostfalen,  in  Franken,  Thüringen,  Schlesien,  in  Schwaben, 
Bayern3)  noch  sehr  verbreitet.  Sie  berühren  sich  nahe  mit  dem  Wett- 
austrieb der  Hirten  und  Hirtinnen  am  Pfingstniorgen ,  bei  dem  jeder  mit 
seinen  Tieren  als  erster  auf  der  Gemeindewiese  zu  sein  trachtet  und  den 
Segen  und  Gesundheit  für  alles  Lebende  bringenden  Maitau  am  reichlichsten 
vom  Grase  zu  streifen  sucht.     Aber  die  Wettläufe  schliessen  sich  erst  als 


1)  Vgl.  die  Zusammenstellung  bei  Rochholz,  Deutscher  Glaube  und  Brauch  1,  211)  11'. 
—  Über  das  Verbrennen  unzerbrochener  Knochen  iu  den  Jahrzeitfeuern  U.  Jahn,  Deutsche 
Opfergebräuche  40  ff.  122. 

2)  Hoffmann,  Fundgruben  II,  334.  Pfeiffer,  Germania  3  294  (Egerer  Spiel).  Pichler, 
Drama  des  Mittelalters  in  Tirol  165  (Sterziug).  Erlauer  Spiere,  herausgeg.  von  Kummer 
87  f.  Von  den  in  Frankreich  entstandenen  zeigt  nur  eines  in  einer  Orleanser  Handschrift, 
die  auch  sonst  Spiele  enthält,  die  sich  mit  deutschen  berühren,  den  YVettlauf,  vgl.  Zeitschr; 
f.  deutsches  Altertum  XXXVI,  239. 

3)  Kuhn,  Westfäl.  Sagen  2,  160  ff.  Märkische  Sagen  323  ff.  Kuhn  und  Schwartz, 
Norddeutsche  Sagen  379  fg.  Pröhle,  Harzbilder  66.  Bavaria  IV.  1,  243  f.  Schlesische 
Provinzialhlätter  1870.  289  ff.  Schroller,  Schlesien  III,  251  ff.  264  fg.  268.  Birlinger, 
Volkstümliches  aus  Schwaben,  2,  93.  E.  Meier.  Deutsche  Sagen,  Sitten  und  Gebräuche  iu 
Schwaben  S.  394.  398.  Panzer,  Bayerische  Sagen  und  Bräuche  1,  234—239.  2,  81—90. 
444  ff. 


g  Weinhold: 

Folge  des  Austriebes  an  und  leiten,  wie  ich  wiederholt  hier  hervorhob,  die 
ursprünglich  religiöse  Pesthandlung  ein. 

Einige  Beispiele  mögen  nun  folgen. 

In  Halberstadt,  dem  alten  Hauptort  des  ostfälischen  Landes,  war  es 
noch  gegen  Ende  der  vierziger  Jahre  unsers  Jahrhunderts  Brauch,  auf 
dem  Anger  zu  Pfingsten  den  Maibusch  aufzustecken,  der  mit  seidenen 
Tüchern  und  anderen  Sachen  behangen  ward.  Um  diese  laufen  die  jungen 
Burschen.  Die  ersten  am  Ziel  bekommen  die  Preise,  der  letzte  erhält  den 
Spottnamen  Lamböni  oder  Lambö.  Darauf  laufen  die  jungen  Mädchen, 
und  zwar  nach  einem  andern  Maibusch,  bei  dem  ein  Lamm  als  Preis  steht; 
die  letzte  bekommt  einen  Klotz  und  wird  Klotz-Marine  genannt1). 

In  Gross -Wirbelitz  bei  Salzwedel  in  der  Altmark  laufen  zu  Pfingsten 
die  Jungen  nach  einem  Maienbusch.  Der  Sieger  wird  König  und  erhält 
einen  Blumenkranz  um  den  Hals  und  einen  Maienbusch  in  die  Hand,  mit 
dem  er  beim  Umzug  den  Tau  wegfegt,  wovon  er  auch  Dauslöper  genannt 
wird2).  Der  letzte,  der  Pingstkaäm,  muss  das  bekränzte  Gestell  (Rick) 
tragen,  woran  die  beim  folgenden  Umzug  gesammelten  AVürste  und  Speck- 
seiten gehängt  werden8). 

In  Westfalen  sassen  beim  ersten  Anbruch  des  ersten  Pfingsttages,  um 
Mitternacht  schon,  alle  Pferdejungen  zu  Pferde  und  jagten  zur  Pfingst- 
weide,  die  schon  zu  Ostern  ausgesteckt  worden  war.  Der  erste  auf  der 
Weide  bekam  den  Namen  Däwestrüch  (Taustrauch,  entstellt  aus  Däwestrik, 
Taustreicher).  Dann  führte  man  ihn  mancherorten  auf  einen  Berg,  setzte 
ihn  auf  einen  abgehauenen  Strauch  und  zog  ihn  unter  allgemeinem  Freuden- 
geschrei durch  den  Tau  den  Berg  hinab:  ihm  ward  also  der  reichste  Teil 
von  dem  Tau  des  heiligen  Tages  vergönnt.  Seine  Pferde  wurden  mit 
Maienkränzen  geschmückt,  und  die  des  letzten  Reiters,  der  Pengstemocke, 
mit  Blumen.     Darauf  folgte  das  Wettrennen4). 

In  Schlesien  ist,  im  deutschen  wie  im  polnischen  Teile  des  Landes, 
das  Wettrennen,  besonders  zu  Pferde,  mit  dem  Ziele  des  Maien  und  dem 
Umzüge  nachher,  früher  allgemein  verbreitet  gewesen.  Infolge  von  Aus- 
schreitungen aber,  die  dabei  vorkamen,  verbot  seit  dem  vorigen  Jahr- 
hundert die  Polizei  die  Lustbarkeit,  und  nur  an  wenigen  Orten  blieb  sie 
im  Brauch.  Selbst  in  Breslau  hatte  sich  das  Pfingstreiten  bis  in  das  acht- 
zehnte Jahrhundert  erhalten6). 

Besonders  gut  erhielt  sich  bis  gegen  1850  das  uralte  Frühlingsfest  in 
einigen  Dörfern  des  Striegauer  Kreises.  In  Lüssen,  ehemals  den  Johan- 
nitern gehörig,  und  in  Järischau,   das  die  Benediktinerinnen  von  Striegau 


1)  Kuhn  u.  Schwartz,  Norddeutsche  Sagen,  S.  38G. 

2)  Vermengung  des  Viehaustriebs  und  des  Wettlaufs. 

3)  Kuhn  u.  Schwartz  a.  a.  0.  380. 

4)  Kuhn.  Westfälische  Sagen  2,  164  f. 

5)  SchroJler.  Schlesien  3,  252  f.  265  f.  268.  272  f. 


Der  Wettlauf  im  deutschen  Volksleben.  7 

besassen.  zwei  grossen  Baüerndöf fern ,  geschah  am  frühen  Morgen  des 
zweiten  Pfingsttages  das  Wettrennen  der  Bauernsöhne  und  Grossknechte 
nach  einer  hohen  geschälten  Fichtenstange,  deren  Spitze  der  mit  Blumen 
und  Bändern  geschmückte  Maihusch  krönte.  Unter  ihm  hingen  die  Preise: 
ein  Kranz,  Halstücher  und  ähnliche  Sachen.  Den  Sieger  rief  man  zum 
König  aus,  den  letzten  zum  Rauchfiss  oder  Rauhfist1). 

Der  König  ward  nuu  auf  die  Schultern  der  abgestiegenen  Reiter  ge- 
hoben und  kletterte  an  der  Stange  empor,  um  sieb  den  Maien  und  den 
Kranz  herabzuholen.  Dann  ging  es  in  feierlichem  Ritt  durch  das  Dorf, 
der  König  mit  dem  Busch  und  dem  Kranz  voran.  Der  Rauchfiss  sammelte 
dabei  in  den  Bauerhöfen  Beiträge  von  Lebensmitteln  für  das  spätere  Ge- 
lage. Inzwischen  war  die  Kirchzeit  gekommen  und  alle  Reiter  ritten  zur 
Kirche. 

Nachmittags  bildete  sich  der  Zug  von  neuem  und  bewegte  sich  zum 
Hause  der  Königin,  die  vom  König  zu  Tanz  und  Schmaus  abgeholt  ward. 
In  den  Dörfern  Lüssen  und  Järischau  war  Königin  die  Geliebte  des  Königs. 
Ihr  brachte  er  auch  die  Preise  vom  Maibaum,  die  für  Mädchen  passen: 
»•in  Tuch,  eine  Schürze,  ein  buntes  Band2). 

In  diesem  schlesischen  Pfingstbrauche  sind  die  Teile  des  alten 
Frühlingsfestes  voll  erhalten:  Wettrennen  der  Jünglinge  zu  Ross,  wobei 
die  Würde  des  Führers  im  Festzuge  erworben  wird,  dann  der  Aufzug  (die 
pompa),  der  Gottesdienst  (Opfer),  das  Festgelage  und  der  Tanz. 

In  Schwaben  bestund  an  verschiedenen  Orten  der  Maitauritt,  der  uns 
an  die  niederdeutschen  Ostergebräuche  erinnert,  die  wir  früher  schilderten. 
In  den  ersten  Stunden  des  1.  Mai,  oft  schon  um  1  oder  2  Uhr  in  der  Nacht, 
ritten  alle  Burschen,  die  über  ein  Pferd  verfügen  konnten,  in  den  Wald, 
wo  Lieder  gesungen,  am  Waldsaum  getummelt  und  gelagert  ward.  Mit 
Sonnenaufgang  zog  alles  heim3).  Das  ist  nur  ein  Bruchstück  der  alten 
Sitte. 

Aus  anderen  schwäbischen  Orten  werden  Wettläufe  und  Wettrennen 
nach  dem  Maibaum  und  andere  Bräuche  zum  1.  Mai  berichtet.  Häufiger 
noch  ist  das  Pfingstfest  die  Zeit  dieser  Feier,  und  zwar  meist  Pfingst- 
»montag,  da  die  Kirche  sie  am  Pfingstsonntage  nicht  duldete.  Nach  einem 
Protokoll  vom  19.  Mai  1700  ward  am  Pfingstmontag  zu  Merstetten  nach 
langer  Unterbrechung    ein  Wettrennen   lediger  Burschen    um    einen  Käse 


1)  Das  Wort  ist  Entstellung'  von  Rauchfuss,  worin  die  euphemistische  Benennung 
eines  in  Tiergestalt  gedachten  Frühlingsgeistes  liegt.  Als  solcher  zeigt  sieh  der  Rauch- 
fiss in  anderen  schlesischen  Frühlingsgebräuchen.  Das  Wort  Rauchfuss  wird  den  Bären 
bezeichnen;  im  polnischen  Oberschlesien  heisst  eine  dem  Rauchfuss  ganz  verwandte  Ge- 
stalt niedzwiez  (Bär).  —  Ich  bemerke,  dass  Rauchfuss  (gelehrt  übersetzt  Dasypodius)  auch 
als  Familienname  vorkommt.     Im  Griechischen  wird  öaavnovs  auf  den  Hasen  angewandt. 

2)  Nach  R.Dreschers  Bericht  in  Schrollers  Schlesien  3,  2651'.  272.  Nebenzüge  habe 
ich  hier  weggelassen. 

3)  E.  Meier,  Sageu,  Sitten  und  Bräuche  aus  Schwaben  394.  398. 


8  Weinhold: 

gehalten,  das  die  Obrigkeit  später  jedoch  von  neuem  verbot.  In  Bissingen 
hielt  sich  Wettlauf  und  Wettrennen  an  jenem  Tage  bis  in  den  Anfang 
unsers  Jahrhunderts1).  Genaueres  wird  aus  Bettringen  berichtet,  wo  die 
Sitte  bis  in  die  Gegenwart  fortlebte.  An  dem  Pfingstritt  beteiligen  sich 
aber  nur  die  jüngsten  Burschen.  Sie  tragen  einen  dichten  Kranz  von 
gelben  Schmalzblumen2);  eiu  jeder  bat  ein  weisses  Hemd  über  seinen 
Kleidern,  das  um  die  Hüften  gegürtet  ist.  Auch  die  Rosse  sind  mit  den 
gelben  Blumen  geschmückt  und  bestens  aufgezäumt.  Den  Blumenschmuck 
besorgt  das  Mädchen,  das  sich  jeder  Pfingstreiter  zu  dem  Tage  gewählt 
hat.  Die  Burschen  reiten  ohne  Sattel.  Der  Führer  des  Zuges,  der  Fähn- 
rich, trägt  einen  Maien  in  der  Hand.  Als  Spassmacher  tritt  der  Pfingst- 
lümniel  auf.  Der  ganze  Ritt  beschränkt  sich  in  Bettringen  auf  einen 
Umritt  durch  das  Dorf,  wobei  allerlei  Sprüche  gesprochen  werden,  aus 
denen  sich  ergiebt,  dass  der  Pfingstlümmel  in  das  Wasser  geworfen  ward. 

Nach  dem  Umritt  sammeln  einige  Pfingstbuben  zu  Fuss  Lebensmittel 
in  den  Höfen  und  Häusern,  die  dann  mit  den  Mädchen  im  Wirtshause 
genossen  werden.     Tanz  bis  zur  Betglocke  beschliesst  das  Fest3). 

In  ganz  ähnlicher  Art  wird  der  Pfingstritt  zu  Nusplingen  gehalten. 
Der  Pfingstbutz  ist  hier  in  Stroh  gehüllt  —  er  ist  hier  Vertreter  des  Winter- 
dämons — ,  einige  ältere  Burschen  suchen  ihn  zu  fangen,  und  wenn  es 
gelingt,  werfen  sie  ihn  ins  Wasser4). 

Das  Wettreiten,  das  in  Bettringen  und  Nusplingen  vergessen  worden 
ist,  hat  sich  in  Fulgenstadt  erhalten.  Es  findet  nach  dem  Vormittags- 
gottesdienst des  zweiten  Pfingsttages  nach  einem  Ziel  im  Felde  statt.  Der 
Sieger  führt  dann  den  Zug  mit  einem  Maien  in  der  Hand6),  der  letzte 
heisst  der  Hazeler  und  wird  in  grünes  Laub  gekleidet.  Jedenfalls  ist  er 
ins  Wasser  geworfen  worden.  Nachmittags  folgt  dann  der  Umritt  in 
benachbarte  Dörfer,  Gabensammeln  und  Tanz6). 

Diese  Umritte  haben  auch  im  bayerischen  Schwaben  bis  über  die 
Mitte  unseres  Jahrhunderts  (ob  noch  jetzt,  weiss  ich  nicht)  gedauert, 
ebenso  in  einigen  ober-  und  niederbayerischen  Dörfern7).  Eine  Hauptrolle 
fällt  dabei  dem  sogenannten  Wasservogel  (zuweilen  Pfiugstl  genannt) 
zu,    einem    in  Laub    gekleideten  Menschen    (seltener  wird  er  durch  eine 


1)  Birlinger,  Volkstümliches  aus  Schwaben  2,  160. 

2)  wie  es  scheint,  gelbem  Hahiienfuss,  da  ebendort  auch  weisse  Schmalzblumen  vor- 
kommen, was  den  Gedanken  an  Caltha  und  an  Leontodon  aussehliesst. 

3)  Birlinger  a.  a.  0.  2,  151  ff. 

4)  Birlinger  144  f. 

5)  Aus  einem  Spruch  des  Hazelers  ergiebt  sieh,  dass  der  Sieger  den  Namen  Reifan- 
schniecker  erhielt,  das  wohl  dem  niederdeutschen  Dauslöper  oder  Daustriker  sich  ver- 
gleicht. 

6)  Birlinger  2,  135—143. 

7)  Bayr.  Schwaben:  Panzer,  Bayerische  Sagen  und  Bräuche  2,  83.  85.  87.  89:  Alt- 
bayern :  1,  234  f.  2,  81. 


Der  Wettlauf  im  deutschen  Volksleben.  9 

Puppe  vertreten),  in  dem  wir  ein  uraltes  Menschenopfer  erkennen,  das  am 
Frühlingsfest  der  regenspendenden  Gottheit1)  gebracht  worden  ist.  Ur- 
sprünglich ward  durch  das  Los  oder  durch  ein  Wettrennen  bestimmt,  wer 
aus  der  Gemeinde  sein  Leben  hingeben  müsse.  Merkwürdig  treu  ist  die 
Erinnerung  hieran  zu  Sontheim  in  Schwaben  bewahrt  worden,  wo  die 
Burschen  am  Pfingstmontag  durch  das  Los  den  Wasservogel  wählen:  wer 
das  kürzeste  Hölzchen  zieht,  muss  es  sein.  Sie  führen  ihn  dann  in  den 
Wald  und  hüllen  ihn  ganz  in  Birkenlaub.  Dann  geht  es  in  das  Dorf 
zurück  und  ein  Zug  von  18 — 20  Reitern  bildet  sich,  deren  zwei  letzte  den 
unberittenen  Wasservogel  zwischen  sich  nehmen.  Der  Zug  geht  auf  die 
Brücke  über  die  Zusamm,  von  der  sie  ihn  in  den  Bach  hinabwerfen2). 

In  anderen  Dörfern  des  bayerischen  Schwaben,  ebenso  im  nieder- 
bayerischen Abensberg3)  wird  durch  ein  Wettrennen,  das  in  der  Frühe  des 
Pfingstsonntags  statthat,  bestimmt,  wer  der  Wasservogel  sein  muss:  dieser 
letzte  ist  ursprünglich  der  Opferung  verfallen  gewesen.  Die  ersten  am  Ziel 
erhalten  Preise  nach  jüngerer  Sitte. 

In  Holzheim  in  Schwaben  sind  einige  bemerkenswerte  Abänderungen 
eingetreten4).  Hier  wird  der  Wasservogel  durch  eine  Puppe  dargestellt, 
wie  auch  bei  dem  Todaustreiben  am  Sonntag  Lätare  in  mitteldeutschen  und 
slavischen  Landen  eine  Puppe  den  Opfermensehen  ersetzt  hat;  dieselbe  ist 
am  Leibe  mit  Wasservogelblumen  umkränzt,  die  von  den  Kindern  oft 
stundenweit  hergeholt  werden5),  und  an  den  Armen  mit  weissen  Schmalz- 
blumen (Hahnenfuss).  —  Der  Wasservogel  wird  auf  ein  Pferd  gesetzt,  das 
ein  Knabe  führt,  und  nimmt  an  dem  Umritt  teil,  der  (nach  einem  Spruch 
zu  schliessen)  um  die  Felder  ging6).  Dann  wird  ein  Wettrennen  gehalten. 
Der  Sieger  erhält  Küchel  als  Preis  und  wählt  sich  eine  Pfingstbraut,  die 
den  Ehrenplatz  an  der  Tafel  bekommt,  und  auf  deren  Stadelgiebel  der 
Wasservogel  gesetzt  wird,  wo  er  bis  auf  die  nächsten  Pfingsten  sitzen 
bleibt. 

In  diesen  oberdeutschen  Pfingstbräuchen  nimmt  das  Menschenopfer, 
das  der  befruchtenden,  segenspendenden  Sommergottheit  gebracht  worden 
ist,  die  Hauptstelle  ein.  Wir  werden  darin  einen  der  höchsten  Götter  — 
den  schwäbischen  Ziu,  den  bajuvarischen  Eru,  also  den  germanischen  Tius 
zu  erkennen  haben.  Der  feierliche  Umzug  mit  dem  Opfer  tritt  stark 
hervor:  der  Wettlauf  oder  das  Wettrennen  dient  zur  Bestimmung  des 
Menschen,  welcher  zum  Heil  des  ganzen  sein  Leben  hingeben  muss.    Der 


1)  Grimm,  D.  Mythologie  562.    Panzer  2,  444  f. 

2)  Panzer  2,  89. 

3)  Panzer  2,  83.  85  f.  87. 

4)  Panzer  2,  85  f. 

5)  Es  wird  von  Panzer  nicht  gesagt,  was  für  Blumen  das  sind. 

6)  Im  Dürkheimer  Landgericht  im  bayer.  Schwaben  ist  die  ganze  Feierlichkeit  in 
einen  kirchlichen ,  vom  Pfarrer  geführten  Umritt  der  Dorfflur,  an  deren  vier  Ecken  das 
Evangelium  gelesen  und  das  Wetter  gesegnet  wird,  verwandelt.    Panzer  2,  90. 


10  Wemhöld: 

letzte  am  Ziel  ist  es.  So  erhalten  wir  einen  wertvollen  Beitrag  zu  dem 
Aufbau  des  ganzen  ältesten  Frühlingsfestes  aus  dem  heute  noch  blühenden 
Pfingstb rauch  der  Bayern  und  Schwaben1). 

Als  eine  besondere  Art  des  Wettlaufes  mag  noch  aus  dem  Algäu  das 
Karren  schieben  oder  Karrenrennen  erwähnt  werden,  das  zu  Wangen 
am  Pfmgstfest  geschieht  oder  geschah.  Jeder  Bursche  kommt  mit  seinem 
Mädchen  und  einem  Karren  auf  einen  bestimmten  „freien  Wasen".  Ein 
Seil  wird  ausgespannt,  längs  dem  sich  die  Burschen  mit  ihren  Karren, 
worin  die  Mädel  sich  gesetzt  haben,  aufstellen.  Auf  gegebenes  Zeichen 
fahren  sie  auf  den  Maibaum  als  das  Ziel  los.  Sie  halten  aber  auf  halber 
Bahn,  die  Mädchen  machen  den  Burschen  im  Karren  Platz  und  schieben 
nun  um  die  Wette  diese  auf  das  Ziel  los.  Die  erste  am  Maibaum  gewinnt 
den  ersten  Preis  u.  s.  w.a). 

Hier  scheint  der  Wettlauf  der  einzige  Best  der  Pfingstfeier  zu  sein. 
Inwieweit  dies  auch  für  Kärnten  gilt,  wo  am  Pfingstmontag  nach  alter 
Sitte  Wettläufe  auf  den  Alpen  gehalten  werden3),  weiss  ich  nicht. 

In  den  Maifesten  der  niederdeutschen  Städte,  in  denen  sich  der  Um- 
zug zum  prächtigen  Umritt  des  Maigrafen  ausgebildet  hatte4),  traten  die 
übrigen  Teile  der  Feier,  somit  auch  der  Wettlauf,  ganz  zurück  und  er- 
loschen. Von  Niedersachsen  hatten  sich  die  Maigrafenfeste  nach  Dänemark 
und  Schweden  verbreitet. 


Der  Frühling  weicht  dem  Sommer,  der  zur  Zeit  der  Sonnenwende  in 
vollster  Pracht  entfaltet  ist.  Bei  dem  grossen  Sunnwendfest,  das  die 
Kirche  auf  den  Namen  Johanuis  des  Täufers  umtaufte,  haben  die  Kampf- 
spiele auch  einen  Teil  der  Feier  ausgemacht,  Zeugnisse  dafür  sind  aller- 
dings spärlich;  doch  wird  berichtet,  dass  bei  dem  Sunnwendfest,  das  die 
Leute  aus  Salzburg,  Steiermark  und  Kärnten  auf  ihrer  gemeinsamen  Grenze, 
der  Flatnitzalpe,  viel  besuchten,  Ringspiel  und  Wettlauf  gehalten  wurden. 
Und  gleiches  wird  zu  Johannis  auf  dem  Sonntagkogel  bei  Johann  im  Pongau 
stattgefunden  haben,  wenn  hier  auch  nur  vom  Ringkampf  aus  dem  Ende 
des  vorigen  Jahrhunderts  erzählt  wird5). 

Die  Erntefeste  beginnen  mit  dem  ersten  Schnitt  (Jakobitag,  25.  Juli) 
und  ziehen  sich  bis  Katharinen  (25.  November)  hin;  aus  diesen  vier  Monaten 


1)  Unter  dem  Namen  Pfingstquack  kommt  der  Brauch  auch  auf  rheinfränkischem 
Boden  im  Hinterweidenthal  in  der  Pfalz  nach  Panzer  1,  238  vor.  Auch  aus  Elsass  wird 
dieser  Name  und  der  Brauch  berichtet.  Pfingstquack  ist  der  Pfingstfrosch.  Der  Frosch 
als  Vorbote  des  Sommers,  als  Laubfrosch  Ankündiger  des  Regens,  hat  seine  Stelle  iu  den 
Frühlingsbräuchen,  vgl.  Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte  1,  355  f. 

2)  E.Meier  in  J.  Wolfs  Zeitschrift  für  deutsehe  Mythologie  u.  Sittenknnde  1.  443. 

3)  Schober,  Die  Völker  Österreich-Ungarns  I.  382. 

4)  J.  Grimm,  D.  Mythol.  735-38.    Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte  1,  369  ff. 

5)  L.  Hübner,  Beschreibung  des  Erzstiftes  Salzburg.   IL  396  f.  691. 


Der  Wettlanf  im  deutschen  Volksleben.  11 

ragt  besonders  der  Bartholomäitag  (24.  August)  als  Zeitpunkt  der  ab- 
o-eschlossenen  Getreideernte  hervor.  Sowie  die  Erntefeste  in  Griechenland 
und  Italien  mit  Opfern  und  Spielen  begangen  wurden1),  so  ist  das 'auch 
in  Deutsehland  geschehen. 

Zu  Besdau  bei  Luckau  in  der  Niederlausitz  laufen  am  Erntefeste  die 
Knechte  und  Mägde,  aber  getrennt  von  einander,  um  Backwerk,  Tücher 
und  ähnliche  Preise2).  Gleicher  Brauch  bestund  auf  den  Gütern  um  Nörten 
im  Hannoverschen  und  um  Grimma  in  Sachsen3).  In  Pommern  liefen  nur 
die  Mägde  nach  der  letzten  Garbe,  welcher  Ähnlichkeit  mit  einem  Mauns- 
bilde  gegeben  wurde.  Die  Siegerin  erwarb  das  Recht  der  ersten  Tänzerin 
am  folgenden  Tanzabend.  Auch  in  Schlesien  war  der  Wettlauf  nach  be- 
endeter Ernte  auf  die  Mägde  beschränkt4). 

Dass  die  letzte  Garbe  ein  Opfer  war  zu  Dank  und  Bitte  für  die  ge- 
gebene und  für  die  künftige  Ernte,  lehren  lange  erhaltene  niederdeutsche 
Gebräuche,  bei  denen  sich  sogar  die  Anrufung  Wodans  fortgefristet 
hatte 6). 

Bei  der  mit  alter  Fülle  gefeierten  thüringisch-fränkischen  Kirmse,  wie 
sie  aus  der  Hildburghauser  Gegend  Hohnbaum  in  Büschings  Wöchentlichen 
Nachrichten  IV.  399  (1819)  beschrieben  hat,  die  mit  feierlichem  Aufzug 
nach  dem  Gottesdienst,  und  mit  Schmaus  und  Tanz  begangen  ward,  fand 
am  zweiten  Tage  das  Kuchenlaufen  statt:  Burschen  und  Mädchen  liefen 
nach  dem  auf  einen  Topf  gelegten  Kuchen  um  die  Wette. 

In  Schwaben  ward  noch  um  die  Mitte  dieses  Jahrhunderts  das  Ernte- 
fest zu  oder  um  Bartholomäi  mit  Wettläufen,  Wettspringen,  Ringen, 
Klettern  und  anderen  Wettübungen  begangen6).  Mancherorten  hiess  das 
Fest  der  Schäferlauf  oder  Schäfersprung,  weil  ein  Wettlauf  der  Hirten 
den  Hauptteil  bildete.  In  Bretten  liefen  am  Lorenztage  (10.  August),  dem 
sogenannten  Schäfermarkt,  die  ledigen  Schäferburschen  und  Schaf er töchter 
am  Abend  auf  freiem  Felde  in  paarweiser  Ordnung  nach  einem  Ziel.  Der 
Sieger  gewann  ein  Lamm,  die  Siegerin  ein  seidenes  Halstuch.  In  Wild- 
berg geschah  der  Wettlauf  in  gleicher  Art  acht  Tage  vor  Michaelis.  Neben 
dem  Wettlauf  gingen  noch  andere  Übungen  nebenher;  Gottesdienst  ging 
dem  Lauf  voran,  Tanz  folgte.  In  Markgröningen  liefen  die  Schäfer  und 
Schäferinnen  am  Bartholomäustage  barfuss  über  ein  Stoppelfeld.  Die  Preise 
waren  für  den  Sieger  ein  Hammel,  für  das  erste  Mädchen  am  Ziel  ein 
Lamm  oder  ein  scharlachenes  Mieder,  Schnupftücher  oder  ähnliche  Sachen7). 


1)  Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte  2,  254  ff.    Mythologische  Forschungen  172  ff. 

2)  Kuhn  u.  Schwartz,  Norddeutsche  Sagen  S.  399.  Nr.  109. 

3)  Kuhn,  Westfäl.  Sagen,  2,  187.  Nr.  525.     Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte  1,  396. 

4)  Kuhn,  Märkische  Sagen  S.  342.     Schroller,  Schlesien  3,  309. 

5)  Grimm,  D.  Mythologie  140  ff.     Pfannenschmid,  Erntefeste  104  ff. 

6)  E.  Meier,  Sagen  aus  Schwaben  437  ff.  451. 

7)  Vgl.  Meier  a.  a.  0.    Birlinger,  Volkstümliches  aus  Schwaben  2,  280.   Aus  Schwaben 
2,  209  ff. 


12  Weinhold: 

Wenn  hier  die  Hirten,  nicht  die  Schnitter  laufen,  so  gründet  sich  das 
wohl  darin,  dass  mit  vollendeter  Ernte  die  Weide  auf  den  Stoppelfeldern 
offen  wird. 

Am  Jakobitage  fand  zu  Teinach  im  Schwarzwald  ein  weit  und  breit 
berühmtes  ländliches  Fest  statt,  der  sogenannte  Hahnentanz.  Dasselbe 
eröffnete  ein  Wettlauf  von  jungen  Burschen  und  Mädchen.  Darauf  folgte 
ein  Eselwettrenneu x)  und  nach  diesem  der  Hahnentanz,  wobei  es  darauf 
ankam,  dass  eiu  von  seinem  Mädchen  unterstützter  Bursche  ein  Wasser- 
glas mit  seinem  Kopfe  herunterstiess.  das  auf  einem  Brette  an  einer  Stange 
ziemlich  hoch  stund.  Auf  der  Spitze  der  Stange  sass  ein  Hahn  in  einem 
Käfig.  Wem  das  dreimal  gelang,  gewann  den  Hahn.  Die  Paare  umtanzten 
danu  die  Hahnenstange2). 

Solche  Hahnentänze  werden  auch  sonst  in  Schwaben  und  ebenso  im 
Elsass  bei  Erntefesten  gehalten3).  Sie  sind  sehr  alte  Volksbelustigungen, 
die  einen  tieferen  Grund  haben,  da  der  Hahn  als  Wettervogel  wie  als 
Symbol  der  Fruchtbarkeit  zur  Erute  in  Bezug  steht.  Fischart  im  Gargantua 
(Hallische  Ausgabe  von  Aisleben  73)  gedenkt  des  Hahnentanzes  und  zwar 
in  einem  Atem  mit  den  Wettläufen  um  die  Hosen  und  den  Barchat 
(Parchent).  Auch  in  dem  Fastnachtspiel  der  alt  hanentanz  (Kellers  Fast- 
nachtspiele Nr.  67)  4)  erscheint  dieser  Tanz  als  ein  ländliches  Wettspiel: 
von  welhem  baursman  das  pest  wird  getan  an  alls  gefehr.  es  sei  cliser  oder 
der,  dem  wirt  der  hau  gegeben  und  dem  lezten  ein  pruch5)  darneben. 
Auch  Geiler  von  Kaisersperg  gedenkt  in  den  Predigten  über  das  Xarren- 
schiff  des  Hahnentanzes  (Scheibles  Druck  465).  Wegen  der  eingerissenen 
Ausschweifungen  stellte  der  Augsburger  Rat  1512  die  Gesellen-,  Kranz- 
und  Hahnentänze  ab6). 

Ein  eigentümlicher  Wettlauf  wird  in  Altheim  bei  Horb  in  Schwaben 
acht  Tage  nach  der  Kirchweih  gehalten,  der  Hammeltanz7).  Paarweise 
treten  Burschen  und  Mädchen  zu  einem  kreisförmigen  Wettlauf  an  um 
einen  Pfahl,  woran  eine  Schlaguhr  hängt.  Das  Paar,  bei  dem  die  Uhr 
gerade  schlägt,  wenn  es  vorüberläuft,  bekommt  einen  Säbel  und  einen 
geschmückten  Hammel.  Ursprünglich  wird  es  ein  gewöhnlicher  Wettlauf 
gewesen  sein  mit  dem  Preise  des  Hammels.  Tanz  und  Schmaus  schliessen 
sich  ans). 


1)  Teinach  ist  ein  Badeort,  in  dem  für  die  Gäste  Esel  gehalten  werden. 

2)  Birlinger,  Aus  Schwaben  2,  213. 

3)  Birlinger,  Volkstümliches  aus  Schwaben  2,  286  ff.    Pfannenschmid ,   Germanische 
Erntefeste  293.  420. 

4)  Der  kurz  hanentanz  bei  Keller.  Fastnachtsp.  Nr.  89. 

5)  Die  pruch  (Lendenhose)  ist  ein  bekannter  Preis  beim  Wettlanf,   vergl.  weiterhin. 

6)  v.  Steffen,  Geschichte  der  Stadt  Augsburg  2,  161. 

7)  Über  die  Hammeltänze  am  Erntefest,  Pfannenschmid  292.  558. 

8)  Birlinger,  Volkstümliches  aus  Schwaben  2,  289. 


Der  Wettlauf  im  deutschen  Volksleben.  13 

Die  Wintersonnenwende  ist  in  dem  germanischen  Heidentum  eine 
hochheilige  Zeit  gewesen;  das  Gedeihen  der  neuen  Jahreshälfte  ward  den 
Göttern  durch  grosse  Opfer  empfohlen,  bei  denen  wir  feierliehe  Umzüge 
und  Spiele  aus  fortlebenden  Volksgebräuchen  erschliessen  dürfen.  Von 
den  Spielen  haben  sich  Wettrennen  erhalten,  die  auf  den  zweiten  Weih- 
nachtstag, der  dem  ersten  Märtyrer  Stephan  von  der  Kirche  gewidmet 
worden  war,  gelegt  wurden.  Sanct  Stephan  war  an  Stelle  eines  Heiden- 
gottes, wahrscheinlich  Wodans,  der  Patron  der  Rosse  geworden;  ihm  zu 
Ehren  wurden  und  werden  im  Norden  und  Süden  Deutschlands  Wettrennen 
von  den  Bauern  gehalten,  wofür  er  den  Pferden  Segen  und  Gedeihen 
sicherte. 

In  Bayern  sind  diese  Stephansritte  noch  jetzt  sehr  häufig1).  Die  meist 
sehr  alten  Stephanskapellen  werden  von  den  Bauern  der  Gegend  umritten, 
dann  die  Feldflur  umjagt  und  darauf  festliche  Umritte  durch  die  Dörfer 
gehalten.  Die  Pferde  glaubt  man  durch  diese  Ritte  für  das  nächste  Jahr 
gegen  alle  Schäden,  namentlich  gegen  die  Hexen  geschützt. 

Im  Herzogtum  Schleswig  fand  am  Stephanstage  zu  WalsbüH  auf  der 
Landstrasse  von  Flensburg  nach  Tondern  ein  grosses  Wettrennen  statt. 
Das  Ziel  war  ein  jetzt  verschwundenes  Wirtshaus.  Der  Sieger  gewann 
für  den  Renntag  eine  bevorzugte  Stellung,  gleich  den  Siegern  bei  den 
Frühlingswetten2). 

Auch  in  England  war  es  ein  alter  Brauch,  am  Stephanstage  die  Pferde 
in  raschem  Laufe  auszureiten,  bis  sie  in  Sehweiss  gerieten,  und  Gebete 
um  gesegnete  Weiden  zu  halten3). 


Wir  fragen  nun,  ob  sich  nicht  Wettläufe  ausser  den  Jahrzeitfesteu  bei 
Feierlichkeiten  aufweisen  lassen,  die  mit  religiösen  Gebräuchen  verbunden 
waren.  Da  kommt  zunächst  der  Brautlauf  in  Betracht,  das  Fest  der 
Heimführung  der  vermählten  Braut4). 

Die  Entscheidung  ist  hier  aber  nur  sehr  vorsichtig  zu  treffen,  da  in 
den  germanischen  Hochzeitbräuchen  manches  noch  auf  die  vorhistorische 
gewaltsame  Brautgewinnung,  die  Raubehe,  hinweist;  vielleicht  geht  selbst 
der  Name  Brautlauf  auf  die  rasche  Entführung  des  Weibes  zurück5). 


1)  Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte  1,  402  fg.  Schmeller,  Bayr.  Wörterb.  2»,  735. 
Höfler  in  unserer  Zeitschrift  1,  305.  Dahn  in  der  Bavaria  I.  2,  998  ff.  Ein  Zeugnis  für 
den  Stephansritt  aus  Schwaben  bei  E.  Meier,  Sagen  aus  Schwaben  466. 

2)  Mannhardt,  Wald-  und  Feltkulte  1,  403. 

3)  Aus  dem  Minor  von  Kuhn  zu  Westfäl.  Sagen,  Gebräuche  und  Märchen  2,  101 
angeführt. 

4)  Weinhold,  Deutsche  Frauen  im  Mittelalter  1,  362  fg.   (2.  A.). 

5)  M.  Müller,  Essays  (Deutsche  Ausgabe)  2,  234.  Dargun,  Mutterrecht  und  Raub- 
ehe. Breslau  1883.  S.  130.  H.  Brunner,  Deutsche  Rechtsyvschichte  1,  73.  Koni-.  Maurer 
in  unserer  Zeitschr.  1,  111. 


14  Weinhöld: 

Eine  Erinnerung  an  den  Brautraub  liegt  wohl  in  folgendem  altmärki- 
schem Gebrauch:  am  Schluss  des  ersten  Hochzeittages  begiebt  sich  die 
ganze  Hochzeitgesellschaft  auf  einen  zum  Laufen  geeigneten  Platz.  Die 
Braut  wird  von  zwei  jungen  Männern  geführt,  dann  giebt  ihr  der  Bräutigam 
einen  Vorsprung  und  der  Wettlauf  zwischen  ihm  und  der  Braut  beginnt. 
Am  Ziel  der  Bahn  wird  der  jungen  Frau  der  Kranz  von  jungen  Weibern 
abgenommen  und  dafür  die  Haube  aufgesetzt1). 

In  anderen  Gegenden  (Obersteiermark,  Schwaben,  Elsass)  entflieht  die 
Braut  aus  der  Kirche  oder  von  der  Tanzstube.  Der  Bräutigam  (in  Sieben- 
bürgen2) dessen  Vertreter  der  Brautknecht)  muss  sie  zu  fangen  oder  in 
ihrem  Versteck  zu  finden  suchen3). 

Anders  als  diese  Läufe  des  Brautpaars  sind  die  Wettläufe  der  Hochzeit- 
gäste zu  beurteilen.  Zwar  kenne  ich  keine  alten  Belege  für  sie,  aber  altes 
hat  sich  sicher  in  den  jüngeren  Gebräuchen  erhalten. 

In  der  Mark  Brandenburg  und  in  Kursachsen  war  noch  im  vorigen 
Jahrhundert  verbreitete  Sitte,  dass  die  jungen  Männer  am  zweiten  Hochzeit- 
tage von  einem  bestimmten  Punkte  bis  zum  Hause  der  Braut  einen  Wett- 
lauf hielten.  Der  Sieger  bekam  von  der  Braut  und  den  Brautjungfern  drei 
grosse  Brautstolleu  (Gebäck)  und  tanzte  darauf  barfüssig,  selbst  im  Winter, 
mit  ihnen  4). 

In  Oberbayern  wird  bei  dem  Zuge  der  Hochzeiter  aus  der  Kirche  der 
Braut-  oder  Schlüssellauf  gehalten.  Der  Hochzeitlader  steckt  Bahn  und 
Ziel  ab.  Die  flinksten  Burschen,  bis  auf  Hosen  und  Hemd  entkleidet, 
tanzen  vom  Kirchthor  ab  vor  dem  Brautpaar  her  und  beginnen  dann  bar- 
fuss  einen  Wettlauf.  Wer  das  weiteste  Ziel  zuerst  erreicht,  erhält  einen 
vergoldeten  Holzschlüssel,   der   ihm   an  den  Hut  gebunden  wird,   und  den 


1)  Kuhn,  Märkische  Sagen  S.  358.  —  Auch  in  der  Grafschaft  Rnppin  und  in  den 
angrenzenden  Teilen  der  Priegnitz  und  Mecklenburgs  hatte  sieh  das  Haschen  der  Braut 
durch  den  Bräutigam,  wobei  die  Hoehzeitgesellschaft  in  zwei  Parteien  geteilt,  mithalf,  mit 
dem  Brautkranzabtanzen  vermengt  (Mitteil,  vom  Oberlehrer  K.  E.  Haase).  Dieses  Haschen 
der  Braut  durch  den  Bräutigam  kann  sich  freilich  auch  auf  einen  andern  Grund  zurück- 
führen, der  mit  der  Werbung  um  die  Gunst  des  Mädchens  zusammenhängt.  Bei  den 
Kalmücken  nämlich  und  den  Völkern  des  mnlayischen  Archipels  findet,  nachdem  die  Eltern 
der  Braut  die  Einwilligung  gegeben,  ein  Wettlauf  zwischen  dem  Mädchen  und  dem 
Bräutigam  statt.  Es  soll  kein  Fall  vorkommen,  dass  sich  das  Mädchen  fangen  Hesse,  wenn 
sie  Abneigung  gegen  den  Bewerber  hat.  Ploss-Bartels,  Das  Weib  in  der  Natur-  und  Völker- 
kunde 1,  50  (3.  Aufl.). 

2)  Mätz,  Die  siebenbürgisch-sächsische  Bauernhochzeit.   Kronstadt  1860.    S.  66. 

3)  Weinhold,  Deutsche  Frauen  1,  384.  Dargun,  Mutterrecht  131.  Reinsberg- 
Düringsfeld,  Hochzeitbuch  146.  252.  —  Verschieden  hiervon  ist  das  Stehlen  der  Braut 
durch  Freunde  des  Bräutigams:  Bavaria  I.  402.  III.  334.  Schönwerth,  Aus  der  Oberpfalz 
1.  106  f.  Vierthaler,  Wanderungen  durch  Salzburg,  Berchtesgaden  und  Österreich  (Wien 
1816)  1,  165  (aus  dem  Lungau).  v.  Kürsinger,  Ober-Pinzgau  (Salzburg  1841)  169.  Birlinger, 
Volkstümliches  aus  Schwaben  2,  377.  393. 

4)  Kuhn,  Märkische  Sagen  S.  363. 


Der  Wettlaut'  im  deutschen  Volksleben.  15 

höchsten  ausgesetzten  Geldpreis.  Der  letzte  hat  die  Sau  and  wird  an 
Kücken  und  Hut  mit  Sauschwänzchen  besteckt. 

In  manchen  liegenden  laufen,  je  nach  dem  Stande  des  Brautpaars,  die 
Jäger,  die  Sennen,  die  Holzkuechte,  die  Köhler;  auch  die  Sennerinnen 
und  andere  Mädchen  laufen.  Zuweilen  ist  die  Braut,  die  vor  dem  Gast- 
hause  stellt,  worin  das  Hochzeitmahl  gehalten  wird,  das  Ziel  des  Laufs. 
Selbst  bei  silbernen  und  goldenen  Hochzeiten  fehlt  der  Wettlauf  nicht; 
nur  führen  ihn  dann  ältere  Männer  aus1). 

Im  Bistum  Eichstatt  bestund  noch  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
folgender  Brauch.  Am  zweiten  Hochzeitstage,  dem  Kraut-  und  Fleischtag, 
auch  Rocken-  oder  Brauttag  genannt,  ritten  oder  liefen  die  jungen  Burschen 
um  Henne  und  Hahn.  Sie  liefen  zuerst  vom  Hause  des  Bräutigams  nach 
dem  Hause  der  Braut,  und  der  Sieger  erhielt  eine  mit  Bändern  geputzte 
Hernie.  Dann  ging  es  im  vollen  Laufe  zum  Bräutigam  zurück,  wo  der 
zuerst  ankommende  einen  Hahn  oder  Goeker  als  Preis  empfing2). 

Verändert  lebte  dieser  Hahnen-  oder  Hennenritt  in  Schwaben  fort. 
Wenn  eine  Braut  aus  einem  andern  Orte  nach  Hohenstatt  auf  der  schwäbi- 
schen Alb  heiratet,  stellen  sich  während  der  Trauung  ledige  Burschen  zu 
Pferde  bei  dem  Bettelhaus  auf  und  reiten,  sobald  das  Brautpaar  aus  der 
Kirche  tritt,  in  vollem  Lauf  auf  dasselbe  zu.  Der  erste  erhält  ein  Geschenk 
vom  Bräutigam;  ursprünglich  muss  eine  Henne  oder  ein  Hahn  der  Preis 
gewesen  sein,  wie  der  Name  „um  die  Henu  reiten"  andeutet3). 

In  Wolfschlugen,  Oberamt  Nürtingen,  ward  es  beim  Einheiraten  einer 
Fremden  so  gehalten,  dass  an  der  Hochzeit  ledige  Burschen  nach  einer 
an  einen  Pfahl  gebundenen  Henne  um  die  Wette  reiten.  Der  erste  am 
Ziel,  dem  es  gelingt,  abspringend  vom  Pferde  die  Henne  zu  fassen,  erhält 
sie  und  ausserdem  vom  Brautpaare  Wein  und  Geld4). 

In  der  südlichen  Oberpfalz  folgt  auf  das  Hochzeitamt  in  der  Kirche 
das  Backofenschüssel-Laufen6).  Gleich  vor  der  Kirchthür  ziehen  alle  lauf- 
fähigen männlichen  Gäste  Strümpfe,  Schuhe  und  Röcke  aus.  Der  Braut- 
führer entfernt  sich  einige  Hundert  Schritt  von  ihnen  und  giebt  das  Zeichen 
zum  Lauf  durch  Aufwerfen  seines  Hutes,  den  er  auf  seinen  Stock  steckt. 
Wer  sich  dieses  Hutes  zuerst  bemächtigt,  erhält  den  vom  Hochzeiter  ge- 
setzten Preis  und  ist  ausserdem  von  der  Zeche  beim  Hochzeitmahl  frei6). 


1)  Bavaria  I.  1,  398  f. 

2)  Nach  dem  Journal  von  und  für  Teutschland  v.  J.  1791.  III.  S.  473  bei  Reynitzsch 
über  Truhten  und  Truhtensteine  (Gotha  1802).  S.  351  f. 

3)  Birlinger,  Volkstümliches  aus  Schwaben  2,  386. 

4)  E.  Meier,  Sagen  aus  Schwaben  483. 

5)  Der  Grund  der  Benennung-  nach  der  Backofenschüssel  ist  nicht  mehr  erkennbar. 

6)  Schonwerth,  Aus  der  Oberpfalz,  Sitten  und  Sagen  1,  93.  Der  Siegende  soll  aber 
eiu  unbescholtener  Mann  sein,  weil  seine  Untugenden  auf  das  erste  Kind  des  Paares  über- 
gehen. 


16  Weinhold: 

In  Österreichisch- Schlesien  lässt  die  erste  Brautjungfer  am  zweiten 
Hoehzeittage  einen  grossen  Kuchen  backen,  den  Grenzkuchen.  Die  ledigen 
Burschen,  zuweilen  auch  verheiratete  Männer,  versammeln  sich  und  die 
Brautfrau  mit  der  Brautjungfer  stecken  die  Rennbahn  ab.  Dann  stellen 
sich  diese  zwei  in  die  Mitte  der  Bahn  und  halten  ein  weisses  Tuch  in  die 
Höhe.  Die  Laufenden  suchen  im  Vorbeirennen  nach  dem  Ziel  den  beiden 
das  Tuch  zu  entreissen.  Wem  es  gelingt,  erhält  das  Tuch  und  den  Kuchen 
als  Preis.     Der  Kuchen  wird  gemeinsam  verzehrt1). 

Diese  Wettläufe  gehören  zu  den  ältesten  Teilen  der  Hochzeitfeier. 
Sie  gehören  in  den  festlichen  Zug,  in  dem  die  Braut  von  ihren  Freunden 
und  Gespielen  in  das  Haus  des  Bräutigams  geführt  ward.  Gesänge  wurden 
von  der  Menge  dabei  angestimmt a)  und  die  rüstigsten  im  Zuge  begannen 
das  Spiel  des  Wettlaufes. 

Die  Barfüssigkeit  der  Läufer  selbst  im  Winter  muss  einen  rituellen 
Grund  haben  und  nicht  bloss  der  Leichtfüssigkeit  halber  gefordert  sein3). 
Dem  Hochzeitfeste  hat  auch  in  unserer  heidnischen  Zeit  nicht  das  religiöse 
Element  gefehlt;  man  erbat  und  wünschte  den  Segen  der  Götter  für  die 
junge  Ehe  und  brachte  ihnen  daher  Spiele  und  wohl  auch  Opfer  dar*). 


Wir  begegnen  dem  Wettlauf  aber  nicht  bloss  bei  häuslichen,  sondern 
auch  bei  Staats-  und  Gemeindefesten. 

Bei  der  jährlichen  Huldigung  der  Entlebucher  an  Lnzern,  die  bis 
zur  französischen  grossen  Revolution  am  Ostermontag  auf  der  Wiese  zu 
Schupfen  stattfand,  schloss  sich  an  die  Heerschau  über  die  bewaffnete 
Mannschaft  regelmässig  ein  Wettlauf  der  Mädchen  an.  Die  beste  Läuferin 
erhielt  vom  Landvogt  eiuen  Rock  in  den  Landesfarben6). 

Nach  uralter,  aus  dem  Altertum  schon  (Sallust.  bell,  jugurth.  Kap.  79. 
Valer.  Max.  V.  6)  berichteter  und  weitverbreiteter  Sage6)  diente  der  Wett- 
lauf zur  Entscheidung  von  Grenzstreitigkeiten7).  Von  jeder  Partei  wird 
ein  Mann  gestellt:  wo  die  zwei  zusammentreffen,  soll  die  Grenze  sein. 
Diese  Sage  ist  in  der  Schweiz  auf  einen  Streit  zwischen  Uri  und  Glarus 
übertragen,    ferner  zwischen  Graubünden  und  Lichtenstein8).     Auch  wird 


1)  A.  Peter,  Volkstümliches  aus  Österreichisch-Schlesien  2,  225. 

2)  Müllenhoff,  De  antiquissima  Germanorum  poesi  chorica  S.  23  f. 

3)  Wir  fanden  sie  auch  bei  dem  Schäferlauf  in  Markgröningen  in  Schwaben,  und 
dürfen  herbeiziehen,  dass  in  Oberschwaben  am  Funkensonntag  (dem  ersten  Fastensonntag) 
alle  Mädchen  in  Strümpfen  (Vertretung  der  Barfüssigkeit)  tanzen  mussten.  (Birlinger, 
Aus  Schwaben  2,  64). 

4)  Weinbold,  Deutsche  Frauen  im  Mittelalter  1,  374  fg.    Altnordisches  Leben  247. 

5)  Stalder,  Fragmente  über  Entlebuch  2,  375  ff. 

6)  Nach  Mitteilung  vom  Geh.  Rat  Bastian  findet  sie  sich  selbst  in  Samoa. 

7)  J.  Grimm,  Grenzaltertümcr,  Kleine  Schriften  2,  68  fg. 

8)  Grimm,  Deutsche  Sagen  Nr.  288.  Lütolf,  Sagen,  Bräuche  und  Legenden  aus  den 
fünf  Orten  392.  577. 


Der  Wettlauf  im  deutschen  Volksleben.  17 

sie  über  einen  Zwist  zwischen  den  Gemeinden  Wollerau  und  Ägeri 
erzählt. 

Hier  ist  der  Grenzlauf  das  Mittel  zur  Erreichung  eines  wichtigen 
Zwecks.  Als  schmückendes  Spiel  ist  der  Wettlauf  aber  bei  dem  Grenz- 
begang  verwandt  worden,  der  in  wiederkehrenden  Fristen  von  den  deutschen 
Gemeinden  zur  Sicherung  ihrer  Marken  gehalten  worden  ist  und  religiöser 
Handlungen  nicht  entbehrt  hat. 

Jakob  Grimm  hatte  bereits  Wettläufe  dabei  vermutet,  aber  keinen 
Beweis  beibringen  können1).  Nun  ist  derselbe,  noch  dazu  aus  neuester 
Zeit,  in  Dittenheim  bei  Heidenheim  a.  H.  gefunden,  wo  am  Schluss  des 
feierlichen  Grenzbeganges  ein  Wettrennen  der  berittenen  Männer  und  ein 
Wettlauf'  der  Mädchen  gehalten  wird2). 


Die  Wettläufe  konnten  durch  die  verschiedenen  Bedingungen  des 
Laufens  mancherlei  sein.  Schmeller  sagt  in  seinem  Bayerischen  Wörter- 
buche 1,  1448  (2.  Aufl.):  „Man  hat  verschiedene  Arten  solcher  Wettspiele. 
—  Beim  Blindlaufen  sind  den  Läufern  die  Augen  verbunden.  Nachdem 
sich  jeder  auf  ein  Zeichen  dreimal  umgedreht,  geht  es  auf  das  Ziel  los, 
welches  natürlich  von  nicht  wenigen  verfehlt  wird.  Beim  Sacklaufen 
stecken  sie  bis  an  den  Kopf  in  Getreidesäcken;  beim  Hosenlaufen  stecken 
immer  zwei,  jeder  mit  einem  Bein,  in  einem  Paar  Hosen:  beim  Eier-. 
Kochlöffel-  oder  Tellerlaufen  haben  die  Läufer  auf  einem  Teller, 
einem  Kochlöffel  oder  dergl.  ein  Ei  oder  etwas  ähnliches  an  das  Ziel  zu 
bringen.  Beim  Tabaklaufen  müssen  sie  mit  brennender  Pfeife  anlangen. 
Bei  dem  unter  Mädchen  gepflegten  Wasserlaufen  kommt  es  darauf  an. 
mit  einem  Kübel  voll  Wasser  auf  dem  Kopfe  glücklich  ans  Ziel  zu 
kommen."  Wir  finden  letzteres  in  Bayern  wie  in  Schwaben,  so  bei  dem 
Schäferlauf  in  Wildberg,  wo  die  Mägde  mit  gefüllten  Kübeln  wettliefen. 
Gleiches  hat  E.  Lovarini  in  unserer  Zeitschrift  n,  57  aus  Viterbo  und 
Assisi  im  Umbrischen  berichtet. 

Das  Eierlaufen  (Eierleseu,  Eierklauben)  finden  wir  anders,  als 
Schmeller  es  beschreibt,  in  der  Schweiz,  in  Schwaben,  in  Bayern,  auf  der 
Eifel,  im  Waldeckschen,  in  Schlesien")  als  Wettspiel  zwischen  einem  Eier- 
leser und  einem  Läufer.  Eine  gewisse  Zahl  Eier  werden  von  dem  Läufer 
in    bestimmtem  Abstände    von   einander  in  gerader  Reihe  auf  den  Boden 


1)  Grenzaltertümer:  Kleine  Schriften  2,  64. 

2)  Aus  der  Kölnischen  Zeitung  vorn  25.  September  1872  bei  Pfannenschmid,  Ernte- 
feste 348. 

3)  Tobler,  Appenzeller  Sprachschatz  165.  Seiler,  Die  Basler  Mundart  6.  Birlinger, 
Volkstümliches  aus  Schwaben  2,  185-190.  Schmeller,  Bayer.  Worterb.  I2,  1321.  Schmitz, 
Sitten  und  Sagen  des  Eiller  Volkes  1,  29.  Curtze,  Geschichte  und  Beschreibung  des 
Fürstent.  Waldeck  404.     Gomolke,  Breslauer  Denkwürdigkeiten  3,  184. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.     1893.  2 


]#  Weinhold: 

seiest.  Dann  muss  der  Leser  die  einzelnen  aufheben  und  in  einem  Siebe 
sammeln,  während  der  Läufer  inzwischen  einen  bestimmten  Weg  zu  einem 
Ziele  (von  dem  er  ein  Zeichen  mitzubringen  hat)  und  wieder  zurück  machen 
muss.  Wer  zuerst  fertig  wird,  hat  den  ausgesetzten  Preis  gewonnen. 
Fischart  erwähnt  den  Eierlauf  im  Gargantua  (er  lieff  der  eyer  S.  281  der 
Ausgabe  von  Alsleben).  Das  Spiel  lebt  noch,  namentlich  in  der  Schweiz 
(Appenzell,  Aargau.  Basel,  Bern).  In  Schlesien  war  das  Eierlesen  eine 
Belustigung  der  Zunftgenossen  am  Ostermontag  und  besonders  bei  den 
Breslauer  Tuchmachern  beliebt. 

Das  Sacklaufen  oder  Sackhüpfen  ist  eine  in  vielen  ober-  und  mittel- 
deutschen Landen  beliebte  Belustigung.  In  Schlesien  z.  B.  veranstalteten 
es  noch  in  neuer  Zeit  Gastwirte  auf  den  Dörfern  zur  Unterhaltung  städtischer 
Gäste  au  Sonntag  -  Nachmittagen.  Ebenso  das  Schürzenreunen  oder 
Schürzenlaufen,  wobei  barfüssige  kurzgeschürzte  Mägde  über  einen  Brach- 
acker oder  ein  Stoppelfeld  um  Preise  liefen.  Bei  dem  Guirlanden- 
rennen,  das  in  Mittelschlesien  bis  zur  Gegenwart  beliebt  war,  ist  ein 
Laub-  und  Blumengewinde  der  Preis  der  siegenden  Magd. 

Ein  alter  Ausdruck  für  Wettlaufen  ist  gewesen  die  bnrre  loufen 
Wolframs  Wilh.  187.  15.  Altdeutsche  Blätter  2,  224.  Altswert  89,  27), 
der  haar  lauften  (Pischart,  Gargant.  281.  hallischer  Xeudr.).  harr  loufen 
(Pauli.  Schimpf  und  Ernst),  der  barr  spilen  (Fischart,  Gargant.  274.  hall. 
Xeudr.).  Parlouff'en  wird  noch  im  17.  Jahrhundert  für  Wettlaufen  (cursu 
certare),  barloufung  gleich  wettloufung  gebraucht1).  Es  bezeichnet  das 
Laufen  nach  der  Barre2)-  dem  verschränkenden  Balken,  der  die  Rennbahn 
am  Ziele  schloss.  Auch  ein  Drehkreuz  oder  ein  Pfahl  diente  dazu.  Von 
dem  Maibaum  haben  wir  früher  als  Ziel  des  Laufes  oder  Benneus  ge- 
sprochen. 

Auch  der  Ausgangspunkt  der  Läufer  ward  markiert:  oft  durch  ein 
quergespanntes  Seil,  eine  auf  den  Boden  gelegte  Stange,  im  Pinzgau  zu- 
weilen  durch  eine  Querlage  von  Stroh. 


In  den  Schilderungen  der  Laufspiele  haben  wir  häufig  von  der  Beteili- 
gung der  Mädchen  an  denselben  zu  sprechen  gehabt.  Uud  hier  kommen 
wir  nun  zu  den  Gleichungen  deutscher  Wettläufe  mit  jenen  italienischen, 
über  welche  Dr.  E.  Lovarini  seine  Forschungen,  besonders  aus  paduanischer 
Yorzeit.  bei  uns  mitgeteilt  hat  (Zeitschrift  II,  56  —  67).  Wie  sich  in 
italienischen  Städten  vom  12.  bis  ins  16.  Jahrhundert  Wettläufe  zu  Fuss 
und  zu  Ross  um  ein  Stück  Tuch  nachweisen  lassen,   das  bald  als  drappo 


1)  Grimm,  D.  WÖrterl.  1,  1140.    Sehmeiler,  Bayer.  AVörterb.  1,  401. 

2)  Du  Cange,  Glossar,  med.  et  infim.  latinit.  1,  586  (Niort.  1883)  barrse:   decursio 
palaestrica,  sie  dicra  quod  palsestra  barris  seu  repagulis  clanderetnr. 


Der  Wettlauf  im  deutschen  Volksleben.  19 

verde,  bald  als  panno  scarlatto  oder  als  palio  (palio  d'oro)1)  oder  sonstwie 
bezeichnet  wird,  so  finden  wir  auch  in  den  Akten  und  Chroniken  süd- 
und  mitteldeutscher  Städte  vom  14.  bis  in  das  17.  Jahrhundert  solche 
Wettläufe  um  den  Barchat  (Barchent)  oder  Scharlach  als  Belustigungen 
verzeichnet. 

Die  Laufenden  waren  Männer  und  Weiber,  ursprünglich  gewiss  wie* 
auf  den  Dörfern  ohne  Einschränkung  der  Personen,  wie  denn  an  den 
Pferderennen,  die  gleichzeitig  und  um  ähnliche  Preise  statthatten,  immer 
alle,  die  Lust  und  Geschick  dazu  hatten,  teilgenommen  haben.  Beweise 
dafür  giebt  ein  Bericht  über  das  Münchener  Laufen  von  1448,  wo  ganz 
allgemein  gute  gesellen  und  frawen  und  töchter  als  die  laufenden 
genauut  werden.  In  Nördlingen  liefen  1442  hübsche  frawen  und  gemeine 
weiber  in  Gemeinschaft  miteinander.  Dass  unter  den  hübschen  frawen 
ehrbare  Frauen  zu  verstehen  sind,  ergiebt  sich  aus  dem  Gegensatz  zu  den 
gemeinen  in  der  Angabe,  dass  ein  gemeines  weip,  d.  h.  die  Insassin  des 
öffentlichen  Hauses,  siegte.  Aber  im  übrigen  hören  wir  nur  von  den  Be- 
wohnerinnen des  Frauenhauses  als  Teilnehmerinneu  an  den  städtischen 
Wettrennen.  Die  Ausartungen,  die  sich  dabei  eingefunden  haben  mögen. 
mussten  den  ehrbaren  Mädchen  und  Frauen  die  Lust  an  der  alten  Sitte 
verleiden,  und  da  das  Volk  diese  Spiele  forderte,  war  die  Obrigkeit  ge- 
nötigt, die  öffentlichen  Dirnen  zu  dem  Barchent-  oder  Scharlachlaufen  zu 
stellen. 

J.  E.  Schlager  hat  im  ersten  Bande  seiner  Wiener  Skizzen  aus  dem 
Mittelalter  (Wien  1835)  über  das  Volksfest  der  laufenden  Pferde  in  Wien 
gehandelt,  woraus  erhellt,  dass  dabei  nicht  bloss  die  Rosse,  sondern  auch 
mannen  oder  knecht  und  frawen  gelaufen  sind.  Herzog  Albreeht  111.  von 
Österreich  hatte  im  Jahre  1382  bei  Bestätigung  der  Wiener  Freiheiten 
von  1296  bestimmt,  dass  man  an  jedem  der  beiden  Jahrmärkte  zu  einem 
scharlach  rennen  solle2).  Diese  Spiele  dauerten  bis  1534,  Kaiser  Ferdinand  I. 
verbot  sie  aus  sittenpolizeilichen  Gründen8).  Die  Zeiten  waren  der  Auffahrts- 
tag des  Heilands  im  Mai  und  der  Katharinentag  im  November.  Es  rannten 
4 — 10  Pferde,  die  mautfrei  waren,  ausser  deu  Männern  und  Weibern. 

Genaueres  ergiebt  eine  Eintragung  in  das  Copey-Buch  der  gemainen 
Stat  Wien4)  zum  Jahr  1454  über  das  Scharlachrufen,   d.  i.   die  öffentliche 


1)  nilat  cursus  palii  Du  Cange  II.  676  h  (Niort  1883).  Das  Stück  Tuch  ist  eine  echt 
mittelalterliche  Form  des  Preises,  die  mit  der  alten  Naturalwirtschaft  zusammenhängt, 
wonach  Stoffe  oder  daraus  gefertigte  Kleidungen  (ganz  oder  teilweise)  das  metallene  Wert- 
stück vertraten.  Vgl.  über  die  Verwendung  von  Kleidungsstücken  als  Preise  bei  Wett- 
kämpfen Rochholz  in  der  Zeitschi-,  f.  deutsche  Philologie  1,  459  ff.  Zu  dem  hier  nament- 
lich erwähnten  Hosenpreis  vgl.  Fischart,  Gargantua  (Hallisch.  Nendr.  73):  sprang  vmb  die 
Hosen,  jagt  vmb  den  Barchat. 

2)  Die  Wettläufe  werden  durch  Herzog  Albrecht  nicht  eingeführt  worden  sein;  er 
bestimmte  nur  die  beiden  Zeiten  der  Rennen. 

3)  Schlager,  Wiener  SkizzeD.    1846.  S.  365. 

4)  Herausgegeben  von  Zeibig.   Wien  1853    S.  13. 

2* 


20  Weinhold: 

Ankündigung  des  Eennens  um  das  Scharlachtuch.  Es  ward  ausgerufen, 
dass  am  Montag  nach  Christi  Himmelfahrt  die  Pferde  von  Schwechat  herein 
in  die  Stadt  laufen  sollten,  nachdem  sie  Tags  vorher  auf  das  Rathaus  zur 
Einschreibung  gestellt  und  vor  dem  Rennen  selbst  dort  bulliert  worden 
sind.  Das  erste  Pferd  am  Ziel  gewinnt  den  Scharlach,  das  ander  den 
sparber1),  und  welches  das  lest  darczu  ist,  das  hat  gewunnen 
die  saw.  nu  hoert  mer.  auch  werdent  die  freyen  knecht  zu 
einem  parhant  lauffen,  und  welcher  der  erst  darczu  ist,  der  hat 
den  parhant  gewunnen.  auch  werdent  die  freyen  töchterl  zu 
ainem  parhant  lauffen.  und  welche  die  erst  darczu  ist,  die  hat 
gewunnen  den  parhant. 

Die  freien  knechte  sind  die  Knechte  des  Freimanns  oder  Henkers. 
der  meist  die  Polizei  im  städtischen  Frauenhause  hatte.  Bis  1450  kam 
der  Pachtzins,  den  die  Wirtin  des  Frauenhauses  der  Stadt  Wien  zahlte. 
dem  Schergen  zugute.  In  dem  hintern  Frauenhause  hatte  derselbe  aber 
nichts  ze  pieten  noch  ze  schaffen2). 

Die  freien  töchterlein  sind  natürlich  die  Insassen  des  gemeinen  Frauen- 
hauses. 

Von  Wien  ward  dieses  Volksfest  nach  Miener  Neustadt  1469  über- 
tragen. Die  Pferde  rannten  zu  Maria  Himmelfahrt  (15.  August)  um  einen 
Scharlach  oder  einen  Rock  von  welhischem  Tuch,  zu  zweit  um  einen 
Sparber  und  zuletzt  um  eine  Specksau.  Die  freien  Knechte  und  die  freien 
Frauen  liefen  jeder  Teil  für  sich  um  einen  Parchent3).  Ursprünglich  hat 
die  Sau  wohl  nur  die  Bedeutung  des  Misserfolges  im  Rennen,  wie  das  bei 
den  Wettläufen  auf  den  Dörfern  sicher  ist.  wo  der  letzte  mit  Sauschwänzchen 
besteckt  ward  (vgl.  oben  S.  15)*).  Aber  für  das  symbolische  Zeichen  oder 
den  symbolischen  Namen  ist  auch  eine  wirkliche  Sau  als  letzter  oder  auch 
als  zweiter  Preis,  wie  in  Nördlingen,  gestellt  worden. 

In  München  fand  das  Rennen  wie  in  Wien  zum  Jahrmarkt  statt.  Hier 
scheinen  noch  wohlbeleumdete  Männer  imd  Frauen  die  Laufenden  gewesen 
zu  sein,  wenigstens  heisst  es  in  der  Ordnung  des  Eennens  im  Jahrmarkt 
von  1448:  ain  barchanttuech  gueten  gesellen  dem.  der  zum  ersten  über 
das  zil  kernt,  das  ander  barchanttuech  frawen  und  töchtern.  welche  zum 
ersten  über  das  zil  kernt. 


1)  Sperber  erscheinen  auch  in  Italien  als  Preise,  so  in  den  Statuten  von  Bologna 
aus  1259—62,  wo  der  scarlatus,  et  roncinus  (=  minor  equus)  et  sparvierus  als  Preise  ge- 
nannt sind.    Du  Cange  a.  a.  0.  II,  676 b. 

2)  Schlager,  Skizzen,  1846.  S.  375.  383. 

3)  Böhmers  Chronik  von  Wiener  Neustadt  1,  160. 

4)  Bei  dem  Kinderfest,  dem  Bechtle.  im  Saulgau  am  Dienstag  vor  Fastnacht  heissen 
die  nach  Fleiss  und  Betragen  letzten  Schüler  Sau  oder  Huitz:  Birlinger,  Volkstümliches 
aus  Schwaben  2,  278.  Der  den  letzten  Schlag  beim  Dreschen  tlmt .  erhalt  den  Namen 
Sau,  Mockel.  Saumockel,  ebenda  425  ff. 


Der  Wettlauf  im  deutschen  Volksleben.  21 

Im  Jahre  1557  bezahlte  der  herzogliche  Hof  die  Hälfte  (das  halbe) 
vom  rennscharlach  und  parchant  per  13  fl.  5  ß.1). 

In  Augsburg  zeigen  sich  wieder  die  freien  Fräulein  als  Läuferinnen, 
wenigstens  lässt  darauf  die  Jahrmarktordnung  von  1454  schliessen:  item 
die  freylein  umb  das  parchanttuech  zu  lauffen*). 

Iu  Nördlingen  sind  sie  an  einem  Montag  des  Jahres  1442  (und  gewiss 
ausserdem  oft)  mit  andern  Frauen  um  den  Parchent  gelaufen.  Der  weise 
Rat  hatte  der  Bürgerschaft  zur  Lust  ein  Wettrennen  auf  einer  grossen 
Wiese  vor  der  Stadt  angestellt,  wie  eine  Reimerei  jener  Zeit  erzählt3). 
Das  lustige  Volk  drängte  sich  durcheinander: 

in  weyt  sach  man  ein  hübsch  gedreng, 

darzwischen  ein  hübsche  leyten, 

dofur  ein  parchet  weyten. 

davon  macht  man  nicht  weytes  zil, 

do  sach  man  hubscher  frawen  vi] 

mit  peyden  grossen  und  kleinen, 

die  man  haysset  die  gemeynen, 

zu  dem  parchat  lauften  schon, 

des  lachet  mancher  werder  man. 

ein  gemeines  weyp  erliff  das  tuech. 

do  kom  mancher  pueb  in  seiner  pruech 

und  hett  ain  zrisseus  wammes  an, 

ir  was  ain  teyl  nit  wol  getan. 

do  zoch  man  aber  ain  parchat  dar, 

itlicher  nam  des  lauffens  war. 

der  wart  von  ainem  pueben  gwunnen4). 

Dann  beginnt  das  rennen  der  pferdlein  mit  den  knaben  vmb 
ain  scharlach,  eine  Sau  und  um  eine  Armbrust. 

Wie  beliebt  das  Parchentlaufen  in  Bayern  noch  um  die  Mitte  des 
17.  Jahrhunderts  gewesen,  bezeugen  Stellen  in  J.  Baldes  Agathyrsis  und  in 
einem  Hochzeitgedicht  seines  Zeitgenossen  Job..  Khuen5). 

Für  Breslau  liegen  Zeugnisse  dieser  Lustbarkeit  vom  Anfang  des  16. 
bis  zum  Ende  des  17.  Jahrhunderts  vor. 

In  Nik.  Pols  Jahrbüchern  der  Stadt  Breslau  (H,  204)  ist  vermerkt: 
1515  mitwoch  nach  Crucis  (Kreuzerhöhung)  liefen  die  freyen  weiber  wette 
umb  ein  weissen  parchen,  umb  1.  par  schlich  und  umb  eine  schaube. 


1)  Schneller,  Bayer.  Worterb.  1-,  269. 

2)  Schneller,  ebenda. 

3)  Dye  keierwisen,  aus  einer  Wolfenbütteler  Handschrift  gedruckt  bei  Keller,  Fast- 
nachtspiele des  15.  Jahrhunderts  III,  1352  ff. 

4)  Eine  Abbildung  des  Nördlinger  Rennens  um  den  Scharlach  bei  Seb.  Münster, 
Kosmographie.   Basel  1567.    S.  846. 

5)  Schneller  a.  a.  0.  1,  269.  Murer  in  seinen  Emblemata  (Zürich  1622)  stellt  auf 
dem  neunten  Bilde  drei  Knaben  dar,  die  von  einer  am  Boden  liegenden  Stange  aus  nach 
einem  entfernten  Drehbalken  rennen,  von  dem  ein  Tuch  als  Preis  hängt,  Rochholz  in  der 
Zeitschr.  f.  deutsche  Piniol.  I,  464. 


22  Weinhold: 

1686  fand  bei  dem  Schiessfest  im  Schiesswerder  zu  Breslau  ein  Pelz- 
laufen statt,  das  auf  einer  Scheibe  jenes  Jahres  abgebildet  ward.  Neun 
oder  zehn  freie  'Weiber  rannten  von  einer  Schranke  aus  nach  einer  Stange, 
woran  ober  auf  einem  Kreuz  ein  Frauenpelz  hing,  darüber  ein  Hut;  rechts 
am  Querholz  Schuhe  und  Strümpfe,  links  ein  Stosseisen  (Reibeisen)  und 
ein  Brummeisen. 

Der  Pritschenmeister  mischte  sich  unter  die  laufenden  Weiber  und 
hielt  sie  durch  seine  Spässe  auf.  Die  erste  am  Ziel  gewann  den  Pelz;  die 
nächsten  erhielten  die  andern  Sachen,  die  letzte  das  Brummeisen.  Am 
Schluss  wurden  die  Frauen  beim  Stückhauptmann  gespeist1). 


Die  Wettläufe  der  Weiber  der  städtischen  Frauenhäuser  haben  sich 
im  engsten  Zusammenhange  mit  alten  Volksgebräuchen  und  als  ein  Seiten- 
zweig  derselben  gezeigt,  der  sich  durch  das  städtische  Leben  gebildet  hat. 
Wir  werden  sie  daher  nicht  auf  italienischen  Einfluss  zurückführen  und 
nicht  für  etwas  Fremdes  erklären  dürfen. 

Wettläufe  der  Mädchen  haben  sich  auf  dem  Lande  bis  in  unsere  Tage 
neben  denen  der  Männer  bei  den  Frühlingsfesten  der  Hirten,  dem  Ernte- 
fest der  Ackerleute,  bei  dem  Grenzbegang  erhalten,  und  sind  auch  ausser 
diesen  Zeiten  als  Volksbelustigung  geblieben.  An  den  Hochzeiten  scheinen 
nur  Männer  die  Laufenden  gewesen  zu  sein.  Es  sind  Teile  eines  uralten 
Ganzen  von  religiöser  Grundlage,  das  sich  noch  aus  den  Trümmern  auf- 
bauen lässt,  wie  vor  allem  der  Pfingstbrauch  aus  den  schlesischen  Dörfern 
Lüssen  und  Järischau  (S.  6.  7)  und  die  oberdeutschen  Wasservogelspiele 
erwiesen  haben. 

Albrecht  Weber  hat  jüngst  in  der  Sitzung  der  Berliner  Akademie  der 
Wissenschaften  vom  28.  Juli  1892  über  das  indische  Väjapeya- Opfer  ge- 
handelt (Sitzungsberichte  1892  Nr.  XXNIX).  Dasselbe  geschah  bei  einem 
alten  Wettrennen,  das  im  Herbst  gefeiert  ward,  in  der  frischen  Jahreszeit, 
die  auf  die  Regenzeit  folgt  und  sich  uuserm  Lenz  vergleichen  lässt.  Es 
war  ein  Wettfahren  von  siebzehn  Wagen,  währenddessen  ein  Priester  einen 
Gesang  anstimmte  und  Pauken  geschlagen  wurden.  Der  Sieger  ward  durch 
Sprüche  zum  Herrn  des  folgenden  Jahres  geweiht.  Darauf  bestieg  er  einen 
Pfahl  und  das  daraufgesetzte  Rad  und  Hess  seine  Gattin  mit  hinaufsteigen. 
Heruntergestiegen  liess  er  sich  auf  einem  Sessel  nieder,  ward  als  Herr  ge- 
salbt und  ihm  Gedeihen  des  Ackerbaues  und  des  Hauswesens,  sowie  über- 
haupt Segen  für  das  nächste  Jahr  zugesichert. 

Mir  fällt  nicht  ein.  einen  unmittelbaren  Zusammenhang  zwischen  dem 
väjapeya  und  dem  alten  deutschen  Pfingstgebrauch  (S.  6)  zu  behaupten. 
Aber    wir    können    beide    sich    gegenseitig    beleuchten    lassen ,    denn    die 


1)    Gomolke,  Denkwürdigkeiten  III,  183  (Schroller,  Schlesien  3,  310). 


Der  Wettlauf  im  deutschen  Volksleben.  23 

Gruudzüge  stimmen  zu  einander.  Durch  den  deutsehen  Volksgebrauch  er- 
giebt  sich  schlagend,  dass  A.  Weber  den  väjapeya  richtig  für  eine  sehr 
alte  volkstümliche  Siegesfeier  eines  Wettkampfes  erklärte  (S.  11  oder  771). 
Aus  dem  indischen  Ritual  erhellt  die  religiöse  Grundlage  aufs  stärkste, 
die  ich  für  unsere  Frühlingsbräuche  mit  dem  Wettlauf  behauptet  habe. 

Das  Ersteigen  des  Maibaums  durch  den  Sieger  im  Wettrennen  (S.  7) 
vergleicht  sich  durchaus  dem  Ersteigen  des  Pfostens  mit  dem  Rade  durch 
den  indischen  Sieger,  das  nach  dem  catapatha-brähmana  den  Aufstieg  in 
den  Himmel  bedeutete. 

In  dem  deutschen  Brauche  wird  der  Sieger  von  seinen  Mitbewerbern 
auf  die  Schultern  gehoben;  das  ist  die  alte  germanische  Art  der  Erhebung 
zum  Herzog  oder  König.  Das  indische  Ritual  hat  dafür  das  Segnen  und 
Salben. 

In  dem  deutschen  Brauche  bringt  der  Sieger  seiner  Geliebten  Gaben 
von  dem  erstiegenen  Maibaum  oder  läset  sie  an  seinen  Ehren  teilnehmen: 
im  indischen  Ritual  fordert  er  sie  auf,  mit  hinaufzusteigen. 

Aus  der  indischen  Quelle  ergiebt  sich,  dass  der  Sieger  die  erworbene 
Würde  für  das  ganze  Jahr  behält.  Dass  auch  nach  deutscher  Sitte  das 
Gleiche  gegolten  hat,  lässt  sich  aus  der  Königswürde  bei  den  Wettschiessen 
folgern,  die  bei  den  städtischen  Pfingstschiessen  noch  heute  für  ein  ganzes 
Jahr  erworben  wird. 

Wenn  die  Inder  diese  Jahreswürde  mit  Zusicherung  besonderen  Segens 
in  Haus  und  Feld  ausstatteten,  so  erinnern  wir  uns,  dass  der  Sieger  in 
deutschen  Pfingstbräuchen  in  den  reichen  Genuss  des  segenvolleu  Maitaus 
kam,  der  auch  auf  ein  Jahr  wirksam  war. 

So  wird  denn  auch  hier  wieder  deutlich,  welch  grossen  Gewinn  unsere 
Volkssitten  der  Forschung  über  unsere  Altertümer  zu  bieten  vermögen. 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen 

Kaiserzeit. 

Von  Heinrich  Lewy. 


Dass  auf  die  Ausbildung  des  Aberglaubens  in  der  römischen  Kaiserzeit 
das  Morgenland  bedeutenden  Einfluss  geübt  hat,  ist  bekannt.  Beachtung 
verdient  daher,  und  zwar  insbesondere  von  seiten  der  klassischen  Philo- 
logie, ein  Verzeichnis  abergläubischer  Bräuche,  welches  auf  dem  Boden 
Vorderasiens  im  3.  Jahrhundert  n.  Chr.  abgefasst  und  bisher  weder  behandelt 


24  Lewy: 

noch  auch  nur  übersetzt1)  worden  ist.  Dasselbe  findet  sich  in  der  zu  dorn 
talmudischen  Schriftenkreise  gehörigen  Tosefta  (Traktat  Sabbat  VE  und 
VIII).  Die  dort  aufgezählten  Bräuche  werden  unter  der  Bezeichnung 
„emoritische"  (nach  dem  aus  der  Bibel  bekannten  kanaanitischen  Volks- 
stamm der  Emoriter,  dessen  Name  verallgemeinert  erscheint)1*),  d.  h. 
fremde,  den  heidnischen  Völkern  mit  griechisch-römisch- orientalischer 
Mischkultur  eigene,  zusammengefasst  und  vom  Standpunkt  des  Judentums 
aus  verpönt.  Um  Gebräuche  bei  heidnischen  Gottesdiensten  handelt  es 
sich  dabei  nicht:  deren  Einzelaufzählung  wäre  überflüssig.  Einiges,  und 
so  gerade  das  erste,  gehört  nicht  einmal  in  das  Gebiet  des  Aberglaubens. 
Ich  gebe  die  Übersetzung  paragraphenweise,  indem  ich  jedem  Para- 
graphen meine  Bemerkungen  folgen  lasse:  leider  fallen  dieselben  oft  nur 
dürftig  aus. 

Tosefta  Sabbat  Kap.  VII. 

§  1.  Folgendes  gehört  zu  den  emoritischen  Gebräuchen,  Wenn 
sich  jemand  das  Haupthaar  wegschert  oder  sich  einen  Schopf  stehen 
la'sst  oder  sich  den  Vorderkopf  bis  zum  Scheitel  kahl  macht.  Wenn 
eine  ihren  Sohn  zwischen  die  Toten  schleppt.  Wenn  jemand  einen 
Lappen  um  seine  Hüfte  oder  einen  roten  Faden  um  seinen  Finger 
knüpft.  Wenn  jemand  Erdschollen  (Steine)  zählt  und  ins  Meer 
oder  in  den  Strom  wirft:  das  gehört  zu  den  emoritischen  Ge- 
bräuchen. 

Für  Haupthaar  steht  ein  Lehnwort  =  xö/.it]z).  Gerade  im  Anfang  des 
3.  Jahrhunderts  begann  bei  den  Kaisern  selbst  das  ganz  kurz  geschorene 
Haar  (r)  xovqo)  r\  sv  xqw),  welches  sonst  die  Athleten  und  die  Stoiker  zu 
tragen  pflegten,  Mode  zu  werden  (vgl.  Marquardt,  Privatleben  der  Römer 
II,  583  f.).  Das  Abscheren  der  Haare  spielte  auch  im  Kultus  der  syrischen 
Göttin  eine  Rolle  nach  Lucian  de  dea  Syr.  55:  ävrjQ  evv  av  ig  %r\v  iyijv 
7i6i.iv  nQiäzov  amxvifjrai,  xetpak^v  /.liv  oös  xai  oqiQvag  iSvQazo.  Ähnlich 
berichtet  Macrobius  Sat.  I,  23 :  „ Yehitur  enim  simulacrum  dei  Heliopolitani 
ferculo,  uti  vehuntur  in  pompa  ludorum  Circensium  deorum  simulacra:  et 
subeunt  plerumque  provinciae  proceres  raso  capite  longi  temporis  casti- 
mouia  puri".  Auch  die  ägyptischen  Priester  rasierten  sich:  Stellen  bei 
Wiedemann,  Herodots  zweites  Buch  S.  154.    Bei  den  Römern  schoren  sich 


1)  Lange  nach  Einsendung  meiner  Arbeit  erschien  das  erste.  Stück  dieses  Verzeich- 
nisses (Kap.  VII  §§  1 — 8),  übersetzt  von  J.  Fürst,  in:  Winter  und  Wünsche,  die  jüd.  Litt., 
seit  Abschluss  des  Kanons,  S.  151. 

2)  Öfters  in  der  Bibel,  aber  auch  in  ägyptischen  Inschriften  (Ed.  Meyer,  Gesch.  d. 
Altert.  I,  214.  218)  wird  **1J3S  als  Gesamtname  der  Kanaaniter  gebraucht. 

3)  Fürst  übersetzt:   das  Abscheren  des  Haares  am  Vorderhaupt  von  Ohr  zu  Ohr. 


Morgenländiscber  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  25 

die  aus  einem  Schiffbruch  Geretteten  das  Haar  ab,  um  ihr  überstandenes 
Unglück  zu  zeigen,  vgl.  Juvenal  XU,  81  fg.: 

„gaudent  ubi  vertice  raso 
garrula  securi  narrare  pericula  uautae." 

Klemens  von  Alexandria,  der  im  Anfang  des  3.  Jahrhunderts  starb,  schreibt 
(Paed.  UJ,  11  p.  290)  auch  als  christliche  Tracht  das  kurzgeschorene  Haar 
((///A^   xscpa).ij)  vor. 

Das  für  „Schopf"  gebrauchte  Wort  kann  nach  der  sonst  vorkommenden 
Lautvertretung  griechischem  (pakaQtg  entsprechen,  welches  Wort  aber  in 
dieser,  an  sich  sehr  wohl  möglichen,  Bedeutung  nicht  nachweisbar  scheint. 
Gemeint  ist  jedenfalls  eine  Haartracht  nach  Art  des  oxdcpiov,  wobei  Hin- 
ein Haarbüschel  (oxoklvq)  hinten  oder  an  der  Seite  stehen  blieb,  vgl. 
Wieseler,  N.  Jahrb.  1855  S.  357  ff.1). 

Statt  pJTÜ^  (Variante  piTüf?)  lese  ich  p1Tj6  (vgl.  J.  Levy,  Chald. 
Wörterb.  üb.  d.  Targ.  I,  126)  und  fasse  dieses  pTTJ  „hohe  Stellen"  im 
Sinne  von  1p"ipT  „Scheitel",  das  ja  auch  „Höhe"  bedeutet.  Für  die 
fll"DJ  genannte  Kahlheit  nämlich,  um  die  es  sich  hier  handelt,  bildet  der 
Scheitel  die  Grenze  nach  hinten,  vgl.  Mischua  Xga'im  X.  10:  flPlip  ist 
die  Kahlheit  vom  Tp'lp  nach  hinten,  flPtSJ  die  Kahlheit  vom  "TpTp  nach 
vorn.  Dass  es  sich  an  unserer  Stelle  um  eine  griechisch-römische  Mode- 
frisur handelt,  beweist  babyl.  Baba  qamma  83a:  „Wer  sich  das  Haar  vorn 
völlig  schert,  folgt  emoritischer  Sitte;  nur  Ptolemäus  bar  Rüben  erhielt 
die  Erlaubnis  so  zu  thun,  weil  er  mit  der  Regierung  verkehrte2)".  — 
Dazu  vgl.  W.  Heibig,  Das  homer.  Ep. 2  240:  „Wenn  die  euböischen 
Abanten  nmüev  xn^incovreg  heissen,  so  dürfen  wir  mit  den  antiken  Ge- 
lehrten annehmen,  dass  es  bei  ihnen  Sitte  war,  das  Haar  vorn  zu  scheren, 
am  Hinterkopfe  dagegen  lang  wachsen  zu  lassen.  Die  Ansichten  über  den 
Ursprung  dieser  Sitte  lauten  verschieden.  Die  einen  behaupten,  die  Abanten 
hätten  sie  von  den  Arabern,  d.  i.  von  den  mit  Kadmos  nach  Euböa  ge- 
kommenen Phönikiern  (Strabon  X,  447,  8)  oder  den  Mysern  angenommen." 

Wenn  die  Mutter  das  Kind  zwischen  die  Toten  (auf  dem  Begräbnis- 
platze) schleppt,  so  soll  dies  wohl  irgendwelche  Schutz-  oder  Heilwirkung 
haben.  Beispiele  für  den  Glauben,  dass  durch  die  Berührung  mit  Leichen 
Krankheiten  abnehmen,  giebt  Wuttke,  Der  deutsche  Volksaberglaube3 
S.  314.  Auch  in  Norwegen  wird  der  Kranke  zuweilen  mit  der  Hand  einer 
Leiche  oder  mit  den  Leichentüchern  gestrichen;  bei  einer  plötzlichen 
Lähmung  oder  Schmerz,  was  man  oft  „Totengriff"  nennt,  lässt  man  sich 
mit  einem  Toteuknochen  streichen:  Liebrecht,  Zur  Volkskunde  312  fg. 
Damit  zu  vergleichen  ist,  was  im  Traktat  Semahot  VIII  gelehrt  wird:  „Man 

1)  Fürst  übersetzt:   das  kreiseiförmige  Herablassen  der  Haarflechten. 

2)  Fürst  übersetzt:  das  Kahlscheren  des  Haares  dem  Schicksalsgötzen.  Er  denkt 
offenbar  an  das  babyl.  Sabbat  67  b  vorkommende  ^  "|J:  siehe  weiter  unten. 


2fi  Le-wy: 

gellt  auf  den  Begräbnisplatz  und  untersucht  die  beigesetzten  Leichen  drei 
Tage  lang  (auf  Scheintod)  ohne  Rücksicht  auf  den  Verdacht  emoritischer 
Gebräuche." 

Der  um  die  Hüfte  gebundene  Lappen  ist,  entsprechend  dem  roten 
Faden,  als  rot  zu  denken.  Er  dient  als  Amulet,  vgl.  Dioskorides  III,  95: 
TTtQiacp&iv  ös  (poivtxw  (idxei  ^gsfifiätcov  vnanvg  anelavvEi  (sc.  akvoanv). 
Insbesondere  trugen  die  Eingeweihten  von  Samothrake  eine  purpurne  Binde 
um  den  Leib,  vgl.  Schob  Apoll.  Rhod.  I,  917:  tzcqi  yäy  ti)v  xniliav  ot 
/.is/niirj/iitvot  caiviag  cmxovoi  noQqivyäg. 

Joannes  Chrys.  in  ep.  I  ad  Cor.  XII.  7  (tom.  X  p.  125  Par.)  erwähnt 
unter  den  Anmieten  der  Kinder  auch  ihv  xixxivov  az^/iova.  Vgl.  Dioskorides 
IT,  43:  'njcoQnvai  äs  ziveg  xal  ^ayaif-inv  avi))v  (sc.  (foivixa)  elvcti  evöeofiov- 
nevrtv  cpoivixqj  SQitp  xai  usQianTOfiivTjv.  So  auch  noch  heute  allgemein: 
vgl.  Wuttke,  Der  deutsche  Volk  sab  ergl. 2  S.  359. 

Bei  dieser  Gelegenheit  gebe  ich  einen  kleinen  Nachtrag  zu  Otto 
Jahns  Aufsatz  über  den  Aberglauben  des  bösen  Blicks  bei  den  Alten 
(Verhandl.  d.  sächs.  Ges.  d.  Wiss.  phil.-hist.  Kl.  1855).  Daselbst  wird  S.  80 
als  Mittel  gegen  bösen  Blick  und  Besprechen  die  unter  dem  Namen  „la  fica" 
bekannte  Geberde  erwähnt  (wobei  man  den  Daumen  zwischen  dem  Zeige- 
und  Mittelfinger  der  geschlossenen  Hand  durchsteckt),  bildlich  sehr  häufig 
dargestellt,  in  der  Litteratur  nur  Ovid  Pasti  V,  433  f.  nachweisbar.  S.  81 
A.  221:  „Sehr  merkwürdig  sind  zwei  entsprechende  Hände  von  Gagat, 
welche  diesen  Gestus  machen,  während  in  der  inneren  Fläche  ein  Halb- 
mond angebracht  ist,  wenn  sie  wirklich  antik  sind." 

Babyl.  Bl-akot  55b:  Amemar  und  Mar  Zutera  und  Rab  Ase  (im  5.  Jahr- 
hundert) sassen  bei  einander.  Einer  von  ihnen  sagte:  Wer  in  eine  Stadt 
hineingeht  und  sich  vor  dem  bösen  Blicke  fürchtet,  der  nehme  den  Daumen 
seiner  rechten  in  seine  linke  und  den  Daumen  seiner  linken  in  seine  rechte 
Hand  und  sage:  „Ich  N.  N.  stamme  von  Josef  ab,  über  den  der  böse  Blick 
keine  Macht  hat."  —  Wenn  er  sich  aber  vor  seinem  eigenen  bösen  Blicke 
fürchtet,  so  seh«  er  auf  seinen  linken  Nasenflügel. 

Nach  babyl.  Sabbat  53a  wurde  dem  Pferde  zum  Schutze  gegen  den 
bösen  Blick  ein  Fuchsschwanz  augehängt. 

Jenes  kreuzweise  Anfassen  der  Daumen  wird  babylon.  Pesahim  110  a 
auch  als  Schutzmittel  empfohlen,  wenn  man  aus  paarigen  Gefässen  ge- 
gessen oder  getrunken  hat;  dazu  die  Formel:  „Ihr  und  ich  sind  drei." 
Das  Leeren  einer  geraden  Zahl  von  Bechern  wurde  vermieden :  man 
fürchtete  die  Macht  der  Dämonen  (Sedim) l).  Damit  stimmt  überein  Plinius 
N.  H.  XXVni,  5  und  17;  ferner  Porphyr.,  Vita  Pythag.:  a>^'  io&ieiv 
dtdvpwv.  Im  allgemeinen  galten  die  ungeraden  Zahlen  als  bevorzugt. 
Vergil  Ecl.  VHL  75:  „numero  deus  impare  gaudet".    Columella  Vni,  5:  den 


1)    Hierüber  vgl.  D.  Joel,  Der  Abergl.  u.  d.  Stellung  d.  Judent.  zu  demselben  I,  GOfg. 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  27 

Hühnern  wurden  Eier  in  ungerader  Zahl  untergelegt.  Plutarch,  Quaest. 
Rom.  2,  de  Is.  et  Osir.  48. 

Nun  zurück  zu  unserem  Texte! 

Bei  den  Erdschollen  oder  Steinen  (das  hebräische  Wort  kann  beides 
bedeuten)  handelt  es  sich  um  eine  Art  von  Wahrsagung.  Lenormant,  Die 
Magie  und  Wahrsagekunst  der  Chaldäer  (deutsche  Ausgabe)  S.  463:  „Die 
Hydromantie  der  Griechen  bestand  lediglich  darin,  dass  man  beliebige 
Gegenstände  ins  Wasser  warf  und  einerseits  nachsah,  ob  dieselben  ver- 
sanken oder  auf  der  Wasserfläche  forttrieben,  andererseits  die  entstandenen 
Wellenkreise  beobachtete."  Wenn  mau  mehrere,  vorher  abgezählte  Dinge 
ins  Wasser  warf,  so  kam  es  wohl  darauf  an,  wofür  die  Mehrheit  sprach. 
Maimonides,  Misne  Tora,  'Aboda  zara  XI,  7  bemerkt,  dass  von  den  D'Eplp 
manche  sich  des  Sandes  oder  der  Steine,  andere  eines  Metallspiegels  oder 
eines  Glasgefässes,  noch  andere  des  Stockes  zum  Wahrsagen  bedienten. 


§  2.  Wenn  jemand  vor  einer  Flamme  mit  den  Händen  auf  die 
Schultern  klopft  oder  die  Hände  übereinander  schlägt  oder  tanzt, 
das  gehört  zu  den  emoritischen  Gebräuchen.  Wenn  jemandem  ein 
Stück  Brot  entfallen  ist  und  er  spricht:  „Gieb  es  mir  wieder,  damit 
mein  Segen  nicht  verloren  sei."  (oder  wenn  jemand  spricht:)  „Stellet 
Jas  Licht  auf  die  Erde,  damit  die  Toten  sich  ärgern."  (oder:) 
„Stellet  das  Licht  nicht  auf  die  Erde,  damit  die  Toten  sich  nicht 
ärgern."  (oder)  sind  jemandem  Funken  zu  Boden  gefallen  und  er 
•spricht:  „Heute  bekommen  wir  Gäste"  —  das  gehört  zu  den  emo- 
ritischen Gebräuchen. 

Die    erwähnten  Bräuche    vor  einer  Flamme   dürften   ihre  Erläuterun»- 

o 

finden  durch  die  Worte  des  syrischen  Bischofs  Theodoret  im  5.  Jahrhundert 
^Opera  ed.  Simmond,  Paris  1642,  I,  352):  eidov  yä(>  sv  xioi  noXeotr  anaS 
znv  s'xovg  sv  xaiq  nkazsiaig  änxofievag  nvoag  xai  xavxag  xnag  intQCillo- 
uevovg  xai  rcrjöiövxag  ov  iiovov  naldag,  alkä  xai  avönag.  xct  de  ys  ßpecft; 
maQa  xiüv  j.ii]ieniov  TiaQayenoßEva  öia  i-ijg  (ployng.  iöoxsi  de  xovxn  arto- 
tQoniaa^ihg  sivai  xai  xadaQOig.  Und  dazu  vgl.  Poet.  Lyr.  Gr.  ed.  Bergk  " 
[II,  682:  „Incertum,  utrum  ex  poeta  aliquo  an  ex  populari  cautilena  petitum 
äit  quod  servavit  Hesychius:  wnt  avaoaa-  nvQoa  noöltvnog.  ttvq  tiqo  xiov 
dvQÜv.  Scribendum:  '£2n  avaaaa,  rrvoä  nondvnotg.  Interpretatio  autem 
sie  restituenda  videtur,  huc  relatis  iis,  quae  falso  s.  v.  wtiwx^qs  leguntur: 
dia  if  (tijLiuxiov  euoltaoi  xivtg  enäyeiv  xrjv  'Exäzqv  zalg  nixlaig,  uvq  tiqo 
tvQtüv  (avünxovxeg).  Etwas  Ähnliches  geschah  nach  Lucian  de  dea  Syria  49 
sei  dem  Frühlingsfeste  der  syrischen  Göttin,  was  Mannhardt,  Wald-  und 
Feldkulte  II,  261,  mit  den  Oster-  und  Maitagsbräuchen  vergleicht.  Siehe 
mch  J.  Grimm,  D.  Mythologie,  Aberglaube  Nr.  918:  „Wer  übers  Johannes- 
euer  springt,  kriegt  dasselbige  Jahr  das  Fieber  nicht." 


28  Lew7: 

Das  Aufheben  eines  bei  Tische  fallen  gelasseneu  Bissens  erwähnt  auch 
Plinius,  N.  H.  XXVIII,  5:  „Cibus  etiam  e  manu  prolapsus  reddebatur.  utique 
per  mensas:  vetabantque  muuditiarum  causa  deflare".  Das  Gegenteil  lehrte 
Pythagoras,  vgl.  Diog.  Laert.  VUI,  8,  34:  i«  öe  nzaovx'  anh  tQctTTsÜi]^  in] 
avaiyeiotiat,  imsQ  zov  e&l£eo&at  firj  ay.okäatiog  ea&leiv  r]  ort  eni  ieIeviT 
zivog'  xai  '^QiOToq)ävrjg  de.  xiöv  r/iionov  tpyoiv  eivai  xa  nimovra,  Xiyiov  sv 
toTc  "Hqiüoi  ' 

Mrjds  yEveotf  «Vi'  dv  irvog  xijg  xQaniLr^  xcccaneoi,. 
Vgl.  jetzt  auch  E.  Rohde,  Psyche  S.  224  A.  1.  Bei  den  alten  Preusseu 
galt  die  Regel,  beim  Mahl  auf  die  Erde  gefallene  Bissen  nicht  aufzuheben, 
sondern  für  arme  Seelen,  die  keine  Blutsverwandte  uud  Freunde,  welche 
für  sie  sorgen  müssten,  auf  der  Welt  haben,  liegen  zu  lassen.  Wenn  aber 
in  unserer  Stelle  davon  die  Rede  ist,  dass  ein  anderer  aufgefordert  wird, 
aufzuheben,  um  Unsegeu  zu  verhüten,  so  findet  sich  Ähnliches  bei  J.  Grimm 
a.  a.  0.,  Aberglaube  Nr.  14:  „Wer  aus  dem  Haus  gehend  oder  ausreisend 
etwas  vergessen  hat,  kehre  nicht  um  danach,  sondern  lasse  es  durch  einen 
andern  nachholen;  sonst  geht  alles  hinter  sich." 

Wenn  es  als  Kränkung  der  Toten  gilt,  ein  Licht  auf  die  Erde  zu 
stellen,  so  hängt  das  vielleicht  mit  der  altjüdischen  (aber  auch  deutscheu 
—  vgl.  Wuttke,  Der  deutsche  Volksabergl. 2  S.  428  ff.  — )  Sitte  zusammen, 
im  Trauerhause  zu  Häupten  der  auf  die  Erde  gelegten  Leiche  ein  Licht 
auf  die  Erde  zu  stellen.  Die  Aufstellung  des  Lichtes  auf  dem  Boden  zu 
anderem  Zwecke  mochte  hie  und  da  als  Eingriff  in  die  Rechte  der  Toten 
erscheinen.  Auf  der  Synode  zu  Elvira  im  Jahre  306  wurde  in  Kanon  34 
bestimmt:  „Cereos  per  diem  placuit  in  coemeterio  non  incendi.  Lnquietandi 
enim  sanctorum  spiritus  non  suut."  Baronius  und  Aubespiue  verstehen  dar- 
unter die  Seelen  der  Verstorbenen,  vgl.  v.  Hefele.  Konziliengeschichte  P,  169. 

Die  Deutung  von  Funken  auf  Gäste  findet  ein  Seitenstück  bei  Grimm, 
Aberglaube,  Nr.  889:  „Springen  die  Brände  am  Feuer  hinten  über  und 
schuappeu,  so  nahen  fremde  Gäste  dem  Haus."  Ähnlich  in  Norwegen,  vgl. 
Liebrecht,  Zur  Volkskunde  328:  „Knistert  das  Feuer  im  Ofen,  so  sind 
bald  Fremde  zu  erwarten." 

§  3.  Wenn  jemand  eine  Arbeit  anfängt  und  spricht:  „Möge 
N.  N.  kommen,  dessen  Hände  hurtig  sind,  und  sie  anfangen!" 
(oder:)  „Möge  N.  N.  kommen,  dessen  Füsse  hurtig  sind,  und  vor 
uns  vorübergehen!"  —  Das  gehört  zu  den  emoritischen  Gebräuchen. 
Wenn  jemand  an  einem  Fasse  oder  an  einem  Teige  beschäftigt 
ist  und  spricht:  „Möge  N.  N.  kommen,  dessen  Hände  gesegnet  sind, 
und  anfarigen!"-  —  das  gehört  zu  den  emoritischen  Gebräuchen. 

Offenbar  schrieb  mau  gewissen  Menschen  eine  ganz  besondere  Ge- 
wandtheit   oder  ein  ganz  besonderes  Glück  zu  und  die  Fähigkeit,   durch 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  29 

ihre  Hilfeleistung,  ja  durch  ihre  blosse  Nähe  auch  andere  zu  fördern.  Eine 
wunderbare  Heilkraft  sollen  Pyrrhos  und  Vespasianus  besessen  haben  (Plut. 
Pyrrh.  3;  Suet.  Vesp.  7). 

§  4.  Wenn  jemand  das  Fenster  mit  einem  Dornzweige1')  ver- 
schliesst;  wenn  jemand  Eisen  an  die  Füsse  des  Bettes  einer  Wöch- 
nerin bindet;  wenn  jemand  den  Tisch,  vor  ihr  deckt,'  das  gehört  zu 
den  emoritischen  Gebräuchen. 

Man  darf  aber  das  Fenster  mit  Wolldecken  oder  Pflanzenmolle 
verstopfen  und  ihr  eine  Schale  mit  Wasser  vorsetzen  und  ihr  eine 
Henne  anbinden,  dass  sie  ihr  zum  Hören  diene,  und  es  gehört  dies 
nicht  zu  den  emoritischen  Gebräuchen. 

Dem  Weissdorn  (^a/uvoc)  wurde  in  Asien  und  Griechenland  eine 
Gegenwirkung  gegen  dämonische  Einflüsse  zugeschrieben,  daher  man  ihn 
bei  Geburten  und  Leichenbegängnissen  draussen  an  der  Thür  anheftete, 
vgl.  Ovid  Fasti  VI,  130  und  165  und  Bötticher,  Baumkultus  S.  360.  Die 
spina  alba  hat  Janus  der  Carna  verlieben,  „um  damit  allen  bösen  Schaden 
von  den  Thttren  abzuwenden,  vor  allem  die  gräulichen  Strigen,  welche 
in  der  Nacht  kommen  und  den  Kindern  das  Blut  aussaugen"  (Preller,  Rom. 
Mytb. 3  II,  238).  Bei  der  Rettung  des  latinischen  Königskindes  Proca  legt 
sie  die  Weissdornrute  ins  Fensterloch.  Auch  an  unserer  Stelle  ist  von 
einer  Wochenstube  die  Rede.  Jetzt  giebt  eine  wertvolle  Zusammenstellung 
E.  Rohde,  Psyche  S.  217  A.  3.  Ähnlich  noch  Grimm,  Aberglaube  Nr.  389: 
„In  einer  Wochenstube  lege  man  an  jede  Thür  einen  Strohhalm  aus  dem 
Wochenbette,    so  kann  das  Jüdel  und  kein  Gespenst  nicht  in  die  Stube." 

Auch  das  an  die  Bettfüsse  gebundene  Eisen  --  Perles,  Monatsschrift 
f.  Gesch.  u.  Wiss.  d.  Jud.  XES,  428,  citiert  dazu  Sprenger,  Mohamm.  I, 
142:  Die  Mutter  Mohammeds  erhielt  vor  ihrer  Niederkunft  den  Rat,  ein 
Stück  Eisen  um  die  Arme  und  um  den  Hals  zu  binden  —  soll  Zauber 
brechen,  der  in  Wochenstuben  besonders  gefürchtet  ist.  Vgl.  Grimm,  Aber- 
glaube Nr.  516:  „Frühjahrs,  beim  ersten  Austreiben  des  Viehs,  legen  sie 
Äxte,  Beile,  Sägen  und  ander  Eisengerät  vor  die  Stallthiir;  es  kann  dann 
nicht  bezaubert  werden."  In  Norwegen  muss  die  Wöchnerin  Stahl  bei 
sich  tragen,  wenn  sie  vor  der  Einsegnung  ausgeht  (Liebrecht,  Zur  Volks- 
kunde 321).  Wuttke,  Der  deutsche  Volksaberglaube  der  Gegenwart  • 
S.  355:  in  der  Pfalz  legt  man  bei  Entbindungen  eine  Axt  unter  die  Bett- 
stelle, damit  das  Herzblut  nicht  entfliesse.  Indessen  liegt  wohl  auch  hier 
der  Gedanke  an  Zauber  zu  Grunde.  Das.  S.  264:  „Stahl  und  Eisen  legt 
man  unter  die  Thürschwellen,  in  die  Wiege,  trägt  es  bei  sich  u.  s.  w." 
(gegen  Behexung).     Hierzu  nehme  man  Schob  Q  zu  Odyss.  XI,  48:  xoevq 


1)    J.  Lewy,  Verh.  d.  33.  Piniol. -Vers,   zu  Gera  S.  85  übersetzt  XTD3:    mit  einem 
Querrieycl  (sera).     Fürst  übersetzt:  mit  dem  Schloss. 


30  Lewy: 

ng  nctQU  avitQcönotg  eoziv  vnolrjXpig,  hti  vexQoi  xai  Salfinveg  aiöi]Qnv 
(poßoTvTcu.  Vgl.  Schol.  zu  *,  323  bei  Schrader,  Porphyr,  rell.  ad.  Od.  pert. 
p.  99.  Tylor,  Anfänge  der  Kultur  (deutsch)  I,  140:  „Die  orientalischen 
Dschinnen  leben  in  solcher  Todesfurcht  vor  dem  Eisen,  dass  der  blosse 
Name  desselben  ein  Zaubermittel  gegen  sie  ist,  und  so  vertreibt  im  euro- 
päischen Volksglauben  das  Eisen  Feen  und  Elfen  und  vernichtet  ihre 
Macht.  Diese  sind  ■wesentlich,  wie  es  scheint.  Geschöpfe  des  Steinalters, 
und  das  neue  Metall  ist  ihnen  verhasst  und  gefährlich." 

Zu  dem  Tischdecken  vgl.  Servius  zu  Verg.  Aen.  X,  76:  „Varro  Pilumuum 
et  Picumuum  infantium  deos  esse  ait  eisque  pro  puerpera  lectum  in  atrio 
sterni,  dum  exploretur  an  vitalis  sit  qui  natus  est."  Denselben  Brauch  in 
anderem  Sinne  erwähnt  Serv.  V.  Ecl.  IV,  62:  „proinde  nobilibus  pueris  editis 
in  atrio  domus  Iunoni  lectus,  Herculi  mensa  ponebatur".  Im  Morgenlande 
wui'de  der  Tisch  in  der  Wochenstube,  also  wohl  ebenfalls  im  atrium,  ge- 
deckt, die  Beziehung  auf  bestimmte  Gottheiten  muss  aber  in  Vergessenheit 
geraten  sein. 

Das  Verstopfen  der  Fenster  mit  Wolle  soll  die  Zugluft  verhüten  und 
ist  darum  selbstverständlich  erlaubt1).  Das  vorgesetzte  Wasser  ist  für  die 
Wöchnerin  zum  Trinken  bestimmt,  besonders  während  sie  zeitweilig  allein 
liegt'2).  Die  Henne,  welche  ja  auf  jedes  Geräusch  hin  gluckst,  soll  wohl 
der  allein  schlummernden   Frau  anzeigen,  wenn  jemand  naht8). 

§  5.  Wenn  jemand  spricht:  „Schlachtet  diesen  Hahn,  der1)  am 
Abend  gekräht  hata;  „diese  Henne,  die  gekräht  hat  wie  ein  Ha/m": 
„Gebt  ihr  einen  II  alt  nenkamm*)  zu  fressen,  da  sie  kräht  wie  ein 
Hahn"  —  das  gehört  zu  den  emoritischen  Gebräuchen. 

Die  Lesart  „schlachtet"  ist  der  anderen  „steiniget"  vorzuziehen,  ebenso 
ist  Z1l"2  „am  Abend"  richtiger  als  2"lU"2  „wie  ein  Rabe".  Beides, 
„rabenartig"  oder  „abendlich",  kann  das  ITDI!?  im  babylonischen  Talmud 
Sabbat  67b  bedeuten,  dem  dort  unmittelbar  ein  Will  „hahnartig"  folgt: 
diese  doppeldeutige  Lesart  ist  wohl  die  ursprüngliche.  An  sich  wäre  raben- 
artiges Krähen  des  Hahnes  als  Unglückszeichen  denkbar,  ebenso  wie  das 
wolfartige  Heulen  der  Hunde,  Plutarch  de  superst.  86).     Ausschlaggebend 


1)  Nichts  hat  damit  zu  thun,  was  Hesychios  unter  aiitfarov  txtffnav  berichtet: 
fSos  nv,  önoit  natd'tov  riQ(>(y  yii'ono  izagü  'AiitxoTs,  or&pavoi'  flttta;  nUtvai  tiqü  7<öi- 
ftvoüiv  Ini  tSk  jöjv  Srji.eiiöi'  fnia  äta  ii]v  rtdaatnr. 

2)  Dagegen  beruht  auf  Aberglauben,  was  Grimm  Nr.  674  anführt:  ..Man  stelle  ihr 
(der  Wöchnerin),  ohne  dass  sie  es  weiss,  Wasser  unters  Bett." 

3)  Fürst  übersetzt  nach  der  Lesart  im  Jalqut  I  §587:  und  darf  das  Huhn  anbinden, 
welches  angefangen  hinauszugehen. 

4)  Fürst :  diese  Henne,  die. 

5)  Fürst :  ihren   Kamm. 

6)  Vgl.  Paus.  IV,  21,  1;  Julius  Obsequens  68;  Orosius  V,  18.  Im  babylonischen 
Talmud  Baba  qamma  60b  heisst  es:    .Die  Rabbinen  haben  gelehrt:  wimmern  die  Hunde, 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  31 

aber  ist  für  unsere  Stelle  Petronius  Sat.  74,  wo  der  zu  früh  krähende  Hahn 
als  Unglücksprophet  betrachtet  und  alsdann  geschlachtet  und  gekocht  wird. 
Das  zu  frühe  Krähen  sollte  entweder  eine  Feuersbrunst  an  demselben  Tage 
oder  einen  Todesfall  in  der  Nähe  anzeigen.  Über  norwegischen  Aberglauben 
Liebrecht,  Zur  Volkskunde  329:  Kräht  der  Hahn  zu  ungewöhnlicher  Zeit, 
so  bedeutet  es  Feuersbrunst,  wenn  er  dabei  warm  an  den  Füssen  ist;  im 
entgegengesetzten  Falle  bedeutet  es,  dass  jemand  bald  ertrinken  wird1). 

Arabisch  ist  das  Sprichwort:  „Wenn  eine  Henne  kräht  wie  ein  Hahn, 
so  soll  sie  geschlachtet  werden."  Derselbe  Glaube  ist  auch  in  Persien 
nachweisbar.  „Gallina  cecinit"  wird  Terent.  Phorm.  rV,  4,  30  unter  anderm 
als  böses  Zeichen  genannt,  geeignet  die  Hochzeit  zu  vertagen.  Nach  Donat 
bedeutet  es  dort  „superiorem  marito  esse  uxorem".  Ähnlich  in  dem  italieni- 
schen Sprichwort:  „In  quella  casa  non  e  mai  pace,  dove  la  gallina  canta 
ed  il  gallo  tace".  Doch  ist  dies  keinesfalls  die  ursprüngliche  Bedeutung 
jenes  Aberglaubens,  wie  Grünbaum,  ZDMG  XXXI,  339  annimmt.  Nach 
einem  sicilianischen  Sprichwort  darf  eine  Henne,  die  wie  ein  Hahn  kräht, 
weder  fortgegeben  noch  verkauft,  sondern  muss  von  ihrer  Besitzerin  ge- 
gessen werden  (de  Gübernatis  a.  a.  0.  S.  556).  Auch  der  deutsche  Aber- 
glaube fürchtet  dies  Zeichen,  vgl.  Grimm  Nr.  83:  „Henne  wie  ein  Hahn 
krähend  bedeutet  Unheil".  Nr.  555:  „desgleichen,  wenn  die  Henne  kräht 
(muss  einer  sterben)".  Nr.  1055:  „Wenn  Hühner  krähen,  kommt  Feuer 
ans."  Auch  in  Kussland  ist  dieser  Glaube  verbreitet.  Nach  allgemeiner 
Überzeugung  muss  eine  solche  Henne  sofort  getötet  werden,  wenn  man 
nicht  vorher  sterben  will.  Vgl.  Wuttke,  Der  deutsche  Volksaberglaube2 
S.  269.  Columella  VIII,  5  g.  E.  rät  dem  Züchter  unter  andern  auch  diejenigen 
Hühner  abzuschaffen,  welche  anfangen  als  Hähne  zu  krähen  oder  zu  treten: 
indessen  scheint  er  nur  an  die  Unbrauchbarkeit  solcher  Hühner  für  das 
Brütegeschäft,  nicht  au  irgend  eine  schlimme  Vorbedeutung  zu  denken. 

Den  Hahnenkamm  gab  man  der  krähenden  Henne  zu  fressen,  um  das 
omen  abzuwenden.  Nach  Juvenal  XIII,  233  nämlich  wurden  den  Laren 
Hahnenkämme  gelobt,  um  Krankheiten  abzuwenden: 

„pecudem  spondere  sacello 
Balantem  et  Laribus  cristam  promittere  galli 
Non  audent:" 

Über  die  Geschichte  von  einem  Hahn,  der  1474  auf  dem  Kohlenberg 
zu  Basel  verbrannt  wurde,  weil  er  ein  Ei  gelegt  haben  sollte,  vgl.  v.  Amira, 
Tierstrafen  und  Tierprozesse  (Mitteil.  d.  Instituts  f.  Österreich.  Geschichts- 
forschung XII)  S.  558. 


so  kommt  der  Todesengel  in  die  Stadt;  bellen  sie  freudig,  so  kommt  der  Propbet  Elia  in 
die  Stadt.    Das  gilt  aber  nur,  wo  keine  Hündin  ist." 

1)  Auch  anderswo  scheint  die  Vorstellung  von  einem  am  Abend  krähenden,  dämoni- 
schen Hahn  der  Nacht  vorhanden  zu  sein:  vgl.  de  Gubernatis,  die  Tiere  in  der  indo- 
germanischen Mythologie,  deutsch  von  Hartmann,  S.  557. 


32  Lewy: 

§  6.  Krächzt  ein  Rabe  und  man  spricht  zu  ihm:  „Schreie!*  — 
krächzt  ein  Rabe  und  man  spricht  zu  ihm:  „Kehre  dich  um1)!*  — 
das  gehört  zu  den  emoritischen  Gebräuchen. 

Im  babylonischen  Talmud  lieisst  es  statt  dessen:  Sagt  jemand  zu  einem 
männlichen  Raben:  „Schreie!*  und  zu  einem  weiblichen  Raben:  „Pfeife  und 
kehre  mir  deinen  Schweif  zu  [zum  Guten]*  —  so  sind  das  emoritische  Gebräuche. 
Offenbar  soll  durch  diese  Zurufe  dem  Krächzen  des  Raben  seine  üble  Vor- 
bedeutung genommen  werden.  Der  Zusatz  ,.zum  Guten"  im  Talmud  ist 
aber  wohl  eine  Glosse.  Bei  den  Arabern  galt  der  Eabe  als  Unglücksbote: 
vgl.  Rückerts  Hariri  I,  591.  592.  Bei  den  Römern  galt  die  Stimme  des 
Raben  nur  dann  für  glückbedeutend,  wenn  sie  von  rechts  kam:  vgl.  Cicero 
de  div.  I,  39,  85  und  7,  12.  Eine  besondere  Art  des  Schreiens  dieser 
Tiere  wurde  allgemein  schlimm  gedeutet.  Plautus  Aulul.  IY.  3,  1 :  ..non 
temere  est.  quod  corvus  cantat  mihi  nunc  ab  laeva  manu,  simul  radebat 
pedibus  terram  et  voce  crocibat  sua."  Plinius,  N.  H.  X.  12,  15:  „pessuma 
eorum  significatio ,  cum  glutiunt  vocem  velut  strangulati".  Ebenso  Dio 
Cassius  LVIII,  5.  Vgl.  P.  Schwarz.  Menschen  und  Tiere  im  Aberglauben 
der  Griechen  und  Römer  (Progr.  d.  städt.  Realgymn.    Celle  1888). 

§  7.  Wenn  jemand  spricht:  „Iss  diese  dattel förmige  Knospe 
des  Lattichs,  damit  du  dadurch  meiner  gedenkest!*  (oder:)  „Iss  sie 
nicht  wegen  der  Staarblindheit!*  —  „Küsse  den  Sarg  des  Toten. 
damit  du  ihn  in  der  Nacht  sehest!*  (oder:)  „Küsse  den  Sarg  des 
Toten  nicht,  damit  du  ihn  nicht  in  der  Nacht  sehest3)!*  —  „Ziehe 
dein  Hemd  verkehrt  an,  damit  du  Träume  habest!*  (oder:)  „Ziehe 
drin  Hemd  nicht  verkehrt  an,  damit  du  keine  Träume  habest3)!*  — 
„Setze  dich  auf  den  Kehrbesen*),  damit  du  Träume  habest!*  (oder:) 
„Setze  dich  nicht  auf  den  Kehrbesen*) ,  damit  du  keine  Träume 
habest!*  —  das  gehört  zu  den  emoritischen  Gebräuchen. 

Athen.  II,  79 — 81  handelt  vom  Lattich  (irgiöa!;):  er  erwähnt  nichts 
von  einer  Wirkung  auf  die  Augen,  wohl  aber,  dass  der  Liebesgenuss  da- 
durch gehindert  werde.     Ebensowenig  bietet  Dioskorides  II,   164.   165. 

Aus  Portugal  berichtet  Liebrecht,  Zur  Volkskunde  374:  „Um  von 
Geistererscheinungen  frei  zu  bleiben  oder  um  nicht  von  einem  Verstorbenen 


1)  Fürst:  Sagt  einer  beim   Kräciuen  des  Raben:  u  u-eli!  oder  sagt  einer  beim  Krächzen 
des  Raben:  Gehe  zurück! 

2)  Die  Konstruktion  von  p'ff'j  .küssen"  mit  £  ist  zwar  sonst  nicht  zu  belegen,  aber 

durch  die  Analogie  anderer  Verba  des  Berührens  -wie  pj]  und  j;;£  durchaus  erklärlich. 
Die  andere  Lesart  dagegen  —  .schlafe  im  Sarge  des  Toten-,  .schlafe  nicht  im  Sarge  des 
Toten"  —  enthält  hebräisch  im  ersten  Gliede  einen  Sprachfehler,  abgesehen  von  der  Un- 
wahrscheinlichkeit  eines  solchen  Verfahrens. 

3)  Fürst:  Ziehe  dein  Hemd  verkehrt  an,  damit  du  nicht  träumst. 

4)  Fürst  beide  Male:  Zweig. 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  33 

zu  träumen,  ist  es  gut,  wenn  man  die  Sohlen  an  den  Schuhen  der  Leiche 
küsst.  Doch  nur  sehr  furchtsame  Personen  thun  dies,  da  es  sonst  für  ein 
glückliches  Anzeichen  gilt,  von  Verstorbenen  zu  träumen,  als  wenn  sie 
noch  lebten."  —  Vielleicht  ist  gar  in  unserem  Texte  zu  lesen:  „Küsse 
den  Sarg  des  Toten,  damit  du  ihn  nicht  in  der  Nacht  sehest!"  „Küsse 
den  Sarg  des  Toten  nicht,  damit  du  ihn  in  der  Nacht  sehest!" 

Beispiele  dafür,  dass  beim  Zauber  vieles  umgekehrt  gemacht  werden 
muss,  giebt  Wuttke,  Der  deutsche  Volksabergl.  a  S.  171.  Anders  als  an 
unserer  Stelle  heisst  es  bei  Grimm,  Abergl.  Nr.  3:  „Wer  ein  Stück  von 
der  Wäsche  verkehrt  oder  links  anzieht,  wird  nicht  beschrieen."  Ein  un- 
beabsichtigtes Thun  ist  gemeint,  wenn  Liebrecht,  Zur  Volkskunde  S.  330 
als  norwegischen  Aberglauben  anführt:  „Zieht  man  des  Morgens  das  Hemde 
verkehrt  an,  so  wird  an  dem  Tage  etwas  toll  hergehen." 

Über  einen  Besen  zu  gehen  verbot  Pythagoras  ([trjde  oÖqov  vneQ- 
ßaivstv):  Plut.  Qu.  Rom.  112. 

§  8.  Wenn  jemand  spricht:  „Setze  dich  nicht  auf  den  Pflug, 
damit  du  uns  die  Arbeit  nicht  schwer  machest!"  —  das  gehört  zu  den 
emoritischen  Gebräuchen.  „Setze  dich  nicht  auf  den  Pflug,  damit 
er  nicht  (später)  zerbreche!"  —  das  gehört  zu  den  emoritischen  Ge- 
bräuchen. Wenn  (jemand  aber  sagt):  „damit  er  nicht  durch  das 
Gewicht  deines  Körpers  zerbreche!"  so  ist  dies  erlaubt1). 

§  9.  Wenn  jemand  spricht:  „Lege  deine  Hände  nicht  auf  den 
Rücken,  damit  uns  die  Arbeit  nicht  behindert  sei!"  das  gehört  zu 
den  emoritischen  Gebräuchen. 

Sonst  hat  das  Verschränken  der  Hände  magisch  hemmende  Kraft. 
Plinius  XXVIII,  17:  „Assidere  gravidis,  vel  quum  remedium  alicui  ad- 
hibeatur,  digitis  pectinatim  inter  se  implexis  veneficium  est,  idque  com- 
pertum  tradunt  Alcmena  Herculem  pariente.  Peius,  si  circa  unum  ambove 
geuua.  Item  poplites  alternis  genibus  imponi.  Ideo  haec  in  conciliis 
ducum  potestatumque  fieri  vetuere  maiores  velut  omnem  actum  impedientia. 
Vetuere  et  sacris  votisve  simili  modo  interesse."  Vgl.  Grünbaum  ZDMG 
XXXI,  259. 

§  10.  Wenn  jemand  einen  Feuerbrand  an  die  Wand  heftet") 
und  ruft:  „Weg!11  —  so  gehört  das  zu  den  emoritinchen  Gebräuchen. 
Ruft  er  aber  wegen  der  Funken,  so  ist  es  erlaubt. 


1)  Fürst  übersetzt  nach  der  Lesart  im  Jalqut  a.  a.  0.:  Sagt  einer:  „Setze  dich  nicht 
auf  den  Pflug,  damit  du  uns  die  Arbeit  nicht  schwer  machst",  das  ist  emoritische  Sitte;  sagt 
er  es  aber  in  der  Absicht,  dass  der  Pflug  nicht  zerbricht,  so  ist  dies  erlaubt. 

2)  Abzuweisen  ist  die  von  Zuckermandel  aufgenommene  Lesart:  Wenn  jemand  sagt: 
^ Hefte  einen  Feuer brand  an  die  Wand!" 

Zeitschrift  d.  Vereins  f.  Volkskunde.     1893.  3 


34  Lcwy : 

§  11.  Wenn  jemand  Wasser  auf  die  Strasse  giesst  und  ruft: 
„Weg!"  —  so  gehört  das  zu  den  emoritischen  Gebräuchen.  Ruft  er 
es  aber  wegen  der  Vorübergehenden ,  so  ist  es  erlaubt. 

§  12.  Wenn  jemand  Eisen  zwischen  die  Gräber  ivirft  [und  ruft: 
„Weg!"]  -  so  gehört  das  zu  den  emoritischen  Gebräuchen.  Thut 
er  es  aber  wegen  der  Handwerker,  so  ist  es  erlaubt. 

§  13.  Wenn  jemand  einen  angebrannten  Stab  oder  Eisen  unter 
seinen  Kopf  legt,  so  gehört  das  zu  den  emoritischen  Gebräuchen. 
Thut  er  es  aber,  um  die  Dinge  zu  verwahren,  so  ist  es  erlaubt. 

Der  Ruf  lautet  in  der  Ausgabe  von  Zuckermandel  Hin,  Varianten 
dazu  sind  Kin  Hin  8*711.  Perles  (Monatsschr.  f.  Gesch.  u.  Wiss.  d.  Jud. 
XIX,  1870  S.  428)  hält  Slil  für  persisches  chodd,  den  Namen  für  „Gott". 
Aber  was  bedeutete  dann  dieser  Ruf  an  die  in  der  Nähe  befindlichen 
Menschen?  Unbefriedigend  übersetzt  J.  Levy  (Neuhebr.  u.  chald.  Wörter- 
buch II,  15)  „Spaltung,  Scheidung".  Ebenso  unbefriedigend  Kohut  in  seiner 
Ausgabe  des  Aruch:  „Unterwürfigkeit".  Offenbar  handelt  es  sich  an  zweiter 
Stelle  in  allen  Fällen  um  einen  einfachen  Warnungsruf,  und  daher  erkenne 
ich  in  Hin  81*7  ursprüngliches  "77*7  87*7,  die  talmudischen  und  targumischen 
Formen  des  hebräischen  nKTH  „dorthin!  weiterhin!  weg  von  hier!"  Dieser 
Ruf  passt  durchweg  auch  an  erster  Stelle,  wo  es  sich  meines  Erachtens 
zweifellos  um  Abwehr  feindlicher,  dämonischer  Mächte  handelt. 

Das  unter  den  Kopf,  offenbar  ins  Bett,  gelegte  Eisen  dient,  ähnlich 
wie  oben  bei  der  Wöchnerin,  als  Amulet.  Denselben  Zweck  muss  der  an- 
gebrannte Stab  haben.  Da  ist  es  nun  höchst  merkwürdig,  ganz  ähnlichen 
Bräuchen  auf  weit  entlegenem  Boden  und  in  viel  späterer  Zeit  zu  begegnen. 
Vgl.  Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte  I,  227:  „Nach  anderen  Aufzeich- 
nungen bei  Thiers  wird  der  Trefoir  oder  tison  de  Noel  in  den  dreizehn 
Nächten  täglich  im  Feuer  angekohlt.  Unters  Bett  gelegt  schützt  er 
Haus  und  Hof  das  Jahr  hindurch  vor  dem  Donner:  seine  Berührung  schützt 
die  Menschen  vor  Frostbeulen  an  den  Füssen,  die  Tiere  vor  vielen  Krank- 
heiten." Ähnlich  zu  Gerardsbergen  in  Belgien,  vgl.  das.  229:  „Der  Christ- 
brand  wird  nur  ein  wenig  angebrannt  und  beim  Gewitter  wieder  ins  Feuer 
gelegt,  weil  dann  der  Blitz  nicht  einschlagen  soll;  selbst  ein  Splitter  von 
ihm,  unters  Bett  gelegt,  schützt  vor  dem  Einschlagen  des  Wetters." 
Mannhardt  vermutet  S.  238,  „dass  hinsichtlich  des  Weihnachtsblockes  eine 
Schicht  älterer  Volksgebräuche  und  Vorstellungen  eine  Umdeutung  im 
Sinne  gewisser  christlicher  Ideen  erfahren  hat." 

Nunmehr  vermute  ich,  dass  der  an  die  Hauswand  geheftete  Feuer- 
brand, zu  welchem  der  Ruf  „Weg!"  an  einen  bösen  Geist  gehört,  als  Ab- 
wehr- oder  Schutzmittel  gleichzusetzen  ist  mit  dem  Feuerbrande,  von  dem 
ein    angekohltes   Stück    unter    den   Kopf   gelegt   wurde.     Vielleicht    sollte 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  35 

ersterer  das  Haus  vor  Feuersbrunst  schützen  nach  dem  Grundsatz  „Siniilia 
siniilibus  curantur",  welcher  bei  dergleichen  eine  Rolle  spielt.  So ,  wird 
nach  einem,  wohl  indogermanischen,  Zauberspruch  die  Gelbsucht  durch 
innere  und  äussere  Mittel  von  gelber  Farbe  vertrieben:  vgl.  Kuhn,  Z.  f. 
vergl.  Sprachw.  XIII,  115.  Wuttke,  Der  deutsche  Volksabergl. 2  S.  301  f. 
Lenormant,  die  Magie  und  Wahrsagekunst  der  Chaldäer,  deutsche  Ausg. 
S.  52  erwähnt  eine  im  Louvre  befindliche  Bronzestatuette  von  assyrischer 
Arbeit,  den  schrecklichen  Dämon  des  Westwindes  vorstellend,  die  an  der 
Thür  oder  am  Fenster  des  Hauses  angebracht  wurde:  der  Dämon  sollte 
sich  vor  seinem  eigenen  Aussehen  fürchten. 

Das  Anzünden  von  Fackeln  wird  verpönt  auf  der  Zweiten  Synode  von 
Arles  im  Jahre  443  oder  452  und  auf  der  Sechzehnten  Synode  von  Toledo 
im  Jahre  693:  vgl.  v.  Hefele,  Konziliengeschichte  II2  757  und  III2  350. 
—  Die  Quinisexta  oder  trullanische  Synode  (zu  Konstantinopel)  im  Jahre 
692  bestimmte  in  §  65:  „Es  ist  verboten,  an  den  Neumonden  vor  den 
Wohnungen  oder  Werkstätten  Feuer  anzuzünden  und  darüber  zu  springen": 
vgl.  v.  Hefele  a.  0.  HI2  338 '). 

Das  zwischen  die  Gräber  geworfene  Eisen  dient  wohl  als  Schutzmittel 
gegen  den  gespenstigen  Werwolf,  „der  mit  dem  Yampyr  von  einem  Ge- 
schlecht ist.  Der  Werwolf  ist  hier  nicht  ein  verwandelter  lebender  Mensch, 
sondern  ein  dem  Grabe  in  Wolfsgestalt  entstiegener  Leichnam2)."  Ent- 
zaubert wird  der  Werwolf  dadurch,  dass  man  Eisen  und  Stahl  über  ihn 
wirft.  (Vgl.  Wilh.  Hertz,  Der  Werwolf  S.  88  und  85).  Lenormant,  Die 
Magie  und  Wahrsagekunst  der  Chaldäer  (deutsche  Ausgabe)  S.  10  erwähnt 
eine  akkadische  Beschwörungsformel,  in  der  von  Anbinden  weisser  und 
schwarzer  Streifen  ans  Bett  die  Rede  ist  zum  Schutze  gegen  den  Schreck- 
geist, das  Gespenst,  den  Vampyr.  —  Die  Handwerker  auf  dem  Begräbnis- 
platze sind  mit  Herrichtung  von  Grabstätten  beschäftigt  zu  denken.  Den 
von  einigen  Handschriften  auch  hier  gebotenen  Zusatz,  und  ruft  X*l!t, 
lässt  Zuckermandel  wohl  mit  Recht  fort.  Die  Anbringung  des  Feuer- 
brandes am  Hause  und  die  Ausschüttung  von  Wasser  auf  die  Strasse 
konnten,  abgesehen  vom  Aberglauben,  gewiss  zu  verschiedenen  Zwecken 
geschehen  und  mussten  ohne  jenen  Zuruf  jedem  gänzlich  unbedenklich 
erscheinen.  Aber  weshalb  sollte  wohl  jemand  Eisen  zwischen  Gräber  werfen, 
wenn  nicht  aus  Aberglauben  oder,  um  die  Handwerker  mit  Werkzeug 
zu  versehen?  Hier  wird  also  das  Werfen  nicht  erst  durch  einen  be- 
gleitenden Ruf  auffällig  gemacht  und  ebensowenig  durch  Beziehung  eines 
Rufes  auf  Menschen  des  Auffälligen  entkleidet. 


1)  Über  Anzünden    zum   Schutze  vor  Dämonen  vgl.  auch  noch  Tylor,    Anfänge  der 
Kultur  (deutsch)  H,  195  fg. 

2)  Über  Wolfsgestalt    eines   todbringenden  Geistes  der  Unterwelt  im  Altertum    vgl. 
E.  ßohde,  Psyche  S.  180  A.  1. 

3* 


36  Lewy: 

Mit  dem  Ausgiessen  von  Wasser  auf  die  Strasse  zur  Abwehr  ist  zu 
vergleichen  Plinius,  N.  H.  XXYIII,  5,  4:  „Incendia  inter  epulas  nominata 
aquis  sub  mensas  profusis  abominamur".  Ähnlich  Petronius,  Sat.  74. 
Möglicherweise  wurde  nur  während  der  Mahlzeit  das  Wasser  in  einem 
solchen  Falle  unter  den  Tisch!  —  um  nämlich  Störung  zu  vermeiden  — 
sonst  aber  auf  die  Strasse  gegossen.  „Wenn  die  Leiche  aus  dem  Hause 
getragen  wird,  so  giesst  man  ihr  dreimal  Wasser  nach  und  zerschlägt  dann 
das  Gefäss,  damit  man  vor  der  Wiederkehr  des  Toten  sicher  sei"  (Wuttke, 
Der  deutsche  Volksabergl.  2  S.  435).  Nach  eiuem  akkadisch  und  assyrisch 
erhaltenen  Zauberspruch  wird  das  gebrauchte  Zauberwasser  nach  der  an 
dem  Menschen  vollzogenen  Beschwörung  auf  die  Seite  der  Landstrasse 
geschüttet  (Lenormant,  Die  Magie  und  Wahrsagekunst  der  Chaldäer, 
deutsche  Ausgabe  S.  72).  Nun  ist  auch  der  letzte  Punkt  in  dem  Satze 
des  Res  Laqis  im  Talmud  P'saliim  lila  verständlich:  Wer  eines  von  fol- 
genden vier  Dingen  thut,  ist  sich  selbst  an  seinem  Tode  schuld:  wer  zwischen 
Baum  und  Wand  seine  Notdurft  verrichtet,  wer  zwischen  zwei  Bäumen 
hindurchgeht,  wer  gelielienes  Wasser  trinkt,  wer  über  ausgegossenes 
Wasser  hinwegschreitet,  selbst  wenn  es  seine  eigene  Frau  vor  seinen 
Augen  ausgegossen  hätte."  Das  Verbot  des  Hindurchgehens  zwischen 
zwei  Bäumen  entspringt  wahrscheinlich  der  Besorgnis  vor  Übertragung  der 
von  anderen  zu  ihrer  Heilung  dorthin  gebannten  Krankheiten.  Man  ging 
nämlich  zu  solchem  Behufe  zwischen  den  beiden  Hälften  eines  gespaltenen 
Baumes  hindurch,  vgl.  Wuttke,  Der  deutsche  Volksaberglaube  2  S.  317  und 
Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte  I,  14—22  und  32  fg.;  Zeitschr.  des  Ver. 
f.  Volkskunde  II,  81  f. 

Wie  man  in  Griechenland  beim  Ausgiessen  von  (schmutzigem)  Wasser 
auf  die  Strasse  die  Vorübergehenden  durch  einen  Ruf  zu  warnen  pflegte, 
lehrt  Suidas  unter  anövtmQov^AQiaToifäi'rjg  (Ach. 616)  „wansQ  anövinzQov 
£x%&nvieg  cansQag"-.  elw&aoi  de  o't  äyxalot,  ei  note  ex%eoito  aunvinzQov 
and  zäv  d-VQiö(i)v,  'Iva  /<?/'  zig  ßQa/rj  züv  naQiovzwv,  Xiyew  'E^lazw. 

§  14.  Wenn  ein  Weib  in  den  Backofen  hineinschreit,  damit  das 
Brot  nicht  in  Stücke  zerfalle;  wenn  jemand  Späne  an  den  Henkel 
des  Topfes  legt,  damit  es  nicht  siede  und  überlaufe  —  so  gehört  das 
zu  den  emoritischen  Gebräuchen. 

Man  darf  aber  einen  Span  von  Maulbeerholz  und  Glas  in  den 
Topf  werfen,  damit  es  schnell  koche.  Indessen  verbieten  die  Weisen 
Glas  wegen  der  Lebensgefahr. 

Als  norwegischen  Aberglauben  führt  Liebrecht,  Zur  Volksk.  331  an: 
„Merkt  man,  dass  die  Speise  anbrennt,  so  braucht  man  bloss  ein  Stückchen 
wollenes  Zeug  gerade  unter  den  (hängenden)  Kochtopf  ins  Feuer  zu  werfen 
oder  damit  über  den  Topf  zu  fahren  oder  einen  silbernen  Löffel  hinein- 
zustecken." 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit,  37 

Maulbeerspäne  und  Glas  hatten  also,  nach  dem  damaligen  Stande  der 
Erfahrung,  die  natürliche  Eigenschaft,  das  Kochen  zu  beschleunigen. 
Noch  jetzt  gebraucht  man  zu  diesem  Zwecke  Soda,  in  der  wie  im  Glase 
Nation  enthalten  ist;  ja  man  nimmt  geradezu  Natron,  damit  die  Gerichte 
schneller  weich  kochen.  —  Glas  ist  nachträglich  wieder  verboten  worden, 
weil  die  Splitter  leicht  mit  verschluckt  werden  und  so  Gefahr  bringen 
könnten.  —  Von  dem  Holze  des  wilden  Feigenbaumes  sagt  Plinius, 
N.  H.  XXIII,  64:  „Bubulas  carnes  additi  caules  magno  ligni  compendio 
percoquunt". 

§  15.  Wenn  eine  bei  (dem  Kochen  von)  Linsen  schweigen  heisst, 
oder  bei  (dem  Kochen  von)  Reis  schreit,  oder  die  Hände  über- 
einander schlägt  vor  einem  Lichte,  so  gehört  dies  zu  den  emoriti- 
schen  Gebräuchen. 

Der  babylonische  Talmud  nennt  Graupen  statt  Reis  und  fügt  an  erster 
Stelle  hinzu:  Wenn  eine  hüpft  bei  (Bereitung  der)  Tunke.  Ferner  an  letzter 
Stelle:  Wenn  eine  Frau  Wasser  lässt  vor  ihrem  Topfe,  damit  es  schnell  kochen 
soll,  so  ist  darin  ein  emoritischer  Gebrauch  zu  erkennen. 

Zu  vergleichen  ist  damit  Plinius,  N.  H.  XIX,  36:  „Nihil  ocimo  foe- 
cundius:  cum  maledictis  ac  probris  serendum  praecipiunt:  ut  laetius  pro- 
veniat,  sato  pavitur  terra.  Et  cuminum  qui  serunt  precantur  ne  exeant." 
So  schon  Theophr.,  H.  PL  IX,  8,  8.  VII,  3,  5.  —  Über  den  Glauben  au 
die  Zauberkraft  des  Urins  überhaupt  vgl.  die  Schrift  von  Prof.  Eugen 
Wilhelm,  On  the  use  of  beefs  urine  according  to  the  precepts  of  the  Avesta 
and  on  similar  customs  with  other  nations.     Bombay  1889,  S.  25  fgg. 

§  16.  Wenn  eine  Schlange  auf  das  Bett  gefallen  ist  und  man 
spricht:  „Er  ist  arm,  in  Zukunft  wird  er  reich  werden",  „Sie  ist 
schivanger,  sie  gebiert  einen  Knaben",  „Sie  ist  Jungfrau,  sie 
heiratet  einen  grossen  Mann"  —  das  gehört  zu  den  emoritisch <n 
Gebräuchen. 

Die  Schlange  galt  als  eine  Erscheinungsform  des  Genius.  Cicero, 
de  divinatione  I,  36:  da  sich  um  den  in  der  Wiege  liegenden  Roseius  zu 
Solonium  allnächtlich  eine  Schlange  wand,  erklärten  die  haruspices  dem 
Vater,  es  deute  dieses  Vorzeichen  auf  eiuen  vorzüglich  begabten  und  der- 
einst gefeierten  Mann  hin.  Vgl.  Script,  bist.  Aug.  rec.  Peter  I,  125,  19; 
II,  25,  6.  Es  ist  bekannt,  wie  gerne  man  Schlangen  bei  sich  in  den 
Häusern  und  in  den  Schlafzimmern  hielt  (vgl.  Plinius,  N.  H.  XXIX,  72): 
leicht  konnte  daher  eine  Schlange  aufs  Bett  fallen.  Allerdings  scheint  bei 
Romern  und  Griechen  eine  Schlange  im  Hause  sonst,  abgesehen  von  dem 
Vorkommen  bei  Kindern,  Unheil  verkündet  zu  haben.  Terent.  Phorm. 
rV,  4,  29:  „anguis  in  inpluvium  decidit  de  tegulis"  (gleichzeitig  Krähen 
der  Henne);    Theophr.,  Char.  16:    xai  iäv  Xötj   ocpiv  sv  %r;  olxiq,    iäv  piv 


38  Lewy: 


napeiav,  -aßdi^iov  xalelv,  eav  de  \eqov,  Evxav&a  tjqiöov  eifrig  iÖQVoao9ai. 
In  Norwegen    bedeutet    es  Glück,    ^ 
nähert:  Liebrecht,  Zur  Volksk.  328. 


In  Norwegen    bedeutet    es  Glück,    wenn    eine   Schlange    sich  dem  Hause 


§  17.  Will  eine  Frau  Küchlein  zum  Brüten  setzen  und  spricht: 
„Nur  durch  eine  Jungfrau  lasse  ich  sie  setzen",  „Nur  nackt  setze 
ich  sie",  „Nur  mit  der  linken  (Hand)  setze  ich  sie",  „Nur  mit 
beiden  (Händen)  setze  ich  sie";  wenn  jemand  eine  Frau  sich  an- 
trauen lässt  durch  zwei  (Bevollmächtigte)  oder  sich  von  einer  Frau 
scheiden  lässt  durch  zwei  (Bevollmächtigte) ,  und  wenn  jemand 
sagt:  „Setzet  noch  einen  an  den  Tisch!"  —  das  gehört  zu  den  emo- 
ritischen  Gebräuchen. 

In  Bezug  auf  das  Ausetzen  der  Hühner  herrscht  auch  auf  germanischem 
Boden  allerlei  Aberglaube.  Vgl.  Grimm,  Abergl.  Nr.  18:  „Eine  Henne  setze 
man  brüten,  während  die  Leute  aus  der  Kirche  gehen,  dann  kriechen  viel 
Junge  aus."  Nr.  19:  „Wer  grossköpfige  Hühner  wünscht,  thue  beim  An- 
setzen der  Gluckhenne  einen  feinen,  grossen  Strohhut  auf."  Nr.  575:  „Will 
eine  Frau  ihre  Henne  brüten  setzen  und  lässt  die  Strümpfe  lottern,  die 
Haare  fliegen  und  hat  ihren  schlechtesten  Rock  an,  so  bekommt  sie  lauter 
Küchlein  mit  Köbeln  auf  den  Köpfen  und  gefiederten  Füssen." 

„Ungemein  häufig  ist  die  Nacktheit  die  Bedingung  eines  Zaubers, 
und  zwar  ganz  überwiegend  bei  Mädchen  und  Frauen,  selbst  bei  ehrbaren 
Hausfrauen"  (Wuttke,  Der  deutsche  Volksabergl. 3  S.  170). 

Statt  nur  mit  beiden  {Händen)  setze  ich  sie  könnte  es  aucli  heissen:  nur 
durch  zwei  {Leute)  setze  ich  sie.  Obgleich  dies  zum  Folgenden  gut  passte, 
halte  ich  es  doch  nicht  für  das  Richtige,  weil  sonst  dieser  Satz  schon 
vorher,  vor  oder  nach  dem  von  der  Jungfrau,  zu  erwarten  wäre.  Nach 
meiner  Übersetzung  schliesst  sich  die  Erwähnung  beider  Hände  passend 
an  die  der  linken  Hand  an. 

Die  Zulässigkeit  eines  Bevollmächtigten  sowohl  bei  der  Eheschliessung  als 
bei  der  Ehescheidung  wird  gelehrt  im  babylonischen  Talmud  Qiddusin  41a,  b. 

Wer  noch  einen  an  den  Tisch  gesetzt  zu  sehen  wünschte,  musste  die 
bereits  vorhandene  Zahl  der  Tischgenossen  für  bedenklich  halten.  Man 
scheute  wohl  dabei,  wie  auch  sonst,  eine  gerade  Zahl;  vgl.  Plinius, 
N.  H.  XXYIII,  5,  5:  „Quin  et  repente  conticescere  convivium  adnotatum 
est  nou  nisi  in  pari  praesentium  numero,  isque  famae  labor  est  ad  quem- 
cunque  eorum  pertinens." 

§  18.  Wenn  eine  Frau  Eier  und  Kräuter  in  die  Wand  thut 
und  davor  {Lehm)  klebt  und  sieben  zählt,  so  gehört  das  zu  den 
emoritischen  Gebräuchen. 

Im  Talmud  Sabbat  67b  heisst  es:  Wenn  eine  Frau  Eier  in  die  Wand 
steckt    (und  Lehm   klebt?)    vor    den   Küchlein,    so    ist    darin    ein    emoritischer 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  39 

Gebrauch   zu   erkennen.     Und  /renn  jemand  umrührt  vor  den   Küchlein,   so  ist 
darin  ein  emoritischer  Gebrauch  zu  erkennen.   Wenn  eine  Frau  hüpft  und  ein 
undsiebzig  <vor  den>  Küchlein  zählt,    damit  sie  nicht  sterben,  so  ist  darin  ein 
emoritischer  Gebrauch  zu  erkennen. 

Offenbar  ist  hier  der  Text  zerrüttet. 

Ähnlich  bei  Grimm,  Abergl.  d.  Rsthen  Nr.  69:  „Wird  das  Vieh  zuersi 
im  Jahre  ausgetrieben,  so  graben  sie  unter  die  Schwelle,  über  welche  es 
zuerst  treten  muss,  Eier,  wodurch  alles  Ungemach  von  ihm  gebannt  wird." 
Ohne  Zweifel  waren  das  Opfer  an  die  schädlichen  Dämonen:  vgl.  K.  Meyer. 
Der  Aberglaube  des  Mittelalters  S.  224.  Derselbe  berichtet  S.  213  f.:  „Am 
Walpurgisabend  bohrte  man  drei  Löcher  über  der  Thür  des  Kuhstalls  und 
steckte  Wurzeln  in  dieselben,  welche  ebenfalls  zu  bestimmten  Zeiten 
waren  ausgegraben  worden:  dadurch  glaubte  man  die  Hexen,  welche  be- 
kanntlich in  der  dem  ersten  Maitag  vorausgehenden  Nacht  besonders  thätig 
sind,  vom  Betreten  des  Stalles  abzuhalten."  „In  ähnlicher  Weise  befestigte 
man  auch  an  Himmelfahrt  ausgebrütete  Eier  an  die  Dächer."  Nach  dem 
Erklärer  Siomo  Jishaqi  (Raschi)  wären  auch  an  der  Talmudstelle  die 
Schalen  ausgebrüteter  Eier  gemeint. 

Die  Zahl  Sieben  kommt  öfter  bei  Zauber  vor:  vgl.  A.  Dieterich,  Papyrus 
magica  musei  Lugd.  Batav.  (N.  Jahrb.  f.  Piniol.  XVI.  Suppl.-Bd.),  Index 
s.  v.  C 


§  19.  Wenn  ein  Weib  Küchlein  im  Siebe  schüttelt  oder  Eisen 
zwischen  die  Küchlein  legt,  so  gehört  das  zu  den  emoritischen 
Gebräuchen. 

Thut  sie  {letzteres)  aber  wegen  der  Donner  und  wegen  des 
Blitzes,  so  ist  es  erlaubt. 

Columella  VIII,  5:  „Cribro  viciario  vel  etiam  loliario,  qui  iam  fuerit 
in  usu,  pulli  superponantur,  deinde  pulegii  surculis  fumigentur"  (gegen  eine 
Hühnerkrankheit).  Im  Harz  wird  noch  jetzt  krankes  Federvieh  über  einem 
Kohlenfeuer  in  einem  Siebe  hin-  und  hergeschwenkt  (Wuttke,  Der  deutsche 
Volksaberglaube  der  Gegenwart2  S.  91).  Wolf,  Beitr.  II,  378;  Pröhle  in 
Wolfs  Zeitschr.  I,  202;  Kuhn,  Mark.  Sagen  381.  Vgl.  Grimm,  Deutsche 
Myth.  S.  1066,  1152:  „Das  Sieb  erscheint  ein  altertümliches,  heiliges 
Gerät,  dem  man  Wunder  beilegte."  —  Vgl.  auch  W.  Schwartz,  Ursprung 
der  Mythologie  S.  7. 

Das  Eisen  ist  uns  oben  schon  mehrfach  begegnet.  Wenn  das  Hinein- 
legen von  Eisen  in  das  Hühnernest  zum  Schutze  gegen  Gewitter  erlaubt 
wird,  so  handelt  es  sich  dabei  nicht  um  etwas  Geheimnisvolles.  Plinius, 
N.  H.  X,  75  und  Columella  VHI,  5  erwähnen  den  Glauben,  dass  die  Eier, 
auf  denen  die  Henne  sitzt,  wenn  es  donnert,  schlecht  werden.  Als  Mittel 
dagegen  empfiehlt  Plinius  in  den  Hühnerkorb  einen  eisernen  Nagel  oder 


40  Rehsener: 

auch  etwas  von  einer  Pflugschar  aufgerissene  Erde  zu  thun  l).  Columella 
sagt,  dass  viele  kleine  Lorbeerzweige  und  Knoblauchwurzeln  nebst  eisernen 
Nägeln  hineinlegen2).  Nach  de  Gubernatis,  Die  Tiere  in  der  indogerm. 
Mythol.,  deutsch  von  Hartmann,  S.  554  wären  das  Symbole  der  schwefligen 
Donnerkeile  (wegen  ihres  starken  Geruches)  und  des  als  eiserne  "Waffe 
aufgefassten  Donnerkeiles;  das  empfohlene  Mittel  wäre  nach  dem  Grund- 
satze „Similia  similibus".  Wenn  diese  einleuchtende  Deutung  richtig  ist 
(vgl.  auch  Wuttke,  Der  deutsche  Volksabergl.  2  S.  92),  so  hatte  jedenfalls 
das  Yolk  der  späteren  Zeit  keine  Ahnung  mehr  von  dem  ursprünglichen 
Sinne  seines  Thuns,  sondern  fasste  das  Eisen  als  eine  Art  von  Blitzes- 
ableiter  auf. 

Mülhausen  im  Elsass. 

(Schluss  folgt.) 


Aus  Gossensass. 
Arbeit  und  Brauch  in  Haus,  Feld,  Wald  und  Alm. 

Von  Marie  Rehsener. 


I. 

(Hierzu  Tat'.  I.  II.) 

Unter  Arbeit  versteht  der  Bauer  vorzugsweise  die  Thätigkeit  zur  Er- 
haltung seines  Hofes:  sowohl  die  täglich  sich  erneuernde  als  auch  die  durch 
die  Jahreszeiten  bedingte  in  Haus,  Feld,  Wald  und  Alm.  „Was  versteht 
ein  Ochse  oder  Esel  vom  Sonntag!"  sagte  ernst  ein  junges  Mädchen,  das 
sich  als  höchste  Seligkeit  wünschte,  im  Himmel  immer  lesen  zu  können, 
als  von  einer  geistigen  Thätigkeit  die  Rede  war. 

Von  den  Volksschullehrerinnen  hiess  es:  Ich  sage  nicht,  dass  sie  es 
fein  haben,  aber  sie  wollen  nicht  arbeiten.  Vom  Bauern  Eisentle,  der 
mehrere  Maschinen  erfunden:  Er  hat  allm  dem  Zeug  abgewartet,  nie  gern 
gearbeitet.  Lachend  erzählt  man,  es  habe  einmal  einen  Hantierer  gegeben, 
der  gesagt  habe :  Das  Arbeiten  verstehe  ich  nicht  recht,  aber  das  Rechnen 
(sich  dafür  bezahlen  lassen!);  und  zu  einem  Bauernknecht,  der  andernorts 


1)  „Si  incubitu  tonuit,  ova  pereunt  cett.  Remedium  contra  touitrus  clavus  ferreus  sub 
stramüie  ovorum  positus  aut  terra  ex  aratro. " 

2)  „Plurimi  etiam  infra  cubilium  stramenta  graminis  aliquid  et  ramulos  lauri  nee 
minus  alii  capita  cum  clavis  ferreis  subiciunt:  quae  eunetu  remedia  creduntur  esse  ad- 
versus  tonitrua,  quibus  vitiantur  ova  pnllique  semiformes  interimuntur  ante  quam  toti 
partibus  suis  consummentur." 


Aus  Gossensass.    Arbeit  und  Brauch  in  Haus,  Feld,  Wald  und  Alm.  41 

Arbeit  suchen  wollte,  hörte  ich  sagen:  „Mehr  Geld  willst  Du  verdienen?! 
wenn  Du  einen  Hafen  voll  Geld  siedest,  giebt  es  doch  keine  gute 
Suppe  ab." 

Einmal  hat  ein  Weibis  einen  Hafen  voll  Kreuzer  gesotten  und  eine 
lötzere  (schlechtere)  Suppe  hat  sie  gesagt,  habe  sie  nie  gehabt. 

Eigentümlich  wird  das  Wort  Arbeit  zur  Bestimmung  anderer  Begriffe 
gebraucht:  So  zu  lügen,  das  ist  keine  Arbeit!  —  Der  Neid  ist  die  aller- 
schlimmste  von  allen  Untugenden.  Der  Geiz  schafft  wenigstens  etwas 
zusammen;  aber  der  Neid  schafft  garnichts! 

Jede  Arbeit  reicht  einer  andern  die  Hand,  darf  nicht  unterbleiben  und 
muss  zur  rechten  Zeit  geschehen:  „Wenn  ich  nicht  den  ganzen  Tag  gehen 
müsste  wie  eine  Uhr!"  rief,  schon  mit  den  Beschwerden  des  Alters  kämpfend, 
unsere  Bäuerin.  „Stehe  ich  nur  eine  halbe  Stunde  später  auf,  so  mangele 
ich  sie  den  ganzen  Tag  und  komme  aus  keiner  Arbeit." 

Auch  die  höhern  Mächte  müssen  dem  Thun  der  Menschen  ihrer  An- 
sicht nach  entsprechend  handeln.  Als  es  im  Herbste  einmal  garnicht 
regnen  wollte,  sagte  der  Leitner:  „Roggen  baue  ich  doch!  Wenn  ich  das 
Meinia;e  srethan  habe,  nachher  wird  der  liebe  Gott  wohl  auch  arbeiten 
(regnen  lassen)." 

Man  soll  die  Kinder  das  Arbeiten  Jemen',  ehnder  sie  verstehen,  dass 
es  hart  ist. 

Viel  zu  lange  sein  sie  in  der  Schule,  meinte  die  Klamperin  (Spenglerin), 
da  haben  sie  es  zu  fein.  Zu  Hause,  beim  Bauern  müssen  sie  arbeiten,  da 
vergehn  ihnen  die  Bosheiten.  Die  Bäuerin,  zu  der  sie  sprach,  antwortete: 
Die  Herren  sprechen  immer:  Bildung!  Erziehung!  ich  werde  nichts 
davon  gewahr.  — 

Die  Spinnen  vertreiben  wir  nicht,  denn  wir  lernen  von  ihnen  den 
Fleiss. 

Der  Müde  rastet  gern  und  der  Faule  noch  viel  lieber!  „Härter  ist  es 
zu  rasten,  wenn  man  nicht  gearbeitet  hat!  glauben  Sie  es?" 

Ist  etwas  schwer,  so  heisst  es  --  frisch  derleiden!  Wenn  es  mir 
ein  Ernst  ist,  so  wird  es  wohl  gehen.     Nun  denn  in  Gottes  Namen! 

Die  heilige  Therese  hat  auch  Unmögliches  gekonnt.  Sie  war  in  einem 
Kloster  und  die  Obern  plagten  sie  sehr,  gaben  ihr  allerhand  schwere 
Arbeiten  auf;  aber  sie  vollbrachte  sie  alle.  Endlich  sckickten  sie  sie  gar 
mit  einer  Reiter  (Kornsieb)  Wasser  zu  holen  und  sie  brachte  das  Wasser! 

Was  in  Gottes  Namen  gearbeitet  ist,  schützt  auch  gegen  die  Ränke 
des  Bösen:  Eine  Kindbetterin  lag  allein  und  es  war  auch  niemand  im 
Hause,  da  kam  ein  Fremder  und  wollte,  sie  solle  aufstehen.  „So  reich 
mir  den  Kittel  (Rock)!  sagte  sie.  „Da  sein  ,drui'  Gottesnamen  dabei," 
antwortete  der  Mann:  „in  Gottes  Namen  ist  er  gewirkt,  in  Gottes  Namen 
gemacht  und  in  Gottes  Namen  angelegt!  Den  Kittel  kann  ich  nicht  an- 
greifen," und  er  ging.  — 


42  Rehsener: 

In  dem  Sinne  wie  von  Gottesdienst  die  Rede  ist.  heisst  auch  das 
Gebet  ein  Thun: 

Ein  alter,  schon  hinfälliger  Bischof  war  eines  Abends  .nicht  recht  gut 
aufgelegt'  (nicht  wohl),  dessenungeachtet  betete  er,  wie  er  es  gewohnt  war, 
lang  und  viel  vor  dem  Schlafengehen.  Sein  Diener,  der  es  sali,  sagte  zu 
ihm:  „Herr,  was  plagen  Sie  sich  heute,  wo  sie  so  miserabel  sind!  Gehen 
Sie  doch  lieber  zu  Bett."  Der  Bischof  aber  antwortete:  „Was  Du  heute 
derthust,  sollst  Du  nicht  auf  morgen  lassen!"  Er  betete  zu  Ende 
den  nächsten  Morgen  aber  war  er  tot.  — 

Im  Gegensatz  zum  Gottesdienst,  der  ewig  währt,  sagt  man:  Herren- 
dienst währt  nur  über  Nacht. 


Das  Wie  der  Arbeit,  ,wie  die  Arbeit  geht'  und  Lebenseinrichtung 
bestimmt  die  Weise  der  Väter  —  der  Brauch.  Er  beherrscht  die  ganze 
Bauern  Wirtschaft;  er  bewahrt  das  Gute,  verschliesst  aber  auch  gegen  das 
Bessere  und  wer  davon  abweicht,  setzt  sich  dem  Spotte  der  andern  aus  — 
er  will  ein  Gescheiter  sein!"  Doch  sagt  man  auch:  Wo  es  der  Brauch  ist, 
legt  man  die  Kühe  in  die  Betten  und  die  Leute  ins  Stroh! 

Als  von  Übelständen,  der  Luft-  und  Lichtlosigkeit  der  Ställe,  die 
Rede  war,  äusserte  ein  Einheimischer,  der  das  Volk  genau  kennt,  der  Herr 
Pfarrer  aus  Pflersch:  Mit  Worten  ist  da  nichts  zu  machen,  eher  mit  dem 
Beispiel,  und  auch  mit  diesem  nur  sehr  allmählich:  Unsere  Leute  sind 
fest  wie  unsere  Berge! 

Doch  auch  die  Berge  sind  nicht  so  fest,  wie  sie  scheinen:  den  Fels 
sprengt  das  Eis,  der  Steinblock  stürzt  zu  Thal,  der  Wildbach  sucht  sich 
neue  Wege,  bringt  Gerolle  herab  und  entwurzelt  den  uralten  Baum;  die 
Lawine  überschüttet  die  Schlucht  und  der  Gletscher  tritt  allmählich  zurück. 
—  Dass  aber  auch  der  Brauch  der  Umwandlung  unterworfen  ist,  giebt 
unbewusst  der  Bauer  selbst  zu,  indem  er  nicht  selten  sagt:  Ehnder  war 
es  der  Brauch. 


„Es  ist  überall  gut  Brod  essen,  wenn  man  eins  hat;"  sagte  die  freund- 
liche Frau  des  Penser-Schuster,  des  Fremdenführers,  die  aus  einem  andern 
Thal  hierher  geheiratet  hat;  dagegen  meinte  ein  hiesiges  Bauernmädchen: 
„Der  Hantierer,  da  sage  ich  nichts,  der  muss  sehen,  dass  er  weiter  kommt; 
aber  einer,  der  Bauernarbeit  verrichtet,  dem  ist  die  Welt  nie  zu 
klein!" 

Ein  hölzernes  Haus  und  ein  Lärchenkamin  ist  sein  Begehr. 

Als  Schutz  gegen  Andersdenkende  und  Feuersgefahr  setzte  ein  Gossen- 
sasser  auf  den  Holzbaum  seines  Hauses,  d.  h.  den  Querbalken  unter  dem 
weitvorstehenden  Fürschuss,  den  Spruch: 


Aus  Gossensass.    Arbeit  und  Brauch  in  Haus,  Feld,  Wald  und  Alm.  43 

Veracht  nicht  mich  und  das  meinige,  |  Zuvor  dich  und  das  deinige.  | 
Such  ob  du  findest  ohne  Dadel  dich,  |  Alsdann  komm  und  verachte  mich.  | 
Yor  wilder  Zeit  und  Hitze,  |  Heil'ger  Florian  beschütze  [  Durch  deine 
Fürbitt  und  Kraft  |  Mein  Haus  und  Nachbarschaft.    Joseph  Herbert  1859 l). 

Die  Arbeit  des  Hausbaues  nach  der  Schweizer  Art  kann  man  nicht 
mehr  sehen,  da  die  feuergefährlichen  Schindeldächer  zwar  , eingehalten', 
aber  nicht  neu  hergestellt  werden  dürfen2);  man  ist  auf  die  Kunde  aus 
früherer  Zeit  und  die  Beobachtung  des  Vorhandenen  angewiesen. 

Für  das  Fällen  des  Bauholzes  haben  die  Leute  früher  allerhand 
Glauben  und  Sekten  (Meinungen)  gehabt.  Sie  haben  auf  die  Zeit  gesehen 
und  nach  dem  Mulme  (Mond),  wann  sie  die  Feichten  fällen  sollten.  „Und 
das  ist  wahr,"  behauptete  ein  junger  Mann,  der  neben  der  Lawine  sein 
von  ihr  umgerissenes  Holz  räumte,  „das  alte  Holz  z.  B.  in  einer  Tenne 
hält  allin  noch,  das  ,nuie'  —  wenn  man  jetzt  eine  Tenne  baut,  wo  man 
nicht  mehr  seile  (solchen)  Glauben  hat  und  den  Bauin  fällt,  wenn  mau 
ihn  braucht  —  ist  geschwind  faul.  Im  Februar  soll  das  Holz  am  besten 
seiu  uud  am  stärksten  halten,  elmder  der  Saft  in  den  Bäumen  anfängt  zu 
fliessen  und  nach  den  Ästen  zuzuströmen." 

Was  den  Mörtel  anbetrifft,  so  soll,  wie  man  in  alten  Büchern  gelesen 
haben  will,  früher  eine  Portion  Essig  ihn  fester'  gemacht  haben;  auch 
wurde  dem  gewaschenen  Sand,  wie  er  sich  z.  B.  au  Mühlrädern  sammelt, 
der  Vorzug  gegeben.  — 

In  der  Hauseiurichtung  ist  alles  auf  das  Notwendigste  beschränkt. 
Das  breite  Dach  schützt  auch  das  um  die  Mauern  aufgestapelte  Holz  und 
ersetzt  die  Holzhütte.  Die  Kuchl  ist  zugleich  Räucherkammer,  —  Speck- 
seiten und  Würste  werden  an  die  Decke  gehängt;  auf  dem  Herde  ist  der 
Platz  für  die  Hennen,  die  in  der  Stiege,  einer  Art  hölzernem  Käfig,  warm 
gehalten  werden  müssen.  Den  Vorräten  dienen:  Das  Gadele,  Pschütt  und 
Birl  (Speise-  und  Vorratskammer  und  der  Raum  unter  dem  Dach),  Tenne 
und  Keller. 

Mensch  und  Vieh  leben  unter  demselben  Dach.  Ein  Mädchen  findet 
ihre  Liegerstatt  oft  noch  in  der  Brodkammer  und  der  Knecht  steigt  auf 
einer  Leiter  noch  höher  hinauf  in  sein  Nest  —  den  Schluff.  Als  wir  in 
einem  verhältnismässig  kleinen  Hause  fragten:  „Wo  schlafen  sie  denn 
alle?"  (es  waren  zehn  erwachsene  Personen),  wurde  geantwortet:  „Wir 
haben  noch  ein  paar  dunkle  Kammern;  man  kanu  sich  schon  klein  machen, 
wenn  man  will."  — 


1)  Die  jetzigen  Besitzer  wussten  nicht,  was  auf  ihrem  Hause  steht  —  aber,  sagte 
der  Kienast  Hannes,  meine  Tochter  hat  es  gelesen,  und  ich  —  er  zeigte  mit  dem  Finger 
auf  sein  Herz  —  ich  bin  der  Lehrer  davon. 

2)  Dreifach  liegen  die  Lärchenschindeln  und  müssen,  sollen  sie  nicht  faiüen,  alle 
acht  bis  zehn  Jahr  umgewendet  werden.  An  die  Holzschornsteine  aber  setzen  sich  die 
Russschnaken  und  brennen  erst  diese,  so  flammt  der  ganze  Kamin  auf. 


44 


Rehsener : 


„In  Ridnaun  bei  Sterzing,"  erzählte  imii  Zimmermann,  „war  ein  altes 
Haus  —  ich  hab's  gesehn,  wie  wir  es  niederrissen,  um  das  neue  zu  bauen 
—  die  Einfahrt  war  in  der  Mitten,  rechts  und  links  waren  die  Wände  von 
rundbehauenen  Holzbäumen;  zum  Heu  hat  man  eine  Leiter  hinaufsteigen 
müssen  und  eine  andere  wieder  hinab,  um  zuzukommen." 

In  Telfs  lockte  uns  ein  reichgeschmücktes  Fenster,  hinter  dem  sich 
aber  nur  ein  Gadele  befand,  in  ein  Haus;  doch  beim  Weitergehen  kamen 
wir  auf  einen  langen  Söller  über  abschüssigem  Felsen,  der  mehreren 
Häusern,  die  mit  den  Giebeln  darauf  stossen,  als  verbindende  Gasse  dient. 

Ein  Haus,  welches  mehrere  Stockwerke  hat,  hat  eine  wilde  Höhe, 
heisst  es,  und  eins,  welches  mit  dem  des  Nachbarn  unter  ein  Dach  gebaut 
ist,  so  dass  beide  im  Giebel  zusammenstossen,  wird  ein  halbes  Haus 
genannt. 

Die  Kerl  (Erker,) ,  die  Bilder  auf  den  Aussenwänden ,  die  Marillen 
(Aprikosen)  neben  den  Hausthüren  gewähren  selbst  den  kleinsten  Hütten 
ein  freundliches  Aussehen.  Einen  aussergewölmlichen  Schmuck  erhalten 
die  Hausthüren  von  Palmsonntag  bis  nächsten  Pfinztig  (Donnerstag)  früh 
durch  „die  Ballm"  (Palme),  eine  aus  Ölzweigen,  Wachholderästen  und 
Weidenkätzchen  an  langer  Stange  künstlich  hergestellte  Palme  (Taf.  1). 
Sie  wird  vor  der  Hütte  aufgerichtet  oder  wie  eine  Fahne  zum  Giebel 
hinausgehängt. 


Trotz  der  grossen  Feuergefährlichkeit  früherer  Bauart  steht  noch  ein 
uraltes   Haus   am  Ende   des  Pflerschthals    auf  dem  Stein  (Taf.  2).     Vom 


Küi  Girier    cl  P  s   Knprht-5 


Wege  zum  grossen  Wasserfall  führt  ein  Pfad  dorthin  ab.  Zunächst  fallen 
drei  Holzkästen,  zum  Teil  von  der  Sonne  verkohlt,  zum  Teil  vom  Alter 
gebleicht,  ins  Auge,  die  dem  Söller  vorgebaut  sind.  Mit  ihren  kleinen 
Giggerln  (Fensterchen)  möchte  man  sie  für  Heustadel  halten;  doch  sind 
es  Kammern.     Die  oberste  der  Schluff  des  Knechtes. 


Ans  Gossensass.    Arbeit  und  Brauch  in  Haus,  Feld,  Wald  und  Ahn.  45 

Labe  (Laube)  und  Labndille1)  (unterer  und  oberer  Hausgang)  liegen 
über  Kreuz;  neben  der  Hinterthür,  zu  der  man  zuerst  gelangt,  befinden 
sich  zwei  Kuhställe,  für  je  zehn  Kinder;  weiter  vorgebaut  Schaf-  und 
Schweinestall.  Neben  der  Hausthür,  gegen  den  Gletscher,  liegen  Wohn- 
stube und  Kuchl;  rückwärts  zur  Seite  der  Auffahrt  die  mächtigen  Heu- 
stöcke und  am  andern  Ende  des  Saales  in  der  aus  ruuilbehaueueii  Stämmen 
aufgeführten  Hauptwand  und  der  Knechtskammer  gegenüber  liegt  das  Ehe- 
gemach der  Bauersleute.  Es  ist  fast  dunkel,  hat  auch  nur  ein  Giggerl, 
welches  mit  dem  Holzschieber  verschlossen  werden  kann  und  gewährt  nur 
Raum  für  das  grosse  und  ein  kleines  Bett,  Kasten  (Schrank)  und  Truhe. 
Das  Aufsteigen  auf  die  stuhlhohe  Schwelle  zu  erleichtern,  ist  ein  Klotz 
vorgelegt,  auch  scheint  sie  zum  Sitzen  zu  dienen.     „Eine  alte  Welt!" 

Hier  lebte  einst  das  Steiner-Mandl,  der  reichste,  doch  von  der  Kirche 
in  Gossensass,  zu  der  er  gehörte,  am  entferntesten  wohnende  Bauer.  Er 
hatte  ein  Mule  (Maultier)  und  besass  das  verbriefte  Recht,  dass  zum  Gottes- 
dienst nicht  eher  geläutet  werden  durfte,  als  bis  er  zu  sehen  war,  wie  er 
auf  seinem  Mule  zur  Kirche  augeritten  kam. 

Als  wir  über  die  ungleichen  grossen  Steine  des  Hausgangs  uns  weiter- 
tappten, waren  wir  froh,  Feuer  in  der  Küche  zu  sehen,  zwei  Feuer,  denn 
es  kochten  zwei  Parteien,  die  das  Haus  besitzen  und  im  Sommer  auch 
gemeinschaftlich  bewohnen.  In  der  engen,  aber  wie  überall  getäfelten 
Stube  sass  eine  steinalte  Frau  mit  einem  kleinen  Kinde.  „Wie  alt  ist  das 
Kind?"  fragten  wir.  „Noch  nicht  sechs  Wochen"  —  „und  das  Haus?"  — 
„vier  und  ein  halbes  Jahrhundert." 

Unwillkürlich  gedachte  ich  einer  Stelle  bei  RiehP)  und  erzählte  später 
unserer  Wirtin,  wir  hätten  in  einem  Buche  gelesen,  wie  vor  mehr  als 
1000  Jahren  die  Leut  —  es  wären  Heiden  gewesen  -  -  wenn  sie  ein  Haus 
bauten  und  wollten,  dass  die  Mauern  recht  fest  halten  sollten,  ein  lebendes 
Kind  in  das  Fundament  eingemauert  hätten. 

„Da  sieht  man,  was  sie  (die  Heiden)  für  Tuifel  gewesen  sein!  Die 
werden  die  Sekten  (falsche  Meinungen)  wohl  alle  gehabt  haben!"  rief  die 
Zenze  lebhaft. 


Die  Arbeit  im  Hause  beginnt  und  schliesst  auf  der  Fuirstatt  des 
Herdes  und  das  auflodernde  Feuer  mit  seinen  Fuirglansterln  (Funken) 
wird,  wie  die  Sonne  in  der  Natur  es  ist,  der  Mittelpunkt  des  häuslichen 
Lebens. 


1)  Letztere  wird  auch,  wenn  sie  klein,  Dillele,  wenn  gross,  Saal  genannt. 

2)  W.  H.  Riehl,  Die  Familie,  S.  135.  „Aus  dem  dunkelsten  Altertum  dämmert  dort 
der  Glaube  herüber,  dass  ein  Hausbau  am  festesten  wird,  wenn  man  ein  lebendes  Kind  in 
die  Fundamente  einmauert.  Vernichtet  werden  nmss  der  Einzelne,  vernichtet  das  teuerste 
Kleinod  der  Familie,  ein  unschuldiges  Kind,  damit  das  ganze  Haus  feststehe  über  der 
Leiche  des  zu  Tode  gemarterten  Einzelwesens." 


46  Rehsener: 

Von  letzterem  giebi   schon  das  alte  Kinderlied  ein  flüchtiges  Bild: 

.Bronobis'  (ora  pro  nobis)! 

Die  Gans  gehn  in  Kobis  (Kohl), 

Der  Bauer  geht  zu  wehren  (abwehren), 

Und  fällt  in  die  Dem  (Berberitzen); 

Der  Knecht  geht  zu  helfen. 

Und  die  Dirn  zu  melken; 

Die  Bäurin  zu  kochen 

l'nd  die  Kinderle  alle  zu  kosten. 

Die  Männer  haben  in  der  "Weite  zu  thuu.  die  Frauen  im  Hause  und 
die  Hausfrau  vorzugsweise  am  Herde1).  „Wir  werden  wohl  sehen,  dass 
die  Kirche  im  Dorf  bleibt"  (werden  Ordnung  halten!) 

Den  Bauern  nennt  sein  Weib  ihren  Herrn.  „Ich  weiss  wohl,"  sagte 
der  Lois,  „dass  in  meinem  Haus  nicht  alles  so  ist,  wie  es  sein  soll:  aber 
was  sein  kann,  das  soll  auch  sein." 

Aus  einem  Bauern  kann  schleunig  ein  Herr  (Vornehmer)  werden,  aber 
aus  eiuem  Herrn  nicht  so  leicht  ein  (tüchtiger)  Bauer.  — 

Das  Platzl  im  Korn,  das  die  Bäuerin  selbst  gegätet  hat,  kennt  man 
leicht  (ihre  Arbeit  ist  sorgfältig). 

Die  Ehehalten  machen  zu  schaffen:  Ein  Bauknecht  (erster  Knecht) 
zieht  die  Arbeit,  die  er  nicht  thun  will,  so  lange  hiu  und  her,  bis  sie  der 
Bauer  selbst  thun  muss,  und  wenn  es  nach  jenem  ginge,  müssten  sie  täg- 
lich ins  Hotel  an  die  Tafel  zum  Essen  gehen.  Einem  andern  ist  die 
,Bessrige"  (was  er  über  den  Lohn  erhält)  zu  gering.  Manche  Dirn  ist 
schlauderisch  —  ein  .Wosen'2).  Manche  ist  unhilfli,  jene  gar  ein  ver- 
lorenes Mensch  (sie  bringt  nichts  fertig):  die  möchte  dienstlich  sein,  aber 
sie  zieht  den  Schweif  nach  sich  (ist  schwächlich).  Und  eine  aus  der 
Fremde,  „hann  i  Sorge,  lasst  das  hintere  Thürle  offen"  (hält  es  mit  andern). 

Wer  Tagewerker  haben  muss,  ist  nicht  zu  neiden.  Die  Leut  wollen 
alle  Herren  und  Frauen  ,ogeben\  nicht  arbeiten  und  je  grösser  der  Lohn 
wird,  desto  schlechter  wird  es;  aber  noch  ist  kein  Schöwer  (Schober)  in 
der  Weite  (draussen)  geblieben,  man  hat  Tagewerker  bekommen,  ihn  ins 
Haus  zu  schaffen. 

Den  Sunntigsdienst  lassen  sich  .Mädchen  zur  Aushilfe  für  die  Haus- 
arbeit nicht  bezahlen  und  Tagewerker.  die  die  Woche  mit  dem  Bauern 
gearbeitet  haben,  kommen  auch  Sonntags  zu  ihm.  aber  nicht  zur  Arbeit, 
sondern  im  Feiertagsgewand  zum  Mittagessen.  Ja  in  Sterzing  haben  sie 
früher  die  Feldarbeiter,  welche  z.  B.  Montags  die  Arbeit  beginnen  sollten, 
schon  abends  zuvor,  also  am  Sonntag  gekostet. 


1)  Hunde,  Weiber  und  der  Backofen  gehören  zum  Hause. 

2)  Schimpfname  für  ein  unordentliches  Mädchen.     Sie  ist   wie   ein  herausgerissenes 
Stück  Rasen,  an  dem  noch  Erde  hängt. 


Aus  Gossensass.    Arbeit  und  Brauch  in  Haus,  Feld,  Wald  und  Alm.  47 

Ist  morgens  das  Gebetläuten  verklungen  oder  die  Frühmesse  vorüber, 
so  fasst  die  Dirn  die  Asche  vom  Tage  vorher  auf  und  verwahrt  sie  für  die 
Waschlauge.  Abends,  wenn  sie  sie  zusammenkehrt,  könnte  noch  eine 
glühende  Kohle  darin  sein.  Das  Mädchen  macht  Feuer  und  stellt  darüber 
den  grossen  Wasserkessel  zum  Milchschüsselspülen.  Darauf  eilt  sie  in  die 
Tenne,  steckt  dem  Vieh  das  Futter  ,0er'  und  kommt  herab  zum  Melken, 
Milchdurchseihen  und  Tränken1). 

Unterdessen  hat  die  Bäuerin  die  gestockte  Milch  ogerahmt  und  die 
Dirn  spült  die  Schüsseln2). 

Wer  sich  beim  Spülen  oder  Waschen  das  ,Fürtich'  (Fürtuch,  Schürze) 
sehr  nass  macht,  bekommt  einen  Vollsäufer  zum  Mann. 

Die  Milch  wird  nur  im  Sommer  in  den  Keller  gebracht,  im  Winter 
hat  sie  im  Wohnzimmer,  im  Milchkasten  ihren  Platz  und  muss  sich  in 
den  üblichen  Tabaksrauch  schicken;  wenn  sie  zu  nahe  dem  Ofen  steht, 
rahmt  sie  nicht  aus.  Die  Milch  ist  wie  eine  Frau,  sagt  man,  sie  will 
es  nicht  zu  heiss  haben  und  nicht  zu  kalt,  und  reinlich  will  sie  es  haben. 

Rechts  von  der  Fuirstatt  steht  der  Wasserhafen,  links  der  Hennen- 
hafen und  dahinter  der  Fuirhund  zum  Auflegen  der  Brände.  Jetzt  schürt 
die  Frau  das  Feuer  unter  das  Herz  des  Dreifusses.  Er  darf,  wenn  eine 
Kindbetterin  im  Hause  ist,  nicht  ericalten,  d.  h.  es  muss  oft  darauf  für  sie 
gekocht  werden,  auch  darf  er  nie  leer  stehen.  Wenn  es  nicht  lohnt,  ihn 
auszuheben  und  die  Glut  einem  der  Häfen  zuzuschieben,  wird  wenigstens 
ein  Stückchen  Holz  darauf  gelegt. 

„Warum  thun  sie  das,"  fragte  ich  die  Frau.  „Weil  ich  es  immer  so 
gesehen  habe."  —  „Aber  was  ist  der  Grund?"  „Weil,  so  lange  er  leer 
ist,  eine  arme  Seele  darauf  niederhocken  muss.  Sagen  Sie  es  nicht,  man 
lacht  jetzt  darüber!"  — 

In  einer  eisernen  Pfanne,  deren  es  in  einer  jeden  Kuchl  eine  Unzahl 
giebt,  werden  fast  alle  Gerichte  —  das  Mus3),  die  platschnasse  Suppe*) 
u.  s.  w.  ,derschaffen'. 


1)  Das  Seihen  geschieht  meistens  vermittelst  der  Seihe,  einer  mit  einem  Brett 
zusammenhängend  aus  Holz  geschnitteneu  Schüssel  und  des  Seihen-Strohs,  einem  zu 
mehreren  Strähnen  zusammengeflochtenen  Kuhschwanz,  der  mit  kochendem  Wasser  nach 
jedem  Gebrauch  Übergossen  werden  muss.  Die  Schüssel  hat  in  der  Mitte  ein  rundes 
Loch,  welches  mit  dem  Seihenstroh  vor  dem  Dnrchgiessen  der  Milch  fest  zugestopft  wird. 

2)  Dies  geschieht  bei  den  hölzernen  mit  einer  Reibe  aus  bindfadenzähen  Rinder- 
wurzcn  und  mit  marmorartigem  Sande  vom  Tribnlaun. 

3)  Eine  grosse  Pfanne  wird  mit  Butter  ausgestrichen,  dass  sie  schmutzig  (fettig)  ist, 
Milch  hineingegossen  und  zum  Kochen  gebracht;  dann  wird  mit  der  linken  Hand  Mus- 
mehl hineingesäet,  während  die  rechte  mit  einem  eisernen  Besen  den  Brei  gleichklopft. 
Zuletzt  wird  die  Pfanne  in  die  Glut  gestellt  zum  Behacken  und  oben  auf  ein  Stück  Butter 
gelegt. 

4)  Ein  paar  Löffel  Mehl  werden  in  Butter  geröstet,  kaltes  Wasser  aufgegossen  und 
zum  Kochen  gebracht.  Unterdessen  wird  hartes  Schwarzbrod  gegrambelt  (klein  gehackt)  in 
eine  Schüssel  gethan,  die  glühende  Suppe  darüber  gegossen  und  zugedeckt,  bis  das  Brod 
etwas  erweicht  ist. 


48  Behsener: 

Die  Bestandteile  fast  aller  Speisen  sind:  Mehl,  Milch,  Topfen  (weisser 
Käse),  Butter,  Butterschmalz;  hartes  Roggenbrod,  Weissbrod,  das  Knödel- 
zeug  (feingeschnittener  Speck  und  Würste)  und  Eier;  als  Zuspeise  Sauer- 
kraut, Kresse  und  Salat,  als  Würze  Schnitz  (Schnittlauch)  und  Knofel 
(Knoblauch).  Erdäpfel,  auch  Grundbirnen  genannt,  bilden  ein  Extraessen 
zum  Neunern,  dem  Frühstück  um  9  Uhr,  oder  zum  Rändel  (Märende)  um 
3  Uhr  nachmittags.  Als  Getränk  dient  neben  dem  Wasser,  was  immer 
frisch  vom  Brunnen  seiu  muss,  abgerahmte  süsse  oder  saure  Milch. 

Das  Mus  muss  eine  Stunde  kochen,  eine  Stunde  kühlen  und  eine  hilft 
es1).  In  dreierlei  Fällen  kann  man  der  Suppe  durch  Wasser  helfen:  wenn 
sie  zu  heiss,  zu  dick  oder  zu  rass  (salzig)  ist.  Der  Butter  und  das  Butter- 
schmalz macht  nicht  fett,  sondern  stark.  Zu  einem  Knödelzeug  für  die 
Narbigen  (die  Armen),  sagen  manche,  sei  das  Wild  erschaffen:  jetzt  stehlen 
es  die  Reichen  den  Armen!  Die  Knödel  müssen  mit  der  Kelle,  ohne  den 
Teig  mit  der  Hand  zu  berühren,  geformt  werden,  und  die  Köchin,  welche 
das  nicht  thut,  die  Knödel  nicht  rund  macht,  kommt  nicht  zum  Heiraten. 
Das  Sauerkraut  ist  gesotten,  wann  die  Köchin  will.  Nur  noch  fein- 
geschnittenen und  in  Butter  gebräunten  Knofel  giesst  sie  darüber. 

Mit  weittöneuder  Stimme  ruft  die  Bäuerin  die  Leute  zum  Essen, 
arbeiten  sie  in  der  Nähe.  Sie  ruft  sie  bei  Namen  und  lässt  diese  in  den 
alten  Laut  „6"  ausklingen:  „Seppö,  Loisö,  Maidlö,  Rosö,  Mario!"  Die 
Antwort  ist  „hö!". 

Eine  andere  klopft  mit  einem  Stück  Holz  auf  den  Boden  der  um- 
gekehrten Milchmelters.  Arbeiten  die  Hausgenossen  weiter  ab,  etwa  im 
gegenüber  befindlichen  Bergwalde,  so  wird  ein  helles  Kleidungsstück  auf 
den  Söller  gehängt,  zum  Zeichen,  dass  sie  kommen  sollen.  Sind  alle  in 
der  getäfelten  Stube  versammelt,  so  wird  die  Kost  mitten  auf  den  vier- 
eckigen Tisch,  wo  eine  Schiefertafel  eingelegt  ist,  gestellt.  Das  Gebet 
beginnt,  bei  dem  jeder  entblössten  Hauptes  steht.  Man  setzt  sich  auf  die 
um  die  Wand  laufende  Bank  und  nimmt  nötigenfalls  Vorbänke  zu  Hilfe. 
Die  Löffel  der  Hausleute  liegen  bereit,  Fremde  ziehen  die  ihrigen  aus  der 
Tasche  oder  greifen  nach  denen,  die  an  der  Wand,  hinter  dem  Kreuze  des 
Herrgotts,  neben  Kornähren,  Kolben  von  türkischem  Weizen,  einem  Ölzweig, 
auch  wohl  einem  wichtigen  Papiere  stecken. 

Über  dem  Tische  hängt  eine  aus  Holz  geschnitzte  Taube  —  der  heilige 
Geist  —  er  muss  ,oergehängt'  sein  und  zwar  etwas  lose,  damit  er  sich 
bewegen  kann.  Unserer  muss  nicht  genug  ,geweicht'  sein,  dass  er  sich 
nicht  bewegt.  Die  Essschüssel  oder  Pfanne,  für  welch  letztere  dass  Pfann- 
brett mit  einer  Vorrichtung  zum  Halten  des  Stiels  untergelegt  wird,  darf 
nicht  aus  der  Mitte  gerückt,  auch  wenn  Gäste  da  sind,  welche  mitessen, 
nicht  diesen  zugeschoben  werden.    Es  wäre  eine  Beleidigung  für  die  andern. 


1)    (1.  h.  os  ist  mühsam  zu  machen  und  wenig  nahrhaft. 


Au:?  Gossensass.    Arbeit  und  Brauch  in  Haus,  Feld.  Wald  und  Alm.  4i» 

Jeder  muss  an  seinem  Ort  (der  ihm  zugekehrten  Stelle)  das  Essen  aus  der 
Schüssel  schöpfen,  den  Brei  dort  sauber  ausessen.  Nach  dem  Essen  ■wird 
wieder  gebetet,  am  längsten  nach  dem  Nachtmahl.  — 

Yon  kleinen  Orten  bei  Sterzing,  die  sich  nicht  streng  au  die  Gebräuche 
kehren,  heisst  es: 

In  Gupp  essen  sie  das  Mus  vor  der  Supp  (sonst  umgekehrt), 

In  Guspenein  thun  sie  vor  dem  Vormessen  Zäun1). 

In  Gost  essen  sie  das  Mus  aus  einer  Knosp2), 

Und  in  Rust  ist  das  Essen  ein  G'lust. 
Jeden  Tag    ist    fünfmal    zu   kochen.     Am  Kirchtag  wird   den  ganzen 


'- 


Tag  ,geprestert'  (gekocht  und  gebraten).     Pasten-  oder  Schmalzkost  giebt 
es  am  Freitag,  Samstag  und  zu  Zeiten  auch  Mittwochs. 

Das  Fasten  wird  streng  gehalteu.  Den  Wastes-Tag  (St.  Sebastian) 
haben  manche  solange  gefastet,  bis  die  Stern  am  Himmel  blitzten.  "Wenn 
einer  lange  nichts  gegessen  hat,  sieht  er  die  Sterne. 

Ein  Mann  ist  auf  dem  Wege  über  den  Jaufen  verhungert.  Er  hat 
Speck  und  Fleisch  bei  sich  gehabt;  aber  sich  nicht  davon  zu  essen  getraut, 
weil  es  Freitag  war. 

An  den  Abenden  vor  grossen  Festen  werden  Krapfen  gebacken.  Ein 
Mann  bringt  die  schwere  Mägnstampfe  (Mohustampfe)  herbei  und  besorgt 
das  ,Magnnuiden"  (Zerreiben  des  Mohns).  Die  Hausfrau  bereitet  den 
Schotten3),  kocht  die  Kläzen  (Dörrbirnen)  und  schneidet  sie  fein  —  alles 
zu  einer  Fülle  für  die  Krapfen. 

Im  übrigen  isst  man,  danach  man  arbeitet.  Für  Feldarbeiter  nur  einen 
lautern  Kaffee  zu  Neunern  thut's  nicht. 

Supp  und  Kraut  schlagt  uit  gar  laut, 

Aber  Nudeln  und  Nocken4)  thäten  ehnder  glocken. 

Ein  Bauer  und  sein  Knecht,  das  Reck  Josele,  führten  Heu.  Zu  Mittag 
erhielten  sie  Suppe  und  Mus  und  der  Bauer  ausserdem  noch  Nocken.  Als 
sie  nachher  bei  der  Arbeit  waren,  das  Heu  aufzuladen,  hörte  der  Knecht 
plötzlich  auf  und  sagte  zu  dem  erstaunten  Herrn:  Supp  und  Mus  haben 
ausgelassen,  jetzt,  Nocken  hebet6)! 

Ist  der  sorgfältig  gepflegte  Fäcken  (das  Schwein)  geschlachtet  oder 
ein  Lampl,  so  giebt  es  ausnahmsweise  auch  eine  saure  Suppe,  Beuschl  von 
der  Wampe  und  ein  Geröstel  von  Herz  und  Lunge. 

„Die  Lungl  im  Hafen  und  die  Liebe  im  Hause  lässt  sich  nicht  ver- 
bergen!" — 


1)  Wie  Gärten  und  Wiesen  umzäunt  sind;  verstärkter  Ausdruck  des  Ungehörigen. 

2)  Grosser  Holzschuh,  mit  dem  man  in  den  Stall  geht. 

3)  Schwach  saure  über  Feuer  geronnene  Milch. 

4)  Kleine  Mehlklösse,  nach  dem  Kochen  in  Butter  gedünstet. 

5)  Mein?  Kraft  ist   zu  Ende,  jetzt   arbeite  du  mit  der  weiter,   die  du  vom  Exrra- 
essen  hast. 

Zeitechrift  u.  Vereins  f.  Volkskunde.   1893.  4 


50  Rehsener: 

Nicht  nur  die  armen  Seelen  der  Verstorbenen  halten  sich  in  der  Nähe 
des  Herdes  auf.  Gefruindete  und  Fremde  suchen  hier  die  Bäuerin  hoam, 
wenn  sie  zukehren  und  setzen  sich  auf  den  Herdrand,  während  sie  ihnen 
einen  Kaffee  wärmt. 

Auch  Glück  oder  Unglück  meldet  sich  hier  an.  „Lässt  sich  das 
Herdschmiedl  (Heimchen)  hören,  so  bringt  es  dem  Hause  Glück!"  Das 
Seltene  wird  freudig  begrüsst,  dagegen  erregt  das  Aussergewöhnliche  Be- 
sorgnis: „Lässt  sich  die  Herdhenne  (eine  weisse  Maus)  sehen,  so  giebt 
es  Unglück!"  — 

Die  Köchin  aber,  welche  sich  beim  Kochen  das  Gesicht  schwarz  ge- 
macht hat,  wird  geneckt,  sie  habe  die  Kuchl  gesperrt,  es  könne  niemand 
eini  gehn. 

Vor  den  Menschen  werden  die  Tiere  besorgt.  Alle  Tiere  sind  ihm 
.zu  einem  Nutzen1  erschaffen  und  Unsre  Frau  hat  auch  für  sie  gebeten. 
Als  der  Herr  die  Ähren  ausstreichen  wollte  —  früher  sollen  sie  länger 
gewesen  sein  und  mehr  Körner  enthalten  haben  als  jetzt  -  -  hat  Unsre 
Frau  gebeten,  etwas  solle  er  darin  lassen  für  Katzen  und  Hunde. 

Hat  die  Moine  (Name  fast  aller  Katzen)  nur  einmal  aus  ihrem  Troge 
Milch  geschleckt,  so  steht  sie,  wenn  gemolken  wird,  daneben,  die  frisch 
gemolkene  zu  empfangen.  Die  muss  sie  haben,  denn  sie  kommt  beim 
Fangen   der  Mäuse  und  Ratten  leicht  an  giftiges  Zeug. 

Kühe,  Schafe  und  Sehweine  sind  angehängt  und  eingesperrt;  ihnen 
muss  alle  Nahrung,  dreimal  täglich,  zugetragen  werden.  Zuerst  der  Busche, 
dann  die  Abbrühe,  Lecke  und  die  Tränke,  das  Gespule  und  die  Jutte 
(Molken).  Die  Kühe,  das  ist  ein  feines  Vieh,  wenn  man  danach  thut, 
tragen  sie  etwas! 

Die  Fremden  meinen,  mau  kann  die  Milch  nur  so  hernehmen,  o  woll! 

Wir  haben  eine  Kuh,  erzählte  die  Wild-Maidl,  die  lässt  kein  Weibis 
zum  Melken  zu  —  sie  ist  allm  von  einem  Löter  gemolken  worden  — ;  der 
Bruder  muss  sie  melken.  Als  er  nicht  da  war,  hat  die  Mutter  ihr  den 
Kopf  gehebt  (gehalten),  die  Mene  (Philomene)  den  Bauch  gekrahlt  und 
ich  habe  sie  gemolken.  Geschlagen  hat  sie;  wir  haben  ihr  eine  Stange 
hinter  den  Fuss  gehalten  —  o,  uns  ist  alles  eingefallen  —  aber  es  half  nichts. 

Warum  wollen  Sie  noch  eine  zweite  Kuh  kaufen?  fragte  ich  gelegent- 
lich. „Eine  im  Stall  derfriert  ja  und  es  ist  ihr  so  viel  der  Weil  lang! 
Mit  Vieh  umzugehen,  dafür  haben  Sie  nicht  den  Verstand  und  ich  hann 
Sorge,  Sie  lernen  es  nie." 

Wenn  der  Bauer  kein  Vieh  mehr  haben  kann  —  wo  nimmt  er  den 
.Mist  her  für  die  Felder?  und  wenn  nichts  wachst  —  wo  nimmt  er  die 
Nahrung  her  für  die  Ehehalten?    Er  ist  fertig!  — 

Die  Lampl  müssen  warten,  bis  ihnen  einer  ein  Maul  voll  giebt. 
während  für  den  Fäcken  alle  paar  Tage  noch  ein  grosser  Kessel  mit  Rüben, 
Erdäpfel  und  Kobis  gekocht  wird. 


\ns  Gossensass.    Arbeit  und  Brauch  in  Haus.  Feld.  Wald  und  Alm.  51 

Eine  Frau  schnitt  immer,  wenn  sie  Speck  brauchte,  ein  Stück  von 
ihrem  ,lendigen'  (lebendigen)  Fdcken  ab  und  mästete  ihn  dann  weiter. 

Eine  andere  kam  zum  Metzger  bitten,  ihr  doch  ihr  Fackel  (Schwein- 
chen) abzustechen.  Er  schickte  den  Burschen,  aber  als  der  das  Schwein 
sah,  getraute  er  sich  nicht  zuzugehen,  so  gross  war  es.  Er  ging  heim  und 
schickte  den  starkem  Gesellen.  Audi  der  getraute  sich  nicht  zu.  Endlich 
musste  der  Schaffer  selber  gehen;  der  stach  es  ab  und  —  da  wog  das 
Fackel  —  des  Weibis  .Huisterle'  (Schmeichelname)  —  sieben  Centner.  - 
Noch  ein  anderes  war  so  feist  geworden,  dass  es  sich  ganlicht  mehr  rühren 
konnte,  da  frassen  es  die  Ratten  und  die  Mäuse. 

Die  Hennen  aber,  das  ist  ein  mühselig  Kunter;  doch  wohl  jedem 
schmecken  die  Knödel  besser,  wenn  ein  Ei  darin  ist:  die  Eier  ,wuchenr 
(gehen  auf). 

Aus  ihrem  Käfig  dürfen  die  Hühner  vor  das  Haus  in  die  Sonne  gehen 
und  in  den  Stall  zum  Eierlegen.  Im  Winter  nur  das  Letztere.  Dann 
heisst  es:  „Es  hat  oergeschuieben,  Hennen!  Jetzt  ist  es  nichts  mehr  in 
der  Weite,  das  wisst  ihr  auch  selbst:  dort  holt  ihr  euch  kalte  Füsse  und 
dann  hört  das  Eierlegen  auf.'; 

Es  hat  etwas  Wildes,  wenn  die  Frau  mit  dem  Besen  die  Hennenstiege 
auskehrt  und  die  Hühner  schreiend  zwischen  dem  Feuer  und  der  Wand 
ihren  Weg  suchen.  Die  Frau  nennt  das  Schreien  Singen  und  unsere  ruft 
die  Pulen  alle  bei  Namen:  „Königin,  Putze.  Ploderappele.  Buhi,  toller 
Tonige  u.  s.  w.  Ihr  zwei  letzten  seht  ja  aus  wie  ein  abgebranntes  Dorf! 
Hast  Du  eine  Sprache  wie  ein  wilder  Mann!  Eine  jede  hat  eine  andere 
Sprache!"  —  Selten  wird  ein  Huhne  (Hahn)  gehalten. 

Bevor  es  völlig  dunkel  wird,  geht  man  zunachten  in  den  Stall,  noch- 
mals nach  dem  Vieh  zu  sehen.  Ist  der  letzte  Gang  in  die  Küche  gethan. 
so  besprengen  sich  die  Leute  mit  Weihwasser  und  verlassen  mit  den 
Worten  Gelobt  sei  Jesus  Christ  die  grosse  Stube,  um  in  einer,  meist 
oben  gelegenen  Kammer,  zur  Ruhe  zu  gehen. 


Die  Reinhaltung  des  Hauses  ist  nur  bis  zum  gewissen  Grade  möglich, 
da  die  Ställe  auch  in  den  Hausgang  münden  und  die  Hennen  hier  durch- 
laufen müssen.  Zwischenein  wird  gekehrt.  Nuie  Besen  kehren  gut  und 
die  alten  wissen  die  Winkel.  —  Das  Ausdüngen  der  Ställe  wird  besorgt, 
wenn  keine  andere  Arbeit  von  Männern  besorgt  werden  kann,  wenn  es 
z.  B.  regnet.  * 

Der  Hansl,  ein  Knecht  aus  dem  Janfenthal,  hat  es  allm  mit  der 
Säubrigkeit  und  Schönheit  gehabt  —  nicht  hingesetzt  hat  er  sich,  ohne  ein 
Sacktüchel  unterzubreiten  — :  doch  da  ist  eine  Frau  aus  seinem  Thal  ge- 
kommen, die  wusste  es.  dass  seine  Eltern  aufgehaust  hatten,  und  als  der 
Hansl  wieder  mit  der  Säubrigkeit  anhub,  sagte  sie  nur-: 

4* 


52  Rehsener: 

„Mit  Spülen  und  Reiben  thut  man  keine  Gelder  vertreiben!"  (wenn 
sie  sauber  gewesen  wären,  hätten  sie  das  Ihrige  nicht  verloren.)  Da  hat 
er  es  gehabt  und  war  ein  Frieden. 


Die  grössern  Hausarbeiten  beginnen  erst,  wenn  die  Feldarbeit  aufhört. 

Dann  wird  Kraut  (Kabis,  Weisskohl)  eingestossen,  aber  dabei  oft  das 
Salz  gespart,  und  Brod  gebacken,  was  erst  im  Frühling  wieder  geschieht. 
Das  Getreide  wird  gedroschen.  Wer  den  letzten  Schlag  gethan,  wird  ge- 
foppt. Tote  Mäuse  sollen  sie  einem  solchen  sogar  in  die  Taschen  gesteckt 
haben.  Schliesslich  werden  die  Spinnräder  herbeigebracht  und  es  wird 
fürs  Gewand  gesorgt. 

Wer  am  Tage  des  Brodbackens  im  Hause  ist  oder  ins  Haus  kommt, 
erhält  ein  Loab  (Laib). 

Ein  Mann  hatte  viele  Kinder,  und  als  er  im  Herbst  Brod  backte, 
kamen  auch  viele  Leute  ins  Haus;  aber  er  gab  jedem  ein  ganzes  Brod. 
Eins  seiner  Kinder  beobachtete,  wie  schnell  die  Loabl  verschwanden  und 
sagte  zu  ihm:  „Vater,  wenn  Du  es  so  machst,  werden  wir  bald  kein  Brod 
mehr  haben!"  —  „Das  wollen  wir  doch  erst  sehen!"  erwiderte  ihm  der 
Vater  und  schrieb  sich  den  Tag  auf.  Nachher  hatten  sie  noch  nie  so  lange 
mit  dem  Brod  gereicht,  wie  dieses  Mal. 

Die  kleinen  Loabl  werden  in  luftiger  Kammer  in  den  Rühmen 
(Rahmen,  hölzernem  Gestelle)  aufgehoben.  Das  Brod  wird  hart  wie  Schiffs- 
zwieback, aber  nicht  schimmelig. 


Wenn  die  Leut  alles  für  den  Kaffeetisch  und  fürs  Wirtshaus  ver- 
wenden, da  bleibt  ihnen  nichts  zu  einem  ehrlichen  Gewand  (ohne  Riss 
und  Fleck).     Das  Maul  muss  nicht  alles  haben! 

Da  ist  das  rupfene  Zeug  (von  Hanf)  zu  besorgen.  Die  harbenen  Pfäten 
(Frauenhemde  aus  Flachsgespinnst,  ohne  Ärmel),  der  Schalk  (sehr  kurze 
Leineujacke  mit  Ärmel)  und  der  wollene  Kittel  (Frauenrock). 

Handwerker  gehen  auf  die  Star  (Stör),  d.  h.  arbeiten  in  den  Bauern- 
häusern . 

Grosse  Wäsche  findet,  wie  das  Brodbacken,  nur  zweimal  im  Jahre 
statt.  Sieben-  bis  achtmal  wird  das  Gewand  gesechtnet  (gesechtelt),  d.  h. 
es  wird  über  die  Wäsche,  die  in  einen  Holzzuber  gepackt  ist,  durch  ein 
Aschentuch  kochende  Aschlauge  gegossen,  die  durch  ein  Spundloch  ab- 
fliesst;  dann  wird  die  Wäsche  wie  überall  behandelt. 

Von  der  früheren  Tracht  der  Leute  haben  sich  nur  noch  wenige 
vollständige  Exemplare  erhalten.  Unsere  Wirtin  hat  noch  ihr  bäuerisches 
Gewand  und  legte  es,  damit  wir  es  sehen  konnten,  an.     Ein  junger  Mann 


Aus  Gossensass.     Arbeit  und  Brauch  in  Haus,  Fehl,  Wald  und  Alm.  53 

o-ab  auch  das  Gewand  der  verstorbenen  Mutter  nicht  her,  sondern  hing  es 
in  eine  Kammer  an  den  Nagel.  Dort  hat  es  solange  gehangen,  bis  es 
verrottet  war  und  von  selbst  vom  Nagel  gefallen  ist.  Es  ist  unfassbar,  wie 
die  Frauen  in  dem  faltenreichen,  schweren  Rock  sich  bewegen  und  arbeiten 
konnten;  merkwürdig  ist  die  heisse,  hohe  Kappe. 

Die  Männer  hatten  früher  den  ,weitfliegigen'  breitkrämpigen  Hut,  ferner 
Kniehösler,  weisse  oder  ,bläwe'  Strümpfe  und  Schnallenschuhe.  Die  Geist- 
lichen trugen  alle  rote  Strümpfe,  jetzt  müssen  sie  klagen  (schwarz  gehen), 
weil  der  Kaiser  die  heiligen  Länder  (Jerusalem)  verspielt  hat1). 

Bei  den  engen  Kniehosen  der  Männer  war  der  Geldbeutel  in  der 
Tasche  auch  äusserlich  bemerkbar,  wenn  er  recht  gefüllt  war,  und  musste 
der  obere  Rand  der  Tasche,  in  der  er  getragen  wurde,  wollte  ein  Bauer 
fein  sein,  immer  etwas  schadhaft,  wie  von  vielem  Gebrauche,  sich  zeigen. 
Ein  Knecht  hat  beim  Metzger  sogar  einmal  den  vollen  Geldbeutel  hervor- 
gezogen, auf  die  Wagschale  geworfen  und  wiegen  lassen. 

Als  Schmuck  ist  den  jetzigen  Frauen  nur  noch  das  bunte  Halstuch 
und  die  farbige  Schürze  geblieben.  Die  jungen  Männer  tragen  au  Fest- 
tagen und  wenn  sie  in  die  Kirche  gehen,  neben  Spielhahnfedern,  Gems- 
bart, Edelweiss  und  Hawerraute,  gern  die  hochrote  Nelke.  Doch  manche 
Geistliche  eifern  dawider,  nennen  es  den  Hochmut  in  die  Kirche  tragen; 
aber  die  Burschen  lassen  sich  diesen  Schmuck  nicht  nehmen.  Einer  hat 
gar  gesagt,  für  den  Diebstahl  eines  Nagele3)  giebt  nicht  jeder  Herr  Ab- 
solution.    Jetzt,  ob  es  so  ist,  weiss  ich  nicht. 


Will  man  in  ein  Haus  eintreten,  so  gehört  sich's  zur  Hausthüre  zu 
gehen;  doch  ist  diese  selbst  bei  Tage  nicht  immer  offen.  Samstags  wohl, 
denn  am  Samstag  soll  man,  weil  au  ihm  Unsere  Frau  geboren  ist,  die 
Vergelts-Gottl  (den  Dank  für  Almosen)  nicht  aussen  sperren.  Vom  Bettler 
erhält  man  so  immer  mehr  als  man  giebt.  Aber  während  des  Gottes- 
dienstes bleibt  das  Haus  geschlossen.  Es  soll  zwar  verboten  sein,  zu  der 
Zeit  zu  betteln;  doch  da  nur  die  Kranken  und  Schwachen  von  der  Kirche 
zurückbleiben,  könnten  diese  sich  eines  Eindringlings  nicht  derwehren3). 
Gegen  nächtliches  Einsteigen,  z.  B.  der  Buabn  beim  Feusterln,  schützen 
die  Eisenspäne  (Gitter). 

Yerlässt  jemand  auf  länger  das  Haus,  so  besprengt  er  sich  mit  Weih- 
brunn (Weihwasser). 

Wir  waren  in  einer  der  ärmsten  Hütten,  als  ein  blühendes  Mädchen, 
welches  eben  als  Sennerin  auf  die  Alm  gehen  wollte,  in  die  grosse  Stube 


1)  Vielleicht  ist  die  weltliche  Herrschaft  des  Papstes  damit  gemeint. 

2)  Die  Nelkenstöcke  haben  ihren  Platz  auf  dem  luftigen  Söller,    über   dessen  Rand 
die  weithiu  sichtbaren  Blüten  herabhängen. 

3)  Bleibt  ein  Fremder  zur  Nacht,    so  liegt  er  auf  dem  Ofen.    Der  Raum  zwischen 
diesem  und  der  Wand  heisst  die  Hei  nicht  Höll! 


54  Rehsener: 

trat.  „Ich  bitt  um's  G'leit,"  sagte  sie  und  ging  auf  die  92jährige  Gross- 
mutter zu.  Mühsam  stand  die  Alte  auf,  wankte  zum  Weihbrunnkessel 
und  besprengte  die  Gitsche  damit,  worauf  diese  wieder  die  Stube  verliess. 


Die  Geistlichen  haben  ihre  gute  Stube,  in  der  auch  Amtshandlungen 
verrichtet  werden. 

Als  ein  Bauer  aus  der  Nähe  von  Gasteig  (bei  Sterzing)  seinen  Bruder, 
der  Pfarrer  im  Unterland  geworden,  dort  besuchte,  führte  ihn  der  in  die 
gute  Stube.  Und  der  Bauer  fand  die  so  schön,  dass,  als  er  später  in  der 
Heimat  davon  erzählte,  er  hinzufügte,  wenn  es  im  Himmel  noch  schöner 
wäre  als  in  der  Stube,  dann  getraue  er  sich  nicht  eini  zu  gehen. 

Von  seinem  Hause  bekommt  der  Besitzer  oft  den  Namen:  „Das  ist 
der,  den  wir  von  Haus  aus  haben."  Es  knüpft  sich  Holz-  und  Wasser- 
berechtigung an  das  Haus;  ja  Einzelnen  gewährt  es  noch  das  Recht,  bei 
Umgängen  (Processionen)  einen  Altar  vor  der  Thüre  aufstellen  zu  dürfen. 

Als  wir  an  einem  Blutstage  (Erohnleichnam)  den  reichen  Altar  vor 
dem  Rosen-Gasthaus  betrachteten,  trat  der  Wirt  zu  uns  und  sagte:  „Der 
ganze  Aufbau  gehört  nicht  mein,  sondern  meinem  Hause.  Alles  wird  in 
eine  grosse  Kiste  verpackt  und  so  aufgehoben.  Verkaufe  ich  das  Haus 
und  ziehe  aus,  so  bleibt  der  Altar  im  Hause  zurück." 

Früher    hat    die  Mutter    die  Kinder    die  Gebete    und  Fragen  für  die 
Beichte  gelehrt,  „jetzt,"  sagte  eine  junge  Frau,  „könnte  sie  es  nicht  mehr, 
denn  es  wäre  anders."  —  „Und  doch,  sagen  sie,  es  wäre  der  gleiche  Gott  - 
der  alte!    Da  werden  ihm,   denke   ich,    doch   auch  die  alten  Gebete  recht 
sein!"  — 

Die  Kinder  ihrizen  die  Eltern  -  sagen,  weil  es  feiner  ist  ö-s  (Dir)  statt 
du  zu  ihnen.  Die  Wörter  ,Himmels-Tatta'  (Vater)  und  ,Himmelsmammele' 
lernen  sie  früh  und  recken  die  kleinen  Hände  in  die  Höhe  oder  strecken 
sie  nach  den  bunten  Bildern  der  Wände  aus. 


Das  Haus,  nicht  der  Ort  ist  dem  darin  Geborenen  die  Heimat. 

Setzt  sich  der  Vater  zur  Ruhe,  so  wird  der  älteste  Sohn  der  Schaffer 
und  der  ist  auch  der  Erbe  des  Hofes,  die  jüngeren  Brüder  bleiben  darauf 
und  dienen  ihm  als  Knechte;  nur  wenn  ausserdem  noch  Vermögen  vor- 
handen ist,  wird  dieses  an  alle  Geschwister  verteilt.  Sind  die  Kinder  noch 
minderjährig,  hat  bis  zu  ihrer  Volljährigkeit  der  Gerhäb  (Vormund) 
darüber  zu  wachen,  dass  nichts  von  ihrem  unbeweglichen  Eigenthum  ver- 
kauft wird. 

Steht  ein  Kapital  auf  einem  Hause  und  zahlt  der  Besitzer  die  Zinsen 
dem  Gläubiger  richtig  auf  den  Tisch,  so  ist  es  früher  der  Brauch  gewesen, 
etwas  von  dem  Gelde  zurückzuschieben. 


Aus  Gossensass.    Arbeit  und  Brauch  in  Haus.  Feld,  Wald  und  Alm.  55 

Ein  jüngerer  Bruder  musste  wegen  Ungehörigkeiten  die  .Hoamit'  ver- 
lassen; er  zog  nur  vom  Giggelberge  nach  Steckholz  herab,  keine  'zwei 
Stund  weit,  dort  wurde  er  krank  und  starb,  und  —  ein  Viehdoktor  hat 
gesagt,  er  habe  die  Hoamkrankheit  gehabt. 

„Uiisre  Nandl  (Grossmutter),"  sagte  unsre  alte  Bäuerin,  „hat  ihre 
Heimat  .ogelöst',  ,d erlöst'.  Das  war  eine  andre  Zeit,  verstehen  Sie,  da 
hat  man  den  Rückkauf  der  Heimat,  wenn  sie  in  fremde  Hände  über- 
gegangen war,  so  genannt." 

Die  Zenze  hütet  ihr  Haus,  dass  ihr  die  Schwester  verheissen  und  ge- 
schaffen hat,  uud  sorgt,  dass  geschieht,  was  geschehen  muss.  Wie  sie  es 
will,  ist  es  allm  der  Brauch  gewesen  und  verstehn  es  auch  die  Andern  zu 
thun.  Und  so  sagte  sie  im  Bewusstsein  ihres  nicht  mehr  fernen  Todes  zu 
uns:  „Wenn  ich  sterbe,  bin  ich  sicher,  dass  meine  Arbeit  nicht  unterwegs 
bleibt;  wie  es  mit  Ihnen  Ihrer  ist,  weiss  ich  nicht!"  — 


Zur  Mythendeutung. 

Von  K.  Bruchmann. 


Den  eingefleischten  Mythologen  wird  von  ihren  Gegnern  wrohl  haupt- 
sächlich ein  Zuviel  an  Phantasie  vorgeworfen,  während  diese  bei  jenen 
zu  wenig  Psychologie  vermuten  werden.  Der  „primitive"  Mensch,  so 
heisst  es,  soll  sich  um  den  Himmel  gekümmert  haben,  so  dass  er  sich  zu 
einer  Poeterei  veranlasst  fand,  wie  sie  z.  B.  stellenweise  im  Rig-Veda 
vorliegt?  das  widerspricht  dem  Begriff  des  primitiven  Menschen  und  der 
Anschauung,  die  wir  von  seiner  Lebensweise  gewonnen  haben.  Aber 
gerade  weil  sich  das  Wort  „primitiv"  nicht  streug  definieren  oder  chrono- 
logisch abgrenzen  lässt,  hat  unter  seinen  breiten  Fittigen  viel  Platz. 
Vielleicht  avancieren  wir  selbst  einmal  im  Laufe  der  Zeiten  zu  der 
interessanten  Species  der  Primitiven,  während  jetzt  dafür  jene  Menschen 
gelten,  auf  deren  geistiges  Leben  wTir  Schlüsse  ziehen  aus  Resten  (besonders 
der  Sprache),  welche  erst  seit  einigen  tausend  Jahren  fixiert  sind.  Primitiv 
hat  nur  diesen  relativen  Sinn,  dass  es  zeitlich  uud  inhaltlich  vor  uns  war 
und  eine  Stufe  des  Denkens  bezeichnet,  über  welche  wir  durch  Kenntnis 
der  Thatsachen  und  kühle  Logik  hinaus  sind.  Aber  nichts  hindert,  eine 
lauge  Zeit  verflossen  zu  denken,  ehe  primitive  Menschen  mythologische 
Anwandlungen  bekommen  haben. 

Und  nun  die  Mythologie  selbst.  Der  radikale  Gegner  müsste  behaupten, 
dass  es  gar  keine  Mythen  giebt.  Weniger  grausam  wäre  es,  bloss  zu 
sehen,  dass  sie  falsch  gedeutet  werden.    Giebt  es  also  Mythen?    Oder  sind 


56  Bruchmann: 

jene  Erzählungen  nur  Werke  der  Dichter?  Mit  andern  Worten:  wodurch 
unterscheidet  sich  ein  Mythos  von  einer  dichterischen  Conception?  Dies 
wird  man,  je  nach  dem  psychologischen  Standpunkt,  verschieden  beant- 
worten. Die  Mythologen  werden  behaupten,  dass  die  Mythen  ein  Erzeugnis 
der  Gesamtheit  sind,  von  ihr  besessen,  geglaubt  und  fortgepflanzt  wurden. 
Poetische  Darstellungen  dagegen  gehen  auf  einzelne  Urheber  oder  Kreise 
von  Dichtern  zurück,  sind  nur  Gegenstand  poetischen  Glaubens  derjenigen, 
welchen  sie  bekannt  werden  und  pflanzen  sich  als  Litteratur-Erzeugnis 
fort,  nicht  wie  religiöse  Überzeugungen  des  Volkes,  wie  Sitten  und  Ge- 
bräuche. 

Geben  uns  nun  die  alten  Denkmäler  der  Litteratur  Anlass,  an  Mythen 
im  Sinne  der  Mythologie  zu  glauben?  Die  Völkerpsychologen  werden  es 
aus  mehreren  Gründen  bejahen.  Denn  die  Mythologie  ist  z.  B.  im  Rig- 
Veda  so  eng  mit  Religion  verbunden,  dass  sie  fast  damit  zusammenfällt 
und  Religion  (diese  Schrulle  wird  wohl  nur  noch  sehr  wenige  „historische" 
Anhänger  habeu)  ist  nicht  vom  Einzelnen  erfunden  und  durch  Überredung 
oder  List  der  Menge  beigebracht,  sondern  ein  Erzeugnis  der  Gesamtheit, 
welches  ihrem  Bedürfnis  ebenso  entspricht,  wie  z.  B.  die  Sitten,  die  ja 
zum  Teil  religiösen  Ursprung  haben.  Es  mag  sein,  dass  religiöse  Dichter 
die  Vorstellungen  von  Agni  bearbeitet  haben,  aber  als  Gegenstand  religiösen 
Gefühls  können  sie  ihn  mit  seinen  Haupteigenschaften  und  Thaten  nicht  er- 
funden oder  der  Menge  empfohlen  haben.  Ferner  sind  viele  Mythen  so 
wunderlich,  ja  absurd,  dass  es  jene  Dichter  unterschätzen  oder  die  Gläubig- 
keit des  primitiven  Menschen  überschätzen  hiesse,  wenn  man  annimmt,  er 
habe  infolge  dichterischer  Überredung  jene  Vorstellungen  seinem  religiösen 
Inventarium  einverleibt.  Wir  kommen  also  nicht  von  der  Vorstellung  los, 
dass  es  wirklich  Mythen  als  Erzeugnis  der  Gesamtheit  gegeben  hat. 

Ja  aber,  Ihr  deutet  sie  falsch.  Beweis:  Die  Mythologen  erklären  ver- 
schieden. Der  eine  sieht  lauter  Sonne,  der  andre  hört  nur  den  Wind 
rauschen,  ein  dritter  umnebelt  uns  mit  Wolkengebilden.  Ausserdem  noch 
zeigt  die  neuste,  ja  die  allerneuste  Etymologie,  dass  Eure  Wort- 
vergleichuugeu  sich  nicht  halten  lassen.  Folglich  ist  die  vergleichende 
Mythologie  Unsinn.  Also  wäre  auch  die  Psychologie  u.  s.  w.  Unsinn,  weil 
die  Erklärung  der  Phänomene  fortwährend  schwankt?  Weil  etwa  die 
geheimnisvoll-reichen  Leistungen  des  Muskelsinns  jetzt  ein  neues  Licht 
entzünden  sollen  oder  weil  mit  Hypnotisierung  und  Suggestion  operiert 
wird,  ist  die  ganze  Psychologie  in  Frage  gestellt?  Wer  das  will,  dem  sei 
das  unschuldige  Vergnügen  gegönnt.  Andere  dagegen  werden  sich  auf 
den  alten  Satz  berufen,  dass  eine  Sache  darum  nicht  schlecht  oder  unwahr 
ist,  weil  ihre  Beweise  schlecht  oder  nicht  allgemein  überzeugend  sind. 
Und  wenn  mythologische  Thatsachen  vorliegen,  so  ist  stetig,  mit  den 
wechselnden  Mitteln  der  Wissenschaft  (zu  denen  hoffentlich  auch  Psycho- 
logie   und  Logik    gehören)    die  Erklärung    zu    versuchen.     Wenu  es  also 


Zur  Mythendeutung.  57 

wirklich  Mythen  giebt  (wie  sie  oben  genannt  wurden),  so  giebt  es  Mytho- 
logie und  wenn  stammverwandte  Völker  und  solche,  die  es  nicht,  sind, 
Mythen  haben,  so  giebt  es  auch  eine  vergleichende  Mythologie. 

Aber  die  falschen  "Wortdeutungen!  Nun,  die  können  im  schlimmsten 
Falle  zu  falschen  Mythendeutungen  führen;  die  Deutung  selbst  als  Aufgabe 
bleibt  bestehen.  Ausserdem  ist  die  Etymologie  und  die  vergleichende 
Lautlehre  eine  Wissenschaft,  welche  stark  in  Fluss  (und  im  Schwange)  ist. 
Wenn  nun  —  man  erschrecke  nicht  —  es  uns  einmal  so  gehen  sollte,  wie 
es  Bopp  und  Schleicher  ergangen  ist  und  wie  es  noch  ergeht,  dass  mau  ihr 
Gewebe  auflöst,  wie  es  Penelope  mit  eigener  Mühe  that,  soll  man  dann 
aus  der  gegenwärtigen  Beleuchtung  der  Sache  so  sicher  auf  ihre  Unrichtig- 
keit schliessen,  selbst  wenn  die  inhaltliche  Ähnlichkeit  von  Mythen 
ihrem  Lautgewaude  zu  widersprechen  scheint?  Selbst  wenn  die  jetzt  an- 
genommenen Lautgesetze  das  zu  verbieten  scheinen,  so  bleibt  die  Frage, 
wie  haben  die  Menschen  diese  wunderlichen  Vorstellungen  entwickeln 
können  und  wie  kommt  es,  dass  sie  an  verschiedenen  Stellen  einander  so 
ähnlich  sind. 

Wie  sollen  denn  aber  Mythen  entstanden  sein?  Die  einfachste  An- 
nahme scheint  die:  wie  auch  sonst  die  meisten  Vorstellungen,  nämlich 
aus  Anschauung1),  aus  Beobachtung  der  Aussenwelt,  welche  oder  insofern 
sie  ein  besonderes  Interesse  eiuflösste.  Andre  lassen  sie  ganz  oder  mit- 
unter entstehen  aus  nicht  mehr  verstandenen  Worten  und  Erzählungen 
älterer  Überlieferung.  Dann  hätten  wir  Erdichtungen,  welche  gleichsam 
die  Lösung  des  in  der  Dunkelheit  der  Überlieferung  enthaltenen  Rätsels 
bilden.  Dann  wäre  vou  einem  eigentlichen  Naturmythus  nicht  mehr  zu 
reden.  Ein  drittes  ist  die  Kombinierung'  beider  Methoden,  welche  neuer- 
dings von  dem  französischen  Sprachforscher  V.  Henry3)  versucht  ist  in 
seiner  scharfsinnigen  und  geistreichen  Abhandlung  „Quelques  mythes 
naturalistes  meconnus,  Les  supplices  infernaux  de  l'antiquite"  (Paris, 
E.  Leroux,  1892.  24  S.  8°).  Danach  ist  auch  für  Henry  (worin  ich  ihm 
völlig  beistimme)  die  Naturanschauung  das  Erste.  Sie  krystallisiert  sich, 
wie  man  kurz  sagen  kann,  zu  einer  ganz  kleinen  Erzählung,  wie  dies 
ähnlich  einmal  von  Steiuthal3)  dargestellt  worden  ist.  Diese  kleine  Er- 
zählung wird  mit  der  Zeit  zum  Rätsel.  Nun  ist  es  ja  bekannt,  welche 
magische  Gewalt  solche  Rätsel  auf  unsere  frühen  Vorfahren  ausgeübt 
haben  und  wie  beliebt  sie  waren  (z.  B.  Rig-Veda  I.  164.  20;  Henry  p.  17). 
Dieses  Knochengerüst  eines  alten  volkstümlichen  Rätsels  formte  man,  wie 
mit  einer  schöpferischen  Apperception  von  atonistischer  Färbung,  zu  dem 


1)  Vgl.  meine   „Psychologischen  Studien  zur  Sprachgeschichte-   p.  103  f.  24  1'.  211  1'. 

2)  Vgl.  über  ihn  Zeitschi-,  f.  Völkerpsychologie  XIX,  324  f.  Im  Jahre  1892  erschien 
noch  von  ihm  Le  livre  VII  de  l'Atharva-Veda,  traduit  et  commente.  Paris,  Maisonneuve. 
132  S.  u.  X. 

3)  Zeitschr.  für  Völkerpsychologie  IX,  277. 


58  Bolte: 

lebensvolle)!  Körper  einer  Erzählung  um,  welche  als  Mythos  erscheint. 
Den  Stoff  zu  dieser  Inkarnation  nimmt  die  Phantasie  gelegentlich  auch 
aus  geschichtlichen  Vorgängen. 

So  erzählte  man  sich  z.  B.  zuerst  von  den  „Danaiden"'  natürliche  Dinge. 
dass  sie  den  Regen  wie  durch  ein  Sieb  aus  den  Wolken  fliessen  lassen 
(vgl.  Aristoph.  Wolken  V.  374).  Was  soll  es  aber  bedeuten,  dass  sie  fast 
alle  ihre  Männer  sogleich  nach  der  Vermählung  zu  Tode  bringen?  Wer 
ist  denn  jener  Mann  jeder  Danaide?  Nun,  es  könnte  der  Blitz  sein,  der 
sogleich  tot  ist  (wie  Schiller  sagt),  nachdem  er  sich  entladen  hat,  der  nur 
die  kurze  Vermählung  mit  der  Wolke  erlebt.  Daraus  habe  sich  all- 
mählich das  Rätsel  gbildet,  welches  hypothetisch  die  Form  hat:  cinquante 
femelles  humides  -  leurs  maris  meurent  le  jour  des  noces  —  elles  verseilt 
de  l'eau  dans  un  vase  perce.  Lösung:  les  nuees  —  les  eclairs  —  la  pluie. 
Henry  behandelt  ferner  Sisyphus,  Tantalus,  Tityus  mit  analoger  Methode. 
Darüber  hinaus  will  er  aber  seine  Parallelen  auch  lautlich  durch  A^er- 
gleichung  der  griechischen  Worte  mit  dem  Sanskrit  sichern,  was  den 
Sprachforschern  um  so  lieber  sein  wird,  als  Henry  mit  seiner  sprach- 
wissenschaftlichen Bildung  in  der  vordersten  Reihe  steht.  Indem  ich  die 
Abhandlung  dem  Leser  bestens  empfehle,  setze  ich  das  Schlusswort  des 
Verfassers  als  einen  Ausdruck  gemeinsamer  Überzeugung  hierher:  je  suis 
de  ceux  qui  pensent  qu'en  depit  des  inevitables  exagerations  du  principe 
d'interpretation  naturaliste,  ce  principe,  appuye  sur  la  comparaison  et  l'ety- 
mologie,  demeure  le  seul  solide  qu'  „on  y  reviendra." 

Berlin. 


Der  Schwank  von  den  drei  lispelnden  Schwestern. 

Von  Johannes  Bolte. 


In  Müllenhoffs  Sagen,  Märchen  und  Liedern  der  Herzogtümer 
Schleswig,  Holstein  und  Lauenburg  1845  S.  413  steht  ein  Schwank  von 
drei  schönen  Schwestern,  die  kein  Wort  richtig  aussprechen  können  und 
deshalb  von  ihrer  Mutter,  als  sich  ein  Freier  anmeldet,  den  strengen  Be- 
fehl des  Schweigens  erhalten.  Still  sitzen  sie  an  ihren  Spinnrädern,  während 
die  Mutter  dem  Freier  die  verschiedenen  Vorzüge  ihrer  Mädchen  anpreist. 
da  reisst  der  einen  der  Faden,  und  sie  ruft:  ,De  Daet  de  bikt'  (Der 
Draht  bricht).  Die  zweite  erwidert:  ,Tütt  em  an!'  (Knüpf  ihn  an), 
worauf  die  dritte  ärgerlich  sagt:  .Moder  sä.  wy  schullen  ni  päken 
(sprechen),  päek  all  dee!'  Der  Freier  ist  schnell  ernüchtert,  greift  nach 
seinem  Hut  und  lässt  sich  nicht  mehr  blicken. 


Der  Schwank  von  den  drei  lispelnden  Schwestern.  59 

Die  Geschichte  ist  weit  verbreitet.  Sirarock  (Deutsche  Märchen  1864 
Nr.  58)  hat  sie  nach  Müllenhoff  wiederholt,  und  auch  eine  kürzlich  von 
Antje  Carstens  in  der  Zeitschrift  Am  Urquell  3,  293  mitgeteilte  Fassung- 
aus Ditmarschen  stimmt  ganz  zu  Müllenhoffs  Wiedergabe.  In  einer  ebenda 
von  Anna  T reich el  erzählten  Variante  aus  Westpreussen  lauten  die  Aus- 
rufe der  Mädchen:  ,Itt  epeü'  und  , Nippe  an!',  wozu  die  dritte 
triumphierend  bemerkt:  ,  Bin  tille  gefiegen,  werd  'en  Manne 
krieeen'.  —  In  J.  Haltrichs  Deutschen  Volksmärchen  aus  dem  Sachsen- 
lande  in  Siebenbürgen,  4.  Aufl.  1885  Nr.  58  ist  der  heiratslustige  Bursche 
nicht  zugegen,  sondern  die  Mutter  hat  derjenigen  Tochter  einen  Mann  ver- 
sprochen, die  ein  Bund  Hanf  schweigend  abspinnen  würde.  Die  Äusse- 
rungen der  drei  Töchter  aber  sind  dieselben:  , Fäden  nätsch'  (=  knätsch, 
gerissen):  ,Näp  e  Nitschen  (=  Knidchen,  Knoten)  drun';  ,Ei  wol  geat. 
dät  ich  näst  deried  (geredet)  hun1)!' 

In  andern  Aufzeichnungen  ist  nicht  der  gerissene  Faden,  sondern  eine 
aber  die  Diele  laufende  Spinne  die  Veranlassung,  das  gebotene  Still- 
schweigen zu  brechen.  So  ruft  in  einer  pommerschen  Variante,  die  mir 
Fräulein  Hedwig  P.  erzählte,  die  älteste  Tochter:  ,Da  'itt  ne  'Pinne!' 
Die  andere  warnt:  ,Ei  doch  'tille!'  Und  die  dritte  äusserst  selbst- 
zufrieden: .Is  man  dut,  das  is  niss  desat  habe'.  —  In  der  zweiten 
von  A.  Treichel  a.  a.  O.  veröffentlichten  westpreussischen  Fassung  heisst 
es:  ,Eine  Pinne,  eine  Pinne!'  ,Man  tille,  man  tille!'  und  ,Man 
gut,  dass  ich  nicht  gepochen  habe'.  --  In  einer  ebenda  gedruckten 
polnischen  Erzählung  endlich  erregt  die  auf  den  Schrank  gesprungene  und 
von  der  Butter  naschende  Katze  den  Unwillen  des  einen  Mädchens  so  sehr, 
dass  sie  das  Gebot  der  Mutter  vergisst. 

Zu  diesen  jungen  Aufzeichnungen  aus  dem  Volksmunde  füge  ich  eine 
um  dreihundert  Jahre  ältere,  die  mir  kürzlich  in  einer  Meisterlieder- 
sammlung  des  Nürnberger  Schuhmachers  Georg  Hager  (Berliner  Mscr. 
germ.  quart  583,  Bl.  245  a)  aufstiess.  Leider  trägt  dies  Lied  vou  den  drei 
Bauerntöchtern  weder  einen  Autornamen  noch  ein  Datum,  doch  steht  es 
mitten  unter  Meistergesängen,  die  ums  Jahr  1550  entstanden  sind;  die 
Sammlung  Hagers  ist  1588  angelegt  und  bis  1617  fortgesetzt,  Man  wird 
aus  dem  nachstehenden  Abdrucke  die  völlige  Übereinstimmung  des  Meister- 
lk'des  mit  der  zuerst  angeführten  Gestalt  des  Volksschwankes  erkennen; 
nur  die  Schlussstrophe  macht  eine  etwas  dürftige  Nutzanwendung  auf  lästige 
Sangesgenossen  des  Verfassers. 

Auf  andere  von  den  Meistersängern,  insbesondere  Hans  Sachs,  be- 
handelte Schwank-  und  Märchenstoffe  einzugehen  behalte  ich  mir  für  ein 
anderes  Mal  vor. 


1)    Vgl.  nun  auch  Am  Urquell  III,  342  f. 


60  Bolte  : 


Die  drei  panren  dechter. 

Im  suessen  thon  Härders. 

1. 

Ein  peuerin  drei  döchter  hette, 
die  künden  doch  al  drei  nit  reden  wol, 
doch  weltens  reden  irner  zu, 
stacken  geschwetzes  vol. 

5  Ein  pauer  vrn  die  werben  dette, 

wolt  sie  al  drei  peschauen  an  dem  ort; 
verpot  in  ir  mutter,  ir  solt 
keine  reden  kein  wort. 

Als  die  heyrats  leut  in  die  stuben  kamen, 
10         saßen  die  drei  vor  dem  ofen  mit  namen 
vrmd  spnnnen  alle  samen: 
in  dem  der  eltsten  ir  faden  abprach, 
die  spindel  ir  ant  erden  fiel, 
sie  zu  ir  Schwester  sprach: 

2. 

15  ,Det,  mi  is  mein  faden  aplochen.' 

Das  hört  ir  Schwester,  wurd  schelig  daruon, 
sprach:  ,Was  sat,  das  e  plochen  is! 
so  klüpel  wide  an!' 

Die  drit  Schwester  die  sprach  mit  pochen: 
20        ,Ei  thun  ir  den  nit  peide  weigen  til? 
Ei  weigt,  das  euch  dots  nebe  sent1), 
de  mutte  sagen  will.' 

Als  die  heirats  leut  hörten  die  drei  hingen 
reden  mit  kindisch  vngelencken  zungen, 
25        sie  zu  der  thur  aus  trungen, 

vnd  wurd  aus  der  heirat  nicht  vberal. 
Daruon  kumpt  das  alt  Sprichwort, 
das  man  nach  saget  vilmal: 

3. 

Welcher  mensch  nich  wol  reden  kone. 
30        der  selbig  doch  imer  zu  reden  will: 
ob  es  im  gleich  vbel  an  steht, 
doch  acht  er  es  nit  vil. 

Dem  ist  auch  wol  zu  gleichen  schone 
ein  singer,  dem  es  auch  nit  wol  aus  gat, 
35         an  stim,  lieblicher  melodei 
ser  grossen  mangel  hat, 


1)    V.  21  bedeutet:  ,Ei  schweigt,  dass  euch  Gotts  Leben  [?]  schände!' 


Zu  dem  Märchen  von  den  sieben  Grafen.  61 

vmi  wil  doch  imer  pei  den  leuten  singen: 
so  pald  sie  dan  sein  stira  hören  erklingen, 
sie  zu  der  tür  aus  dringen. 
40        Ob  er  schon  singt  aus  meisterlicher  kunst, 
so  hat  man  doch  seines  gesangs 
weder  lieb,  freud  noch  gunst. 


Berlin. 


Zu  dem  Märchen  von  den  sieben  Grafen. 

(Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde  II,  S.  201  und  244.) 
Von  Johannes  Bolte. 


Zu  dem  hübschen,  von  H.  Carstens  mitgeteilten  Märchen  hat  schon 
Weinhokl  vier  verwandte  Fassungen  hei  Müllenhoff  (S.  586),  J.  W.  Wolf 
(Hausmärchen  S.  98),  W.  v.  Plönnies  (Ztschr.  f.  d.  Mythol.  2,  377)  und 
Curtze  (1860  S.  141)  nachgewiesen,  denen  man  noch  den  ,Mann  im  Pflug' 
bei  Simrock,  Deutsche  Märchen  1864  Nr.  4,  eine  pommersche  Aufzeichnung 
bei  U.  Jahn,  Jahrbuch  f.  niederd.  Sprachforschung  12,  158  (1887)  und  ,Die 
singende  Besenbinderstochter'  bei  Bartsch,  Sagen,  Märchen  und  Gebräuche 
aus  Mecklenburg  1879  1,  482  anreihen  kann.  Alle  diese  Erzählungen  von 
der  getreuen  Frau  wiederholen,  wie  gleichfalls  schon  von  Weinhold  be- 
merkt ist,  den  im  16.  Jahrhundert  durch  Lied  und  Prosaerzählung  ver- 
breiteten Stoff  des  Grafen  von  Rom  und  des  Alexander  von  Metz  uud 
stimmen  in  einer  auffallenden  Eigentümlichkeit  miteinander  überein;  es 
sind  nämlich  Liedstrophen,  oder  besser  gesagt  Arien,  in  den  prosaischen 
Text  eingestreut  und  den  Hauptpersonen,  der  als  Spielmann  verkleideten 
Frau  und  dem  Grafen  in  den  Mund  gelegt,  so  dass  der  Schluss  des 
Märchens  einen  dramatischen,  beinahe  opernhaften  Charakter  erhält. 
Plönnies  berichtet,  dass  im  Odenwalde  beim  Absingen  der  Strophen  die 
Zuhörer  als  Chor  einfielen. 

Woher  stammen  nun  diese  eingestreuten  Verse?  Haben  wir  daxin 
Überreste  einer  umfangreicheren  alten  Ballade  vor  uns,  wie  sie  Ulrich  Jahn 
für  ähnliche  Fälle  voraussetzt?  Dagegen  spricht  die  breite  Sentimentalität, 
die  uns  auf  das  18.  Jahrhundert,  frühestens  das  Ende  des  17.,  hinweist. 
Oder  stammen  die  Stellen  aus  einem  Drama  her? 

Wichtig  für  die  Entscheidung  dieser  Frage  ist  die  Thatsache,  dass  die 
Liedstrophen  sich  seit  dem  Anfange  des  19.  Jahrhunderts  in  fliegendeti 
Blättern  besonders  gedruckt  nachweisen  lassen.  Aus  der  ,Ganz  neuen 
Lust-Rose'  1807  Nr.  21  abgeschrieben  steht  der  Text  ,Was  fehlet  dir,  mein 


62  Boln: 

Herz,  dass  du  so  in  mir  schlagest?'  (14.  Str.)  in  einer  von  K.  T.  Heinze 
zusammengestellten  Volksliedersammlung  auf  der  Bonner  Universitäts- 
bibliothek S.  504  Nr.  6.  Andere  Druckblätter  linden  sich  in  verschiedenen 
Sammelbänden  der  Berliner  Kgl.  Bibliothek:  Yd  7905,  32,  3  und  58,  2. 
7908,  50,  4.  7909,  39,  5.  7911,  39,  3  und  4«.  5.  7912,  20,  3;  auch  in 
den  von  F.  A.  Cropp  gesammelten  Hamburger  Drehorgelliedern  2.  178  auf 
der  Bibliothek  des  Vereins  für  hamburgische  Geschichte.  Eine  kürzere 
Passung  von  sieben  Strophen  aus  der  Maingegend  mit  Melodie  gab  L.  Erk. 
Deutsche  Volkslieder  2,  1  Nr.  3  (1811)  =  Mittler  Nr.  784.  eine  dreistrophige 
mit  einer  schöneren  Weise  aus  Pommern  Birlinger  und  Crecelius,  Deutsche 
Lieder  1876  Seite  8.  Eine  neunstrophige  Variante  steht  bei  C.  Mündel, 
Elsässische  Volkslieder  1884  N.  81.  eine  vierzehnstrophige  aus  dem  Volks- 
munde mit  Hinzuziehung  eines  gedruckten  Textes  bei  v.  Ditfurth,  Deutsche 
Volks-  und  Gesellschaftslieder  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  1872  Nr.  32. 
Eine  Vergleiehung  dieser  verschiedenen  Texte  ergiebt,  dass  die  längsten 
unter  ihnen  die  ursprünglichen  sind,  und  dass  die  kürzeren  aus  jenen  durch 
Weglassung  der  Strophen  entstanden  sind,  in  denen  sich  bestimmte  Be- 
ziehungen auf  die  Geschichte  von  der  treuen  Frau  finden. 

Vgl.  z.  B.  Str.  9  in  Ditfurths  Abdruck : 

Ist  jetzund  das  mein  Lohn,  o  zeitliches  Verlangen, 
Dass  ich  so  weit  um  dich  wohl  übers  Meer  gegangen 
Und  habe  dich  erlöst  aus  Retten  und  aus  Band? 

Str.  10:       Kennst  du  den  Pilgrim  nicht,  dass  du  mich  so  vei 
Der  viel  gewagt  daran,  dass  du  nun  bist  erlöset 
Wohl  aus  der  Türken  Hand? 

Man  darf  also  nicht  denken,  dass  eine  allgemein  gehaltene  Liebesklage 
später  in  die  Erzählunng  von  der  treuen  Frau  übernommen  und  um- 
gemodelt und  vervollständigt  wurde,  sondern  die  Verse  sind  ursprünglich 
für  die  in  dieser  Geschichte  gegebene  Situation  gedichtet.  Andererseits 
sind  sie  für  sich  so  wenig  verständlich,  dass  sie  sicher  nicht  von  Anfang 
an  ein  selbständiges  Ganze  gebildet  haben,  sondern  aus  einer  grösseren 
Dichtung  entnommen  sind.  Berücksichtigt  man  das  Versmass,  die  regel- 
mässig zwischen  männlichem  und  weiblichem  Schlüsse  wechselnden 
Alexandrinerpaare,  so  liegt,  der  Schluss  ausserordentlich  nahe,  dass  ein 
Drama  des  18.  Jahrhunderts  die  Quelle  für  unser  Lied  abgegeben  habe. 

Leider  vermag  ich  nun  diese  vermutliche  Vorlage  nicht  nachzuweisen: 
doch  werden  wir  sehen,  dass  in  der  That  der  Stoff  des  Märchens  auf  der 
Bühne  der  früheren  Jahrhunderte  zu  wiederholten  Malen  Leben  gewann. 
Schon  der  Hamburger  Heinrich  Knaust  (c.  1520—1577)  schrieb  um  1550 
eine  ,t'omoedia  germanica  de  comite  proficiscente  Hierosolymam  ad  videndum 
sepulchrum  Christi,  capto  in  itinere  et  in  aratrum  subacto  a  Soldano  rege 
Aegypti.    die    uns    jedoch    nur    aus    seinem    eigenen    Verzeichnis    seiner 


Zn  dem  Märchen  von  den  sieben  Grafen.  (53 

gedruckten  Werke1)  bekannt  ist.  Und  1595  wurde  auf  der  Wilhelmsburg 
zu  Schmalkalden  eine  Komödie  vom  ,Grafen  Alexander  am  Pflug'  vor  dem 
Landgrafen  Moritz  von  Hessen  gespielt,  und  zwar  betrug  die  Zahl  der 
Darsteller  nur  zwei2). 

Im  17.  Jahrhundert  ward  eine  Umprägung  der  Erzählung,  die  der  be- 
gabte Jesuit  Jakob  Bidermann  (f  1639)  in  seiner  lateinischen  Sammlung 
Acroamatum  academicorum  libri  tres3)  veröffentlichte,  auch  für  die  Dramatiker 
massgebend.  Seine  Novelle,  die  den  Ritter  Bertulplms  und  seine  treue 
Gattin  Ansberta  taufte,  stellte  die  älteren  Versuche  Wolfgang  Bütners*) 
und  Jakob  Zannachs0)  in  den  Schatten  und  regte  die  Ordensbrüder  des 
Verfassers  wiederholt  zu  Bühnenbearbeitungen  an.  So  wurde  1652  in  Wien 
ein  Jesuitendrama  ,Bertulphus  durch  Ansberta  von  Ottomani  Gefängnuss 
.  .  .  erlöset',  1660  in  Neuburg  an  der  Donau  Jngeniosxis  amor,  tragico- 
comoedia.  Pertidfus  ingenio  et  arte  coniugis  Ansbertae  e  dira  barbarorum 
Servitute  et  gravi  aratri  iugo  in  libertatem  vindicatus'  uud  1667  wiederum  zu 
Wien  .Fides  coniugalis  sive  Ansberta  sui  coniugis  Bertulfi  e  dura  captivitate 
liberatrix  aufgeführt6).  Das  letztere  Stück,  von  dem  ein  vollständiger  Ab- 
druck ohne  Autornamen  aus  dem  Jahre  1667  vorliegt7),  rührt  von  dem 
Jesuiten  Nikolaus  Avancini  her  und  ist  später  in  seiner  Poesis  dramatica 
2,  253  —  359  (Coloniae  1675)  wiederholt  worden.  Ob  spätere  Jesuiten- 
aufführungen  auf  Avancini  zurückgehen,  habe  ich  noch  nicht  festgestellt: 
Tauberbischofsheim  1708,  Regensburg  1723  durch  Judas  Thaddäus  Holl, 
Luzern  1732  und  Fritzlar  1769s).  Auch  von  der  evangelischen  bürger- 
lichen Komödiantengesellschaft  zu  Biberach  wurde  1742  Bertulfus  und 
Ansberta  mit  einem  Nachspiel  von  dem  alten  Kaminfeger  (für  13  Personen) 
dargestellt9).  Als  eine  Nachwirkung  von  Bidermanns  Novelle  ist  es  ferner 
anzusehen,  dass  in  einem  Schauspiele,  dessen  Gegenstand  die  Weiber  von 
Weinsberg  sind,  der  Frauen -Treu  von  Mison  Erythreus  von  Gänßbrunn 
(Saltzburg  1682),  eine  Frau,  die  als  Mann  verkleidet  ihrem  Eheherrn  das 
Leben  rettet,   den  Namen  von  Bidermanns  Heldin  Anßberta  erhalten  hat. 


1)  Schröder,  Lexikon  der  hamburgischen  Schriftsteller  4,  90  Nr.  21  (1866). 

2)  Habicht,  Zeitschr.  des  Vereins  für  Hennebergische  Geschichte  3,  21  (1880). 

3)  Lib.  2,  acr.  2,  p.  202  —  233  in  der  Körner  Ausgabe  von  1703:  ,Virtus  celata 
dar  hin  . 

4)  Epitome  historiarum  1567,  Bl.  350  (Archiv  f.  Litteratnrgesch.  6,  324). 

5)  Vierdtes  Theils  Historischer  Erquickstunden  Ander  Theil,  Durch  Didacum  Apo- 
liphthem  Lusat.    Leiptzig  o.  J.  (um  1610)  S.  61. 

6)  Scenarien  bei  Weller,  Serapeum  1865,  63.  127.  271. 

7)  2  4  110  Bl.  4U.  Exemplare  in  Graz  und  Stuttgart.  Eine,  deutsche  Fassung  citiert 
Anton  Mayer,  Wiens  Buchdruckergeschichte  1,  262  Nr.  1589  (1883). 

8)  Sammelband  des  Luisenstädtischen  Realgymnasiums  zu  Berlin.  Mettenleiter, 
Musikgeschichte  der  Stadt  Regensburg  1866  S.  251.  Katholische  Schweizerblätter  1,  497 
(1885).  Sammelband  in  Kassel:  Com.  quart  60,  11:  ,Die  äusserst  verfolgte,  aber  aus  der 
höchsten  Not  errettete  Gottesforcht,  vorgestellet  in  Bertulfo  und  Ansberta'. 

9)  Ofterdinger,  Württembergische  Vierteljahrshefte  für  Landesgeschichte  6,  43  (1883). 


64  Bolte: 

Dem  18.  Jahrhundert  scheint  eine  weitere  Umformung  der  Sage  anzu- 
gehören, die  den  Helden  Rudolf  von  Paqueville  nennt.  Die  älteste  Spur 
derselben  bietet  ein  schweizerisches  Yolksdrama,  von  dem  W.  v.  Plönnies 
in  Hennebergers  Jahrbuch  für  deutsche  Litteraturgeschichte  1,  1-31  (1855) 
Xachricht  gegeben  hat.  Hier  finden  wir  die  Ballade  vom  Grafen  von  Rom 
mit  der  Sage  vom  Möringer  zusammengeschweisst.  Rodolph  von  Paqueville 
hat  einen  Bruder  Philibert,  der  mit  ihm  in  türkische  Gefangenschaft  gerät. 
Rodolph,  der  sanftere  der  beiden  Grafen,  wird  von  seiner  ebenso  gearteten 
Gattin  Roserta,  die  als  Musikant  verkleidet  den  Pascha  durch  ihren  Gesang 
zu  rühren  weiss,  befreit,  der  ungestümere  Philibert  auf  Marias  Veranstaltung 
gerade  an  dem  Tage  in  die  Heimat  zurückversetzt,  an  dem  seine  Frau 
Mechtild  sich  mit  einem  andern  Ritter  vermählen  will.  Das  Stück  ist  um 
1800  im  Kanton  Wallis  von  Lukas  de  Schallen  im  Geschmacke  der  späteren 
Jesuitendramen  in  Alexandrinern  gedichtet.  Doch  hebt  Plönnies  selbst 
hervor,  dass  einzelne  strophische  Partieen,  die  er  nicht  abdruckt,  auf  eine 
ältere  dramatische  Vorlage  hinweisen,  und  verspricht  eine  weitere  Unter- 
suchung, die  indes  meines  Wissens  nicht  erschienen  ist. 

Auf  eine  solche  A7orlage  weist  auch  das  niederösterreichische  Puppen- 
spiel vom  ,Grafen  PaquaftT.  das  in  den  1885  von  R.  Kralik  und  J.  Winter 
veröffentlichten  Deutschen  Puppenspielen  S.  43  herausgegeben  ist,  zurück. 
Allerdings  giebt  es  nur  die  eine  Hälfte  des  Walliser  Dramas  wieder,  die 
das  Schicksal  Philiberts  behandelt1).  Die  Geschichte  Rudolfs  von  Paque- 
ville finden  wir  dagegen  in  einem  Yolksliede  ,von  dem  Markgrafen  von 
BackenweiF,  29.  Str.  mit  dem  Anfange  ,Nun  horchet  zu  und  schweiget  still' 
wieder2). 

Dass  nun  zwischen  dem  in  Alexandrinern  geschriebenen  Drama  des 
18.  Jahrhunderts,  das  möglicherweise  auch  in  ein  prosaisches  Volksbuch 
mit  Versresten,  ähnlich  dem  niederländischen  Volksbuche  von  Florentina 
und  Alexander  von  Metz 3)  umgeformt  wurde,  und  zwischen  den  oben  auf- 
gezählten Märchen  ein  gewisser  Zusammenhang  besteht,  lässt  sich  ausser- 
dem wahrscheinlich  macheu  durch  das  in  mehreren  Fassungen  (bei  Plönnies. 
Wolf  und  Curtze)  erscheinende  Motiv  des  Bruders  des  Helden,  der  mit 
ihm  in  die  Türkei  zieht,  seine  Gefangenschaft  teilt  und  von  der  treuen 
Gattin  mitbefreit  wird.  Diese  Person,  die  in  den  Märchen  ganz  überflüssig 
ist.  stammt  offenbar  aus  der  Vorlage  des  Walliser  Schauspiels  her,  wo  der 
ungestüme  Bruder  und  seine  leichtherzige  Frau  als  Gegenbilder  zu  dem 
Helden  und  seiner  aufopfernden  Gattin  ausgeführt  sind. 

Noch  bemerke  ich,  dass  Leonhard  Wächter  in  seineu  unter  dem 
Namen  Veit  Weber  herausgegebenen  ,Sagen   der  Vorzeit',    die  durch  ihre 


1)  Auf  diesen  Zusammenhang  hat  schon  Minor  in  der  Zeitschrift  für  deutsche  Philo- 
logie 1888  aufmerksam  gemacht. 

2)  Fliegendes  Blatt  auf  der  Berliner  Bibliothek  Yd  7918.  1. 

3)  Unland,  Schriften  4,  305. 


Zu  dem  Märchen  von  den  sieben  Grafen.  65 

gesuchte    und   fratzenhafte   Altertümelei   heut   nur  abstossend   wirken,  die 

Ballade  vom  Grafen  von  Rom  in  der  Erzählung  ,Der  graue  Bruder  (iil  des 
Frauenlobs  Ton),  erneuert  hat1). 


Anhang. 

Um  die  mir  bekannten  Zeugnisse  über  die  Erzählung  von  dem  Grafen 
von  Paqueville  dem  Leser  zugänglich  zu  machen,  lasse  ich  hier  anhangs- 
weise das  oben  angeführte  Lied  folgen,  wenn  es  auch  weder  besondern 
poetischen  Wert  besitzt  noch  in  einer  guten  Überlieferung  vorliegt.  Es 
behandelt  geradeso  wie  das  Puppenspiel  nur  das  Schicksal  des  einen 
Bruders  Philibert  und  ist  also  mit  den  verschiedenen  späteren  Ausläufern 
der  Sage  vom  Möringer  zu  vergleichen,  über  die  am  ausführlichsten 
W.  v.  Tettau,  Über  einige  bis  jetzt  unbekannte  Erfurter  Drucke  (Jahr- 
bücher der  Kgl.  Akademie  zu  Erfurt  N.  F.  fi,  243— 291.  1870)  gehandelt 
hat;  vgl.  Unland,  Schriften  4,  286.  8,  431.  Liebrecht,  Zur  Volkskunde 
1879  S.  168.  P.Vogt,  Paul-Braunes  Beiträge  12,  431.  Minor,  Vierteljahrs- 
schrift für  Litteraturgeschichte  1,  282. 

Schönes  |  Geschicht-Lied  |  von  dem  |  Markgrafen  Backenweil,  |  welcher  |  im  Krieg  von  den 

Türken  gefangen,  und  |  nach  überstandenem  grossem  Ungemach  |  wunderbarer  Weise  aus 

der  Sclaverei  1  befreit  worden  ist.  |  Sehr  angenehm  und  merkwürdig  zu  lesen.  |  Q  |  Gedruckt 

in  diesem  Jahr.  |  4  Bl.  o.  J.    (Berlin  Yd  7918,  1.) 

1.  Nun  horchet  zu,  und  schweiget  still,  5.     Er  ward  zum  vierten  Mal  verkauft. 
Wir  singen  vom  Markgraf  von  Backenweil,        Zum  fünften  Mal,  dass  ers  nicht  weisst, 
Wie  ist  es  ihm  ergangen.  L>as  that  den  Türk  verdriessen. 

Er  ist  gezogen  in  Ungarischen  Krieg,  Er  rufte  seinem  Diener  zu: 

Von  den  Türken  wurd  er  gefangen.  Du  musst  ihn  morgen  todt  schiessen. 

2.  Er  blieb  gefangen  sieben  Jahr:  6.     Der  Diener  war  bereit  geschwind, 
Er  schrieb  gar  oft  um  Ranzion,  Geht  in  den  Stall,  wo  er  ihn  findt, 
Hat  niemals  kein  Antwort  empfangen.                Und  thut  es  ihm  ansagen: 

Das  war  dem  Herrn  eine  schwere  Buss,  Er  sollt  sich  rüsten  zu  dem  Tod, 

Keinem  Menschen  könnt  ers  klagen.  Morgen  müsst  er  ihn  todt  schiessen. 

3.  Er  wurd  vor  einen  Pflug  gespannt,  7.      „Du  hast  mir  schon  oft  gesagt 
Viel  Hunger  und  Durst  er  oft  empfand,  Von  deinem  Gott,  er  war  so  starb 
Gar  hart  wurd  er  geschlagen.                               Bitt  ihn  zu  dieser  Stunde! 

Das  war  dem  Herrn  eine  schwere  Buss,  Es  ist  kein  Mensch  auf  dieser  Welt, 

Keinem  Menschen  könnt  ers  klagen.  Der  dir  mehr  helfen  könnte." 

4.  Graf  Backenweil  lag  in  einem  Stall,  8.     Graf  Backenweil  kniete  sieben  Stund, 
Er  hat  eine  Ketten  um  den  Hals  Bis  er  vor  Ohnmacht  niedersunk, 

Und  eine  an  den  Füssen.  Sank  nieder  auf  die  Erden. 

Die  Lebens-Nahrung,  die  man  ihm  gab,  Er  schlief  nur  eine  kleine  Weil, 

Musst  er  mit  den  Hunden  gemessen.  Es  wird  ihm  schon  besser  werden. 


1)   Bd.  2,  399—450  der  2.  Auflage,  Berlin  1790. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f    Volkskunde.     1893. 


66 


Bnlte:   Zu  dem  Märchen  von  den  sieben  Grafen. 


9.     Weil  er  schlaft  eine  kleine  Weil, 
Kam  ei  dreihundert  und  vierzig   Meil. 
Und  da  er  daraus  erwachet, 
Da  lag  er  unter  einem  Baum 
Gar  nahe  bei  seinem  Schlosse. 


18.     Graf  Backenweil  ging  traurig  davon. 
Er  bliebe  draussen  vor  dem  Thor 
Und  dacht  in  seinem  Herzen: 
.Der  liebe  Gott  weisst  alles  wohl, 
Mit  dem  will  ich  nicht  scherzen." 


10.     Graf  Backenweil  sähe  hin  und  her, 
Er  sähe  eiu  Mägdlein  bei  der  Heerd, 
Er  sprach  ganz  unverdrossen: 
..Mägdlein,  liebes  Mägdlein  mein, 
Sag  mir.  wem  geliert  das  Schlosse?" 


19.     Die  Herren  waren  alle  beisammen, 
Sie  wurden  vom  Hofherrn  wohl  empfangen. 
Ein  Herr  sprach  zu  dem  Portner: 
„Es  steht  ein  Armer  vor  dem  Thor, 
Der  jämmerlich  thut  klagen. 


11.     „<  >  lieber  Bruder,  ich  will  dirs  sagen: 
Es  gehört  dem  Markgraf  Backenweil, 
Der  ist  schon  lang  gestorben, 
Er  ist  gezogen  in  Ungarischen  Krieg. 
Bey  den  Türken  ist  er  verdorben." 


20.     Er  hat  mich  auf  das  höchst  gebeten: 
Er  komm  aus  Engarn  hergetreten 
Und  woll  sich  adressiren, 
Er  hab  Commission  an  die  gnädige  Frau, 
Begerht  Bittweis  mit  ihr  zu  reden.-' 


12.  „Mein  Kind,  thu  mir  noch  weiter  sagen: 
Was   sind  denn  jenes  für  Kutschen  und 

W  agen, 
Oder  was  thut  passieren? 
Was  ist  heut  daselbst  für  eiu  Fest, 
Dass  alles  thut  dahin  marschieren?" 

13.  „Mein  lieber  Bruder,  ich  will  dir-  sagen, 
Die  gnädige  Frau  will  Hochzeit  haben, 
Sie  lässt  sich  copulieren 

Mit  einem  Herrn  von  Falkensteiu: 
1  larum  thun  sie  dorthin  marschieren." 

14.  „Hab  Dank,  mein  liebes  Mägdelein! 
Fürwahr  ich  will  auch  sein  dabei, 
Ich  will  mich  adressieren." 

Er  nimmt  den  Stab  in  seine  Hand, 
Thut  langsam  zum  Schloss  marschieren. 

Iß.     Und  als  er  für  die  Porten  kam, 
Der  Portner  schaut  ihn  gar  sauer  an: 
„Wo  kommst  du  her  getreten? 
Fort,  packe  dich  nur  gleich  darvon! 
Man  braucht  hier  keine  Bettler." 


21.  Ein  Diener  macht  sich  auf  geschwind, 
Lauft  zu  der  Frau,  wo  er  sie  find, 

Und  thut  ihr  solches  sagen: 
Es  sei  ein  Armer  vor  dem  Thor 
Mit  jammervollen  Klagen. 

22.  „l.asst  mir  den  Armen  kommen  hieher! 
Möcht  wissen,  was  sein  Begehren  war. 
Eh  es  zur-  Kirche  läutet. 

Es  nimmt  mich  Wunder,  was  es  mög  sein. 
Dass  er  uns  will  andeuten." 

23.  „Ach  gnädige  Frau,  seiet  hoch  gebeten, 
Ich  komm  erst  ans  Ungarn  her  getreten. 
Bin  durch  Türkei  gegangen. 

Ich  sah  den  Herrn  von  Backenweil, 
Es  ist  ihm  gar  übel  ergangen." 

24.  „Mein   Kind,    thu    mir   noch   weiters 

sagen! 
Was  thut  er  für  ein  Kleidimg  tragen? 
"Was  trägt  er  für  ein  Kittel? 
Was  hat  er  für  ein  Liverei? 
Was  führt  er  für  eiu  Tittel?- 


16.     .Ach  Gott,  ich  bin  kein  Bettler  nicht,    25.     „Er  trägt  einen  langen  leinenen  Rock, 


Aus  Ungarn  komm  ich  erst  daher: 
Ich  bringe  Nachrieht  aus  Türkei, 
Wo  es  dem  Grafen  von  Backenweil 
Gar  übel  ist  ergangen." 


Kein  Hut  hat  er  auf  seinem  Kopf, 
Keine  Schuh  an  seinen  Füssen: 
Die  Lebens-Xahrung,  wo  er  hat, 
Muss  er  mit  den  Hunden  gemessen." 


17.    Der  Portner  sprach:    „Pack  dich  nur 
fort! 
Man  braucht  heut  keine  Commission. 
Thue  nur  nicht  disputieren, 
Oder  ich  nehm  den  Stock  zur  Hand 
End  thu  dich  wacker  abschmieren." 


26.     „Ach,    mein   Kind,    thu   mir  weiters 
sagen,  — 
Anstatt  der  Freude  hör  ich  klagen  — 
Wo  könnt  ich  ihn  antreffen? 
Ich  will  dich  gern  mein  Lebenlang 
Für  mein  eigen  Kind  anrechnen." 


Rätselfragen,  Wett-  und  Wunschlieder.  67 

27.     „Ach,  gnädige  Frau,  wollt  ilir  das  thun,  28.    Da  [die]  Gnädige  Frau  den  Eh-Riug  sali, 
So  gebt  mir  eure  Hand  darzu!  Fiel  sie  dem  Markgraf  um  den  Hals. 

Seht  hier  meinen  kleinen  Finger!  Sie  sprach:    „Fahrt  fort,    Kutschen  Und 

Mein  Schatz,  wenn  du  mich  sonst  nicht  Wägen! 

kennst,  Mein  erster  Ehmann  lebet  noch, 

So  kennst  du  das  golden  Ringlein.0  Kein  andrer  soll  mir  werden." 

29.     Die  Herren  waren  sehr  erfreut, 
Sie  dankten  Gott  in  Ewigkeit 
Von  wegen  den  Wunderdingen. 
Dem  Bräutigam  ist  es  nur  leid, 
Dass  er  muss  leer  von  hinnen. 

Berlin. 


Kätselfragen,  Wett-  und  Wunschlieder. 

Von  K.  Julius  Scliröer. 


„Altes  Erbgut  germanischer  Stämme,"  nennt  Uhland  (Schriften  3,  181) 
die  Wett-  und  Wunschlieder,  die  wir  „im  nordischen  Altertum,  bei 
den  Angelsachsen,  bei  den  Liederdichtern  des  deutschen  Mittelalters  und 
fortwährend  in  den  Schulen  der  Meistersänger,  besonders  aber  auch  im 
deutschen  und  verwandten  Volksgesange  antreffen."  Zu  dieser  Dichtungsart 
zählt  man  auch  das  sogenannte  Pilgerlied,  mit  dem  der  unbekannt  auf- 
tretende Pilger  sich  empfiehlt.  -  Zur  Erläuterung  des  deutschen  Pilger- 
liedes brachte  J.  Grimm  (altd.  Wälder  2,  29  f.  Unlands  Schriften  3,  289) 
eine  Stelle  aus  der  Legenda  aurea  in  der  Erzählung  vom  heiligen  An- 
dreas. Sie  lautet:  Proponatur  sibi  (Peregrino)  aliqua  quaestio  satis  gravis, 
quam  si  enodare  seiverit,  admittatur,  si  autem  nescierit,  tanquam  inscius 
et  indignus  episcopi  praesentia  repellatur."  Eine  eigene  Art  des  volks- 
mässigen  Gebrauches  von  Rätselliedern  wird  geschildert  in  August  Hart- 
manns „Weihnachtslied  und  Weihnachtspiel  in  Oberbayern  S.  53"  und 
in  desselben  Verfassers  „Yolksschauspiele  in  Bayern  und  Österreich-Un- 
garn" S.  190  unter  dem  Namen  „Das  Anrollen". 

Eine  poetische  Form  der  Anwendung  von  Rätselfragen  hat  sich  aus- 
gebildet in  der  grossen  deutschen  Sprachinsel  in  Ungarn,  die  der  Heide- 
boden heisst,  der  sich  an  Pressburg  anlehnt,  nur  dass  Pressburg  am 
andern  Donauufer  liegt;  die  Bewohner  heissen  die  Heidebauern.  Der 
Heideboden  grenzt  an  eine  noch  grössere  deutsche  Sprachinsel  in  Ungarn, 
die  Hienzei  (s.  Frommann,  Zeitschrift  „Die  deutschen  Mundarten  1859. 
Band  6.  S.  21.  179.  330.)  -  -  Ob  sie  heute  noch  deutsch  sind,  wissen  wir 
nicht.     Bekanntlich    sind    von    der    ungarischen    Regierung   Verfügungen 

5* 


68  Schröer: 

getroffen,  durch  welche  die  deutsche  Sprache  völlig  ausser  Brauch  gesetzt 
werden  soll.  In  Kinderschulen,  Volksschulen,  Mittelschulen  und  Hoch- 
schulen steht  die  Magyarisation  der  Jugend  obenan.  Keine  Stimme  regt 
sich,  die  stark  genug  wäre,  diesem  Wesen  ein  Halt  zuzurufen!  — 

Die  deutschen  Bewohner  der  Hienzei,  die  Hieuzen  waren  schon  im 
Lande  bei  Einwanderung  der  Magyaren;  die  Heidebauern  aber  sind  protestan- 
tische Exulanten,  die  ungefähr  um  1630  eingewandert  sind.  —  In  der 
seltenen  Schrift  „Pressburger  Kirchen-  und  Schul- Verlust  von  Keimundo 
Rimando  1673"  heisst  es  S.  19:  Nachdem  in  die  Stadt  Pressburg  schon 
vor  40  und  mehr  Jahren  sehr  viel  lutherische  österreichische  Exulanten, 
entweder  um  ihren  Gottesdienst  da  zu  verrichten  oder  sich  gar  allda  nieder- 
zulassen (zu)gereiset."  Die  Zahl  der  Evangelischen  nahm  so  zu,  dass 
1636  eine  lutherische  Kirche  in  der  Stadt  erbaut  ward  (Geschichte  der 
Protestanten  in  Osterreich  von  G.  E.  Waldau,  Anspach  1784.) 

Diese  demnach  um  1630  etwa  zugewanderten  Exulanten  brachten  die 
Weihnachtspiele  mit.  Sie  kamen  aus  Osterreich  und  Hessen  sich  in 
Pressburg  und  Umgegend  und  auf  dem  Heideboden  nieder.  Die  Be- 
völkerung Pressburgs,  besonders  die  protestantische,  die  Weingärtner  der 
Vorstädte,  Bind  mit  den  Heidebauern  vielfach  verschwägert. 

Auch  in  Pressburg  blühten  meist  die  Weihnachtspiele,  wie  aus  meiner 
Ausgabe  der  Deutscheu  Weihnachtspiele  in  Ungern  (Wien  1858) 
bekannt  ist. 

Die  Sitte  der  Rätselfragen  wurde  nun  so  gehandhabt.  —  In  allen  Orten, 
wo  man  die  Weihnachtspiele  aufzuführen  pflegte,  konnte  dies  nur  unter 
besouders  günstigen  Umständen  geschehen.  Es  mussten  z.  B.  die  passenden 
Gestalten  zur  Darstellung  des  Herodes,  des  Teufels,  der  Maria  (durch 
einen  Burschen  dargestellt)  u.  s.  f.  vorhanden  sein.  Wenn  das  der  Fall 
war,  so  wurden  auch  die  Rätselfragen,  die  der  Hauptmann  des  Herodes 
können  musste,  einstudiert.  Wo  die  Spiele  in  Blüte  stunden,  da  lebte 
man  für  dieselben  vom  1.  Advent  bis  zum  h.  Dreikönigtag.  An  Sonn- 
und  Feiertagen  wurde  auf  der  heimischen  Bühne  gespielt  in  einem  Säle 
etwa  des  Gasthauses,  und  zwar  zwei-  oder  dreimal  an  einem  Xachmittag; 
an  Werktagen  auswärts.  Weil  um  diese  Zeit,  auch  wenn  nicht  gespielt 
wurde,  die  guten  Protestanten  unter  dem  Vorsitze  des  Meistersingers1) 
viel  beisammen  sassen  und  sich  im  Bibelaufschlagen  und  im  Kirchen- 
gesaug  übten,  um  zum  Gruss  und  Lebewohl,  zu  allen  Lebenslagen,  ein 
Lied  zu  können,  da  liess  sich  das  Einstudieren  der  Spiele  ganz  im  Stillen 
zustande  bringen,  indem  es  deu  Anschein  hatte,  als  ob  man  nur  in  an- 
gedeuteter Weise  sich  üben  wollte.     Ein  Ort  wusste  von  dem  andern  also 


1)  Meistersinger  hiess  in  Oberufer  der  Darsteller  des  Königs  Melchior,  sonst  Altkunig 
genannt.  Wahrscheinlich  war  der  Meistersinger  ursprünglich  auch  Lelirmeister  der  .Spiele 
und  war  die  Lehrmeistersehaft  in  Oberufer  aus  persönlichen  Gründen  einem  Nichtrait- 
spielenden  übertragen. 


Rätselfragen,  Wett-  und  Wunschlieder.  69 

nicht,  ob  heuer  gespielt  werden  sollte.  -  -  Wenu  nun  eine  Gesellschaft  der 
Meinung  war,  dass  in  einem  Nachbardorfe  heuer  nicht  gespielt  werde,  so 
zog  sie  dahin  mit  dem  grünen  Baum  des  Paradieses  voraus,  neben  dem 
der  riesige  Stern  getragen  ward  und  es  folgten  alle  Personen  des  Spiels 
im  Kostüm.  Wenn  nun  in  dem  Dorfe  die  Spiele  doch  einstudiert  waren, 
so  trat  der  heimische  Hauptmann  des  Herodes  dem  fremden  Hauptmann 
entgegen  und  legte  ihm  Fragen  vor,  die  er  in  Reimen  beantworten  sollte. 
Da  nun  jeder  Ort  andere  geheim  gehaltene  Fragen  hatte,  konnte  der 
Fremde  nicht  antworten.  War  im  Orte  ein  gerüsteter  Hauptmann  nicht 
vorhanden,  so  stund  nichts  im  Wege,  dass  die  fremde  Gesellschaft  spielte 
und  sie  ward  mit  Jubel  begrüsst.  Sie  fragte  nach  dem  Hauptmann  des 
Ortes,  der  sich  nicht  stellte,  wenn  er  nicht  vorbereitet  war.  Wenn  er 
sich  stellte,  ohne  eine  Aufführung  anzeigen  zu  können,  so  durfte  der 
fremde  Hauptmann  fragen;  jener  konnte  nicht  antworten  und  musste  das 
Feld  räumen. 

Ich  habe  in  den  deutschen  Weihnachtspielen  in  Ungern  S.  207  die 
Rätselfragen  der  Sternspielbruderschaft  von  Pressburg  mitgeteilt.  Die 
von  Oberufer,  wo  man  mir  die  Texte  der  ganzen  Spiele  anvertraute, 
hielten  aber  ihre  Rätselfrageu  auch  vor  mir  geheim!  Erst  im  Jahre  1861 
überlegten  sie  sich's  besser  und  übersandten  sie  mir  freiwillig.  Der  Haupt- 
mann des  Herodes  rüstet  sich  immer  noch  zu  dem  Kampf,  wenu  ein 
fremder  Hauptmann  käme:  „er  soll  nur  kommen,  wir  sind  bereit!"  - 
Seine  Bereitschaft  hat  etwas  tragisches,  indem  auf  der  ganzen  Welt  kein 
zweiter  Hauptmann  mehr  vorhanden  ist,  der  ihm  gefährlich  werden  könnte. 
Das  Rätsellied1)  teile  ich  nun  hier  mit. 

Zween  Haubtleut  singen. 

Mel. :   Allein  auf  Gott  setz  dein  Vertraun  etc.  etc. 

Fremder:  Ihr  lieben  Brüder  grüss  Euch  Sonst  werd  ich  dir  ein  Lied  aufschlage 

schön,  Darein  sollst  du  die  Wahrheit  sagn. 
Weil  Ihr  so  ferren  zu  uns  kommt  her! 

Habt  Ihr  ein  Bürg  für  diesen  Stern,  Ob.:   Du    willst    mir   erst   das  Lied  auf- 

So  lasst  Euch  doch  mit  singen  hoern.  schlagn? 

_  „..,.,„.  Ich  kann  dir  schon  die  Wahrheit  sagn: 

überuferer:  Mit  singen,  lieber  Bruder 

fein, 

Mit  singen  soll  die  Antwort  sein: 

Ich  hab  den  Stern  in  meiner  Hand:  ,,       „     ,.  .  ,     ,      T  .    ,   .  , 

.         .  er..  So  lange  ich  das  Lied  jetzt  an, 
Was  du  mich  fragst,  ist  mir  bekannt.  ,Tr  .,    ,  , 

°  Wen  du  es  ja  gut  singen  kannst; 

Fr.:  Ist  dir  auch  alles  gut  bekannt,  Zu  wissen,  was  du  gelernet  hast, 

Dass  du  mit  bleibest  in  der  Schand?  So  gieb  mir  Antwort  auf  die  Frag. 


Was  in  dem  Lied  zu  lesen  ist, 

Das  steht   auch  in  der  heil'gen  Schrift. 


1)  In  der  Abschrift,  die  vorliegt,  ist  es  „Sterngesang  der  Obcruferer"  genannt,  was 
sieh  aus  Str.  2,  3  erklären  kann.  Das  eigentliche  Sternlied  ist  es  nicht,  vgl.  Weihnacht- 
spiele aus  Ungern  S.  206. 


70 


Sekröer:    Rätselfragen,  Wert-  und  Wunschlii  der. 


Ob:  Ein  Singer  bin  genennet  ich. 
"Will  hören,  was  du  mir  vorsprichst: 
Dann  will  ich  dir  mit  Freundlichkeit 
Antwort  geben,  des  bin  ich  bereit. 

Fr.:  Ich  frag  dich  nun  mit  Freundlichkeit. 
Du  sollst  mir  geben  guten  Bescheid: 
Willst  du  ein  Singer  sein  auserkorn. 
Sag.  warum  ist  Christ,  der  Herr,  geborn? 

Ob.:  Ein  solcher  Singer  bin  ich  frei, 
Antwort  zu  geben  vermag  ich  frei: 
Christus,  der  Herr,  ist  drum  geborn, 
Dass  wir  nicht  alle  sein  verlorn. 


Fr.:  Mein  lieber  Singer,  sage  mir 
Um  dieses,  was  ich  frag  von  dir: 
Das  welche  Feuer  ist  ohne  Hitz.-1 
Der  welche  Thurni  ist  ohne  Spitz1)'? 

Ob.:  Alles  was  du  jetzt  fragst  von  mir, 
Will  ich  mit  Freuden  sagen  dir: 
Gemaltes  Feuer  hat  keine  Hitz, 
Der  babylonische  Thurm  hat  keine  Spitz. 

Fr.:  Ein  Singer  bist  genennet  hier, 
Eins  frag  ich  dich,  das  sage  mir: 
Der  welche  Wald  ist  ahne  Laub'? 
Die  welche  Strass  ist  ahne  Staub? 


Fr.:  Weils   du   dich   einen  Singer  nennst. 
Und  dich  zu  Christus,  dem  Herrn,  be- 
kennst, 
So  sage  mir,  in  welcher  Stadt 
Als  Christ  der  Herr  geboren  ward? 

Ob.:  In  welcher  Stadt  will  ich  dir  sagn, 
Weils  du  mich   so  genau  thust  fragn: 
Zu  Betlehem  in  einer  Streu. 
In  einer  Kripp  auf  Stroh  und  Heu. 

Fr. :  Weils  du  nun  so  viel  wissen  thust: 
Wie  viel   haben  das  Rind  gesucht? 
Wem  ist's  am  ersten  kund  gethan 
Und  wo  sind  sie  gewesen  dann? 

Ob.:  Der  Engel  hat  es  kund  gemacht 
Wohl  den  drei  Hirten  bei  der  Xacht, 
Als  sie  da  auf  dem  Felde  lagn 
Und  ihrer  Herden  Schafe  pflagn. 

Fr.:  Um   eines   will   ich  dich  noch  fragn. 
Mit  singen  sollst  du  mir  wohl  sagn, 
Bist  du  ein  Singer  in  der  That: 
In  w  elcher  Schüssel  die  Welt  gessen  hat  ? 

Ob.:  Weil   du  mich   auch  um   dies  thust 
fragn, 
Mit  singen  will  ich  dir  es  sagn. 
Ich  bin  ein  Singer  auserlesn : 
Das  ist  in  Xoae  Kasten  gewesn. 


Ob.:  Alles  was  du  mich  nun  thust  fragn. 
Das  will  ich  dir  von  Herzen  sagn: 
Der  Tannenwald  ist  ahne  Laub. 
Die  Himmelsstrass'  ist  ahne  Staub. 

Fr.:  Weils  du  ein  guter  Singer  willst  sein 
Und  hast  Christum  bekennet  frei. 
Hast  gelernet  den  Katechismus  fein: 
Sag  mir.  was  die  zehn  Gebot  solin  sein  ? 

Ob.:  Mein  lieber  Singer,  alle  Zeit 
Will  ich  dir  geben  guten  Bescheid; 
Du  folgest  Christus,  deinem  Herrn, 
Drurn   kann  ich  dir  die  Gebot  erklärn. 

Fr.:  Mein  lieber  Singer,  mir  so  viel  sag-, 
Nur  um  drei  ich  dich  thu  fragn. 
Das  erste  zweit  und  dritte  sag, 
Was  Gott  darin  geschrieben  hat? 

Ob.:  Du  sollst  glauben  an  einen  Gott, 
Du    sollst    nicht    schwören  bei  deinem 

Gott, 
Feiertag  sollst  heiligen,  spricht  dein  Gott, 
Das  sind  die  ersten  drei  Gebot. 

Fr.:  Xoch  drei,  mein  lieber  Singer  sag, 
Weils  du  die  zehn  gelernet  hast. 
Dann  will  ich  glauben  alles  dir, 
Weils  du  thust  Antwort  geben  mir. 


1)  Diese  und  die  nächstfolgenden  Fragen  begegnen  auch  in  andern  Rätselliedern .  vgL 
unter  andern  Mittler,  Deutsche  Volkslieder  Nr.  1306.  1307  und  die  Nachweisungen  daselbst 
'_>.  A  S.  29;  Tschischka,  Österreich.  Volkslieder  S.  2S  f.  Müller,  Volkslieder  aus  dem  Erz- 
gebirge S.  70.     Peter,  Volkstümliches  aus  Österreichisch-Schlesien  1,  272. 


Rätselfraeen,  Wctt-  uml  Wunschlieder. 


71 


Ob.:  Mein  lieber  Singer,  ich  will  dir  sagn, 
Weils  du  mich  noch  um  drei  thust  fragn: 
Vater  und  Mutter  sollst  ehren  gut, 
Nicht  töten  und  auch  nicht  stehlen  thu. 

Fr.:  Mein  lieber  Singer,  ich  bitte  dich, 
Denn  ich  bin  hier  und  frage  dich, 
Dass  du  mit  reinem  Herzen  hier 
Die  rechte  Wahrheit  sagest  mir. 

Ob. :  Mein  lieber  Singer,  ich  kann  dir  sagn, 
Wenn  alle  Felberbüum  Feigen  tragn, 
Dann  will  ich  dir  vor  meinen  Tagn 
Kommen  und  dir  die  Wahrheit  sagn. 

Wien. 


Fr.:  Jetzt  schliessen  wir  ja  unser  Lied, 
Weil  du  mir  gute  Antwort  giebst. 
Ich  will  dich  ja  um  keines  fragn, 
Denn    kein   Fclberbaum    kann   Feigen 
tragn. 

Ob.:  Mein  lieber  Singer,  ich  kann  dir  sagn, 
Wenns  du  mich  nur  um  viel  thusl  fragn, 
Mit  Gottes  Hilf  kann  ich  dir  sagn, 
Was  du  dir  wünschest,  mich  zu  fragn. 

Fr.:  Amen,  das  Lied  ist  nun  vollbracht, 
Ich  wünsch  dir,  Singer,  gute  Nacht. 
Wir  haben  uns  mit  Gottes  Hilf 
Vereinigt  mit  dem  Sternenlied. 


Volksrätsel 

aus  der  Grafschaft  Buppin  und  Umgegend '). 
Gesammelt  von  K.  Ed.  Haase. 


1.  An  unse  Hus  |  Hängt  ne  Perlepus 

Un  wenn  de  lewe  Sonne  scheint,  |  Dann  unse  Perlepuse  weint. 

Der  Eiszapfen. 

2.  Welche  Brücke  ist  aus  einem  Stücke  erbaut? 

Die  Eisbrücke. 

3.  Ein   Mann    im    weissen   Kleid    will    die   ganze  Welt  bedecken  und 
kann  es  nicht  übers  Wasser  breiten.  Der  Schnee. 

4.  Witt  rup  näh't  Dack  und  schwatt  werr"  runn. 

Der  Schneehall  (vgl.  Nr.  91). 

5.  Krüppt  durch  'n  Tun  un  rasselt  nich.  Die  Sonne. 

6.  Johann,  spann  an,  |  Drei  Katten  voran, 

Drei  Müs'  vorup,  |  Johann  sitt  drup.  Das  Siebengestirn. 

7.  In  meines  Vaters  Garten  stehen  sieben  Kameraden,  keine  Eichen, 
keine  Buchen,  und  wer  es  kann  erraten,  soll  die  Nacht  bei  mir  schlafen. 

Das  Siehengestirn. 

8.  Welche  Hosen  kann  kein  Schneider  machen? 

Die  Wasserhosen. 


1)  Gesammelt  in  Bechlin,  Diefberg,  Herzberg,  Keller,  Kraatz,  Protzen,  Rnppiti  (Alt- 
und  Neu-),  Seebeck,  Stöffiu,  Teschcndorf,  Gadow  (Kr.  Östpriegnitz)  und  Tarmow  (Kr.  Ost- 
Havelland). 


72  Haase: 

9.    Et  krfippt  wat  dörch  den  Tun  im  schleppt  alle  Därmen  nach. 

Die  Glucke  mit  den  Küken. 

10.  Wo  kämmt  de  Flöh  näh't  Bett?  Schwarz. 

11.  Es  kamen  zwei  gegangen,  die  nahmen  ihn  gefangen.  Sie  führten 
ihn  zu  Friwweldewipp ,  von  Friwweldewipp  zu  Nägel;  da  wurde  er  von 
ihnen  zerknickt.  Zwei  Finger,  die  einen  Floh  ergreifen  u.  s.  w. 

12.    Kümmt  en  Mann  von  Hickenpicken, 
Droegt  en  Kled  von  bunten  Flicken 
Un  het  6k  enen  roten,  fleschenn  Bart, 
Hoert  mal,  wie  de  Düwel  rärt.  Der  Hahn. 

13.  Wer  kann  nachsprechen:  „Der  Hahn,  der  Hahn  und  nicht  die 
Henne?"  Der  Hahn,  der  Hahn. 

14.  Worum  rönnt  de  Has  äwern  Berg? 

Weil  ken  Lock  dörch  is. 

15.  Zweibein  sass  auf  Dreibein.  Da  kam  Vierbein  und  wollte  Zwei- 
bein beissen.    Zweibein  nahm  Dreibein  und  tliat  Vierbein  damit  schmeissen. 

Ein  Hund  (Vierbein)  will  ein  Mädchen  (Zweibein), 
das  auf  einem  Schemel  (Dreibein)  sitzt,  beissen.  Diese 
nimmt  den  Schemel  und  wirft  nach  dem  Hunde. 

16.  Zweibein  ging  nach  dem  Feld  und  hatte  Dreibein  auf  dem  Nacken: 
da  kam  Vierbein  und  wollt  Zweibein  beissen.  Da  nahm  Zweibein  Drei- 
bein und  wollt'  Vierbein  damit  schmeissen. 

Zweibein,  ein  Bauer:  Dreibein,  eine  Mistforke:  Vierbein,  ein  Hund. 

17.  In  Ilow  (Auf  Phylax)  gell  ich,  [  In  üow  (Auf  Phylax)  steh  ich, 
[In  Ilow  bin  ich  selbst  gerieht'  (Auf  Phylax  geh  ich  säuberlich):] 
Meine  Herreu,  ihr  rat'ts  (das  raten  die  Herren)  in  drei  Tagen  nicht. 

Schuhe  aus  dem  Felle  eines  Hundes,  der  Ilow  (Phylax)  hiess. 
Wenn  die  dritte  Zeile  fehlt,  erklärt  man  das  Rätsel  durch  folgende  Er- 
zählung: Ein  Mann  war  wegen  eines  schweren  Verbrechens  angeklagt,  und 
da  die  Beweise  seiner  Unschuld  nicht  erbracht  werden  konnten,  wurde  er 
zum  Tode  verurteilt.  In  dieser  Not  erbat  sich  seine  Frau  ein  Gottesurteil, 
indem  sie  zu  den  Richtern  sprach:  „Meine  Herren,  ich  will  Ihnen  ein 
Rätsel  aufgeben,  und  wenn  Sie  es  in  drei  Tagen  erraten,  dann  ist  mein 
Mann  schuldig;  wenn  aber  nicht,  ist  er  unschuldig,"  und  sie  gab  ihnen 
vorstehendes  Rätsel  auf.  Da  es  die  Richter  nicht  erraten  konnten,  wurde 
der  Mann  freigesprochen.  —  Wenn  die  dritte  Zeile  mitgesprochen  wird, 
dann  ist  die  Verurteilte,  die  das  Rätsel  aufgiebt,  eine  Frau  oder  ein 
Mädchen.  Die  Worte:  „Auf  Phylax  geh  ich  säuberlich"  sind  also  jeden- 
falls entstellt  aus  den  Worten:  „Auf  Phylax  bin  ich  selbst  gerieht'". 

18.  Ein  Mädchen  (Sorg")  sollte  hingerichtet  werden:  doch  versprach 
man  ihr  die  Strafe  zu  erlassen,  wenn  sie  in  drei  Tagen  ein  Rätsel  auf- 
geben könne,  das  niemand  riete.    Als  sie  am  dritten  Tage  zur  Hinrichtung 


Volksrätsel  aus  der  Grafschaft  Ruppin  und  Umgegend.  73 

gefahren    wurde,    sah    sie    eine   Krähe    mit   einer   Maus   fliegen,    und   nun 

sprach  sie: 

Sorg'  satt  up  'n  Wägen,  |  Sorg'  sach  en  dritten  drägen, 

Drei  Kopp'  im   acht  Ben,  |  Sorg'  het  in  Lewen  sonn  Ding  nich  sehn." 

Da  niemand  das  Rätsel  raten  konnte,  so  erhielt  sie  ihre  Freiheit. 

Die  Krähe  mit  der  Maus  und  sie  selbst. 

19.  Es  geht  eine  Dame  stolz  spazieren  und  hat  ein  kohlschwarz  Röek- 
lein  an.  Die  Krähe  (der  Rabe). 

20.  In  einer  Mühle  stehen  sieben  Säcke,  auf  jedem  Sacke  liegen  sieben 
Katzen,  und  jede  Katze  hat  sieben  Junge;  daneben  steht  der  Müller.  Wie- 
viel Füsse  sind  in  der  Mühle? 

Zwei,  die  des  Müllers;  denn  die  Katzen  haben  Pfoten. 

21.  Ist  schwarz,  kocht  rot  und  geht  meist  rückwärts.  Der  Krebs. 

22.    Ich  kenn  ein  kleines  Tierchen, 

Das  trägt  die  Knochen  über  dem  Fleisch. 

Sagt  mal,  wie  das  Tierchen  heisst?       •        Der  Krebs. 

23.  Eine  Dame  ging  über  den  Hof  und  Hess  einen  grünen  Teller 
fallen.  Kuh  und  Kuhfladen. 

24.  Als  ich  jung  war,  konnte  ich  vier  bezwingen;  als  ich  älter  ge- 
worden, musste  ich  Berge  umringen,  und  als  ich  tot  war,  musste  ich  auf 
den  Tanzplatz  gehen. 

Das  Riud,  das  als  Kalb  an  dem  Euter  sog,  später 
den  Haken  zog  und  dessen  Fell  nach  dem  Tode 
zur  Fussbekleidung  gebraucht  wurde. 

25.  Vier  gehangen,  vier  gegangen,  zwei  Wegweiser  und  ein  Nach- 
klapper;  was  ist  das? 

Die  Kuh  mit  vier  Zitzen  am  Euter,  vier  Füssen, 
zwei  Augen  und  einem  Schwanz. 

26.  a)    Hinner  unse  Hus,  I  Da  ploegt  oll  Nawer  Krus 

Alm  Haken,  ahn  Stett.  |  Seggt,  wo  mökt  he  det? 

b)  Hinner  unse  Hus,  |  Da  hakt  Peter  Krus 

Dörch  Distel  un  Dorn  |  Un  't  wem  doch  jroje  Forn  (=  gerade 

Furchen). 

c)  Hinner  unse  Schün'  |  Ploegt  Vater  Kühn 

Ohne  Plog  un  ohne  Schär,  |  Un  doch  werd't  ue  depe  Fähr. 

Der  Moll  (=  Maulwurf). 

27.  Wipp-hup  un  Werp-hup  |  Gähn  bei'  näh'u  Berg  rup, 

Acht  Foet  un  en  Stett  (=  Sterz,  Schwanz),  |  Räj'  mal,  wat  is  det. 

Frosch  und  Maulwurf. 

28.  Auf  dem  Dache  sitzen  zehn  Tauben;  ein  Jäger  schiesst  zwei  davon 
herunter;  wieviel  bleiben  sitzen? 

Keine;  denn  die  übrigen  acht  fliegen  hinweg. 

29.  Welcher  König  kann  fliegen?  Der  Zaunkönig. 


74  Haas.: 

30.  Welcher  König  hat  kein  Land?  Der  Zaunkönig. 

31.  In  -welchem  Wähle  wächst  kein  Laub?  Im  Nadelwalde. 

32.  Welche  Augen  sitzen  nicht  im  Kopfe?  Die  der  Baume. 
33.    Unse  Knecht  Knust  |  Het  en  Ding  -wie  ne  Fust. 

Weht  der  Wind,  |  So  bammelt  dat  Ding.  Die  Birne. 

34.  Ich  ging  mal  über  Feld,  |  da  begegnete  mir  Gotthelf 

Und   fand   ein   klein  Wunderstück,  |  Das   war  wie   mein   klein 

Finger  dick. 
Draus  könnt  ich  schneiden  |  Zwei  Speckseiten 
Und  eine  Pfaffenmütz.  Die  Eichel. 

35.  Wenn  sie  kommen,  dann  kommen  sie  nicht;  und  wenn  sie  nicht 
kommen,  dann  kommen  sie.    Was  ist  das? 

Ein  Landmann,  der  Erbsen  sät,  meint:  Wenn  die  Spatzen  (Tauben) 
kommen,  dann  gehen  die  Erbsen  nicht  auf:  denn  sie  werden  von  ihnen 
weggefressen.  Wenn  aber  die  Spatzen  (Tauben)  nicht  kommen,  dann 
gelien  die  Erbsen  auf. 

3(1.    Wieviel  Erbsen  gehen  in  den  Topf? 

Keine:  denn  sie  werden  alte  hineingethan. 

37.  Hinter  unse  Hus,  da  steit  en  klen  Männeken  un  het  en  roten 
Käppel.  Die  Felddistel. 

38.  Was  ist  das.  was  grün  aufsteht,  blau  dasteht  und  weiss  zu  Bette 
o-eht?  Der  Flachs. 

ö 

39.  Als  ich  jung  und  schön  war.  da  war  ich  blau  bekrönt;  als  ich 
aber  alt  und  schief  geworden,  wurde  ich  geknüppelt,  geschlagen  und  dar- 
nach von  Kaiser  und  König  gerragen.  Der  Flachs. 

40.    As  ik  jung  war,  trug  ik  ne  blaue  Krön: 

As  ik  old  war.  wat  ik  stott  (gestossen)  un  schlau. 

Der  Flachs. 
41.    Es  wachset  aus  der  Erde  |  Und  kleidet  jedermann 
Vom  Kaiser  und  vom  König  I  Bis  zu  dem  Bettelmann 


o 


oder 


Den  Kaiser  und  den  König  |  Und  auch  den  Bettelmann. 

Der  Flachs. 
42.    Was  für  eine  Behörde  ist  die  Kartoffel? 

Ein  Stadt-  und  Landgericht. 
43.    Gross  wie  ein  Haus,  |  Kleiu  wie  eine  Maus. 

Stachlicht  wie  ein  Igel.  |  Glänzend  wie  ein  Spiegel. 

Die  Kastanie. 

44.  Sitzt  auf  ein  Täckchen   (=  Zäckchen),  |  Hat  ein  rotes  Jäckchen. 

Eine  rote  Kirsche. 

45.  a)   Weiss  wie  Schnee,  sag  mir  das!  |  Grün  wie  Gras,  was  ist  das? 

Rot  wie  Blut,  sag  mir's  gut!  |  Schwarz  wie  Teer,  sag  mir's 

ganze  Bätsei  her. 


Volksrätsel  aus  der  Grafschaft  Ruppin  und  Umgegend.  75 

b)   Grün  wie  Gras.  |  Ich  weiss  noch  was. 
Rot  wie  Blut,  |  Ist  noch  nicht  gut. 
Schwarz  wie  Pech.  |  Nun.  ist  es  recht. 

Die  Kirsche  (in  ihrer  Entwickelung). 
46.    Eine  Jungfer  sitzt  im  Grünen  und  hat  einen  roten  Rock  an.    Wenn 
man  sie  drückt,  dann  weint  sie  und  hat  doch  ein  steinernes  Herz. 

Die  Kirsche. 
47.    Rauh — rauh — riep  (=  Rauhreif),  |  Wie  gaele  is  de  Piep! 
Schwatt  is  de  Sack,  |  Wo  de  gaele  Piep  instack. 

Die  Mohrrübe  in  der  Erde. 

48.  Es  steht  ein  Mann  auf  einem  Bein,  trägt  hunderttausend  Schweine, 
und  wenn  er  ruft:  „Holt  welche!"  —  dann  sind  sie  alle  kohlschwarz. 

Ein  Pflaumenbaum  mit  reifen  Früchten. 

49.  Es  steit  en  Mann  up  enen  Ben,  |  Muss  sine  hundert  Schäp  allen 

hoed'n. 
Wenn  er  roip:  „Holt  wat!"  |  Sind  se  alle  kohlschwatt. 

Ein  Pflaumenbaum  mit  reifen  Früchten. 

50.  Welcher  Sporn  wächst  aus  der  Erde?  Der  Rittersporn. 

51.    Gross  wie  ein  Haus,  |  Klein  wie  eine  Maus, 
Bitter  wie  Galle,  |  Wir  essen's  doch  alle. 

Die  Wallnuss. 

52.  Welcher  Stock  liefert  den  besten  Trank?        Der  Weinstock. 

53.  Es  hängt  an  der  Wand,  |  Hat  neun  Häute  |  Und  beisst  alle  Leute. 

Die  Zwiebeln  im  Netze. 

54.  Wann  kann  man  nicht  ohne  Gefahr  in  den  Garten  gehen? 

Wenn  der  Spargel  schiesst  und  die  Bäume  ausschlagen. 

55.  Isern  Perd  schitt  höltern  Kätteln.  Der  Bohrer. 

56.  Vor  frett'  un  hinn  schitt'.  Der  Bohrer. 

57.    Der  dicke  Papa,  |  Die  dünne  Mama, 

Die  weisse  Mamsell,  |  Das  rate  mal  schnell. 

Die  Bierflasche  mit  Schaum. 

58.  Unse  lange  dünne  Knecht  pumpst  unse  dicke  Diern. 

Das  Butterfass. 

59.  Welcher  Hut  passt  auf  keinen  Herrenkopf?     Der  Fingerhut. 

60.  Es  hängt  an  der  Wand  |  Und  giebt  mir  alle  Morgen  die  Hand. 

Das  Handtuch. 

61.  Welches  Licht  brennt  länger,  ein  Wachs-  oder  ein  Talglicht? 

Keins;  sie  brennen  beide  kürzer. 

62.  Ein  eisernes  Pferd  mit  flächsernem  Schweif;  was  ist  das? 

Eine  Nähnadel  mit  Faden. 

63.  Ich  bin  am  wärmsten,  wenn  es  am  kältesten,  und  bin  am  kältesten, 
wenn  es  am  wärmsten  ist.  Im  Sommer  lässt  man  mich  verächtlich  stehn, 
im  Winter  streichelt  man  mich  schön.  Der  Ofen, 


76  Haase: 

64.  So  klein  wie  ne  Maus,  |  Bewacht  das  ganze  Haus. 

Das  Schloss. 

65.  Wat  is  am  ihrsten  iu  de  Kirch?     De  Schlötel  oder  de  Fleg. 

66.  Unse  Knecht  Hinrich  |  Steckt  sin  Pinricli  |  In  uns  Magd  ihr  Purr. 

Schlot  un  Schlötel. 

67.  Dat  herret  un  scherret  un  het  man  dre  Ben.      Das  Spinnrad. 

68.  Acht  Jungfern  greifen  sich  und  kriegen  sich  mein  Leben  nicht. 

Das  Spinnrad. 

69.  Grossvater  druddelt,  Grossmutter  nuddelt,  Grossvater  druddelt  so 
lange,  bis  Grossmutter  trächtig  wird. 

Grossvater,  das  Spinnrad;  Grossmutter,  die  Spule. 

70.  Welcher  Knecht  erhält  keinen  Lohn?  Der  Stiefelknecht. 
71.    Ein  armer  Soldat  muss  Schildwacht  stehn. 

Er  hat  keine  Fflsse  (Beine)  und  muss  doch  gehu, 
Er  hat  keine  Arme  und  muss  doch  schlagen: 
Wer  kann  mir  das  Rätsel  sagen?  Die  Uhr. 

7l\    Welche  Ehr  hat  keine   Räder?  Die  Sonnenuhr. 

73.  Wem  kann  man  ungestraft  den  Hals  brechen? 

Der  Weinflasche. 

74.  Rund  schmiet  ik  "t  rup  näht  Dack.  lang  kämmt  werr  runn. 

Das  Wollknäuel. 

75.  Hinner  unse   llus,  |  Da  steit  en   Kabus  (=  Schlafkammer). 
Manch  einer  schitt  da  in,  [Manch  euer  pisst  da  in.]  i  Manch  euer 

stippt  sin  Brot  da  in. 
Das  Bienenschauer  (mit  Honig). 

76.  Lonton  (?)  ging  über  das  Feld,  der  hatte  mehr  Füsse  als  Bonton  (?). 

Die  Egge. 

77.  Welcher  Schuh  ist  nicht  von  Leder? 

Der  Hemmschuh  am  Wagen. 

78.  Es   hängt   an    der  Wand,    und   wenn  es  herunterkommt,    wird  es 
lustig.  Der  Kantschu. 

79.  Es  wird  so  schwarz  als  ein  Rabe  |  Und  badet  sich  alle  Tage. 

I  las  Mühlrad. 
80.    Klippermann  und  Klappermann, 
Die  rennen  beide  den  Berg  hinan: 
Klappermann  rennt  noch  so  sehr, 
Klippermann  kommt  doch  noch  eh'r. 
Ein  fahrender  Wagen  (Klappermann),  vor  dem  die  Pferde  mit 
einer  Kette  (Klippermann)  an  der  Deichsel  befestigt  sind. 
81.    Vier  Rurell,  vier  ruh  Fell,  en  Klippklapp,  en  Johlklapp,  en  Nah- 
klapp un  en  Klisterpott;  wat  is  dat? 

Vier  Räder  am  Wagen,  vier  Pferde,  die  Wagendeichsel  mit 
Kette,  der  Kutscher,  die  Peitsche  und  ein  Teergefäss. 


Volksrätsel  aus  der  Grafschaft  Euppin  und  Umgegend.  77 

82.  Welche  Schere  hat  keine  Klinge?  Die  Wagenschere. 

83.  Vier  Jungfern    greifen    sich  und   kriegen   sich    im   ganzen  Leben 
nicht.  Die  Schaufeln  einer  Windmühle  (vgl.  Nr.  68). 

84.    Es  risselt,  es  rasselt  wie  eiserne  Ketten, 

Soldaten,  Kameraden,  es  kann  niemand  erretten. 

Die  Windmühle. 

85.  Loept  un  loept  nn  kümmt  nich  to  Dörp.        Die  Windmühle. 

86.  Rubbel,  rabbel,  ruppdi,  |  Morgen  komm  ik  up  di, 

Ik  will  di  pumpanellen,  |  Dat  di  de  Bück  (=  Bauch)  sali  swellen. 

Der  Brotteig. 

87.  En  ganzen  Stall  villi  brüne  Perd  un  en  holten  Peter  mang. 

Ein  Ofen  voll  Brote  mit  dem  Schieber. 

88.  Zwischen  uns  und  Wittenberg,  da  liegt  eine  gelbe  Plüm'  (=  Pflaume), 
und  wer  die  gelbe  Plüm'  will  essen,  muss  den  witten  Berg  zerbrechen. 

Das  Ei. 
89.    Es  kommt  ein  Fässchen  aus  Holland, 
Hat  nicht  Staff  (=  Stab)  noch  Band, 
Und  ist  doch  zweierlei   Hier  darin.  Das  Ei. 

90.    Zwischen  Berlin  und  Kopenhagen 
Da  liegt  eine  goldene  Uhr  begraben; 
Und  wer  die  goldene  Uhr  will  haben, 
Der  muss  Berlin  und  Kopenhagen  zerschlagen. 

Das  Ei. 

91.  Witt  schmiet  ik't  rupp  näh't  Dack,  gael  kümmt  werr  rann. 

Das  Ei  (vgl.  Nr.  4.  74). 

92.  Ich   kenne   ein  kleines  Häuschen,    hat   keine  Thür  noch  Fenster, 
und  will  sein  kleiner  Wirt  heraus,  muss  er  erst  die  Wand  zerbrechen. 

Das  Ei. 

93.  Innen  rauh  und  aussen  rauh  und  zehn  Ellen  im  Leibe  rauh. 

Ein  Fuder  Heu. 
94.    Oben  spitz  und  unten  breit, 

Durch  und   durch  voll  Süssigkeit. 

Der  Zuckerhut. 

95.  Welche  Lieder  nimmt  man  mit  ins  Grab?      Die  Augenlider. 

96.  Was  für  Wasser  ist  ohne  Sand?  Das  Augenwasser. 

97.  Zwei  Reihen  (Ein  ganzer  Stall  voll)  weisse  Hühner  und  ein  roter 
Hahn  damalig.  Die  Zähne  und  Zunge. 

98.  Innen  blank  un  buten  blank,  |  Is  6k  Flesch  un  Blöt  damang. 

Der  Fingerring. 
99.    Es  ging  eine  Dame  wohl  über  den  Hof 
Und  zeigte  dem  Herrn  das  blanke  Loch. 
Der  Herr  gedachte  in  seinem  Sinn: 
„Ach,  hätte  ich  doch  meinen  drin!"       Der  Fingerring. 


78  Haase: 

100.  Worum  satt  de  Möller  de  Mutz  up? 

Weil  de  Mutz  den  Möller  nich  upsädden  kann. 

101.  Eine  Rauhe  hab  ich,  |  Vor  dem  Bauch  sie  trag'  ich. 
Junggesellen,  furcht'  euch  nicht!  |  Meine  Rauhe  beisst  euch  nicht. 

Die  Muffe. 

102.  a)   Ich  kenn  ein  Ding,    wie  ein  Pfifferling;    kann  gehen,    kann 

stehen,  kann  auf  dem  Kopf  nach  Hause  gehen.    Was  ist  das? 
b)  Wer  steht  sogar  in  der  Kirche  auf  dem  Kopfe? 

Der  Nagel  unter  dem  Schuh. 

103.  't  sitt  in't  Holt,    schimpt  as  en  Ruhrspatz,    un  ken  Minsch  ant- 
wurt'  em.  Der  Pastor  auf  der  Kanzel. 

104.  Wer  geht  seinem  Ende  rückwärts  entgegen.  Der  Seiler. 

105.  Welche  Ähnlichkeit    besteht  zwischen  einem  Barbier  und  einer 
Wäscherin?  Beide  müssen  zuerst  einseifen. 

106.  Welche  Trommler  trommeln  mit  der  Nase? 

Alle,  denn  keiner  legt  die  Nase  beim  Trommeln  ab. 

107.  Welcher  Unterschied  ist  zwischen  einem  Grosssprecher  und  einer 
Schneidermamsell?  .  Jener  schneidet  auf,  diese  schneidet  zu. 

108.  Welcher   Unterschied    ist    zwischen   einem  Passagier  und   einem 
Stubenmädchen?  Jener  kehrt  ein,  dies"  kehrt  aus. 

109.  Was  ist  im  Kriege  oft  ein  schlimmer  Fall?      Ein  Überfall. 

1 10.  Wer  hat  es  besser,  der  Kaffee  oder  der  Thee? 

Der  Kaffee;  denn  er  setzt  sich,  der  Thee  dagegen  muss  ziehen. 

111.  Et  fliegt  wat  öwern  Gräben,  |  Het  ken  Hart  oder  Magen, 

Het  ken  Läwer  oder  Lungen,  |  Kann  de  Soldaten  übertwingen. 

Die  Kanonenkugel. 

112.  Öwer    unse  JIus    un  Näwers   lins,    da  schlän  sich  en  Pär  (met 
Krücken  rut  —  oder  met  Rung).  Der  Rauch. 

113.  Welcher  Baum  liegt  an  einer  Kette?  Der  Schlagbaum. 
114.    Et  steit  up  Dack  |  Un  röcht  en  Piep'  Tobak. 

Der  Schornstein. 

115.  Auf  welcher  Leiter  hat  nie  ein  Mensch  gestanden? 

Auf  der  Tonleiter. 

116.  Ist  in  Kross  (=  eine  weitbauchige  Kanne  mit  engem  Halse)  und 

nicht  in  Kann', 
Ist  in  Frau  und  nicht  in  Mann, 
Der  Kuckuck  hole  mich,  |  Ist  in  ganz  Polen  nich. 
Leipzig  ist  "ne  grosse  Stadt,  |  Das  Ding  dort  niemand  hat, 
In  Berlin  kann's  wohl  sein;  |  Ist  das  Dorf  auch  noch  so  klein, 
Und  das  Ding  wird  drinnen  sein.  Der  Buchstabe  R. 

117.  Niemand    und    jemand    waren    in    einem   Haus.     Niemand    ging 
hinten  heraus,  jemand  ging  vorn  heraus;  wer  blieb  zu  Haus?       Und. 


Volksrätsel  ans  der  Grafschaft  Ruppin  und  Umgegend.  79 

118.  't  is  weg,  't  bliewt  weg,  't  was  alle  Dag  all  weg,    im  ik  häw't 
hflet.  noch  sehn.  Der  Weg. 

119.  Was  läuft  ohne  Füsse  fort  und  kommt  nicht  wieder? 

Die  Zeit. 

120.  Welches  Land  hat  die  schlechtesten  Pferde? 

Österreich;  denn  es  besitzt  Mähren. 

121.  Welches  Jahr  dauert  nur  einen  Tag?  Neujahr. 

122.  Welche  Rose  hat  keinen  Dorn? 

Die  Krankheit.  —  Der  Mat-rose. 


Zur  Volksdichtung. 

(Unlands   „Der  gute  Kamerad".) 
Von  Cäsar  Flaischlen. 


In  Band  XI  8.  28  ff.  der  Zeitschr.  f.  Völkerpsychologie  gab  Professor 
Dr.  H.  Steinthal  eine  kurze  Analyse  des  Ulilandscheu  Gedichts  vom  guten 
Kameraden  sowohl  in  Bezug  auf  seine  Quelle,  einem  ihm  von  Berthold 
Auerbach  citierteii  kleineu  Volksliede,  als  auch  in  Bezug  auf  sein  Ver- 
hältnis zur  Volksdichtung  überhaupt  und  insbesondere  zu  den  Korrekturen, 
welche  es  im  Munde  des  Volkes  bis  heute  erfahren  hat.  Er  illustrierte 
dies  letztere  an  dem  Text  des  Gedichtes,  wie  er  ihn  von  einem  Dienst- 
mädchen hat  singen  hören:  „Die  dritte  Strophe  sang  es  garnicht;  die 
anderen  beiden  hatten  mancherlei  Veränderungen,  die  sich  bei  genauerer 
Betrachtung  als  wirkliche  Verbesserungen  erweisen1)".  So  sang  es  Vers  6: 
„Die  Kugel"  statt  „Eine  Kugel";  Vers  7:  „Gilt  sie"  statt  „Gilt  es";  Vers  8, 
dem  entsprechend:  „Ihn  hat  sie"  statt  „Ihn  hat  es",  Vers  9:  „Er  lag"  statt 
„Er  liegt";  alles  Korrekturen,  die  für  die  Texterklärung  unsers  Volks- 
liedes überhaupt  und  im  besonderen  für  die  sowohl  in  literarhistorischer 
als  psychologischer  Hinsicht  hochinteressante  Beobachtung:  wie  ein  Kunst- 
lied sich  zum  Volkslied  bildet,  von  weitgehender  Wichtigkeit  sind.  Die 
Änderungen,  welche  Steinthal  in  dem  Text  des  Dienstmädchens  fand,  haben 
sich  in  den  wesentlichsten  Punkten  längst  schon  in  den  weitesten  Kreisen 
auch  der  Gebildeten  eingebürgert;  der  ursprüngliche  Text  wird  wohl  nur 
selten  zu  hören  sein.   Es  sei  mir  gestattet,  im  nachfolgenden  diese  Varianten 


1)  Vgl.  auch  J.  E.  Wackerneil,  Das  deutsche  Volkslied  (Sammlung  gemeinverständl. 
wissenschaftlicher  Vorträge  Heft  106.  Hamburg  1890),  der  daselbst  Steinthals  Bemerkungen 
weiter  ausführt. 


80  Flaischlen: 

durch  die  Fassung-  des  Gedichts  zu  ergänzen,  an  die  ich  mich  selbst  in 
meinen  Knabenjahren  gewöhnt  und  in  der  ich  es,  ohne  mich  im  geringsten 
um  den  Uhlandscheu  Text  zu  kümmern,  auch  heute  noch  im  Kopf  habe 
und  auch  heute  noch  singen  würde,  wenn  ich  dabei  nicht  gerade  textkritisch 
aufgelegt  wäre.  Mein  erstes  Bekanntwerden  mit  dem  Liede  mag  dafür 
entscheidend  gewesen  sein.  Ich  hörte  es  von  Soldaten  auf  der  Strasse  und 
wandte  mich  an  den  Bursehen  meines  Yaters,  der  mich  dann  Text  und 
Melodie  lehrte.  Auch  erinnere  ich  mich  noch  deutlich,  wie  ich  meiner 
Mutter  gegenüber  mich  verwunderte:  der  Drink  enthalte  Fehler,  als  ich 
das  Gedicht  zum  erstenmal  bei  Uhland  las.  Zum  bessern  Vergleich  folge 
auch  dessen  Fassung. 

Uhland.  Volkslied. 

1  Ich  hatt'  einen  Kameraden,  Ich  hatt'  einen  Kameraden, 

2  Einen  bessern  find'st  du  nitt;  Einen  bessern  find'st  du  nitt; 

3  Die  Trommel  schlug  zum  Streite,  Die  Trommel  rief  zum  Streite, 

4  Er  ging  an  meiner  Seite  Und  er  ging  an  meiner  Seite 

5  In  gleichem  Schritt  und  Tritt.  In  gleichem  Schritt  und  Tritt. 

6  Eine  Kugel  kam  geflogen:  Eine  Kugel  kam  geflogen: 

7  Gilt's  mir  oder  gilt  es  dir?  Gilt  sie  mir  oder  gilt  sie  dir? 
8.   Ihn  hat  es  weggerissen,                       Ihn  hat  es  weggerissen, 

9    Er  liegt  mir  vor  den  Füssen,  Und  er  lag  (und  liegt)  zu  meinen  Füssen, 

10  Als  war's  ein  Stück  von  mir.  Als  wär's  ein  Stück  von  mir. 

1 1  Will  mir  die  Hand  noch  reichen,         Willst  mir  die  Hand  noch  reichen. 

12  Dieweil  ich  eben  lad':  Dieweil  ich  eben  lad'?: 

13  Kann  dir  die  Hand  nicht  geben,  Kann  dir  die  Hand  nicht  geben, 

14  Bleib  du  im  ew'gen  Leben  Bleib  du  am  ewigen  Leben, 

15  Mein  guter  Kamerad.  Mein  guter  Kamerad. 

Strophe  1.  In  Vers  2  möchte  ich  zunächst  das  „nitt"  bemerken.  Es 
stört  mich  als  Schwaben  heute  noch,  wie  als  Knabe,  zumal  Uhland  selber 
Schwalle  war  und  somit  „net"  hätte  setzen  müssen;  „nitt"  ist  lediglich  aus 
Reimnot  gesetzt. 

Vers  3.  Das  „rief"  statt  „schlug"  erkläre  ich  aus  einer  apperceptionell, 
wenigstens  dem  Knaben  und  dem  naiveren  Begriffsvermögen  des  „Volks", 
näher  liegenden  engeren  Verbindung  des  Verbums  mit  dem  folgenden  „zum 
Streite",  analog  den  Wendungen  .zum  Kampfe  rufen",  ,zum  Gerichte  rufen', 
,zur  Kirche  rufen'.  Uhland  hat  sich  hier  eine  poetische  Licenz  erlaubt; 
Die  Trommel  aber  kann  streng  genommen  nur  geschlagen  werden,  nicht 
selbst  schlagen.  Am  wahrscheinlichsten  dünkt  mich  jedoch  dies  „rief" 
herübergenommen  aus: 

Fs  braust  ein  Ruf  wie  Donnerhall, 

Wie  Schwertgeklirr  und  Wogenprall; 

Zum  Rhein,  zum  Rhein,  zum  deutschen  Rhein ! 

etc.  etc. 


Zur  Volksdichtung.  81 

Nach  ,Wogenprall'  steht  zwar  meistens  Strichpunkt,  so  dass  ,Zum  Rhein, 
zum  Rhein,  zum  deutschen  Rhein!'  als  seihständiger  blosser  Aufruf  zu 
nehmen  wäre;  doch  gehört  beides  zweifellos  zusammen.  Die  richtige 
Interpunktion  wäre  Doppelpunkt. 

Vers  4  hat,  wie  nachher  Vers  9,  ein  eingeschobenes  „und",  was  im 
Volksliede  überhaupt  sehr  häufig  zu  finden  ist,  auch  an  Stellen,  wo  es 
mitunter  ganz  sinnwidrig  ist,  was  hier  keineswegs  gesagt  werden  könnte. 
Ich  halte  es  gerade  bei  diesen  zwei  Versen  für  eine  eher  aus  musikalischen 
Gründen  hervorgegangene  Einschaltung.  Es  ist  eine  Art  Auftakt,  durch 
den  sich  das  folgende  „gieng"  und  „lag"  stärker  betont. 

Strophe  2;  Vers  6  hat  Unland  den  unbestimmten  Artikel:  „eine  Kugel", 
nicht  „die  Kugel",  wie  Steinthal  von  jenem  Dienstmädchen  anführt.  „Eine" 
ist  unstreitig  richtiger  und  auch  volksliedhafter  als  „die",  obwohl  dann 
inkonsequent  in  Vers  7  das  bestimmte  Subjekt  folgt;  aber  es  ist  weniger 
die  bestimmte,  den  Freund  tötende  Kugel  gemeint,  wie  man  erklären 
könnte,  als  vielmehr  irgend  eine  von  den  vielen,  die  da  heranpfeifen.  — 
Als  weitere  Variante  des  Verses  findet  man  häufig  auch  „kommt"  statt 
„kam",  das  auf  einer  Rückwirkung  des  Präsens  „gilt"  in  Vers  7  beruhen 
könnte. 

Vers  7  lautet  im  Volkstext:  „Gilt  sie  mir  oder  gilt  sie  dir?"  bei 
Steinthal  „Gilt  sie  mir?  gilt  sie  dir?"  Beides  hat  zum  Unterschied  von 
Uhland  das  bestimmte  Subjekt  „sie";  eine  Änderung,  die  im  Volksmunde 
das  ursprüngliche  „Gilt  es"  schon  völlig  verdrängt  hat.  Über  die  Berechti- 
gung des  Ausfalls  oder  Nichtausfalls  von  „oder"  müsste  die  Melodie  ent- 
scheiden. Der  Vers  unterbricht  die  Erzählung  durch  den  Übergang  zur 
Frage  und  zum  Präsens;  doch  nur  um  dieselbe  lebendiger  zu  machen. 
Dass  dieser  Tempus -Wechsel  empfunden  wird  und  zwar  als  Inkonsequenz 
und  als  Abweichung,  bezeugt  die  öfter  vorkommende  Ausgleichung  durch 
Verwandlung  des  Präsens  ins  Präteritum;  also:  „Galt  es  mir?  oder  galt 
es  dir?" 

Vers  9  hat  zunächst  das  schon  bei  Vers  4  besprochene  Auftakts-Und, 
sodann  „lag"  statt  „liegt".  Wackeruell  bemerkt,  das  Präteritum  sei  besser, 
da  auch  sonst  die  Vergangenheit  der  Erzählung  stehe.  Ich  kann  dem  nicht 
zustimmen;  das  Gedicht  spitzt  sich  auf  den  letzten  Scheidegruss  der  beiden 
zu  und  tritt  aus  der  Vergangenheit  nach  und  nach  in  die  unmittelbarste 
Gegenwart  über.  Die  ganze  dritte  Strophe  verlöre  ihren  Zusammenhang 
mit  der  zweiten,  wenn  „lag"  stünde;  ihre  ganze  Fassung  wie  auch  die 
Scene,  die  sie  schildert,  bedingen,  dass  der  Freund  zu  des  Freundes  Füssen 
,liegt'  und  nicht  .lag'.  Dennoch  wird  man  meist  das  Präteritum  hören, 
und  zwar,  wie  wahrscheinlich  ist,  wieder  musikalischer  Motive  wegen. 
Man  bemerke:  Vers  7  hat  vier  resp.  sechs  i-Laute,  Vers  8  zwar  nur  zwei, 
doch  hoch  betoute,  Vers  9  selbst  wieder  drei  resp.  einen:  das  ist  eine 
Häufung,  die  der  natürlichen  Sprache  ferne  liegt  und  in  der  Musik  monoton 

Zeitschrift  d.  Vereins  f.  Volkskunde.     1893.  6 


g2  Plaischlen: 

wirkt,  was  hier  um  so  störender  ist,  da  gerade  diese  beiden  Verse  den 
Mittel-  und  Schwerpunkt  des  ganzen  Gedichts  bilden.  Die  vielen  i-Laute 
aber  gestatteten  schon  an  sich  keine  so  hervorhebende  Betonung,  wie  sich 
bei  einem  offenen  a  von  selbst  giebt.  Man  mache  den  Versuch,  „liegt" 
zu  singen;  auch  mit  vollster  Stimme  vorgetragen,  wird  es  einen  weit 
schwächeren  Eindruck  als  „lag"  hervorbringen;  man  gebe  ferner  acht,  wenn 
das  Lied  zufällig  gesungen  wird,  ob  nicht  bei  „lag"  jeder  Singende  —  ich 
bemerkte  es  besonders  bei  einer  Kompagnie  Soldaten  —  unbewusst  mit 
vollster  Lunge  einsetzen  wird,  als  ob  er  eine  Art  Befreiung  empfände,  aus 
all  den  u,  o  und  i  der  vorgehenden  Verse  herauszukommen.  Bei  „liegt" 
ermöglicht  schon  die  Schlusskonsonanz  keinen  vollen,  reinen  Ton.  „Lag" 
wäre  sonach  logisch  falsch,  aber  musikalisch  wohl  gerechtfertigt. 

Strophe  3.  Das  Dienstmädchen  Steiuthals  sang  diese  garnicht  mehr; 
und  es  lassen  sich  für  ihren  Wegfall  auch  mehrfache  Gründe  finden.  „Es 
ist,"  führt  Wackernell  nach  Steinthal  aus,  „schon  innerlich  unwahrschein- 
lich, dass  der  tödlich  Getroffene  noch  die  Hand  reicht,  und  ebenso  un- 
wahrscheinlich, dass  der  Eifer  des  Ladens  dem  Kameraden  keinen  Augen- 
blick gönnen  sollte,  diesen  Abschiedsgruss  zu  erwidern.    Alsdann  führt  die 

ganze  Strophe  die  Handlung  nicht  mehr  weiter;"    ,und  endlich  hat 

sie  auch  eine  süsslich-sentimentale  Färbung:  alles  Momente,  die  dem  Volks- 
geschmacke zuwiderlaufet.  Die  Strophe  ist  in  der  That  überflüssig  und 
auch  sentimental  und  ist  vielfach  vergessen;  aber  ich  möchte  doch  nicht 
so  weit  gehen,  sie  im  Charakter  des  Volksliedes  für  unmöglich  zu  erklären. 
Es  liegen  trotzdem  genug  Momente  in  ihr,  sie  diesem  nahe  zu  bringen, 
wie  z.  B.  die  sehr  wesentliche  Korrektur  „Willst"  statt  „Will"  in 

Vers  11,  wodurch  die  Erzählung  in  die  für  das  Volkslied  charakte- 
ristische direkte  Anrede  verwandelt  wird.  Die  leichte  Möglichkeit  dieser 
Änderung,  sowie  ihre  Thatsache  selbst  zeigt,  wie  vortrefflich  Uhland  den 
Ton  des  Volksliedes  getroffen  hat.  Es  hätte  niemand  „willst"  gesetzt, 
wenn  das  Ganze  bloss  als  Kunstlied  empfunden  worden  wäre.  Das  Volk 
nahm  aber  das  Gedicht  ohne  weiteres  in  seinen  Liederschatz  auf  und  hier 
glichen  sich  dann  die  wenigen  fremden  oder  ungewohnten  Änderungen 
seiner  Form  fast  wie  von  selbst  durch  eine  Art  Analogie  mit  denen  des 
traditionellen  Volksliedes  aus.  „Willst"  ändert  in  dem  Bilde  des  ganzen 
Vorgangs  nicht  das  Geringste.  Der  Freund  sieht  den  gefallenen  Kameraden 
noch  die  Hand  erheben,  aber  er  hat  sein  Gewehr  zu  laden  und  kann  sich 
nicht  um  ihn  kümmern.  Die  direkte  Anrede  „Willst  mir  die  Hand  noch 
reichen?"  ist  beinahe  noch  feiner;  da  der  Überlebende  den  Vorgang  in 
einer  Frage  halb  an  den  Gefallenen,  halb  an  sich  selbst  gerichtet,  schildert, 
so  bleibt  dadurch  offen,  ob  der  Getroffene  ihm  in  der  That  noch  einmal 
die  Hand  drücken  wollte,  oder  ob  er  sie  nur  ganz  unwillkürlich  erhob, 
wie  es  jeder  Fallende  thut,  um  geholfen  zu  bekommen.  —  Statt  „will" 
und  „willst"  recitierte  eine  Lehrerin,   im  übrigen  streng  den  Uhlaudschen 


Zur  Volksdichtung.  83 

Text  gebend:  „wollt"'.  Es  konnte  ein  Versehen  sein  und  erklärlich  aus 
den  einleitenden  Präteritalformen.  —  Bemerkt  sei  endlich  noch  zu  diesem 
Vers  die  fast  regelmässige  Änderung  von  „reichen"  in  das  geläufigere 
„gehen"  aus  Vers  13,  sowie  eine  vielfach  zu  beobachtende  Verwechslung 
der  beiden  Verse. 

Vers  12  hörte  ich  da  und  dort  „lag"  statt  „lad'". 

Vers  14  und  15.  „Bleib  du  am  ewigen  Leben,  mein  guter  Kamerad" 
—  ich  entsinne  mich  kaum,  in  meinen  Knabenjahren  anders  gehört  zu 
haben,  freilich  fiel  die  ganze  Strophe  häufig  weg;  der  Bursche  meines 
Vaters  jedoch  sang  bestimmt:  „am".  Er  brachte  deu  Vers  zweifellos  mit 
dem  ihm  weit  näher  liegenden  Ausdruck  „am  Leben  bleiben"  zusammen, 
vielleicht  weil  er  es  das  erste  Mal  falsch  verstanden,  und  sang  „ewig"  mit, 
weil  er  keinen  weitern  Ersatz  dafür  wusste.  Vers  15  war  dann  Anrede 
oder  Apposition.  Diese  Verwechslung  wäre  ausgeschlossen  gewesen,  wenn 
Vers  15  „Ein  guter  Kamerad"  gelautet  hätte,  wie  mau  ebenfalls  hören 
kann.  Aus  diesem  Irrtum  aber  ergab  sich  ein  Rückschluss,  der  das  ganze 
Gedicht  veränderte,  nämlich:  dass  die  Kugel  nur  verwundet,  nicht  aber 
tötet.  So  falsch  dies  war,  so  legte  doch  ich  selbst,  von  jenem  „am"  be- 
einflusst,  mir  das  Gedicht  als  Knabe  nie  anders  aus,  bis  ich  eiumal  das 
rätselhafte  „ewig"  zu  verstehen,  meine  Mutter  und  Unland  zu  Rate  zog  . . . 
Vielleicht  lässt  sich  dieser  Irrtum  erklären.  Betrachtet  man  das  ganze 
Gedicht,  so  ist  jeder  einzelne  der  ersten  dreizehn  Verse  für  sich  selbständig 
und  kann  vom  folgenden  durch  irgend  eine  Interpunktion  getrennt  werden; 
nur  14  und  15  bilden  einen  Gedanken.  Der  Bursche  hatte  erst  falsch 
verstanden,  saug  „am"  statt  „im"  uud  dachte  dabei  an  den  Ausdruck  „am 
Leben  bleiben".  Ein  gewisses  unbewusstes  Gefühl  für  Parallelismus,  gegen 
den  im  ganzen  Gedicht  nur  diese  zwei  Verse  Verstössen,  wofür  ihm  aber, 
einmal  irregeleitet,  eine  Erklärung  mangelte,  befestigte  dann  den  Irrtum 
und  als  drittes  Moment  träte,  das  erste  entschuldigend  oder  doch  erklärend, 
hinzu,  dass  seinem  naiven  Denken  eine  Antwort  des  Freundes  im  Sinne 
von:  , bleib  du  nur  am  Leben!  deine  Wunde  kann  wieder  heilen!  ich  lebe 
ja  auch  noch  und  will  meinen  Freund  nicht  verlieren',  sicher  natürlicher 
geschienen  hätte,  als  die  sentimentale  Wendung,  die  Unland  durch  seinen 
Schluss  dem  Ganzen  gab.  Doch  ist  hierzu  eine  weitere  Thatsache  zu  be- 
merken, die  für  den  Text  unserer  Volkslieder  von  nicht  unwesentlicher 
Bedeutung  ist,  dass  nämlich  beim  Gesang  die  Worte  oft  durchaus  willkür- 
lich gegeben  werden,  und  sich  niemand  im  geringsten  daran  stösst,  mit- 
unter den  grössten  Unsinn  zu  singen.  Die  erste  Strophe  ist  meist  bekannt, 
in  der  zweiten  wird  das  Gedächtnis  schon  unsicher,  und  wird  immer 
weniger  zuverlässig,  je  länger  das  Gedicht  ist.  Man  behilft  sich,  die 
Melodie  mit  Mala  —  weiterzuführen  (die  Melodie  haftet  meist  treuer), 
oder  man  , macht  sich  rasch  irgend  einen  Reim". 

6* 


84  Flaischlen :    Zur  Volksdichtung. 

Derartige  Improvisationen  knüpfen  dann  entweder  an  den  äusseren 
Reim  des  Wortes  an,  oder  durch  den  Gleichklang  irgend  einer  anderen 
Melodie  verlockt  an  deren  Text,  oder  aber  es  sind  absichtliche  Ein- 
schaltungen des  Singenden,  welche  dann  meist  eine  gewisse  parodistische 
Wendung  haben.  Das  erste  illustrieren,  bewusst  und  zu  erhöhter  komischer 
Wirkung  ausgebeutet,  jene  Couplets,  in  denen  jeder  Yers  einem  anderen 
Gedichte  entnommen  ist,  mit  dem  vorgehenden  aber  nicht  logisch,  sondern 
nur  durch  den  Reim  verbunden  ist.  Das  zweite  ist  ein  potpourriartiges 
Ineinanderübergehen  zweier  Lieder.  Das  dritte  könnte  man  Neudichtung 
nennen.  So  erinnere  ich  mich,  als  Beispiel  zu  diesem  letzteren,  aus  einer 
Gesellschaft  junger  Leute,  dass  ein  Bräutigam,  nach  einer  halbernsten 
Neckerei  mit  seiner  Braut,  mit  komischem  Pathos  anfing:  „Mei  Diarndl  is 
harb  auf  mi  —  und  i  woass  nit  warum  — "  worauf  das  junge  Mädchen 
ohne  weiteres  lachend  fortfuhr:  „Und  wann  du  di  umbringst  —  so  war 
dös  recht  dumm!"  Als  weiteres  Beispiel  für  solche  Neudichtung  in  Bezug 
auf  das  Uhlandsche  Gedicht  stehe  hier  noch  eine  Wendung,  die  ich  aus 
dem  Munde  eines  Berliner  Malermeisters  hörte;  er  sang: 

Er  liegt  zu  meinen  Füssen, 
Kaum  einen  Schritt  von  mir! 

Als  ich  fragte,  ob  es  auch  so  heisse,  wie  er  singe,  besann  er  sich, 
gab  zu,  es  könnte  wohl  anders  lauten,  erinnerte  sich  jedoch  des  richtigen 
Textes  nicht  im  geringsten. 

Oft  werden  auch  verschiedene  Strophen  des  gleichen  Gedichts  durch- 
einander geworfen.  Man  ist  fröhlicher  Stimmung,  singt  und  giebt  als  Text 
dazu,  was  einem  gerade  über  die  Lippen  kommt.  So  hörte  ich  und  nicht 
nur  einmal  und  nicht  etwa  immer  nur  absichtlich,  sondern  häufig  völlig 
unbewusst  und  gedankenlos: 

Die  Trommel  schlug  zum  Streite, 
Er  ging  an  meiner  Seite, 
Als  wär's  ein  Stück  von  mir! 

worauf  dann  gleich  die  dritte  Strophe  angestimmt  wurde.  Dass  sich  in 
unsern  Volksliedern  derartiger  Unsinn  hin  und  wieder  festgewurzelt  hat, 
liegt  mir  ausser  Zweifel.  Die  Forschung  sollte  auch  dieses  Moment  jeden- 
falls nicht  so  schlechthin  unberücksichtigt  lassen.  Selbst  ein  Unsinn  wird 
dann  und  wann  bestimmend  und  kann  sich  so  festsetzen,  dass  es  mitunter 
unmöglich  werden  kann,  ihn  zu  enträtseln  und  auf  seine  richtige  Quelle 
zurückzuführen. 


Znsatz  von  Prof.  Steinthal. 

Über  den  Einfluss  der  Melodie  auf  die  Gestaltung  des  Textes  im 
Volksmunde  habe  ich  folgende  Beobachtung  gemacht.  In  Heines  Loreley 
Trifft  es  sich,  dass  im  dritten  Verse  der  ersten  Strophe  die  Melodie  auf  die 


Kleine  Mitteilungen.  85 

erste  Silbe  des  Wortes  „alten"  mehrere  Moren  legt,  so  dass  man  singen 
muss:  aaalten.  Um  diesem  Übelstande  zu  entgehen,  singt  man,  wie'  ich 
gehört  habe,  uralten. 

Endlich  bemerke  ich,  dass  wie  der  Text,  so  zuweilen  auch  die  Melodie 
in  der  Volksstimine  sich  ändert.  So  habe  ich  von  marschierenden  Land- 
wehrleuten den  ersten  Vers  unsers  Uhlandschen  Liedes  mit  ganz  anderer 
Melodie  singen  hören,  und,  wie  mir  scheint,  mit  schönerer,  d.  h.  passenderer 
Melodie. 


Kleine  Mitteilungen. 


Regeuzauber  in  Osteuropa. 

Ign.  J.  Hämisch  hat  schon  im  Jahre  1842  (Die  Wissenschaft  des  Slawischen 
Mythus,  S.  295)  hervorgehoben,  dass  in  der  russischen  Landschaft  Archangelsk  die 
Leute  am  23.  Juni  im  Flusse  baden  und  „Kupalnitza"  streuen.  Dass  dieses  Baden 
die  Hervorrufung  von  Regen  zum  Zwecke  hat,  sagt  der  genannte  Autor  nicht; 
dennoch  scheint  ihm  diese  Vorstellung  vorgeschwebt  zu  haben,  da  er  gleichzeitig 
auf  das  in  Serbien  besonders  bei  Wassermangel  gefeierte  Dödola-Fest  hinwies,  bei 
welchem  ein  Mädchen,  das  ganz  mit  Gras,  Kräutern  und  Blumen  umwunden  ist, 
unter  Tanzen  mit  Wasser  begossen  wird. 

Nicht  so  harmlos  ist  der  Brauch,  welcher  bei  grosser  und  anhaltender  Dürre 
zur  Erlangung  von  Regen  im  Laufe  des  Frühjahrs  und  der  ersten  Sommermonate 
in  West-  und  Südwestrussland  beobachtet  wird. 

Im  12.  Bande  des  von  Prof.  Jagic  herausgegebenen  Archivs  für  slawische 
Philologie  (Berlin  1890)  berichtet  M.  Murko  (S.  640)  nach  einer  dem  „Odesskij 
Listok"  aus  Jampol  in  Podolien  zugekommenen  Korrespondenz,  dass  in  einem 
grossen  Dorfe  (der  Name  wird  nicht  genannt)  das  Volk  nach  dem  allgemeinen 
Gebete  in  der  Kirche  den  Geistlichen  im  Ornate  auf  die  Erde  geworfen  und  hierauf 
mit  Wasser  begossen  habe.  Am  Tage  des  Ivan  Kupalo  (Johannes  des  Täufer) 
aber,  berichtet  Murko  weiter,  badeten,  um  Regen  hervorzurufen,  die  Weiber,  ohne 
die  Kleider  abzulegen,  in  grossen  Haufen  im  Flusse,  indem  sie  dem  rKupalo", 
welchen  sie  sich  aus  Zweigen,  Gras  und  Kräutern  angefertigt  hatten,  den  Weihe- 
guss  gaben. 

Ein  anderer  Fall  von  Regenzauber,  der  sich  in  Südrussland  ereignete,  wird 
im  „Urquell",  Bd.  II  S.  204—205  erzählt. 

Im  Juni  des  Jahres  1884  herrschte  in  Peresadowka  (Gouvernement  Cherson) 
grosse  Dürre.  Die  Bauern  schrieben  dieselbe  drei  alten  Weibern  zu,  die  bei  ihnen 
als  Hexen  galten.  Diese  Weiber  wurden  in  das  Dorfamt  beschieden  und  beauf- 
tragt, bis  zum  17.  Juni  Regen  zu  schaffen.  Um  aber  den  Regen  desto  sicherer 
zu  erlangen  oder  vielleicht  auch  um  die  Ankunft  desselben  zu  beschleunigen,  liess 
man    sie   einstweilen  im  Flusse  baden.  —  Als  der  festgesetzte  Tag  herankam  und 


86  polek: 

noch  immer  kein  Regen  fiel,  wurden  die  Bauern  ungeduldig.  Sie  schleppten  die 
Hexen  vor  die  Dorfobrigkeit,  wo  man  ihnen  anfangs  drohte,  weil  sie  den  Regen 
verscheucht  hätten;  als  aber  die  Weiber  trotzige  Antworten  gaben,  flehte  man  sie 
unter  Thränen  an,  sie  möchten  sich  erbarmen  und  es  regnen  lassen.  Jene  erwiderten, 
sie  könnten  nicht  mehr  helfen,  denn  sie  hätten  den  ganzen  Regen  an  den  Berg 
Athos  verkauft.  Die  Aufregung  legte  sich  allmählich  und  „mit  tiefem  Unwillen 
hörte  man  jetzt  von  den  Bauern  das  Wort  Athos  aussprechen,  der  Quelle  alles 
ihres  Übels,  wie  sie  meinten". 

Der  Glaube  an  den  Regenzauber  war  einst  und  ist  vielleicht  noch  heute  auch 
unter  der  Bukowiner  Landbevölkerung  ruthenischer  und  rumänischer  Nationalität 
verbreitet. 

Unterm  8.  Juni  1790  (a.  St.)  berichtete  infolge  mündlichen  Auftrags  der  gr.-or. 
Erzpriester  von  Czernowitz  dem  bischöflichen  Konsistorium,  dass  die  Bauern  von 
Scheroutz  und  Werboutz  (ruthen.)  alle  Weiber  zusammengerufen  und  zu  baden  ge- 
zwungen hätten,  „damit  es  regnen  solle".  Dabei  sei  zu  Werboutz  ein  Weib  er- 
trunken und  ein  anderes  todkrank  geworden1). 

Über  einen  zweiten  Fall  von  derartigem  Aberglauben  in  der  Bukowina  haben 
die  Österr.  Blätter  für  Litteratur,  Kunst  etc.  im  Jahre  1847  (IV.  Jahrg.  Nr.  296) 
ein  Verhör-Protokoll  dd.  St.  Ilie,  den  24.  Juni  1797  veröffentlicht,  dem  wir  folgendes 
entnehmen. 

An  dem  genannten  Tage  klagten  Flora  Illuana  und  Titiana  Buseu,  Weiber 
aus  Keschwana  (rumänisch),  dass  sie  „mit  mehren  ihres  Geschlechtes  und  zween 
Männern"  auf  Anstiften  eines  gewissen  Simeon  Ropa  von  dem  Pfarrer  (!),  dem 
Richter  und  den  Geschworenen  ihres  Dorfes  als  Hexen,  „welche  den  Regen  ge- 
sperrt haben  sollten",  angegeben,  dann  „nacket  ausgezogen  und  in  den  geheimsten 
Teilen,  sowie  über  den  ganzen  Körper  überhaupt  genau  und  zwar  im  Beisein  vieler 
Menschen  und  des  Priesters  untersucht"  und  hierauf  ins  Wasser  geworfen  worden 
seien. 

Über  den  Sachverhalt  befragt,  gab  der  Ortsrichter  Michailo  Putzu  zu  Proto- 
koll: Man  habe  gehört,  dass  in  Badeutz.  Bulla  (rumän.)  und  an  anderen  Orten 
„Untersuchung"  gepflogen  worden  sei.  Infolgedessen  habe  man  auch  in  Keschwana 
den  Beschluss  gefasst,  „untersuchen  zu  lassen,  welche  aus  ihrer  Gemeinde  die 
Zeichen  einer  Hexe  an  sich  tragen".  Da  sie  aber  diese  Zeichen  nicht  kannten, 
habe  Simeon  Ropa,  der  sie  in  anderen  Ländern  kennen  gelernt  zu  haben  vorgab, 
seine  Dienste  angeboten.  Nun  seien  von  zwei  Männern  die  männlichen  und  von 
zwei  Weibern  die  weiblichen  Dorfbewohner  der  Untersuchung  unterzogen  worden. 
Dabei  solle  man  an  der  Flora  Illuana  und  der  Titiana  Buseu,  sowie  an  drei 
anderen  Weibern  und  zwei  Männern  „einige  Zeichen"  gefunden  haben.  Hierauf 
seien  diese  Sieben  im  Beisein  des  Pfarrers  und  sechs  anderer  Personen  nochmals 
und  zwar  von  Simeon  Ropa  „ganz"  untersucht  worden,  und  da  letzterer  sich 
äusserte,  „dass  alle  diese  Zeichen  haben,  folglich  getaucht  werden  müssen",  so 
habe  man  dieselben,  nachdem  man  ihnen  vorher  die  Hände  bei  den  Beinen 
zusammengebunden,  nach  Ropas  Anleitung  „getaucht".  Hierbei  seien  alle  bis  auf 
die  zwei  Männer  als  Hexen  befunden  worden,  „weil  sie  nicht  wie  jene  unter- 
gesunken seien". 

Als  hierauf  der  Untersuchungsrichter  von  den  Beteiligten  die  Erklärung  ab- 
verlangte, „was  eine  Hexe  sei",  da  wusste  es  keiner,  auch  Simeon  Ropa  nicht,  zu 


1)    J.  Polek,  Die  Anfänge  des  Volksschulwesens  in  der  Bukowina.    Czernowitz  1891. 
Seite  12. 


Kleine  Mitteilungen.  87 

sagen.    Auf  die  Frage  aber,    warum  sie  also  diese  Weiber  ins  Wasser  geworfen 

hätten,  gaben  sie  zur  Antwort:   „Weil  es  lange  nicht  geregnet  hatte,  und  sie  hoffen, 
durch  das  Tauchen  Regen  zu  erhalten". 

Czernowitz.  Dr.  J.Pol  ek. 


Miscellen. 


I.    Wochentagsnamen  als  Personennamen1). 

Ein  sehr  beliebter  und  seit  alter  Zeit  gebräuchlicher  syrischer  Name  ist  Bar 
Haäb'sabbä  (verkürzt  unter  anderen  in  tfabsab,  Zeitschr.  d.  Deutschen  Morgenl. 
Ges.  XXV.  518)  d.  i.  „Sonntagssohn"'  (zu  „Sonntag"'  verkürzt)  gräcisiert  in  der 
Form  Bapn|/a(3(3a5   (Payne  Smith  Thes.  syr.  587). 

Hierher  gehört  auch  der  arabische  Name  '  Aniba,  d.  i.  Freitag  (jüdisch  'Arübd 
Juchasin  (Filipowski)  7C,  1.  4).  Von  einem  Wochentagsnamen  ist  schon  der  alt- 
testamentliche  Name  Sabtai  (zu  Sabbat,  Sabbatli,  gehörig)  gebildet. 

IL    Das  Zeichen  des  ausfahrenden  bösen  Geistes. 

Josephus  erzählt  (Antiquit.  Jud.  VIII.  40)  vom  Konig  Salomo,  er  habe  Gesänge 
verfasst,  durch  die  Krankheiten  besprochen  werden  (ncip^yopeira.!.)  und  Beschwörungs- 
formeln hinterlassen,  mit  denen  man  die  Dämonen  so  verjagen  kann,  dass  sie  nie 
wieder  zurückkehren.  Er  fährt  dann  folgendermassen  fort:  „Dieses  Heilverfahren 
besieht  auch  jetzt  noch  bei  uns  in  voller  Kraft.  Ich  habe  erfahren,  dass  ein  ge- 
wisser Eleazar,  einer  unserer  Landsleute,  in  Gegenwart  des  Vespasian,  seiner  Söhne, 
der  Heerführer  und  einer  grossen  Menge  Soldaten  Besessene  von  ihren  bösen 
Geistern  befreite.  Die  Heilung  bestand  nun  in  folgendem:  Er  brachte  an  die 
Nase  des  Besessenen  einen  Ring,  der  unter  seinem  Steine  eine  von  Salomo  be- 
stimmte Wurzel  [wahrscheinlich  ist  die  Mandragora  gemeint ')]  enthielt  und  zog 
ihm  dann,  wenn  er  daran  roch,  den  Dämon  aus  der  Nase.  Der  Besessene  ward 
dann  sogleich  ruhig;  er  aber  beschwor  den  Geist  mit  dem  Eide  Salomos,  nie 
wieder  in  den  Besessenen  zu  fahren,  indem  er  dabei  die  von  dem  König  ver- 
fassten  Gesänge  recitierte.  Um  aber  den  Umstehenden  zu  beweisen,  dass  er  wirk- 
lich diese  Kraft  besitze,  stellte  er  ein  kleines,  mit  Wasser  gefülltes  Gefäss  oder  ein 
Fussbecken  in  der  Nähe  auf  und  befahl  dem  Dämon ,  dieses  beim  Austreten  umzu- 
kehren und  so  den  Zuschauern  deutlich  zu  zeigen,  dass  er  den  Menschen  verlassen  habe.11 

Ein  ähnlicher  Zug  begegnet  uns  in  einer  späteren  jüdischen  Erzählung3). 
Rabbi  Simeon  soll  die  Juden  von  einer  sie  bedrohenden  schweren  Verfolgung 
durch  Bitten  beim  Kaiser  erretten.  „Als  die  Matrosen  auf  das  Schiff  gehen,  tritt 
einer  von  ihnen  dem  Rabbi  auf  den  Hals.  In  demselben  Momente  fuhr  ein  böser 
Geist  aus  seinem  Munde  heraus.  Als  nun  der  Rabbi  seine  Augen  hob,  sah  er 
den  Geist  auf  dem  Mastbaum  sitzen.  Er  fragte  ihn  nun:  „Wie  heisst  du?"  Der 
erwiderte  „Smdün4)  Josephs  Sohn".  „Und  was  wülst  du  hier?"  „Ich  will  für 
dich  ein  Wunder  thun" „Um'   worin   soll   dies  Wunder  bestehen?"     „Ich 


1)  Vgl.  M.  Hartman«  in  dieser  Zeitschrift  II,  320. 

2)  Oder  Baüott;  Low  Aram.  Pflanzennamen  188? 

3)  Die  Vatikanische  Handschrift  der  Halachoth  Gedoloth  etc.  besproch.  von  Hildes- 
heimer  S.  17.    Vgl.  dazu  Babli  Me'iläh  17  a  und  17  b. 

4)  Aussprache  nicht  mit  Sicherheit  zu  ermitteln. 


88  Godden: 

werde  in  die  Kaisertochter  fahren,  und  sie  soll  beständig  schreien:  „Bringt  mir 
den  Rabbi  Simeon,  dass  er  mich  heile1)."  Wenn  du  aber  dann  zu  ihr  kommst, 
dann  flüstere  in  ihr  Ohr2)  und  ich  werde  aus  ihr  herausfahren"  —  .£ 'nd  woran  soll 
ich  erkennen,  dass  du  aus  ihr  gefahren  bist?"  „fa  demselben  Augenblicke  sollen  alle 
Glasgefässe  im  kaiserlichen  Palaste  zerbrechen."-  —  Der  Dämon  fährt  in  die  Prin- 
zessin, sie  schreit  nach  dem  Rabbi,  man  holt  ihn,  er  verspricht  sie  zu  heilen  und 
der  Kaiser  fragt:  .Woran  sollen  wir  erkennen,  dass  der  Dämon  ausgefahren  ist?" 
Der  Rabbi  nennt  das  Zeichen.  Er  flüstert  in  ihr  Ohr,  sie  wird  ruhig  und  sogleich 
zerbrechen    alle  Gefässe.     Zum  Danke  hebt  der  Kaiser  die  Verfolgungsdekrete  auf. 

In  den  Vitae  patrum  (Migne  Patrolog.  Curs.  complet,  Lat.  Serie  72)  7G0  findet 
sich  eine  Erzählung  von  der  Austreibung  eines  bösen  Geistes.  Hier  giebt  der 
Geist  seinen  Austritt  dadurch  deutlich  kund,  dass  er  ein  Stück  Mauerwerk  umstösst. 

Andere  Zeichen  (Gestank,  Geschrei)  sind  so  bekannt,  dass  es  nicht  nötig  ist, 
auf  sie  näher  einzugehen. 

Breslau.  Siegmund  Fraenkel. 


Grozdanka  uud  Jaldalrj. 

Ich  möchte  die  Aufmerksamkeit  unserer  geehrten  Mitglieder  auf  eine  Bemer- 
kung Dr.  W.  Mannhardts  lenken,  die  sich  in  seinen  „Celtischen  Sonnenmythen" 
(Zeitschrift  für  Ethnologie.  1875)  findet.  Seite  285,  indem  er  die  Geschichte  des 
.Lorbeerkindes"  mit  „falsche  Braut"  erklärt,  sagt  er:  —  „die  Vertauschung 
der  wahren  Braut  durch  eine  falsche  ist  ein  bekannter  mythischer 
Ausdruck  —  —  — " 

Von  welchen  Mythen  oder  Gebräuchen  spricht  er?  Und  müssen  solche,  wie 
er  sagt,  mit  Xacht  und  'Winter  zu  thun  haben? 

Die  einzigen  Beispiele,  welche  ich  kenne,  sind  das  wohlbekannte  Fest  der 
Daidala  (Aa'cctÄ.v;),  und  die  bulgarische  Feier  der  Grozdanka. 

Wenn  einer  der  Leser  unserer  Zeitschrift  weitere  Beispiele  wüsste.  so  würden 
wir,  denke  ich,  der  Lösung  des  Rätsels  der  Bedeutung  dieses  altgriechischen  Hera- 
festes  einen  Schritt  näher  kommen;  und  nicht  nur  diesem,  sondern  auch  dem  Ver- 
ständnis des  Kultus  der  Jahresgötter  überhaupt. 

Die  Hauptpunkte  des  Ritus  der  griechischen  Jahresgötter  scheinen  zu  sein 
der  avcoc.-.  der  hph  -vauc;.  und  der  xxtiobc;  — ,  d.  h.  das  Aufsteigen,  die  Heilige 
Hochzeit  und  das  Hinabsteigen  (oder  die  Rückkehr).  Ich  darf  kaum  die  deutschen 
Gelehrten  an  die  Jahres  -  Gebräuche  der  Bauern  erinnern,  die  Mannhardt  so  aus- 
führlich in  seinem  Buche  ..Der  Baumkultus"  beschrieben  hat.  Zum  Beispiel  die 
Maibraut  (Baumkultus  c.  5),  Kornaufwecken  (c.  6)  und  Frühlingseintritt  (c  4). 

Zur  Bequemlichkeit  stelle  ich  die  griechischen  und  bulgarischen  Parallelen 
hier  nebeneinander,  in  der  Hoffnung,  weitere  Analogieen  dafür  zu  erlangen,  welche 
die  Handlungen  des  Kultus  oder  die  rituellen  Hochzeitgebräuche  aufklären. 

Grozdanka.  Daidala  (Aai'öctXvj). 

„Der  Sonnengott  (Sclunce  männl.  die  „Man   sagt,   dass  Zeus,   als  Hera  mit 

Sonne)  hebt  am  Tage  des  hl.  Georg  in      ihm  gezankt  hatte,  umherwanderte,  bis 


1)  Bekannter   märchenhafter  Zug,    der   in    der  Geschichte   vom  .dankbaren  Toten" 
vielfach  wiederkehrt. 

2)  seil,  eine  magische  Formel. 


Kleine  Mitteilungen.  89 

einer    goldenen    Wiege    Grozdanka    als  Alalkomenes  ihm  vorschlug,  sie  zu  hinter- 

Braut  zu  sich  empor,  wo  sie  neun  Jahre  gehen  durch  eine  vorgespiegelte  Heirat, 

stumm   ist;    weshalb  sie  einer  anderen  Er  schmückte  eine  Eiche  als  Braut,  gab 

Braut  den  Platz  räumen   und  selbst  als  ihr  Gestalt  und  nannte  sie  Daidale  (Aai- 

Brautfiihrerin  bei  der  Hochzeit  eintreten  i'ttXvj).     Als  Hera    voller  Zorn   zu  Zeus 

muss.    Dabei  entzündet  sich  der  Schleier  kam ,    sang    man    den    Brautchor    und 

der   unrechten    Braut  —  —  —  —  jene  brachte  Wasser.     Als  die  List  entdeckt 

findet  ihre  Sprache  wieder  imd  wird  des  wurde,    versöhnte   sie  sich  lachend  mit 

Sonnengottes  Gemahlin."  Zeus,    und  sie  selbst  führte  den  Braut- 

W.  Mannhardt,  Celtische  Sonnenmythen.  z"g-  Sie  verbrannte  das  Bild  „Daidala"." 

Zeitschr.f. Ethnologie.  VII.  S.236  (citiert:  Auszug  von  Plutarch.  Fragmente  IX.  6 

Krech  Slaw,  Lit.  S.  82).  (cf.  Pausanias  IX.  3). 


Nachdem  das  Vorhergehende  geschrieben  war,  habe  ich  aus  dem  „Bericht 
des  Internationalen  Kongresses  über  Volkskunde  von  1891"  welcher  eben  ver- 
öffentlicht ist,  ersehen,  dass  meine  Hoffnung,  eine  Erklärung  der  Daidala  -  Pest- 
gebräuche und  -Mythen  zu  finden,  soweit  es  die  primitiven  Hochzeitsgebräuche 
betrifft,  durch  Dr.  Winternitz  unterstützt  wird. 

In  seinem  Aufsatz  über  „Indo- europäische  Gebräuche"  sagt  er:  „Die  Sitte, 
eine  alte  Prau  als  Braut  einzuschieben,  ist  gewiss  einer  der  vorherrschendsten 
Gebräuche  unter  den  slavischen,  deutschen  und  romanischen  Nationen  („Report 
of  the  International  Folklore  Congress  1891"  p.  269;  Dr.  Winternitz  citiert  hier 
A.  Weber,  Indische  Studien  V.  393,  und  Dr.  Schroeder,  „Hochzeitsgebräuche  der 
Esten,  p.  72) '). 

Diese  Hoffnung  wird  noch  verstärkt  durch  Professor  J.  B.  Fevons  in  seinem 
Aufsatz  über  „Den  Ursprung  der  asiatischen  Völker",  in  welchem  er  sagt:  „Die 
Sitte,  eine  alte  Frau  in  Verkleidung  für  die  Braut  zu  vertauschen,  wenn  der 
Bräutigam  kommt,  um  sie  zur  Kirche  abzuholen,  wird  an  vielen  Orten  gefunden, 
in  Deutschland,  der  Schweiz,  unter  den  Polen,  den  Wenden,  den  Winden,  den 
Serben,  in  Rumänien,  Frankreich,  und  wenn  Usener  (Rhein.  Mus.  XXX.  183)  bei 
seiner  Auslegung  der  Stelle  in  Ovid  (Fasti  III.  677)  recht  hat,  auch  unter  den 
alten  Römern". 

Sollte  ich  nicht  hoffen,  nähere  Umstände  über  einen  so  weitverbreiteten  Euro- 
päischen Gebrauch  zu  erfahren  und  auch  Beispiele  unter  den  Naturvölkern? 

Ich  verdanke  der  Güte  des  Herrn  Prof.  Dr.  Weinhold  einen  Hinweis  auf  die 
Geschichte  der  „Falschen  Braut"  welche  Herr  Olrik  in  Bd.  II  S.  252  unserer 
Zeitschrift  veröffentlichte  (Sigrid  und  Othar  u.  s.  w. ),  und  welche  ich  über- 
sehen habe. 

Ridgefield,  Wimbledon,  England.  Gertrude  M.  Godden. 


Gefesselte  Götter. 

Herrn   Professor  W.  Schwartz    spreche    ich  meinen  besten  Dank  aus  für  die 
Aufmerksamkeit,    die  er  in  unserer  Zeitschrift  II,  197—199  meiner  Anfrage    (ebd. 

1)   Vgl.  auch  Winternitz,  Das  altindische  Hochzeitrituell  in  Denkschriften  der  Wiener 
Akademie  XL.  1,  4.  (Wien  1892). 


90  Dirksen: 

IT,  84)  geschenkt  hat.  Ich  kann  aber  nicht  umhin,  zu  erklären,  dass  ich  von  der 
Ansicht  des  Herrn  Professor  abweiche  und  die  Erklärung  der  Fesselung  der  Götter 
nicht  in  den  Mythen  der  Naturphaenomena.  sondern  in  dem  primitiven  Kultus  der 
lokalen  Geschlechter  suche,  der  sich  aus  dem  Kultus  der  Naturvölker  und  aus 
den  Gebräuchen  der  Bauern  erheben  lässt.  Ich  glaube,  dass  die  Begräbnissitten 
das  Rätsel  lösen  werden,  und  will  hier  nur  auf  eine  Mitteilung  des  Herrn 
A.  Merensky  in  der  Zeitschrift  für  Ethnologie  VH,  19  hinweisen:  „Einige  unter 
den  Troglodyten  beerdigen  ihre  Toten,  indem  sie  sie  vom  Hals  bis  zu  den  Füssen 
festbinden  mit  Ruten  vom  Dornenstrauch.  Letzteres  ist  genau  der  Gebrauch  der 
Hottentotten,  welche  früher  die  Toten  nicht  nur  banden,  wie  andere  afrikanische 
Stämme,  sondern  förmlich  einwickelten." 

Vielleicht  wird  sich  finden,  dass  das  Fest  der  Tonea  nur  das  Begräbnisfest 
der  Hera  ist. 

Ridgefield.  Gertrude  M.  Godden. 


Aus   Ostfriesland. 
Yon  Karl  Uirkseu. 

I.  Köteldümke 

heisst  in  Ostfriesland  der  kleine  Däumling.  Seine  Geschichte  gehört  zu  den  be- 
kanntesten. Das  Wort  köteldümke  kommt  im  ostfriesischen  Wörterbuch  von 
Doornkaat-Koolman  nicht  vor:  ebenso  fehlen  die  Ausdrücke  kötelketrekken  und: 
kötelketrekkers.  Beim  kötelketrekken  werden  die  Kinder  in  zwei  Haufen  abgeteilt. 
Sie  stellen  sich  in  Flankenstellung  gegen  einander  auf,  umfassen  sich  mit  den 
Armen  und  suchen  sich  über  einen  auf  dem  Boden  bezeichneten  Strich  zu  ziehen. 
Diese  Thätigkeit  des  Ziehens  nennt  man  kötelketrekken.  Beim  kötelketrekken  soll 
festgestellt  werden,  welche  Partei  die  schwächere  ist,  mithin  im  Wettstreit  den 
kürzeren  zieht.  Den  lauten  Jubel  der  Sieger  suchen  die  Überwundenen  durch:  slip 
fit.  kötelketrekkers!  abzuschwächen.  —  Nach  dieser  kleinen  Abschweifung  möge 
die  Geschichte  vom  Köteldümke,  die  uns  mitten  unter  eine  andächtige  Kinderschar 
versetzt,  folgen.  Die  Mutter  erzählt:  Dar  was  mal  'n  köteldümke,  de  har  n  wagen 
fan  hikken  und  sprikken,  un  de  raden  wassen  eierdoppen,  un  de  perde,  dat  wassen 
müsen.  —  Enmal  wul  köteldümke  ütfaren.  As  he  'n  endje  hen  was,  kwam  hum 
'n  böne  integen,  de  se:  Mag  'k  man  efen  up  din  wagen?  —  „Ne,"  se  köteldümke. 
„niin  wagen  is  fan  hikken  un  sprikken,  un  de  raden  sünd  eierdoppen.  un  de  perde 
sünd  müsen.u  —  Un  de  böne  kröp  d'r  dog  up!  As  he  nog  'n  betje  wider  für. 
kwam  hum  d'r  'n  stopnadel  integen,  de  se :  Mag  'k  man  efen  up  din  wagen?  — 
„Ne,"  se  köteldümke,  _min  wagen  is  fan  hikken  un  sprikken  u.  s.  w."  Un  do 
kröp  de  stopnadel  d'r  dog  up!  Uu  as  köteldümke  nu  nog  'n  endje  wider  kwam. 
kwam  hum  d'r 'n  kolke  für  integen,  de  se:  Mag  'k  man  efen  up  din  wagen?  — 
„Ne,"  se  köteldümke,  „min  wagen  is  fan  hikken  un  sprikken,  un  de  raden  sünd 
eierdoppen,  un  de  perde  sünd  müsen."  Un  dat  kolke  für  kröp  d'r  dog  up!  As 
köteldümke  nu  wer  in  hüs  kwam,  was  he  so  möje  un  le  sük  up  bedde.  Un  as 
he  nu  so  moi  slep,  do  fung  dat  kolke  für  up  de  wagen  an  to  glümen:  im  de 
wagen  kwam  in  brand,  un  de  perde  branden  np,  un't  hei  un  stro  un  de  hele 
schür  kwam  in  brand.     Un  as  de  schür  nu  upbrand  was,  do  fung  6k  nog  dat  hüs 


Kleine  Mitteilungen.  91 

an   to   braunen,    un  de  arme  köteldümke,    de   nog  so  moi  lag  to  släpen,    brande 
mit  up. 

hikken  un  sprikken,  dürre,  leicht  zerbrechliche  Reiser,  hikken,  die  im  Frühjahr  von 
Bäumen  und  Sträuchern  abgehauenen  dünnen  Zweige  (fehlt  im  ostfriesischen  Wörterbuch). 
Das  Wort  kommt  übrigens  nur  noch  in  der  Verbindung  hikken  un  sprikken  vor.  — 
eierdoppcn,  Eierschalen  —  integen,  entgegen  —  se  gekürzt  aus  sede,  sagte  --  efen, 
eben  —  kröp,  Prät.  zu  krüpen,  kriechen  —  'n  kolke  für,  ein  Kohlchen  Feuer  —  möje, 
müde  —  möi,  schön. 


IL    Ostfriesisches  Kinderspiel. 
Dat  schäpke-  stelen 

ist  ein  Spiel,  welches  von  Knaben  und  Mädchen  gemeinsam  gespielt  wird.  Aus 
den  an  demselben  Teilnehmenden  werden  gewählt:  eine  Mutter,  deren  erwachsene 
Tochter  und  ein  Dieb.  Letzterer  wird  aus  der  Zahl  der  Knaben  genommen.  Die 
übrigen  Kinder  sind  die  Schäfchen;  sie  stehen  an  einem  als  Stall  bezeichneten 
Platz.  Die  Mutter  geht  zur  Kirche;  sie  schärft  ihrer  Tochter  beim  Fortgehen  ein, 
auf  den  Kochtopf  zu  achten  und  an  die  Schafe  zu  denken,  damit  diese  nicht  ge- 
stohlen werden.  Der  Kochtopf  nimmt  die  ganze  Aufmerksamkeit  der  Tochter  in 
Anspruch.  Sie  setzt  sich  neben  denselben,  mit  der  Hand  die  Thätigkeit  des  Um- 
riihrens  nachahmend.  Sobald  die  Mutter  sich  entfernt  hat  und  die  im  Topf  be- 
findliche Masse  zu  kochen  beginnt,  weiss  sie  sich  nicht  zu  raten  und  zu  helfen, 
und  es  entspinnt  sich  nun  zwischen  ihr  und  der  Mutter  folgendes  Gespräch,  das 
sich  so  lange  fortsetzt,  bis  sämtliche  Schafe,  die  beim  jedesmaligen  Herannahen 
des  Diebes  ihr  Geschrei  erheben,  gestohlen  sind. 

Tochter:  Moder,  moder,  d'pot  kokd  ofer! 

Antwort  der  Mutter:  Do  d'r  'n  betje  solt  in! 

Tochter:  Ik  heb't  al  dän. 

Die  Mutter  nennt  dann  noch  andere  Gegenstände,  die  dem  Essen  beizumischen 
sind,  und  die  Tochter  bestätigt  allemal:  Ik  heb't  al  dän.  Wieder  zu  Hause  an- 
gelangt, sieht  die  Mutter,  was  vorgefallen  ist;  sie  erhebt  ein  lautes  Geschrei,  und 
wenn  die  Tochter  nicht  vorzieht,  rechtzeitig  aus  dem  Hause  zu  eilen,  bekommt 
sie  für  ihre,  alle  Begriffe  übersteigende  Unachtsamkeit,  eine  gehörige  Tracht 
Prügel.  — 

In  dem  vorbeschriebenen  Spiel  spiegelt  sich  ein  Stück  Familienleben  wieder, 
das  wenig  befriedigt.  Die  Mutter  ist  eine  jener,  uns  im  Leben  vielfach  begegnenden 
Frauen,  welche  nicht  begreifen,  dass  auch  die  Versorgung  des  Haushaltes  ein  Gott 
wohlgefälliger  Dienst  ist.  Selbst  pflichtvergessen,  hat  sie  ihre  Tochter  nicht  zu 
der  Selbständigkeit  erzogen,  die  man  von  einer  guten  Hausfrau  erwartet.  Die 
Folgen  sind:  das  Vermögen  schwindet,  und  Zank  und  Streit  sind  stete  Gäste.  Es 
sind  mithin  ernste  Wahrheiten,  welche  das  Kinderspiel  veranschaulicht. 


III.    Martinilied 
aus  dem  südwestlichen  Teile  Ostfrieslands. 

Sünte  Märten,  de  is  gröt. 
Geft  rni  'n  stükje  kesenbröd, 


92  Dirksen: 

dat  is  för  Sunt- Märten! 

De  kojen,  de  dragen  de  starten, 

de  ossen,  de  dragen  de  horns, 

möi  meisjes  tragen  de  torns. 

Och  jüffrau,  sitt  jo  de  dök  6k  net?  — 

Fannafend  kumd  jo  freer. 

Kumd  he  net,  dan  häl  w:huni  net, 

dan  häl  wi  Jakub  Jansen, 

de  sal  up  de  viölke  spöln 

un  wi  wiln  singen  un  dansen. 

(Sanct  Martin,  der  ist  gross.  Gebt  mir  ein  Stückchen  Käsebrot,  das  ist  für  S.  Martin. 
Die  Kühe,  die  tragen  die  Schwänze,  die  Ochsen,  die  tragen  die  Hörner,  schöne  Mädchen 
tragen  die  Türme.  Ach  Jungfrau,  sitzt  Euch  das  Tuch  auch  nett?  —  Zum  Abend  kommt 
Euer  Freier.  Kommt  er  nicht,  dann  holen  wir  ihn  nicht,  dann  holen  wir  Jakob  Jansen, 
der  soll  auf  der  Fiedel  spielen  und  wir  wollen  singen  und  tanzen.) 


IV.    St.  Nikolaus. 

Am  Abend  des  5.  Dezember  legen  sich  in  Ostfriesland  die  Kinder,  nachdem 
sie  die  unten  folgenden  Liedchen  bis  zum  Ermüden  der  Erwachsenen  gesungen 
haben,  zeitig  zu  Bett.  In  der  Nacht  kommt,  wie  sie  wissen,  der  heil.  Niklas,  der 
nur  denjenigen  Kindern  etwas  bringt,  welche  sich  früh  zur  Ruhe  begeben.  Die 
Kleinen  haben  für  das  Pferd  des  heil.  Mannes  einen  Teller  mit  einem  Kohlblatt 
oder  einem  Stückchen  Brot  auf  den  Tisch  gestellt.  Unter  den  Gaben,  die  der 
heil.  Niklas  bringt,  befindet  sich  allemal  'n  stutenkerl  für  die  Mädchen  —  und  'n 
stutenwif  für  die  Jungen.  In  Leer  und  Umgegend  erhalten  die  Kinder  in  der 
Regel  auch  'n  stutenswin  und  einige  oranjebollen  oder  krüdstütjes.  Es  sind  dies 
weiche  Brötchen,  welchen  man  eine  den  Rossäpfeln  ähnliche  Gestalt  und  Farbe 
giebt.  Die  oranjebollen  sind  den  Kindern  etwas  durchaus  Neues,  indem  dieselben 
nur  für  die  Niklasbescherung  gebacken  werden,  und  auf  die  Frage  der  Kleinen, 
woher  der  Sünnerkläs  die  schönen  Brötchen  habe,  belehrt  man  dieselben:  De  hed 
Sünnerkläs  sin  perd  püpd.  Das  unter  III  mitgeteilte  Liedchen,  welches  in  Vers  1 
bis  7  einen  Bericht  über  den  heil.  Niklas  und  in  Vers  8—13  die  Bitte  an  den- 
selben enthält,  den  kleinen  Kindern  etwas  zu  bringen,  findet  sich  weder  im  ost- 
friesischen "Wörterbuch,  noch  in  Lüpke's  „Alte  Heimatklänge".  Vers  4  und  5 
werden  nur  verständlich,  wenn  man  liest:  un  fan  Amsterdam  nach  Spanjen.  He 
bald  appelkes  fan  Oranjen.  — 

Auch  nach  Meiderich  (Beg.-Bez.  Düsseldorf)  kommt  der  heil.  Niklas;  aber 
merkwürdigerweise  kennt  man  hier  kein  einziges  Niklaslied.  Die  hiesigen  Kinder 
legen  ein  dem  Holzschuh  nachgebildetes  „Klümpke"  auf  ihren  Teller,  das  sie  ge- 
wöhnlich aus  einer  Wurzel  oder  einer  Rübe,  aber  auch  wohl  aus  einem  Stückchen 
Holz,  Kreide  u.  s.  w.  mit  grosser  Geschicklichkeit  anzufertigen  verstehen.  Sie 
erhalten  ausser  anderen  Kleinigkeiten  auch  stets  einen  Stutenmann  geschenkt,  der 
eine  irdene  Pfeife  im  Munde  hält;  Stutenfrauen  aber  werden  nicht  gebacken.  Man 
macht  mithin  bei  den  Geschenken  keinen  Unterschied  zwischen  Knaben  und 
Mädchen. 

Es  folgen  nun  die  Liedchen. 


Kleine  Mitteilungen.  93 


1. 


Sünnerkläs,  du  gode  blöd, 
breng'  mi  'n  stükje  sükkergöd, 
net  to  föl  im  net  to  min.  — 
Smit  mi't  man  to  d'  schöstein  in ! 

(Sünnerkläs  =  Sanct  kläs.  —  Sükkergöd  =  Zuckerzeug.  —  net  =  nicht.  —  föl  =  viel, 
min  =  wenig.  —  Schöstein  =  Schornstein.) 

2. 

Sünnerkläs  up't  witte  perd 
steid  fdr  d'  bakkers  döre. 
„Bakker,  dö  mi  d'  döre  open; 
ik  wil  sünnerkläsgöd  kopen 
för  de  lütje  kinnerkes, 
de  so  möi  na  bedje  gän 
un  so  möi  wer  upstän." 

(Bakker  =  Bäcker.  —  möi  =  schön.  —  wer  =  wieder.) 

3. 

Sünnerkläs,  de  heilig  man, 
trekt  sin  beste  taprok  an, 
ridt  därmit  na  Amsterdam, 
Amsterdam  fan  Spanjen. 
Appelkes  fan  Oranjen.  — 
Perden  fan  Granaden 
riden  ofer  alle  strafen. 
Gef  de  lütje  kinner  wat 
un  de  groten  'n  schüp  in't  gat. 
Dar  lät  hör  mit  lopen 
mit'n  pär  gollen  knopen; 
dar  lät  hör  mit  dansen 
mit'n  pär  gollen  kransen. 

Taprok  =  langer  Mantel,  Tap  verkürzt  aus  Tappert  weiter,  talarartiger  Überwurf. 
Schüp  =  Schups,  Stoss.  —  gat  =  Loch,  Hintern.  —  hör  =  sie.  —  gollen  =  golden.  — 
knopen  =  Knöpfen. 


Zur  Sage  von  den  drei  Jungfrauen. 

In  dieser  Zeitschrift  II,  323  f.  hat  Ignaz  v.  Zingerle  in  seiner  Mitteilung 
über  „die  drei  heiligen  Jungfrauen  zu  Meransen"  auf  Bayern  verwiesen,  wo  nach 
Panzer  und  Sepp  der  Kult  der  drei  Jungfrauen  am  verbreitetsten  gewesen.  Die 
sagenhaften  Motive  der  Legende  deuten  unverkennbar  auf  eine  Mischung  mit  Alt- 
heidnischem und  enthalten  Trümmer  eines  altgermanischen  Naturkultus.  An  wie 
alte  historische  Fäden  die  Sage  geknüpft  ist,  beweist  die  Verbindung  des  Mythus 
mit  uralten  Befestigungen  im  Isarthal  bei  München;  es  ist  in  hohem  Grade 
interessant,    diese  Thatsache    näher    zu   verfolgen.     Sehr  erleichtert  wird  uns  dies 


94  Müller: 

durch  die  schöne  Schrift  des  Major  a.  D.  Karl  Graf  von  Rambaldi:  „"Wande- 
rungen im  Gebiet  der  Isarthalbahn"  ')• 

Das  Isarthal  war  Zeuge  der  ältesten  menschlichen  Kultur  in  bayerischen 
Landen;  Zittel  hat  den  diluvialen  Charakter  mancher  Funde  erwiesen.  Zahlreich 
sind  sodann  die  Spuren  keltischer  Ansiedelungen  in  dieser  Gegend;  an  denselben 
Orten  wird  uns  auch  die  Anwesenheit  der  Römer  bezeugt.  In  erster  Linie  gilt 
dies  von  dem  wildromantisch  gelegenen  Grünwald  mit  seinem  sogenannten 
Römerturm  und  seiner  oberhalb  des  Dorfes  gelegenen,  1764  von  Dominik 
von  Linprun  entdeckten  Römerschanze,  einem  Kastell,  das  von  vorrömischer 
Entstehung  sein  kann,  nach  der  bekannten  Sitte  der  Römer,  einheimische  Be- 
festigungsanlagen, die  sie  als  zweckdienlich  erkannten,  ihren  Absichten  dienstbar 
zu  machen. 

Die  Volkssage  von  Grünwald  kennt  an  diesem  Ort  eine  „römische  Burg",  und 
noch  heutigen  Tages  heisst  der  hierherführende  Weg  der  Burgweg.  In  der  That 
hat  Linprun  an  den  Wällen  der  Schanze  noch  Reste  von  Mauern  gesehen. 
Rambaldi  meint  denn  wohl  nicht  mit  Unrecht2),  es  liege  sehr  nahe,  dass  „raub- 
lustige Recken  eine  derartige,  schon  vorhandene  Befestigimg  in  Besitz  nahmen 
und  nur  zweckentsprechend  veränderten". 

Ein  Name  für  dieses  auf  römischem  Grund  stehende,  sagenhafte  Schloss  ist 
nicht  erhalten.  Wohl  aber  weiss  die  Sage  von  drei  Jungfrauen  zu  erzählen, 
die  man  um  die  Sonnenwende  nachts  auf  dem  Platze  sah,  wo  das  Schloss  ge- 
standen. Die  eine  war  ganz  weiss,  die  andere  von  oben  bis  zu  den  Lenden  weiss, 
unten  schwarz,  die  dritte  bis  zum  Halse  weiss,  sonst  ganz  schwarz  gekleidet.  Die 
weisse  ging  voran,  die  halbweisse  folgte,  die  schwarze  bildete  den  Schluss,  gefolgt 
von  einem  schwarzen,  grossen  Hunde  mit  feurigen  Augen.  Jede  der  Jungfrauen 
hatte  einen  Rocken  an  der  Seite  hängen,  und  sie  spannen  Flachs  mit  der  Spindel. 
Zu  gleicher  Zeit  hörte  man  „aus  den  Gewölben"  tief  herauf  einen  Hahn  krähen. 
Die  Sage  kennt  ferner  drei  unterirdische  Gänge,  die  zum  Schlosse  führen.  Im 
Gewölbe  haust  die  halbweisse  Jungfrau  bei  einem  grossen  Schatz,  der  in  einer 
Kiste  liegt,  bewacht  von  einem  schwarzen  Hunde  mit  feurigen  Augen,  welcher  im 
Maule  einen  Schlüssel  hält3). 

Interessant  ist  es  nun,  dass  diese  Sage  auf  dem  kurzen  Wege  bis  nach 
Wolfratshausen,  dem  Ende  der  Isarthalbahn,  in  ihren  Einzelheiten  sich  ändert, 
während  der  Kern  derselbe  bleibt  und  die  lokalen  Verhältnisse  mit  denen  der 
Grünwalder  Sage  auffallende  Ähnlichkeiten  aufweisen. 

Die  völlig  durch  Feuer  zerstörte  Burg  Wolfratshausen  stund  auf  althistorischem 
Boden.  Wie  das  Römerkastell  bei  Grünwald,  so  war  auch  diese  frühmittel- 
alterliche Burg  in  eine  vorgeschichtliche  Wallburg  hineingebaut  worden,  deren 
Anlage  den  übrigen  Schanzen  im  Isarthal  —  bei  Grünwald,  Baierbrunn  und 
Schäftlarn  —  ziemlich  entspricht,  indem  alle  in  Dreiecksform  sich  auf  mehr  oder 
minder  spitz  verlaufenden  Vorsprüngen  des  steil  abdachenden  Hochufers  der  Isar 
ungefähr  26  Meter  über  dem  Wasserspiegel  des  Flusses  hinziehen.  Auch  hier 
sollen,  nach  Sepp'),  drei  Gänge  vom  Drachenfels  unter  der  Erde  ausgehen. 


1)  München    1892.    Verlag   von  Ernst  Stahl  sen.    Mit   Illustrationen    von  Friedrich 
Freiherrn  von  Loen. 

2)  a.  a.  0.  S.  34. 

3)  Friedr.  Panzer,    Beitrag   zur  deutschen  Mythologie  Bd.  I,  39.    —    Rambaldi, 
a.  a.  0.  S.  34,  mit  einigen  interessanten  Daten. 

4)  Altbayer.  Sagenschatz  S.  339. 


Kleine  Mitteilungen.  95 

Wenn  auch  in  Wolfratshausen  die  Sage  von  „drei  Fräulein"  sich  an  ein 
versunkenes  Schloss  anlehnt,  wenn  nach  Pr.  Panzer  dieses  sagenhafte  Schloss 
„in  nächster  Nähe"  der  Burg  gestanden  haben  soll,  so  dürfen  wir  soweit  gehen, 
den  Schauplatz  der  Sage  mit  der  uralten  Befestigungsstätte  der  Burg  selbst  zu 
identificieren.  Der  Wortlaut  der  Sage  hindert  daran  nicht,  die  einzelnen  Umstände 
derselben  ebensowenig,  wohl  aber  ist  die  alte  Burg  der  Mittelpunkt  der  zahlreichen 
Gespenstergeschichten,  die  man  sich  unten  im  Flecken  erzählte. 

Die  Wolfratshauser  Sage  von  den  drei  Jungfrauen  klingt  nicht  so  unvermischt 
wie  die  von  der  Grtinwalder  Schanze:  hier  eine  mit  religiös  -  abergläubischen, 
christlichen  Motiven  vermengte  Erzählung,  dort  in  Grünwald  der  blosse  Bericht 
von  einer  alljährlichen  Erscheinung  flachsspinnender  Jungfrauen ,  die  an  die 
griechischen  Parzen  zu  erinnern  vermögen. 

Die  Sage  selbst  erzählt  Schöppner1)  nach  dem  Bericht  eines  88jährigen 
Mannes  folgendermassen : 

„Es  liegt  da  (an  der  sagenhaften  Stelle)  ein  Schatz  verborgen,  von  welchem 
einst  ein  mutiger  Mann  soviel  nahm,  als  er  tragen  konnte.  Das  ging  so  zu: 
Zuerst  beichtete  er  und  nahm  ein  geweihtes  Amulet  unseres  Herrgotts  und  der 
heiligen  Mutter  auf  die  Brust,  damit  ihm  der  Böse  nicht  schaden  konnte.  So 
nahte  er  sich  dem  Platze,  wo  vor  der  Höhle  ein  schwarzer  Hund  mit  glühenden 
Augen  sass,  welcher  ihm  aber  den  Eingang  nicht  verwehrte.  Er  gelangte  in  ein 
Zimmer  und  erblickte  drei  Jungfrauen  in  drei  Betten  liegend.  Eine  von  diesen 
Jungfrauen,  oben  weiss,  unten  schwarz,  war  wach,  die  beiden  anderen  schliefen. 
Als  der  Mann  das  feine  Bettzeug  bewunderte,  sagte  ihm  die  halb  schwarze,  halb 
weisse  Jungfrau,  er  solle  es  nur  mit  dem  Finger  befühlen;  aber  das  Feuer  war  so 
mächtig,  dass  ihm  gleich  die  Fingerspitze  verbrannte.  Er  Hess  sich  aber  dadurch 
nicht  abschrecken,  sondern  ging  auf  die  beiden  mit  Gold  gefüllten  Kisten  hin. 
Auf  einer  Kiste  lag  eine  Schlange,  den  Schlüssel  im  Maul,  welchen  sie  willig 
nehmen  Hess.  Er  öffnete  die  Kiste  und  die  halb  schwarze,  halb  weisse  Jungfrau 
sagte  ihm,  er  solle  nur  nicht  mehr  nehmen,  als  er  tragen  könne,  was  er  auch  be- 
folgte. Heraus  kam  er  ohne  Plagen,  aber  desto  mehr  hatte  er  im  Hineinvvege  zu 
bestehen.  Der  Teufel  erschien  ihm  in  allerlei  Gestalten  und  fuhr  auf  ihn  los;  er 
hatte  Durst  und  es  wurde  ihm  Trank  geboten,  aber  er  nahm  nichts;  denn  alles 
war  nur  Blendwerk,  um  ihn  von  seinem  Vorhaben  abzubringen.  Mit  den  drei 
Jungfrauen  hatte  es  aber  folgende  Bewandnis: 

Sie  waren  sehr  reich  und  wollten  ihr  Gut  teilen;  zwei  von  ihnen  waren  blind 
und  wurden  von  der  bösen,  halb  schwarz,  halb  weissen  Jungfrau  betrogen.  Sie 
mass  nämlich  das  Gold  mit  dem  Viertelmass.  Bei  ihrem  Teile  machte  sie  das 
Mass  immer  ganz  voll;  wenn  aber  die  Reihe  an  die  blinden  Schwestern  kam, 
kehrte  sie  das  Viertelmass  um,  bedeckte  bloss  den  Boden  bis  zum  Rande  mit 
Gold  und  Hess  die  Schwestern  mit  den  Händen  darüber  streichen,  um  zu  erproben, 
dass  das  Mass  voll  sei.  Wegen  dieses  Betruges  ist  sie  verdammt.  Der  Teufel 
peitscht  sie  mit  Ruten,  bis  die  Fetzen  von  ihr  hängen;  dann  wirft  er  sie  nachts 
um  die  zwölfte  Stunde  in  ihr  Bett,  wo  sie  augenblicklich  wieder  ganz  wird.  Diese 
Strafe  dauert  fort,  bis  alles  fortgetragen  ist." 

Wenn  man  auch  weiss,  wie  bekannt  der  Mythus  von  den  drei  Jungfrauen  auf 
der  bayerisch-schwäbischen  Hochebene,  in  den  Bergen  Tirols,  des  Allgäu  und  der 
Oberpfalz  ist,  so  ist  seine  Gestalt,  welche  wir  im  Isarthale  vor  uns  haben,  doch 
besonderer  Beachtung  wert.    Hier  im  Isarthale  haben  wir  zwei  Beispiele  besonders 


1)    Sagenbuch  der  bayer.  Lande  I,  433. 


96  Fränkel: 

deutlich  dafür,  dass  die  Ursage  von  den  drei  Jungfrauen  zurückweicht  auf  ur- 
gerrnanischen,  einheimischen  Volksglauben:  sie  haftet  an  vorgeschichtlichen 
Wallburgen,  die  wahrscheinlich  auch  Kultstätten  waren,  und  hängt  zusammen 
mit  dem  Naturkult  unserer  Vorfahren.  Die  drei  Jungfrauen,  die  zur  Zeit  der 
Sonnenwende  erscheinen,  sind  Spaltungen  des  vorgöttlichen  Begriffs  des  Erden- 
lebens in  Frühling,  Sommer  und  Winter. 

München.  Dr.  Gustav  A.  Müller. 


Zum  Märchenmotiv  von  den  drei  findigen  Brüdern  (oder  Genossen) 

ist  in  der  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  II.  119—122  von  A.  Olrik  und  ebenda  299  f. 
von  S.  Singer  verschiedenes  neues  Material  beigesteuert  und  bereits  bekanntes  ver- 
zeichnet worden.  Wenn  auch,  namentlich  durch  die  genauen  Hinweise  in  den 
Fussnoten  zu  S.  120  u.  121,  die  Möglichkeit  zu  einer  wünschenswerten  Zusammen- 
fassung und  vergleichenden  Überschau  der  stark  von  einander  abweichenden 
Varianten  dieses  ungemein  langlebigen  Stoffes  geliefert  zu  sein  scheint,  so  sind 
doch,  selbst  unter  Rücksicht  auf  G.  Huths  reichhaltige  Ausführungen  in  der  Zeit- 
schrift f.  vergleich.  Litteraturgesch.  N.  F.  II  406  ff.,  eine  Anzahl  von  neueren 
Fassungen  des  Themas  an  den  angegebenen  Stellen  übergangen  worden.  In  der 
Hauptsache  werden  hoffentlich  meine  bezüglichen  Notizen  in  dem  Artikel  „Zum 
Proteusmärchen  und  anderen  wandernden  Stoffen"  in  der  Germania,  Vierteljahrs- 
schrift f.  dtsch.  Altertumskunde  XXXVI  (N.  F.  XXIV)  310,  sowie  XXXVII  38 
und  120  auf  alle  notwendigen  Ergänzungen  unmittelbar  oder  mittelbar  aufmerksam 
machen.    Das  Problem  verdiente  einmal  eine  erschöpfende  Behandlung. 

Nürnberg.  Ludwig  Fränkel. 


Scklesische  Sagen  vom  Nachtjäger. 

In  Schlesien  heisst  der  wilde  Jäger  der  Nachtjäger;  denselben  Namen  führt 
er  in  der  Lausitz  (bei  den  Wenden  nöcny  jag'af)  und  in  einem  Teile  Rügens. 
Im  Eulen-  und  Riesengebirge  erzählt  man  viel  von  ihm;  er  tritt  hier  aber  nicht 
zu  Ross  auf,  sondern  als  Jäger  zu  Fuss,  von  einer  Koppel  Hunde  umgeben,  und 
er  trägt  seinen  Kopf  unter  dem  Arm. 

Eines  Abends  waren  bei  dem  Pachtschenken  in  Heinrichau  an  der  Eule  Gäste 
gewesen  und  als  sie  fortgingen,  trat  der  Schenke  mit  hinaus  und  blieb  eine  Weile 
stehen.  Da  sah  er  über  den  Steg  einen  stattlichen  Herrn  kommen,  der  hatte 
keinen  Kopf  und  führte  eine  Koppel  Hunde  an  der  Leine.  Er  ging  an  der  Pacht 
vorbei.  Der  Schenke  fragte  verwundert:  „Herr,  Herr!  warum  so  viel  Hunde?" 
Da  drehte  sich  der  barsch  um  und  sprach:  „Ich  brauche  so  viel!"  Und  weg 
war  er. 

Wenn  man  auf  den  Nachtjäger  trifft,  bittet  er  einen  zuweilen,  den  Hunden 
über  den  Graben  zu  helfen.  Wenn  man  es  thut,  giebt  er  einen  Thaler;  wer  aber 
sich  fürchtet,  der  muss  sich  über  die  nächste  Grenze  retten,  sonst  ist  er  verloren. 

Der  Nachtjäger  jagt  die  Holzweibel  (im  Riesengebirge:  die  Rüttelweiber)  im 
Walde.     Sie  können  sich  vor  ihm  nur  retten,   wenn  sie  einen  Baumsturzel  linden. 


Kleine  Mitteilungen.  97 

wobei  die  Holzmacher  "Walts  Gott!  gesagt  haben.  Die  Holzweibel  sind  kleine 
Weiber,  ganz  bäuerisch  angezogen  und  ärmlich  von  Aussehen.  Ein  Holzma,cher 
hat  sie  einmal  im  Langenbielauer  Revier  gesehen,  als  er  aus  dem  Mittagschlafe 
erwachte.  Sie  rafften  alles  dürre  Holz  in  ihre  Schürzen,  und  da  ging  es  nur  so 
knick-knack  im  Rusche. 

In  Wüstewaltersdorf  unter  der  Eule  war  einmal  ein  Knecht,  ein  rechter  Prahl- 
hans, der  rühmte  sich,  er  thäte  sich  vor  garnichts  fürchten,  auch  vor  dem  Nacht- 
jäger nicht  und  er  getraue  sich  bei  den  Dornsträuchem  am  Wege  nach  Lang- 
waltersdorf zu  schlafen,  wo  jener  umging.  Die  anderen  Knechte  warnten  ihn, 
aber  er  verwettete  sich  und  der  Herr  gab  ihm  ein  Pferd,  dass  er  rascher  dorthin 
kommen  könnte.  Da  er  nun  schon  lange  geritten  und  noch  immer  nicht  bei  den 
Sträuchern  war,  fing  er  an,  fürchterlich  zu  fluchen.  Plötzlich  stand  ein  Popel 
neben  ihm,  wie  ein  altes  Weib:  das  sagte  zu  ihm:  „Was  bist  du  so  ungescheut 
und  fluchst  so  abscheulich:  du  kommst  balde  zu  den  Sträuchern."  Der  Popel 
lief  nun  neben  dem  Pferde  her  und  auch  eine  ganze  Koppel  Hunde,  rote,  blaue, 
gelbe,  grüne,  und  es  dauerte  nicht  lange,  da  kamen  sie  zu  dein  Dornicht.  Da 
sagte  der  Popel:  „Knecht,  steig  ab  und  warte!  Du  hast  über  den  Nachtjäger 
deinen  Spott  getrieben,  itzund  musst  du  fangen,  was  auf  dich  zukommt!"  Nu 
ging  der  Popel  in  die  Sträucher  nein  und  balde  kroch  eine  Schlange  heraus,  so 
gross  wie  ein  Wiesebaum,  und  gerade  auf  den  Knecht  los.  Der  machte  die  Augen 
zu  und  greifen  that  er  erst  recht  nicht,  und  da  er  wieder  die  Augen  aufmachte, 
kroch  eben  noch  der  Schwanz  der  Schlange  neben  ihm  vorbei.  Da  sprang  er, 
was  er  konnte,  auf  das  Pferd  und  ritt  nach  Hause.  Aber  am  andern  Morgen  lag 
er  tot  in  seinem  Bette.  Der  Popel  mit  den  Hunden  und  die  Schlange  war  aber 
der  Nachtjäger  gewesen. 

Im  Lande  drunten  (d.  i.  in  der  Ebene  zwischen  dem  Zobten  und  der  Oder) 
lebten  einmal  ein  Vater  und  eine  Mutter,  die  gingen  an  einem  Sonntag-Nach- 
mittag mit  ihrem  kleinen  Jungen  spazieren.  Da  kamen  sie  zu  einem  schönen 
eingezäunten  Garten,  den  sie  noch  niemals  dort  gesehen  hatten.  Sie  gingen  hinein 
und  das  Jungel  blieb  vor  einem  Baume  stehn,  worauf  ein  Guckuck  sass  und 
schrie.  Die  Eltern  gingen  indessen  weiter  und  als  sie  sich  nach  einer  Weile  um- 
sahen, war  das  Kind  verschwunden  und  der  ganze  Garten  mit  ihm.  Da  haben 
sie  sehr  geweint  und  sich  gegrämt,  aber  es  half  nichts.  Acht  Tage  darnach  sind 
sie  wieder  den  Weg  gegangen  und  da  war  der  Garten  wieder  da  und  ihr  Jimgel 
sprang  ihnen  gesund  entgegen.  Wo  es  aber  in  der  Zeit  gewesen  ist,  hat  es  nie- 
mals sagen  können.    Aber  der  Guckuck  soll  der  Nachtjäger  gewesen  sein. 

An  der  Oder  bei  Gurau  zeigt  sich  der  Nachtjäger  beritten  gleich  dem  wilden 
Jäger  anderwärts.  Der  längst  verstorbene  Schiffer  Pischel  hat  ihn,  wie  er  noch  ein 
Junge  war,  oft  gesehen,  wenn  er  mit  den  andern  Jimgen  das  Vieh  an  der  Oder 
entlang  abends  nach  Gurau  heimtrieb.  Der  Nachtjäger  sass  ohne  Kopf  auf  einem 
Schimmel  und  jagte  über  ihren  Köpfen  weg;  Reiter  und  Pferd  sahen  aus,  als 
ob  sie  brennten.    Gethan  hat  er  ihnen  aber  nichts. 

(Nach  mündlicher  Überlieferung.) 

K.  W. 


Eine  westpreussische  Spukgeschichte  von  1333. 

In  der  Detmar-Chronik  von  1101—1395  (die  Chroniken  der  niedersächsischen 
Städte.    Lübeck.    1.  Band.    Leipzig  1884)  liest  man  zum  Jahre  1333  (ebd.  S.  472): 

Zcitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1S93.  * 


98  Weinhold:   Kleine  Mitteilungen. 

In  deme  sulven  järe  schach  in  Prützen  en  wunderlich  ding,  it  was  enes 
ridderes  dochter,  de  het  Ghertrud;  de  wart  krank  bet  an  den  dot.  als  men  seghede, 
so  wart  ze  mit  der  swarten  kuost  vorriiden  unde  wart  hemeliken  enwech  ghevöret 
van  den  bösen  gheisten,  unde  in  erer  stede  lach  en  spuk,  lik  gheschapen  also 
se.  dat  bewisde  sik,  oft  dat  sturve,  unde  wurde  begraven;  men  newiste  anders 
nicht,  it  enwcre  de  vrowe  sulven.  darnä  nicht  langhe  dö  vant  se  en  olt  herre  in 
deme  brüke  bi  Dancz.  he  nam  ze  up  unde  brachte  ze  in  de  stad  half  levendich; 
erer  redelikeit  hadde  ze  nicht,  de  van  Dantzeke  senden  ze  ereme  vedderen  Ber- 
tolde  van  Merginwerder;  de  sende  ze  vort  eren  broderen  unde  susteren  unde  den 
anderen  vrundeu.  en  dcl  spreken,  ze  weret;  en  del  spreken  dar  enjeghen,  ze 
enwercs  nicht,  mer  se  were  en  bedreghersche.  tö  dem  lesten  wart  ze  brand  in 
dem  vüre  van  eren  eghenen  vrunden  in  der  stet,  de  het  Mewa.  hir  schach  nit 
güdes  nä. 

Dr.  Koppmann,  der  Herausgeber  der  Detmar- Chroniken,  giebt  an,  dass  diese 
Geschichte  aus  den  Ann.  Thorun.  stamme;  eine  Überarbeitung  finde  sich  bei  Simon 
Grünau,  Preuss.  Chronik  I.  S.  580. 


Büclieranzeiffen. 


The  Attis  of  Caius  Valerius  (Jatullus  by  Grant  Allen,  B.  A.,  forraerly 
Postmaster  of  Merton  College,  Oxford.  London,  1892.  Published  by 
David  Nutt  in  the  Strand. 

Das  Büchlein  bringt  den  Originaltext  des  Catullischen  Galliambus  (Attis)  mit 
einer  metrischen  englischen  Übersetzung,  die  dem  „grössten  Gedichte  der  lateini- 
schen Litteratur"  S.  XV  besser  gerecht  zu  werden  sucht,  als  die  frühereu.  Die 
Hauptsache  bilden  zwei  Exkurse,  die  den  Attiskult,  den  Ursprung  des  Baumkultus 
und  des  Galliambus  untersuchen.  Die  religionsphilosophische  Anschauung  des 
Verfassers  ist  bestrebt,  zwischen  seinen  beiden  Hauptgewährsmännern  Frazer 
(Baumkultus)  und  Spencer  (Ahnenkultus)  so  zu  vermitteln,  dass  er  annimmt,  der 
Baum  sei  ursprünglich  auf  das  Grab  des  verehrten  Ahnen  gepflanzt  und  so  des 
Segens  des  Toten  und  zugleich  der  Verehrung  der  Lebenden  teilhaftig  geworden, 
eine  geistreiche  Tdee,  die  mit  reicher  Kenntnis  der  folkloristischen  Litteratur 
(namentlich  der  englischen)  durchzuführen  gesucht  wird. 

Berlin.  H.  Di  eis. 


Fr.  Stolz,  Die  Urbevölkerung  Tirols.  Ein  Beitrag  zur  Paläo-Ethno- 
logie  von  Tirol.  Zweite  umgearb.  Auflage.  Innsbruck,  Wagnersche 
Universitäts-Buchhandlung  1892.    121  SS.    8°. 

Im  Jahre  1886  erschien  in  dem  „Boten  für  Tirol  und  Vorarlberg"  und  gleich- 
zeitig in  einem  Sonderabdrucke  die  Wiedergabe  eines  von  Stolz  in  Innsbruck 
gehaltenen  Vortrages  über  Tirols  Urbevölkerung.     Mannigfache  Nachfragen  haben 


Bücheranzeigen.  99 

den  Verfasser  zu  einer  erneuten  Ausgabe  veranlasst:  aus  dem  unscheinbaren 
Heftchen  ist  eine  starke  Abhandlung  geworden,  die  ebenso  wie  die  beigegebenen 
Anmerkungen  auf  mehr  als  den  dreifachen  Umfang  angewachsen  ist.  Könnte 
auch  manche  Erörterung,  die  an  belanglose  Lokallitteraur  anknüpft,  ohne  Schaden 
entbehrt  werden ,  so  wird  man  dem  Verfasser  doch  für  die  allseitige  Vertiefung 
seiner  Aufgabe  dankbar  sein  und  manches  eher  noch  eingehender  und  zugleich 
mit  strengerer  Kritik  behandelt  wünschen,  um  eine  Art  Urgeschichte  des  Landes  bis 
zu  der  Zeit  zu  erhalten,  wo  es  mit  der  römischen  Eroberung  in  das  helle  Licht 
der  Geschichte  tritt. 

So  wenig  wie  heute  ist  jemals,  soweit  wir  in  die  Vorzeit  zurückschauen,  das 
Land  Tirol  im  Besitze  eines  Volkes  gewesen.  Von  Urzeiten  an  haben  nicht  nur 
mehrere  ganz  unverwandte  Nationalitaten  sich  in  den  Boden  geteilt,  auch  giebt  es 
wenig  Gegenden  Mitteleuropas,  wo  wir  im  Altertum  schon  eine  so  rasche  Auf- 
einanderfolge verschiedener  Stämme  auf  einem  und  demselben  Grunde,  den  sie 
sich  strittig  machten,  verfolgen  können.  Noch  unklarer  und  verwickelter,  aber 
auch  reizvoller  wird  die  Völkergeschichte  Tirols  dadurch,  dass  der  älteste  bekannte 
Bestand  der  Bevölkerung  mehr  als  ein  Rätsel  über  seine  Herkunft,  ja  über  sein 
wirkliches  Bestehen  aufgiebt.  Gleich  die  Räten,  die  der  weit  über  die  Grenzen 
des  Stammes  hinausgehenden  Provinz  Raetia  den  Namen  liehen,  sind  solch  ein 
Rätsel.  Müllenhoff  ist  es  leider  nicht  mehr  vergönnt  gewesen,  diesen  Punkt  seiner 
Altertumskunde  näher  auszuführen:  er  zählte  die  Räten  zur  vorarischen  Ur- 
bevölkerung Europas.  Waren  sie  überhaupt  ein  national  ausgeprägter  Volksstamm 
mit  eigener  Sprache?  Unzweifelhaft  einmal,  doch  lässt  sich  kaum  eine  sichere 
Thatsache  aus  der  Überlieferung  hierfür  anführen.  Ihre  angebliche  Verwandtschaft 
mit  den  Etruskern,  an  die  das  in  ethnologischen  Fragen  nur  zu  oberflächlich 
urteilende  Altertum  glaubte,  ist  nach  und  nach  immer  zweifelhafter  geworden. 
Dass  Steubs  Ortsnamenforschungen,  die  auf  romanischem  Gebiete  noch  zu  seinen 
Lebzeiten  so  hart  mitgenommen  worden  sind,  auch  auf  rätischem  Boden  nichts 
Bleibendes  erbracht  haben,  darf  man  jetzt  wohl  unverblümt  aussprechen.  Etiusker 
aber  haben  trotzdem  in  Südtirol  ihre  Stätten  gehabt,  wie  die  Funde  der  Inschriften 
in  nordetruskischem  Alphabet  unzweifelhaft  bezeugen.  Ihrer  einstigen  Ausdehnung 
durch  Ortsnamenforschung  nachzugehen,  der  Stolz  das  Wort  redet,  verbietet  indes 
unsere  Unkenntnis  der  etruskischen  Sprache,  garnicht  zu  reden  von  der  Erwägung, 
dass  die  etruskischen  Ansiedlungen  dieser  Gegend  sich  kulturell  in  einem  Ur- 
zustände befunden  haben  werden,  der  dauernde  Erhaltung  ihrer  Namen  mehr  als 
zweifelhaft  erscheinen  lässt.  Von  einer  etruskischen  Bevölkerung  in  Nordtirol 
aber,  die  Stolz  als  möglich  hinstellt,  wäre  auch  dann  völlig  abzusehen,  wenn  die 
von  Genthe  ins  Ungeheuerliche  übertriebene  Annahme  eines  direkten  etruskischen 
Tauschhandels  nach  dem  Norden  sich  nicht  als  der  grosse  Irrtum  herausgestellt 
hätte,  der  sie  thatsächlich  ist.  Ebensowenig  kann  ich  mich  der  Ansicht  von  Stolz 
anschliessen,  dass  die  als  Bewohner  des  Inntals  genannten  Breunen  und  Cacnaunen 
der  alpinen  Triumphalinschrift  des  Augustus  mit  Strabo  für  Illyrier  zu  halten  sind. 
Die  weite  Ausdehnung  des  illyrischen  Stammes  der  Veneter  nach  Nordwesten  bis 
an  den  Bodensee,  die  neuerdings  Pauli  annimmt,  ruht  doch  nur  auf  der  zweifel- 
haften Grundlage  von  Namensklängen.  Dass  der  Landschafts-  und  Volksname 
der  Breunen  in  romanischer  Form  im  sechsten  Jahrhundert  und  noch  später  wieder 
auftaucht,  ist  mehr  oder  weniger  eine  gelehrte  Auffrischung  und  zeugt  in  keiner 
"Weise  für  eine  längere  Widerstandskraft  ihrer  Nationalität,  die  uns  etwa  berechtigen 
könnte,  in  diesen  Gebieten  auf  illyrische  Ortsnamen  zu  fahnden.  Dann  müsste 
man  ja    in   Böhmen   nach    keltischen  Ortsnamen  Suche  halten  können.     Dagegen 

7* 


100  Maurer: 

sind  im  Südosten  durch  das  Pusterthal  zweifellos  iHyrische  Scharen  eingezogen 
und  die  älteste  nachweisbare  Bevölkerungsschicht  dieses  Gebietes  gewesen.  Von 
dem  Zuge  der  Reiten  in  die  Ostalpen  um  die  Wende  des  fünften  Jahrhunderts 
scheint  das  Hochland  von  Tirol  so  gut  wie  unberührt  geblieben  zu  sein.  Doch 
hat  später  von  Süden  her  aus  dem  Polande  eine  starke  keltische  Einwanderung  in 
das  südliche  Tirol  stattgefunden.  Mit  der  römischen  Einverleibung  schliesst  die 
dankenswerte  Abhandlung,  die  auch  darin  von  den  Gepflogenheiten  der  klassischen 
Philologie  sich  vorteilhaft  fernhält,  dass  sie  den  Ergebnissen  der  Anthropologie 
und  der  Grabfunde  überall  gebührende  Rücksicht  schenkt. 

Berlin.  G.  Kossinn a. 


prjar  ritgjörffir,  sendar  og  tileinkaö'ar  Herra  Päli  Meisted',  af 
Finni  Jönssyni,  Valty  Guffmundssyni  og  Boga  Th.  Meisted. 
Kopenhagen  1892;  93  SS.    8°. 

Am  13.  November  vorigen  Jahres  feierte  Päll  MelsteÖ*  in  Reykjavik  seinen 
80.  Geburtstag,  ein  Mann,  der  sich  um  seine  Heimat  vielfach  verdient  gemacht 
hat.  Ein  Sohn  des  gleichnamigen  Amtmanns  (f  am  3.  Mai  18G1),  welcher  in  der 
politischen  Geschichte  Islands  eine  nicht  unwichtige  Rolle  gespielt  hatte,  und  ein 
älterer  Bruder  des  Lektors  Sigur9ur  Melsteö  an  der  Priesterschule  in  Reykjavik, 
hatte  Päll  zunächst  die  Rechtswissenschaft  studiert,  und  auch  teils  als  Sachwalter, 
teils  als  konstituierter  Sysselmann  in  der  Praxis  gewirkt.  Daneben  war  er  sowohl 
als  Volksvertreter  am  Alldinge,  als  auch  als  Herausgeber  oder  Korrespondent  ver- 
schiedener Zeitungen  politisch  thätig  gewesen;  mit  besonderer  Vorliebe  gab  er 
sich  aber  dem  Studium  der  Geschichte  hin,  und  auf  diesem  Gebiete  erwarb  er 
sich  teils  als  Lehrer  des  Faches  an  der  Lateinschule  zu  Reykjavik,  teils  aber 
auch  als  Verfasser  mehrfacher  populärer  Werke  sehr  erhebliche  Verdienste,  deren 
jüngstes,  eine  „Norfurlanda  saga",  erst  kürzlich  (1891)  von  der  isländischen  ge- 
lehrten Gesellschaft  herausgegeben  wurde.  Aus  Anlass  dieses  Jubelfestes  haben 
nun  drei  ehemalige  Schüler  des  Mannes  ihm  eine  Sammelschrift  gewidmet,  von 
welcher  wenigstens  ein  Teil  in  das  Bereich  dieser  Zeitschrift  fällt,  und  darum  in 
ihr  besprochen  werden  soll. 

Die  letzte  der  drei  in  dem  Bändchen  vereinigten  Abhandlungen,  die  des  Cand. 
mag.  Bogi  Meiste^,  eines  Neffen  des  Jubilars,  handelt  „Um  alpingi"  (S.  56  bis 
92),  und  kann  hier  nur  kurz  erwähnt  werden.  Der  Verfasser,  welcher  erst  vor 
kurzem  ein  recht  brauchbares  Lesebuch  der  neuesten  isländischen  Litteratur 
herausgegeben  hat  (Synisbok  islenzkra  bdkmennta  ä  19  öld;  Kopenhagen  1891), 
schildert  in  diesem  Aufsatze  die  Entstehung  der  isländischen  Landsgemeinde,  deren 
Verfassung  in  der  freistaatlichen  Zeit,  sowie  die  Umgestaltung  dieser  Verfassung, 
wie  sie  kurz  nach  der  Vereinigung  des  Landes  mit  Norwegen  durch  die  JärnsWa 
und  die  Jönsbök  erfolgte.  Er  schliesst  sich  dabei  durchaus  den  Ansichten  an, 
welche  der  treffliche  Vilhjälmur  Pinsen  verteidigt  hatte,  selbst  in  den  Punkten,  in 
welchen  diese  am  schwächsten  begründet  sind,  wie  z.  B.  bezüglich  der  Zahl  der 
Richter  in  den  Fjördungsdömar;  aber  seine  Darstellung  ist  in  seltenem  Masse  klar 
und  durchsichtig,  und  darum  zur  ersten  Einführung  in  den  Gegenstand  sehr 
empfehlenswert.  Auf  die  bestehenden  Differenzpunkte  einzugehen,  ist  hier  nicht 
am  Orte,  und  überdies  von  mir  anderwärts  schon  genugsam  geschehen  (vgl. 
Kritische  Vierteljahrsschrift  für  Gesetzgebung  und  Rechtswissenschaft,  Bd.  32 
S.  331-56). 


Bücheraiizeigen.  101 

Hierher  gehört  dagegen  die  erste  der  drei  Schriften,  welche  die  Überschrift 
„Um  galdra,  seid",  seiömenn  og  völur"  trägt,  also  von  Zauberei  und  Wahr- 
sagerei, sowie  von  denen  handelt,  welche  solche  Künste  betreiben  (S.  5  —  28). 
Verfasst  ist  sie  von  Dr.  Finnur  Jönsson,  Professor  der  altnordischen  Philologie 
in  Kopenhagen,  welcher  uns,  abgesehen  von  so  manchen  anderen  tüchtigen 
Leistungen,  neuerdings  auch  durch  einen  kurzen  Abriss  der  isländischen  Litteratur- 
geschichte  (Ägrip  af  bökmenntasögu  Islands;  Reykjavik  1891  und  1892)  und  durch 
eine  isländische  Metrik  (Stutt  islenzk  bragfrseöi;  Kopenhagen  1892)  erfreut  hat. 
Der  Verfasser  geht  aber  aus  von  dem  Glauben  der  alten  Nordleute  an  die  Port- 
dauer der  Seelen  nach  dem  Tode,  und  zwar  als  weit  weiserer,  mächtigerer  und 
vollkommenerer  Wesen,  als  dieses  die  Lebenden  sind,  also  von  einem  Glauben, 
welcher  sich  in  der  verschiedensten  Weise  zu  erkennen  giebt,  unter  anderm  aber 
auch  in  dem  Bestreben,  sich  mit  diesen  Seelen  in  Verbindung  zu  setzen,  um  ihr 
Wissen  und  ihre  Macht  ausnutzen  zu  können;  dazu  haben  aber  die  Zaubermittel 
und  die  Beschwörungen  gedient,  —  eine  Bemerkung,  die  gewiss  nicht  unrichtig, 
aber  doch  kaum  erschöpfend  ist,  da  nicht  aller  Zauber  auf  die  Beihilfe  über- 
irdischer Mächte  gebaut  ist.  Weiterhin  werden  die  verschiedenen  Ausdrücke 
zusammengestellt,  mit  welchen  die  Zauberei  und  die  Leute,  welche  sie  betreiben, 
bezeichnet  werden.  Wenn  aber  dabei  nicht  nur  das  Wort  galdr,  wie  früher  schon 
geschehen,  von  gala,  d.  h.  singen  abgeleitet  wird,  sondern  auch  seiör  und  das  Zeit- 
wort si'Sa  auf  dieselbe  Grundbedeutung  zurückgeführt  werden  will,  so  erscheint 
mir  die  letztere  Ableitung  doch  etwas  bedenklich,  da  Kenningar  wie  „sveröa  seiffr", 
„Pjölnis  seiilr"  auch  dann  vollkommen  verständlich  sind,  wenn  man  seiöi'  im 
gewöhnlichen  Sinne  als  Zauber  nimmt.  Trotz  dieser  Gleichstellung  von  galdr  und 
seiftr  unterscheidet  der  Verf.  indessen  doch  verschiedene  Arten  von  Zauberern,  und 
zwar  stellt  er  die  völur  und  spdmenn  dem  seicffolk  gegenüber.  Den  Namen  der 
völva  leitet  er,  wie  dies  schon  Joh.  Pritzner  (in  der  norwegischen  Historisk 
Tidsskr.  IV,  S.  169,  Anm.  2;  1877)  und  K.  Müllenhoff  (Deutsche  Altertumskunde, 
V,  S  42;  1883)  gethan  hatten,  von  dem  völr,  d.  h.  Stab  ab,  also  von  dem  Zauber- 
stabe, spagandr,  dessen  sich  die  Wahrsagerinnen  bedienten.  Er  sieht  in  der  völva 
ursprünglich  wesentlich  eine  „späkona"  oder  Wahrsagerin,  welcher  die  „späför" 
und  die  „ütiseta"  als  Mittel  diente  um  „at  leita  fretta".  Sie  suchte  nämlich  die 
zumal  zu  bestimmten  Zeiten  und  an  bestimmten  Orten  herumschweifenden  Seelen 
aufzusuchen  oder  zu  erwarten  und  mittels  ihres  Stabes  und  mündlicher  Be- 
schwörungen zum  Beantworten  ihrer  Fragen  zu  bringen;  diese  Fragen  bezogen 
sich  aber  teils  auf  die  Zukunft  oder  auf  die  Vergangenheit,  wie  z.  B.  auf  begangene 
Verbrechen,  teils  aber  auch,  wie  wir  wohl  beifügen  dürfen,  obwohl  der  Verfasser 
dieser  Möglichkeit  nicht  gedenkt,  auf  die  Gegenwart,  z.  B.  auf  Dinge,  die  in  weiter 
Entfernung  vor  sich  gingen.  Ein  Beispiel  der  letzteren  Art  bietet  die  Vatnsdoela, 
Kap.  10,  wo  die  Wahrsagerin  dem  Ingimund  ansagt,  dass  ein  silbernes  Amulet 
aus  seinem  Beutel  verschwunden  sei.  Nur  ausnahmsweise  wird  diese  Art  der 
Wahrsagerei  auch  von  Männern,  spämenn,  betrieben;  über  deren  Betrieb  durch 
von  Ort  zu  Ort  herumziehende  Weiber  giebt  der  Verf.  aber  eine  Reihe  sehr  an- 
schaulicher Belege.  Doch  kann  ich  bezüglich  dieser  wandernden  Wahrsagerinnen 
ein  Bedenken  nicht  unterdrücken.  Der  Verfasser  will  zwischen  dem  Auftreten  der 
völur  in  Norwegen  und  auf  Island  einen  wesentlichen  Unterschied  finden,  indem 
diese  dort  aus  ihrer  Kunst  ein  herumziehendes  Gewerbe  machten,  während  sie 
hier  als  ansässige  Frauen  ganz  wie  andere  Weiber  ihres  Standes  lebten,  und  er 
will  diesen  Unterschied  daraus  erklären,  dass  auf  Island  der  alte  heidnische  Glaube 
weit    früher    als  in  Norwegen  verfallen  und  einer  mehr  rationalistischen  Richtung 


102  Maurer: 

gewichen  sei.  Mir  will  dagegen  scheinen,  dass  der  behauptete  Unterschied  gar 
nicht  bestehe.  Die  Oddbjörg,  von  welcher  die  Glüma,  Kap.  12,  erzählt,  zieht  auf 
Island  ganz  ebenso  als  "Wahrsagerin  herum,  wie  die  ungenannte  Finninn  der  Vatns- 
daela,  Kap.  10,  die  ebenfalls  ungenannten  völur  der  Nornagests  p.  und  des  Orms  p. 
Störölfssonar  in  der  Plbk.  I,  S.  358  und  525  oder  die  Heiflr  in  der  ürvarodds  s. 
Kap.  3  in  Norwegen,  und  ich  begreife  nicht,  worin  der  Unterschied  liegen  soll, 
welchen  der  Verfasser  zwischen  deren  Verhalten  finden  will.  Das  Auftreten  ferner 
der  porbjörg  h'tilvölva  in  Grönland,  welches  die  Eiriks  s.  rauäa,  Kap.  4,  schildert, 
ist  ebenfalls  ganz  gleicher  Art,  und  da  Grönland  von  Island  aus  entdeckt  und  be- 
völkert wurde,  liegt  nicht  der  mindeste  Grund  vor,  bei  ihm  mit  dem  Verfasser  an 
norwegischen  Einfluss  zu  denken.  Überdies  gehören  von  den  herumziehenden 
völur  in  Norwegen  drei  völlig  unhistorischen  Sagen  an.  und  finden  sich  umgekehrt 
auch  hier  ansässige  und  nicht  wandernde  Zaubrerinnen,  bezüglich  deren  es  genügen 
mag,  auf  die  Königin  Gunnhildr  Özurardöttir  zu  verweisen,  ganz  abgesehen  davon, 
dass  sich  kaum  begreift,  warum  der  herumziehende  Betrieb  der  Wahrsagerei  auf 
eine  tiefere  Religiosität  des  Volkes  schliessen  lassen  sollte,  als  deren  Betrieb  durch 
ansässige  Frauen  in  angesehener  Stellung.  —  Zum  „so'cV"  hinwiederum,  meint  der 
Verfasser,  brauche  man  mindestens  dreierlei  Dinge,  nämlich  erstens  einen  Zauber- 
sitz (seiiftrjallr),  zweitens  unterstützende  Sänger  (raddlifl),  endlich  drittens  gewisse 
Lieder  (kvsecfi,  frsefli),  welche  aber  doch  wohl  von  eben  jenen  Sängern  vorzutragen 
waren,  wie  dieses  zumal  die  Erzählung  von  der  grönländischen  t>orbjörg  zeigt. 
Auch  eines  Stabes  (seiflstafr)  wird  gedacht,  sowie  auch  weiterer  Zaubermittel  (taufr), 
welche  die  Zauberin  allenfalls  in  einem  Beutel  bei  sich  trug;  über  die  Art  ihres 
Gebrauches  fehlt  uns  aber  jede  Kunde.  Der  seiffr  diente  aber  nicht  nur  zur  Er- 
forschung geheimer  Dinge,  sondern  auch  zur  Erzielung  vielfacher  anderer  Erfolge, 
und  zwar  zumeist  schädlicher,  zuweilen  indessen  auch  schützender  und  förder- 
licher Art.  Die  zauberkundigen  Leute  sind  aber  vielfach  auch  „eigi  einhamir", 
d.  h.  fähig,  ihre  Gestalt  zu  wechseln  und  in  der  von  ihnen  erborgten  Gestalt  weite 
Entfernungen  zurückzulegen;  die  gandreirt,  d.  h.  der  Ritt  auf  einem  Stabe,  schliesst 
sich  an  diese  ihre  Eigenschaft  an.  Übel  angesehen  waren  übrigens  zumeist  die 
zauberkundigen  Leute,  und  vielfach  wurden  sie  bereits  im  Heidentume  verfolgt, 
freilich  zumeist  wohl  nur  wegen  des  von  ihnen  gcthanen  Schadens;  nur  selten 
gaben  sich  tüchtige  Leute  mit  zauberischen  Künsten  ab,  und  nur  selten  nahmen 
auch  solche  zu  fremder  Zauberkraft  ihre  Zuflucht.  —  Fragt  man  aber  schliesslich, 
wie  sich  denn  eigentlich  die  völur  von  den  seiflmenn  unterschieden,  so  fällt  es 
schwer,  eine  richtige  Antwort  zu  geben,  und  auch  der  Verfasser  spricht  sich  über 
den  Punkt  nicht  klar  und  bestimmt  aus.  Unsere  Quellen  selbst  halten  die  Schei- 
dung nicht  streng  fest.  Die  Hildr  der  ürvarodds  s.  wird  als  „völva  ok  seitfkona" 
bezeichnet,  und  für  ihre  Verrichtung  wird  der  Ausdruck  „seiör"  gebraucht.  Die 
porbjörg  h'tilvölva  heisst  „späkona";  aber  sie  trägt  „taufr"  in  ihrem  Beutel  bei 
sich,  sie  sitzt  während  ihrer  Weissagung  auf  dem  „seiöhjallr"  und  als  „freinja 
seidinn"  wird  ihr  Vorgehen  dabei  bezeichnet.  Auch  bei  der  wahrsagenden  Finninn 
in  der  Vatnsdssla  ist  von  einem  „efna  seiff  eptir  fornum  sid"  die  Rede.  Die 
puriör  sundafyllir  der  Landnäma,  II,  Kap.  29  war  eine  völva,  wie  der  Name  ihres 
Sohnes  Völu-Steinn  zeigt;  aber  ihren  Beinamen  hatte  sie  daher  erhalten,  dass  sie 
einmal  während  einer  Hungersnot  durch  seiÖ~r  alle  Sunde  mit  Fischen  füllte 
u.  dgl.  m.  Dennoch  möchte  auch  ich  die  vom  Verfasser  angenommene  Unter- 
scheidung festhalten  und  ihr  nur  eine  etwas  bestimmtere  Grundlage  geben.  Die 
völva  und  der  spämaör  sind  als  solche  lediglich  mit  der  Wahrsagerei  befasst, 
gleichviel  ob  diese  von  ihnen  durch  seiör  oder  auf  anderem  Wege  betrieben  wird; 


Bürheranzeigcn.  103 

lagegen  kann  der  seiör  zwar  zur  Wahrsagerei  gebraucht  werden,  aber  auch  zu 
einer  Menge  ganz  anderer  und  sehr  verschiedener  Zwecke.  Dazu  kommt,  'dass 
ier  Mensch,  worauf  ich  schon  toi-  langen  Jahren  aufmerksam  gemacht  habe  (Die 
Bekehrung  des  norwegischen  Stammes  zum  Christentume  II,  S.  97  — 148),  nach 
iltheidnischem  Glauben  auf  sehr  verschiedenen  "Wegen  die  Befähigung  zu  über- 
natürlichen Leistungen,  und  zumal  auch  zur  Weissagung  erlangen  konnte;  sie  konnte 
ihm  vermöge  seiner  Abkunft  von  Göttern,  Eiben  oder  Riesen  angeboren,  oder  ihm 
iurch  besondere  Umstände  bei  seiner  Geburt  oder  spätere  Vorkommnisse  ein  für 
illemal  zugewachsen  sein  oder  endlich  auf  seinem  geheimen  Wissen  und  Können 
beruhen.  Sehr  häufig  handelt  es  sich  dabei  nur  um  den  Wechsel  einer  feineren 
and  einer  gröberen  Anschauungsweise,  wie  denn  z.  B.  der  Glaube  an  die  „ham- 
tarir"  ursprünglich  von  der  Annahme  ausgeht,  dass  die  menschliche  Seele  den 
schlafenden  Leib  verlassen  und  in  angenommener  Gestalt  vorübergehend  ein  ge- 
sondertes Dasein  führen  könne,  während  daneben  dann  auch  die  andere  Vorstellung 
auftaucht,  dass  der  Gestaltenwechsel  durch  die  Anlegung  eines  Wolfsgewandes 
Xilfhamr),  Federkleides  (fjaörhamr),  Schwanenhemdes  (älptarhamr)  u.  dergl.  ver- 
mittelt wurde,  oder  wie  die  Wunderkräfte  der  Götter  selbst  von  Snorri  gelegentlich 
auf  rgaldru  und  „seiär"  zurückgeführt  werden,  während  doch  ursprünglich  sicher- 
lich nur  die  höhere  Natur  des  göttlichen  Wesens  als  deren  Ausgangspunkt  be- 
trachtet worden  war.  So  mag  denn  auch  die  völva  ursprünglich  als  ein  höheres, 
mit  der  Gabe  der  Weissagung  ausgestattetes  Wesen  gegolten  haben,  und  diese 
höhere  Begabung  erst  hinterher  auf  zauberisches  Wesen  und  besondere  Geheim- 
künste zurückgeführt  worden  sein. 

Die  zweite  Abhandlung  femer,  welche  das  „FöstbraeÖ'ralag"  oder  die  Bund- 
brüderschaft behandelt  (S.  29  —  55),  hat  Professor  Dr.  Valtyr  Guörnundsson 
beigesteuert,  derselbe,  dem  wir  bereits  eine  sehr  tüchtige  Arbeit  über  die  Privat- 
wohnungen auf  Island  verdanken  (Privatboligen  pä  Island  i  Sagatiden;  Kopenhagen 
1889).  Der  Verfasser  schliesst  sich  gleich  von  vornherein  der  von  M.  Pappenheim 
aufgestellten  Ansicht  an,  dass  das  föstbrse^ralag  den  Ausgangspunkt  bilde  für  die 
Entstehung  der  Gilden  in  Dänemark  und  in  Norwegen;  da  er  jedoch  auf  die  Be- 
gründung dieser  Hypothese  sich  nicht  einlässt,  brauche  ich  auf  diese  hier  nicht 
«veiter  einzugehen,  zumal  ich  die  ihr  entgegenstehenden  Bedenken  schon  ander- 
wärts auseinandergesetzt  habe  (Kritische  Vierteljahrsschrift  Bd.  28,  S.  341 — 53  und 
Bd.  31,  S.  213—22).  Dagegen  veranlasst  mich  die  gelegentliche  Bemerkung  des 
Verfassers  (S.  46),  dass  ihm  keine  Angaben  über  eine  Bundbrüderschaft  bei  andern 
Völkern  als  den  Nordleuten  bekannt  seien,  zu  einer  Richtigstellung.  Jon  Arnason, 
gegen  welchen  diese  Bemerkung  gerichtet  ist,  verweist  in  seiner  Historisk  Ind- 
ledning  til  den  gamle  og  nye  Islandske  Rtettergang,  S.  237,  Anm.  159—60  bezüglich 
des  Gebrauches,  beim  Abschlüsse  von  Bündnissen  Blut  zu  trinken,  auf  die  Berichte 
des  Giraldus  Cambrensis  über  die  Irländer,  und  die  Angaben  des  Herodot,  des 
Polydorus  Virgil.  und  des  Bodinus  über  die  Skythen;  wenn  aber  zwar  hier  die 
Eingehung  einer  Bundbrüderschaft  im  eigentlichen  Sinne  nicht  vorliegen  dürfte,  so 
ist  doch  das  Vorkommen  einer  Wahlbrüderschaft  und  Wahlschwesterschaft  bei 
den  Südslaven  zweifellos,  über  welches  Fr.  Krauss,  Sitte  und  Brauch  der  Südslaven, 
S.  619 — 43  eingehenden  Bescheid  giebt.  —  Bezüglich  des  Namens  der  Verbindung 
(S.  35—39)  unterscheidet  der  Verfasser  eine  doppelte  Bedeutung  desselben,  indem 
„föstbrsedralag"  teils  die  feierlich  eingegangene  Bundbrüderschaft  bezeichne,  teils 
aber  auch  das  freundschaftliche  Verhältnis,  welches  unter  zusammen  aufgewachsenen 
Leuten  zu  bestehen  pflege;  dabei  soll  die  letztere  Bedeutung  die  ursprüngliche 
gewesen  sein,  wogegen  die  erstere  erst  der  christlichen  Zeit  angehören  und  überdies 


104  Maurer: 

wahrscheinlich  auf  Island  beschränkt  geblieben  sein  soll.  Hier  regen  sich  mir 
wieder  Bedenken.  Die  Scheidung  der  beiden  Bedeutungen  zwar  ist  unzweifelhaft 
begründet;  aber  schon  sie  dürfte  wohl  etwas  bestimmter  gefasst  sein.  Es  kann 
keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  föstbröö'ir,  seltener  föstri,  zunächst  nur  den  Pflege- 
bruder bezeichnet,  ganz  wie  föstrfaöir  oder  föstri  den  Pflegevater,  föstrsonr  oder 
föstri  den  Pflegesohn,  föstrmööu-  die  Pflegemutter,  föstrdöttir  die  Pflegetochter  und 
föstra  eine  der  beiden  letzteren,  föstrsystir  aber  die  Pflegeschwester  bedeutet,  oder 
wie  das  Pflegeverhältnis  selbst  als  föstr  oder  barnföstr  bezeichnet  wird;  etymo- 
logisch ist  die  fostrmööir  als  Amme  (von  dem  Zeitwort  föstra  =  fseda  also  füttern, 
säugen  abgeleitet),  und  der  föstrbröiTir  als  Milchbruder  aufzufassen,  so  dass  also 
schon  in  der  Geltung  beider  Ausdrücke  für  das  blosse  Pflegschaftsverhältnis  eine 
Erweiterung  des  ursprünglichsten  Wortbegriffes  zu  erkennen  ist.  Bei  dieser  ersten 
Erweiterung  ist  aber  die  Sprache  nicht  stehen  geblieben.  Fritzner  hat  bereits  aus 
der  um  das  Jahr  1200  geschriebenen  Clements  saga  (Postola  sögur  S.  136)  einen 
Beleg  dafür  erbracht,  dass  man  als  „föstri"  allenfalls  auch  einen  ganz  Fremden 
ansprach ,  so  dass  also  der  Ausdruck  ganz  ebenso  gebraucht  werden  konnte  wie 
etwa  felagi,  lagsmaör,  kumpann,  und  bietet  sich  allenfalls  als  eine  weitere  Parallele 
dar,  dass  in  der  Grettla,  Kap.  77,  eine  Hausmagd  die  Tochter  des  Hauses  als  „systir" 
anspricht.  Da  liegt  denn  doch  die  Anwendung  der  gleichen  Bezeichnung  auf  den 
Bundbruder  noch  viel  näher;  aber  wenn  damit  zwar  die  Annahme  begründet  ist, 
dass  die  Übertragung  derselben  auf  diesen  eine  spätere  ist,  so  ist  damit  doch  noch 
keineswegs  festgestellt,  ob  diese  Erweiterung  des  Sprachgebraaches  eine  gemein- 
nordische oder  eine  ausschliesslich  isländische  ist,  noch  auch  ob  sie  schon  vor 
oder  erst  nach  dem  Übergang  der  Nordleute  zum  Christentume  sich  vollzogen  hat, 
und  nach  diesen  beiden  Seiten  hin  wollen  mir  die  vom  Verfasser  angeführten 
Gründe  nicht  genügen.  Allerdings  ist  richtig,  dass  der  Ausdruck  föstrbröö'ir  als 
Bezeichnung  eines  Bundbruders  in  den  über  das  13.  Jahrhundert  hinaufreichenden 
Denkmälern  sich  nicht  nachweisen  lässt;  aber  abgesehen  von  einer  Strophe  des 
porbjörn  hornklofi,  in  welcher  der  Rabe  als  „arnar  eid  bröäir",  Bundbruder  des 
Adlers  bezeichnet  wird,  wird  in  ihnen  auch  nicht  von  eiifbradr  oder  svarabraedr 
gesprochen,  dieses  wie  jenes  sehr  einfach  darum,  weil  sie  eben  keine  Veranlassung 
hatten,  der  Bundbrüderschaft  zu  gedenken.  Die  Erwähnung  von  eifrbraedr  in  der 
Hdkonar  s.  gamla,  Kap.  58,  von  svarabrsedr  in  der  Knytlinga,  Kap.  21  und  100 
und  von  eidsvarar  in  den  Skäldskaparm. ,  Kap.  41,  beweist  nichts,  da  alle  diese 
Quellen  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  und  von  Isländern  ge- 
schrieben sind.  Dass  in  der  Föstbradra  saga,  und  zwar  nach  der  Hauksbök  so- 
wohl als  nach  der  Flateyjarbök  die  Bezeichnungen  föstbröcTir  und  svarabrödir 
wechseln,  lässt  eben  nur  erkennen,  dass  beide  ganz  gleichmässig  für  den  Bund- 
bruder gebraucht  werden  konnten,  ohne  irgendwelche  weitere  Schlüsse  zuzulassen, 
und  dass  Saxo  Grammaticus  von  „invicem  conjurati"  spricht,  zeigt  eben  auch 
höchstens,  dass  man  zu  seiner  Zeit  die  Bezeichnung  Eidbrüder  in  Dänemark  kannte, 
gestattet  aber  noch  keineswegs  die  Folgerung,  dass  sie  dort  die  allein  übliche  war. 
Bleibt  also  nur  die  einzige  Stelle  der  GpL.  §  239  übrig,  in  welcher  „eWbroedr" 
und  „föstbroedr  tveir  fa'ddir  upp  saman,  ok  hafa  drukkit  baffer  speina  eina"  als 
gleichberechtigt  nebeneinander  gestellt  werden;  aber  auch  diese  Stelle,  an  welcher 
es  darauf  ankam,  die  beiden  Verhältnisse  mit  voller  juristischer  Schärfe  auseinander 
zu  halten,  beweist  nicht,  dass  nicht  beide  in  der  gewöhnlichen  Rede  unter  einer 
Bezeichnung  zusanimengefasst  werden  konnten,  vielmehr  scheint  der  Umstand,  dass 
zu  „föstbraBÖY''  noch  ein  besonderer  erklärender  Zusatz  nötig  befunden  wurde, 
gerade  umgekehrt  darauf  hinzudeuten,  dass  diese  Bezeichnung  an  und  für  sich  eine 


Bücheranzeigen.  105 

mehrdeutige  war.  Überdies  ist  jedenfalls  nicht  daran  zu  denken,  dass  die  Gula- 
pingslög,  so  wie  sie  uns  vorliegen,  aus  der  Zeit  König  Häkons  des  Guten' (935 
bis  öl)  stammen,  wie  der  Verfasser  annimmt;  deren  gemischte  Redaktionen  können 
nicht  vor  dem  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  entstanden  und  auch  deren  ältere 
Redaktion  kann  kaum  vor  dem  Anfange  des  12.  Jahrhunderts  aufgezeichnet  worden 
sein,  also  in  längst  christlicher  Zeit,  wie  denn  auch  an  der  Spitze  ihrer  aller  ein 
Kristindömsbälkr  steht.  Die  Übertragung  des  Namens  der  Pflegebrüderschaft  auf 
die  Bundbrüderschaft  möchte  ich  aber  nicht,  wie  der  Verfasser,  daraus  erklären, 
dass  die  letztere  besonders  oft  unter  Pflegebrüdern  eingegangen  worden  sei,  son- 
dern vielmehr  daraus,  dass  dieselbe  sich  nach  dem  Vorbilde  der  Pflegebrüderschaft 
ausgestaltet  habe;  die  gleiche  Behandlung  beider  Institute  in  den  GpL.  scheint 
vielmehr  zu  beweisen,  dass  es  unter  Pflegebrüdern  der  künstlichen  Eingehung  eines 
Bundes  gar  nicht  bedurfte.  —  Bezüglich  der  Verfassung  und  Bedeutung  der 
Bundbrüderschaft  (S.  39—46)  lässt  sich  meines  Erachtens  nur  sagen,  dass  die 
Rechte  und  Pflichten,  welche  diese  den  Verbundenen  gewährte  und  auferlegte,  im 
ganzen  den  aus  der  brüderlichen  Verbindung  sich  ergebenden  nachgeahmt  waren; 
im  einzelnen  aber  lässt  sich  die  Bedeutung  und  der  Umfang  dieser  Rechte  und 
Pflichten  kaum  allgemein  giltig  feststellen.  Schon  das  Pflegschaftsverhältnis  selbst, 
welches  doch  vermutlich  der  Bundbrüderschaft  als  nächstes  Vorbild  diente,  scheint 
nicht  nur  zu  verschiedenen  Zeiten  in  ziemlich  verschiedenem  Umfange  wirksam 
gewesen  zu  sein,  sondern  auch  durch  den  Eingehungsvertrag,  auf  welchem  es  be- 
ruhte, von  Fall  zu  Fall  eine  verschiedene  Ausprägung  erlangt  zu  haben;  dieselbe 
Vielgestaltigkeit  macht  sich  aber  auch  bei  der  Bundbrüderschaft  selbst  wieder 
geltend,  die  ja  ebenfalls  künstlich  eingegangen  wurde,  und  darum  durchaus  von 
den  Bedingungen  des  Eingehungsvertrages  abhängig  war.  So  wird  unter  den  Bund- 
brüdern hin  und  wieder  Güteigemeinschaft  verabredet,  und  zwar  teils  zu  gleichen 
Hälften,  teils  aber  je  nach  Verhältnis  des  beiderseits  Eingebrachten;  anderemale 
legt  dagegen  der  Vertrag  nur  die  Verpflichtung  auf,  sich  im  Notfalle  gegenseitig 
je  nach  dem  Bedürfnisse  des  einen  Bundbruders  und  der  Leistungsfähigkeit  des 
andern  zu  unterstützen,  oder  es  wird  gar  nur  ein  gegenseitiges  Erbrecht  für  den 
Fall  des  unbeerbten  Todes  verabredet.  Ebenso  konnte  bei  grosser  Standes- 
verschiedenheit die  höhere  Würde  des  einen  Bundbruders  diesem  vorbehalten 
bleiben.  Nicht  minder  konnte  ausgemacht  werden,  dass  der  überlebende  Bund- 
bruder dem  Vorhersterbenden  sofort  im  Tode  nachfolgen,  oder  sich  selbst  mit 
demselben  begraben  lassen  solle;  als  selbstverständlich  galt  aber  weder  die  eine 
noch  die  andere  Verpflichtung.  Dagegen  scheint  die  Verpflichtung,  gegenseitig 
für  einander  Rache  zu  nehmen,  wenn  der  eine  oder  der  andere  der  Verbundenen 
getötet  werden  würde,  keiner  besonderen  Abrede  bedurft  zu  haben;  wohl  aber 
konnte,  in  der  christlichen  Zeit  wenigstens,  auch  ihr  gegenüber  ein  beschränkender 
Vorbehalt  gemacht  werden.  Aus  dieser  Vielgestaltigkeit  des  Verhältnisses  erklärt 
sich  denn  auch,  dass  dasselbe  in  unseren  Rechtsquellen  so  gut  wie  gar  nicht  er- 
wähnt wird.  Die  oben  angeführte  Stelle  der  GpL.  ist  die  einzige,  welche  seiner 
gedenkt,  und  wenn  sie  den  Eidbrüdern  gleich  den  Milchbrüdern  für  den  Todschlags- 
fall einen  kleinen  Wehrgeldsbezug  für  einander  zuspricht,  so  darf  dieser  in  An- 
betracht seiner  Geringfügigkeit  doch  wohl  nur  als  ein  Minimum  verstanden  werden. 
—  Hinsichtlich  der  Eingehung  der  Bundbrüderschaft  (8.46  —  54)  werden  natür- 
lich die  drei  bekannten  Formalakte  hervorgehoben,  also  der  Gang  unter  den  oder 
die  Rasenstreifen,  die  Vermischung  des  Blutes  und  die  Ableistung  des  Eidschwures. 
Die  Bezeichnungen  eiÖTbrsBÖr,  svarabseör,  ei3svarar  für  die  Bundbrüder,  sveriaz  i 
brseäralag  für  die  Eingehung  der  Verbindung  u.  dgl.  mehr  scheinen  in  der  Eides- 


106  Maurer : 

leistung  das  entscheidende  Moment  zu  sehen;  dennoch  aber  will  der  Verfasser 
dieses  für  die  ältere  Zeit  vielmehr  in  der  Blutmischung  und  in  dem  Gang  unter 
den  Rasenstreifen  finden,  welchen  letzteren  er,  mit  Pappenheim,  als  eine  sym- 
bolische Zwillingsgeburt  durch  die  mütterliche  Erde  auffasst.  Daneben  erkennt  er 
indessen  doch  auch  die  Berechtigung  jener  anderen  Deutung  an,  welche  ich  seiner- 
zeit dem  Gang  unter  den  Basenstreifen  gegeben  habe,  wonach  dieser  lediglich 
ein  Bestärkungsmittel  des  Eides  gewesen  sei,  wie  als  solches  sonst  auch  wohl 
die  Eideshilfe  bei  der  Eingehung  der  Bundbrüderschaft  verwendet  wurde,  und  er 
macht  für  diese  Deutung  geltend,  dass  wiederholt,  sei  es  nun  der  Gang  unter  den 
Rasen  oder  die  Vermischung  des  Blutes,  ausdrücklich  als  Eid  bezeichnet  wird. 
Er  glaubt  dabei  beide  Deutungen  durch  die  Annahme  miteinander  vereinigen  zu 
können,  dass  die  erstere  die  ältere  und  ursprüngliche,  die  letztere  dagegen  erst 
später  aufgekommen  sei,  nachdem  sich  die  frühere  verwischt  gehabt  habe;  noch 
„i  söguöldinnii:,  also  doch  wohl  in  der  heidnischen  Zeit,  soll  die  neuere  Deutung 
die  ältere  ersetzt  haben,  während  dann  hinterher  nach  dem  Übertritte  des  Volkes 
zum  Christenturne  der  Rasengang  und  die  Blutmischung  als  heidnischer  Brauch 
weggefallen,  und  nur  der  Eid.  jetzt  allenfalls  durch  Eidhelfer  verstärkt,  übrig- 
geblieben sei.  Aber  gegen  diese  Auffassung  erheben  sich  mir  zwei  gewichtige 
Bedenken.  In  der  Laxdsela.  Kap.  18,  wird  der  Gang  unter  den  Rasenstreifen  als 
ein  Mittel  gebraucht,  um  die  Glaubwürdigkeit  oder  Unglaubwürdigkeit  einer 
Zeugenaussage  festzustellen,  und  er  wird  dabei  ausdrücklich  als  die  im  Heiden- 
tume  übliche  Form  der  skirsla,  d.  h.  des  Gottesurteils  bezeichnet;  in  der  Vatns- 
dsela  aber,  Kap.  33,  wird  er  im  Zusammenhange  mit  einem  Vergleichsabschlusse 
angewendet,  also  doch  wohl  in  der  Art,  dass  durch  ihn  die  Feierlichkeit  eines 
„jafnaöareidr"  erhöht  werden  wollte,  d.  h.  des  eidlichen  Versprechens,  in  gleichem 
Falle  in  gleicher  Weise  sich  abfinden  lassen  zu  wollen.  Wie  sich  nun  diese 
beiden  Anwendungsarten  mit  der  Deutung  des  Rasenganges  als  einer  Wieder- 
geburt vereinigen  lassen,  hat  der  Verfasser  ebensowenig  zu  erklären  vermocht  wie 
vor  ihm  Pappenheim,  und  doch  inuss  die  gleiche  Förmlichkeit  in  allen  Anwendungs- 
fällen offenbar  die  gleiche  Deutung  finden.  Sodann  aber  scheint  sich  auch  die 
Hypothese  des  Verfassers  mit  dessen  Ansichten  über  die  Terminologie  nicht  ver- 
einigen zu  lassen.  Die  Bezeichnung  der  Bundbrüderschaft  als  föstbrseöralag  soll 
erst  in  der  christlichen  Zeit  aufgekommen  sein;  als  eiffbrseör  konnten  aber  die 
Bundbrüder  doch  erst  von  dem  Zeitpunkte  an  bezeichnet  werden,  in  welchem  der 
Eid  für  die  Eingehung  des  Verhältnisses  die  massgebende  Bedeutung  erlangt  hatte, 
was  ebenfalls  erst  in  der  christlichen  Zeit  der  Fall  gewesen  sein  soll.  Wie  be- 
zeichnete man  denn  dann  nach  des  Verfassers  Meinung  den  Verband  und  die  in 
ihm  Stehenden  während  des  Heidentums?  Bei  meiner  Auffassung  der  Bezeichnung 
„föstbraeöralag"  als  einer  ursprünglichen  und  des  Rasenganges  als  einer  blossen 
Zugehör  zur  Eidesleistung  kann  natürlich  auch  diese  Schwierigkeit  nicht  auftauchen. 
—  Endlich  bezüglich  der  Zahl  der  Bundbrüder  (S.  54  und  55)  bemerkt  der  Verf. 
ganz  richtig,  dass  deren  zumeist  nur  zwei  gewesen  seien,  nur  seltener  drei  oder 
vier;  aber  er  lässt  auch  die  neun  Bundbrüder  der  Gull-pöris  saga  passieren  und 
zieht  selbst  die  Jömsvikinger  und  die  späteren  Gilden  zur  Vergleichung  heran. 
Da  möchte  ich  nun  zunächst  der  Gull-pöris  saga  kein  allzu  grosses  Gewicht  bei- 
legen, da  sie  gerade  in  Bezug  auf  ihre  Bundbrüder  grosse  Unsicherheit  verrät. 
Sie  bespricht  zunächst  (Kap.  2  S.  45  meiner  Ausgabe)  eine  Anzahl  junger  Leute, 
welche  gemeinsame  Spiele  abhielten,  und  sagt  von  ihnen:  „var  meJ  peiin  föstbr»Öralag 
mikit";  dann  erst  wird  berichtet  (S.  46),  wie  diese  „IX.  föstbrseÖV'  „svördust  allir 
i  föstbr*;Jralag",    und  ist  sich  somit  der  Aufzeichner  der  Sage  nicht  klar  darüber, 


Bücheranzeigen.  107 

ob  eigentlich  das  gemeinsame  Aufwachsen  der  jugendlichen  Nachbarn  oder  deren 
Eingehung  eines  formalen  Bundes  die  Grundlage  ihres  Verhältnisses  zu  einander 
gebildet  habe.  Möglicherweise  ist  die  letztere  erst  eine  spätere  Zuthat  eines  Über- 
arbeiters der  Sage,  der  mit  dieser  überhaupt  sehr  willkürlich  geschaltet  zu  haben 
scheint;  solchenfalls  würde  aber  die  ganz  isoliert  stehende  Angabe  nur  sehr  geringe 
Glaubwürdigkeit  besitzen.  Noch  weniger  geht  es  aber  an,  die  Verbindung  der 
Jömsvfkinger  oder  die  späteren  Gilden  mit  der  Bundbrüderschaft  in  einen  Topf 
zu  werfen.  Nicht  alle  Genossenschaften,  und  selbst  nicht  alle  eidlich  eingegangenen 
Genossenschaften  sind  darum  schon  Bundbrüderschaften;  oder  soll  auch  die  in 
der  Sturlünga  V,  Kap.  14,  S.  155  (ed.  GuÖbrandur  Vigfüsson)  besprochene  Mord- 
brennerbande ein  föstbrseflralag  heissen,  weil  ihre  Mitglieder  eidlich  versprachen, 
jeden  von  ihnen  zu  rächen,  welcher  etwa  erschlagen  werden  würde? 

Meine  Bedenken  gegen  einzelne  Punkte  in  den  vorliegenden  Abhandlungen 
habe  ich  damit  ausgesprochen;  sie  verschwinden  vor  dem  vielen  Anziehenden, 
welches  diese  enthalten,  und  für  welches  den  Verfassern  Anerkennung  und  Dank 
gebührt.  Dem  verdienten  Jubilar  aber,  welchem  sie  gewidmet  sind,  mag  zum 
Schlüsse  nicht  minder  der  Dank  ausgesprochen  werden  für  die  trefflichen  Schüler, 
welche  er  herangezogen  und  zu  solchen  Leistungen  ausgebildet  hat! 

München,  den  27.  Januar  1893.  R.  Maurer. 


Schweizerisches  Idiotikon.    Wörterbuch  der  schweizerdeutschen  Sprache. 

Bearbeitet    von    Fr.  Staub,    L.  Tobler    und    R.  Sehe- eh. 

Frauenfeld,  Verlag  von  J.  Huber,    1891/92.    4°.    Heft  XX-XXIII. 

Wir  haben  im  ersten  Bande  unserer  Zeitschrift,  S.  211  f.,  von  dem  grossen 
schweizerdeutschen  Wörterbuch  Nachricht  gegeben,  das  auf  umfassende  Samm- 
lungen gegründet,  woran  Hunderte  von  deutschen  Schweizern  und  Schweizerinnen 
sich  beteiligten,  unter  den  fleissigen  Händen  und  der  gelehrten  und  einsichtigen 
Fürsorge  der  Herren  Staub,  L.  Tobler  und  Schoch  stattlich  heraufgewachsen  ist. 
Es  liegen  wieder  vier  Hefte  vor,  welche  den  zweiten  Band  abschliessen  und  den 
dritten  beginnen.  Den  Worten  nach  reichen  dieselben  von  Hirte  — huizgen, 
von  ja— kurlig.  Soviel  ist  ersichtlich,  dass  das  Werk,  das  ursprünglich  auf  vier 
Bände  berechnet  war,  jetzt  acht  füllen  wird.  Es  hätte  ja  bei  knapperer  Anlage 
und  bei  der  Beschränkung  auf  das  rein  sprachliche,  so  dass  das  Idiotikon  nur 
die  idiomatischen  Wörter  und  die  eigentümlichen  schweizerischen  Bedeutungen 
sonst  bekannter  oberdeutscher  Worte  verzeichnet  hätte,  der  ursprüngliche  Anschlag 
innegehalten  werden  und  das  Werk  seinem  Abschluss  jetzt  nahe  sein  können. 
Andererseits  hat  die  Ansicht,  dass  in  Dialektlexika  auch  Realien  hineingehören 
und  unter  den  Wortbezeichnungen  die  betreffenden  älteren  und  jüngeren  Sitten, 
Gebräuche  u.  s.  w.  erwähnt  und  gedrängt  beschrieben  werden  sollen,  gar  manches 
für  sich.  Wenn  die  unterstützenden  Kantone  und  der  Bund  für  die  bisherige 
breitere  Bearbeitung  des  Materials  die  Mittel  weiter  gewähren,  möchte  Referent 
es  daher  bedauern,  wenn  das  volkskundliche  Element  aus  dem  Werke  be- 
seitigt würde.  Abgesehen  von  der  Ungleichheit  der  Portsetzungen  zu  den  ersten 
beiden  Bänden,  ist  es  doch  zweifelhaft,  ob  die  angelegten  Sammlungen  über  das 
schweizerische  Volksleben  dann  sobald  benutzt  würden  und  den  Dienst  jemals 
leisteten,  welchen  sie  im  Sinne  der  Sammler  haben  leisten  sollen.  Für  das  Lesen 
in  dem  Wörterbuche,   was,  wie  ich  hoffen  will,  nicht  wenige  thun  werden    (denn 


108  Wober: 

zum  blossen  Nachschlagen  sollten  solche  Arbeiten  zu  gut  sein!)  gewähren  die  aus- 
geführten, mit  Fleisch  und  Blut  genährten  Artikel,  ganz  besondere  Weideplätze, 
wie  aus  Schmellers  Bayerischem  Wörterbuch  und  aus  dem  Grimmschen  Deutschen 
Wörterbuche,  namentlich  dessen  fünftem  (Hildebrandsehen)  Bande,  recht  viele 
wissen.  Auch  in  den  vorliegenden  Heften  giebt  es  eine  ganze  Reihe  Artikel ,  die 
in  solcher  Art  ausgeführt  sind.  Ich  hebe  hervor:  Has,  Hasle,  heiss,  Hose,  Hus 
(Haus),  Huet  (Hut1,  Johannes,  Jahr,  Kuh,  Kuchen,  Kilt,  kommen,  Künig,  Kind, 
Kappe.  —  Wir  wünschen  den  Männern,  welche  Zeit  und  Kraft  dem  Schweizer 
Idiotikon  hingegeben  haben,  jene  Lust  zur  Ausdauer,  welche  die  Wörterbuchs- 
arbeit  vor  allem  erfordert.     Reichen  Dank  haben  sie  verdient. 

K.  Weinhold. 


Indiiiii  Fairy  Tales.  Selected  and  edited  by  Joseph  Jacobs,  editor  of 
„Folklore".  Illustrated  by  John  D.  Batten.  London.  David  Nutt. 
1892,  S.  XIV.  255. 

Die  neunundzwanzig  hier  aufgeführten  Geschichten  sind  ein  mixtum  compositum 
von  europäisch-indischen  Stoffen  und  eigener  Phansasie.  In  den  auf  S.  227  beginnenden 
Notes  and  References  werden  nach  einer  allgemeinen  Einleitung  von  S.  236  an  Fall 
für  Fall  die  Quellen  und  die  Parallelen  dafür  angegeben,  sowie  weitere  Bemer- 
kungen hinzugefügt.  Soweit  dabei  Anlehnung  an  indische  Texte  stattfindet,  so  bei 
1.-7.  13.  17.  20.  25.  29  an  buddhistische  Jätaka-Legenden.  bei  5.  15  an  das  Paiica- 
tantram,  bei  1 1  an  den  Kathäsaritsägara,  bewegt  sich  die  Darstellung  wirklich  leidlich 
sicher  auf  indischem  Boden;  bei  den  übrigen  Erzählungen  aber,  die  sich  an 
Miss  Stokes  Indian  Fairy  tales  (2.  8.  22),  an  Mrs.  Frere  Old  Deccan  Days 
(4.  27),  an  Mrs.  Kingscote  Tales  of  the  sun  (10.  18),  an  Steel-Temple  Wide- 
awake  stories  (3.  9.  16.  19.  21),  an  Campbell  South  folk-tales  (6),  Knowles 
folktales  of  Kashmir  (12.  14.  24.  26.  28)  und  Dames  Baluchi  Tales  (23)  an- 
schliessen,  liegt  zwar  auch  indisches  Gepräge  und  Colorit  vor,  aber  die  Stoffe 
sind  mit  europäischen  Anschauungen  so  untermischt,  dass  der  Titel  Indian  fairy- 
tales  dafür  nur  cum  grano  salis  zutrifft.  Durch  den  Einfluss  der  indischen  Ayah's 
(Zofen,  Kindermädchen)  werden  den  englischen  Kindern,  besonders  den  Mädchen, 
allerhand  indische  Vorstellungen  zugeführt;  dieselben  vermischen  sich  indessen 
bei  diesen  bald  mit  den  eigenen  Bildungselementen  zu  einem  nicht  mehr  recht 
scheidbaren  Ganzen,  wozu  die  eigene  Phantasie  dann  noch  hinzutritt,  so  dass  ein 
schier  unlösbares  Quodlibet  entsteht,  und  zwar  um  so  unlösbarer,  als  ja  doch  auf 
diesem  Gebiete  schon  von  alter  Zeit  her  Indien  und  die  westlich  davon  liegenden 
Länder  in  einem  steten  Austausch  von  Geben  und  Nehmen  (der  Autor  hält  im 
Vorwort  irrigerweise  Indien  allein  für  den  gebenden  Teil)  gestanden  haben, 
wozu  noch  hinzutritt,  dass  manche  dieser  Märchen  und  Sagen  gar  noch  als  miss- 
verstandene Reste  alter,  den  indogermanischen  Völkern  gemeinsamer  natur- 
symbolischer Mythendichtung  anzusehen  sind.  Nur  lokale  Sammlungen,  wie  die 
von  Campbell,  Knowles  und  D  ames  bieten  hier  wenigstens  einige  Garantieen,  ob- 
schon  sich  die  Mythen  bekanntlich  häufig  genug  auch  auf  ganz  ungeeignetem 
fremdem  Boden  lokalisiert  haben.  In  einem  Wirrwarr  von  Fremd  und  Eigen,  Neu 
und  Alt  ist  kein  roter  Faden  mehr  zu  finden,  wenn  nun  dazu  auch  gar  noch  die 
dichtende  Phantasie  des  Erzählers  selbst  sich  gesellt.  Als  eine  Quelle  für  Indian 
fairy  tales,  oder  für  Indian  folklore  ist  somit  das  vorliegende  Buch  in  keiner 
Weise  zu  betrachten  und  zu  verwerten.     Der  Autor  selbst  erhebt  ja  wohl  in  der 


Bücheranzeigen.  109 

That  auch  keinen  Anspruch  der  Art,  obwohl  der  Ton  seines  Vorworts  und  seiner 
Noten  hier  und  da  darauf  hinführen  möchte.  Vielmehr  hat  er  es  wohl  nur  darauf 
abgesehen,  ein  unterhaltendes  Büchlein  für  English  children  zu  schreiben. 
Dafür  spricht  ja  auch  die  Beigabe  der  Illustrationen,  die  ihrerseits  zum  teil  ebenso 
bizarr  und  grotesk,  aber  zugleich  ebensowenig  echt  Indian,  sondern  ein  Gemisch 
von  Indisch-Europäisch  sind,  wie  die  Erzählungen  selbst. 

Bei  dem  riesigen  Reichtum  der  indischen  Litteratur  an  Märchen-  und  Er- 
zählungstexten jeder  Art  hätte  der  Verfasser  vielleicht  doch  auch  für  den  Unter- 
haltungszweck besser  gethan,  wenn  er  sich  an  ein  solches  Originalwerk  angelehnt 
hätte.  Aus  dem  grossen  Kashmirschen  „Meer  der  Erzählungsströme"  hätte  er 
wahrlich,  bei  aller  Rücksicht  auf  die  „children",  doch  mehr  als  nur  eine  Geschichte 
entlehnen  können.  Ein  gewisser  Hauch  von  Poesie  und  naiver  Gläubigkeit  ist 
über  dieselben  denn  doch  meist  ganz  anders  ausgegossen,  als  ihm  dies  bei  seiner 
wesentlich  reflektierend  verfahrenden  Kombination  glücken  konnte.  Bizarr  genug, 
um  indisch  zu  sein,  sind  die  Geschichten  ja  allerdings,  so  z.  B.  das  Märchen  von 
den  sieben  Paar  Augen,  welche  sieben  Königinnen,  der  neuen  Favoritin  zu  Liebe, 
ausgerissen  werden,  und  dann  jahrelang  am  Halse  von  deren  Mutter,  einer  alten 
Hexe,  als  Halsband  dienen,  bis  der  junge  Sohn  der  einen  jener  sieben  Königinnen 
dem  Spuk  ein  Ende  macht  und  die  Augen  ihren  früheren  Eigentümerinnen  zurück- 
giebt,  wobei,  da  mittlerweile  eines  derselben  abhanden  gekommen  ist,  seine  eigene 
Mutter  einäugig  bleibt,  da  sie  ja  ihn  als  Auge  habe  (S.  121).  Nach  S.  240  findet 
sich  übrigens  hierzu  eine  Parallele  in  einer  sicilianischen  Geschichte.  Die  Noten 
enthalten  überhaupt  manche  dankenswerte  Angabe.  Und  da  sich  auch  das  Büchlein 
selbst  gefällig  liest,  und  die  Illustrationen  Humor  und  Geschmack  zeigen,  so  mag 
es  immerhin  als  eine  ganz  dankenswerte  Lektüre  gelten.  Nur  als  „source"  für 
Indian  fairy  tales  möchten  wir  es  nicht  angesehen  wissen. 

Berlin.  A.  W. 


Aus  dem  Sageuschatz  der  Harzlande  von  Friedrich  Günther.  Mit 
vielen  Textbildern  von  G.  Mittag.  Hannover-Linden  und  Leipzig, 
Verlag  von  Manz  &  Lange,  1893  (1892).    S.  XH.  260.    8°. 

Die  Absicht  des  Verfassers  dieses  Buches  w^ar  nicht,  eine  neue  Sammlung 
aus  dem  Volksmund  unmittelbar  stammender  Sagen  zu  geben,  sondern  eine  Aus- 
wahl aus  dem  reichen,  in  älteren  und  neueren  Büchern  gedruckten  Schatz  der 
Sagen  aus  dem  ganzen  Harzgebiete.  Er  will  dabei  hauptsächlich  der  Schule 
dienen,  indem  er  dem  Lehrer  für  den  Unterricht  in  der  Heimatskunde  Stoff  bietet, 
dann  aber  auch  ein  Hausbuch  liefern,  in  welchem  die  besten  und  schönsten  Über- 
lieferungen aus  der  Vorzeit  in  einfacher  und  verständlicher  Sprache  zu  finden  sein 
sollen.  Nach  diesen  Gesichtspunkten  ist  die  Auswahl  getroffen,  welche  die  Sagen 
in  einer  geographischen  Anordnung  bringt,  die,  von  Goslar  ausgehend,  dem  Ober- 
harz zuerst  folgt,  dann  am  Südharz  hingeht,  über  das  Mannsfeldische  nach  dem 
Ostharz  und  seinen  A'orlanden  sich  lenkt,  und  über  Ilsenburg  und  Harzburg  den 
Brocken  zum  Schluss  erreicht.  Zu  jeder  Sage  ist  in  dem  Anhang  der  Quellen- 
nachweis und  nicht  selten  eine  Anmerkung  gegeben.  Das  Vorwort  enthält  eine 
Übersicht  über  die  Litteratur  der  Harzsagen.  Wenn  das  Buch  auch  davon  absieht, 
für   die  Sagenkunde   neues  zu  liefern,    so  können  wir  es  doch  als  eine  sorgsame 


]  10  WeinhoW: 

Arbeit  loben,    der  wir  wünschen,  dass  sie  die  gute  Absicht  des  Herrn  Verfassers 
erfülle. 

Weniger  Geschmack    können  wir  den  in  Holzschnitt  wiedergegebenen  Feder- 
zeichnungen des  Herrn  Mittag  abgewinnen.  K.  W. 


Le  Folklore  du  Poitou  par  Leon  Pineau.     Avec  notes  et  index.    Paris, 
E.  Leroux.    1892.    S.  XI.  547.    12°. 

Professor  L.  Pineau  in  Tours  hat  seinen  Contes  populaires  du  Poitou  (Paris 
1891;  vgl.  unsere  Zeitschrift  I.  454)  sehr  bald  eine  reichere  Sammlung  folgen 
lassen,  die  sich  nicht  bloss  auf  Sagen  und  Märchen  beschränkt.  Das  gleich  dem 
vorigen  zu  der  Collection  de  Contes  et  Chansons  populaires  gehörige  Buch  enthält 
I.  Contes  et  Legendes,  II.  Chansons  (S.  207— 456),  III.  Berceuses.  Jeux  et  formu- 
lettes.  Devinettes.  Traditions  et  Coutumes.  Prieres  populaires  (Segen).  Dictions 
sur  le  temps.  Miettes  de  folklore.  Die  dritte  Abteilung  bietet  Anfänge  zu  Samm- 
lungen, die  der  Herr  Herausgeber  wahrscheinlich  fortsetzen  wird.  Überall  trifft 
der  Leser  auf  gute  Bekannte  aus  dem  weiten  Gebiete  der  Volksüberlieferung. 
Prof.  Pineau  hat  verweisende  Anmerkungen  beigegeben,  aber  nicht  in  ausreichendem 
Masse  und  ohne  Konsequenz.  Viele  Stücke  sind  ohne  jede  Note  geblieben,  selbst 
wenn  sie  Varianten  zu  den  Contes  populaires  de  Poitou  waren,  z.B.  S.  139  du 
domestique  qui  a  mange  son  maitre,  wo  auf  Le  grand  Louis  (Contes  S.  160  ff.)  zu 
verweisen  war.  Auch  bei  den  Chansons  d'amour  et  de  mariage  hätte  bemerkt 
werden  sollen,  dass  die  Motive  von  Nr.  27  und  33  die  gleichen  sind. 

Ich  will  nur  einiges  anmerken.  Jean  sans  peur  (S.  128)  entspricht  dem 
Grimmschen  Märchen  von  einem,  der  auszog,  das  Fürchten  zu  lernen.  Le  conte 
de  Lansquenet  (S.  125)  ist  ein  bekannter  Landsknechtschwank;  der  Landsknecht 
ist  zu  einem  pfiffigen  Knaben  Lansquenet  mit  Namen  geworden,  der  mit  dem 
kleinen  Saint  Jean  wandert  und  dessen  Sehnsucht  nach  dem  Paradiese  garnicht 
teilt,  ihm  auch  nicht  folgt,  als  S.  Jean  endlich  ins  Paradies  geht  und  ihn  auf- 
fordert, mitzugehen.  Aber  nach  der  Trennung  geht  es  dem  kleinen  Lansquenet 
schlecht  und  er  klopft  min  an  das  Himmelsthor.  S.  Jean  will  ihn  jetzt  nicht  ein- 
lassen; da  wirft  der  Schlaukopf  seine  Mütze  durch  die  Thürspalte,  springt  nach 
und  bleibt  auf  seiner  Mütze  sitzen.     So  ist  er  im  Himmel  geblieben. 

Les  danseurs  maudits,  in  zwei  Varianten,  S.  160  ff.,  erinnert  an  die  aus 
Thüringen  und  Sachsen  erzählte  Geschichte  von  der  Strafe  solcher,  die  zu  heiliger 
Zeit  auf  dem  Kirchhofe  tanzten;  Grimm,  Deutsche  Sagen,  Nr.  282  (mit  An- 
merkung). 

Bemerkenswert  ist  Le  meneur  de  Loups  (S.  121).  Ein  Fährmann  muss  in 
der  Nacht  einen  Mann  mit  dreissig  Wölfen  übersetzen.  Als  Fährlohn  erhält  er  ein 
Drei  frank  stück,  das  sich  aber  zu  Hause  als  ein  Eichenblatt  erweist  In  unsern 
deutschen  Sagen  vom  Auszug  der  Zwerge  oder  der  Überfahrt  der  Geister  wird 
umgekehrt  das  Baumlaub  zu  Gold. 

Unter  den  Liedern  giebt  es  viel  hübsche  und  lustige.  In  den  Pastourellen  ist 
der  alte  Charakter  dieser  Gattung  bewahrt. 

Zu  den  Devinettes  will  ich  bemerken,  dass  die  unanständige  Einkleidung  einer 
Anzahl  derselben  anderwärts  Parallelen  findet:  eine  bretonische  enthält  der  erste 
Band  der  Kryptadia  (bei  ihnen  ist  auch  das  Lösungswort  unanständig).  Ältere 
deutsche   finden   sich   in   einer  weimarischen  Uandschrift    (daraus  eine  Auswahl  in 


Büeheranzeigen.  111 

Kellers  Altdeutschen  Erzählungen,  S.  482  f.,  und  im  Weimarschen  Jahrbuch  von 
Hoffmann  und  Schade,  V,  329—356,  herausgegeben  von  R.  Köhler,  vgl.  auch  das 
Verzeichnis  in  Kellers  Pastnachtspielen,  S.  1458  ff.,  und  in  einer  dem  Wiener 
Antiquar  Kuppitsch  einst  gehörigen  Handschrift,  vgl.  Mone  Anzeiger  VIII,  318  f. 
Das  15.  und  16.  Jahrhundert  erfreuten  sich  an  solchen  Dingen,  und  unter  dem 
Volke  lebte  manches  fort,  vgl.  nur  unsere  Zeitschrift  III,  75  ff.  "Wegener,  Volks- 
tümliche Lieder  aus  Norddeutschland  1,  127  ff.     Am  Urquell  II,  15  f.    III,  33. 

K.  Weinhold. 


Contributions  au  Folklore  de  Ia  Belgique  par  Alfred  Harou.  (Col- 
lection  internationale  de  la  Tradition,  vol. IX).  Paris,  Emile  Lechevalier. 
1892.    S.  Xu.  90.    18°. 

Das  neunte  Bändchen  der  von  den  Herren  E.  Blemont  und  Henry  Carnoy  in 
Paris  herausgegebenen  Collection  internationale,  einer  Beigabe  zur  Zeitschrift 
La  Tradition,  enthält  Beiträge  zur  belgischen  Volkskunde,  von  Herrn  Alfred 
Harou  in  Namur  aus  gedruckten  Quellen  gesammelt.  Das  im  Holzschnitt  aus- 
geführte Bild  des  Verfassers  ist  beigegeben.  Das  Büchlein  besteht  aus  neun  an 
Umfang  ungleichen  Kapiteln:  Wallfahrten  und  Prozessionen;  Volksfeste,  mili- 
tärische Aufzüge  an  Heiligentagen  (Marches);  Feste  der  Vorzeit;  wunderbare 
Fussstapfen;  verborgene  Schätze;  die  goldene  Ziege  (la  gatte  d'or);  Zwerge  und 
Eiben  (les  nutons,  sotays  etc.);  Burgen,  Denkmäler,  Ruinen,  Teufelsbauten.  Das 
flämische  wie  das  wallonische  Belgien  sind  vertreten.  Die  Sammlung  kann  als 
Ergänzung  zu  dem  aus  lebendigen  Quellen  geschöpften  Folklore  Wallon  par  Eug. 
Monseur  (Bruxelles  1892)  und  dem  Questionnaire  de  Folklore  public  par  la  societe 
du  Folklore  Wallon  (Liege  1890/91)  betrachtet  werden,  die  wir  in  unserer  Zeit- 
schrift I,  454.    II,  329  besprochen  haben.  K.  W. 


Weihnachtspiele,  herausgegeben  von  August  Hofer  (19.  Jahresbericht 
des  niederösterreichischen  Landes-Lehrerseminars  in  Wiener-Neustadt). 
Wiener-Neustadt  1892  (Verlag  des  Seminars).    S.  54  8°. 

Herr  Prof.  A.  Hofer  hatte  im  17.  Jahresbericht  des  Wiener-Neustädter  Lehrer- 
seminars eine  Sammlung  von  Weihnachtliedern  aus  Niederösterreich  veröffent- 
licht, der  er  nun  eine  Sammlung  von  Weihnachtspielen  folgen  lässt,  die  grössten- 
teils in  Waidhofen  a.  d.  Ybbs  aufgezeichnet  wurden.  Es  sind  1  Adventspiel, 
16  Hirtenspiele,  2  Herbergspiele  (Joseph  und  Marie  suchen  Herberge  in  Bethlehem) 
und  8  Dreikönigspiele.  Der  Herausgeber,  dem  wir  für  seine  Gabe  Dank  wissen, 
weist  selbst  auf  die  sehr  nahe  Berührung  der  Spiele  mit  den  Liedern  hin,  da 
manche  Spiele  nur  Wechselgesänge  sind,  ja  nicht  einmal  das,  sondern  nur  an 
einige  Personen  verteilte,  hinter  einander  gesungene  Strophen  (No.  20).  Diese 
einfachsten  religiösen  Volksspiele  stehen  in  ihrer  unbeholfenen  Kindlichkeit  ganz 
nahe  den  ältesten  weltlichen  Versuchen  zu  dramatischer  Darstellung,  welche  wir 
unter  den  Fastnachtspielen  finden.  —  Seitdem  ich  die  Aufmerksamkeit  der  Freunde 
volkstümlicher  Poesie  auf  die  Weihnachtspiele  und  Lieder  gelenkt  habe  (1853),  sind 


\\2  Brückner: 

vierzig  Jahre  verflossen  und  der  in  den  verschiedensten  deutschen  Ländern  zu- 
sammengetragene Stoff  ist  sehr  angewachsen.  Unter  denen,  die  dazu  geholfen, 
seien  nur  K.  J.  Schröer,  August  Hartmann,  Wilhelm  Pailler  im  besondern  ge- 
nannt. Wir  begegnen,  ganz  wie  in  dem  weltlichen  Liederschatz,  auch  diesen  geist- 
lichen Volksliedern,  sowie  den  Advent-,  Christkind-  und  Dreikönigsspielen  in  den 
verschiedensten  deutschen  Landen.  Sie  waren  unseres  Volkes  Gemeingut,  das 
jetzt  freilich  in  manchen  Gegenden  verworfen  und  vergessen  ist,  nicht  am 
wenigsten  durch  die  Schuld  der  Polizeigewalt,  welche  alte  Volkssitten  von  gutem 
Inhalt  und  tiefinnerlicher  Poesie  unterdrückt  hat,  weil  sie  die  gern  und  willig  dabei 
gegebenen  Geschenke  als  verbotene  Bettelgaben  ansieht.  K.  Weinhold. 


Eulennamen.  Ein  kleiner  Beitrag  zur  deutschen  Kultur-  und  Sittengeschichte. 
Von  Franz  Branky.  Separatabdruck  aus  Mitteilungen  des  ornitho- 
logischen  Vereins  in  Wien  „Die  Schwalbe".  XVI.  Jahrg.  Verlag  des 
Verfassers.    (1892.)    S.  35.    8°. 

Die  kleine  Schrift,  die  aus  einer  wenig  verbreiteten  Zeitschrift  abgedruckt  ist, 
zerfällt  in  zwei  Abschnitte.  Der  erste  einleitende  haudelt  über  die  Eule  im  all- 
gemeinen, bespricht  die  Übertragung  des  Vogelnamens  auf  Personen,  die  zur  Ver- 
gleichung  mit  der  Eule  anregten,  sowie  die  künstlerischen  und  gewerblichen  Nach- 
bildungen des  interessanten  Vogels,  endlich  die  Eule  im  Aberglauben.  Der  zweite 
bringt  die  volkstümlichen  Namen  der  einzelnen  Eulenarten,  meist  aus  deutschen 
Mundarten.  Zu  der  Ausführung  über  die  Nachbildungen  der  Eule  liesse  sich  viel 
nachtragen.  Ich  erinnere  hier  nur  an  antike,  mit  Athene -Minerva  zusammen- 
hängende Nachformungen  und  an  die  kleinen  Bronzeeulen  der  japanischen  Fabriken. 
Die  Eule  auf  einem  aufgeschlagenen  Buche  sitzend,  dessen  Blätter  die  eine  Kralle 
festhält,  ist  eine  verbreitete  moderne  Darstellung.  Meinem  Vater  stach  sie  ein 
Graveur  in  Leipzig  181  j,  als"  er  dort  studierte,  in  sein  Petschaft.  Bekannt  ist  die 
schöne  Eule  auf  dem  Buche  von  dem  Berliner  Bildhauer  Schiffelmann. 

K.  W. 


Zivaja  Starina,  periodiceskoe  izdanie  otdelenija  etnografii  Imp.  Russkago 
Geograf.  Obscestva  pod  redakeieju  V.  J.  Lamanskago.  Zweiter 
Jahrgang,  Heft  1  bis  3;  152,  168  und  170  S.  gr.  8°.     Petersburg  1892. 

Während  im  ersten  Jahrgange  dieser  Zeitschrift  für  Volkskunde  in  Russland 
die  asiatischen  Völker  und  Länder  besonders  berücksichtigt  worden  waren,  tritt 
im  zweiten  das  grossrussische  Volkstum  und  seine  Erforschung  in  den  Vorder- 
grund. So  ist  die  wichtigste  und  umfangreichste  der  Abhandlungen  von  Prof. 
A.  J.  Sobolevskij,  der  Begrenzung  und  lautlichen  wie  morphologischen  Charakte- 
ristik russischer  Mundarten  auf  Grund  aller  erreichbaren  gedruckten  Angaben  ge- 
widmet; dieser  sehr  interessante  Beitrag-  für  die  Slavistik  umfasst  bisher  (I,  S.  1 
bis  24)  die  südgrossrussischen,  (II,  1—26)  die  nordgrossrussischen  und  (III,  3 
bis  30)  die  weissrussischen  Mundarten.  Die  eingehende  Schilderung  eines  „Bären- 
wmkels*,  des  Bezirkes  Troicina  im  nordrussischen  Gouvernement  Vologda,  seiner 


Bücheranzeigen.  113 

Einwohner,  ihres  Lebens,  ihrer  Sitten,  Aberglauben  und  Überlieferungen,  ihrer 
Beschäftigung,  Ernährung  und  Gesundheit,  ihres  Familien-  und  religiösen  Lebens, 
der  Hochzeitsbräuehe  u.  s.  w.  liefert  A.  Sustikov  (IL  71—91  und  III,  106—138). 
Aus  dem  übrigen  Material,  Abdruck  von  Liedern  u.  dg].,  heben  wir  noch  hervor 
den  Vortrag  von  F.  Istomin  über  Klagelieder  nach  Aufzeichnungen  aus  den 
Gouvernements  Olonec  und  Archangelsk.  Jak.  Svetlovs  Aufsatz  über  den 
Dialekt  von  Kargopol  (Gouvernement  Olonec)  mit  lexikalischen  Beiträgen  und 
V.  Moskovs  über  das  sogenannte  Aucrspiel. 

Die  nichtrussischen  Slaven  sind  vertreten,  ausser  in  einer  Sammlung  bul- 
garischer Märchen  und  Lieder  aus  der  Gegend  von  Prilep,  namentlich  in  der 
interessanten  Korrespondenz  des  nachmals  berühmten  Slavisten  Sreznevskij;  sie 
umi'asst  die  Reisebriefe,  welche  Sr.  an  seine  Mutter  gerichtet  hat.  als  er  1839  bis 
1842  im  Auslände,  Berlin.  Breslau.  Prag  u.  s.  w.  weilte  und  mit  den  Vertretern 
der  slavischen  Renaissance  unter  Böhmen,  Lausitzer.  Serben  u.  a.  lebhafte  Be- 
ziehungen unterhielt;  im  ungezwungensten  Tone  werden  die  persönlichen  Fin- 
drücke des  angehenden  Slavisten  geschildert.  S.  Bobcev  theilt  aus  seiner  reich- 
haltigen Sammlung  von  Rechtsbräuehen  unter  den  Bulgaren  das  Kapitel  über 
Wahlbruderschaft  und  Wahlschwesterschaft  mit.  die  daran  sich  knüpfenden  Cere- 
monien,  rechtlichen  Folgen  u.  s.  w. 

Nichtslavischen  Völkern  sind  gewidmet  die  Übersetzung  eines  ostjakischen 
Heldenliedes  durch  S.  Patkanov  (die  Kämpfe  der  Helden  von  Emder)  und  die 
eingehende  Schilderung  der  Hochzeitsbräuche  und  Lieder  bei  den  Mordvinen 
durch  M.  E.  Evsevjev,  einen  mordvinischen  Volkslehrer,  der  zahlreiche  Texte 
im  Original  und  in  der  Übersetzung  mitteilt. 

Ausserdem  enthalten  die  Hefte  bibliographische  Besprechungen  (Bericht  von 
Dr.  J.  Poli'vka  über  böhmische  Ethnographie  von  1880—1890  u  a.)  sowie  kleine 
Mitteilungen  aller  Art.  Wir  wiederholen  den  Wunsch  einer  durchgehenden  Nume- 
rierung der  Hefte,  damit  das  Citieren  erleichtert  werde.  A.  Brückner. 


0-esky  Lid.  Sbornik  venoyany  studiu  lidu  ceskeho  v  Cechach,  na  Morave, 
ve  Slezsku  a  na  Sloyensku.  Redaktori  Dr.  L.  Niederle,  Dr.  C.  Zibrt. 
Band  I  (Prag  1892),  Heft  3—6  (S.  221—643);    Band  II,  Heft  1  (S.  1 

bis  104). 

Die  junge  Zeitschrift  für  böhmische  Volkskunde  entwickelt  sich  kräftig;  be- 
stimmt für  weite  Verbreitung  bringt  sie  in  jedem  Hefte  zahlreiche  Beiträge,  freilich 
in  kleinen  Dosen,  um  das  Interesse  der  Leser  rege  zu  erhalten;  saubere  Holz- 
schnitte schmücken  einzelne  Artikel:  durch  Aufstellung  von  Fragenschemata  (über 
Festbräuche  u.  dgl.)  und  Abdruck  des  eingehenden  Materials  wird  eine  rege  Wechsel- 
beziehung zwischen  Redaktion  und  Leserkreis  eingeleitet;  der  bibliographische 
Theil  ist  zwar  in  erster  Reihe  böhmischen  Publikationen  gewidmet,  doch  werden 
auch  ausländische  Werke  und  Zeitschriften  berücksichtigt.  Aus  der  Masse  der 
Artikel  heben  wir  hier  hervor  die  eingehende  Schilderung  der  Nixen,  des  Wasser- 
mannes nach  der  böhmischen  Volksüberlieferung  durch  Jos.  Kost'al;  sie  stimmt 
in  allen  Einzelheiten  mit  der  deutschen  überein  und  giebt  einen  interessanten  Beleg 
ab  für  das  Wandern  des  Glaubens.  F.  Bartos,  der  unermüdliche  Sammler  alles 
Volkstümlichen  in  Sprache,  Lied  und  Brauch  der  Mährer,  liefert  mehrere  dies- 
bezügliche Beiträge:  über  das  Schratte! ;  über  wirtschaftlichen  Brauch  und  Glauben; 

Zeitschrift  d.  Vereins  f.  Volkskunde.     1693.  8 


114  Brückner: 

über  das  Wochenbett.  J.  Koula,  J.  Klvana,  R.  Tyrsovä,  F.  V.  VykoukaJ  u.  a. 
stellen  dar  die  Volkstrachten,  Stickmuster,  Bemalung  der  Gerätschaften,  Einrichtung 
und  Inneres  der  Bauernhäuser,  die  Gerichte  der  Bauernküche  u.  dgl.  in.,  namentlich 
bei  Slovaken  und  Mährern.  Böhmische  Lieder  und  Tänze  teilen  mit  Vycpälek 
und  Hruska:  Hostinsky  handelt  über  das  Volkslied  im  allgemeinen.  Zur  ver- 
gleichenden Sagenkunde  gehört  der  Aufsatz  von  V.  Tille  „Volkssagen  vom 
Herrscher  und  seiner  Berufung  vom  eisernen  Tische":  die  Sage  von  Premysl  wird 
eingehend  durch  alle  Wandlungen  verfolgt,  die  sie  in  den  verschiedenen  Auf- 
zeichnungen erfahren  hat,  ihre  Elemente  werden  bestimmt,  die  Frage  nach  dem 
Sinn  des  Mythus  angeregt.  Wir  bemerken  hierzu,  dass  die  ähnliehe  Sage  von 
einem  König  Stephan  als  keine  nein.'  Version  gelten  darf,  sondern  bloss  als  die 
Pfemyslsage  mit  anderem  Namen;  dann  dass  die  Erweiterungen  der  späteren 
Überlieferung  nicht  als  volkstümlich  zu  betrachten  sind;  endlich  dass  mythische 
Beziehungen  vergebens  gesucht,  eine  Vervollständigung  aus  moderner  Überlieferung 
vergebens  angestrebt  wird.  Sehr  reichhaltig  ist  das  Material  über  Volksbrauch, 
bisher  auf  die  Zeit  von  Weihnachten  bis  Ostern  sich  erstreckend,  besonders  was 
die  dramatischen  Vnlksspiele  im  Fasching  betrifft,  das  Dorotheenspiel  u.  a.,  zu 
denen  auch  noch  die  bis  1835  in  der  Gegend  von  Vysoke  am  Riesengebirge  auf- 
geführte Komödie  von  der  Tochter  des  englischen  Königs  Franziska  und  dem 
Sohne  des  Londoner  Kaufmannes  Hans,  der  sie  aus  der  Sklaverei  rettet,  gezählt 
werden  darf,  die  im  Original  mitgeteilt  wird.  Anderes.  Angaben  über  Dialekte 
und  deren  Wortschatz,  Beiträge  zur  älteren  Volkskunde,  z.  B.  das  Blutzeugnis  des 
Toten  gegen  die  Mörder,  Einsetzung  von  Grenzzeichen,  ein  handschriftliches 
Cancional  von  1787  u.  s.  w.  müssen  wir  hier  übergehen.  Aus  dem  bibliographischen 
Teil  sei  die  vollständige  Übersieht  des  böhmischen  folkloristischen  Materials  bis 
1890  von  Ferd.  Pätek  und  die  Darstellung  des  lausitzserbischen  durch  A.  Öerny 
besonders  genannt,  Auf  den  archäologischen  Ted  der  Zeitschrift,  wie  er  in  Ab- 
handlungen und  Kritiken  durch  Matiegka,  Niederle,  Cermak  u.  a.  vertreten 
ist.   haben  wir  hier  nicht  einzugehen. 

Grössere  Abhandlungen  giebt  die  Redaktion  des  Ceskj  Lid  in  einer  bes Leren 

Bibliothek  heraus  (Knihovna  Ceskeho  Lidu),  von  der  bisher  erschienen  sind: 
Heft  1  Das  Schrättel  in  der  altböhmischen  Volksüberlieferung,  von  Dr.  Ö.  Zibft; 
Heft  2  Mährische  Hochzeit,  beschrieben  von  Fr.  Bartos,  eine  erschöpfende  Dar- 
stellung der  bezüglichen  Bräuche:  Heft  3  wird  Beiträge  zur  böhmischen  Volks- 
etymologie von  Jos.  Öerny  enthalten. 

Noch  erwähnen  wir,  dass  von  dem  Werke  „Geschichte  der  Trachten  in 
den  böhmischen  Ländern"  (Dejiny  kroje  v  zemich  ceskych)  Heft  2  und  3 
erschienen  sind,  vgl.  Zeitschrift  f.  Volksk.  1891,  S.  457:  dadurch  ist  der  erste  Teil 
(Geschichte  der  Tracht  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zu  den  Hussitenkämpfen  von 
Dr.  Ö.  Zibrt)  abgeschlossen  und  liegt  nunmehr  als  stattlicher  Band  voi.  457  S. 
Lex.-Oct.  mit  235  Illustrationen  vor.  Die  ausserordentliche  Belesenheit  des  Ver- 
fassers, die  Heranziehung  aller  erreichbaren  Quellen,  ihr  sorgliches  Prüfen  und 
Sichten,  das  diese  Arbeit  wie  die  übrigen  des  unermüdlichen  Verfassers  aus- 
zeichnet, erheben  dieselbe  zur  Höhe  der  ausländischen  Publikationen  der  Art; 
andere  slavische  Litteraturen  können  eine  so  tief  eindringende  und  umfassende 
Arbeit  auf  diesem  Gebiete  vorläufig  nicht  aufweisen.  A.  Brückner. 


Bücheranzeigen.  H5 


Wisla.    Miesiecznik  gieograficzno-etnograficzny  1891.  1892.  (Bd.  V,  Heft  4, 
S.  731—950.  und  Bd.  VI,  Heft  1-3,  S.  1—700). 

Bei  früherer  Besprechung,  Zeitschrift  1892,  S.  93  f.,  haben  wir  bereits  Wert 
und  Bedeutung  dieser  Quartalschrift  für  polnische  Volkskunde  hervorgehoben;  auf 
gleicher  Höhe  erhält  sich  ihre  Fortsetzung,  aus  deren  reichem  Inhalte  wir  hier 
nur  einiges  nennen  können.  Das  Studium  von  Br.  Grabowski  über  Sagen  von 
ehelichen  Verbindungen  Nächstverwandter  geht  von  der  Oedipussage  aus,  weist 
deren  mythische  Ausdeutung  zurück  und  verfolgt  den  Stoff  durch  alle  Litteraturen; 
die  Portsetzung  wird  Ehen  zwischen  Tochter  und  Vater  und  Bruder  und  Schwester 
behandeln.  E.  Majewski  schildert  in  einer  erschöpfenden  Monographie  die 
Rolle  der  Schlange  in  Sprache,  Aberglauben  und  Phantasie  des  polnischen  Volkes 
und  fasst  den  Ertrag  von  vielen  hunderten  von  Mitteilungen  in  einem  übersicht- 
lichen Resümee  zusammen.  J.  Franko  weist  den  Zusammenhang  polnischer  und 
russischer  Volksschwänke  vom  Krieg  der  Juden,  die  Felder  blühenden  Haide- 
kornes  für  Wasser  halten,  u.  a.  mit  Geschichten  von  den  sieben  Schwaben,  mit 
dem  Berichte  von  Paulus  Diaconus  über  die  Niederlage  der  Heruler  und  dem 
biblischen  über  die  Pharaos  nach.  Die  hier  begonnene  ethnographische  Studie 
über  Kassuben  und  Kociewier  von  Dr.  Nadmorski  ist  jetzt,  erweitert 
und  fortgesetzt,  als  besonderes  Buch  erschienen  (Posen,  1892,  S.  130);  M.  Töppens 
Aberglauben  aus  Masuren  wird  in  einer  Übersetzung  mitgeteilt;  anziehende  ethno- 
graphische Bilder  liefert  der  verdiente  Archäologe  Z.  Glogier  („Am  Ufer  der 
Biebrza"  und  „Ein  Weichselausflug"),  W.  Ronisz  („Dorf  Dreglin  im  Sierpcer 
Kreis"),  Br.  Grabowski  („Slovakeu  und  Hannaken  in  Südmähren"  nach  dem 
Werke  von  J.  Herben)  u.  a.  St.  Ciszewski  stellt  zum  ersten  Male  auf  diesem 
Gebiete  in  einem  sehr  eingehenden  Berieht  die  serbokroatische  Folkloristik,  von 
Vuk  bis  auf  unsere  Tage,  zusammen.  Stoff  zur  Geschichte  des  Volkstheaters 
(Krippen-  und  Herodesspiele  u.  a.),  zum  Volksliede  (Krakowiaken  u.  a.),  zu  Volks- 
bräuchen (Oster-  u.  Erntebräuche  u.  a.)  liefern  Z.  Wasilewski,  S.  Udziela, 
W.  Matlakowski  u.a.;  über  das  Fortleben  der  Märchen  von  1001  Nacht  im 
Munde  des  polnischen  Volkes  handelt  St.  Ciszewski.  Die  stattliche  Rubrik 
„Erforschungen"  bringt  Beantwortungen  der  von  der  Redaktion  aufgestellten  Frage- 
schemata, die  sich  auf  Volksmedizin,  Wohnhaus,  Johannisfeuer,  Bilderschrift,  Dia- 
lektische Eigenheiten  u.  s.  w.  erstrecken  Ausserdem  reichhaltige  bibliographische 
und  kritische  Übersichten. 

Grössere  zusammenhängende  Arbeiten  werden  in  einer  besonderen  „Biblio- 
teka  Wisly"  veröffentlicht,  von  der  bisher  9  Bändchen  erschienen  sind,  darunter: 
das  Weib  im  Volksliede  (von  K.  Skrzyiiska),  Medizin  und  Heilaberglauben  des 
polnischen  Volkes  (von  Dr.  M.  Udziela);  Sagen  und  Lieder  aus  den  Beskiden 
(von  R.  Zawiliiiski).  aus  den  Gegenden  von  Przasnysz  (St.  Chelchowski); 
Dorf  Rudawa  bei  Krakau  (von  St.  Polaczek)  u.  a.  A.  Brückner. 


11(5  Brückner:    Protokolle. 


Aus   deu 

Sitzungs-Protokollen  des  Vereins  für  Volkskunde. 


Berlin,  Freitag,  den  25.  November  1892.  Herr  Dr.  M.  Priedländer 
sprach  über  das  Studentenlied  mit  Hinweisen  auf  das  Volkslied,  gab  dessen  Ge- 
schichte vom  Erzpoeten  an  bis  heute,  charakterisierte  die  einzelnen  Jahrhunderte 
und  einzelne  Lieder,  hob  den  Beitrag-  von  Dichtern  und  Musikern  (meist  Di- 
lettanten) hervor,  sowie  die  Umwandlung,  bezw.  das  Portleben  einzelner  Melodien. 
Treffliche  Gesangsvorträge  erläuterten  die  interessante  Darstellung. 

Freitag,  den  17.  Dezember.  Herr  Dr.  U.Jahn  erstattete  Bericht  über  ältere 
Trachten,  Schmucksachen,  Geräte,  die  er  auf  einer  durch  Deutschland  im  Sommer 
und  Herbst  1892  unternommenen  Reise  erworben  hatte,  indem  er  zugleich  die 
schönsten  Stücke  der  Sammlung,  namentlich  Kerbschnitzereien,  Tier-  und  Menschen- 
masken dörflicher  Faschingsumzüge  u.  dgl.  m.  ausstellte  und  erläuterte:  an  den 
Vortrag  schloss  sich  eine  Debatte  an.  —  Hierauf  wurde  der  Gesamtvorstand  des 
Vereins  von  1892  durch  Akklamation  für  1893  wiedergewählt;  die  Mitglieder  des- 
selben  nahmen  sämtlich  die   Wiederwahl  an. 

Freitag,  den  20.  Januar  1893.  Herr  Syndikus  Minden  legte  sogenannte 
Wimpeln  vor,  wie  sie  bei  der  Geburt  eines  jüdischen  Knaben  für  die  Thorarollen 
gestiftet  wurden,  die  aus  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  aus  einer  bayerischen 
Gemeinde  stammen,  wobei  die  Verquickung  deutschen  und  jüdischen  Volks- 
brauches hervorgehoben  wurde.  -  Herr  Dr.  U.  Jahn  stellte  aus  und  erläuterte 
eine  stattliehe  Sammlung  von  bäuerlichen  Schmucksachen  (Schnallen,  Ohrreifen, 
Hochzeitstüchern,  Zopfflechten,  Brautgürteln)  und  Kopfbedeckungen,  namentlich 
Hauben  und  Hochzeitskronen,  grösstenteils  aus  Süddeutschland,  die  für  das  Museum 
in  der  deutschen  ethnographischen  Ausstellung  in  Chikago  bestimmt  sind 

Nach  Verlesung  des  Geschäftsberichtes  für  das  verflossene  Jahr  durch  den 
Vorsitzenden  und  der  Jahresbilanz  durch  den  Schatzmeister  wurde  der  Ausschuss 
von  zwölf  Mitgliedern  für  1893  gewählt,  nämlich  die  Herren  Friedel,  Bartels, 
Görke,  Heck,  Rödigcr,  Möbius,  Steinthal,  Voss,  Lazarus,  U.  Jahn, 
E.  Schmidt,  Arendt.  Hierauf  erteilte  der  Ausschuss  von  1892  die  Entlastung 
für  1892.  A.  Brückner. 


Zeitschrift  des   Vereins  für  Volkskunde   i8cy 


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Zeitschrift   des   Vereins   für   Volkskunde   189J 


Taf. 


Volkstümliche  Schlaglichter. 

Von  Wilhelm  Schwartz. 


IV.   Die  Weltgeschichte  im  Spiegel  des  Volkstums. 

So  lange  eine  geschichtliche  Tradition  sich  innerhalb  kleiner,  ländlicher 
Kreise  bewegt,  —  denn  nur  von  dieser  „volkstümlichen"  Überlieferung  und 
Kenntnis  der  Geschichte  soll  hier  die  Bede  sein1),  --  wird  sie  von  einem 
gewissen  Verständnis  getragen  und  gewinnt  an  fester  Gestalt.  Der  Mensch 
übersieht  eben  mehr  die  Verhältnisse.  Je  mehr  der  Horizont  aber,  den 
sie  zu  umfassen  trachtet,  sich  weitet,  und  die  Ereignisse  ins  Grosse  spielen, 
desto  schwankender  und  unbestimmter  wird  sie,  wenn  nicht  Lieder  zu 
Trägern  derselben  werden  oder  andere  Momente  irgendwelcher  Art  ihr 
einen  Halt  geben. 

Die  Tradition  ist  zumal  von  Haus  aus  „subjektiv".  Nicht  wie  die 
Dinge  gewesen,  sondern  wie  sie  den  Menschen  erschienen,  wie  sie  selbige 
in  Liebe  oder  Hass  aufgefasst,  werden  sie  festgehalten  und  phantasievoll 
weiter  ausgesponnen. 

Sie  knüpft  sich  echt  menschlich  weniger  an  Dinge  und  Zustände,  als 
an  „Personen",  die  sie  in  der  Richtung,  in  welcher  sie  selbige  einmal 
gefasst  hat,  immer  mehr  zu  „typischen"  Gestalten  dann  ausbildet.  Wie 
Krystalle  schiesst  Homogenes  an,  das  Bild  vertiefend  und  weitend.  Das 
gilt  im  guten  wie  im  bösen,  vom  Helden  wie  vom  Räuber,  vom  Weisen 
wie  vom  Schalk.  Ebenso  wie  nur  „Charaktere"  im  Leben  auf  das  Volk 
dauernd  Eindruck  machen,  so  fesseln  auch  nur  solche  in  der  Erzählung. 
Die  ältesten  Typen  kunstartiger  Darstellung  auf  diesem  Gebiet  haben  des- 
halb etwas  Dramatisches.     Das  gilt  von  der  Tierfabel  wie  vom  Epos. 

Die  Tradition  ist  also  zunächst  „mehr  poetisch"  als  historisch. 
Letzteres  wird  sie  erst,  wenn  ein  keimender  Trieb  nach  Wahrheit  Kritik  an- 
fängt zu  üben  und  nach  dem  Zusammenhang  der  Dinge  zu  forschen.  So  lange 
die  Überlieferung  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  gläubig  aufgenommen  sich 
fortpflanzt  und  nach  dem  in  ihr  liegenden  Typus  sich  ausbildet,  ist  sie  nur 


1)   Wie   bei    den    früheren  Artikeln    reflektieren   auch    bei    diesem  besonders   meine 
früheren  kulturhistorischen  Wanderungen  in  der  Mark,  überhaupt  in  Norddeutschland. 

Zeitsehr.  <].  Vereins  f.  Volkskunde.     1S93.  0 


]jg  Schwartz: 

eine  Summe  von  Bildern,  welche  das  mit  jedem  Geschlecht  sich  erneuende 
Heimatsgefühl  als  ihm  angehörig  mit  mehr  oder  minderer  Liebe  festhält. 
Nicht  aber  bloss  der  subjektiv-poetisch  sieb  so  bekundende  Volks- 
charakter verleiht  den  Traditionen  etwas  „Flüssiges"  und  „Wandelbares", 
sondern  vor  allem  „der  Mangel  an  jeder  Chronologie",  die  erst  ein  Pro- 
dukt wissenschaftlicher  Betrachtungen  ist  und  das  Denken  innerhalb  eines 
gewissen  Zahlensystems  voraussetzt.  Wie  aber  der  natürliche,  fern  von 
der  Kultur  und  Litteratur  lebende  Mensch  seine  eigene  Vergangenheit  nach 
gewissen  bedeutenderen  Ereignissen  gleichsam  als  nach  „Etappen"  ordnet, 
„vor"  oder  „nach"  denen  etwas  Anderes  sich  ereignet  habe,  so  verwendet 
auch  das  Volk  bestimmte  Bezeichnungen  für  gewisse  charakteristische 
Zeitabschnitte  und  beginnt  nach  ihnen  zu  rechnen.  Aber  kaum  hat  es  den 
Versuch  gemacht,  gewisse  Gruppierungen  und  gleichsam  Grenzbestimmuugen 
sich  so  herzustellen,  so  verschwimmt  mit  der  Zeit  wieder  alles  ineinander, 
da  der  Zusammenhang  und  jede  Art  von  Zeitbestimmung,  die  begonnen 
hatte,  allmählich  wieder  abbröckelt,  und  je  länger  je  mehr  werden  einst 
charakteristische  Bezeichnungen  zu  blossen  Namen  meist  ohne  besonderen 
Hintergrund  und  Unterschied. 

So  treten  z.  B.  in  der  Mark  die  verschiedensten  Namen  für  derartige 
historische  Etappen,  wie  ich  sie  nannte,  hervor.  Will  man  z.  B.  irgend 
einen  eigentümlichen  Gebrauch  als  besonders  altertümlich  bezeichnen,  so 
sagt  man,  meist  ohne  besonderen  Unterschied,  der  stamme  noch  aus  der 
alten  wendischen  oder  katholischen  Zeit.  Wenn  aber  noch  an  die  letztere 
eher  ein  mehr  oder  minder  dunkles  Gefühl  sich  knüpft,  dass  es  sich  um 
etwas  religiös  Verschiedenes  dabei  handle,  so  stellen  sich  zum  Ausdruck 
„Wendenzeit"  als  fast  homogen  die  Ausdrücke  „Schweden-",  „Russen-" 
und  „Franzosenzeit",  obgleich  jeder  Name  an  sich  doch  schon  einem 
anderen  Jahrhundert  entstammt  und  an  verschiedene  Verhältnisse  anknüpft, 
der  erstere  sich  an  den  Schwedeneinfall  unter  dem  Grossen  Kurfürsten, 
der  zweite  an  die  Kämpfe  Friedrichs  des  Grossen  an  der  Oder  im  sieben- 
jährigen Kriege  und  der  dritte  sich  an  die  Okkupation  Napoleons  I.  an- 
schliesst. 

Wie  diese  Bezeichnungen  wechseln,  schwanken  auch  die  mit  denselben 
in  Verbindung  tretenden  Personen  selbst  noch  in  litterarischen  gebildeten 
Kreisen.  Ich  habe  gelegentlich  schon  erzählt,  was  mir  einmal  selbst  mit 
einem,  an  sich  sehr  tüchtigen  Dorfschullehrer,  nicht  weit  von  Berlin,  be- 
gegnete. Sein  Dorf  lag  ausserhalb  der  grossen  Strasse,  und  so  lebte  er 
ziemlich  isoliert.  Nur  selten  gönnte  er  sich  einen  Besuch  in  Berlin.  Da 
sprach  er  zu  mir  einmal  nach  einem  solchen  ganz  begeistert  von  der  Statue 
des  Grossen  Kurfürsten,  was  doch  für  ein  gewaltiges  Denkmal  es  sei,  habe 
er  jüngst  wieder  an  sich  erfahren;  dabei  passierte  es  ihm  aber,  dass  er 
die  am  Piedestal  angebrachten  gefesselten  Figuren,  da  er  die  in  denselben 
liegende  Symbolik  nicht  fasste.  für  alte  „Wendenfürsten"  ausgab,  die  der 


Volkstümliche  Schlaglichter.  119 

Grosse  Kurfürst,  wie  er  meinte,  unterworfen.  Die  Geschichtszahlen  waren 
ihm  mit  der  Zeit  abhanden  gekommen  und  wie  einem  Mann  aus  dem 
Volke  war  ihm  von  der  ganzen  alten  Kurfürstenzeit  nur  im  Gedächtnis 
geblieben,  dass  sie  der  Wendenherrschaft  hier  ein  Ende  gemacht  hatte, 
und  dies  übertrug  er  auf  den  Hauptrepräseutanten  derselben,  den  Grossen 
Kurfürsten. 

Ähnliche  Verschiebungen  traten  mir  gelegentlich  ganz  allgemein  am 
Isergebirge  entgegen.  Dort  knüpfte  sich  z.  B.  die  Schwedenzeit  an  den 
dreissigjährigen  Krieg,  da  der  daselbst  zum  Teil  noch  mehr  fühlbare 
Gegensatz  zwischen  evangelisch  und  katholisch  Erinnerungen  an  jene  Zeit 
mehr  wach  gehalten,  auch  der  Name  Wallensteins  dort  noch  mehr  lokale 
Beziehungen  hat.  Das  hinderte  aber  nicht,  dass  in  einem  einzelnen  Falle 
in  Anknüpfung  an  den  siebenjährigen  Krieg,  der  auch  hier  spielte,  der 
Name  Friedrichs  des  Grossen  hineingezogen  wurde  und  dieser  hier  auch 
mit  den  Schweden  sich  herumgeschlagen  haben  sollte,  diese  oder  jene 
Schanze  noch  davon  angeblich  herrührte.  Ja  auch  Blücher,  der  Moltke 
des  alten  Fritz  (!),  wie  Einer  sich  ausdrückte,  wurde  nach  dem  Bober  und 
der  Katzbach  zu  hineingezogen.  Das  Volk  verbindet  eben  die  Namen 
und  die  Dinge,  die  ihm  im  Gedächtnis  geblieben,  wie  es  ihm  passt,  gerade 
wie  das  Nibelungenlied  auch  mythische  sowie  historische  Personen  ver- 
schiedener Zeiten  unter  dem  Einfluss  der  Sagenbildung,  auf  der  es  fusst, 
miteinander  in  Beziehung  bringt1). 

Diese  Unbestimmtheit  wird  noch  gemehrt  durch  den  Umstand,  dass 
das  „Gedächtnis"  des  A7olkes  relativ  „kurz"  ist.  Wie  die  Erinnerungen 
einzelner  Familien  ohne  litterarische  Aufzeichnungen  meist  nur  auf  Gross- 
oder  Urgrossvater  zurückgehen,  dann  alles  mehr  oder  minder  nebelhaft 
wird,  höchstens  noch  einige  Reminiscenzen  anklingen,  so  auch  in  der 
Tradition  eines  Volkes. 

Sie  greift  im  Durchschnitt  nicht  über  das  dritte  und  vierte  Geschlecht 
zurück;  nur  lokal  erhalten  sich  gelegentlich  länger  historische  Namen  und 
hrockenhafte  Reminiscenzen,  wenn  sie  in  Spruch  oder  Lied  fortleben. 
oder  sonst  irgendwelche  Anlehnung  finden;    es  ist  aber  eben  nur  zufällig. 

Als  ich  mit  Kuhn  den  Harz  nach  Sagen  durchwanderte,  machten  wir 
z.  B.  in  der  Nähe  von  Seesen  eine  interessante  Erfahrung  dieser  Hinsicht. 
Wir  Hessen  uns  mit  Kindern,  die  wir  im  Walde  trafen,  in  ein  Greipräch 
ein  und  forschten  zunächst  nach  Sagen  und,  als  dies  vergeblich  war,  nach 
Liedern,    und    da    kam    dann    unter  anderm  die  auch  in  Städten  bekannte 


1)  Dieses  Moment  wird  übrigens  umgekehrt  auch  bedeutsam  für  jeden  Versuch,  aus 
Sagen,  wenn  nicht  sonstiger  litterarischer  oder  historischer  Anhalt  sich  bietet,  Zeitgrnppen 
herauszuschälen  oder  hineinzutragen.  Die  Tradition  ist  hierin  ebenso  Luftig  wir  in  geo- 
graphischen Bestimmungen  und  Distanzen.  Ebensowenig  wie  das  Volk  bestimmt  Zeit- 
unterschiede festhält,  hat  es  auch  weitergreifeude  Anschauungen  von  der  Lage  der  Länder. 
Nur  gewisse  Namen  hält  es  fest  und  höchstens  nach  welcher  Himmelsrichtung  sie  liegen, 
besonders  ob  nach  Norden  "der  Süden. 


]9()  Srliwartz: 

Kinderpredigt,  die  da  anfängt,  „Meine  Damen  und  Eerrn,  Äppel  sind  keine 

Bärn,"  u.  s.  w.  zu  Tage,  in  welche  zu  unserer  Überraschung  dann  alter  die 

Verse  eingeschoben  wurden: 

Der  Tilly  sitzt  in  Seesen 
Meine  Mutter  hat  zwei  Besen, 
Zwei  Besen  hat  meine  Mutter  u.  s.  w. 

Das  Kinderlied  hatte  hier  einen  Nachklang  an  die  Schlacht  bei  Lutter 
am  Barenberge  aus  dem  XVH.  Jahrhundert  bewahrt,  die  Tilly  von  einer 
Höhe  bei  Seesen  leitete.  Unterstützt  wurde  die  Reminiscenz  freilich  wohl 
noch  dadurch,  dass,  wie  wir  später  erfuhren,  man  noch  einen  (tischartigen) 
Steinblock  daselbst  als  die  Stelle  zeigt,  von  wo  Tilly  aus  die  Schlacht 
überschaut  und  „dirigiert"  haben  sollte. 

Eine  noch  grössere  Überraschung  der  Art  hatten  wir  einmal  in  der 
Altmark  auf  einem  Dorfe  in  der  Nahe  von  Tangermünde,  als  wir  eines 
Sonntag-Nachmittags  in  dem  Kruge  daselbst  singende  und  trinkende  Bauern 
fanden.  Mutete  es  schon  uns  altertümlich  an,  dass  sie  noch  Met  tranken, 
der  damals  —  es  war  im  Jahre  1842  --  schon  meist  längst  abgekommen 
war1),  so  wurden  wir  noch  in  anderer  Weise  in  Verwunderung  gesetzt,  als 
bei  einem  Rundgesang  eine  Erinnerung  an  den  luxemburgischen  Mark- 
grafen von  Brandenburg,  Kaiser  Karl  den  Vierten,  auftauchte,  die  also  ans 
XIV.  Jahrhundert  anknüpft  und  die  älteste  historische  Erinnerung  der  Art 
in  der  Mark  ist,  welche  wir  gefunden.  Einer  der  Leute  stimmte  nämlich, 
als  an  ihn  die  Reihe  kam,  die  Strophe  an: 

„Kaiser  Karolus  siin  bestet  Peerd. 
dat  was  ene  fälige  Stute, 
dat  eene  Ooge  was  nist  wert, 
dat  ärmere  was  reen  ute," 

worauf  die  anderen,  während  er  den  Krug  leerte,  einfielen  mit: 

„reen  ute,  reen  ute,  reen  ute"  u.  s.  w. 
bis  es  dann  zuletzt  hiess: 

„im  wisch  nee  sik  de  Schnute" 
(s.  Märkische  Sagen.   Berlin  1843.   S.  10). 

Diese  volkstümliche  Reminiscenz  erhält  noch  ein  bedeutsames  histo- 
risches Relief,  wenn  in  M.  Christoph  Entzelts,  weiland  Pastors  zu  Oster- 
burg,  Altmärkischer  Chronik  von  Kaiser  Karl  zu  lesen  ist:  „Es  zeigen  auch 
seine  vielfältigen  Thaten,  dass  er  ein  kurzweiliger  Herr  gewesen  ist.  als 
mit.  dem  fahlen  Pferde,  so  aber  zu  laug  zu  erzehlen,  mit  der  Speise, 
die  nichts  kostet  und  niemand  schadet"  u.  s.  w.  Zur  Seite  steht  auch 
hier  freilich  eine  lokale  Anknüpfung,  indem  man  noch  im  Gedächtnis  be- 
halten, Kaiser  Karl  habe  das  Schloss  in  Tangermünde  und  vor  allem  das 


1)    Im  Posenschen    habe   ich  ihn  in  den  siebziger  Jahren  noch  gelegentlich  als  eine 
Vit  alter  Rarität  in  polnischen  Gutsbesitzerkreisen  getrunken. 


Volkstümliche  Schlaglichter.  121 

Dorf  Carlbau  gebaut,  welches  Entzelt  plattdeutsch  „Kalpu"  nennt  und 
hinzusetzt,   „soll  heissen  Oaroli  Gebäu". 

Derartiges  tritt  verschiedentlich  hervor,  aber  es  sind,  wie  gesagt,  meist 
nur  brockenartige  Überbleibsel.  Der  Volkstradition  fehlt  eben  mit  dem 
Mangel  der  Zeitunterschiede  meist  jeder  Begriff  der  Kontinuität.  Wie 
Schweden-,  Russen-  und  Franzosenzeit  ineinander  übergehen,  der  Grosse 
Kurfürst  mit  den  alten  Wendenfürsten  in  Beziehung  tritt,  so  sieht  das  Volk 
weniger  die  Ereignisse  aus  weiter  Perspektive  allmählich  in  die  Gegen- 
wart übergehen,  als  gleichsam  in  einen  Rahmen  zusammengezwängt  vor 
sich,  wobei  höchstens  das  eine  mehr  in  den  Vorder-,  das  andere  mehr  in 
den  Hintergrund  tritt.  Alles  dies  giebt  der  Tradition,  ehe  sie  in  die 
Geschichte  übergeht,  etwas  ,, Anekdotenartiges".  Die  einzelnen  Geschichten 
schweben  gleichsam  in  der  Luft  und  rücken  so  dem  Leben  des  Volkes 
allmählich  gewissermassen  nach,  indem  sie  mit  jedem  Geschlecht  leicht 
den  Träger  wechseln1).  Die  Sage  vom  Schildhorn  bei  Spandau,  welche 
litterarisch  auf  den  letzten  Wendenfürsten  Pribislaw  bezogen  wird,  der, 
vor  Albrecht  dem  Bären  hier  flüchtig,  mit  seinem  Pferde  durch  den  breiten 
Havelsee  daselbst  geschwommen  und  sein  Schild  und  Hörn,  als  er  glück- 
lich hinübergekommen,  als  Wahrzeichen  an  einen  Baum  aufgehängt  haben 
und  Christ  geworden  sein  soll,  —  diese  Sage  hörte  ich  im  Laufe  der  Jahre 
in  jeuer  Gegend  von  den  verschiedensten  Personen  erzählen.  Neben  dem 
letzten  Wendenkönig'  -  ■  der  an  verschiedenen  Stellen  der  Mark  noch 
spukt,  --  trat  die  allgemeine  Bezeichnung  „ein  Ritter",  dann  der  Crosse 
Kurfürst,  dann  Gustav  Adolf2)  und  endlich  sogar  ein  General  Schill3)! 

In  ähnlicher  Weise  sind  Geschichten,  die  man  litterarisch  bis  ins 
Mittelalter  hinein  verfolgen  kann,  zu  verschiedenen  Zeiten  immer  wieder 
auf  andere  Personen  übertragen  worden.  Der  alte  Dessauer  wird  ähnlich  in 
mancher  Geschichte  abgelöst  von  Zieten,  Zieten  von  Blücher,  Blücher  vom 
alten  Wrangel,  und  so  geht  es  fort,  indem  teils  unwillkürlich,  teils  um 
einen  Hintergrund  zu  gewinnen,  welcher  Interesse  erregt,  der  Erzähler  an 
Näherliegendes,  an  bekannte,  statt  an  allmählich  fremder  werdende  Personen 
anknüpft. 

Die  grossen  Ereignisse  aber,  welche  das  Volk  weniger  in  ihrem 
Zusammenhang  und  allgemeiner  Bedeutung,  als  in  einzelnen  Resultaten 
erkannte,   die  es  eben  hinnahm,  wie  sie  kamen,  schwinden  im  Strom  des 


1)  Diese  Erscheinung-  habe  ich  auf  mythologischem  Gebiet  schon  betont.  Siehe 
Schwartz,  Der  heutige  Volksglaube  und  das  alte  Heidentum.  Berlin.  II.  Aufl.  v.  J.  1862. 
S.  13.  So  tritt  z.  B.  bei  Prenden  der  alte  Sparr  aus  der  Zeit  des  Grossen  Kurfürsten  an 
die  Stelle  des  "Wilden  Jägers,  wirft  aus  der  Luft  eine  Menschenlende  herab  und  der- 
gleichen mehr. 

2)  Wohl  im  Anklang  daran,  dass  das  Faktum  sich  nach  einigen  in  einem  Religions- 
krieg  zugetragen  haben  soll  und  man  dann  an  den  dreissigj ährigen  Krieg  dachte. 

3)  Der  Name  .,Schildhorn-'  spielt  dabei  offenbar  mit,  vielleicht  auch  eine  Erinnerung 
an  Schills  kühnen  Zug  vom  Jahre  1809. 


122  Schwartz: 

Lebens,  im  täglichen  Kampf  um  das  Dasein  immer  mehr  in  dem  Gedächtnis. 
Nur  inwiefern  sie  einzelne  Volkskreise  besonders  berührten  oder  Verhält- 
nisse, namentlich  Gegensätze  vorhanden  sind,  die  immer  wieder  darauf 
zurückzugreifen  veranlassen ,  werden  sie  in  Einzelerinnerungen  noch 
lebendiger  wach  gehalten.  Wo  Evangelische  und  Katholische  im  Lande 
massenhafter  zusammenstossen ,  weiss  man  noch  mehr  oder  weniger  von 
alten  schweren  Kämpfen,  die  erst  mit  der  Zeit  in  Deutschland  einen  modus 
vivendi  in  dieser  Hinsicht  geschaffen,  und  erzählt  noch  dies  oder  jenes 
davon,  was  im  Gedächtnis  haften  geblieben1),  ebenso  wie  in  Grenzlandeu 
schärfer  hervorgetretene  nationale  Gegensätze  noch  oft  ein  Substrat  für 
das  Haften  von  Traditionen,  die  dahin  sehlagen,  bilden.  Wo  aber  das 
Leben  selbst  keine  unmittelbare  Anknüpfung  mehr  bietet,  da  verfliegen 
mit  der  Zeit  die  Erinnerungen  oder  werden  durch  andere  näherliegende 
verdrängt. 

Die  Kontinuität  tritt  erst  voller  in  die  Tradition  ein,  wenn  diese  litte- 
rarisch aufgezeichnet  in  die  „Geschichte"  anfängt  überzugehen.  Von  einer 
wirklichen  Geschichte  kann  aber  in  Wahrheit  erst  dann  die  Rede  sein, 
wo  für  die  Ereignisse  „gleichzeitige"  litterarische  Zeugnisse  eintreten  oder 
wenigstens  sichere  Anknüpfungen  nach  Zeit,  Ort,  Personen  und  dergl.  sich 
bieten.  Wenn  eine  keimende  Geschichtsschreibung  bei  einem  Volke  dabei 
auf  die  früheren  Zeiten  nach  den  sagenhaften  Überlieferungen,  um  einen 
Anfang  zu  haben,  zurückgreift  und  sie  mit  möglichster  Ausscheidung  alles 
Wunderbaren  historisch  gruppiert,  so  empfängt  die  Sache  dadurch  doch 
keinen  historischen  Wert,  weun  nicht  anderweitig  etwa  Bestätigungen  ein- 
zelner Fakta  hinzukommen,  sondern  es  ist  und  bleibt  immer  nur  eine 
nebelhafte,  allmählich  poetisch  gestaltete  Tradition,  wie  sie  ein  Volk  bei 
seiner  nationalen  Entwicklung  sich  nach  den  vorhandenen  heimatlichen 
Anklängen  ausgebildet  und  zurechtgelegt  hat,  und  die  nur  von  diesem 
Standpunkt  aus  eine  relative  Bedeutung  hat. 

Recht  charakteristisch  tritt  das  bei  Griechen  und  Römern  hervor,  wenn 
es  gleich  überall  ähnlich  gewesen.  Namentlich  ist  die  alte  griechische 
Geschichte  zunächst  nur  eine  mit  der  Zeit  an  gewissen  Etappen  zurecht- 
gerückte Märchen-  und  Sagenmasse.  Der  sagenhafte  Argonautenzug,  der 
Zug  gegen  Theben,  vor  allen  der  trojanische  Krieg  und  zuletzt  die  schliess- 
lich in  ein  System  gebrachten  Wanderungen,  waren  solche  Etappen,  zwischen 
denen  sich  die  Genealogieen  der  einzelnen  Stämme  zurechtzogen,  je  nach- 
dem dieser  oder  jener  Held  an  dem  einen  oder  anderen  teilgenommen 
hatte.  Die  Geschlechtstafeln  der  einzelnen  Stämme  von  der  troischen  Zeit 
aufwärts    umfassen    aber    dabei    nur    meist   eine  kurze   Spanne   Zeit.     Mit 


1)  z.  B.  am  Isergebirge.  In  der  Mark  wird  so  noch  in  der  Umgehend  von  Jüterbog 
bei  der  Nähe  der  Lutherstadt  Wittenberg  die  Geschichte  zäh  festgehalten,  wie  ein  Hake 
von  Stülpe  Tetzel  einst  abgeführt  habe.  Schwartz,  Sagen  und  alte  Geschichten  der  Mark 
Brandenburg.     Berlin.  Volksausgabe  v.  .1.  IPSG.   S.  73. 


Volkstümliche  Schlaglichter.  123 

weiligen  Namen  stehen  wir  schon  mit  einer  mythischen  Abstammung  vom 
Zeus  gleichsam  am  Anfang  aller  Dinge,  während  die  ganze  Kulturentwick- 
lung docli  schon  einfach  uns  zeitlich  wie  örtlich  weite  und  ferne  Per- 
spektiven eröffnet.  Es  ist  dort  nicht  anders  gewesen,  als  z.  ß.  bei  den 
Angelsachsen,  deren  Stammgeschichte  schon  mit  dem  Ururgrossvater  des 
Hengist  ihr  Ende  findet,  indem  sie  denselben  als  Sohn  des  Yöden  schon 
göttlicher  Abstammung  sein  lässt1). 

Ich  habe  schon  gelegentlich,  um  an  einer  Parallele  zu  zeigen,  was 
dabei  herauskommen  kann,  wenn  aus  den  Sagen  eines  Volkes,  als  wären 
es  wirklich  historische  Erinnerungen,  „eine  Vorgeschichte  desselben" 
mechanisch  konstruiert  wird,  in  humoristischer  Form  ein  Bild  gegeben, 
was  für  eine  Vorgeschichte  etwa,  wenn  wir  sonst  von  der  Geschichte 
Norddeutschlands  und  namentlich  der  Mark  nichts  wüssten,  aus  den 
volkstümlichen  Traditionen  sich  hier  nach  analogen  derartigen  alten 
Vorbildern  ergeben  dürfte! 

„Zuerst  erhielte  man  nämlich,"  führte  ich  aus2),  „als  die  Religion  der 
früheren  Zeiten  den  Glauben  an  die  Herrschaft  eines  bösen  Geistes,  des 
Teufels,  dem  molochartig  Menschenopfer  dargebracht  zu  sein  schienen,  wo- 
für die  vielen  Sagen  von  ihm  entführter  oder  getöteter  Menschen  sprächen, 
wie  auch,  wenn  er  sich  augeblich  die  Seelen  derselben  habe  verschreiben 
lassen,  dies  nur  offenbar  ein  Nachklang  daran  wäre.  Der  Blocksberg  war 
sicherlich  nach  allem  eine  alte  Kultusstätte  desselben,  und  zwar  wurde  er 
dort  besonders  zur  Frühlingszeit  in  nächtlicher  Feier  bacchantisch  von 
alten  Frauen  verehrt,  die  als  Priesterinnen  desselben  in  einer  Art 
geheimnisvoller  Zunft  allerhand  Zauber  daneben  übten,  auch  noch,  als  das 
Christentum  hier  einzog  in  die  Lande,  ihr  Treiben  im  stillen  fortsetzten, 
bis  man  sie  mit  Feuer  und  Schwert  ausrottete8).  In  den  alten  Zeiten  habe 
es  übrigens  noch  gewaltige  Riesen  gegeben,  die  so  gross  waren,  dass  sie 
mit  ausgerissenen  Baumstämmen  ihr  Vieh  hüteten,  dennoch  seien  sie  nicht 
ganz  unkultiviert  gewesen,  vor  allem  hätten  sie  sich  als  geschickte  Bau- 
meister erwiesen,  namentlich  Dämme  und  andere  Steinbauten  aufgeführt, 
aber  auch  Handwerke  haben  sie  schon  getrieben.  Bei  Gerswalde  in  der 
Uckermark  liege  wenigstens  ein  grosser  Stein,  von  dem  erzählt  werde, 
und  dessen  Eindrücke  es  auch  noch  deutlich  zeigten,  dass,  wie  die  Leute 
behaupteten,  ein  Riesenschneider  auf  demselben  gesessen,  woher  die  vor- 
handenen Löcher  herrührten;  man  sehe  noch  ordentlich  neben  der  Ver- 
tiefung,   wo    er    sass,    ringsherum    die    kleineren  Löcher,    in    denen    sein 


1)  Grimm,  Mythologie,  1837.    Anhang.  S.  III. 

2)  Prähist.  anthrop.  Studien.  Mythologisches  und  Kulturhistorisches.  Berlin  1884. 
S.  169  ff. 

3)  An  Hexen  als  alte  Priesterinnen  einer  heidnischen  Gottheit  denkt  zum  Teil  selbst 
noch  J.  Grimm,  Myth.2  1057,  vgl.  Quitzmann,  Die  heidnische  Religion  der  alten  Baiwaren. 
Leipzig  1860.  S.  226. 


|-_>4  Schwartz: 

Handwerkszeug,  Schere,  Nadel,  Fingerhut  und  Zwirnknäuel  gelegen.  —  Ihre 
Könige  haben  übrigens  die  Riesen  stets  in  goldenen  Särgen  beigesetzt,  die 
in  eisernen  gestanden,  und  diese  wieder  in  eichenen.  Dem  eindringenden 
Christentum  haben  sie  sieh  feindlich  entgegengestellt  und  namentlich  ver- 
sucht, den  Bau  christlicher  Kirchen  zu  stören  und  sie  mit  gewaltigen  Fels- 
blöcken einzuwerfen  gesucht,  aber  vergeblich.  Die  letzten  dieses  Volkes 
hat  ein  alter  König,  der  Vater  des  sogen,  alten  Fritz  —  seinen  Namen 
weiss  mau  nicht.  —  dann  unter  seine  Soldaten  gesteckt  (!),  und  so 
sind  sie  allmählich  verschwunden." 

„Ebenso  scheint  es  einen  anderen  Menschenschlag  hier  gegeben  zu  haben 
von  kleinerer  Rasse,  die  in  Höhlen,  halb  unter  der  Erde,  gelebt  und  dort 
reiche  Schätze  aufgehäuft  haben,  aber  in  sittlicher  Beziehung  scheu  und 
etwas  verkommen,  namentlich  diebisch  gewesen  siud.  Gern  hätten  sie  den 
Leuten  allerband  Schabernack  angethau,  aber  es  dann  meist  verstanden, 
sich  der  Strafe  zu  entziehen,  so  dass  mau  geglaubt,  sie  besässen  eine  Art 
Zauberkappe,  die  sie,  wenn  sie  selbige  still  überzögen,  sofort  unsichtbar 
machen  könnte.  Sie  haben  meist  unter  Königinnen  gelebt,  sind  aber, 
als  das  Land  mehr  kultiviert  worden,  nach  Westen  ausgewandert.  Nament- 
lich scheint  der  oben  erwähnte  Fritz  bei  ihrer  Vertreibung  thätig  gewesen 
zu  sein;  wenigstens  heisst  es,  er  habe  sie  schliesslich  über  das  rote  (!)  Meer 
verwiesen.1)." 

„Dann  muss  eine  Art  Heroenzeit  hier  stattgefunden  haben,  ein  buntes 
Völkertreiben,  indem  aus  dieser  kriegerischen  Epoche,  wie  die  Bezeich- 
nungen alter  Burgwälle  und  Schanzen  noch  beweisen,  verschiedene  Namen 
von  Völkern  noch  hinüberklingen,  die  einst  hier  müssen  eine  Rolle  gespielt 
haben.  Unter  der  Menge  der  Helden  aber  ragen  besonders  hervor  der 
sogen.  Grosse  Kurfürst,  der  die  alten  Wendenfursten  hier  besiegt  und  die 
Schweden,  welche  eingefallen,  wieder  aus  dem  Lande  getrieben  hat,  der 
alte  Fritz,  der  wie  ein  Harun  al  Raschid  oft  unerkannt  durch  das  Land 
gewandert  und  nach  dem  Rechten  gesehen,  oder  mit  einem  seiner  Paladine, 
einem  gewissen  Zieten.  seine  Kurzweil  getrieben,  wobei  er  aber  oft  den 
kürzeren  zog  u.  s.  w." 

In  dieser  oder  ähnlicher  Weise  würde  etwa  eine  Vorgeschichte  der 
Marken  aussehen,  wenn  sie.  in  Ermangelung  jeder  anderen  Kenntnis,  aus 
den    volkstümlichen    Erinnerungen    in  ähnlicher  Weise  zurecht  geschnitten 


1)  In  verschiedenen  Gegenden  sucht  man  noch  jetzt  die  Zwerge  »der  Unterirdischen 
als  einen  alten  verkommenen  Volksstamm  zu  erklären,  während  man  es  in  betreff  der 
Riesen,  in  betreff  derer  man  es  früher  ebenso  machte,  nachgerade  aufgegeben  hat.  Die 
Zwerge  sind  aber  mit  den  mannigfachen,  sich  an  sie  knüpfenden  Sagen  uralte  mythische 
Gebilde,  indem  man  in  den  Sternen  solche  himmlische  ..Kleinen"  in  der  Urzeit  dort  oben 
zu  linden  wähnte,  die,  wenn  der  Himmel  sich  bezog,  ihre  Nebelkappen  übergezogen  hatten, 
in  nächtlichen  Gewittern  schmiedeten  und  dergl.  mehr.  Siehe  Urspr.  der  Myth.  im  Index 
unter  .Zwerge".     Berliner  Zeitschr.  f.  Ethnologie  u.  s.  w.  v.  .T.  1892.  S.  166. 


Volkstümliche  Schlaglichter.  125 

würde,  wie  es  die  Griechen  thaten,  wenn  sie  nach  entsprechenden  Erinne- 
rungen die  Menschen  erst  in  Holden  wohnen  Hessen,  dann  ein  Götterspross 
den  Ackerbau  einführte,  ein  anderer  das  Pferd  anzuspannen  und  zu  zügeln 
lehrte,  von  einem  dritten  die  Schmiedekunst  den  Menschen  gebracht  sei, 
wunderbare,  zum  Teil  riesenhafte  Geschlechter,  halb  göttlicher,  aber  auch 
halb  tierischer  Art,  den  Menschen  vorangegangen  seien  und  dergl.  mehr. 
Die  Geschichte  ist  überall  nämlich  erst  ein  keimendes  Produkt  der 
Bildung,  das,  wie  nicht  oft  geniig  betont  werden  kann,  je  näher  es  den 
volkstümlichen  Anschauungen  liegt,  desto  subjektiver  ist  und  erst,  je 
mehr  es  das  Leben  der  Völker  auf  litterarisehe  (sowie  monumentale) 
Zeugnisse  hin  verfolgt,  objektiver  wird,  zur  vollen  Entwicklung  aber  erst 
gelangt,  wenn  es  auf  einer  mehr  internationalen  Basis  zur  Weltgeschichte 
wird. 


Wenn  ich  obige  Betrachtungen  mehr  unter  dem  Eindruck  und  den 
Erfahrungen  geschrieben,  welche  ich  in  dem  jahrelangen  Verkehr  mit  dem 
norddeutschen  ländlichen  Volkstum  gemacht,  so  gebe  ich  zum  Schluss  noch 
einige  zum  Teil  „litterarische"  Zeugnisse  für  den  Charakter  volkstümlicher 

Geschichtsauffassung  in  dem  oben  ausgeführten  Sinne. 

Weshalb   es  zur  Schlacht  von  Fehrbellin  gekommen. 

Die  volkstümliche  Version  davon  ist  eine  Erinnerung  des  alten  Fritz 
aus  seiner  Ruppiner  Zeit,  welche  er  nach  Gleim  im  Jahre  1779  bei  einer 
Inspektionsreise  im  havelländischen  Luch,  in  heiterer  Stimmung  über  seine 
neuen   Schöpfungen  daselbst,  bei  Tafel  zum  Besten  gegeben  hat1). 

„Von  der  Schlacht  bei  Fehrbellin,  sagte  der  König,  bin  ich  so  orientiert, 
als  wenn  ich  selbst  dabei  gewesen  wäre.  Als  ich  noch  Kronprinz  war  und 
in  Kuppin  stand,  da  war  ein  alter  Bürger,  der  Mann  war  schon  sehr  alt, 
der  wusste  die  ganze  Bataille  zu  beschreiben  und  kannte  den  Wahlplatz 
sehr  gut.  Einmal  setzt1  ich  mich  in  den  Wagen,  nah  in  meinen  alten  Bürger 
mit,  welcher  dann  mir  alles  zeigte,  so  genau,  dass  ich  zufrieden  war  mit 
ihm.  Als  ich  nun  wieder  nach  Hause  reiste,  dachte  ich:  Du  musst  doch 
deinen  Spass  mit  dem  Alten  haben!  Da  fragte  ich  ihn:  Vater,  wisst  ihr 
denn  nicht,  warum  die  beiden  Herren  sich  miteinander  gestritten  haben? 
„0  jo,  Ihro  Königlichen  Hoheiten,  dat  will  ich  Se  wohl  seggen"  —  Friedrich 
soll  den  Dialekt  selbst  nachgeahmt  haben,  — .  „As  unse  Korförste  is  jung 
gewest,  hat  he  in  Utrecht  studert,  und  da  ist  de  König  von  Schweden  as 
Prinz  oft  gewest.  Da  hebben  nu  de  beede  Herren  sick  vertörnt,  hebben 
sick  in  den  Haaren  gelegen,  und  dit  is  nu  de  Pike  davon!" 


1)    Proehle,  Feldgarben.    Leipzig  1859.    -401  ff. 


126  Schwarte: 


Der  alte  Fritz  und  Zieten. 

Die  Zeit  Friedrichs  des  Grossen,  das  war  die  epische  Zeit  des  alten 
Preussentums  und  der  alte  Fritz  und  Zieten  der  Mittelpunkt  desselben. 
Die  alten  Soldaten,  die  mit  ihnen  die  Schlachten  geschlagen,  im  Lager- 
leben ihnen  näher  getreten.  —  die  Verhältnisse  waren  damals  noch  nicht 
so  gross,  wie  in  den  spateren  Kriegen  — ,  das  waren  zumeist  die  Träger 
der  Geschichten,  die  dann  ins  Yolk  übergingen  und  jene  zum  Mittelpunkt 
eines  reichen  Sagenkranzes  machten,  welcher  in  der  ersten  Hälfte  dieses 
Jahrhunderts  nicht  bloss  in  den  alten  preussischen  Provinzen,  sondern  in 
ganz  Norddeutschland  mehr  oder  minder  bekannt  war.  Es  waren  nicht 
gerade  immer  Geschichten  kriegerischer  Art,  wenn  sie  gleich  meist  das 
Soldatenleben  streiften,  soidern  anekdotenartige  Erzählungen,  wie  sie  früher 
ähnlich  vom  alten  Dessauer  umgingen,  die  darin  gipfelten,  dass  der  Held 
der  Geschichte  nie  in  Verlegenheit  kam,  immer  schlagfertig'  in  Wort  und 
Handeln  war  und  den  Nagel  stets  auf  den  Kopf  traf,  Charakterzüge,  die 
man  dann  im  Heere  preussische  Sehneidigkeit  nannte,  während  der  Fremde 
sie  oft  durch  den  Ausdruck  Windigkeit  herabzusetzen  trachtete.  Nament- 
lich gipfelt  der  Haupttypus  der  Art  in  einer  Art  Wettspiel  zwischen  dem 
alten  Fritz  und  Zieten,  bei  dem  echt  volkstümlich  der  Mutterwitz  des  ein- 
fachen Zieten  meist  triumphiert1). 

Eine  Geschichte  für  viele.  Der  alte  Fritz  neckt  Zieten  und  will  ihn 
bei  Tisch  in  Verlegenheit  bringen.  Als  die  Suppe  aufgetragen  wird,  sagt 
er:  „Ein  Hundsfott,  wer  seine  Suppe  nicht  ausisst."  Dabei  hat  er  vor 
Zieten  keinen  Löffel  hinlegen  lassen,  sondern  nur  einen  Kanten  Brot. 
Zieten  nimmt  den  schmunzelnd  und  schneidet  sich  mit  dem  Messer  eine 
Art  Löffel  daraus,  mit  dem  er  seine  Suppe  isst,  als  wäre  alles  in  Ordnung. 
Wie  er  fertig  ist.  sieht  er  sich  im  Kreise  um  und  sagt:  „Damit  wären 
wir  nun  fertig.     Ein  Hundsfott  aber,  der  seinen  Löffel  nicht  aufisst2)." 

Eine  Fülle  solcher  Geschichten  gingen  seiner  Zeit  im  Lande  um  und 
fanden  im  preussischen  Geist  volkstümlicher  Kreise  sympathischen  Wieder- 
hall. Oft  waren  sie  echt  derb,  wie  ich  deren  ein  paar  gelegentlich  in  den 
Märkischen  Forschungen  vom  Jahre  1863  mitgeteilt  habe.  Die  Sage  lässt 
den  alten  Fritz  auch  dabei  gemeinsam  mit  Zieten  durch  das  Land  ziehen,  wie 
im  Mittelalter  Christus  und  Petrus  und  überträgt  dann  unter  anderm  einen 
Schwank,  der  einst  von  jenen  erzählt  wurde,  auf  unsere  Helden,  wobei 
Zieten  durch  seine  Schlauheit  dann  meist  den  Vogel  abschiesst.    Sie  haben 


1)  Den  Mutterwitz  liebt  das  Volk  so  triumphierend  darzustellen.  So  kommt  bei  den 
Griechen  Homer  auch  nicht  gegen  einfache  Fischer  auf  und  kann  ihre  Rätselrede  nicht 
lösen.  Grübelnd  fällt  er  sogar  dabei  über  einen  Stein  und  stürzt  sich  zu  Tode.  „Homer 
und  der  alte  Fritz",  Prähistorische  Studien.  141. 

2)  Sehwartz.  Sagen  u.  s.  w.    Berlin  18SH.    S.  37. 


Volkstümliche  Schlaglichter.  127 

z.  B.  einmal  angeblich  unerkannt  bei  einem  Bauer  Herberge  gefunden 
gegen  das  Versprechen,  am  andern  Morgen  dreschen  zu  helfen.  Sie  schlafen 
zusammen  in  einem  Bett,  Zieten  lässt  den  König  aus  Respekt  vorn  liegen. 
Wie  sie  den  andern  Morgen  nicht  zur  Arbeit  erscheinen,  kommt  der  Bauer 
mit  einem  Stock  und  bearbeitet  den  vorn  liegenden  König.  Sie  bitten 
noch  um  eine  kurze  Frist,  da  sie  noch  zu  müde  seien,  und  der  Bauer  ge- 
währt sie  ihnen  auch  endlich,  da  sie  docli  zu  jämmerlich  thaten.  Wie  sie 
sich  wieder  einrichten,  sagt  Zieten:  „Nun  will  ich  mich  aber  für  alle  Fälle 
vorn  hinlegen,"  und  der  König  legt  sich  auch  hinten  hin.  Als  sie  aber 
wieder  einschlafen  und  der  Bauer  zum  zweiten  Male  kommt,  sagt  er,  wie 
Zieteu  gedacht:  „Nun  werde  ich  mir  aber  einmal  den,  der  dahinten  liegt, 
langen."  Und  so  ging  Zieten  leer  aus,  der  alte  Fritz  bekam  aber  zweimal 
seine  Schläge1). 

Neben  diesen  mehr  ländlich-bäurischen  Traditionen  giebt  es  bekannt- 
lich noch  eine  grosse  Fülle  mehr  städtischer  Überlieferungen  von  Friedrich 
dem  Grossen,  in  denen  er  aber  mein-  der  Weise  von  Sanssouci  oder  der 
König  ist,  der  überall  nach  dem  Rechten  sieht  und  Gerechtigkeit  gegen 
alle,  wes  Standes  sie  auch  sind,  übt.  „Dem  König  entging  nichts",  das 
ist  der  Grundzug  der  durch  die  meisten  dieser  Geschichten  geht,  wovon 
ich  noch  ans  den  unteren  städtischen  Volksschichten  ein  Beispiel  anführen 
will.  Vom  Prof.  Preuss,  dem  bekannten  Historiographen  Friedrichs  des 
Grossen,  heisst  es,  er  habe  einmal  gehört,  in  Potsdam  lebe  noch  ein  alter 
Gartenknecht  aus  der  Zeit  des  Grossen  Königs,  der  noch  viel  von  ihm 
erzählen  könne.  Preuss  habe,  als  er  einmal  in  Potsdam  war,  die  Gelegen- 
heit benutzt,  ihn  aufzusuchen  und  knüpfte  ein  Gespräch  mit  ihm  an  „ob 
er  sich  noch  des  Königs  erinnere,  wie  denn  der  Herr  gewesen  und  dergl." 
„Ach",  sagte  der  Alte,  „das  war  ein  niederträchtiger  Kerl  (d.  h.  kluger  und 
scharfer  Herr),  da  durfte  keine  Aprikose,  keine  Pfirsich  fehlen,  der  sah 
alles,  dem  entging  nichts  und  dann  war  der  Teufel  los.1'  Das  war  keine 
respektwidrige  Äusserung,    sondern  gerade  das  Gegenteil  davon,    nur  der 


1)  Die  Art,  wie  diese  Geschichte  auf  den  alten  Fritz  und  Zieten  übertragen  wird, 
ist  an  sich  noch  höchst  interessant.  Wenn  sie  von  Christus  und  Petrus  erzählt  wird,  ist 
sie  meist  nur  eine  Episode  einer  längeren,  mythisch  noch  anklingenden  Geschichte,  wobei 
Petrus  den  Schaden  lr.it,  indem  dieser  zuerst,  weil  er  vorn  liegt,  Schläge  empfängt,  dann 
..aus  Vorsicht-  sich  hinten  hinlegt,  was  sich  aber  dann  als  Thorheit  erweist,  indem  er 
nun  wieder  mit  solcher  bedacht  wird,  weil  der  Bauer  zur  Abwechslung  gerade  den  hinten 
liegenden  sich  langt.  Wenn  das  zu  anderen  analogen  Geschichten  von  Christus  und  Petrus 
passt,  auch  unmöglich  doch  Christus  Schläge  erhalten  konnte,  so  ergab  sieh  die  Wandlung 
der  Scenerie,  dass  Zieten  den  alten  Fritz  „in  Schlauheit''  hineinfallen  lässt  und  dieser  es 
ausbaden  muss,  sofort  nach  dem  typisch  gewordenen  Verhältnis  dieser  beiden  fast  von 
selbst,  wenn  die  Sage  auf  sie  übertragen  ward.  Man  sieht  so  recht  deutlich  an  diesem 
Beispiel,  wie  die  Scenerie  gleichsam  der  traditionelle  Kern  der  Sache  ist,  und  sie  bei  Über- 
tragungen je  nach  Umständen  in  der  Ausführung  und  den  Motiven  sich  wandelt.  —  l  ber 
die  angezogenen  Geschichten  von  Christus  und  Petrus  s.  Mannhardt,  Zeitschrift  f.  deutsch.' 
Mythologie  und  Sittenkunde.  I.  41.  471.   II.  13.  54. 


128  Schwartz: 

Anschauung  der  Verhältnisse  entlehnt,  in  denen  unser  Gartenknecht  sich 
bewegte,  gerade  wie  jener  Kärrner  vom  alten  Fritz  sagte:  „Der  hat  eine 
Pitsche  (Peitsche),  mit  der  kann  er  fahren,  wo  er  will."  — 


Nach  der  Zeit  Friedrichs  des  Grossen  ändern  sich  aber  die  Ver- 
hältnisse auch  auf  dem  Gebiete  des  Volkstums.  Die  Litteratur  überwuchert 
je  länger  je  mehr  die  schaffende  Kraft  desselben  und  mit  den  Freiheits- 
kriegen beginnt  die  Geschichte  in  den  weiten  Dimensionen  europäischer 
Verwicklungen  sieh  abzuspielen.  Da  machen  sich  überall  weitere,  fern- 
liegende Perspektiven  geltend,  und  die  handelnden  Personen  stehen  nicht 
mehr  so  unmittelbar  im  Volke  wie  früher.  Gelegentlich  keimen  zwar  noch 
Ansätze  zu  phantasievoll  volkstümlicher  Auffassung  und  Behandlung  Ein- 
zelner in  alter  Weise,  wie  z.  B.  bei  Blücher,  aber  sie  kommen  nicht  mehr 
zur  besonderen  Entfaltung.  Die  Tradition  tritt  vor  der  Litteratur  und  der 
Schule,  welche  allen  die  Weltgeschichte  wenigstens  in  grossen  Konturen 
vermittelt,  immer  mehr  zurück.  Nur  ab  und  zu  klingt  es  noch  vorüber- 
gehend von  Ereignissen  wie  Personen  in  kleineren  Kreisen  an,  aber  es  ist 
mehr  eine  Art  Tagesgeschwätz,  das  der  Tag  verschlingt,  wie  er  es  geboren, 
es  kommt  zu  keiner  dauernden  typischen  Gestaltung  im  Volke. 

An  „die  Pike  von  Fehrbellin",  von  der  Friedrich  der  Grosse  erzählte, 
erinnerte  mich  z.  B.  die  volkstümliche,  naive  Auffassung  eines  Reservisten 
der  Mansteinschen  Brigade,  der  in  Schleswig-Holstein  mitgewesen,  von  der 
Veranlassung  des  Krieges  zwischen  Österreich  und  Preussen  vom  Jahre 
1866  und  der  ganzen  Entwicklung  desselben  und  weshalb  speziell  die  Mau- 
steinsche  Brigade  zunächst  mehr  in  dem  Hintergrund  dabei  gestanden  habe. 
„Wie  unser  König  und  der  Kaiser  von  Österreich  zusammen  gegen  die 
Dänen  fochten",  sagte  er,  „hatten  sie  verabredet,  auch  einmal  einen  Gang 
mit  einander  zu  machen,  um  zu  sehen,  wer  die  Oberhand  hätte."  Der 
Kaiser  von  Österreich  sei  auch  damit  einverstanden  gewesen,  hätte  aber, 
-  und  nun  trat  der  ganze  Stolz  des  Mansteinschen  Reservisten  von 
Schleswig-Holstein  hervor,  —  die  Bedingung  gestellt,  die  Mansteinsche 
Brigade  dürfte  nicht  dabei  sein;  so  einen  Respekt  hätten  die  Österreicher 
vor  ihr  gehabt.  Deshalb  wäre  sie  auch  in  dem  Kriege  nicht  vor  den 
Feind  gekommen,  nur  bei  Königgrätz  sei  es  beinahe  doch  notwendig 
geworden  *) ! 

Vom  Prinzen  Friedrich  Karl  fing  man  auch  schon  an  sich  die  wunder- 
barsten Dinge  zu  erzählen,  z.  B.  er  sei  vor  dem  Kriege  von  1870/71  als 
Schäfer  verkleidet  in  Frankreich  gewesen.  Weil  er  nämlich  gehört,  hiess 
es,  die  Franzosen   hätten  fast  alles  Land   unterminiert,    um    die  Preussen, 


1)    S.  meine  märkischen  Sagen  v.  J.  1871.  S.  124  1'. 


Volkstümliche  Schlaglichtor.  129 

wenn  sie  in  Frankreich  einrückten,  in  die  Luft  zu  sprengen,  sei  er,  um 
Näheres  zu  erfahren,  in  jener  Verkleidung  dorthin  gegangen  und  hätte  sich 
überall  als  Schäfer  augeboten.  Als  aber  die  Leute  gesagt,  sie  brauchten 
keinen  Schäfer,  sie  hielten  keine  Schafe,  hätte  er  sich  verwundert  gestellt, 
dass  sie  so  viel  Weide  unbenutzt  Hessen,  und  da  hätte  er  erfahren,  dass 
wirklich  alles  unterminiert  sei.  Nun  hätte  er  sich  genau  die  Stellen  ge- 
merkt, um  seine  Soldaten  so  zu  führen,  dass  sie  keinen  Schaden  litten, 
und  so  sei  es  ihm  denn  auch  geglückt1). 

Nun  zum  Schluss  noch  eine  volkstümliche  Schilderung  der  Schlacht 
hei  Weissenburg  wie  sie  die  „Vossische  Zeitung"  vom  14.  August  1870  in 
einer  kleinen  Humoreske  brachte.  Sie  sagt:  „Ein  sehr  prosaisches,  aber 
vielleicht  sehr  wahres  Bild  vom  Schlachtfelde  gab,  wie  die  „Elberf.  Zeitung" 
erzählt,  auf  einem  Berliner  Bahnhofe  bei  einem  der  ( lefangenenzüge  einer 
der  transportierenden  Soldaten,  ein  biederer  Lieguitzer.  --  Er  klagte,  — 
so  schreibt  der  Korrespondent.  -  inmitten  des  Überflusses,  den  die  Ge- 
fangenen hatten,  über  rasenden  Durst,  und  ich  verhalf  ihm  zu  einem  Glase 
Bier.  Ich  fragte  ihn  aus;  er  hatte  bei  Weiäsenburg  gefochten.  „Haben 
Sie  viel  Kanonen  gesehen?"  --  „Gesehen  habe  ich  gar  nichts,  immer  vor- 
wärts, fünf  Stunden  lang.'1  —  „War  Kavallerie  dabei?"  --  „Das  weiss  ich 
nicht,  wir  sind  immer  bloss  vorwärts  gelaufen  mit  gefälltem  Bajonett;  die 
Franzosen  schössen  so  viel,  dass  die  Luft  ganz  dunkel  war.  Ab  und  zu 
wurde  kommandiert:  „Halt!"  Dann  schössen  wir  dreimal  und  dann  liefen 
wir  wieder  vorwärts."  —  „Wie  viel  Patronen  haben  Sie  verschossen?"  - 
„Nicht  viel,  37."  —  Haben  Sie  Gefangene  gemacht?"  —  „Ich  habe  bloss 
Einen  gemacht."  —  „Wie  war  das?"  —  „Er  hielt  mir  sein  Gewehr  gerade 
vors  Gesicht  und  wollte  losdrücken.  Ich  sprang  zu  und  packte  ihn  an 
der  Gurgel  und  sagte:  „Oller  Bruder,  geschossen  wird  hier  nicht  mehr.  Ihn 
behielt  ich  gleich,  da  sitzt  er."  -  In  der  That  blickte  in  diesem  Augen- 
blick ein  freundlich  griusendes  Franzosengesicht,  einverständnismässig 
herüber.  Der  Gefangene  schien  für  seinen  Gefangennehmer  Anhänglichkeit 
zu  haben  und  nickte  ihm  öfter  zu." 

lu  diesem  Bilde  tritt  so  recht  anschaulich  hervor,  wie  eng  der  Horizont 
meist  ist,  in  welchem  die  gewaltigsten  Ereignisse  dem  Einzelnen  sich 
gegenüber  abspielen  und  dass  der  Mann  aus  dem  Volke,  der  das  Leben 
meist  nur  in  der  vollsten  Unmittelbarkeit  des  Augenblicks  erfasst,  gleich- 
sam seine  Welt  für  sich  hat.  Erst  je  nach  den  verschiedenen  Graden  der 
Bilduno-  imd  daran  sich  schliessender  Lebenserfahrungen  weitet  sich  der 
Horizont,  klärt  und  vertieft  sich  das  Urteil  und  die  Auffassung  der  Dinge 
in  den  höheren  Volksschichten  und  in  diesen  wieder  je  nach  der  Be- 
gabung des  Einzelneu  und  seiner  ethischen  sowie  geistigen  Sonder- 
entwickluno-.      Trotz    der    schliesslich    so    entstehenden    unendlichen    Ver- 


6 


1)   Siehe  die  Vorrede  zu  meinen  märkischen  Sagen  v.  J.  1871, 


130  Lewy: 

schiedenheiten  giebt,  es  aber  doch  im  Kleinen  wie  im  Grossen  massgebende 
Verhältnisse  sowie  bedeutsame  Momente  im  Leben  jedes  Volkes,  in  denen 
ein    einheitlicher  Pulsschlag    durch  Alle    geht.     Es   ist  der  lebendige 
Volksgeist,  welcher  der  Träger  der  Nationalität  ist. 
Berlin,  Januar  1893. 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen 

Kaiserzeit. 

Von  Heinrich  Lewy. 

(Schluss.) 


Tosefta  Sabbat  Kap.  VIII. 

§  1.  Sagt  jemand  J^iTSl  K,EÜ'\  so  gehört  das  zu  den  emo- 
ritischen Gebräuche?!.     Rabbi  Jehuda  liest  tTIOCDI  X,E!2\ 

§  2.  Sagt  jemand  plpl  p*l,  so  gehört  das  zu  den  emoritischen 
Gebräuchen.  Rabbi  J*"huda  meint,  pl  beziehe  sich  auf  den  im 
Richterbuche  XVI,  23  vorkommenden  Götternamen  Dagon. 

§  '.\.  Sagt  jemand  ''il  "0*1,  so  gehört  das  zu  den  emoritischen 
Gebräuchen.  Rabbi  Jehuda  meint,  p  beziehe  sich  auf  den  Götzen- 
dienst {Arnos   VIII,  14):   „Beim  Leben  Deines  Götzen,  Dan." 

An  heidnische  Götternamen  ist  hier  nicht  zu  denken:  deren  Anwendung 
brauchte  nicht  so  im  einzelnen  verboten  zu  werden.  Am  Anfange  von  §  3 
steht  in  einer  Handschrift  nnS2"iiPl  „und  zur  Freude",  was  offenbar  Glossem 
ist,  mich  aber  veranlasst,  in  dem  bisher  absonderlich  (vgl.  J.  Levy,  Neuhebr. 
und  chald.  Wörterb.  I,  414)  gedeuteten  T\  '31  (im  Talmud  Sabbat  67b 
*H  'JH,  wodurch  für  das  erste  Wort  der  Vokal  o  feststeht),  einen  griechi- 
schen Freudenruf  dort),  bavr\  =  f\bavr\,  fjöovr]  zu  erkennen.  Die  Fälle,  wo 
unter  dem  Einfluss  der  Tieftonigkeit  der  Anlaut  eines  Wortes  verstümmelt 
wird,  sind  im  Altgriechischen  sehr  selten  (vgl.  Baunack,  Rh.  Mus.  XXXVII, 
477  und  Studia  Nicolaitana  48  ff.),  im  neueren  Griechisch  desto  häufiger, 
z.  B.  kay.ÜTi]  =  fjka.xd.Trj,  yiaXog  —  alyiaXog,  mrljutov  =  sJial/Mov  (vgl.  Reiske 
zu  Constaut.  Porphyrog.  Vol.  II  p.  671). 

In  §  1  schwankt  die  Überlieferung  —  von  den  Bemerkungen  des 
R.  Jiiuda  dürfen  wir  füglieh  absehen  —  zwischen  S'^"^1  WÖÖ"1,  was 
Zuckermandel   aufnimmt,   und  X*!ȣ1  X'S2\     Eine  Deutung  wage  ich  nicht. 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  131 

In  §  2  steht  die  Aussprache  des  ersten  Wortes  durch  die  Anlehnung 
an  den  Namen  Dagon  ungefähr  fest.  Für  das  zweite  Wort  schwankt  die 
handschriftliche  Überlieferung  zwischen  Y\Tlp  P"^p  Tlj3.  Auch  hier  will 
ich  mich  lieber  aller  Deutimgsversuche  enthalten. 

Im  babylonischen  Talmud  Sabbat  67b  wird  als  emoritisch  noch  folgender 
Spruch  angeführt:  'WOl  DW  sS  pli'Dl  ,-IJ  "U.  Die  beiden  letzten  Worte 
werden  allgemein  als  eine  besondere  Formel  genommen.  Sie  sollen  be- 
deuten „Tag  und  Xacht"  (vgl.  J.  Levy,  Neuhebr.  u.  chald.  Wörterb.  I,  177), 
ohne  dass  sie  bisher  erklärt  wären.  Statt  "'SC'IX  findet  sich  auch  T£'X 
geschrieben.  Mir  klingt  "OCIDI  ,3T1'")K  'üski  'übüskl  oder  'äski  'übüski  an  äoxi 
xiaüoxi,  die  ersten  Worte  der  bekannten  ephesischen  Zauberformel  an,  von 
denen  jenes  „Finsternis",  dieses  „Licht"  bedeuten  soll  (vgl.  Hesychios, 
Etpkaia  yQdfi/Miid):  und  ich  stelle  Ot'lS  =  äoxi  zu  hebräisch  "![t?n  häsak 
„finster  sein",  Titeln  hösek  „Finsternis".  Der  Abfall  des  anlautenden  PI  h 
im  Griechischen  würde  der  Regel  entsprechen;  in  die  hebräische  Formel 
scheinen  die  Worte  aus  der  griechischen  zurückgewandert  zu  sein,  was  bei 
diesen  Dingen  nicht  auffallen  kann1).  Rabbi  «Fhuda  bezieht  13  auf  die  in 
der  Bibel  (Jesaja  LXV,  11)  erwähnte  Gottheit  Gad:  wohl  wieder  mit  Un- 
recht, da  in  diesem  Falle  das  Verbot  selbstverständlich  wäre.  Man  über- 
setzt gewöhnlich:  „Komm,  mein  Glück,  und  kein  Ermüden!"  Indessen 
halte  ich  es  für  vergebliche  Mühe,  eine  Übersetzung  zu  ermitteln:  Der 
Satz  gehört  zu  den  ihrer  Natur  nach  dunklen  Formeln,  deren  K.  Wessely 
eine  grosse  Menge  zusammengestellt  hat  (Ephesia  grammata,  Jahresber.  d. 
Franz  Joseph-Gymnasiums  in  Wien  für  1885/86).  Er  muss  aber  jedenfalls 
besonders  häufig  angewendet  worden  sein. 

§  4.  Wenn  jemand  seinen  Stock  befragt  und  spricht:  „Soll  ich 
gehen  oder  nicht  gehen?"  —  so  gehört  das  zu  den  emoritischen  Ge- 
bräuchen. Zwar  keinen  Beweis,  aber  doch  eine  Erwähnung  bietet 
Hosea  IV,  12:  „Mein  Volk  befragt  sein  Holz,  und  sein  Stock  ver- 
kündet ih  m." 

Eine  hierauf  bezügliche  Stelle  aus  Maimonides  Misne  Tora,  Aboda 
zara  XI,  7  ist  bereits  oben  zu  Kap.  VII  §  1  augeführt  worden.  Das  Ver- 
fahren war  auch  den  Griechen  bekannt,  vgl.  Nikander,  Theriac.  613. 


1)  Eine  Deutung  der  'Eqroia  yoaitiiara  aus  den  semitischen  Sprachen  bietet  Stickel, 
De  Ephesiis  litteris,  Universitätsprogramm,  Jena  1SG0,  8  9: 

■otrn  nro  "otTi 

p*  irinn  van 

\rx  mw  sin  p« 

.Tenebrae  pallidae  sunt  tenebrae  meae, 

ad  ignem  suspice  fldeliter, 

fidus  ille,  qui  collustrans  praehet  vitani." 


132  L,ewy: 

§  5.  Wenn  jemand  „Zur  Genesung!"'  sagt,  so  gehört  das  zu  den 
emoritischen  Gebräuchen.  Rabbi  Eleazar,  Sohn  des  Sadoq,  meint, 
man  sage  nicht  „Zur  Genesung!"  wegen  Störung  des  Gesetzes- 
studiums im  Lehrhause.  Der  Kreis  des  Rabban  Gamliel  sagt  nicht 
..Zur  Genesung!"  [aus  Scheu  vor  den  emoritischen  Gebräuchen]. 

Derartige  Rufe  beim  Xiesen  gehörten  der  römischen  wie  der  griechi- 
schen Sitte  an.  Plinius.  X.  H.  XXVIII,  2:  „Cur  sternumentis  salutamus? 
quod  etiam  Tiberium  Caesarem.  tristissimum  ut  constat  hominum,  in  vehi- 
culo  exegisse  tradunt.  Et  aliqui  nomine  quoque  consalutare  religiosius 
putant.  Petronius,  Sat.  98:  Giton  ter  eontinuo  itn  sternutavit,  ut  gra- 
batüm  coneuteret,  ad  quem  motum  Eumolpus  salvere  Gitona  iahet. 

Ammianns,  Anthol.  Gr.  IT,  13: 

Ov  dvvarai  rij  %siqi  HqoxÄos  ttjv  gtv    äno/waaeiv, 

tijc,  givÖQ  ;•'('_>  e%£i  trp>  %ega  /MXQOteQrjv. 
ovdk  /.r/K  Zev  owoov,  hiei  iciaorj'  ob  yäg  axovet 
T)yc  Qivög,  noXv  yi'oj  ji~r-  äxorjs  änr/ei. 

Auch  £rjdt  rief  man  dem  Niesenden  zu,  vgl.  ebenda  11.  Dieser  Ruf 
oder  auch  tarne  scheinen  in  Palästina  üblich  gewesen  zu  sein:  im  jerusa- 
Lemischen  Talmud  Pv'rakot  VI  heisst  es:  „Wenn  jemand  während  des 
Essens  niest,  darf  man  ihm  nicht  E"  d.  i.  ':>]ii  i  ■  oder  "E"  d.  i.  vaot  g  — 
die  t'berlieferung  ist  geteilt  —  zurufen,  weil  dadurch  ein  gefährliches 
Verschlucken  entstehen  könnte",  vaaig  entspricht  genau  dem  XS~I2  an 
unserer  Tosefta- Stelle.  Man  sieht  also  auch  aus  dem  Talmud,  dass  dieser 
Ruf  in  jüdischeu  Kreisen  keineswegs  allgemein  verpönt  war.  obwohl  er 
doch  eigentlich  mit  der  Auffassung  des  ÜSiesens  als  augurium  zusammen- 
hängt uud  die  Einreihung  unter  die  emoritischen  Gebräuche  daher  ganz 
in  der  Ordnung  ist.  —  Im  babylonischen  Talmud  Blrakot  53a  ist  von  Ver- 
meidung einer  Störung  im  Lehrhause  die  Rede,  und  dabei  wird  erwähnt, 
dass  der  Kreis  des  Rabban  Gamliel  im  Lehrhause  nicht  X21E  rief,  um 
nicht  das  Studium  daselbst  zu  stören.  Demgemäss  streicht  Zucker- 
mandel  in  der  Tosefta  mit  Recht  die  überlieferte  Begründung,  als  ob  dieser 
Kreis  den  Ruf  aus  Scheu  vor  den  emoritischen  Gebräuchen  vermieden 
hätte.  Noch  besser  wäre  es  aber,  zumal  im  Anschluss  au  den  Ausspruch 
des  Rabbi  El'azar,  die  Begründung  nach  jener  Talmudstelle  zu  ändern. 

Zu  erwähnen  bliebe  noch,  dass  auch  die  Araber  beim  Xiesen  grüssen: 
vgl.  Rückerts  Hariri  I.  513.  Über  die  mit  dem  Xiesen  verbundenen  Ge- 
bräuche handelt  auch  Tylor,  Anfänge  der  Kultur  (deutsch)  I,  97  fg. 

§  li.  Wenn  jemand  spricht:  „l'brigeiis  und  erübrigend!"  —  so 
gehört  das  zu  den  emoritischen  Gebräuchen.  Rabbi  J'huda  sagt: 
„Übriges  und  erübrigtes  möge  es  nicht  in  seinem  Hause  geben!" 

Letzteres  soll  die  Strafe  sein.  Die  Redensart  muss  in  nichtjüdischen 
Kreisen   heimisch   gewesen   sein,    der  Ursprung  ist  also   in  einer  fremden. 


Morgenlänrtischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  133 

zunächst  in  der  griechischen  Sprache  zu  suchen.  Den  hebräischen  Worten 
entspräche  genau  kouiöv  xal  keXei/j,fievov,  und  eine  solche  Redensart  ist 
wohl  denkbar,  da  Xomöv  (auch  xb  Xoinöv)  von  Polybius  an  im  Sinne  des 
lateinischen  ceterum,  Xeleuixcu  aber  für  das  zur  Besprechung  noch  Übrige 
schon  von  Aischines,  p.  16,  27,  gebraucht  wird.  Von  Deutschen  wird  oft 
ähnlich  ä  propos  gesagt. 

§  7.  Wenn  jemand  sagt:  „Ich  will  trinken  und  übrig  lassen!" 
oder  „Trinket  und  lasset  übrig!"  —  so  gehört  das  zu  den  emoriti- 
schen  Gebräuchen. 

§  8.  Wenn  jemand  spricht:  der  Wein  sei  zu  eurem  Leben!"  — 
so  gehört  das  nicht  zu  den  emoritinchen  Gebräuchen. 

§  9.  Es  ist  vorgekommen,  dass  Rabbi  'Aqiba,  als  er  seines 
Sohnes  Hochzeit  feierte,  bei  jedem  Fasse,  welches  er  öffnete, 
sprach:  „Wein  zum  Leben  unserer  Gelehrten  und  zum  Leben  ihrer 
Schüler!" 

Überliefert  ist  in  §  7:  „Ich  will  trinken  und  übrig  lassen"  mit  der 
Variante  „trinket  und  lasset  übrig!"  —  sodann  in  §  8:  „Trinket  und 
lasset  übrig,  und  der  Wein  u.  s.  w."  Das  Verhalten  das  'Aqiba  wird 
offenbar  als  Beispiel  für  das  zuletzt  Erwähnte  angeführt:  daher  muss  §  9 
genau  zu  §  8  stimmen,  was  in  der  Überlieferung  des  Textes  nicht  der  Fall 
ist.  Dazu  kommt,  dass  nicht  erkennbar  scheint,  aus  welchem  Grunde  die 
in  §  8  angeführten  Worte  unbedenklich  sein  sollen,  wenn  die  in  §  7  als 
verpönt  gelten.  Auf  den  Unterschied  zwischen  2.  Plur.  und  1.  Sing.  — 
wenn  letztere  in  §  7  richtig  sein  sollte  --  kann  es  doch  keinesfalls  an- 
kommen. Danach  habe  ich  die  Übersetzung  gestaltet.  Sie  wird  bestätigt 
durch  den  Wortlaut  der  Parallelstelle  im  Talmud:  „Ich  will  trinken  und 
übrig  lassen,  ich  will  trinken  und  übrig  lassen!"  —  das  ist  emoritischer  Ge- 
brauch. 

„Wein  und  Leben  für  den  Mund  der  Gelehrten!"  —  das  ist  nicht 
emoritischer  Gebrauch.  Es  hat  sich  zugetragen,  dass  R.  'Aqiba,  als  er 
seines  Sohnes  Hochzeit  feierte,  bei  jedem  Becher,  den  er  brachte,  sprach: 
„Wein  und  Leben  für  den  Mund  der  Gelehrten!  Leben  und  Wein  für 
den  Mund  der  Gelehrten  und  für  den  Mund  ihrer  Schüler!"  Das  Doppelte 
„Ich  will  trinken  und  übrig  lassen"  ist  hier  offenbar  verderbt  aus  „Ich 
will  trinken  und  übrig  lassen,"  „trinket  und  lasset  übrig!" 

Die  Berufung  auf  das  Beispiel  des  'Aqiba  hat  ihren  Grund  wohl  darin, 
dass  ein  solcher  Trinkspruch  manchen  als  verpönt  erschien,  die  seine 
Üblichkeit  bei  Griechen  und  Römern  kannten.  Vgl.  z.  B.  Cassius  Dio 
LXXII,  18:  ecp  co  xal  6  drjfiog  xal  fjf/,etg  naoaxQijfia  nävze?  romo  dt]  iv  rdig 
ov/jjTooioig  elojftdi;  kiyeoftai  it-eßoyou/iEV    ZijoEtaq.     Ambrosius   de  Helia   et 

Zeitschrift  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893.  10 


134  Lewy: 

ieiunio  17:  Bibamus  iuquiunt.  pro  salute  imperatorum,  et  qui  non  biberit. 
eit  reus  in  devotione.  —  Bibamus  pro  salute  exercituum  —  pro  filiorum 
sanitate. 

Nach  babyl.  P  sahim  86  b  und  Besä  25b  verlangte  in  jüdischen  Kreisen 
der  Austand,  den  Becher  nicht  in  einem,  sondern  in  zwei  Zügen  zu  leeren; 
drei  Züge  erschienen  gezielt.  Bei  den  Römern  kam  es  gerade  darauf  au, 
in  einem  Zuge  und  ohne  abzusetzen  den  Becher  so  zu  leeren,  dass  kein 
Tropfen  zurückblieb:  vgl.  Plinius,  N.  H.  XIV  c.  22,  besonders  §  145; 
Ambrosius  de  Helia  et  ieiunio  c.  13  und  c.  17.  Daher  ist  mir  unsere  Stelle 
noch  unverständlich. 

§  10.  Wenn  jemand  spricht  „Nicht,  nicht!''  —  so  gehört  das 
zu  den  emoritischen  Gebräuchen.  Wenn  auch  keinen  Beweis,  so 
doch  eine  Erinnerung  bietet  Hiob  XXI.  14:  „Und  sie  sprachen  zu 
Gott:   ..Weiche  ciin  uns,  und  deine  Wege  wollen  wir  nicht  kennen"." 

In  dem  Schriftverse  liegt  wohl  hier  der  Nachdruck  auf  „Weiche  von 
uns!".  Ich  glaube  eine  Formel  zur  Abwendung  ungünstiger  Vorbedeutungen 
zu  erkennen,  ähnlieh  dem  Procul  a  nobis!  bei  Petronius,   Sat.  74. 

§  11.  Wenn  jemand  einen  Faden  um  etwas  Rotes  knüpft,  so 
gehört  dies  zw«/-  nicht  nach  Meinung  des  R.  Gamliel,  wohl  aber 
nach  Meinung  des  R.  El  azar  ben  Sadoq  zu  den  emoritischen  Ge- 
brauchen. 

Ist  mir  unverständlich,  zumal  oben  (Kap.  VII  §  1)  der  rote  Faden  als 
Schutzmittel  erwähnt  wurde.  Der  Ausdruck  m*IS  '33  b$,  der  sich  nur 
übersetzen  lässt  ..auf  (um)  Rotes",  ist  bedenklich.  Ich  möchte  lesen  D*TX 
statt  l2'*TK.     Dann  heisst  es:  wer  einen  Faden  um  einen  Menschen  knüpft. 

Dass  ein  blosser  Faden  bannte  und  hegte,  weist  Grimm.  Deutsche 
Rechtsalt.  S.  182  f..  aus  Gebräuchen  des  Mittelalters  nach.  —  Die  Tarsen, 
wenn  sie  einen  Totenacker  anlegten,  schlugen  in  vier  Ecken  vier  grosse 
Nägel  ein  und  zogen  eine  Schnur  von  hundert  goldenen  oder  baumwollenen 
Fäden  dreimal  darum.  „Denn  dieser  Faden  macht  eigen  und  gerichtlich 
haftbar."     Rochholz,  Alemannisches  Kinderlied  S.  147. 


- 


§  12.  Wenn  jemand  sagt:  „Gehe  nicht  zwischen  uns  beiden  hin- 
durch, damit  l>u  nicht  unserer  Freundschaft  ein  Ende  machst"  — 
so  gehört  das  :  u  den  emoritischen  Gebräuche?i.  Sagt  er  es  aber 
in  Rücksicht  auf  die  Ehrerbietung  {auf  den  Anstand),  so  ist  es 
erlaubt. 

Vgl.  Grimm,  Aberglaube  Nr.  213:  ..Läuft  ein  Hund  zwischen  ein  paar 
Freunden  durch,  so  wird  die  Freundschaft  getrennt."  Nr.  894:  „Wenn 
zwei  Freunde  zusammengehen  und  ungefähr  ein  Stein  zwischen  beide  fällt 


Morgenläudischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  135 

oder  ein  Hund  quer  über  den  Weg  läuft,    so  wird  die  Freundschaft  bald 
mnt.« 
Das  Hindurchgehen  zwischen  zwei  Personen  galt  auch  für  unanständig. 


getrennt." 


§  13.  Was  ist  ein  töJliQ  {vgl.  Lernt.  XIX,  26)?  Einer  der  spricht: 
„Mein  Stock  ist  mir  aus  der  Hand  gefallen"  „Mein  Brot  ist  mir 
aus  dem  Munde  gefallen,"  „N.  N.  hat  hinter  meinem  Rücken  ge- 
rufen," „Ein  Rabe  hat  mir  gerufen,"  „Ein  Hund  hat  mich  an- 
gebellt" „Eine  Schlange  ist  mir  zur  Rechten  vorbeigelaufen  "  „Ein 
Fuchs  zur  Linken,"  „Ein  Hirsch  ist  vor  mir  quer  über  den  Weg 
gelaufen."  „Fange  bei  mir  nicht  an  {die  Steuer  zu  erheben),  denn 
es  ist  Morgen,  es  ist  Monatsanfang,  es  ist  Sabbathausgang  (</.  h. 
Wochen  an  fang)." 

Im  babylonischen  Talmud  Sandedriu  65  b  heisst  es  statt  N.  N. :  Sein 
Sohn  hat  ihm  von  hinten  gerufen. 

Es  handelt  sich  offenbar  um  ungünstige  Vorzeichen.  Rabe  und  Hund 
sind  schon  früher  behandelt  worden.  Ich  füge  noch  hinzu,  dass  ein  ins 
Haus  gelaufener  fremder  schwarzer  Hund  Unheil  bedeutete  nach  Terenz 
Phorniio  IV,  4,  30,  und  ebenso  der  Angang  eines  Hundes  nach  Plaut.  Cas. 
V,  4,  4;  August,  doctr.  Christ.  II,  20,  31  (Migue).  -  -  Im  Talmud  P  sahim 
lila  heisst  es:  „Drei  sind  es,  die  man  nicht  in  der  Mitte  gehen  lassen 
und  in  deren  Mitte  man  nicht  gehen  soll:  ein  Hund,  ein  Baum,  ein  Weib; 
nach  manchen  auch  ein  Schwein,  nach  anderen  auch  eine  Schlange." 
Wegen  des  Baumes  s.  ob.  zu  Kap.  VII  §  13  a.  E.  Über  den  Angang  des 
Schweines  als  unheilvoll  vgl.  Wuttke,  Der  deutsche  Volksabergl. 2  S.  187.  - 
Des  Fuchses  Angang  wird  bei  anderen  Völkern  verschieden  ausgelegt 
(Grimm,  Deutsche  Myth. 3  II,  1081).  Dem  römischen  Wanderer  wurde 
sehr  bange,  wenn  ihm  eine  Füchsin,  die  noch  nicht  lange  geworfen  hatte, 
die  Strasse  kreuzte.     Horat.  Oarm.  IH,  27  Auf.: 

Inpios  parrae  recinentis  omen 
Ducat  et  praegnans  canis  aut  ab  agro 
Rava  decurrens  lupa  Lanuvino 
Petaque  volpes; 

Rurnpit  et  serpens  iter  institutum, 
Si  per  obliquum  similis  sagittae 
Terruit  inannos: 

Begegnung  des  Hirsches  gilt  auf  germanischem  Boden  als  günstig: 
vgl.  Grimm,  Abergl.  Nr.  128.  Im  babylonischen  Talmud  Sänhedrin  66a 
werden  diejenigen  erwähnt,  welche  die  Bewegungen  des  Wiesels,  der 
Vögel  und  der  Fische  als  Vorzeichen  deuten.  Über  das  Wiesel  als  av/i- 
ßo/iov  evödiov  vgl.  Aristoph.  Ekkl.  787;  Theophr.  Char.  16;  Plaut.  Stich. 
III,  2,  7:    Artemidor.  III,  28.     Auch   Suidas   unter  ac/ißvku-  -  el 

10» 


1 36  Lewy : 

yh'ono  Ji  oi\ußo?.or,  ovx  biszsXow  rä  öözarra,  „oeiofioc;  ei  ysvoiro  >'/  nvg  anö- 
tqojioi;  ij  Ötö'Etnv  yaXrj",  i)  zi  toiovzov.  Über  die  Fische  vgl.  Plinius,  N.  H. 
XXXII,  8  und  H.  Stephanus,  Thes.  s.  v.  Ix&vöfiavTts.  Über  Menschen- 
angänge  spricht  Lucian,  Pseudologista  17. 

§  14.  Was  ist  ein  pll'Ö?  R-  Ismael  meint:  wenn  sich  jemand 
mit  etwas  über  das  Auge  fährt.  R.'Aqiba  meint:  es  sind  diejenigen, 
welche  Zeiten  angeben,  z.  B.  Heute  ist  es  gut  auszugehen,  Morgen 
ist  es  schön  zu  erwerben.  Heute  wird  die  Sonne  bedeckt  sein,  Morgen 
wird  Regen  fallen  (oder}  z.  B.  diejenigen,  welche  sagen:  Gewöhnlich 
ist  in  den  Vorjahren  der  Sabbatjahre  der  Weizen  gut,  in  den 
Schaltjahren  die  Hülsenfrüchte  schlecht.  Die  Weisen  meinen:  es 
sind  diejenigen,  welche  die  Augen  (durch  Taschenspielerkünste') 
tau  sehen. 

In  der  Talmudstelle  sagt  E.  Simon:  wenn  sich  jemand  mit  siebenerlei 
nrryoua  über  die  Augen  fährt. 

Nach  der  Überlieferung  unserer  Stelle  wäre  es  verpönt,  an  eine  hervor- 
ende  Ertragsfähigkeit  der  sechsten  Jahre  im  allgemeinen  zu  glauben: 
indessen  wird  doch  Levit.  XXY.  20  f.  eine  solche,  mit  Rücksicht  auf  das 
folgende  Brachjahr,  ausdrücklich  verheissen.  Die  Talmudstelle  bietet  das 
Richtige,  wenn  sie  von  besonderem  Gedeihen  des  Weizens  spricht.  Und 
danach  ergiebt  sich  statt  der  unverständlichen  oder  sinnlosen  Überlieferung 
niJBp  nmpr  oder  nun  IWrb  HP3Bp  nmpi*  in  der  Tosefta  sowie  statt 
nvniü  DVMDp  mp'1!?,  der  im  Talmud  leicht  das  paläographisch  sehr  nahe 
liegende  wie  sinngemäss  genau  passende  n*i?"1  rVP!"D  AVStOp  fi'ir'i'.  wo- 
nach ich  übersetzt  habe. 

Über  Tagwählerei  vgl.  Sueton.  Octav.  2,  Plinius.  X.  H.  XXX,  2. 

i<  15.  Man  darf  einen  Baum  mit  roter  Farbe  färben  und  ihn 
mit  Steinen  beladen,  und  es  waltet  dabei  kein  Bedenken  ob  hin- 
sichtlieh des  Sabbathjahres  (?'«  welchem  Feldarbeit  verboten  ist)  oder  hin- 
sichtlich emoritischer  Gebräuche. 

Im  Talmud  Sabbat  67a  deutlicher:  „Einen  Baum,  der  seine  Früchte 
abwirft,  darf  man  u.s.w."  Und  zwar  wird  dort  das  Beladen  mit  Steinen 
als  Heilmittel  bezeichnet,  da  es  den  bisher  zu  üppigen  Baum  schwäche, 
während  die  Färbung  dazu  dienen  soll,  die  Aufmerksamkeit  und  die  Für- 
bitte der  Vorübergehenden  zu  erwecken.  Ich  vermute,  dass  ursprünglich 
die  rote  Farbe  ein  Schntzzauber  sein  sollte.  Vgl.  Epiphanios  Adv.  haeres. 
Lib.  I  tom.  1  haeres.  18  (Patrol.  Gr.  ed.  Migne  XLI.  260):  Fr  yuo  reo  xatgcp, 
ore  tö  ITdoya  eyiveto  exetoe,  äg%i]  dt  uvtij  yivsrat  tov  eago;,  ore  f)  ngoyii\ 
torj/xsgia,  ex  fiikrecos  Xa/ußdvovat  näneg  Alyviuioi  xaxh  ayvcoolav,  xal  %gumai 
fdf  tü  TiQÖßaia,  yoinrni  de  y.a\  tm  öivdga,  ras  ovxäs,  xal  tu  SlXa,  tpnftL- 
Coj'rf,-   y.u)    Xsyovrss,    iin   </ ijor    zb   tzvq   b>  zavTff  tfj  fjjuega  y.aTiq/.tze  noxi    xrp> 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  137 

olxovf,dvi]v.  T6  de  ayf\(^a  xov  al'/iarog  rb  jivqcojiov  ale^rrjoiov  «ra  rr)?  roaaprrjg 
jrhjyfjg  y.ox  roiavrrjg. 

Ich  möchte  die  Anwendung  der  roten  Farbe  als  Abwehrmittel  über- 
haupt darauf  zurückführen,  dass  Rot  als  die  Farbe  der  feindlichen  dämo- 
nischen Macht  gedacht  wurde.  Rot  war  in  Ägypten  die  Farbe  des  Set- 
Typhon.  Rot  galt  in  Ägypten  oft  geradezu  als  Synonym  von  Schlecht  und 
Böse.  Vgl.  Wiedemann,  Herodots  zweites  Buch  S.  214  „Similia  similibus 
curantur".  Die  jüdischen  Gesetzeslehrer  glaubten  an  die  Wirkung  und 
legten  sich  die  Sache  in  ihrer  Weise  zurecht. 

Die  rote  Farbe  wird  X")j2D  genannt,  welches  Wort  Wiesner,  Scholien 
zum  Talmud  II.  146  mit  Syricum  (Plinius,  N.  H.  XXXITI,  40)  gleichsetzt. 
Ritter,  Erdkunde  XI,  533  und  543  erwähnt,  dass  Stamm  und  Wurzeln 
der  Fruchtbäume  im  Morgenlande  zuweilen  mit  Steinen  umhäuft  werden, 
um  sie  gegen  heftige  Winde  oder  auch  gegen  die  Sonnenhitze  zu  schützen. 
Wiesner  a.  a.  0.  bemerkt,  beim  Abfallen  der  unreifen  Früchte  trage  der 
Wind  doch  meist  die  Schuld.  —  Allein  auf  dieses  Verfahren  passt  der 
Ausdruck  „beladen"  nicht.  Auch  läge  dieser  Grund  für  das  Verfahren  so 
nahe,  dass  die  Rabbinen  dann  auf  den  ihrigen  nicht  hätten  verfallen 
können. 

§  16.  Man  darf  Wein  und  Öl  vor  Braut  und  Bräutigam  in 
Rinnen  laufen  lassen,  und  das  gehört  nicht  zu  den  emoritischen 
Gebräuchen. 

§  17.  Es  hat  sich  zugetragen,  dass  Jchuda  und  Hillel,  die 
Söhne  des  R.  Gamliel,  nach  Kabul  kamen,  und  da  liesseh  die  Be- 
wohner dieser  Stadt   Wein  und  Ol  vor  ihnen  in  Rinnen  laufen. 

Eine  Stadt  Kabul  gab  es,  ausser  der  indischen,  im  Stamme  Äser  (vgl. 
Josua  XIX,  27).  Auch  ein  Distrikt  von  zwanzig  Städten  iu  Galiläa  hiess 
Kabul  (vgl.  1.  Kön.  IX,  13). 

§  18.  Man  darf  verbrennen  bei  (dem  Tode  von)  Königen,  und 
<las  gehört  nicht  zu  den  emoritischen  Gebräuchen;  denn  es  heisst 
Jeremia  XXXIV,  5:  „In  Frieden  wirst  du  sterben,  und  gleich  den 
Verbrennungen  deiner  Väter,  der  Könige,  wird  man  dich  ver 
brennen.  Wie  bei  Königen,  so  darf  man  auch  bei  Fürsten  ver- 
brennen, aber  nicht  bei  Bürgern.  Was  verbrennt  man  bei  jenem  ' 
Sein  Bett  und  alle  seine  Gebrauchsgegenstände.  Als  R.  Gamliel, 
der  Alte,  starb,  geschah  es,  dass  der  Proselyt  Aquila  bei  ihm 
Gegenstände  im    Werte  von  mehr  als  70  Minen  verbrannte. 

Bei  Homer  ist  mehrfach  davon  die  Rede,  wie  zu  einem  vollständigen 
Begräbnis  das  Verbrennen  der  Habe  des  Toten  gehöre :  E.  Rohde,  Psyche 
Seite  23. 


13R  r,w.v: 

§  19.  Man  darf  beim  Sterben  der  Könige  den  Pferden  die 
Sehnen  der  Hinterfüsse  zerschneiden,  und  das  gehört  nicht  zu  den 
emo  ritischen  Gebräuchen. 

Durch  dieses  revooxoTttiv  bricht  das  Pferd  zusammen  und  wird  völlig- 
unbrauchbar.    Vgl.  Josua  XI,  6.  9:  2.  Samuel  VIII,  4;  1.  Chron.  XVIII,  4. 

§  20  behandelt,  mit  Bezug  auf  die  jüdischen  Speisegesetze,  das  Verbot 
des  Genusses  von  Tieren  bei  gewissen  Verletzungen  dieser  Art. 

§  21.  Man  darf  einen  erschrecken,  der  Krämpfe  oder  Zittern 
der  Glieder  hat,  und  das  gehört  nicht  zu  den  emoritischen  Ge- 
bräuchen. Hat  sich  ein  Knochen  in  jemandes  Kehlv  festgesetzt,  so 
darf  man  ihm  einen  Knochen  von  derselben  Art  auf  den  Kopf 
legen. 

An  das  erstere  Heilmittel  glaubt  das  Volk  noch  heute.  Letzteres 
kennt  auch  Plinius,  N.  H.  XXVIII,  12:  „Si  quid  e  pisce  haeserit  faucibus, 
in  aquam  demissis  frigidam  pedibus  cadere;  si  vero  ex  ossibus  haeserit 
faucibus,  impositis  capite  ex  eodem  vase  ossiculis.  Si  panis  haereat,  ex 
eodem  in  utramque  aurem  addito  paue."  Im  Talmud  wird  dazu  noch  ein 
Heilspruch  gelehrt,  zugleich  ein  anderer  für  den  Fall  des  Verschluckens 
einer  Fischgräte. 


l6* 


§  22.  Folgendes  ist  erlaubt.  Hat  man  eine  Arbeit  begonnen, 
so  spende  man  Gott  Lob  und  Preis;  bei  einem  Fasse  und  bei  einem 
Teige  bete  man,  dass  Segen  und  nicht  Fluch  hineinkomme. 

Dies  steht  wohl  im  Gegensatz  zu  dem  oben  Kap.  VII  §  3  Verpönten. 

§  23.  Man  darf  einen  Spruch  flüstern  wegen  des  (bösen) 
Blickes  und  wegen  der  Schlange  und  wegen  des  Skorpions,  und 
man  darf  (zur  Heilung)  mit  eticas  über  das  Auge  fahren  am 
Sabbat;  R.  Simon,  Sohn  des  Gamliel,  meint,  nur  mit  einem  Gegen- 
stande, den  man  am  Sabbat  nehmen  darf.  Man  darf  nicht  flüstern 
mit  einem  Worte  der  Sedim.  R.  Jose  meint,  auch  an  einem  Werk- 
tage darf  man  nicht  mit  einem    Worte  der  Sedim  flüstern. 

Statt  „wegen  des  (bösen)  Blickes"  könnte  man  auch  übersetzen  „wegen 
des  (kranken)  Auges":  ich  habe  ersteres  vorgezogen,  weil  ich  auch  bei 
Schlange  und  Skorpion  nicht  an  Heilung  einer  Wunde,  sondern  an  ein 
bannendes  Fernhalten  des  Tieres  denke,  vgl.  Jeremia  VIII,  17:  „denn 
siehe,  ich  lasse  gegen  euch  Schlangen  und  Ottern  los,  für  die  es  kein 
Flüstern  (d.  h.  keine  Beschwörung)  giebt,  und  sie  werden  euch  beissen, 
spricht  Gott."  Alle  solche  Heil  -  und  Zaubersprüche  wurden  also  im 
Flüsterton  angewendet. 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  139 

Sedim  (Sing.  Sed)  sind  Dämonen.  Sie  haben  Hahnenfüsse:  babylon. 
Berakot  6a,  Gittin  68b.  Schwartz,  Ursprung  der  Mythol.  S.  218,  vergleicht 
die  gansfüssige  Berchta1).  Mündel,  Die  Vogesen  6  S.  442  erwähnt  Zwerge 
mit  Gänsefüssen,  die  sieh  abdrücken,  wenn  man  über  Nacht  Asche  streut 
—  ganz  wie  an  der  erstgenannten  Talmudstelle.  Vgl.  auch  Tylor,  Anfänge 
der  Kultur  (deutsch)  II,  199. 

In  der  Mischna  Sanhedrin  XI,  1  wird  das  Flüstern  zu  Heilzwecken 
allgemein  verpönt.  Nach  der  babylonischen  Gemara  dazu  101a  soll  dieses 
Verbot  nur  gelten,  wenn  man  vor  dem  Flüstern  ausspuckt;  aus  der  jerusa- 
lemischen Gemara  Sanhedrin  X  aber  geht  hervor,  dass  nach  dem  Sprechen 
ausgespuckt  wurde:  und  dies  erfahren  wir  auch  anderweitig,  z.B.  Theokr. 

VII,  126: 

ygaia  re  naQeirj, 

fing  hwp&vaöoiaa  tu  /u)  y.aka  vöocpiv  egvxoi, 

wozu  der  Scholiast  bemerkt:  sidy&aai  de  al  ygcüat  orav  biqdmaiv  emmveiv. 
Tibull.  I,  2,  54:  ter  cane,  ter  dictis  despue  carminibus.  Plinius,  N.  H. 
XXVIII,  4,  7:  terna  despuere  praedicatione  in  omni  medicina  mos  est 
atque  ita  effectus  adiuvare.  Vgl.  Jahn  a.  a.  0.  84  ff.  —  Nach  Sebucot  15b 
wäre  das  Ausspucken  beim  Flüstern  (von  Bibelversen)  verboten,  weil  es 
eine  Verletzung  der  Ehrerbietung  gegen  den  (in  den  Versen  vorkommenden) 
Gottesnamen  darstelle. 

Der  Schluss  von  §  23  und  §  24  handelt  von  dem  Charakter  der 
Sodomiten  und  der  Emoriten. 

§  25.  Rabbi  Simon,  Sohn  des  Gamliel  (im  II.  Jahrhundert)  sagte: 
man  findet  unter  allen  Völkern  kein  nachgiebigeres  als  die  Emo- 
riten; denn  wir  finden,  dass  sie  an  Gott  glaubten  und  nach  Afrika 
auswanderten  und  Gott  ihnen  ein  Land  gab,  so  schön  wie  das 
ihrige,  und  das  Land  Israels  nach  ihnen  benannt  wird. 

Im  jerusalemischen  Talmud  S'bi'it  VI,  1   heisst  es:    „K.  Samuel  Sohn 

des  Nabman    (im  3.  Jahrhundert)  sagte: Der  Stamm  Girgaschi 

verliess  das  Land  und  wandte  sich  nach  Afrika."  Hier  erscheint  also  eine 
andere  der  sieben  kanaanitischen  Völkerschaften,  und  zwar  diejenige,  deren 
Nichterwähnung  Josua  IN,  1  und  XII,  8  auffällt.  Vgl.  Prokopios,  Vandalen- 
krieg  II,  10:  Eneid/]  Eßoaiot  e£  AlyvTttov  dvexo'jQ)]otiv  xal  äyyj  rcov  nalatorir^g 
öqwjv  eyevovro,  Mcoorjg  /uev  oocpbg  ärijo,  og  avrog  rfjg  ödov  yy/joaro,  ßv/joy.et, 
ötadexerai  de  t!jv  fjysfjLOViav  Lifoovg  6  rov  Nävi}  naig,  og  eg  re  ri/v  Ilalaiorirtjv 
rbv  keibv  rovrov  eloi'iyaye  xal  äQerijv  ev  rm  Jiokejuco  y.oeioom  i)  y.aru  ävftQüjnov 
(pvotv  enidet^äiievog  rijv  xiogav  eoye.    xal  rä  edw)  änavra  y.aiaorQey<äf.ievog  mg 


1)  Nach  0.  Keller,  Tiere  d.  klass.  Altert.  S.  459  A.  94  ist  der  grosse  Fuss  der 
Berehta-Frevja  Attribut  der  Spinnerei,  weil  der  Fuss  vom  üeissigen  Treten  des  Spinnrades 
gross  wird.  % 


140  Lewv: 

jioXei;  EVJterdjg  .-ragf oxrjoaxo ,  ävixrjxög  xe  Tiavxdmxoiv  l'fro'ifv  eivai.  zöze  de  fj 
bud-aXaoola  yjog't  ex  2idän>og  /it'/gi  xcöv  Alyvjizov  ooimv  <Poirix)]  ivitnaaa 
<bvofiä£ero.  ßaoiXebg  dk  eig  xö  TiaXatov  iq>simr\x£i,  &ansQ  cbiaotv  wfxoXöyr\xai, 
Ol  &oiv(xan>  zd  dgyatozaza  aveyQ&ipavro.  ivzav&a  (pxrjvxo  e&vrj  nokvav&QCO- 
nöxaxa,  rEgysodtoi  xe  xal  'Ießovoatoi  xal  äXXa  azza  övö/Mixa  tjorra,  oig  m)  avxd 
fj  zä>v  'Eßgaimv  lazogia  xaXeT.  ovzog  6  Actos  bisl  ä/uayöv  zt  XQ>~l,un  ro>'  EJirjXvxrjv 
oxgaxijyöv  sldov,  e|  rjftcöv  z<dv  naxQUOV  il-avaoxdvxeg  in  Alyvitxov  6/mqov  ovmjg 
iytögijnar.  evBa  ymgor  ovdeva  oxplaiv  Ixavöv  svoixrjoao&ai  EVQOVxeg,  inet  iv 
Alyvmoj  jtoXvav$Qcoma  ex  naXaiov  i/r,  ig  Aißvrjv  eoxdXrjoav.  nöXeig  zi  oixiaavxeg 
jioXXdg  qvfmaaav  Aißvrjv  fleugt  onjXcöv  xtbv  'HgaxXeovg  Eoyor,  ivzav&d  ze  xal 
eg  ejue  ti]  (poirixuir  (paovj)  ygdiiitrm  qjxrjvxai.  idei/Aavxo  8e  xal  cpgovgiov  sv 
Novfudiq  txöXei,  oi<  vvv  nöXig  Tiytoig  inzi  ze  xal  övo/M^exai.  ev&a  oxrjXat  &vo 
ex  Xiß-tov  Xevxcöv  nenoirj/uevat  äy%t  xgrjvrjg  siol  zijg  fieydXrjg,  ■/gduiiazu  &oivixixä 
eyxexoXafxpiva  Eyovoat  zfj  $oivixaiv  yXo'joojj  Xeyovxa  d>de'  'Hfieig  eo/iev  ol 
q>evyovxeg  o.to  ngooihnov  'Irjoov  xov  Xrjoxov  vlov  Nävi).  Dieser  Wort- 
laut der  Inschrift,  welchem  man  deutlich  die  Übersetzung  aus  einer 
semitischen  Sprache  anmerkt  (hebräisch:  Tf3!l  ]ir]2  J?ü1iT  ""JSSÖ.  WW  D'P?), 
ist  offenbar  genauer  als  derjenige  in  der  Überlieferung  des  Suidas,  Xavadv 
övofia  xvqiov.    xal  e£  avxov  Xaravatot. 

"(hi  Moivorjg  ZEoaagdxovza  ezij  ov/MpiXoooiprjoag  zw  Xacö  zeXevxii,  titddoyov 
xaxaXmdyv  'Irjoovv  xov  xov  Navfj'  öaxig  xaxqixioe  zöv  'IogaijX  iv  zfj  yfj,  // 
enrjyyeiXaxo  Kvgiog  z<!)  'Aßgadfi'  eozi  öe  dato  zov  noza/xov  Aiyvnxov  xvxXovfJLevrj 
Sid  &aXdoorjg  xal  fj;p«c'  ixßaXärv  ndvxag  xovg  ßaolXeZg  xal  dvvdorag  xGn>  ffly&v 
otxiveg  vji  airzov  öimxöfievoi  Sid  zijg  naoaXiov  Aiyvixxov  xe  xal  Aißvrjg  xazEcpvyov 
Eig  zljy  xcäv  "A<pQo>v  yo'yoav ,  zwv  AlyvTxxmv  /ilj  ngoode^afiEvam  avxovg  oiä  zljv 
iivi)jnjr  zl/r  jrgozEQar ,  rjv  trrador  di  avxovg  iv  zfj  'Eqv&qü  xaraTtovxio'&svxeg 
äaXdoo)]'  xal  nooocpvyörzEQ  zolg  "Acpgoig  z>)r  eqijjliov  avzwv  qjxijaav  ycboav, 
ävade^djusvoi  zo  oyfjfia  xal  zd  tffti] ,  xal  iv  nXa^l  Xi&iraig  ävayQarpdjuevot  zljr 
alziav,  di  rjv  djzo  zfjg  Xavavakov  yfjg  tpxrjoav  zrjv  'Acfgiy.i'jr.  xal  eIoi  fxiyQi  vvv 
al  xoiavxai  nXdxEg  iv  zfj  Nov/udia,  ne0ie%ovoat  ovzmg'  'H/uETg  iotiEr  Xava- 
vatoi, o'i'g  idta>g~Ev  'hjaovg  6  Xrjoxrjg.  Kai  &t]Xvxdv  Xantruiu.  Kai 
Xavavtzig  yfj. 

W.  Bacher,  The  supposed  inscription  upon  „Joshua  the  robber" 
(Jevish  Quarterly  Review  III,  354  ff.)  führt,  auf  Talmudstellen  gestützt, 
aus,  wie  nach  der  Zeit  des  Josephus  --  der  selbst  noch  sagen  konnte 
(c.  Apion.  I,  12,  4):  Ob  ttl/r  ovÖe  jt^ö?  XijozEtag  coojzeq  äXXoi  xiveg,  i)  zo  TiXior 
EyEtr  ditovv  7ioXe/.iovvzes  Ezodnijoar  fj/ttcör  ol  JiazioEg,  xaizoi  TioXXdg  zfjg  ycögag 
iyovoijg  /nvotdÖag  dvögow  ovx  äzoXjumv  —  die  Juden  von  ihren  Feinden 
Xjjozai,  ein  Räubervolk,  genannt  worden  sein  müssen  mit  Bezug  auf  ihre 
Eroberung  von  Palästina,  und  wie  die  Kunde  von  jener  angeblichen  In- 
schrift bei  Prokop  erklärlich  sei,  dessen  Vaterstadt  Cäsarea  im  Talmud 
als  besonders  judenfeindlich  erscheine. 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  141 

Allein  ich  kann  in  der  Inschrift,  von  welcher  Prokop  berichtet,  nichts 
Judenfeindliches  finden:  das  Zeitwort  "12,  dessen  Participum  1*2  auch  nach 
Bacher  griechischem  h]OT)}g  entspricht,  wird  selbst  in  der  Erzählung  des 
Mose  Deuteron.  II,  35  und  III,  7  mit  Bezug  auf  das  Plündern  der  Israeliten 
in  ihren  Kriegen  gebraucht.  Ich  sehe  weiterhin  keinen  Grund  zu  be- 
zweifeln, dass  die  Inschrift  vorhanden  war:  selbstverständlich  würde  ihr 
Vorhandensein  noch  lange  nicht  beweisen,  dass  die  Ansiedelungen  der 
Phönikier  in  Nordafrika  wirklich  mit  der  Eroberung  Palästinas  durch  Josua 
zusammenhängen,  wie  Prokop  und  schon  viel  früher  jüdische  Gesetzes- 
lehrer  glaubten. 

Ich  verweise  auch  auf  Eusebios  Chronic.  Graec.  p.  11:  ovrot  eqruyov 
0310  nijuno'iniir  xSyv  i'itor  'IaQa^X  xai  xarcpxrjaav  7'oino/jy  ri];  'A<pQlxfjg.  — 
Chron.  Pasch,  t.  II  ed.  Bonn.  p.  102  (die  griechische  Urschrift  dazu  ist 
234  v.  Chr.  verfasst):  „harum  (sc.  insularum  Balearium)  inhabitatores  fuerunt 
Cananaei  fugientes  a  facie  Jesu  filii  Nave".  Nach  Movers,  Die  Phönikier 
II,  "2  S.  427  fgg.  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  die  jüdische  Apokryphik 
die  anderweitige  Kunde  von  der  Auswanderung  der  Kanaauiter  nach  Afrika 
zur  Unterlage  ihrer  Dichtungen  genommen  hat.  Die  Inschrift  hält  er  für 
unecht,  meint  aber,  es  müsse  zwischen  der  Eroberung  Kanaans  und  der 
Vertreibung  der  alten  Kanaauiter  einerseits  und  der  Übersiedelung  phöni- 
kischer  Landbauer,  der  sogenannten  Libyphöniker.  andererseits  notwendig- 
em Zusammenhang  stattfinden.  —  Vgl.  auch  Schröder,  Die  phön.  Spr. 
Seite  3. 


Zum  Schlüsse  füge  ich  noch  einige  andere  Sätze  über  „emoritische 
Gebräuche"  an.  In  der  (etwa  200  n.  Chr.  niedergeschriebeneu)  Misna 
heisst  es  Sabbat  VI.   10: 

Man  darf  {am  Sabbat)  ausgehen  mit  einem  Heuschreckenei  und  mit  einem 
Fuchszahn  und  mit  einem  Kreuzesnagel:  so  lehrt  Rabbi  Me'ir.  Die  (meisten) 
Weisen  aber  verbieten  dies  auch  an  Werktagen  als  emoritische  Gebräuche. 

Nach  der  Gemara  dazu  67  a  wurde  das  Heuschreckenei  bei  Ohren- 
schmerzen  ins  Ohr  gehängt.  Der  Zahn  eines  lebenden  Fuchses  galt  als 
Mittel  gegen  Schlafsucht,  der  eines  toten  Fuchses  gegen  Schlaflosigkeit. 
Der  Kreuzesnagel  sollte  gegen  SOTT  (Entzündung?  Geschwulst?)  helfen1). 


1)  Ähnlicher  Aberglaube  auch  sonst,  z.B.  Plinius,  Nat.  Hist.  XXVIII,  11:  „Beim 
viertägigen  Fieber  binden  sie  ein  Stück  eines  Nagels  von  einem  Kreuze,  in  Wolle  ge- 
wiekelt, oder  auch  ein  Seil  davon  um  den  Hals,  und  ist  der  Kranke  geheilt,  so  verstecken 
sie  das  angehäugte  in  einer  Höhle,  wohin  die  Sonnenstrahlen  nie  dringen".  —  Vgl.  Otto 
Jahn  a.  a.  0.  107.  —  Palladius  de  re  rustica  24:  um  die  Tauben  an  den  Schlag  zu  fesseln 
und  zu  verhindern,  dass  sie  nach  einer  anderen  Wohnung  übersiedeln,  soll  man  au  allen 
Zugängen  zum  Taubenhause  ein  Stück  vom  Stricke  eines  erdrosselten  Menschen  auf- 
häugeu. 


[4  •}  Lewy: 

Abbajji  und  Raba  lehrten:  Wo  es  sich  um  Heilung  handelt,  giebt  es 
kein  Verbot  wegen  emoriti&cher  Gebräuche. 

Im  Folgenden  finden  sieh  die  oben  an  verschiedenen  Stellen  bei- 
gebrachten Parallelen  aus  der  Tosefta.  In  dieser  fehlt  der  Satz  (Sabbat 
67  b): 

Wenn  sich  der  Mann  mit  dem  Namen  der  Frau  und  die  Frau  mit  dem 
Samen  des  Mannes  nennt,  so  gehört  das  zu  den  emoritischen  Gebräuchen. 

Nach  dem  Erklärer  S'lomo  Jisbaqi  (RaschiJ  geschah  dies  in  der  Nacht 
aus  Aberglauben. 

In  der  Misna  ETullin  IV.  7  heisst  es:  Wenn  ein  erstgebärendes  Tier  zu 
früh  gebiert,  so  darf  man  die  Frucht  den  Hunden  vorwerfen;  ist  aber  das 
Tier  geweiht,  so  muss  sie  vergraben  werden.  Indessen  darf  man  sie  nicht  an 
einem  Kreuzwege  vergraben,  ebensowenig  wie  man  sie  an  einem  Baume  auf- 
hängen darf,  weil  dies  emoritische  Gebräuche  sind. 

Nach  dem  Erklärer  Raschi  hätten  die  Zauberer  eiue  Frühgeburt  an 
einem  Kreuzwege  vergraben,  um  der  Wiederholung  eines  solchen  Vor- 
kommnisses vorzubeugen. 


Allerlei  Aberglauben,  der  unter  Juden  in  Babylonien  zu  Anfang  des 
4.  Jahrhunderts  u.  Chr.  herrschte,  lernen  wir  kennen  durch  eine  Äusserung 
des  338  gestorbenen  Abbajji  im  babylonischen  Talmud  Hullin  105b. 

(I.)  Abbajji  sagte:  Früher  glaubte  ich,  man  vermeide  es  nur  aus  Sauber- 
keit, bei  der  Händewaschung  nach  der  Mahlzeit  das  Wasser  unmittelbar  auf 
die  Erde  zu  giessen;  später  wurde  ich  belehrt,  dass  es  geschieht,  iceü  sonst  ein 
böser  Geist  dort  seine  Ruhestätte  finde. 

(IL)  Früher  glaubte  ich,  man  vermeide  es  deshalb,  etwas  vom  Tische  zu 
nehmen,  während  jemand  den  Becher  zum  Trinken  hält,  weil  dadurch  möglicher- 
weise ein  Unfall  während  der  Mahlzeit  geschehen  könnte;  später  wurde  ich  be- 
lehrt, dass  es  gefährlich  ist,  weil  man  von  dem  betäubenden  Geiste  befallen 
werden  könnte.  Dies  gilt  jedoch  nur,  wenn  man  einen  Gegenstand  nimmt  und 
dann  nicht  wieder  zurücklegt;  wenn  man  ihn  selber  nimmt  und  dann  wieder 
zurücklegt,  so  ist  es  unbedenklich.  Das  Bedenken  besteht  auch  nur,  wenn  man 
ihn  weiter  als  vier  Ellen  vom  Tische  entfernt;  ferner  nur,  wenn  der  Gegenstand 
bei  der  Mahlzeit  gebraucht  wird.  Mar  bar  Rab  Äse  Hess  sogar  den  Gewürz- 
mörser und  -Stössel,  als  bei  Tische  benutzbar,  nicht  wegnehmen. 

(in.)  Früher  glaubte  ich  den  Grund  dafür,  dass  man  die  {zu  Boden 
gefallenen)  Speisebrocken  zusammenfegt,  in  Reinlichkeitsrücksichten  zu  erkennen ; 
später  aber  wurde  ich  belehrt,  dass  sie  sonst  schädlich  würden,  indem  sie  Armut 
herbeiführten.  Der  Engel  der  Armut  stellte  jemandem  nach,  konnte  seiner  aber 
nicht  habhaft  werden,  da  der  Mann  sorgsam  auf  die  Speisebrocken  achtete. 
Eines  Tages  hielt  er  sein  Mahl  auf  dem  Rasen;  da  dachte  jener:  „Jetzt  kommt 
er  gewiss    in    meine  Gewalt".      Aber   nach    beendeter  Mahlzeit  nahm  der  Mann 


Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit.  143 

eine  Schaufel,    entwurzelte  das  Gras  und  warf  es  in  den  Fluss.     Da  hörte  er 
sagen:  „0  weh,  er  hat  mich  aus  seinem  Hause  geworfen!'' 

(IV.)  Früher  glaubte  ich,  man  vermeide  es,  den  Schaum  zu  trinken,  weil 
es  unappetitlich  ist;  später  wurde  ich  belehrt,  dass  es  schädlich  ist,  weil  man 
nämlich  den  Schnupfen  davon  bekommt.  Trinken  des  Schaumes  erzeugt 
Schnupfen,  Blasen  in  den  Schaum  erzeugt  Kopfweh,  Wegstossen  des  Schaumes 
erzeugt  Armut.  Wie  schützt  man  sich  davor?  Alan  lässt  den  Schaum  zer- 
gehen Stammt  der  Schnupfen  von  Wein,  so  trinke  man  Bier;  wenn  von  Bier, 
dann  Wasser;  wenn  von  Wasser,  so  giebt  es  kein  Heilmittel.  Da  passt  das 
Sprichwort:  „Dem  Armen  läuft  die  Armut  nach''. 

(V.)  Früher  glaubte  ich,  man  vermeide  es  deshalb,  ein  Stück  Grünzeug 
aus  dem  Gebunde,  sowie  es  der  Gärtner  gebunden  hat,  heraus  zu  essen,  weil 
das  nach  Gefrässigkeit  aussähe;  später  wurde  ich  belehrt,  der  Grund  sei,  dass 
es  möglicherweise  mit  Zauberei  gebunden  ist.  —  Rab  Jjisda  und  Rabba  bar 
Huna  fuhren  zu  Schiffe.  Da  sprach  eine  „Matrone"  (d.  h.  eine  griechische 
oder  römische.  Frau  von  Stande)  zu  ihnen:  „Ich  will  mich  zu  euch  setzen". 
Sie  gestatteten  es  ihr  aber  nicht.  Da  sprach  sie  ein  Wort  und  bannte  dadureh 
das  Schi  f.  Darauf  sprachen  sie  ebenfalls  ein  Wort  und  lösten  es  dadurch. 
Da  sagte  sie  zu  ihnen :  „  Was  will  ich  mit  euch  machen ,  die  ihr  euch  nicht 
mit  einer  Scherbe  (im  Abtritt)  reinigt  und  auf  euern  Kleidern  kein  Ungeziefer 
tötet  und  nicht  aus  einem  Gebund,  ivie  es  vom  Gärtner  gebunden  ist,  Grün- 
zeug esst!" 

(VI.)  Früher  glaubte  ich,  man  vermeide  es  nur  aus  Sauberkeitsrücksichten, 
auf  den  Tisch  gefallene»  Kraut  zu  essen;  später  wurde  ich  belehrt,  dass  man 
es  vermeide,  um  nicht  üblen  Geruch  aus  dem  Munde  zu  bekommen. 

(VII.)  Früher  glaubte  ich,  man  vermeide  es,  sich  unter  eine  Dachrinne 
zu  setzen,  wegen  des  Abflusswassers;  später  wurde  ich  belehrt,  dass  Dämonen 
sich  dort  aufhalten.  —  Lastträger,  die  ein  Fass  Wein  trugen,  wollten  sich  aus- 
ruhen und  stellten  das  Fass  unter  eine  Rinne  —  da  barst  es.  Sie  kamen  zu 
Mar  bar  Rab  Ase,  der  einen  Kasten  nahm  und  den  Dämon  bannte.  Dieser 
antwortete  auf  die  Frage,  weshalb  er  so  gethan  hätte:  „Was  sollte  ich  machen, 
wenn  sie  mir  das  Fass  auf  mein  Ohr  setzten  f"  —  —  --  —  ■ — ■ 

(VIII.)  Früher  glaubte  ich,  man  giesse  deshalb  aus  dem  Kruge,  aus  dem 
man  trinken  will,  zuerst  ein  wenig  Wasser  oben  ab,  weil  oft  Spänchen  obenauf 
schwimmen;   später  wurde  ich  belehrt,  es  geschehe  wegen  des  bösen  Wassers.  — 

D.  Joel,  Der  Aberglaube  und  d.  Stellung  d.  Judentums  zu  demselben 
S.  70  hebt  die  Geneigtheit  des  Abbajji  hervor,  „mysteriöse  Gründe  selbst 
da  zu  aeeeptieren,  wo  ihm  die  natürlichen  nicht  entgangen  waren". 

Mülhausen  im  Elsass. 


144  Baumgart: 

Aus  dem  mittelschlesischen  Dorfleben. 

Von  August  Baumgart. 


[Im  Jahre  1860  gab  mir  mein  Schul-  und  Universitätsfreund  der  Pastor 
A.  Baumgart  zu  Fürstenau,    Kr.  Neumarkt  in  Schlesien,    Aufzeichnungen, 

die  er  auf  meinen  Wunsch  über  das  bäuerliche  Leben  in  seiner  Gegend 
gemacht  hatte.  Er  war  ein  geborner  Fürstenauer,  Sohn  des  dortigen 
evangelischen  Pfarrers,  und  war  seinem  Vater  in  dem  Pfarramt  nachgefolgt, 
das  er  über  ein  Vierteljahrhundert  bis  zu  seinem  Tode  (den  21.  Mai  1882) 
verwaltet  hat.  Er  kannte  daher  die  Leute  an  der  mittleren  Weistritz 
und  im  Zobtener  Halt  sehr  genau.  Ich  teile  hier  den  Abschnitt  aus  seiner 
Handschrift  mit,  der  sich  auf  festliche  Zeiten  des  Bauernlebens  bezieht. 
Jeder  Leser  wird  erkennen,  wie  mit  einer  gewissen  Wohlhabenheit  und 
durch  die  allgemeinen  Veränderungen  in  den  öffentlichen  Zuständen  die 
Auflösung  alter  dörflicher  Zustände  entstanden  ist.  Städtisches  hat  sich  iu 
das  Bäuerliche  gemischt.  Mit  Breslau  haben  die  Dörfer  jener  Gegend,  die 
durch  die  Breslau-Freiburger  Eisenbahn  durchschnitten  wird,  täglich  fünf- 
mal Verbindung;  und  ihre  wohlhabenderen  Insassen  bringen  gar  vieles  aus 
der  grossen  Stadt  auf  ihr  Dorf.  Das  Jahr  1848  hat  in  Schlesien,  wie  in 
andern  Ländern,  einen  grossen  Einschnitt  in  Sitten.  Gebräuchen  und  Tracht 
gemacht:  von  da  ab  ist  die  Kleidung  des  schlesischen  Landvolkes,  wie  sie 
aus  dem  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhundert  herübergekommen  war, 
modern  städtisch  geworden.  Baumgart  schrieb  1860  darüber:  „Der  Bauern- 
stand ist  durch  seine  Kleidung  etwa  nur  noch  während  der  Feldarbeit  und 
unter  den  Schulkindern  kenntlich.  Im  übrigen  hat  man  das  noch  vor 
10 — 15  Jahren  übliche  Kostüm  fast  ganz  ausgezogen:  Die  langen  dunkel- 
blauen Tuchröcke,  die  hohen  Stiefeln  und  die  Lederhosen  der  Männer: 
die  roten  grünbesetzten  Friesröcke  und  schwarzmauchestemen  Mieder  und 
die  Strohhauben  der  jüngeren  Frauen  und  der  Mädchen.  Die  grossen 
weissen  ausgenähten  Schürzen  und  die  entsprechenden  weissen  Brusttücher 
der  Bauerfrauen  sind  höchstens  noch  ein  bespöttelter  Schmuck  armer  Tage- 
löhnerinnen. Die  schönen  Goldkappen  von  gediegenem  Brokat,  welche  die 
Frauen  an  den  wichtigsten  Festen  der  Kirche  schmückten,  sind  längst  zu 
den  Trödlern  gewandert  und  die  einst  allgemeinen  Schnurrgucken  (runde 
Hauben  von  buntem  Kattun  mit  breiten  Spitzen)  kennt  die  Jugend  nur 
noch  als  ein  Spottwort.  Bei  dem  öffentlichen  Gottesdienst  wie  bei  Familien- 
festen und  grösseren  Versammlungen  glaubt  man  sich  unter  ein  klein- 
städtisches Publikum  versetzt.  --  Der  verheiratete,  ältere  Bauer  geht  in 
seinem  Hause  des  Sonntags    in    weissen  steifgestärkten  Hemdärmeln    oder 


Aus  dem  mittelschlesischen  Dorfleben.  145 

trägt  eine  Art  Unterjäckehen,  entweder  aus  Wolle  gewirkt  oder  aus  buntem 
Flanell.  So  bleibt  er  auch,  wenn  Gäste  kommen.  Im  Winter  legt  er 'bei 
Ausgängen  einen  schwarzen,  dunkel  überzogenen  Pelz  an,  worin  er  auch 
seine  Besuche  selbst  beim  Geistlichen  macht,  ohne  ihn  abzulegen.  Der 
früher  gewöhnliche  weisse  Klatschpelz  wird  nur  von  Müllern  und  armen 
Knechten  noch  getragen.  Wenn  die  Weiber,  nach  städtischer  Mode  auf- 
geputzt, zu  Besuch  oder  in  Gesellschaft  kommen,  sitzen  sie  eine  Zeitlang 
nach  ihrem  Eintritt  in  feierlichem  Schweigen,  ein  steifgestärktes  grosses 
gesticktes  Taschentuch  in  der  Hand  so  haltend,  dass  es  den  ganzen  Unter- 
leib  fächerartig  bedeckt,  Der  Spinnrocken  ist  verbannt:  nur  alte  Gross- 
mütter, Tagelöhnerfrauen,  Mägde  und  ärmere  Kinder  spinnen  noch." 

Was  bei  allen  Wandelungen  geblieben,  ist  der  Aberglaube,  über  den 
wir  A.  Baumgarts  Aufzeichnungen  ein  andermal  mitteilen  werden. 

K.  Weinhold.] 

Die  Konfirmation  der  Kinder. 

Knaben  und  Mädchen  versammeln  sich  an  dem  bestimmten  Sonntag- 
morgen in  der  Kirchschule,  erstere  in  Oberröcken,  im  Knopfloch  einen 
langen  Rosmarinzweig  nebst  einigen  Orangeblättern  und  einer  Pomeranze, 
die  mit  rot-  oder  grünseidenen  Bändern  kreuzweis  übersteckt  ist.  Die 
Mädchen  tragen  ganze  Kleider,  nicht  mehr  wie  früher  Rock.  Jacke  und 
weisse  Schürze  und  alle  einen  Kranz  von  gemachten  Blumen,  nicht  mehr 
künstliche  Myrtenkränze,  die  lediglich  Brautschmuck  geworden  sind.  Sämt- 
liche Mädchen  haben  Handschuhe,  die  ärmeren  gestrickte,  und  Sträusse 
aus  den  schönsten  Treibhausblumen,  entweder  an  der  Brust  oder  in  der 
Hand.  Im  langen  paarweisen  Zuge,  voran  die  Knaben,  dann  die  Mädchen, 
wird  der  Geistliche  in  seiner  Wohnung  abgeholt  und  von  allen  Kindern 
nach  einander  oder  von  dem  ersten  Knaben  und  dem  ersten  Mädchen  mit 
den  stehenden  Worten  angeredet:  „Herr  Pastor,  ich  habe  mir  vor- 
genommen heute  zum  ersten  Male  zum  Tisch  des  Her-rn  zu  gehen,  wenn 
ich  Sie  mit  etwas  beleidiget  habe,  so  seien  Sie  so  gut  und  verzeihen  Sie 
mir!"  Ebenso  geordnet  erscheinen  die  Kinder  auch  nach  beendeter  Feier 
nochmals  im  Hause  des  Geistlichen,  um  von  ihm  Abschied  zu  nehmen, 
und  mit  folgenden,  gleichfalls  seit  uralter  Zeit  feststehenden  Worten  zu 
danken : 

„Herr  Pastor,  ich  bedanke  mich  für  Ihre  Müh'  und  Fleiss, 
..Dass  Sie  mich  haben  gelehret  zu  Gottes  Ehr'  und  Preis; 
.Dafür  will  ich  Ihnen  wünschen  die  ewige  Freud'  und  Wonne, 
..Dass  Sie  mögen  glänzen  wie  die  liebe  Sonne!" 

(Der  seltsame  Schluss  bezieht  sich  ohne  Zweifel  auf  Daniel  12,  3.) 
Yor  und  nach  den  Kindern  erscheinen  auch  sämtliche  Eltern  um  ihren 
Dank  abzustatten. 


146  Baumgart: 


Die  Hochzeit. 

Die  Eheu  werden  hier  in  der  weitesten  Umgegend  leider  nur  in  den 
seltensten  Fällen  aus  Liebe  und  gegenseitiger  Zuneigung  geschlossen. 
Entweder  werden  sie  aus  einem  gewissen  moralischen  Zwange  eingegangen, 
als  nachträgliche  Ehrenrettung  der  Braut,  oder  sie  werden  als  ein  blosses 
Geschäft  behandelt,  das  in  folgender  Art  abgeschlossen  wird:  Der  heirats- 
fähige und  heiratslustige  Mann  wird  in  der  Kegel  von  den  hausierenden 
Rockleuten  (d.  h.  Schnittwarenhändlern),  böhmischen  Spillenleuten  (Holz- 
warenhändlern) und  anderen  Leuten,  die  viel  herumkommen,  auf  dieses 
oder  jenes  Mädchen  oder  eine  Witwe  in  näherer  oder  weiterer  Ferne, 
gleichzeitig  aber  auch  mit  vollständiger,  genauer  Angabe  ihres  Besitzes 
und  der  Vermögensverhältnisse  der  Eltern,  aufmerksam  gemacht.  Sagt 
nun  ein  solcher  Antrag  dem  betreuenden  Heiratskandidaten  zu,  so  macht 
er  sich  ungesäumt  auf  den  Weg,  doch  niemals  alleiu,  sondern  stets  in 
Begleitung  eines  in  allen  Bänken  erfahrenen  Allerweltsfreundes,  der  nun 
den  Titel  eines  Freiwerbers  führt.  Dieser,  wie  sein  Gefährte  in  halbem 
Sonntagsanzuge,  hängt  gewöhnlich  einen  Sack  um  und  hat  das  Recht, 
ausser  seinem  Honorar  in  jedem  am  Wege  liegenden  Wirtshause  freie 
Zeche  zu  fordern,  wovon,  indem  noch  besondere  Umwege  deshalb  ein- 
geschlagen werden,  der  unverschämteste  Gebrauch  gemacht  wird.  In  dem 
das  Ziel  bildenden  Hause  augelangt,  führt  der  Freiwerber  das  Wort,  indem 
er  sich  des  gewöhnlichen  Yorwandes  bedient,  eine  Kuh  kaufen  zu  wollen. 
Natürlich  zeigt  man  sich  darüber  verwundert  und  mit  einer  plumpen,  oft 
recht  unzarten  Wendung  wird  dann  die  wahre  Absicht  des  Heiratsantrages 
alsbald  eröffnet.  Weit  entfernt  über  ein  solches  Verfahren  entrüstet  zu 
sein,  erfolgt  in  der  Regel  bald  ein  Bescheid;  entweder  wird  der  stumme 
Heiratskandidat  abgewiesen  oder  er  wird  aufgefordert  wieder  zu  kommen, 
welcher  Aufforderung  er  auch  baldigst  Folge  leistet,  wenn  ihm  anders  die 
Verhältnisse  der  zukünftigen  Schwiegereltern  eine  angemessene  Mitgift  zu 
versprechen  scheinen.  Jetzt  erhält  er  das  Jawort  von  den  Eltern;  er  hat 
aber  die  künftige  Braut  in  vielen  Fällen  kaum  mit  einem  flüchtigen  Blicke 
gesehen.  Nach  einigen  wenigen  Besuchen  innerhalb  4,  6,  8  Wochen  ist 
die  ganze  Angelegenheit  in  Richtigkeit  und  das  Aufgebot  wird  bestellt, 
wobei  der  Herr  Bräutigam  auch  gegen  den  Geistlichen  gar  kein  Hehl 
daraus  macht,  dass  ihm  die  Braut  angetragen  worden  sei.  Nur  selten  ist 
er  imstande,  die  zu  einem  Aufgebot  nötigen  Personalien  genau  anzugeben, 
(wusste  doch  unter  gleichen  Verhältnissen,  vor  etwa  zwei  Jahren,  ein 
Bräutigam  nicht  den  Familiennamen  seiner  Schwiegereltern).  Bei  den 
Trauungen  wird  in  der  Kirche  das  seit  Alters  ortsübliche  Brautlied  aus 
dem  Gesangbuche  gesuugen.  Nur  wirklich  jungfräuliche  Bräute,  deren 
Zahl    aber    von   Jahr    zu   Jahr    geringer    wird    und    jetzt,    laut    amtlichen 


Aus  dein  mittelschlesischen  Dorf leben.  147 

Registern,  kaum  noch  1j3  der  jährlichen  Gesamtzahl  beträgt,  dürfen  im 
Brautkranz  vor  den  Altar  treten  und  werden  bei  brennenden  Kerzen 
getraut.  Von  dieser  durch  das  Volk  selbst  aufrecht  erhaltenen  Kirchen- 
zucht werden  aber  in  Breslau  und  den  Provinzialstädten,  für  und  ohne 
Geld,  Ausnahmen  bewilligt;  d.  h.  für  gefallene  Bräute  ist  der  Brautkranz 
dann  nicht  ein  Myrtenkranz,  sondern  ein  Epheukranz,  oder  er  darf  nicht 
den  ganzen  Kopf  umschlingen,  sondern  rauss  hinten  eine  verborgene  Lücke 
haben  oder  auch  seine  Farbe  muss  hellei  sein  als  die  gewöhnliche  Myrten- 
farbe, zeisiggrün,  grasgrün  u.  s.  w.  —  Dies  alles  je  nachdem!  —  Die 
Bräutigame  tragen  noch  häufig  einen  Rosmarin-  oder  Orangenzweig  oder 
beides  im  Knopfloch;  ebenso  werden  auch  nicht  selten  die  Pferde  des 
Brautwagens  mit  Buchsbaum  und  rotseidenen  Bändern  an  den  Mähnen  und 
am  Schwänze  geputzt.  Vollständig  erloschen  ist  aber  die  einst  allgemein 
verbreitete  Sitte,  dem  Brautpaar  kleine  Kränzchen  von  Rosmarin  in  der 
Grösse  von  Zweithalerstücken  auf  den  Scheitel  zu  legen.  Die  einst  all- 
gemein beliebten,  lustigen  Hochzeitbitter  sind  jetzt  allgemein  verpönt,  man 
schämt  sich  ihrer  als  bajazzoartiger  Erscheinungen.  Bei  grossen  Bauern- 
hochzeiten hält  man  sich  daher  Breslauer  Lohndiener,  und  nur  die  Kräuter- 
dörfer, von  Gemüsegärtnern  (Kräuterern)  bewohnte  Dörfer  in  unmittelbarer 
südlicher  Lage  bei  Breslau,  haben  noch  zuweilen  den  alten  Hochzeitbitter, 
der  auch  noch  wie  früher  mit  buntseidenen,  flatternden  Bändern  aus- 
staffiert ist  und  den  Hochzeitszug  in  die  Kirche  führt.  Der  Bräutigam  oder 
ein  Kirchendiener  (hier  Kirchvater  genannt)  holt  die  Braut,  wenn  nicht 
das  Brautpaar,  wie  sehr  häufig,  auf  Stühlen  vor  dem  Altar  sitzt,  von  ihrem 
Platze  zum  Trauakt  vor  den  Geistlichen,  der  während  desselben  nicht 
selten  Gelegenheit  hat  zu  bemerken,  wie  angelegen  es  sich  der  Bräutigam 
sein  lässt,  seine  Hand  in  die  ihm  zuvor  von  der  Braut  dargereichte  zu 
legen,  denn  es  gilt  noch  immer  der  Glaube:  Wer  seine  Hand  bei  der 
Kopulation  oben  liegen  hat,  wird  dereinst  in  der  Ehe  die  Herrschaft  im 
Hause  behalten.  —  Sobald  aber  die  Braut  von  ihrem  Sitze  sich  erhebt, 
muss  auch  sogleich  die  neben  ihr  sitzende  Brautfrau  oder  Brautjungfer 
auf  die  eben  verlassene  Stelle  rücken,  damit  diese  nicht  auskühle,  was 
sonst  Unglück  für  die  zukünftige  Hausfrau  brächte.  Für  Schicksals- 
propheten  gelten  auch  die  Altarkerzen  während  der  Hochzeit:  wenn  näm- 
lich die  eine  derselben  trübe  brennt  oder  gar  erlischt,  so  bedeutet  dies, 
auf  wessen  Seite  es  geschieht,  Unglück,  Krankheit  oder  gar  den  Tod  fin- 
den Bräutigam  oder  die  Braut.  Für  Unheil  verkündend  wird  es  gleichfalls 
angesehen,  wenn  es  in  den  Brautkranz  regnet.  — 

Aus  der  Kirche  zurückgekehrt  kleiden  sich  zunächst  die  weiblichen 
Glieder  des  Trauungszuges  um,  denn  es  würde  gewaltiges  Aufsehen  er- 
regen, wenn  auch  nur  die  Braut  im  Brautkleide  sich  zur  Mahlzeit  setzen 
wollte.     Es  sammeln  sich  nun  auch  die  zum  Essen  geladenen  fräste,  die 


148  Baumgart: 

wohl  von  denen  zu  unterscheiden  sind,  die  vor  der  Trauung,  in  geringerer 
Anzahl  zum  Züchten  geladen  werden.  Das  Züchten  war  früher  ein  letztes 
feierliches,  formelles  Werben  und  Anhalten  des  Bräutigams  um  die  Braut, 
und  geschah  sonst  wohl  durch  den  Ceremonienmeister,  den  Hochzeit- 
bitter. Jetzt  versteht  man  darunter  nur  noch  die  nach  dem  feierlichen 
und  meist  schweigenden  Genuss  von  Kaffee  und  Kuchen  folgende  Abschieds- 
söene  des  Brautpaares  von  den  Eltern.  Zum  Züchten  geladen  zu  werden, 
gilt  für  eine  besondere  Ehre  und  schliesst  zugleich  das  Ehrenamt  des 
kirchlichen  Beistandes  ein,  sowie  die  Verpflichtung  zu  den  üblichen  Hochzeits- 
geschenken, die  jedoch  denen  erlassen  sind,  die  nur  zum  Schmause  geladen 
werden.  Die  Hochzeitsgeschenke  selbst  werden  aber  nicht  mehr  wie  früher 
während  der  Mahlzeit  überbracht,  sondern  schon  vor  der  Hochzeit  in  das 
Brauthaus  geschickt,  wo  sie,  nebst  den  Ausstattungs-Möbeln  in  einem 
besonderen  Zimmer  zur  Ansicht  der  Hochzeitsgäste  ausgestellt  sind.  Über 
der  Mahlzeit  oder  vielmehr  nach  derselben  (zum  Dessert)  wird,  obgleich 
auch  diese  Sitte  schon  an  verschiedenen  Orten  einzuschlafen  scheint,  dem 
Bräutigam  mit  vielem  Lärm  eine  grosse,  versiegelte  Schachtel  als  von  der 
Post  angelangt),  die  herkömmliche  Gabe  der  Brautfrau,  zur  Eröffnung 
übergeben.  Dieser  muss  sich  nun  dessen  weigern  und  die  Braut  dazu  auf- 
fordern, die  ein  Gleiches  zu  thun  verpflichtet  ist.  Die  Schachtel  wird  dann 
■  lern  kecksten  Junggesellen  übergeben  oder  von  irgend  einem  Hochzeits- 
gast eröffnet,  Ihr  Inhalt,  Brauthaube,  Kinderkleider  und  Kinderwäsche, 
Spielsachen,  Wiegenband  (ein  langer  Papiers'treifen,  mit  oft  recht  zoten- 
haften Versen  beschrieben)  und  vor  allem  der  so  beliebte  Storch,  Nicke- 
mann, Dukatenkacker,  Stehauf  u.  s.  w.  und  Wickelkinder  von  Holz  oder 
W'aclis,  machen  nun  unter  allerhand  schlüpfrigen,  derb  belachten  Scherzen 
die  Wanderung  von  Hand  zu  Hand  um  die  ganze  Tafel.  Während  dieser 
Beschallung  hat  die  Hochzeitslust  den  Höhepunkt  erreicht;  die  Hochzeits- 
gäste werfen  sich  häufig  mit  Bonbons,  Zuckernüssen,  Rosinen,  Mandeln  u.  s.w., 
bei  ärmeren  mit  Erbsen  und  schliesslich  wird  der  von  ihren  Jungfern 
wacker  verteidigten,  sich  sträubenden  Braut  der  Kranz  genommen,  gleich- 
falls unter  allerlei  Anspielungen,  und  von  den  Brautfrauen  die  Haube  auf- 
gesetzt. 

Nach  aufgehobener  Tafel,  zu  welcher  gewöhnlich  der  Bräutigam  das 
Kindfleisch  und  Getränk  zu  liefern  verpflichtet  ist,  begiebt  sich  in  den 
meisten  Fällen  die  ganze  Gesellschaft  in  den  Kretscham  zum  Tanz.  Die 
Brautbetten  müssen  von  einer  Frau  zurechtgemacht  werden,  die  dieses 
Geschäft  ohne  alle  Zeugen  verrichtet,  weil  sie  nach  dem  Volksglauben 
dabei  streng  geheim  gehaltenen  Hokuspokus  machen  muss,  damit  die  Ehe 
auch  fruchtbar  werde.  Ledige  Personen  müssen  fern  gehalten  werden. 
Diese  Frau  heisst  denn  auch  die  Bettfrau  und  wird  besonders  geehrt; 
dazu  ausersehen  zu  werden,  gilt  für  einen  grossen  Vorzug.  —  Beim   Mintritt 


111  t 


\ns  dem  mittelschlesischen  Dorf  leben.  149 

iie  neue  Heimat  rauss  das  junge  Ehepaar  ein  Stück  Brot,  einen  Löffel 
Salz  und  ein  Stück  Kupfergeld  (meist  einen  Dreier)  erhalten  oder  vor- 
linden. 

Geburt  und  Taufe. 

Sobald  ein  Kind  geboren  ist,  wird  ihm,  vorzüglich  in  der  ersten  Nacht 
seines  Lebens,  ein  Gesang-  oder  Gebetbuch,  oder  sonst  ein  Buch  geist- 
lichen und  religiösen  Inhalts,  bei  Katholiken  wohl  auch  der  Eosenkranz, 
in  die  Wiege  zu  Häupten  unter  das  Bettchen  gelegt.  —  Ist  ein  Kind  un- 
ruhig, so  muss  ihm  die  Ruhe  gesucht  werden,  d.  h.  es  wird  Staub  aus 
allen  vier  Ecken  der  Stube  zusammengekehrt,  eingewickelt  und  alsdann, 
täglich  an  einer  anderen  Stelle,  unter  das  Bettchen  gesteckt,  dies  kann 
bis  zu  einem  Jahre  fortgesetzt  werden;  probatum  est!  —  Ein  Kind  darf 
unter  einem  Jahr  nicht  mit  Blumen  geschmückt  werden  noch  auch  in  einen 
Spiegel  sehen.  —  Letzteres  darf  auch  die  Mutter  des  Kindes  während 
ihrer  Wochenzeit  nicht.  Sie  hat  überhaupt  so  manches  zu  beobachten: 
sie  darf  z.  B.  nicht  Herein  rufen,  wenn  angeklopft  wird  (eigentlich  soll 
aber  an  einer  Wochenstube  gar  nicht  angeklopft  werden);  sie  darf  bei 
Gefahr  ihrer  Gesundheit  und  ihres  Lebens  nicht  ihr  Gehöfte  und  Garten 
verlassen,  ehe  sie  zur  Kirche  geht.  —  Dieser  Kirchgang  ist  in  Schlesien 
wie  auch  in  der  Ober -Lausitz  eine  auf  dem  Lande  und  in  kleineren 
Städten  allgemein  verbreitete  Sitte,  und  ist  nur  nach  den  jedesmaligen, 
ortsüblichen  kirchlichen  Einrichtungen  verschieden.  In  der  evangelischen 
Kirche  empfängt  die  Wöchnerin,  die  mit  einer  Geleitfrau  erscheint,  und 
so  wie  diese  dunkel  gekleidet  seiu  soll,  ohne  aber  zu  trauern,  an  einem 
Kirchtage,  am  Altare  knieend,  nach  einem  bezüglichen  Gebet  und  Vater- 
unser, den  Segen  von  dem  Geistlichen.  In  der  katholischen  Kirche,  wie 
auch  in  der  sächsischen  Oberlausitz  holt  der  Geistliche  die  Wöchnerin  in 
der  Vorhalle  ab,  betet  dort  (exorcisirend)  und  führt  sie  dann  selbst  zum 
Altare.  Der  Kirchgang  erfolgt  entweder  nach  Ablauf  der  sechs  Wochen, 
oder  sobald  die  Wöchnerin  sich  kräftig  genug  fühlt,  oder  doch  nach  Ent- 
scheidung des  Gatten  sich  fühlen  muss.  —  Stirbt  eine  Wöchnerin  während 
ihrer  Wochenzeit,  d.  i.  vor  ihrem  Kirchgange,  so  muss  sie  schwarz  gekleidet 
in  den  Sarg  gelegt  werden,  weil  sie  doch  um  ihr  Kind  trauern  muss. 

Bei  einem  Taufen  erscheinen  die  unverheirateten  weiblichen  Paten, 
die  sogenannten  Jungfern -Paten,  sämtlich  im  Kranz,  doch  nur  äusserst 
selten,  obgleich  früher  gewöhnlich,  im  Myrtenkranz.  Bei  Berührung  des 
Kindes  nach  vollzogenem  Taufakt,  pflegen  noch  viele,  vorzüglich  die 
älteren  Paten,  nicht  des  Täuflings  Stirn  zu  berühren,  sondern  mit  Zeige-  w 
thiger  und  Daumen  der  rechten  Hand  das  Gesichtchen  zu  überspannen, 
weil  man  glaubt,  dass  dadurch  Grübchen  in  den  Wangen  entstehen.  Ehe 
die  Paten  die  Kirche  verlassen,  werden  dem  Kinde  noch  die  Patengeschenke 
eingebunden,    d.  h.  in  das  Bettchen    gelegt,    und    zwar    Geld    in    besonders 

Ziiucbr.  i.  Veieius  1.  Volkskuude.    1393.  11 


]  50  Baumgart : 

dazu  gefertigte  Couverts,  (sogenannte  Patenbriefe,  mit  Vignetten  und  be- 
züglichen Versen  geziert)  gewickelt  und  mit  buntseidenen  Bändern  um- 
schlungen. Die  niedrigste  Taxe  für  das  Eingebinde  einer  Magd  beträgt  hier 
1  Rthlr.  3  Pf.,  der  Kupferdreier  darf  aber  nicht  fehlen.  Bei  der  Rückkehr 
aus  der  Kirche  in  das  „Kindelhaus",  muss  diejenige  Pate,  die  den  Täufling 
trägt,  sagen :  „In  (einen)  Heida  hom  ber  fürt  getroan,  In  Christa  breng'  her 
wieder."  —  Die  Taufschmäuse  sind  jetzt  weit  seltener  als  früher,  doch  wo 
sie  noch  stattfinden,  ist  auch  noch  an  vielen  Orten,  vorzüglich  bei  den 
sogenanuten  kleinen  Leuten,  die  Sitte  des  Karndla-Sichens  (Körnchen- 
Sucheus)  damit  verbunden,  mit  der  es  folgende  Bewandnis  hat:  Die  Tauf- 
gelage, vorzüglich  war  dies  in  früherer  Zeit  noch  häufiger  der  Fall,  werden 
mit  der  sogenannten  Kindla-Suppe  beschlossen,  das  ist  eine  Art  Warmbier, 
in  welches  Kuchen  eingebrockt  wird.  Zur  Verfeinerung  des  Geschmackes 
gehören  nun  Rosinen  und  Mandeln,  Karndla  genannt.  Diese  Karndla  zu 
liefern  sind  die  Jungfer-Paten  verpflichtet,  aber  sie  dürfen  dieselben  nicht 
freiwillig  darbieten,  sie  müssen  im  Gegenteil  sich  stellen,  als  ob  sie  die- 
selben vergessen  hätten,  obgleich  sie  ganze  Starnutzken  (Dütchen,  vergl. 
Weiuhold,  Schlesisches  Wörterbuch  93)  im  untersten  Unterrocke  verborgen 
halten.  Jetzt  beginnt  nun  die  Freiheit  der  Junggesellen,  diese  am  be- 
wussten  Orte  als  vorhanden  vorausgesetzten  Karndla  zu  suchen,  und  das 
Privilegium  der  suchenden  Jünglingshände  erstreckt  sich  über  alle 
Taschen  (Schubsäcke). 

Ist  das  Kind  ein  Jahr  alt,  so  müssen  sich  die  Paten  mit  ihren  Ge- 
schenken einfinden,  bestehend  meistens  aus  Kleidchen;  die  erste  Jungfer- 
Pate  hat  noch  die  Verpflichtung  dem  „Johrkledla"  auch  den  „Johr-Kranz" 
(Jahrkranz,  von  Myrtenzweigen)  und  ein  Häubchen  beizufügen.  —  Die 
Einladungen  (Patenbriefe)  zu  einem  Taufen,  so  fordert  es  der  allgemeine 
Brauch,  werden  mit  allerlei  veralteten  Prädikaten  überladen  und  bei  beiden 
Konfessionen  von  den  Schullehrern  geschrieben,  die  dafür  eine  kleine  Ein- 
nahme geniessen.  (Die  Prädikate  sind  vorzüglich:  der  wohl-  ehr-  und 
achtbare  Junggesell,  und  die  wohl-  ehr-  und  tugendsame  Jungfer.)  — 
Das  gute  Aussehen  eines  Kindes  soll  niemals  gelobt  werden,  es  wird  sonst 
berufen  und  hört  auf  zu  gedeihen;  geschieht  es  aber  dennoch,  so  muss 
man  dreimal  dabei  ausspucken.  —  Die  erste  Kinderklapper  dürfen  nicht 
die  Eltern,  sondern  sollen  die  Paten  dem  Kinde  kaufen,  weil  dasselbe 
sonst  aus  dem  Vaterhause  gegen  Fremde  klatscht  und  gewäschig  wird. 

Tod  und  Begräbnis. 

Jeder  Todesfall  soll  sogleich  den  Haustieren,  vorzüglich  den  Pferden, 
Ivühen  und  Bienen  (letzteren  mit  dreimaligem  Anklopfen  an  den  Stock 
oder  die  Beute)  angezeigt  werden.  —  Das  Wasser,  womit  eine  Leiche  ge- 
waschen  worden   ist,    nebst   den   Gefässen,    muss  an  einen  Ort  vergraben 


Aus  dem  mittelschlesischen  Dorf  leben.  151 

werden,  wo  niemand  darüber  schreiten  kann;  es  verursacht  dasselbe  sonst 
abzehrende  Krankheiten.  --  Auf  eine  Leiche,  vorzüglich  wenn  sie  schon 
im  Sarge  liegt,  darf  niemand  Thränen  fallen  lassen,  auch  nichts  der  Leiche 
mit  in  das  Grab  geben,  was  ein  Gesunder  lange  getragen  hat,  vorzüglich 
was  noch  die  Körperwärme  in  sich  trägt,  als  Tücher  u.  s.  w.  Es  muss 
sonst  die  betreffende  Person  nach  langsamem,  abzehrendem  Siechtum 
sterben.  Es  dürfen  daher  nicht  einmal  am  Körper  in  der  Kleidung  ge- 
tragene Stecknadeln,  z.  B.  zum  Befestigen  der  Sargausschläge,  verwandt 
werden.  —  Wenn  eine  Leiche  nicht  erstarrt,  so  stirbt  binnen  Jahresfrist 
ein  anderes  Familienglied  nach.  Die  Nähnadel  mit  dem  Faden,  mit  dem 
ein  Sterbekleid  genäht  worden  ist.  darf  nicht  abgeschnitten  werden,  sie 
muss  daran  hängen  bleiben.  Einer  Leiche  muss,  ehe  der  Sargdeckel  ge- 
schlossen wird,  alles  hinweggenommen  werden,  womit  ihr  Gesicht  oder 
ihre  Augen  vielleicht  bedeckt  waren,  als  Tücher,  Läppchen  u.  s.  w.;  sie 
kann  sonst  am  jüngsten  Tage  Christum  nicht  sehen,  wodurch  ihre  Seligkeit 
gefährdet  würde.  —  Stirbt  eine  Wöchnerin,  so  muss  sie  zur  Trauer  über 
das  verlassene  Kind  schwarz  gekleidet  in  den  Sarg  gelegt  werden,  während 
sonst  alle  Sterbekleider  weiss  sind.  Alle  Gerätschaften,  mit  denen  eine 
Leiche  gewaschen  worden  ist,  als  Kämme,  Schwamm,  Lappen,  Seife  u.  s.  w., 
gehören  mit  in  den  Sarg. 

Zur  Leichenbegleitung  wird  in  der  Regel  das  ganze  Dorf  gebeten, 
und  je  nach  dem  Range  der  Verstorbenen  auch  benachbarte  Ortschaften: 
zu  diesem  Behufe  hält  der  Gemeindehirte  oder  besser  noch  seine  Frau, 
oder  ein  von  ihm  gedungenes  Weib,  einen  Umgang  von  Haus  zu  Haus: 
aber  dabei  ist  es  strengstens  verboten,  die  Schwelle  der  Häuser  zu  über- 
schreiten, es  würde  sonst  der  Tod  ins  Haus  gebracht;  es  muss  daher  drei- 
mal mit  einer  Gerte  an  die  Thüre  geschlagen  werden.  -  -  Wenn  ein  Sarg 
zum  Begräbnis  aufgebahrt  wird,  so  müssen  die  Stühle,  Schemel.  Bänke  u.  s.  w. 
umgeworfen  werden,  auf  denen  der  Sarg  gestanden  hat.  —  Wird  eine 
Leiche  zum  Kirchhofe  gefahren,  d.  h.  auf  einem  Bretterwagen  von  einem 
entfernten  Orte  nach  dem  Pfarrdorfe,  so  muss  der  Kutscher  eilen,  um 
wieder  zurück  über  die  Dorfgrenze  zu  gelangen,  ehe  der  Sarg  versenkt 
wird.  Auf  dem  Hinwege  müssen  aber,  vorzüglich  wenn  mehrere  Dorf- 
grenzen zu  überschreiten  sind,  an  jeder  derselben  die  Pferde  dreimal  an- 
gehalten und  dreimal  wieder  angetrieben  werden,  ehe  der  Zug  sich  weiter 
fortbewegen  darf.  —  Jede  Arznei,  die  einem  Verstorbenen  zuletzt  vom 
Arzt  verordnet  worden  ist,  die  derselbe  aber  nicht  ausgebraucht  hat,  gilt 
für  ein  Universalheilmittel  in  den  heterogensten  Krankheiten,  und  wird 
darum  häufig  begehrt.  —  Die  Beerdigungsfeierlichkeiten  richten  sich 
natürlich  nach  der  Konfession,  den  Ortsverhältnissen,  ob  Stadt,  ob  Land, 
und  nach  den  Vermögens- Umständen  der  Toten  wie  der  Leidtragenden 
und  gehören  eigentlich  nicht  hierher;  nur  ist  noch  zu  erwähnen,  dass  ohne 
Unterschied  der  Konfession  und  des  Standes  des  Verstorbenen,  die  Träger 

11* 


1 52  Baumgalt : 

nach  der  Persönlichkeit  des  letzteren  gewählt  werden  und  nur  in  aus- 
nahmsweisen  Fällen  die  Zahl  4  übersteigen.  Unverheiratete  junge  Männer 
(sogenannte  Junggesellen)  tragen  Kinderleichen  und  überhaupt  ledige  Per- 
sonen, deren  Särge,  wenn  ihr  Lebenswandel  unbescholten  war,  bekränzt 
werden.  Gewöhnlich  sind  bei  solchen  Begräbnissen  auch,  nach  der  Zahl 
der  Träger,  sogenannte  Leidjungfern  (ähnlich  den  Trauermarschällen)  die 
schwarz  gekleidet  und  meist  mit  Epheu  bekränzt,  grüne  frische  Kränze 
und  Guirlanden  tragen,  uud  vor  und  hinter  dem  Sarge  oder  zu  dessen 
beiden  Seiten  gehen.  Diese  Kränze  müssen  aber  dann,  sowie  auch  die 
Sträusse.  welche  die  Träger"  im  Knopfloch  tragen,  in  das  Grab  auf  den 
Sarg  geworfen  werden.  Dasselbe  geschieht  auch  mit  den  Citronen,  die 
bei  Begräbnissen  von  den  Trägem  in  der  linken  Hand  gehalten  werden.  — 
In  manchen  Gegenden,  so  in  Kanth  und  seinen  benachbarten  Ortschaften 
tragen  bei  Begräbnissen  lediger  Personen  und  von  Kindern  auch  die 
jugendlichen  Träger  Kränze  von  Immergrün  auf  dem  Kopfe,  die  sie  dann 
abnehmen  und  gleichfalls  in  das  Grab  nachwerfen.  —  Am  Beerdigiingstage 
unverheirateter,  vorzüglich  Verlobter  Personen,  wird  das  Trauerhaus  festlich 
geschmückt  mit  Kränzen  und  wohl  auch  mit  Maien,  denn  dieser  Tag  gilt 
für  den  Hochzeitstag,  weshalb  denn  auch  das  sogenannte  Traueressen  sehr 
oft;  absichtlich,  wie  ein  vollständiges  Hochzeitsmahl  zugerichtet  wird,  bei 
welchem  ausser  den  Verwandten,  Trägern  und  Leidjungfern  auch  ein 
grosser  Teil  der  Leichenbegleitung  zu  Gaste  geladen  ist. 

Festgelage,  Mahlzeiten  und  Speisen. 

Die  Festgelage  auf  dem  Lande  werden  eingeteilt  in  Tauf-Essen, 
Hochzeit-Essen,  Trauer-Essen  und  Kirmess.  Die  Tafel -Einrichtung  ist 
dabei  folgende:  Die  Tische,  wenn  einer  nicht  ausreicht,  zwei  oder  drei. 
werden  im  rechten  Winkel  aufgestellt,  welcher  an  seiner  äusseren  Spitze 
für-  den  Ehrenplatz  gilt,  auf  welchem  bei  Hochzeiten  natürlich  auch  das 
Brautpaar  eingeklemmt  wird.  das.  im  Rücken  die  Wände  und  die  Stuben- 
ecke, sich  oft  buchstäblich  nicht  rühren  kaun.  Unweit  dieser  Ecke,  bei 
Hochzeiten  in  der  Nähe  der  Braut,  oft  derselben  gegenüber,  an  der  innern 
Spitze  des  rechten  Winkels,  hat  der  Geistliche,  wenn  er  überhaupt  geladen 
wird,  seinen  Platz,  welcher  auch,  wenn  es  der  Kindla-  oder  der  Huxt- 
vater  begehrt,  mit  einem  Gebet  die  Tafel  eröffnet.  —  Bei  dem  Taufessen 
uud  dem  Hochzeitessen  dürfen  weder  die  Eltern  des  Kindes  noch  der 
Braut  bei  Tische  mit  sitzen.  Diese  speisen  draussen;  nur  der  Vater  als 
Hausherr  darf  zuweilen,  ab-  und  zugehend,  in  blossen  Hemdsärmeln,  bei 
dem  einen  oder  dem  andern  Gaste  auf  Augenblicke  sich  niederlassen,  um 
zu  tischkerieren  (diskurieren)  oder  dem  einen  und  dem  andern  zuzu- 
trinken. Die  Reihe  der  Speisen  eröffnet  eine  in  mehreren  Schüsseln 
aufgetragene  Brühsuppe,   d.  i.  eine  ungemein  starke,  fette,  lautere  Rinds- 


Aus  dem  mittelschlesischen  Dorfleben.  153 

brühe  mit  Reis  und  etwas  gestossenem  Zimmet.     Pflicht  der  Junggesellen 
ist  es,  diese  Suppe  sämtlichen  Gästen  auf  ihre  Teller  vorzulegen  und  nach- 
zugeben.  —    Dann   folgt  das  Rindfleisch,    welches   geschnitten  aufgetragen 
wird,     aber    früher    auch    von    den    Junggesellen    oder    von    irgend    einer 
Respektsperson  unter  den  Gästen  zerlegt  werden  musste.    Es  werden  dazu 
gegeben:    Kren-   oder  Meerrettichtunke,   stark  gezimmtet,   aber  nicht  ver- 
süsst;    zuweilen    noch    eine    andere    braune  Tunke  von  Schnittlauch  oder 
Rosinen  (die  Saucen  heissen  stets  Tunken),  saure  Gurken  und  an  manchen 
Orten  auch  Hering.    Die  Gänge  folgen  von  jetzt  ab  in  sehr  langen  Pausen 
aufeinander  und  die  Männer  rauchen  dazwischen,  sprechen,  wiewohl  meist 
bescheiden,  dem  Glase  zu;    das  Weibsvolk  schweigt  lächelnd  oder  flüstert 
nur.     Nach  alter  Sitte  kommt  das  schlesische  Lieblingsgericht:    Wurst  — 
mit  Sauerkraut  in  Untertassen ;  —  früher  Blut-  und  Leberwurst,  jetzt  aber, 
als  Zeichen  des  modernen  Portschrittes,  Bratwurst  mit  einer  braunen,  süss- 
säuerlichen  Sauce;    nicht   selten   werden  alle  drei  Arten  zusammen  zu  be- 
liebiger Auswahl  geboten.    Bei  vornehmer  sein  wollenden  und  bemittelteren 
Bauern  wird  nun  ein  Gericht  eingeschoben,    nämlich  polnisch  (braun)  ge- 
sottene  Karpfen    mit    Sauerkraut.     Statt    dessen    erscheint    auch    zuweilen 
Rindszunge    mit  Rosiuensauce.     Zwei   aufeinander   folgende  Braten,    min- 
destens einer,    machen  den  Beschluss  der  Speisen,    und  zwar  Kalbsbraten 
mit  Backobst  oder  Salat,  zuweilen  Heringssalat,  und  schliesslich  Schweine- 
braten mit  Sauerkraut,   der  aber  auch  bei  den  Ärmeren  nicht  fehlen  darf. 
Bemitteltere  schalten  auch  hier  noch  einen  Braten  ein  oder  lassen  ihn  den 
beiden   genannten  vorangehen,    und  zwar  Enten-  oder  Speckfetten  Gänse- 
braten.   Ein  Nachtisch  darf  auch  nicht  fehlen;  er  besteht  aus  gutem  haus- 
backenem Brote,   frischer  Butter,   die,  vorzüglich  bei  Hochzeiten,  in  Form 
von  Hühnern    mit  Küchlein    oder  von  Lämmchen  aufgetragen  wird,    und 
Käse  (bei  Ärmeren  —  altem  Quarge).    —    Den  völligen  Beschluss  macht 
um  Mitternacht  Kaffee  und  Kuchen.  —  Dies  die  Hochzeits-  und  Kindtauf- 
schmäuse.    —    Die    sogenannten  Traueressen    sind    meist   einfacherer  Art, 
wenn    dieselben    eben   nicht,    wie  oben  angedeutet,    verstorbenen  ledigen 
Personen    zu  Ehren    veranstaltet  werden;    bei  dieser  Gelegenheit  wird  an 
mehreren  Orten,  ausser  Kaffee  und  Kuchen,  etwas  kalte  Küche  aufgetragen, 
wobei  aber  Heringssalat,    gebackene  Pflaumen  und  Preisseibeeren,    nicht 
fehlen  dürfen.    —   Kalte  Küche  mit  gleicher  Beigabe,   Kaffee,   Thee  oder 
Chokolade,  sind  es  auch,  womit  sich  die  Bauern  bei  ihren  Lichtenabenden 
oder  Winterkräuzchen  gegenseitig  zu  bewirten  pflegen.    (Die  kalte  Küche 
besteht  meist  aus  zweierlei  Braten,  vielleicht  auch  aus  Schinken  und  zwei- 
bis  dreierlei  Wurst.)   Cigarren  dürfen  bei  keiner  solchen  festlichen  Gelegen- 
heit fehlen. 

Als  Getränk  bei  festlichen  Gelegenheiten  wird  zwar  ausser  Bier 
immer  noch,  vorzüglich  bei  den  kleinen  Leuten,  der  Schnaps  in  ziemlich 
bedeutenden  Quantitäten  und  zwar  in  zwei  Sorten,  Korn  und  Guter  (d.  i. 


154  Baumgarf: 

Kümmel,  Pfeffermünze  oder  Grunewald)  kredenzt.  Bei  dem  wirklichen 
Bauer  ist  aber  bereits  der  Schnaps  durch  Wein  verdrängt,  und  es  stehen 
daher  nicht  selten  auf  Bauemtafeln  herber  und  süsser  Ungar,  letzterer  für 
die  Weiber  und  gewöhnlich  gefälscht,  zuweilen  auch  einige  Flaschen  Rot- 
wein. —  Bei  den  Liclitenabenden  und  Kränzein  wird  ausser  Bier  und  gutem 
Schnaps  Grogg  oder  Punsch  getrunken. 

Bei  Hochzeiten  und  zum  Teil  auch  bei  Kindtaufen  erfüllt  die  liebe 
Jugend  Hof  und  Gärten  und  guckt  lüstern  zu  Thür  und  Fenstern  hineiu. 
und  bettelt  wohl  auch  um  Kuchen.  "Wurst.  Fleisch  und  dergl.,  man  nennt 
dies  Schwellehocken.  —  An  Fastnacht  und  zur  Kirmiss  ziehen  wohl 
noch  zuweilen  junge  Burschen.  Knechte.  Pferde-  und  Ochsenjungen  umher 
mit  langen  Peitschen  und  knallen  des  Abends  in  den  Bauergehöften  und 
vor  den  Häuseru  anderer  bemittelter  Leute  so  lange  und  so  fürchterlich, 
bis  sie  Kuchen  erhalten.  —  dies  heisst  Kucheuplatzen. 

Zu  Weihnachten  essen  bemittelte  Bauersleute  gesottene  Karpfen  in 
brauner  polnischer  Sauce,  ärmere  dagegen  Hering.  —  Die  allgemeine 
Fastnachtsspeise  ist  Bratwurst. 

Die  Fleischkost  der  Landleute  besteht  hauptsächlich  in  Schweinefleisch 
von  selbstgeschlachteten  Schweinen,  wo  dann  das  Rauchfleisch  den  grössten 
Teil  des  Jahres  ausreichen  muss.  Rindfleisch  kennt  man  nur  zu  Fest- 
zeiten: Kalb-  und  Schöpsenfleisch  sind  ganz  ungebräuchlich.  —  Braten  ist 
selten. 

Das  schlesische  Bauerngesinde  erhält  früh  Milch  oder  andere  Suppe, 
darauf  Kartoffeln  mit  der  Schale.  Das  Mittagbrot,  vorzüglich  in  der  Ernte, 
besteht  aus  Fleisch  und  Gemüse,  oder  Fleisch.  Tunke  und  Klössen  (sehr 
derb):  das  Abendessen  sind  wieder  Kartoffeln  mit  Tunke.  In  mancher 
Haushaltung,  besonders  auf  den  Dominien,  ist  die  Gesindekost  für  jeden 
Tag  der  Woche  fest  und  besteht  ausser  der  Ernte  meist  in  Fastengerichten. 
Graupe  und  Erbsen,  gemischt  oder  allein:  Fleisch  wird  wöchentlich  nur 
zwei-  bis  dreimal  gekocht,  doch  dürfen  des  Sonntags  nie  und  nirgends  die 
Klösse  fehlen. 

Die  Bauern  stossen  bei  ihren  Festlichkeiten  miteinander  an,  aber  nicht 
wie  andere  Menschen,  sondern  es  fasst  der  eine  das  Glas  am  obersteu 
Rande,  der  andere  das  seinige  fast  ganz  unten  am  Fuss,  und  so  werden 
dann  die  Gläser  aneinander  gestossen  und  halb  streichend,  halb  schleifend 
zusammengeschlagen,  als  ob  Feuer  gepinkt  werden  sollte:  natürlich  ist  dann 
der  Klang  nur  ein  Klirren  und  Klappern,  aber  niemals  ein  Wohllaut.  — 
Der  Trinkspruch  lautet:   ..Dein  Wohlsein  (Ihr  Wohlsein)!"   —  „Herr  Lange 

—  Herr  Kaiesse  —  Frau  Biewaldin  u.  s.  w.    Du  sollst  (Sie  sollen)  leben!" 

—  Worauf  die  Antwort:  „Selbsteigen!"  oder  „Wohl  bekommt!"  — 
Xach  jedem  Schluck  Branntwein,  wobei  fast  immer  ein  ganzes  Gläscheu 
ausgestürzt  wird,  gehört  es  zum  guten  Bauernton,  sich  zu  schütteln  und 
das  Gesicht  zu  verzerren,  als  ob  man  Gift  betrunken  hätte. 


Aus  dem  mittelschlesischen  Dorf  leben.  155 

Zur  Vesper  im  Sommer  gehört  weisser  Quarg  mit  Salz  und  Kümmel, 
im  Winter  aber,  falls  sie  dann  üblich  ist,  und  auch  zum  Abendbrot,  wird 
statt  der  Butter  dick  eingekochter  Sirup  von  Runkelrüben,  sogenannter 
Siift,  gegeben. 

Das  allgewöhnliche  Frühstück  der  Landleute,  hier  und  da  auch  des 
Gesindes,  ist  der  Kaffee,  den  sich  der  Bauer,  besonders  des  Sonntags,  auch 
zur  Vesper  anthut.  —  Das  gewöhnliche  Festgebäck  ist  der  Kuchen,  der 
aber  nur  als  Streuselkuchen  und  jetzt  schon  viel  dünner  und  besser  als 
früher  gebacken  wird;  andere  Sorten  sind  den  Landleuten  fremd.  —  Die 
einst  so  beliebten  Gälbrütla  (Gelbbrotel)  zu  Ostern  sind  fast  ganz  ab- 
gekommen. Hin  und  wieder  werden  Pfannenkuchen  von  den  moderneren 
Bauersfrauen  gebacken  (Krapla  genannt). 

Für  ein  beliebtes  Gericht  als  Fastenspeise  werden  angesehen  die 
Schnickerle,  eine  Art  Klösschen  von  Schwarzmehl  (ähnlich  den  Nudeln  zum 
Gänsestopfen)  mit  brauner  Butter  und  gebratenen  Zwiebeln;  vgl.  Weinhold, 
Schles.  Wörterbuch ,  pag.  87.  Ein  Volksgericht    in    den    bis    in  unser 

Jahrhundert  überwiegend  polnischen  Gegenden  auf  dem  rechten  Oderufer 
sind  Kartoffeln,  mit  der  Schale  oder  gebraten,  zu  kalter  Buttermilch  oder 
Schlippermilch.  Ebenso  ist  es  in  denselben  Gegenden  Sitte,  Speisen  und 
Gebäck  mit  Leinöl  (oleum  lini)  zu  mechseln;  auch  dergleichen  unter 
Schweinefett  oder  Quarg  gerührt,  statt  Butter  auf  Brot  zu  streichen. 


Bilder  aus  dem  fseröischen  Volksleben. 

Von  V.  U.  Haunnershaimb. 

Aus  dem  Fseröischen  übertragen  von  Dr.  Otto  L.  Jiriczek. 


Lebensbilder  fieröischer  Volksart  und  Sitte  zu  schreiben,  war  wohl 
niemand  berufener  als  Probst  V.  U.  Hammershaimb,  der  den  grössten  Teil 
seines  Lebens  auf  den  Inseln  zugebracht  und  der  faeröischen  Sprache  und 
Litteratur  das  liebevollste  Studium  zugewendet  hat.  Die  „Folkelivsbilleder", 
die  er  für  seine  „Fasresk  Anthologi"  verfasst  hat,  sind  denn  auch  in  ihrer 
schlichten,  volkstümlichen  Erzählungsweise  und  in  ihrer  vollendeten  Ab- 
rundung  kleine  Meisterstücke. 

Die  nicht  ganz  unbedeutenden  Schwierigkeiten  des  modernen  Faeröi- 
schen dürften  das  Erscheinen  einiger  dieser  Bilder  in  deutscher  Über- 
tragung rechtfertigen,  bei  deren  Auswahl  das  volkskundliche  Interesse 
massgebend  war.     Die  Übertragung  durfte,    da  der  philologische  Wortlaut 


[56  Jiriczek: 

des  Textes  (im  Gegensätze  zu  den  vou  mir  im  II.  Baude  dieser  Zeitschrift 
mitgeteilten  fteröischen  Sagen)  keine  Rolle  spielt,  eine  freie  sein:  dass  sie 
keinen  Anspruch  auf  die  Wiedergabe  des  an  der  Sprache  haftenden 
stilistischen  Lokalkolorits  erheben  kann  noch  will,  ist  selbstverständlich. 

Herrn  Probst  Hammershaimb  sei  hier  der  beste  Dank  für  die  Er- 
laubnis zur  Übertragung  und  für  freundliche  Aufklärungen  über  mancherlei 
Schwierigkeiten  des  Textes  ausgesprochen. 


Hochzeit. 

Stattlich  war  der  Bursch,  der  älteste  Sohn  des  Bauers  zu  N. ,  der  so 
reich  waa-,  dass  er  zwölf  Mark1)  an  Königsgut  und  drei  Mark  zu  erbeigen 
[i  ödal]  besass,  und  schön  war  das  Mädchen,  das  sicli  der  Jüngling  zum 
Weibe  gewählt  hatte.  Ob  seine  Werbung  so  aufgenommen  worden  war, 
wie  man  sagt,  dass  es  sein  soll,  soll  es  recht  und  richtig  zugehen,  nämlich 
zuerst  mit  „Nein",  dann  mit  Schweigen,  und  endlich  mit  „Ja",  ist  un- 
bekannt, doch  gefreit  hatte  er,  sie  hatte  ihr  Ja  gegeben  und  die  Eltern 
zugestimmt,  und  so  war  alles  in  Ordnung.  Er  war  mit  zwei  Verlobungs- 
zeugen  beim  Pastor  gewesen,  um  sich  einschreiben  zu  lassen,  sie  waren 
in  der  Kirche  aufgeboten,  und  die  Hochzeit  für  die  zweite  Woche  hernach 
angesetzt  worden.  Weithin  verbreitete  sich  die  Kunde,  wie  viele  Tonnen 
Korn  aus  dem  Vorratshause  genommen  worden  waren,  um  Hochzeitsbrot 
zu  backen,  wie  viele  Hammel  man  zu  „skinsalcjöt"  [Schaffleisch,  mit  Salz 
bestreut,  abgekocht  und  dann  zum  Dörren  aufgehängt]  abgekocht  hatte, 
und  wie  viel  von  Schafen  man  noch  zu  schlachten  gedachte,  bis  die  Hoch- 
zeit stattfände;  ein  Ochse  und  eine  Mastkuh  standen  im  Stalle  und  sollten 
das  Leben  lassen,  damit  die  Speise  nicht  ausgehe  und  niemand  sagen 
könne,  er  sei  zu  einer  Hungerhochzeit  eingeladen  worden. 

Nun  näherte  sich  der  Freudentag,  die  Hochzeitsbitter  wurden  aus- 
gesandt, die  Gäste  zu  laden,  und  sie  hatten  sich  die  Einladung  der  Braut 
und  des  Bräutigams  zusammengestellt,  wie  sie  sie  in  den  Häusern  vor- 
bringen wollten:  die  einen  machten  sie  zu  einer  kleinen  Predigt,  die 
anderen  scherzhaft;  aber  manch  junges  Herz  schlug  unruhig,  als  der  Bitter 
in  das  Dorf  kam,  aus  Angst,  er  möchte  nicht  zu  ihnen  kommen  und  ihnen 
ein  solches  Vergnügen  entgehen.  Wo  er  eintrat  und  zur  Hochzeit  lud,  war 
er  natürlich  willkommen,  und  man  holte  die  [Branntwein-]  Flasche  hervor 
und  bot  ihm  ein  Gläschen,  und  der  Kaffeekessel  wurde  über  das  Feuer 
gesetzt  und  der  Tisch  für  ihn  gedeckt.  Doch  bei  den  meisten  entschuldigte 
er  sich,  er  habe  so  viele  Häuser  abzugehen  und  müsse  sich  deshalb  beeilen, 
er    danke    ihnen    ebenso  herzlich  dafür,    wenn  er  sich  auch  nicht  nieder- 


1)   Eine  „mark"  =  10  000  bis  20  000  Quadratelleu. 


Bilder  ans  drin  faeröischen  Volksleben.  157 

liesse  —  aber  er  musste  doch  wenigstens  das  Gläschen  in  die  Hand 
nehmen,  die  Lippen  befeuchten  und  „skal"  sagen,  ehe  er  wegging.  —  Die 
Sorge,  sie  würden  am  Ende  nicht  eingeladen  werden,  war  nun  allerdings 
von  der  Jugend  genommen;  aber  alle  konnten  ja  nicht  vom  Hause,  und 
nun  kam  die  andere  Sorge,  wer  von  ihnen  daheim  bleiben  müsse,  und 
darum  erscholl  es  von  Kindern  und  Gesinde:  „Mamma,  lass  mich  hin!  - 
Hausvater!  ich  möchte  gern  zu  der  Hochzeit  —  wann  kommt  ein  solches 
Vergnügen  wieder  für  uns!" 

Wenden  wir  uns  nun  wieder  dem  Hochzeitshause  zu  und  sehen  wir 
nach,  wie  es  dort  zugeht.  Eine  Unzahl  von  Köchen  war  bereits  acht  Tage 
vor  der  Hochzeit  hier  zusammengekommen,  einer  rannte  über  den  andern 
und  die  Thüren  standen  keinen  Augenblick  von  früh  bis  abends  zu,  son- 
dern wurden  im  ganzen  Hause  beständig  auf-  und  zugeschlagen.  Die  alte 
Hausmutter  hatte  schon  ganz  den  Kopf  verloren  über  all  den  Fragen,  auf 
die  sie  Antwort  geben  sollte,  und  wünschte  nur,  die  ganzen  Festtage  wären 
schon  vorüber. 

In  der  Rauchstube  hing  ein  grosser  Kessel  über  dem  Feuer,  in  dem 
sollte  die  Blutwurst  gekocht  werden.  Einige  der  Hochzeitsköche  standen 
hier  und  schnitten  den  Talg,  sowohl  Nierenhaut  wie  Netz,  die  das  Fett 
abgeben  sollten,  andere  Weiber  rührten  mit  dem  Quirl  Mehl  in  das  Blut 
ein  und  andere  reinigten  den  Magen,  Netzmagen  und  Dickdarm,  worein  die 
Wurstmasse  gefüllt  werden  sollte.  Im  Dörrhause  lagen  ganze  Haufen  von 
Schafsköpfen;  einer  der  Knechte  sass  dabei  und  schnitt  die  Kopfwolle  ab, 
und  zwei  Mägde  standen  am  Feuer  und  sengten  und  schabten  die  Köpfe 
ab,  dass  kein  Härchen  daran  bleibe,  über  das  sich  die  Gäste  aufhalten 
könnten.  —  Nun  kam  das  Boot  ans  Land,  das  die  ausgeborgten  Gegen- 
stäude  brachte:  Tischtücher,  Speiseschüsseln,  Speisemesser,  Porzellan,  Gläser 
und  ähnliche  Sachen  vom  Kaufmanne;  —  das  war  heikel  und  musste  gut 
aufbewahrt  werden,  damit  nichts  zerbräche,  und  darum  wollte  die  Haus- 
frau selbst  dafür  sorgen  und  es  wohl  an  einem  Orte  verwahren,  wo  es 
ohne  Gefahr  bis  zur  Benutzung  stehen  konnte.  —  Ein  langer  Querbalken 
im  Fischdörrhause,  der  von  einem  Ende  zum  andern  reichte,  war  begehrens- 
wert; denn  hier  hing  Rumpf  an  Rumpf  von  frisch  abgehäuteten  und  aus- 
geweideten Schafen  und  Lämmern.  Der  Hausherr  kommt  herauf  und 
schneidet  Hälse,  Vorrücken  und  einige  Keulen  ab,  damit  er  den  Leuten, 
die  ins  Hochzeitshaus  kämen,  frischgekochtes  Fleisch  vorsetzen  könne, 
auch  soll  es  der  Grützsuppe  Kraft  gebeu,  die  am  Hochzeitsabend1)  den 
Gästen  vorgesetzt  werden  soll.  Was  von  den  Rümpfen  noch  übrig  war: 
Schenkel,  Mittel  und  Endrücken,  Rippenpartie  und  Beine,  sollte  hängen 
bleiben,  um  am  Hochzeitstage  selbst  gebraten  zu  werden. 


1)    brüdleypsaftan,  nach  germanischer  Art  Bezeichnung  für  den  Tag  vor  der  Hoch- 
zeit!    Der  Abend  des  Hochzeitstages  heisst  fter.  brüdleypskväld.   FA.  Ords.  s.  v. 


158  Jiriczek: 

Der  Hochzeitsabeud  war  nun  gekommen;  ein  Boot  mit  acht  Leuten 
war  frühmorgens  beim  ersten  Tagesgrauen  nach  dem  Pastor  geschickt 
worden,  und  die  Ruderer  zögerten  nicht  lange  mit  der  Abfahrt,  denn  sie 
wollten  wieder  zurück  sein,  wenn  der  Tanz  begönne,  und  der  Weg  war 
lang.  Der  Hausherr  gab  ihnen  ein  Frühmahl,  und  in  das  Boot  erhielten 
sie  mehr  Speisevorrat,  als  sie  am  Wege  essen  konnten.  Die  Wassertonne 
hatte  man  nicht  vergessen,  und  auch  jenes  Tönncheu  mit  dem  Nass  nicht, 
das  keiner  verschmähte,  wenn  es  ein  paar  tüchtige  Rudergriffe  um  eine 
umbrandete  Landzunge  galt.  —  War  schon  vorher  ein  geschäftiges  Durch- 
einander im  Hochzeitshause  gewesen,  so  ging  jetzt  alles  drunter  und  drüber; 
alles  sollte  ja  für  die  Hochzeitsgäste  bereit  stehen,  die  Tische  zurecht- 
gestellt, Tücher  ausgebreitet,  Stühle  und  Bänke  herbeigeschafft  werden. 
Das  war  ein  Herumlaufen  in  der  Rauchstube,  Küche,  Glasstube  und  dem 
grossen  Zimmer,  die  Thüren  flogen  auf  und  zu  und  die  Köche  eilten  hin 
und  her.  Jetzt  kamen  Nachbarn  mit  grossen  Töpfen  Milch  und  kleineren 
mit  Sahne,  —  letztere  sollte  gleich  auf  den  Tisch  kommen,  die  Milch  erst 
gekocht  und  dann  aufgehoben  werden  —  übergenug  gab  es  da  zu  denken 
und  zu  besorgen! 

Der  Mittag  war  vorüber,  Braut  und  Bräutigam  standen  in  Sonntags- 
kleidung, die  Schenken  standen  schon  bereit  mit  der  Wein-  uud  Brannt- 
weinflasche und  Gläsern.  Jetzt  sah  man  ein  Heer  von  Hochzeitsgästen 
den  Hügel  herab  kommen,  Braut  und  Bräutigam  und  Scheuken  eilen  da 
in  das  Tun  (Hausmark)  hinaus,  um  sie  zu  empfangen  und  ins  Haus  zu 
laden.  Das  erste,  was  die  Gäste  thun,  ist,  sich  des  Fusszeugs  zu  entledigen 
und  trockene  Strümpfe  und  Tanzschuhe,  oder  Schuhe  aus  gegerbter  Schaf- 
haut anzuziehen;  dann  werden  die  Gäste  zu  den  Tischen  geführt,  um  sich 
an  Speise  und  Trank  von  der  langen  Gebirgswanderung  zu  erquicken;  da 
surrt  das  Gespräch  durcheinander,  die  Pfeifen  werden  angezündet,  und 
mancher  schiebt  sich  ein  Stück  von  der  Kautabaksrolle  zwischen  die  Zähne. 
Hier  treffen  sich  viele,  die  sich  schon  lange  nicht  gesehen,  man  fragt  sich 
aus  und  erkundigt  sich  nach  allerlei,  und  so  vergeht  eine  gute  Weile, 
bis  die  Jungen  sich  zusammenthun  und  einen  Ring  schliessen;  da  wird 
gesungen  und  getanzt  -  das  tönt  bis  auf  das  Tun  hinaus  —  der  Ring 
wächst  und  schlingt  sich  mehrfach  in  sich  selbst.  —  „Das  Pastorboot 
kommt!",  wird  in  die  Stube  hineingerufen,  und  Braut  und  Bräutigam  eilen 
zum  Landungsplatz  hinab,  um  auf  dem  Laudungssteine  das  Boot  zu  er- 
warten; —  der  Pastor  ist  nicht  allein  im  Fahrzeug;  andere  Hochzeitsgäste 
haben  ihn  gebeten,  sie  mitzunehmen.  Die  Schenken,  die  dem  Brautpaar 
auf  dem  Fusse  gefolgt  sind,  bieten  nun  Wein,  Branntwein  (oder  Cognac) 
an,  sobald  jemand  den  Fuss  auf  das  Land  setzt.  Erst  jetzt  treten  Braut 
und  Bräutigam  in  den  Tanz  ein,  uud  können  sich  die  Gäste  voll  dem 
Vergnügen  hingeben;  denn  ein-  oder  das  andere  Mal  ist  es  schon  ge- 
schehen,   besonders    auf    den  Nordiuseln,    dass   der  Pastor  nicht   am  fest- 


Bilder  aus  dem  t'seröisrhen  Volksleben.  159 

gesetzten  Tage  kam,  da  er  auf  den  Aussenschären  vom  Wetter  gebunden 
sitzen  bleiben  musste  und  vor  Brandung  und  Seesturm  nicht  loskommen 
konnte:  da  musste  die  Trauung  bis  zu  seiner  Ankunft  verschoben  werden 
und  es  machte  sich  sehr  fühlbar,  dass  da  etwas  fehlte,  was  nicht  fehlen 
durfte.  Der  Tanz  ging  fröhlich  fort,  und  war  ein  Lied  oder  eine  Helden- 
ballade zu  Ende,  so  fand  sich  gleich  ein  anderer,  einen  neuen  Sang  zu 
beginnen,  und  so  ging  es  fröhlich  und  lustig  fort,  bis  der  Hauptkoch  zum 
Nachtmahle  einlud.  Da  setzten  sich  die  Gäste  zu  Tisch  und  erhielten 
Suppe  mit  Fleischklössen  und  Rüben,  Blutwurst,  Hammelköpfe,  Erdäpfel, 
Brot  und  Butter.  Nach  dem  Nachtmahle  wurde  nicht  mehr  getanzt,  sondern 
jeder  suchte  sein  Nachtquartier  auf,  das  ihm  bei  den  Nachbarn  und  in  den 
nächstgelegenen  Siedelungen  angewiesen  worden  war,  und  war  froh,  konnte 
er  nur  ein  Lager  auf  dem  Fussbodeu  wo  immer  bekommen.  So  war  der 
eiste  Tag  der  Hochzeit  vorbei;  ein  oder  der  andere,  der  noch  kein  Schlaf- 
bedürfnis spürte,  trieb  sich  bei  dem  Schenken  herum  und  liebäugelte  mit 
der  Flasche,    die    jener    hatte;    doch  es  dauerte  nicht  lange,    so  war  alles 

ruhig. 

Nun  war  der  Hochzeitstag  angebrochen;  die  Jugend  konnte  vor  Freude 
nicht  lange  schlafen,  und  schon  frühmorgens  hörte  man  im  Tun  und 
Hochzeitshause  Menschenstimmen.  Jetzt  wurde  allen  Kaffee  mit  Weiss- 
brot und  Zwieback  vorgesetzt,  die  Pfeifen  wurden  angezündet,  und  draussen 
und  drinnen  hörte  man  lautes  Gespräch,  die  Burschen  scherzten  mit  den 
Mädchen  und  schwatzten  viel  mit  einander,  ebenes  und  unebenes.  Die  Zeit 
verfloss  rasch,  die  Morgenmahlzeit  wurde  aufgetragen,  und  abermals  wurden 
die  Gäste  zu  Tisch  geladen;  da  war  kein  Mangel  an  Schafschinken,  denen 
Blutwurst,  Brot  und  Butter  folgten. 

Die  Weiber  begannen  nun,  sich  in  die  Staatskleidung  zu  werfen, 
die  sie  in  der  Kirche  anhaben  sollten,  und  Frauen  waren  die  Braut  zu 
schmücken  gegangen,  und  das  wollte  seine  Zeit  haben,  wie  das  Sprichwort 
sagt:  „eine  Braut  zu  schmücken  braucht  Weile."  Es  geht  gegen  Mittag, 
und  noch  immer  deutet  nichts  auf  den  Kirchgang;  die  Leute  fangen  daher 
an,  ungeduldig  zu  werden,  und  mehr  als  einmal  hört  man:  „Heute  wird 
der  Brauttanz  spät  beginnen."  Endlich  kommt  doch  die  Botschaft,  die 
Braut  sei  fertig,  aber  unglücklicherweise  hört  man  gleichzeitig,  dass  die 
zweite  Brautgeleiterin  und  mehrere  Krauzjuugfern  noch  nicht  aus  der 
Kammer  gekommen  sind,  es  fehlt  noch  dies  und  das:  die  eine  muss  sich 
noch  das  Haar  in  die  Stirne  kämmen  lassen,  die  andere  es  sich  teilen 
lassen,  die  dritte  flechten,  und  darum  muss  man,  mit  wenig  Lust,  doch 
noch  etwas  warten.  —  Endlich  steht  die  Sache  doch  so,  dass  dem  Pastor 
gemeldet  wird,  man  wolle  nun  zur  Kirche,  und  so  verschwindet  er  und 
der  Küster. 

Jetzt  ertönt  Glockengeläute,  das  Brautpaar  tritt  in  das  Tun,  Büchsen- 
schüsse krachen,    und  die  kleinen  Jungen,    die  keine  Büchse  haben,    und 


]fifl  .Firiczek: 

es  Joch  mit  den  Erwachsenen  gleich  halten  wollen,  rennen  mit  aufgetriebenen 
Lammsblasen  herum,  und  zerschlagen  sie  vor  dem  Brautpaare.  Lang  war 
der  Zug,  der  in  die  Kirche  sollte,  und  es  dauerte  lange,  ehe  man  alle  zu- 
sammenpaarte, je  zwei,  ein  Bursch  und  ein  Mädchen.  —  Die  Brautmesse 
war  gehalten,  die  Lieder  abgesungen,  alle  hatten  am  Opfer  teilgenommen  — 
gar  mancher  Angst  im  Herzen,  sich  ungeschickt  zu  benehmen,  so  z.  B. 
etwa  die  Verneigung  und  Verbeugung  vor  dem  Brautpaare  zu  vergessen, 
als  es  aus  dem  Chore  zurückkam;  denn  sie  wussten  sehr  gut,  dass  solches 
nicht  unbeachtet  bliebe,  sondern  bei  Tisch  zum  allgemeinen  Vergnügen 
preisgegeben  würde,  wenn  das  Hinterstück1),  geschmückt  mit  farbigen 
Bändern,  vom  Oberkoche  mit  einem  scherzhaften  Reime  den  Gästen  vor- 
gesetzt wurde,  damit  sie  darüber  ihr  Sprüchlein  machten;  --  niemand,  zu 
dem  das  Hinterstück  kam,  durfte  es  zum  Nächsten  schieben,  ehe  er  sich 
nicht  durch  ein  Reimlein  gelöst  hatte.  —  Da  läutet  es  wieder,  und  nun 
geht  es  aus  der  Kirche  heim,  Büchsen  knallen,  Blasen  bersten,  das  ganze 
Gefolge  geht  zurück,  wie  es  kam  —  Braut  und  Bräutigam  stehen  im 
Hochzeitshause  mitten  in  der  Stube,  und  nun  kommt  der  Pastor  und  die 
ganze  Schar,  um  ihnen  Glück  zu  wünschen.  Die  Köche  treten  ein,  ent- 
bieten zur  Mahlzeit,  und  weisen  jedem  den  Sitz  an;  das  Brautpaar  auf  dem 
Hochsitz,  Brautführer  und  Brautführerinnen  beiderseits  von  ihnen,  und  so 
weiter,  wie  es  zur  Kirche  ging.  Die  Mahlzeit  besteht  aus  Fleisch-  oder 
Grützsuppe,  Ochsen-  und  Lammsbraten,  worauf  Bäckereien  folgen;  die 
Schenken  sind  nicht  lässig  im  Nachfüllen  leerer  Gläser.  Die  Gäste  sind 
lustig  und  manches  Scherzwort  fällt  bei  Tisch  und  weckt  Gelächter. 

Nun  merkt  man,  dass  die  Köche  wünschen,  die  Gäste  möchten  sich 
erheben  und  der  zweiten  Tischgesellschaft  Platz  machen;  daher  wird  der 
Psalm  nach  Tische  gesungen  und  für  die  Mahlzeit  gedankt.  Nachdem  die 
zweite  Gesellschaft  abgegessen,  beginnt  man  an  die  Anordnung  des  Braut- 
tanzes zu  denken,  während  die  dritte  Gesellschaft  speist,  und  alle,  die  frei 
sind,  sammeln  sich  in  der  Tanzstube,  und  der  Küster  hebt  das  Braut- 
lied an: 

„Ihr  ehrlichen  Brautleute,  achtet  nun  wohl 2)",  wie  der  Sendbote 

Abrahams  Rebekka  dahin  brachte,  ihm  nach  Kanaan  zu  folgen  und  Isaaks 
Frau  zu  werden;  meist  folgt  dann  die  Susannenweise  und  noch  ein  drittes 
ernsthaftes  Lied,  und  daran  schliessen  sich  Heldenlieder  und  Balladen,  und 
der  Tanz  geht  ununterbrochen  die  ganze  Nacht  hindurch  bis  zum  nächsten 
.Mittag.  Es  kommt  der  dritte  Tag;  am  Morgen  begeben  sich  alle  Gäste 
in  das  sogenannte  „Brauthaus";  Braut  und  Bräutigam  sitzen  hier  an  einem 
Tische,  schenken  selbst  Wein  oder  Rum  und  bieten  allen,  die  mit  den 
Hochzeitsgeschenken    herkommen,    grosse  Becher  an,  —  und  nicht  selten 


1)  Faer.  drunnar  „Hinterteil  und  Schwanz  eines  Rindes",  FA.  Ords.  s.  v. 

2)  Im  Originale  dänisch;  altes  Kirchenlied. 


Bilder  aus  dem  fseröischen  Volksleben.  lfil 

wird  hier  des  Guten  zuviel  gethan;  der  Tanz  wird  nun  munterer  und 
polternder.  Das  ist  der  letzte  Tag,  und  heisst  Abfahrtstag;  die,  welche 
von  weither  kamen,  fahren  zuerst,  damit  sie  noch  bei  Tageslicht  nach 
Haus  kommen;  die,  welche  einen  kürzeren  Weg  haben,  weilen  oft  im 
Tanze  bis  zur  Dämmerung  und  sind  dann  nicht  selten  vom  Singen  ganz 
tonlos  und  heiser  wie  Enteriche.  Noch  eine  Mahlzeit  wird  ihnen  geboten, 
ehe  sie  fahren.  Die  Staatskleider  werden  in  Kleidersäcke,  Kisten  oder 
Bündel  gelegt:  dann  nehmen  alle  mit  Kuss  Abschied  und  danken  für  gute 
Gesellschaft  und  Vergnügen.  Am  Sonntage  darauf  findet  die  „Haus- 
hochzeit" statt;  da  kommen  die  Köche  uud  nächsten  Verwandten  zu  Gast, 
hernach  wird  wieder  am  Abende  getanzt,  und  damit  ist  das  Hochzeitsfest 
zu  Ende. 

Hausbau. 

Der  jüngere  Sohn  des  Erbbauern  N.  iu  Mikines  hatte  sich  mit  einem 
Mädchen  von  der  Hauptinsel  verlobt  und  sehnte  sich  danach,  sie  bald  auf 
seine    Insel    heimzuführen.     Der  Vater   hatte  nichts  gegen  die  Heirat  ein- 
zuwenden uud  versprach  ihm  beim  Hausbau  zu  helfen.    Im  Winter  zog  er 
Steine,   die  oben  im  Gebirge  gebrochen  wurden,    heim,    denn  in  den  An- 
siedelungen hier  ist  kein  Stein  zu  sehen;    er    benutzte  hierzu  den  Stein- 
schlitten,   wenn  es  so  hart  gefroren  war.    dass   der   Schlitten  nicht  in  den 
Mooren  oberhalb  des  Hauses  versank.    So  wurde  denn  auf  dem  Bauplatze 
der  Grund    gelegt,    unmittelbar    auf   den    harten  Erdboden,    wo    er  nicht 
sumpfig  war,    und  aus  hübschen  flachen  Steinen  errichtet.     Das  Frühjahr 
kam,    und    nun   sollte  vom  Kaufmanne  alles  Material  zu  den  Häusern  ge- 
nommen werden:  Holz,  Birkenrinde,  Teer,  Nägel,  Ziegel,  Kalk,  Öfen  und 
anderes,    und   alles  das  wurde  auf  einem  Schiffe  nach  Sörväg  geführt  und 
dort  aufgestapelt;    denn    das  Fahrwasser  um  Mikines  ist  stets  so  unruhig, 
dass  man  nicht  daran  denken  kann,    dort  eine  Schiffsladung  auszuschiffen. 
So  musste    man    denn    die    Dorfbewohner    bitten,    alles    den    langen    und 
schwierigen  Weg  von  Sörväg   heraus  zu    transportieren;    der  Mikinesfjord 
mit    seiner    starken   Strömung  lässt  nicht  mit  sich  spassen;    doch  machte 
keiner   der  Männer  Schwierigkeiten,   jeder    versprach  nach  einer  Ladung 
fahren  zu  wollen,  sobald  Meeresstille  eintrete,  und  alle  gaben  ihre  Zusage 
gerne.    Balken  und  Bretter  nebst  dem  anderen  Materiale  wurden  glücklich 
auf  die  Insel  geschafft,    ohne  dass  ein  Schaden  geschah,    und  nun  musste 
man  daran  denken,    sich   einen  der  besten  Zimmerleute  der  Insel  zu  ver- 
schaffen,  dass  er  die  Arbeit  leite,    und  andere,    dass  sie  ihm  hülfen.     Der 
bereits    gelegte   Grund    zeigt,    wie    gross   die  Wohnhäuser  werden  sollten; 
so  werden  denn  die  Ober-  und  Unterbalken,    sowohl  die  Lang-  als  Quer- 
balken   erst    verfertigt,    dann  in  einander  in  den  Ecken  eingefalzt  und  in 
der  Mitte  zusammengestossen,  alles  so  solid,   dass  nichts  auseinandergehen 
kann,    wenn    der  Nordwestwind   mit  seinen  grimmigen  Griffen  das   Dach 


162  .Tiriczek: 

packen  sollte;  denn  mag  dieser  Wind  anderwärts  auch  erträglich  sein,  so 
brausen  und  sausen  hier  (infolge  der  Gebirgsformation)  die  scharfen 
Wirbel,  die  er  von  oben  auf  die  Ansiedelung  sendet,  so,  dass  das  Haus 
zusammenzubrechen  droht;  darum  gilt  es,  die  Häuser  stark  zu  bauen  und 
sich  vorzusehen,  dass  sie  der  Wind  nicht  niederreisse.  Das  Riegelwerk 
war  fertig,  die  Scheidebalken  gelegt,  jeglicher  Balken  mit  seiner  Falz,  in 
die  die  Eckpfosten  und  Stolpen,  sowie  die  beiden  Enden  der  Wandbretter 
gelegt  werden  sollten:  auch  die  Querbalken,  die  den  Fussboden  tragen 
sollten,  lagen  bereits.  Jetzt  galt  es,  das  Sparrenwerk  aufzustellen;  die 
Hahnenbalken  waren  alle  fertig  und  nach  den  Unterbalken  zugemessen; 
die  Eckpfosten  und  Stolpen  wurden  aufgestellt,  die  Querbalken  fest  in  sie 
und  die  Unterbalken  beiderseits  eingestossen,  und  die  Spreizbalken  in  die 
Halmenbalken  eingesetzt. 

Das  Dachgerüste  ragte  nun  empor,  und  man  musste  sich  beeilen, 
die  Bekleidung  aufzusetzen,  damit  der  Wind  keinen  Schaden  anrichte. 
Das  Sägegestell  hatte  keinen  Tag  geruht,  Balken  und  Bretter  wurden 
gesägt,  und  jedes  Menschenkind  auf  der  Insel,  das  einen  Hobel  halten 
konnte,  war  unter  die  Handwerker  aufgenommen  worden,  um  zu  helfen, 
und  man  konnte  allen  ansehen,  dass  hier  keine  Faulheit  herrschte,  sondern 
jeder  sich  beeilte,  so  gut  er  konnte.  Die  Sparren  wurden  aufgestellt  und 
mit  den  Querspreizen  verbunden,  zusaminengestossen,  je  eine  Halbsparre 
mit  dem  oberen  Ende  in  die  andere,  mit  dem  unteren  in  das  Hahnen- 
sebälke,  und  am  Ende  die  „skälkar"  (Holzstücke)  angenagelt,  die  das 
„Wasserbrett"  tragen  sollen,  auf  dem  der  Torfliälter  (schiefes  Brett,  das 
den  Torf  am  Herabgleiten  hindert)  angenagelt  wird:  hierbei  gilt  es  auf- 
zupassen, dass  das  Lager  für  die  „skälkar"  nicht  zu  gross  wird,  denn  sonst 
können  Sprünge,  besonders  Frostsprünge,  grossen  Schaden  anrichten, 
namentlich,  wenn  das  Dach  bloss  einen  rechten  Winkel  bildet.  Oft  wird 
eine  Steinwand  der  einen  Mauer  des  Hauses  vorgeschoben,  und  zwar  ent- 
weder gemauert  oder  aus  Steinen  und  Torfstücken  gesetzt,  und  das  Dach 
über  den  Gang  zwischen  der  äusseren  und  inneren  Mauer  hinausgebaut. 
Dann  wurden  die  Hahnenbalken  aufgesetzt,  um  die  Sparrenpaare  zusammen- 
zuhalten und  der  letzte  Sparren  auf  dem  Giebel  erhielt  seinen  Balken. 
Darauf  begann  man  zu  decken;  die  Schindeln  wurden  aufgelegt  und  sorg- 
fältig Brettkante  an  Brettkante  auf  die  Sparren  genagelt,  der  Giebel  auf 
die  Falzbekleidung  aufgelegt,  und  ein  Fenster  eingeschnitten,  damit  Licht 
in  den  Boden  falle.  Während  man  so  am  Dachstuhle  arbeitete,  hatte  man 
unten  nicht  gerastet,  sondern  alles  gethan,  die  Arbeit  zu  fördern,  damit 
die  Häuser  vor  dem  Winde  abgesperrt  stünden.  Obzwar  man  keine 
übergreifende  Bretterverkleidung  haben  wollte,  wurde  gleichwohl  eiligst 
gearbeitet:  die  Bretter  lagen  alle  zurech tgehauen,  gehobelt  und  mit  Falzen 
zum  Ineinandergreifen  versehen,  die  Fensterrahmen  waren  eingesetzt  und 
in   der  Eile  wurden   sie   provisorisch  mit  Brettern  verschlagen.     Jetzt,    da 


Bilder  aus  dem  foeröischen  Volksleben.  163 

das  Haus  geborgen  war,  konnten  alle  Leute  in  der  Ansiedlung  ruhig 
schlafen,  wenn  der  Wind  kam.  Am  ersten  schönen  Tag  darauf  sollte  das 
Dach  gedeckt  werden  und  dabei  musste  alles  Volk  in  der  kleinen  Siede- 
lung  helfen.  Die  Zimmerleute  begaben  sich  auf  das  Dach,  legten  die 
Birkenrinde  auf  und  befestigten  die  Torfhälter  über  derselben  am  Wasser- 
brett, setzten  die  Windbretter  vor  die  Giebel  und  schlugen  die  Riegel, 
die  sie  halten  sollen,  fest.  —  Zahlreiche  Leute  graben  draussen  Torf- 
stücke, die  auf  die  Birkenrinde  gelegt  werden;  zum  Transporte  der  Torf- 
stücke nach  Haus  bedient  man  sich  der  Pferde;  die  Frauenzimmer  winden 
Heubänder  zum  Überlegen  über  die  Torfstücke,  damit  sie  nicht  reissen, 
ehe  sie  fest  geworden  und  die  Rasenziegel  zusammengewachsen  sind,  und 
lange  Zweige  werden  oben  aufgelegt,  damit  die  Torfziegel  halten  und  nicht 
herabrutschen,  sich  nicht  aufwerfen  und  vom  Dache  stürzen.  Wird  die 
Belegung  gut  vorgenommen,  so  kann  ein  solches  Rindendach  ein  halbes 
Jahrhundert  stehen,  ohne  Sprünge  zu  bekommen.  Während  die  Bauleute, 
nun  nicht  mehr  unter  freiem  Himmel,  sondern  das  Dach  über  sich,  ge- 
schützt vor  dem  Wetter,  es  mag  draussen  zugehen  wie  es  will,  die  Arbeiten 
ausführen  können,  die  noch  zu  besorgen  sind,  als  da  ist:  Boden  und  Decke 
legen,  Wände  täfeln,  Fenster  einsetzen,  mauern,  Öfen  errichten,  Fallstücke 
auf  die  Hahnenbalken  zwischen  die  Querbalken  setzen,  Thüren  einsetzen 
und  dergleichen  Kleinigkeiten  mehr,  haben  sich  andere  daran  gemacht. 
aus  Stein  und  Torf  die  Wände  der  Rauchstube  aufzuführen,  die  am  oberen 
Ende  an  das  Haus  angebaut  werden  soll,  doch  so,  dass  das  Dach  bisweilen 
etwas  niedriger  ist  und  nur  bis  etwa  zur  Hälfte  des  Hausgiebels  reicht. 
Innerhalb  der  Mauern  kommt  dann  Riegel-  und  Sparrenwerk,  getragen  von 
Stolpen,  und  trägt  das  Dach  wie  in  den  anderen  Häusern.  Der  schmale 
Gang  zwischen  den  Wänden  und  der  Panelierung  wird  zu  Alkove-  Schlaf- 
stellen verwendet,  die  mittels  einer  Sehubthür  von  der  Rauchstube  aus 
zugänglich  sind.  Zur  Bedachung  der  Rauchstube  verwendet  man  selten 
Birkenrinde,  sondern  legt  nur  Stroh  unter  die  Torfrasenziegel;  über  die 
Alkoven  legt  man  jedoch  meist  Birkenrinde. 

Unter  dem  Hausbau  kam  ein  Mann  aus  Thorshavn  her  nach  Westen; 
er  gedachte  hier  zu  übernachten,  doch  heftige  Brandung  zwang  ihn.  mehrere 
Tage  auf  der  Insel  zu  weilen.  Er  schlenderte  im  Dorfe  herum  und  liess 
sich  in  ein  Gespräch  mit  den  Bauleuten  ein  und  begann  sie  zu  fragen, 
welchen  Taglohn  ein  Handwerker  hier  im  Westen  bekäme.  Sie  ant- 
worteten, sie  wüssten  es  nicht;  er  glaubte,  er  habe  sich  schlecht  aus- 
gedrückt, und  der  Mann  habe  nicht  verstanden,  was  er  meine,  und  brachte 
deshalb  nochmals  seine  Frage  vor;  doch  der  Zimmermann  antwortete: 
„Wir  denken  an  keinen  Lohn  für  unsere  Arbeit,  sobald  das  Haus  fertig 
ist.  wird  ein  Fest  abgehalten,  und  dazu  kommen  wir  alle;  —  hier  will 
einer  sich  niederlassen,  der  unserer  Hilfe  bedarf;  sollten  wir  jemals  in  die 
Lage  kommen,    ihn  um  seine  Hilfe  anzusprechen,   so  wissen  wir,   dass  er 


jg^  Jiriczek: 

damit  uicht  zögern  wird."  Diese  Antwort  prägte  sich  der  Nordmann  gut 
ein.  um  nachher  erzählen  zu  können,  was  auf  Mikines  Brauch  sei  und  wie 
hilfreich  hier  im  Westen  einer  gegen  den  anderen  sei. 

Der  Ansiedler  und  seine  junge  Frau  haben  uns  gebeten,  nach  Westen 
zu  kommen  und  sie  den  kommenden  Sommer  am  St.  Svitunstag  (2.  Juli) 
zu  besuchen,  wenn  es  das  Wetter  erlaubt.  Wie  unser  Boot  um  die  Land- 
zunge gleitet  und  gegen  die  Kluft  zufährt,  erblicken  es  Leute,  die  am 
Berge  stehen  und  melden  die  Ankunft  der  Gäste.  Die  Gatten  eilen  herab, 
um  uns  zu  empfangen  und  führen  uns  von  dem  felsigen  Strande  hinauf  zu 
ihrem  Hofe.  Der  Weg  geht  am  Fischdörrhause  [fiskahjallur]  vorbei,  zu 
dem  wir  zuerst  kommen:  die  Giebelwände  beiderseits  sind  wohl  gearbeitet, 
die  dazwischen  befindlichen  Sprossen  frisch  geteert;  wir  gucken  hindurch 
und  sehen  ein  Bündel  Kohlenfische  und  ein  anderes  mit  Kleinfischeu 
drinnen  hängen  und  die  Querstangen  voll  "von  ausgeweideten  und  paar- 
weise zusammengebundenen  Fischen1).  In  der  Nähe  des  Hofes  steht  das 
Fleischdörrhaus;  ein  Holzschloss  ist  vorgelegt,  doch  steckt  der  Schlüssel 
und  wir  können  eintreten,  um  nach  dem  Dörrfleische  zu  sehen:  doch 
ist  davon  wenig  vorhanden,  da  das  Jahr  schon  so  weit  vorgeschritten  ist; 
das  Dörrhaus  ist  gut  gearbeitet,  die  Sprossen  schmal,  damit  der  Wind 
tüchtig  durchziehen  kann,  die  Eckpfosten  stark  und  mit  Querbändern  gut 
befestigt,  und  ein  dicker  Gürtel  läuft  um  die  Mitte  der  Sprossen;  Eisen- 
stangen aus  dem  Riegelwerk  in  den  vier  Ecken  sind  mit  dem  untersten 
Steine  der  Steinhaufen  verbunden,  auf  denen  das  Riegelwerk  ruht,  damit 
der  Wind  das  Dörrhaus  nicht  vom  Grunde  losreisse.  Das  dritte  Aussen- 
haus  (Wirtschaftsgebäude)  ist  der  Kuhstall,  der  dem  Hofe  zunächst  stellt. 
gerade  gegenüber  der  Rauchstubenthür;  das  ist  hier  wie  überall  auf  den 
Inseln  ein  niederes,  finsteres  und  unappetitliches  Stein-  und  Torf-Gebäude. 
Sie  besassen  eine  Kuh  und  eine  Färse,  die  beide  im  Freien  weideten,  und 
ein  Stierkalb,  das  im  Hauszaune  stand  und  brüllte.  Wir  gelangen  jetzt 
zu  den  Wohnhäusern.  Infolge  des  trockenen  Frühjahres  war  das  Holz 
frühzeitig  gesprungen  und  konnte  nunmehr  innen  und  aussen  endgiltig 
verschlagen  werden .  und  nun  war  alles  fertig  und  von  aussen  geteert. 
Wir  erfassen  das  Klinkenband,  öffnen  und  gehen  durch  die  Yorstube.  in 
der  die  Mühle  steht,  in  die  Rauchstube.  Hier  war  kein  Fenster,  das  Licht 
fiel  durch  die  Luke  mitten  in  der  Dachwölbung  herein.  Unser  Blick  fiel 
zuerst  auf  den  Lukenrahmen-),  der  mit  dem  Messer  schön  geschnitzt  und 
mit  Namen  und  Jahreszahl  versehen  war;  die  Deckhaiit  war  mittels  der 
Hebestauge,  die  an  einem  Querbalken  angebunden  war.  aus  dem  Rahmen 
gehoben.     Über  dem  Feuer  in  der  Esse  hing  an  einem  Haken  ein  Kessel 


1)  Grössere  Fische    werden  ausgeweidet,    um   schneller  zu  dorren,    kleinere  bleiben 
trauz    Mitt.  Haniinershaimbs). 

2)  genauer:    Ijöarabogi;    zur  Erklärung   vergl.  Jahrgang  11  dieser  Zeitschrift,  S.  155, 
Anmerkung. 


Bilder  aus  dem  feeröischen  Volksleben.  165 

und  herum  standen  Sitzbänke,  unter  denen  Torfstücke  lagen,  Dreibeine, 
Baumstümpfe  und  Walrückenwirbel  zum  Sitzen;  an  den  Wänden  und 'den 
Alkoven  liefen  Bänke.  Von  dem  gestampften  Erdboden  der  Rauchstube 
treten  wir  über  eine  Thürschwelle  in  die  Glasstube,  die  ungefähr  acht 
Ellen  tief,  sechs  lang,  und  drei  innerhalb  des  Gebälkes,  somit  gute  viert- 
halb zwischen  Fussboden  und  Decke,  hoch  war;  hier  standen  Tische,  Stühle, 
Kisten  und  Betten.  Von  hier  gelangten  wir  in  eine  Küche,  wo  ein  Herd 
zum  Feuern  der  beiden  Öfen  stand,  die  sich  in  der  Kammer  und  in  der 
letzten  und  schönsten  Stube  befinden.  Von  der  Küche  führt  eine  Thür  in 
das  Tim,  durch  die  mau  Unbekannte  führt,  wenn  man  sie  ehren  und  in 
die  Hauptstube  geleiten  will;  hier  war  auch  eine  Leiter,  auf  der  man  auf 
den  Boden  steigen  konnte,  wollte  man  sich  dort  nach  den  Vorräten  an 
Wolle,  Getreide  und  ähnlichein  umsehen;  Roggen,  Stroh  und  ähnliches 
waren  in  die  Winkel  gelegt  worden.  Alles  das  war  schön  zu  sehen,  das 
beste  aber,  was  mau  sehen  konnte,  war  die  Freude,  die  von  den  Gesichtern 
des  jungen  Ehepaares  strahlte,  dass  sie  alles  das  besassen  und  gegeneinander 
so  gut  waren,  dass  sie  sich  Glück  und  gute  Tage  für  die  Zukunft  erhoffen 
durften. 

Die  Ausfahrt. 

Von  den  Fa^ringern  geht  das  Wort,  dass  sie  mit  einem  Ruder  in  der 
Hand  zur  Welt  kommen.  Das  ist  wohl  eine  Übertreibung  und  nicht  buch- 
stäblich zu  nehmen;  doch  das  ist  richtig,  dass  die  meisten  Kinder,  die  hier 
geboren  werden,  schon  eine  Seefahrt  mitgemacht  und  oft  einen  recht  un- 
angenehmen Sturm  im  Boote  überstanden  haben,  noch  ehe  sie  zwei  Wochen 
alt  waren;  denn  länger  lässt  man  ungern  die  Kinder  ungetauft,  und  führt 
sie  daher  oft  weite  Strecken  dem  Priester  zur  Taufe  zu,  es  sei  Sommer 
oder  Winter.  Und  das  erste,  womit  die  Jungen  zu  spielen  beginnen,  sind 
kleine  Boote,  die  sie  zu  ihrem  grössteu  Jubel  in  Wassertonnen,  Pfützen 
oder  im  Bache  und  unter  der  Wasserrinne1)  in  der  Hausmark  schwimmen 
lassen.  Alle  Bygden  (Dörfer)  liegen  am  Strande,  mit  Ausnahme  eines 
Fleckens  auf  Nordstreymoy,  der  zur  Bygd  „i  Kollafirdi"  gehört.  Legt  nun 
ein  Boot  an,  so  kommen  die  Kinder  zum  Strande  hinab  und  bitten,  sie  in 
das  Boot  zu  lassen,  während  die  Ladung  gelöscht  wird,  und  ist  es  leer 
und  die  Brandung  nicht  besonders  schlimm,  wird  ihnen  gern  die  Erlaubnis 
gegeben,  ein  Stückchen  vom  Lande  zu  fahren  und  zu  rudern,  so  gut  sie 
es  eben  treffen,  wenn  auch  die  Griffe  nicht  just  so  sind,  wie  sie  sein  sollten. 
Die  Ruder,  die  hier  gebräuchlich  sind,  sind  leicht  zu  handhaben,  kurz,  mit 
schmalem  Blatt,  damit  man  das  Boot  schützen  und  die  Woge  einschlagen 
kann,    die  in  das  Boot  zu  stürzen  droht;    es  dauert  daher  gamicht  lange, 


1)    feer.    Uxkja    „eine  in  einem  Bache    (wo  er  einen  kleinen  Fall  bildet)   angebrachte 
Rinne,  durch  die  das  Wasser  läuft  und  woher  man  das  Wasser  holt"  FA.  Ordsaml.  s.  v. 
Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde,    usas.  15J 


166  Jiriczek: 

bis  der  Junge  ein  Ruder  halten  und  so  führen  kann,  dass  man  es  merkt, 
wenn  er  mit  den  anderen  Männern  an  der  Reeling  sitzt,  und  daher  kommt 
es,  dass  man  sie  oft  schon  in  früher  Jugend  zur  Ausfahrt  mitnimmt,  damit 
sie  sich  früh  an  die  See  gewöhnen:  denn  das  ist  ja  das  grösste  und  beste 
im  Leben  für  den  Faering. 

Es  war  zur  Zeit  der  Lichtmesse;  die  Fischerei  im  Hochwinter  war 
kärglich  ausgefallen,  denn  das  Wetter  war  ungünstig  zur  Ausfahrt  ge- 
wesen, und  die  langen  "Wochen  erzwungener  Unthätigkeit  hatten  viele 
Familien  der  Armut  nahegebracht;  denn  wo  die  See  ihren  Beitrag  versagt, 
herrscht  Not  auf  den  Faeröern.  Jetzt  aber  verbreitete  sich  die  Nachricht, 
dass  sich  der  Februarschellfisch  vor  Nolsö  gezeigt  habe,  und  somit  musste 
man  darauf  bedacht  sein,  Muscheln  und  Meerschnecken  zum  Köder  zu 
sammeln,  und  darüber  verging  ein  Tag.  Die  Strömung  ging  gerade  hart, 
und  da  fischt  es  sich  am  besten  nach  der  Steinscholle;  doch  diese  Strömung 
gehörte  zu  den  argen,  da  der  Mond  der  Erde  zunächst  stand,  und  deshalb 
war  es  ein  gefährliches  Wagestück,  auszufahren,  wenn  nicht  ruhiges,  an- 
dauerndes Wetter  herrschte.  Leicht  begreiflich,  dass  die  Fischer  überall 
in  schlechtem  Humor  und  geringer  Geduld  am  Lande  umhergegangen 
waren  und  ausgespäht  hatten,  ob  das  Wetter  Gelegenheit  zur  Ausfahrt 
geben  werde,  denn  sie  sehnten  sich  alle  hinauszukommen  und  aus  der 
See  wieder  eine  Mahlzeit  zu  holen!  —  Nun  aber  war  eine  Ruhepause  ein- 
getreten, der  Wind  legte  sich  gegen  Abend,  der  Wolkenzug  hörte  fast  auf, 
so  dass  mau  ihn  nur  am  Monde  vorbeitreiben  sah.  Der  Tag  brach  in 
vollem  Sonnenschein  an;  schon  nach  Mitternacht  hatte  N.  alle  Bootsleute 
geweckt  und  sie  angetrieben,  rasch  zum  Felsabsatz  herabzukommen  und 
die  Köder  an  der  Leine  zu  befestigen.  Er  versprach  sich  einen  guten 
„Weckfisch"1)  heute,  weil  sich  grosse  Frühjahrsfische  im  Steinschollenzuge 
befanden;  der  „Weckfisch"  und  „Haltefisch"  fallen  ausserhalb  der  Teilung 
jenen  zu,  welche  wecken,  beziehungsweise  das  Boot  am  Fischstande  stille 
halten,  als  Lohn  für  die  Arbeit,  die  den  anderen  allen  zu  gute  kommt. 
Bei  dem  Befestigen  des  Köders  wurden  auch  die  Schnüre  und  Haken 
untersucht,  ob  sie  wohl  angebunden,  ob  kein  Schade  am  Haken  sei,  weder 
an  seinem  Halse  noch  am  Bogen,  am  Schnabel  oder  am  Köderhalter.  Eine 
Weile  darauf  waren  sie  vom  Lande  abgestossen,  der  Morgensang  erklang, 
so  dass  man  ihn  weithin  in  allen  Gehöften  hörte: 

„Auf  Deine  Gnade  bau'  ich, 

geb'  mich  in  Deine  Hand  .  . .  ." 2) 


1)  fasr.  vökufiskur,  vaMafiskur:  „Fisch,  den  derjenige  zum  Lohne  erhält,  der  die 
Bootsmannschaft  frühmorgens  weckt  und  versammelt"  (FA.  Ords.  s.  v.);  vergl.  gleich  unten 
im  Texte. 

2)  Im  Originale  dänisch;  aus  Hans  Thomissöns  Kirchenlied:  ^Jeg  vil  nüg  Herren 
luve"   (mitgeteilt  von  Pr.  Hammcrshaimb). 


Puder  aus  dem  feeröischen  Volksleben.  167 

und  die,   so  daheim  geblieben  waren,  legten  ihr  Gebet  hinzu:    „Jesus  sei 
mit  ihnen  und  sende  sie  wohlbehalten  zurück!" 

Sie  hatten  gutes  Wetter  auf  dem  Wege  zur  Fischbank,  doch  die 
Strömung  ging  scharf  und  die  Westflut  brauste  wie  ein  Wasserfall,  und 
als  sie  um  die  Landzungen  hinaus  kamen,  gingen  die  Wogen  so  hohl,  dass 
sie  kaum  den  obersten  Rand  von  Nolsös  steiler  Südküste  sahen,  wenn  sich 
das  Boot  im  Wellenthaie  befand.  Eine  kleine  Weile  ging  der  Wind  von 
Süden  und  die  Strömung  folgte  nun  der  Windrichtung  und  setzte  die  See 
in  Aufruhr;  sie  trösteten  sich  damit,  dass  die  See  glätter  würde,  wenn  die 
Flut  vorbei  wäre.  Sie  hatte  ihren  Höhepunkt  überschritten,  als  sie  zu 
den  Fischbänken  kamen,  und  so  legten  sie  denn  die  Leine  aus,  acht 
Leinenlängen1)  den  Grund  entlang.  Während  die  Leine  auslag,  griffen 
einige  zu  den  Zwieseln  und  Angeln,  die  sie  mitgenommen  hatten,  um  es 
mit  den  Schnüren  zu  versuchen,  und  manche  Heilbutte  und  sonstige  gute 
Fische  wurden  aufgezogen,  nun  die  Flut  sich  gelegt  hatte.  Die  Flutstille 
war  eingetreten,  da  ruderten  sie  nun  zu  der  Fischblase  [ein  aufgeblasener 
und  gedörrter  Walfischmagen],  die  an  der  Oberleine  befestigt  war,  um  die 
Grundleine  aufzuziehen.  Der  Fang  bei  diesem  ersten  Aufzug  war  nicht 
so  schlecht,  aber  ein  Heringshai  strich  um  das  Boot  und  war  so  zudring- 
lich, dass  es  schon  schändlich  war,  wie  er  die  Steinschollen,  die  an  der 
Leine  waren,  verschlang  und  die  Fische  in  der  Mitte  abschnappte,  als  die 
Leine  über  Bord  gehoben  wurde.  Das  war  ganz  unerträglich;  Harpune 
und  Zug-  und  Bootshaaken  hatte  man  ja  im  Boote;  —  eine  fette  Lengs)- 
Leber  wurde  auf  die  Grossaugel  gesteckt  und  dem  Hai  vorgeworfen;  der 
war  nicht  faul,  den  Bissen  zu  verschlingen  und  die  Männer  rasch  bei  der 
Hand,  ihn  mit  dem  Bootshaken  zu  stechen,  mit  Messern  zu  verwunden 
und  zu  töten,  ihn  aufzuschneiden  und  seine  Leber  ins  Boot  zu  schaffen. 
Nun  wurde  wieder  ausgeworfen,  aber  es  geriet  nicht  recht;  da  die  Strömung 
so  stark  war,  kam  die  Leine  in  Unordnung,  musste  wieder  aufgenommen 
werden  und  zeigte  sich  da  verfitzt  wie  ein  Knäuel;  es  bedurfte  einiger 
Zeit,  sie  zu  entwirren,  ehe  sie  wieder  ausgeworfen  werden  konnte.  So 
ging  der  Tag  nicht  ganz  ohne  Verdruss  ab,  doch  war  der  Fang  gut,  und 
da  sie  gern  eine  rechte  Ladung  heimbringen  wollten,  zog  sich  ihr  Aufent- 
halt länger  hinaus,  als  sie  beabsichtigt  hatten;  —  doch  nun  sollte  nicht 
mehr  ausgeworfen,  sondern  an  die  Heimfahrt  gedacht  werden.  Das  Wetter 
war  den  ganzen  Tag  über  gut  gewesen;  doch  durfte  man  ihm  nicht  trauen; 
die  See  ist  klug,  sagt  ein  Sprichwort,  und  man  muss  sich  nach  ihr  richten: 
hier  drausseu  ging  Wellenschlag,  um  das  Högniriff8)  stand  heftige  Bran- 
dung, am  Strande  hatte  es  stark  gebrandet;    —    diese  Unruhe  in  der  See 


1)  ä  60 — 80  Faden  s.  FA.  Ords.  s.  v.  djäpshasdd. 

2)  Lota  molva. 

3)  Högnabodi,  Blindschäre  vor  Rituvfk  au  der  Südostspitze  von  Österö  (FA.  II  4:J>2). 

12* 


168  Jiriczek: 

deutete  auf  ein  Unwetter,  das  im  Anzüge  war.  Doch  noch  war  es  erträg- 
lich und  gut  und  darum  ruderten  sie  alle  acht  getrost  dem  Hafen  vor  dem 
Steven  zu.  In  festem  Rudern  kamen  sie  rasch  vorwärts,  und  sie  hatten 
die  grössten  Schwierigkeiten  mit  den  Stromwirbeln  und  -Läufen  bereits 
überwunden,  da  brach  ein  Unwetter  mit  Wirbelwind  und  Schneegestöber 
von  Nord -Nord -West  über  sie  herein,  das  Boot  musste  gegen  den  Wind 
gelegt  und  zwei  Ruder  eingezogen  werden,  denn  es  galt  zu  schöpfen,  da 
das  Boot  stark  belastet  war;  solange  Aussicht  war,  das  Land  zu  erreichen, 
zögerte  man,  etwas  von  dem  Fange  hinauszuwerfen;  doch  das  Rudern 
gegen  den  Wind  war  anstrengend  und  die  Männer  begannen  müde  zu 
werden,  so  dass  es  bisweilen  eher  rückwärts  als  vorwärts  zu  gehen  schien. 
Es  war  dunkel  und  kein  Strich  auf  dem  Kompass  zu  erkennen;  sie  ruderten 
lange  und  wussten  nicht,  wo  sie  waren,  doch  hielt  man  beständig  gegen 
den  Wind.  Sieht  man  weder  Land  noch  Kompass,  so  wird  die  Zeit  lang 
in  einem  Boote,  das  im  Unwetter  zur  See  ist,  und  es  kann  nicht  geleugnet 
werden,  dass  ein  paar  von  den  Männern  um  die  Heimkehr  besorgt  wurden 
und  den  Mut  zu  verlieren  begannen,  und  alle  sehnten  sich  danach,  es 
möchte  bald  aufhören,  damit  sie  doch  wüssten,  wohin  sie  steuern  sollten. 
Wie  sie  nun  so  sitzen  und  sich  ins  Zeug  legen  und  mit  übermenschlicher 
Kraft  rudern,  merken  sie  an  dem  minderen  Seegange,  in  dem  sie  sich  nun 
befinden,  dass  sie  aus  der  Strömung  unter  das  Land  gekommen  sind,  und 
in  allen  belebt  sich  der  Mut  wiederum  und  keiner  spart  den  letzten  Rest 
seiner  Kraft,  jeder  greift  zu,  so  kräftig  er  kann  —  da  kommt  der  Rück- 
schlag der  ans  Land  anprallenden  Wellen  an  den  Steuerbord,  Und  gleich- 
zeitig ruft  der  Ruderer  an  den  Steuerbordsdillen:  „Land!"  und  der  vorderste 
Mann  auf  der  Hinterbordsbank:  „Nesslid!1)  Skardhamar 2)  gerade  vor  dem 
Steven!"  Der  Wind  hatte  sich  gedreht  und  blies  nun  gerade  aus  Norden; 
aussen  vor  Skardhamar  kamen  sie  in  Deckung  und  hier  hielten  sie  nun 
ein,  um  die  Müdigkeit  vergehen  zu  lassen  und  eine  Weile  auszuruhen,  ehe 
die  letzten  Ruderschläge  heim  bis  zur  Leite  gemacht  wurden. 

Dort  zu  Hause  herrschte  Unruhe;  —  man  hatte  das  Boot  zeitig  heim 
erwartet  und  aus  jedem  Hause,  aus  dem  der  Mann  auf  die  Fischerei  aus- 
gefahren war,  waren  die  Frauen,  jede  mit  ihrem  Kaffeekrug  und  gehacktem 
Zucker,  in  die  Pfarrei  gekommen,  damit  sie  den  Männern  bei  ihrer  Heim- 
kehr einen  heissen  Trank  bieten  könnten.  Sie  hatten  eine  gute  Weile 
gesessen,  da  brach  der  Sturm  los  und  schlug  das  bange  Frauenherz  mit 
Entsetzen;  bebend  eilten  sie  auf  den  Hügel  hinaus,  um  zu  spähen  und  zu 
lauschen,  und  wieder  herein  zu  den  anderen,  um  die  Trauerbotschaft  zu 
überbringen,  dass  sich  noch  nichts  von  ihnen  zeige.  Der  Sturm  wehte  fast 
das  Haus  um;    —    nun  wirbelte  vom  Kollafjord  dichter  Seerauch  herüber, 


1)  Bergleite  bei  dem  Dorfe  d  Nesi  auf  Österö,  PA.  II  438. 

2)  Klippe  am  Strande  unter  Nesslid.  FA.  II  443. 


Bilder  aus  dem  fferöischen  Volksleben.  169 

die  Windsbraut  packte  die  Häuser,  dass  alles  bebte  und  zitterte,  doch  noch 
mehr  bebte  das  Frauenherz,  das  an  den  Mann  und  die  anderen  im  Boote 
dachte:  „sie  machten  es  nicht,  wie  es  jetzt  tobt,  sie  finden  den  Kurs 
nicht  bei  dieser  Finsternis,"  so  klagen  die  armen  Frauen  und  gehen  angst- 
voll und  friedlos  in  der  Rauchstube  hin  und  her;  der  Pastor  und  seine 
Frau  gehen,  selbst  voll  Bangen  und  Sorge,  zwischen  ihnen  umher  und 
versuchen  sie  zu  beruhigen  und  ihnen  Geduld  und  Hoffnung  zuzusprechen. 
„Jetzt  höre  ich  ein  Boot  singen!"  ruft  voll  Freude  eine  der  Frauen  und 
alle  verstummen,  um  zu  lauschen,  ob  es  das  Boot  ist,  das  sie  so  heiss  er- 
sehnen. „Gott  sei  Lob!  es  sind  unsere  Männer,  ich  erkenne  die  Stimmen!" 
Sorge  und  Trauer  war  nun  zu  Freude  und  Dank  umgeschlagen,  und 
während  jene  mit  dem  Boote  vor  der  Klippe  so  lange  hielten,  bis  die 
letzten  Verse  des  Psalmes  ausgesungen  waren,  kamen  sie  alle  mit  dem 
heissen  Tranke  zum  Strande  und  erwarteten  sie  schon,  als  sie  landeten;  die 
Thränen  flössen,  als  sich  die  Gatten  wiederfanden  und  sich  um  den  Hals 
fielen,  sie  wussteu  nicht,  wie  froh  sie  sein  sollten.  Dann  wurde  die  Beute 
aus  dem  Boote  geworfen,  das  Boot  auf  die  Walzen  geschoben,  in  das  Boot- 
haus gezogen  und  mit  Stützen  befestigt;  dann  ging  man  nach  Hause,  und 
inniger  als  an  manch  anderem  Abend  wurde  Gott  im  Abendgebete  Dank 
gesagt  für  die  Gnade,  die  er  ihnen  heute  erwiesen.  — 

(Schluss  folgt.) 


Sagen  und  Gebräuche  im  Stubaitkal  in  Tirol. 

Von  Paul  Greussing. 


Etwa  zwei  Stunden  in  südlicher  Richtung  von  Innsbruck,  dort  wo  der 
ungeheure  Bogen  der  Stefansbrücke  sein  steinernes  Gewölbe  über  den 
Ruezbach  in  schwindelnder  Höhe  erhebt,  und  wo  dieser  Fluss  in  die  Sill 
sich  ergiesst,  mündet  das  Stubaithal  in  das  Sill-  oder  Wippthal. 

Noch  wenig  berührt  vom  Hauche  der  modernen  Welt,  lebt  hier  der 
Bauer  in  kleiner  Hütte  inmitten  der  herrlichen  Fluren,  der  starren  Felsen, 
der  eisigen  Gletscher,  die  in  Südwesten  seine  Heimat  begrenzen. 

Neustift  heisst  das  innerste,  höchstgelegene  Dorf  des  Thaies,  dessen 
Alpen  vom  ewigen  Schnee  begrenzt  werden. 

Diese  entlegenste  Gemeinde  birgt  auch  den  grössten  Schatz  an  Sagen. 

Die  Sonne  ist  bereits  versunken,  nur  von  der  höchsten  Spitze  des 
Ferners  leuchtet  noch  ihr  letzter  Scheidegruss. 


]  70  '  Sri  iissmg: 

Ein  müder  Wanderer,  betrete  ich  die  russige  Almhütte  zu  Mutterberg. 
Der  Senne  schürt  gerade  an  seinem  Feuer.  „Grüess  Gott!"  lautet  sein 
freundlicher  Gruss.  „Heut  ä  amal  da  heroben?"  Er  rührt  indes  mit 
hölzernem  Löffel  das  ..Muas"  (Mus.  eine  Speise  aus  Meld  und  Milch)  ohne 
mich  weiter  zu  mustern.  „Kann  ich  vielleicht  heute  bei  Euch  übernachten?" 
„Warum  nit,  wenn  Enk  (Euch)  Heu  und  Stroh  zur  Liegerstatt  guet  gnuag 
ist?"  „Könnt  ich  vielleicht  auch  etwas  zum  Essen  bekommen?"  Über 
das  lodernde  Feuer  hinweg  schnitt  mir  der  Senne,  dessen  Alter  schwer  zu 
bestimmen  gewesen  wäre,  ein  komisch- ernstes  Gesicht  zu.  »Na,  na. 
a  Schuapsl  und  au  Butter  und  a  Brot  kunts  haben  — ■  aber  wias  mit  dem 
Müasl  da  geht,  dös  woas  der  liebe  Herrgott  und  Seppeies  Gretl!" 

Erstaunt  über  den  dunklen  Sinn  des  letzten  Teiles  seiner  Antwort 
schaute  ich  in  das  sonnenverbrannte,  mit  tüchtigem  „Katzen"  (Schnurrbart) 
geschmückte  Antlitz  des  Alten,  dessen  Augen  jetzt  aber  prüfend  das  ...Muas" 
visitierten.  Endlich  nahm  er  die  Pfanne  vom  lodernden  Feuer,  stellte  sie 
auf  den  aus  Steinen  erbauten  Herd  nieder  und  seufzte  beinahe:  „Sehens 
Herr,  dö  Milch  ist  verhext,  heut  war  Seppeies  Gretel  betteln  da  auf'n 
Käser  (Sennhütte)  und  i  bin  just  nit  gut  auf  (unwohl)  gewesen  und  da 
hab  i  sie  über  die  Hütten  gejagt  und  nachher  hat  mir  das  vergebene 
(nichtsnutzige)  Weibsbild  die  Milch  verhext.  Da  kunut  i  rühren  bis  zum 
jüngsten  Tag,  es  blieb  olm  (immer)  lauter." 

Ich  wusste,  dass  ich,  wenn  ich  es  mit  dem  Alten  nicht  verderben 
wollte,  seine  Meinung  nicht  belächeln  durfte  und  mir  war  es  daran  ge- 
legen, noch  mehreres  aus  dem  Sehatzkästlein  des  Aberglaubens  und  der 
Sag-en  °erade  aus  seinem  Munde  zu  erfahren,  denn  er  war  mir  als  der- 
jenige  bezeichnet  worden,  dem  sämtliche  „Gschichten"  von  Hexen  u.  s.  w. 
bekannt  wären. 

„Jetzt  muss  i  schleunig  um  geweichte  (geweihte)  Kohlen  und  um  a 
Weichwasser  gehn,"  fuhr  der  Alte  fort  „und  das  muss  i  in  Stall  eingraben, 
dann  kanns  in  Viech  nix  mehr  anhaben." 

„(liebt  es  da  bei  Euch  auch  noch  Hexen?"  fragte  ich  den  Senner. 

Ich  nahm  meine  Feldflasche,  gefüllt  mit  altem  Kirschengeist,  und 
reichte  sie  ihm  zum  Trünke  dar. 

Bald  war  unsere  Unterhaltung  in  Fluss  und  er  erzählte  mir  un- 
aufgefordert folgendes. 

Auf  der  Alpe  Mutterberg  sieht  man  zuweilen  in  mondhellen  Nächten 
einen  schwarzen  Stier  mit  weissem  Stirnfleck,  es  ist  der  Geist  eines  Senners. 
der  das  Vieh  misshandelt  hat.  Zur  Strafe  dafür  muss  er  als  Stier  um- 
gehen. Er  kann  jedoch  erlöst  werden,  weil  er  ein  „Zintl"  ist,  d.  h.  einen 
weissen  Stirnfleck  hat. 

Zu  Grabach  sieht  man  hie  und  da  eine  „Fackelsau"  (Mutterschwein). 
Es  war  dort  einstmals  ein  Hirte,  der  die  fremden  Schweine  Hunger  leiden 
liess.  während  er  seine  eigenen  gut  fütterte.    Er  wurde  dafür  nach  seinem 


Sagen  und  Gebräuche  aus  dem  Stubaithal  in  Tirol.  171 

Tode  in  eine  Fackelsau  verwandelt  und  muss  als  solche  Ins  zum  jüngsten 
Tage  umgehen.  — 

Auf  der  Schongeloar  Alm  zeigt  sich  manchmal  ein  graues  Männlein, 
das  ist  aber  nicht  böswillig  und  die  Almleute  lassen  dasselbe  im  Heu  über- 
nachten. Man  nennt  es  „Schongloar  Gilgl".  Die  Leute  vermuten,  dass  es 
der  Geist  eines  Kuhhirten  ist,  der  Milch  gestohlen  hat.  — 

Auf  der  Autenalm,  gerade  oberhalb  Neustift,  wohnt  ein  gespenstiges 
Wesen,  man  nennt  dasselbe  „Autens  Breatlecke".  Oftmals  rumort  dasselbe 
ganz  fürchterlich. 

Zu  „Nuirath"  (Neurauth)  sieht  man  manchmal  einen  Hund.  Man 
braucht  nur  längere  Zeit  zu  horchen,  natürlich  nach  „Betläuten",  dann 
hört  man  pfeifen.  Pfeift  man  auch,  so  erscheint  ein  gespenstiger  Hund. 
Man  nennt  ihn  „Nuirath  Wurstler".     Es  ist  der  Geist  eines  Hirten. 

Auf  der  Kühalpe  zu  Oberiss  aber  haben  sie  vor  etwa  "20  Jahren  einen 
Kühstier  gehabt,  der  hat  den  Kühen  die  Milch  aus  dem  Euter  getrunken. 
Aus  diesem  Grunde  verkaufte  man  den  Stier  nach  Milders.  Dort  jedoch 
setzte  derselbe  sein  Diebeshandwerk  fort  und  als  ihn  deshalb  eine  Dirne 
züchtigen  wollte,  war  er  spurlos  verschwunden.  Es  ist  der  Geist  eines 
Senners  gewesen,  der  die  Kühe  heimlich  im  Walde  gemolken  hat  und  auf 
diese  Weise  die  Eigentümer  betrog.  — 

In  früheren  Zeiten  hatte  beinahe  jede  Almhütte  ihre  „Wichtein"  oder 
„Ungeschicht",  jetzt  aber  sind  sie  auf  die  höheren  Berge  gezogen,  weil 
der  Unglaube  überhand  nimmt.  Hie  und  da  jedoch,  wenn  es  droben  recht 
wettert,  kommen  sie  auf  Besuch  herunter.  Sie  sind  aber  dann  unsichtbar 
und  man  vernimmt  nur  auf  einmal  hinter  der  Ofenbank  ein  Knistern  und 
Kratzen.  Manchmal  hört  man  sie  auch  lachen  oder  weinen.  Es  sind  un- 
getaufte  Kinder. 

Vor  vielen,  vielen  Jahren  war  einmal  zu  Stubai  die  Pest  und  die 
Leichen  standen  von  der  Pfarrkirche  zu  Telfes  bis  zum  Ende  des  ziem- 
lich langen  Dorfes.  Dazumal  war  nämlich  Telfes  die  einzige  Kirche  im 
Thale.  Nach  und  nach  sind  alle  Personen  ausgestorben,  bis  auf  zwei  alte 
Leute  in  Neustift.  Diese  sassen  eines  Abends  vor  der  Thür  ihrer  hölzernen 
Hütte  und  besprachen  sich  eben,  was  aus  ihnen  werden  sollte.  Da  kam 
ein  spannlanges  Männleiu  und  sang: 

„1  bin  so  grau,  i  bin  so  alt, 

Denk  Spitzwirs  zweimal  Wies'  und  zweimal  Wald. 

Esst's  Kranebitt  und  Biberneil, 

Packt  Enk  der  Tisel1)  rat  so  schnell." 

Ehe  sich  die  Überraschten  erholen  konnten,  war  das  Ungeschicht  ver- 
schwunden. Sie  assen  beide  Wachholderbeereu  und  Bibernell  und  siehe  — 
sie  blieben  verschont.    Später  kam  der  Norg  öfters  zum  alten  Ehepaare  in 


1)   Tisel:  üiflueuzaartige  Krankheit. 


172 


i  rreussfng': 


„Hoangart"  (Heimgarten  zum  Geplauder),  insbesondere  wenn  drausseD  die 
Flocken  wirbelten  und  der  Gletschersturm  heulte.  Er  setzte  sicli  dann  zu 
ihnen  auf  die  Ofenbank  und  erteilte  manch  nützlichen  Rat  über  Vieh  und 

Viehzucht.  — 

Es  giebt  aber  auch  böswillige  Norgen.  So  hat  erst  vor  einem  Jahre 
ein  solches  Ding  bei  einem  Bauern  zu  Vergor  zwei  Kühe  au  eine  Kette 
gehängt.  Zufällig  war  mein  heutiger  Wirt  zugegen.  Er  legte  zwei  Weiden- 
stöcke in  Form  eines  Kreuzes  über  die  Ketten  und  sofort  sprangen  selbe 
nach  kurzer  Bemühung  auseinander.  Ohne  dies  Mittel  wäre  es  nicht  mög- 
lich gewesen,  die  zwei  Rinder  zu  trennen.  — 

Beim  Buckeler  zu  Telfes  trieb  noch  vor  wenigen  Jahren  ein  Un- 
geschicht  sein  Schabernack.  Es  löschte  nächtlicher  Weile  die  Lichter  in 
der  Stube  aus,  peinigte  die  melkenden  Knechte,  warf  Steine  u.  s.  w.  Er- 
schraken die  Leute,  dann  hörte  man  ein  gellendes  Lachen.  Auch  beim 
Tannerbaueru  zu  Telfes  geschah  im  verflossenen  Jahre  ähnlicher  Spuk, 
jedoch  ist  man  dort  noch  im  Zweifel,  ob  es  ein  Norg  oder  arme  Seelen 
waren.     Manche  behaupteten  sogar,  es  sei  der  Teufel  gewesen. 

Den  ganzen  Sommer  über  wohnen  unsichtbarerweise  die  Kaser- 
törggelen  auf  den  Almen.  Das  sind  sonst  harmlose  Wesen,  nur  die 
Neugierde  können  sie  nicht  vertragen. 

Um  Martini  ziehen  sie  von  der  Alm  ab  und  da  segneu  die  Leute  ihre 
Häuser,  wenn  sie  abends  zwischen  8  —  9  im  Dorfe  vorbeiwandern.  Man 
verschliesst  dann  die  Fensterbalken  so  fest  als  möglich.  War  aber  einmal 
ein  neugieriger  Knecht  und  schaute  heimlich  hinaus.  Da  zogen  sie  vor- 
über, eine  ungezählte  Kinderschar.  Schon  kamen  die  letzten  heran.  Auf 
einmal  erklang  eine  Kinderstimme :  „Geh,  thu  dös  Balkl  zu!"  Sofort  war 
der  Knecht  erblindet. 

Er  versuchte  alle  möglichen  Mittel  zur  Heilung,  er  befragte  fromme 
Priester  —  vergebens.  Da  gab  ihm  endlich  eine  alte  Bäuerin  den  Rat: 
„Nächstes  Jahr  mehr  (wieder)  zu  schauen."  Er  that  es.  Richtig  wanderten 
die  geisterhaften  Kinder  wieder  vorbei.  Schon  glaubte  der  Arme,  sie  wären 
vorüber,  als  eine  Stimme  ertönte:  „Geh,  thu  dös  Balkl  auf!"  Er  wurde 
sofort  wieder  sehend.  — 

Ein  anderes  Mal  begegnete  ein  Knecht,  der  es  mit  den  Weibsbildern 
mehr  als  nötig  zu  thun  hatte,  auf  der  Strasse  zwischen  Fülpmess  und 
Mieders  den  abziehenden  Kasertörggelen.  Ganz  zuletzt  humpelte  ein  kleines 
Kind  dem  Zuge  nach.  Es  war  im  Hemde,  aber  dasselbe  war  viel  zu  lang, 
so  dass  es  vom  Kinde  nachgeschleppt  wurde. 

Der  übermütige  Bursche  fing  zu  lachen  an,  erstarrte  jedoch  sofort  vor 
Schreck,  denn  das  Kleine  sagte:  „Vater,  derfst  nit  z'lachen,  weil  mir  kein 
besseres  Leichentuch  geben  hast."  — 

Was  die  Hexen  anbetrifft,  so  giebt  es  solche  in  Stubai  noch  in  grosser 
Menge.     Jeden  „Pfinstig"  (Donnerstag)    versammeln   sie  sieh  zum  Hexen- 


Sagen  und  Gebräuche  ans  dem  Stubaithäl  in  Tirol.  173 

sabbat  am  Sailjoehe.  Sie  machen  die  bösen  Wetter  und  wenn  die  grosse 
Glocke  von  Telfes  nicht  wäre,  dann  würden  die  Frachtfelder  schon  längst 
in  Murbrüche  verwandelt  sein.  Besonders  kräftig  gegen  das  Verhexen 
der  Früchte  ist  es,  wenn  man  im  Frühjahr  geweihte  Kohlen  in  die 
Erde  legt. 

Der  Andrä  Volderauer,  ein  Bauersohn  ans  Telfes,  hat  erst  neulich  am 
Sailsteg  eine  Hexe  gesehen.  Sie  war  weiss  gekleidet.  Der  Oehsener 
Wurzer  hat  die  Hexen  deutlich  schreien  gehört  am  Sailerboden.  Den 
Buckeler  Bauern  aus  Telfes  begegneten  auch  einmal  zwei  Hexen,  und  die 
haben  ihn  so  böse  angeschaut,  dass  er  vor  Schreck  das  Kreuz  schlug  und 
über  Stock  und  Stein  von  dannen  eilte. 

Der  Brantner  Bauer  zu  Telfes  gab  vor  etwa  10  Jahren  einen  feisten 
Ochsen  auf  die  Alm  unter  Sailjoch.  Da  kommt  eines  schönen  Tages  ein 
Bursche  und  meldet,  er  solle  schnell  kommen,  der  Ochse  sei  verhext.  Da 
ist  der  Brantner  wohl  eilig  mit  geweihtem  Salz  auf  die  Alm  —  aber  zu 
spät.  Der  Ochse  stand  wohl  oben  —  aber  nur  die  Haut  war  über  die 
Knochen  gespannt  und  er  zitterte  wie  Moosrohr.  Die  Hexen  hatten  nachts 
ein  Gelag  gegeben  und  das  Fleisch  dazu  vom  Brantner  Öchselein  heraus- 
gezaubert. — 

Der  alte  Jörgele  von  Gabers  traf  einmal  zu  oberst  auf  der  Saile  eine 
Hexe.  Sie  sprach  kein  Wort  und  strickte.  Natürlich  suchte  Jörgele  so 
bald  als  thunlich  aus  dem  Bereiche  der  schweigsamen  Hexe  zu  kommen, 
denn  erst  etliche  Jahre  sind  es  her,  dass  ein  Fremder  da  oben  einschlief 
und  des  andern  Morgens  zu  Völs  bei  Innsbruck  erwachte.  — 

Wenn  es  recht  blitzt  und  donnert,  betet  der  Landmann:  „Heiligs 
Benediktus  Kreuz,  neunmal  g'segnet,  neunmal  g' weiht,  Juri  Jesus  von 
Nazareth,  König  der  Juden,  bewahre  uns  vor  jähem  Tod!"  und  kein  Blitz, 
aus  Hexenhand  geschleudert,  kann  treffen.  — 

Die  Glocke  vou  Telfes  aber  hat  eine  solche  Kraft  gegen  die  verhexten 
Wetter,  dass  schon  beim  ersten  Tone  die  Wolken  nördlich  gegen  Kreith 
ziehen.  Aus  diesem  Grunde  trugen  die  Kreither  den  Telfesern  2000  Fl. 
unter  der  Bedingung  an,  dass  sie  die  Glocke  nimmer  läuten.  Die  Telfeser 
aber  natürlich  als  die  „Gscheidern"  gingen  diesen  Vertrag  nicht  ein.  — 

Um  Johannis  und  Bartlmä  nachts  12  Uhr  blühen  die  Schätze,  d.  h. 
man  sieht  an  der  Stelle,  wo  Geld  begraben  liegt,  einen  Lichtschein.  Ins- 
besondere am  sogenannten  „Rastbichl"  (ehemalige  Totenrast)  liegt  ein 
Schatz  vergraben.  Denselben  wollte  einstmals  ein  Bauer  heben  und  er 
war  schon  in  der  Arbeit,  als  zwei  „Löter"  (Männer)  in  uralter  Tracht  er- 
schienen.   Von  Fiu-cht  erfasst,  suchte  der  Schatzgräber  das  Weite.  — 

Iu  der  Nähe  des  Oberberger  Sees  liegt  eine  goldene  Gans  vergraben. 
Ein  Gaisbub  sah  vor  einigen  Jahren  dortselbst  einen  Stein,  auf  welchem 
eine  Gans  eingemeisselt  war.  Er  berichtete  dies  dem  Senner.  Als  aber 
beide  einige  Stunden  später  danach  suchten,  war  der  Steiu  verschwunden. 


174  Grcussing: 

Hätte  der  dumme  Bub  zwei  Holzstäbe  kreuzweise  über  den  Stein  gelegt, 
dann  hätte  er  die  Stelle  wieder  gefunden  und  wäre  beute  samt  dem  Senner 
ein  steinreicher  Mann.  Die  Gans  ist  ein  alter  Heidengott,  der  vor  tausend 
Jahren  während  Feindesgefahr  vergraben  wurde.  — 

Zwischen  Fulpmes  und  Mieders  liegt  ein  Wald,  Gschnals  genannt. 
Dort  sieht  man  noch  heutzutage  nachts  ein  Lichtlein.  Selbiges  hüpft  herum 
und  beginnt  schliesslich  zu  „juchzen"  (juhu  schreien);  es  ist  der  Gsclmals- 
juchzer.  Wagt  es  irgend  ein  kecker  Bursche,  nachzujuchzen  --  hui  — 
dann  ist  das  Licht  bei  ihm  und  wäre  er  eine  Stunde  davon  entfernt 
gewesen. 

Als  anno  1809  die  Bayern  zu  Telfes  ihr  Quartier  aufgeschlagen  hatten, 
wohnte  dortselbst  auch  ein  Major.  Er  wagte  es,  trotz  Warnung  der  Leute, 
das  Licht  zu  verhöhnen.  Da  kam  er  schön  an.  Ihm  und  seinen  Soldaten 
wurden  die  Gesichter  gar  arg  zerkratzt  und  er  musste  endlich  fliehen. 

Nicht  besser  ging  es  einem  Schund  zu  Fulpmes,  der  sich  unterfangen 
hatte,  zu  spotten. 

Hie  und  da  sieht  man  den  Gschnalsjuchzer  zu  Telfes  am  letzten 
Hause  als  „Loter"  ohne  Kopf  nächtlicherweile  auf  der  Bank  sitzen1). 

Der  Gschnalsjuchzer  begegnete  auch  einst  einem  Geistlichen  als  Mann 
ohne  Kopf.  Er  hielt  dem  Erschrockenen  ein  Kind  vor.  Die  Leute  glaubten, 
der  Hochwürdige  hätte  das  Kind  taufen  sollen,  dann  wäre  der  Gschnals- 
juchzer erlöst  worden.  — 

Yor  etwa  fünfzig  Jahren  hütete  am  Schönberg  ein  Knabe  Ziegen.  Auf 
einmal  kam  ein  Hund  des  Weges  daher,  der  hatte  statt  des  Kopfes  einen 
Ganskragen  auf.     Wahrscheinlich  war  es  auch  der  Gschnalsjuchzer.  — 

Als  noch  sämtliche  Bewohner  Stubais  nach  Telfes  Kirchen  gehen 
mussten,  lebte  zu  Neustift  ein  gar  gottesfurchtiges  Weibele.  Sie  war  alt 
und  krank  und  dennoch  wollte  sie  um  Weihnacht  die  Mitternachtsmesse 
besuchen.  Als  sie  Telfes  erreichte,  war  es  aber  leider  schon  halb  ein  Uhr. 
Wie  erstaunte  sie  jedoch:  beim  Eintritt  in  die  Kirche  gab  der  Priester 
soeben  den  ersten  Segen.  Gott  hatte  es  so  gefügt.  Der  Priester  hatte 
mit  der  heiligen  Handlung  nicht  eher  beginnen  können,  bis  das  Weibele 
erschienen  war. 

Zur  gleichen  Zeit  lebte  in  Neustift  ein  riesenstarker  Mann,  Ameis- 
berger  genannt.  Der  trug  einst  einen  gestohlenen  Stier  lebend  übers  Joch 
und  verspeiste  selben  innerhalb  zwei  Tage.     Es  war  ein  Waldmensch. 

Sein  Bild  ist  an  der  Decke  der  Pfarrkirche  in  Innsbruck  gemalt.  Es 
ist  der  Mann,    welcher  in  beiden  Händen  eine  zerrissene  Kette  schwingt. 


1)  Ich  selbst  sah  im  Jahre  1880,  am  7.  Dezember,  6  Uhr  abends,  ein  schneeweisses 
Licht  zu  Gschnals.  Es  glich  einer  Kugel,  war  erst  klein,  wuchs  zur  Grösse,  einer  gewöhn- 
lichen Kegelkugel  an  und  verschwand  wieder.  Trotz  herrschenden  Südwindes  konnte  man 
nicht  die  mindeste  Bewegung  der  Flamme  entdecken. 


Sagen  und  Gebräuche  aus  dein  Stubai  thal  in  Tirol.  175 

Zu  (j schnitz  war  einst  ein  Seelsorger,  ein  frommer  Mann,  der  konnte 
Teufel  austreiben.  Er  hatte  nach  Hunderten  geheilt.  In  Stubai  gab 'es 
früher  viele  solcher  Besessenen. 

Eine  Stunde  ober  Mieders  ist  ein  unterirdischer  See,  der  Wildmöser 
See.  Vor  einigen  Jahren  fiel  eine  Bötin  hinein  und  ward  bei  Hall  im 
Unterinnthal  als  Leiche  aufgefischt.  Der  See  hat  also  einen  unterirdischen 
Abfluss.  Ändert  sich  die  Witterung,  so  hört  man  den  See  donnern.  Heute 
ist  er  ganz  mit  Schilf  überwachsen.  Dieser  See  wird  nach  einer  alten 
Prophezeiung  einst  ganz  Mieders  überschwemmen,  wie  es  vor  hundert 
Jahren  schon  geschehen  ist. 

Wo  heute  das  erste  Haus  in  Mieders  steht,  war  einst  das  letzte,  d.  h. 
ganz  Mieders  wurde  durch  obigen  See  vor  100  Jahren  vermurt.  — 

Buttermilch  ist  eine  Medicin,  die  für  alles  hilft,  aber  sie  muss  sofort 
nach  dem  Butterschlagen  getrunken  werden,  denn: 

„Milch  vorn  Kübel 
Vertreibt  alle  Übel; 
Wenn  sie  a  Weil  steaht, 
Dann  schau  wie's  dir  geaht!'L 

Die  gefährlichsten  aller  Tiere  sind  die  Beisswürm  (Schlangen,  hier  Hin- 
durch die  harmlose  Natter  vertreten),  die  pfeifen  die  Leut'  an  und  ge- 
schehen ist  es.  — 

Wenn  ein  Mann  heiratet,  so  muss  er  haben: 

1.  eine  breite  Hand,  damit  er  viel  durch  die  Finger  sehen  kann, 

2.  einen  grossen  Hals,  damit  er  viel  schlucken  kann. 

3.  eine  feste  Leber,  weil  viel  drüber  kriecht, 

4.  ein  steinhartes  Herz,  damit  er  die  Stich  nit  g' spürt. 

Am  Hochzeitstag  legt  die  Braut  ein  ihr  gehöriges  Kleidungsstück  über 
die  Hose  des  Mannes  und  ihr  ist  die  Herrschaft  im  Hause  gewiss.  — 

Wenn  jemand  in  Stubai  stirbt,  so  wird  von  den  Angehörigen  des  Ver- 
blichenen in  der  gauzen  Gemeinde,  welcher  der  Tote  angehörte,  Haus 
für  Haus  Brod  verteilt.  Bei  jedem  „Vergelts  Gott",  das  gesprochen  wird, 
fliegt  die  Seele  des  Verewigten  „an  Ruck  aufi"  (ein  Bischen  aufwärts). 

Die  Leiche  einer  Jungfrau  wird  von  geschmückten  Jungfrauen,  solche 
eines  Junggesellen  von  Junggesellen  mit  Büschl  (Blumenstrauss)  auf  den 
Hüten  zu  Grabe  getragen. 

Ehemänner  uud  Eheweiber,  hier  Mander  und  Weiber  genannt,  zum 
Unterschied  von  Buben  uud  Madien  (ledige  Leute),  werden  von  Ehe- 
männern bestattet. 

Die  Totenwach  bei  einem  Junggesellen  versehen  Jünglinge,  bei  einer 
Jungfrau  Jungfrauen,  und  zwar  immer  zwei  Personen.  Bei  Eheleuten  wird 
die  Totenwach  von  Ehemännern  gehalten.  Den  Wächtern  müssen  die 
Hinterbliebenen  Branntwein  uud  Brod  aufstellen;  dann  wird  zum  Zeit- 
vertreib kartet  (Karten  gespielt).    Nur  hie  und  da  besprengt  man  den  Toten 


]7fi  Vbretzsch: 

mit  Weihwasser,  damit  keiue  unreinen  Geister  in  dessen  Nähe  kommen. 
Die  Totenwache  dauert  von  8  Uhr  abends  bis  morgens  6  Uhr. 

Ist  eine  Leiche  im  Dorfe,  so  muss  jedes  Haus  wenigstens  ein  Familien- 
glied in  der  Zeit  von  6  — 8  Uhr  abends  zum  Rosenkranzbeten  zu  der- 
selben entsenden.  Unterlägst  man  dies,  kommt  „z'schnachts"  (zur  Nacht- 
zeit) der  Tote  und  rächt  sich. 

Die  Leichen  von  Erwachsenen  werden,  wenn  sie  „auf  Ehren"  (aus- 
gestellt) liegen,  in  ein  Tuch  gehüllt  oder  eingenäht;  nur  die  Kinder  (Engel) 
liegen  offen. 

Stirbt  ein  Kind,  so  herrscht  in  der  Regel  mehr  Freude  als  Jammer 
im  Trauerhause,  denn  der  „Engel"  ist  direkt  in  den  Himmel  geflogen. 

Schwerkranke  melden  sich  vor  ihrem  Tode  und  man  nennt  dies  Munuga 
(Ermahnung  zum  Beten). 

Zu  Mieders  lag  einst  eiu  Mann  im  Sterben.  Ein  Arbeiter  sah  den- 
selben ausserhalb  des  Dorfes  Lab  hagen  (Laub  rechen)  und  dachte:  „schau, 
isch  der  Hansl  mehr  auf"  (wieder  gesund).  Als  der  Arbeiter  ins  Dorf 
kam,  läutete  gerade  das  Sterbeglöckl  und  er  fragte,  wer  gestorben  sei. 
Wie  war  er  bei  der  Nachricht  erstaunt,  dass  es  derselbe  sei,  welchen  er 
eben  Lab  hagen  gesehen  hatte.     Der  Sterbende  hatte  sich  gemeldet. 

Das  Melden  aber  ist  ein  gutes  Vorzeichen  für  die  Seele  des  Sterbenden, 
denn:  „Übelor  wo  a  Munuga  g'schicht,  beetet  ma  a  Voter  unser." 

Tannenhof  zu  Telfes  in  Stubai. 


Zu  den  deutschen  Volksliedern  aus  Böhmen 
und  aus  Mederhessen. 

Von  Karl  Voretzsch. 


Die  Sammlung  der  deutscheu  Volkslieder  aus  Böhmen  (herausgegeben 
vom  Deutschen  Verein  zur  Verbreitung  gemeinnütziger  Kenntnisse  in  Prag. 
Redigiert  von  Alois  Hruschka  und  Wendelin  Toischer.  Prag  1891)  und  die 
seit  1890  erscheinenden  —  und,  wie  es  scheint,  vorläufig  zum  Stillstand 
gelangten  —  Niederhessischen  Volkslieder  (herausgeg.  von  Joh.  Lewalter. 
L— in.  Heft.  1890—92.  Hamburg)  bieten  dem  Freunde  des  Volksliedes 
zu  mancherlei  Vergleichungen  und  Beobachtungen  Anlass.  Eigene  Samm- 
lungen, die  ich  mir  seit  Beginn  meiner  Studienzeit  angelegt  und  an  ver- 
schiedenen Orten  fortgesetzt  habe,  gestatten  mir,  zu  einigen  Liedern,  die 
dort    zum    erstenmale    gedruckt    sind,    aus   andern   Gegenden   Paralleltexte 


Zu  den  deutschen  Volksliedern  aus  Böhmen  und  aus  Niederhessen.  ]77 

nachzuweisen,  darunter  hie  und  da  auch  solche,  welche  die  dort  ver- 
öffentlichten Texte  in  manchen  Punkten  ergänzen  und  berichtigen;  weiter 
zu  einigen  auch  sonst  schon  bekannten  Liedern  immerhin  bemerkenswerte 
Varianten  mitzuteilen;  und  schliesslich  zu  dem  und  jenem  Liede  eine 
Bemerkung  hinzuzufügen,  die  für  seine  Geschichte  vielleicht  nicht  un- 
wichtig ist. 

Ich  beginne  mit  den  niederhessischen  Liedern: 

1. 

Wir  lustgen  Dreiundachtzger 

Sein  alle  beisammen.    (Lewalter  I,  no.  19.) 

Die  vom  Herausgeber  hierzu  verzeichneten  Varianten  weichen  ziem- 
lich von  einander  ab,  lassen  aber  doch  einen  ursprünglichen  Zusammen- 
hang erkennen.  So  darf  man  wohl  auch  das  böhmische  ,Wer  sen  ein 
lustiger  Dragoner  will  sein,  Der  muss  auch  haben  Kurasche  dabei!' 
(Böhm.  Vir.  S.  232),  zu  welchem  die  Herausgeber  keine  Varianten  an- 
geben, hierherziehen.  Ferner  hängt  damit  zusammen  ein  Lied  der  Bonner 
Königshusaren  mit  einem  eigentümlichen  Refrain  und  einer  kurzen  Ein- 
leitung, die  gewissermassen  das  Signal  zum  Anstimmen  des  Gesanges  giebt. 
Es  lautet  folgendennassen : 

Juja,  Juja! 

Jetzt  gehts  wieder  juja!  !•  Langsam  und  gezogen. 

Jetzt  gehts  los!  I 

Rendezvous,  Rendezvous  — 

Alle  Rheinländer, 

Das  sind  Teufelsbänder, 

Rendezvous,  Rendezvous  — 

Alle  Rheinländer, 

Und  die  sind  gut. 

1.  Unser  Oberst  hat  an  uns  gedacht,  2.  Da  seh'  ich  von  weitem 

Hat  Bier  und  Branntwein  mitgebracht.       Den  Oberst  schon  reiten, 
Unser  Oberst  soll  leben,  Neben  ihm  seine  Officier. 

Die  Husaren  daneben,  Königshusaren,  das  bleiben  wir. 

Neben  ihm  seine  Officier!  Rendezvous  etc. 

Königshusaren,  das  bleiben  wir. 

Rendezvous,  Rendezvous, 

Alle  Rheinländer  etc.  w.  o. 

3.  Musikanten  müssen  spielen 
Zu  unserm  Vergnügen, 
Zu  unserm  Plaisir. 
Königshusaren,  das  bleiben  wir '). 
Rendezvous  etc. 


Flott. 


1)  Die  Melodie  der  2.  und  3.  Strophe  entspricht  Zeile  3—6  der  1.  Strophe  und  stimmt 
zu  dem  entsprechenden  Stück  der  niederhessischen  Melodie. 


1 7-S  Voretzsch: 


Es  halt'  sieh  ein  Fähnrich 

In  ein  Mädchen  verliebet.    (L.  I,  no.  20.) 

Das  Lied  ist  offenbar  eine  Mischung  aus  zwei  verschiedenen  Liedern. 
Strophe  1  —  4  und  vielleicht  nocli  7  bilden  ein  Lied  für  sich,  die  beiden 
Strophen  dazwischen  gehören  einem  anderen  Liede  an,  das  Lewalter  nur 
noch  von  „einigen  alten  Hessen"  hat  erhalten  können.  Dies  zweite  Lied 
ist  anderwärts  noch  wohlbekannt  und  lautet  in  der  vollständigeren  Fassung, 
die  mir  aus  der  Garnison  Halle  (36.  Inf.-Reg.)  bekannt  ist,  so: 

1.   Es  sind  ja  die  Zeiten  so  schön  in  der  Welt, 

Dass  alle  junge  Burschen  müssen  ziehen  ins  Fehl. 

WiderallallaUa,  Widerallallalla  — 
Dass  alle  junge  Burschen  müssen  ziehen  ins  Feld. 

'-.   Der  König  von  Preussen,  er  hat  es  gesagt,  , 

Dass  alle  junge  Burschen  müssen  werden  Soldat. 

3.  Die  hübschen  und  die  geraden,  die  sucht  er  sich  aus. 

Und  die  Krummen  und  die  Lahmen  schickt  er  wieder  nach  Haus. 

4.  Ach  Mädchen!    Ach  Mädchen!    Wie  wird's  euch  ergehn! 
Ihr  müsst  nun  mit  die  Krummen  und  die  Lahmen  ausgehn. 

5.  Die  traurigen  Briefe,  die  schicken  wir  nach  Haus, 
Damit  pressen  wir  unsern  Eltern  die  Thränen  heraus. 

6.  Die  lassen  sich  erweichen  und  schicken  uns  brav  Geld, 
So  wie  es  uns  lustigen  Soldaten  gefallt. 

Die  Melodie  weicht  nur  wenig  von  der  niederhessischen  ab. 

3. 

Irh  stand  auf  hohem  Berge. 

Schaut  herab  ins  tiefe  Thal.   (L.  II,  no.  16.) 

Das  Lied,  das  der  Herausgeber  noch  nirgends  aufgezeichnet  geglaubt, 
ist  weiter  nichts  als  eine  Umformung  und  teilweise  Verstümmelung  des 
Liedes  von  der  Soldatenbraut,  das  wieder  nur  eine  Veränderung  des  Liedes 
von  den  drei  Grafen  ist.  Das  wird  klar,  wenn  mau  Simrock  (Die  deutschen 
Volkslieder)  no.  57 J)  daneben  hält:  hier  kehren  die  drei  Mittelstrophen 
des  niederhessischen  Liedes  nahezu  wörtlich  wieder,  nur  dass  hier  ein 
bergischer  Husar  die  Rolle  des  „reitenden  Artilleristen"  spielt  und  die 
dort  kaum  angedeutete  Wirtshausscene  ausführlich  erzählt  wird.  Ein  den 
gleichen  Gegenstand  behandelndes  Lied,  welches  seine  Verwandtschaft 
mit    dem   niederhessischen   auch  durch  die  sehr  ähnliche  Melodie  erweist, 


1)    Auch  bei  Böckel,  Lieder  aus  Ohcrhessen,  no.  93-. 


V.n  den  deutschen  Volksliedern  aus  Böhmen  und  aus  Niederhessen.  179 

inhaltlich  aber  ursprünglicher  scheint,    habe  ich  einst  von  einem  Füsilier 
des  125.  Inf.-Reg.  (Tübingen)  singen  boren: 

1.  Ich  stand  auf  hohem  Berge,  4.  „Guten  Morgen,  Sie,  Frau  Wirtin! 
Schaut  hinunter  ins  tiefe  Thal.  Schenk  sie  ein  ein  gut  Glas  Wein, 
Da  sah  ich  drei  Gesellen  Und  das  Madchen  hat  so  schöne 
Bei  einem  Mädchen  stehn.  Kleider  an: 

Versoffen  müssen  sie  sein." 

2.  Der  erste  war  ein  Schäfer, 

Der  zweite  ein  Kaufmannssohn,  5.  Und  versoffen  sinds  die  Kleider, 

Und  der  dritte,  das  war  ein  Wander-       Kein  Kleid  ist  nicht  mehr  da, 

burseh.  Und  so  muss  das  schwarzbraune  Mäd- 

Der  lichte  das  Mädchen  schon.  chen 

Bei  der  Nacht  nach  Hause  gehn. 

3.  Und  der  Wanderbursche  dreht  sich 

um  und  um,  6.  Und  die  Handwerksburschen,  das  sind 
Nahm   das  Mädchen  wohl  bei  der  Schelmen, 

Hand.  Die,  wenn  sie  auf  der  Reise  sein, 

Er  trieb  es  mit  ihr  solange,  Sie  verführen  alle  schönen  Mädchen, 

Bis  er  in  ein  Wirtshaus  kam.  Dieweil  sie  noch  viel  schöner  sein1). 


4. 

An  der  Weichsel  gegen  Osten, 

Da  stand  nach  blutger  Schlacht.    (L.  III,  no  43). 

Der  Anfang  entstammt  einem  anderen  Liede,  das  Lewalter  an  anderer 
Stelle  mitteilt3).  Dadurch  wird  aber  der  Schauplatz  unseres  Liedes  völlig 
verändert  und  der  wahre  historische  Hintergrund  verdunkelt:  denn  dieser 
ist  ursprünglich  der  Krieg  von  1870,  wie  sowohl  die  vom  Herausgeber 
citierte  erzgebirgische  Version  (A.  Müller,  S.  24)  als  auch  die  mir  aus  der 
Proviuz  Sachsen  bekannten  Texte  zeigen.  Wir  dürfen  das  Lied  wohl  als 
eins  der  wenigen  echten  Volkslieder  betrachten,  welche  die  grosse  Zeit 
von  1870  gezeitigt  hat.  Text  und  Melodie  vereinigen  sich,  um  eins  der 
schönsten  Soldaten-  und  Volkslieder  zu  schaffen,  das,  auf  dem  Marsch  oder 
im  Biwak  von  zweistimmigem  Chor  gesungen,  einen  überwältigenden  Ein- 
druck macht. 

Ich  gebe  die  von  mir  aufgezeichneten  Texte  unverkürzt  wieder,  da 
sie  sowohl  unter  sich,  als  auch  gegenüber  den  beiden  schon  bekannten 
Versionen  ihre  Eigentümlichkeiten  haben  und  das  Lied  selbst  einer  aus- 
führlicheren Würdigung  wohl  wert  ist. 


1)  Vergl.  hierzu  ,Der  Mühlhursch'  in:  A.  Müller,  Volkslieder  aus  dem  Erzgebirge. 
2.  Aufl.  1891.  S.  81. 

2)  Heft  I,  no.  33  (An  der  Weichsel,  fern  im  Osten,  Stand  ein  Soldat  auf  seinem  Posten). 
Die  zugehörige  Melodie  findet  sich  bereits  früher  aufgezeichnet  in:  Soldatenliederbuch, 
ausgegeben  vom  Königl.  preussischen  Kriegsministeriuni.  Berlin  1882  (daselbst  no.  81). 
Ebenda,  unter  no.  92  und  93,  finden  sich  auch  schon  die  Melodieen  von  Lewalter  III, 
hü.  13  und  1,  no.  23. 


180 


Voretesch: 


1.  Hei  Sedan  auf  den  Höhen, 

Da  stand  nach  blutger  Schlacht 
[:In  der  letzten  Abendstunde 
Ein  Musketier  auf  Wacht.:] 

2.  Die  Wolken  ziehn  gen  Osten, 
Der  Mond  am  Himmel  stand, 
Er  erleuchtet  Wald  und  Fluren 
Im  grünen  Frankenland. 

3.  Was  raschelt  dort  im  Busche? 
Es  ist  ein  Reitersmann, 

Der  mit  tiefer  blutger  Wunde 
Lag  im  Busche  bei  Sedan. 

4.  Reich  Wasser,  deutscher  Kamrad! 
Die  Kugel  traf  so  gut. 

Dort  an  jenem  Wiesenrande, 
Da  floss  zuerst  mein  Blut. 


5.  Doch  gewähr  mir  eine  Bitte! 
Grüss  mir  mein  Weib  und  Kind: 
Denn  ich  heiss  Andreas  Förster 
Und  bin  aus  Saargemünd. 

6.  Denn  ich  habe  Weib  und  Kinder 
Daheim  am  trauten  Herd, 

Die  auf  ihren  Vater  harren, 
Der  niemals  wiederkehrt. 

7.  Der  Mond  beleucht't  das  Auge1), 
Der  Krieger  Totenschar, 

Die  noch  gestern  um  die  Stunde 
Hier  noch  frisch  und  munter  war. 

Ö.    Den  andern  Morgen  in  der  Frühe 
Grub  ihm  ein  Schütz  sein  Grab, 
Und  er  streute  Wiesenblumen 
Und  grüne  Zweig  aufs  Grab. 


9.    Aus  zwei  Zweigen  macht  er  ein  Kränzlein. 
Durch  dieses  weht  der  Wind. 
Denn  hier  ruht  Andreas  Förster, 
Er  war  aus  Saargemünd.    (Magdeburg,  26.  Inf.-R.eg.). 


1.  Bei  Sedan  auf  den  Höhen 
Da  stand  nach  blutger  Schlacht 
In  später  Abendstunde 

Ein  Sachse'-')  auf  der  Wacht. 

2.  Die  Wolken  ziehn  gen  Osten, 
Die  Dörfer  stehn  im  Brand, 

Sie  erleuchten  Wald  und  Fluren 
Im  fernen  Frankenland. 

o.    Der  Sachse  schritt  auf  und  nieder 
Wohl  an  der  Totenschar, 
Die  gestern  zur  selben  Stunde 
Noch  gesund  und  munter  war. 

4.    Was  jammert  dort  in  einem  Busche 
Und  klagt  in  bittrer  Not: 
„0  heilige  Mutter  Gottes. 
Gieb  einen  sanften  Tod3)!" 


5.    Der  Sachse,  er  trat  näher: 
Da  lag  ein  Reitersmann, 
Der  von  des  Feindes  Kugel 
So  schwer  getroffen  war. 

ii.    „Gieb  mir  Wasser,  lieber  Kamrad! 
Die  Kugel  traf  so  gut. 
Dort  an  jenem  Wiesenrande, 
Da  floss  zuerst  mein  Blut. 

7.    Doch  eine  Bitte  mir  gewähre! 
Grüss  mir  mein  Weib  und  Kind: 
Denn  ich  heiss1  Andreas  Förster 
Und  bin  aus  Saargemünd. 

Denn  ich  habe  Weib  und  Kinder 
Daheim  am  trauten  Herd, 
Die  da  warten  auf  ihren  Vater, 
Der  niemals  wiederkehrt." 


1)  ?  etwa  für:  die  Aue? 

2)  Auch:  ein  Schütze. 

?,)   Diese  Zeilen  stimmen  zur  erzgebirgischen  Fassung. 


Zu  den  deutschen  Volksliedern  aus  Böhmen  und  aus  Niederhessen.  181 

9.    Und  bin  ich  nun  gestorben,  11.    Und  in  der  frühen  Morgenstunde 
Dann  grab  mich  friedlich  ein,  Grub  ihm  der  Sachs'  ein  Grab 

Und  pflanz'  auf  meinem  Grabe  Und  er  streute  Wiesenblumen 

Hin  klein  Vergissnichtmein."  Und  Zweige  mit  hinab. 

10.    Er  sprach's,  es  brach  sein  Auge,        12.    Ein  Kreuz  aus  schwachem  Zweige 
Der  Reitersmann  war  tot.  Schwankt  dort  im  Morgenwind: 

—  —  —  Da  ruht  Andreas  Förster, 

—  —  —  Er  war  aus  Saargemünd. 

(Halle,  36.  Inf.-Reg.) ') 

1870  war  Saargemünd  noch  französisch.  Wenn  man  darauf  besonderes 
Gewicht  legen  will,  so  wird  die  Tragik  dadurch  noch  gesteigert:  der 
Reitersmann  Andreas  Förster  war  dann  ein  Deutscher,  der  in  französischen 
Diensten  gefallen  ist  und  nun  seinem  Feind  --  der  zugleich  sein  Lands- 
mann ist  —  die  letzten  Grüsse  an  Weib  und  Kind  aufträgt. 


Nicht  weit  von  Württemberg  und  Baden 

Und  von  der  wunderschönen  Schweiz.    (L.  III,  no.  34.) 

Dies  prächtige  Hohenzollernlied  ist  im  Schwabenlande  wohl  bekannt, 
wo  es  schon  seit  1866  gesungen  worden  sein  soll  und  hier  bereits  mehr- 
fach _  allerdings  in  veränderter  Gestalt  --  in  Schulbücher  aufgenommen 
worden.     Als   Verfasser    wird    der  nunmehr    verstorbene   -      Tübinger 

Volksdichter  Metzger  Späth  vermutet,  von  einigen  Seiten  mit  Bestimmtheit 
als  solcher  bezeichnet2). 

Die  schwäbische  Version  weicht  nur  in  Einzelheiten  von  der  nieder- 
hessischen ab.  Schwierigkeiten  für  die  Erklärung  bietet  —  abgesehen 
vom  Refrain,  der  offenbar  in  gar  keiner  syntaktischen  Beziehung  zum 
vorausgehenden  steht  und  auch  im  Inhalt  nur  lose  mit  dem  übrigen  ver- 
knüpft ist  —  bloss  die  zweite  Strophe: 

Von  diesem  Berg  da  geht  die  Sage,  .Man  nimmt  ihn  fort  ins  fremde  Land, 

Die  sich  ins  ferne  Land  erstreckt,  Sein  Vater  glaubt,  er  sei  verbannt, 

Und  (hessisch:  ein)  jeder  Vater  hat  die      Auf  Hohenzollerns  steilem  Felsen, 
Klage,  NVo  unverzagt  die  Eintracht  ruht. 

Die  sich  auf  seinen  Sohn  erstreckt. 

Der  Inhalt  bezieht  sich,  wie  auch  die  Schlussstrophe  zeigt,  auf  die 
geborenen  Hohenzollern ,  die  in  fernen  (norddeutschen)  Garnisonen  ihren 
Dienst  leisten  müssen.  Der  Ausdruck  ist  etwas  unbeholfen:  zweimal 
erstreckt',  dazu  das  zweite  Male  offenbar  nur  dem  Reim  zuliebe,  um  den 
einfachen  Gedanken  auszudrücken:    ein  jeder  Vater  hat  eine  Klage,    die 


1)  Ähnlich  auch  in  Prenzlau,  G4.  Inf.-Reg. 

2)  Ich  entnehme  diese  Angaben  den  ,Blättern  des  schwäbischeu  Albvereins'   (Jahrg. 
1892.  IV,  214).    Ebenda  IV,  172  findet  sich  auch  der  Text  des  Liedes. 

Zeitschrift  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893.  18 


]£.,>  V   i  itzsch: 

sich  auf  seinen  Sohn  bezieht  =  ein  jeder  Vater  klagt  wegen  seines  Sohnes. 
So  dürfen  wir  auch  die  ,Sage'  der  ersten  Zeile  nicht  in  dem  üblichen  Sinn 
nehmen:  auch  hier  hat  die  Reimnot  den  Dichter  zu  einem  schiefen  Aus- 
druck verleitet.  Er  will  offenbar  nur  sagen:  von  diesem  Berge  heisst  es, 
wird  erzählt,  gesagt:  dafür  dem  Reim  zuliebe  .geht  die  Sage'.  Der  Sinn 
der  ersten  Zeilen  ist  danach:  .Von  diesem  Berg.  d.  i.  den  Bewohnern 
dieses  Berges,  erzählt  man,  ebenso  wie  von  den  Bewohnern  des  ganzen 
Landes:  ein  jeder  Vater  klagt  wegen  seines  -Sohnes,  den  er  ins  fremde 
Land  hergehen  muss". 


6. 

0  Strassburg,  eine  wunderschöne  Stadt. 
Darin  liegt  ein  Soldat.    (L.  III.  no.  19.) 

Dies  komisch -ernste  Lied  (Umänderung  des  weitbekannten  0  Strass- 
burg.  o  Strasshurg,  Du  wunderschöne  Stadt  etc.)  ist  --  ausser  in  Nieder- 
i  issen    und    im   Erzgebirge    -  -   auch   noch  anderwärts  bekannt.     Bei  den 
72ern  in  Torgau  beginnt  das  Lied: 

Lippe -Detmold,  eine  wunderschöne  Stadt, 
Darin  hegt  ein  Soldat, 
Der  da  nrasst  marschieren  in  das  Feld, 
Wo  die  Kanonen  stehn. 

Eine  bemerkenswerte  Variante  findet  sich  in  O.  Schambachs  Lieder- 
halle1): 

,Preuss'seh  Eilau,  eine  wunderschöne  Stadt. 

Hier    ist   ein   lustiger  Refrain    zugefügt,    der   —   wie   so   oft  —  zur  ersten 

Strophe  recht  wohl  passt,  zu  den  folgenden  aber  einen  rührenden  Kontrast 

bildet: 

Drum  ist's  so  schön,  drum  ist  s  so  fein, 

Drum  ist's  so  schön,  Soldat  zu  sein. 
Leider    hat    der    Herausgeber    nicht    angegeben,    woher    er  das   Lied 
erhalten. 

1. 

In  Böhmen  hegt  ein  Stadtchen. 

Das  kennt  fast  jedermann.    (L.  II.  no.  17.) 

Dies  Lied  ist  seither  in  einer  ausführlicheren  Fassung  aus  Böhmen2) 
bekannt  geworden,  das  ohne  Zweifel  seine  Heimat  ist,  Dass  es  von  hier 
aus    nach    dem  Erzgebirge   gelangt   ist.    nimmt  nicht  Wunder.     Wie  ist  es 


1)  0.  Schambach,  Liederhalle  für  Deutschlands  Jugend.  Altenburg.  1883.  no.  55. 
Daselbsl  ist  auch  die  Melodie  beigefügt,  von  der  sich  die  niederhessische  nur  wenig 
entfernt. 

■>j   Deutsche  Vir.  a.  B.  S.  82. 


Zu  dun  deutschen  Volksliedern  ans  Böhmen  und  aus  Niederhessen. 


183 


aber  nach  dem  westlichen  Deutschland,  nach  Hessen  und  an  den  Nieder- 
rhein gelangt?  Im  Jahre  1866  haben  es  die  Bonner  Königshusaren  — 
wie  mir  ein  ehemaliger  Angehöriger  des  Regiments  (Herr  Seebach  in 
Halle  a.  S.,  dem  ich  auch  die  übrigen  hier  mitgeteilten  Lieder  des  Bonner 
Husaren -Regiments  verdanke)  mitteilt  —  in  Böhmen  singen  hören  und 
von  da  mit  nach  Bonn  gebracht.  Von  hier  aus  hat  es  sich  jedenfalls 
weiter  verbreitet  -  ■  die  entlassenen  Husaren  trugen  es  weiter  in  Städte 
und  Dörfer.  Dass  auch  noch  andere  preussische  Regimenter  das  Lied  aus 
Böhmen  mitgebracht  haben,  ist  recht  wohl  möglich.  In  jedem  Fall  hat 
hier  der  Krieg  das  Bekanntwerden  des  Liedes  in  entferntere  Gegend  ver- 
mittelt —  ein  interessantes  Zeugnis  dafür,  welche  Zufälligkeiten  für  die 
Verbreitung  eines  Volksliedes  in  Betracht  kommen  können. 

Dies  Lied    möge    den  Übergang  zu  den  deutsch-böhmischen   Volks- 
liedern bilden,  von  denen  ich  folgende  hervorheben  will: 


8. 

Die  Sonne  steht  am  Himmel, 

Mit  ihr  da  schied  die  Schlacht.    (D.  Vir.  a.  B.  S.  84.) 

In  der  vorliegenden  Form  bezieht  sich  das  Lied  auf  eine  Episode  des 
Krieges  von  1866:  die  Schlacht  von  Trautenau  (dafür  auch  Nachod  oder 
Tobo)  ist  als  Hintergrund  gedacht.  Das  Lied  scheint  sonst  nicht  bekannt1). 
Ich  fand  es  in  dem  Liederbuch  eines  Magdeburger  Musketiers  (26.  Inf.-Reg.), 
hier  aber  auf  den  Krieg  von  1870  und  die  Schlacht  von  Sedan  bezogen, 
auch  sonst  mehrfach  abweichend.     Ich  gebe  den  Text  unverkürzt  wieder: 


1.  Die  Sonne  sank  im  Westen, 
Im  Norden  war  die  Schlacht, 
Bedeckt  mit  ihrem  Schleier 
Die  dunkle  Todesnacht. 

2.  Und  mitten  unter  Toten 
Ruht  sterbend  ein  Soldat, 
Es  schläft  an  seiner  Seite 
Sein  treuster  Kamerad. 

3.  Es  neigt  sein  Haupt  zur  Erde 
Der  Sterbende  und  spricht: 
„Vernimm,  du  treuster  Bruder, 
Was  mir  am  Herzen  liegt. 

4.  Nimm  diesen  Ring  vom  Finger 
Wenn  ich  gestorben  bin, 

Und  alle  meine  Briefe, 
Die  im  Tornister  sind. 


5.  Soll  dich  noch  einmal  geleiten 
Zur  Heimat  das  Geschick, 

So  bring'  du  meinem  Liebchen 
Dies  Liebespfand  zurück. 

6.  Sag'  ihr,  dass  ich  gestorben 
Bei  Sedan  in  der  Schlacht, 
Und  in  den  letzten  Zügen 
Noch  treu  an  sie  gedacht. 

7.  Und  sollt'  mit  einem  andren 
Der  Priester  sie  vereinen, 
Soll  sie  noch  oft  gedenken 
An  ihren  verstorbenen  Freund. 

X.    Mit  diesem  armen  Ringe 
Geb'  ich  mein  Wort  zurück. 
Im  Himmel  werd'  ich  bitten 
Auch  für  ihr  ferneres  Glück. 


1)    Liegt  uns  in  einer  Aufzeichnung  aus  dein  Spessarl  vor. 


1;.  iled. 


13' 


IS| 


Voretzsc 


9.    Wenn  Mond  und  Sterne  funkeln 
Mit  ihrem  Silberlicht, 
Sie  scheinen  dem  toten  Soldaten 
Ins  blasse  Angesicht. 

Ob  die  Beziehung  auf  Sedan  oder  auf  1866  ursprünglicher  ist,  wird 
sich  jetzt  schwer  entscheiden  lassen.  In  Böhmen  ist  das  Lied  erst  in 
jüngster  Zeit  aufgezeichnet  worden. 


9. 

Mein  Schatz,  der  ist  im  Kriege, 

Zu  Ostern  kehrt  er  heim.    (D.  V.  a.  B.  S.  98.) 

Das  Lied  macht  einen  durchaus  modernen  Eindruck.  Nicht  so  in  der 
Fassung,  welche  in  mehreren  Garnisonen  der  Provinz  Sachsen  (Magde- 
burg, Halle,  Torgau)  bekannt  ist:  hier  tritt  an  Stelle  des  „Schatzes"  und 
„Burschen"  der  Fähnrich  auf,  wodurch  der  Inhalt  in  eine  frühere  Zeit 
und  dadurch  erst  in  die  rechte  Beleuchtung  gerückt  wird.  Diese  Version 
ist  ausführlicher  und  auch  schöner  als  die  böhmische,  die  ihr  gegenüber 
nur  als  Entstellung  erscheint.  Die  Melodie  ist  einfach  wie  der  Text,  aber 
gerade  dadurch  ist  das  Lied  ausserordentlich  wirkungsvoll.  Es  gehört  zu 
den  besten  Liedern  dieser  Gattung.  Ich  gebe  den  Magdeburger  Text 
(26.  Inf. -Reg.),  dazu  die  wesentlichsten  Abweichungen  des  Hallescheu 
(36.  Inf.-Reg.): 


1.  Ein  Fähnrich  zog  im  Kriege, 
Widibumjaja!    Juchheirassa! 
Ein  Fähnrich  zog  im  Kriege, 
Wer  weiss,  kehrt  er  zurück? 
Wer  weiss,  kehrt  er  zurück? 

2.  Er  liebt1  ein  schwarzbraunes  Mädchen 
Drei  Jahr'  und  noch  viel  mehr1). 

.'!.  Ein  Fähnrich*)  kam  geritten, 
Von  Blut  war  er  so  rot. 


5.  „Ach  Fähnrich,  lieber  Fähnrich! 
Was  bringst  du  neues  mir?" 

6.  ,,Die  Neuheit,  die  ich  bringe, 
Macht  dir  die  Äuglein  rot. 

7.  Dein  Fähnrich  ist  erschossen, 
Ist  tot  und  lebt  nicht  mehr3). 

8.  Ich  hab'  ihn  sehn  begraben 
Von  vielen  (Meiern4). 


4.  Er  grüsst"  ein  schwarzbraunes  Mädchen,     9.  Der  erste  trug  den  Degen, 


Sie  schaut'  ihn  fragend  an : 


Der  zweite  sein  Pistol. 


1)    Halle:  Sie  war  so  wunderschön. 

Darauf  folgt  noch  eine  besondere  Strophe : 

Sie  stand  auf  hohem  Berge 
Und  schaut  ins  tiefe  Thal. 
Also  auch  hier  Modernisierung! 
Dein  Fähnrich  ist  gestorben, 
Ich  hab  es  selbst  geselm. 
Wir  haben  ihn  begraben 
Mit  vielen  t  »fficieren. 


2)  Halle 

3)  Halle 

4)  Halle 


Lieutenant. 


Zu  den  deutschen  Volksliedern  aus  Böhmen  und  aus  Niederhessen.  185 

10.  Der  dritte  trug  den  Kürass,  12.  Da  droben  auf  jenem  Berge 
Der  vierte  seine  Krön'.  Singt  eine  Nachtigall. 

11.  Über  sein  Grab  ward  geschossen      13.  Sie  singt  unserm  Fähnrich  zu  Ehren 
Mit  Pulver  und  mit  Blei  -  Für  seine  Tapferkeit. 


10. 

Nicht  weit  von  hier,  in  einem  tiefen  Thale, 

Stand  ein  Mädchen  an  einem  Wasserfalle.    (D.  Vir.  a.  B.  S.  137.) 

Das  Lied  ist  hier  gleichfalls  zum  erstenmale  gedruckt,  ist  aber  auch 
anderwärts  bekannt,  wie  eine  mir  mündlich  bekannt  gewordene  Version 
aus  Prenzlau  zeigt.  Sie  unterscheidet  sich  von  der  böhmischen  haupt- 
sächlich dadurch,  dass  sie  an  Stelle  der  drei  ungleich  langen  Strophen 
(die  sich  im  Gesänge  wohl  ausgleichen)  vier  Strophen  zu  je  vier  Zeilen 
bietet,    ausserdem   noch    durch  mancherlei  Einzelheiten.     Der  Text  lautet: 

1.  In  einem  Städtchen,  in  einem  tiefen  Thal. 
Stand  einst  ein  Mädchen  an  einem  Wasserfall. 
Sie  war  so  schön,  so  schön  wie  Milch  und  Blut, 
Sie  war  von  Herzen  einem  Räuber  gut. 

2.  „Armes  Mädchen,  du  dauerst  meine  Seele, 
Ich  aber  muss  in  eine  Räuberhöhle. 

Ich  kann  hinfort  nicht  länger  bei  dir  sein, 
Dieweil  ich  muss  in  finstern  Wald  hinein. 

3.  Hier  diesen  Ring,  und  sollt'  dich  jemand  fragen, 
So  sprich:  ein  Räuber  der  hat  ihn  getragen, 
Der  dich  geliebt  bei  Tag  und  bei  der  Nacht, 
Und  schon  so  viele  Menschen  umgebracht. 

4.  Gehe  dort  auf  jene(r)  grüne(u)  Wiese, 
Da  giebt  es  Männer  an  der  Zahl  so  viele, 

Mit  denen  du  vielleicht  kannst  glücklich  sein  — 
Ich  aber  muss  in'n  finstern  Wald  hinein. 


11. 

Lustig  ist's  Soldatenleben, 

Für  den  Kaiser,  woll'n  wir  geben 

Unsern  letzten  Tropfen  Blut; 

Soldaten  müssen  haben  Mut.    (D.  Vir.  a.  B.  S.  233.) 

Das  Lied  ist  ein  sprechendes  Beispiel  für  die  Umbildungen  und  üm- 
deutungen,  denen  das  Yolkslied  auf  seinen  Wanderungen  unterliegt.  In 
der  vorliegenden  Version  aus  Böhmen  handelt  es  sich  natürlich  um  das 
Österreichische  Vaterland  und  Kaiser  Franz;  eine  fränkische  Version, 
welche  der  vorigen  in  der  Form  sehr  nahe  steht,    bezieht  den  Inhalt  auf 


186 


Voretzsch : 


das  bayerische  Vaterland,  eine  elsässische  gar  auf  Prankreich  und  die 
Franzosen1).  Aus  Norddeutschland  ist  das  Lied  bisher  nicht  bekannt  ge- 
worden, wird  aber  auch  hier  gesungen:  so  in  der  Rheinprovinz,  so  in  der 
Provinz  Sachsen.  Diese  Versionen  unterscheiden  sich  von  den  bisher  ge- 
druckten durch  eine  strengere  (auch  ursprünglichere?)  Pointierung  in  den 
ersten  Strophen  und  durch  abweichende  Schlussstrophen. 


1.  Redlich  ist,  das  deutsche  Leben 
Fürs  Vaterland  dahinzugehen, 
Für'-')  den  letzten  Tropfen  Blut: 
Ja,  wir  Deutsche  haben  Mut, 

2.  Wenn  Kanonen  uns  auch  blitzen 
Und  andere  Waffen  auf  uns  spritzen 
Ei,  dann  ziehen  wir  ins  Gefecht: 
Ja.  wir  Deutsche  haben  Recht, 


3.  Wenn  wir  unsre  grauen  Mäntel 
Um  ein  deutsches  Mädchen  hängen, 
Ei,  dann  fühlt  sie  keinen  Schmerz: 
Redlich  ist  das  deutsche  Herz. 

4.  Ich  muss  wandern  auf  fremden  Strassen, 
Muss  meinen  Schatz  einem  andern 

lassen, 
Den  ich  hab  so  treu  geliebt3)  — 
Lebe  wohl,  vergiss  mein  nicht! 


5.  Sollt'  es  Frankreich  nochmals  wagen 

Und  sich  mit  Deutschland  nochmals  schlagen. 
Ei,  dann  soll  das  Pulver  und  Blei 
Zeigen,  dass  wir  Deutsche  sein ')■ 

(Halle  a.  S.,  36.  Inf. -Reg.) 

Die  Melodie  ist  nicht  die  von  Ditfurth  (Frank.  Volkslieder  II,  no.  263) 
mitgeteilte.     Sie  ist  langgezogen  und  einförmig. 


Mutig  ist  das  deutsche  Leben, 
Das  uns  zur  Freiheit  ist  gegeben, 
[:  Bis  zum  letzten  Tropfen  Blut. 
Wir  Husaren  haben  frohen  Mut. :] 

Wenn  Kanonen  und  Haubitzen 
Grauaten  auf  uns  blitzen, 
Mutig  gehen  wir  ins  Gefecht, 
Denn  wir  Deutsche  kämpfen  für  das 
Recht. 


3.  Wenn  wir  unsre  weissen  Mäntel 
Um  ein  deutsches  Mädchen  hängen. 
Ei,  so  fühlt  sie  keinen  Schmerz: 
Redlich  ist  ja  das  Husarenherz. 

4.  Mutig  ist  der  deutsche  Mann, 
Der  für  die  Freiheit  sterben  kann: 
Wer  sein  Weib  und  Kind  verlässt, 
Der  steht  gewiss,  gewiss  im  Kampfe 

fest. 


1)  Auch    in  Schwaben   ist   das  Lied   bekannt:    siehe   E.  Meier,    Schwab.  Volkslieder, 
no.  98. 

2)  Diese  sinnlose  Attraktion  im  Magdeburger  wie  im  Halleschen  Text. 

3)  In  Magdeburg  (26.  Inf.-Reg.) : 

Ich  habe  sie  so  treu,  geliebt. 

4)  Kür  diese  letzte  Strophe  in  Magdeburg  (26.  Inf.-Reg.)  die  beliebte  Wauderstrophe: 

Auf  meinem   Grabstein  könnt  ihr's  lesen, 
Was  für  ein  treuer  Schatz  ich  gewesen, 
Der  hier  liegt  und  der  hier  ruht, 
Dem  sein   HeTz,  ja  das  war  gut. 


Zu  den  deutschen  Volksliedern  aus  Böhmen  und  aus  Niederhessen.  187 

5.    Deutschland,  o  du  stolze  Macht, 
Schwarzweissrot ')  ist  unsre  Pracht. 
Tapfer  muss  das  Preussen  sein, 
Sonst  stund'  Prankreich,  Frankreich'-)  bald  am  Rhein. 

(Lied  der  Bonner  Königshusaren.) 

Die  Melodie  weicht,  etwas  von  der  sächsischen  ab. 


Zum  Schluss  mögen  hier  einige  Lieder  Platz  finden,  die  ein  Freund 
des  Volksliedes  (Herr  Referendar  C.  Du  Chesne  in  Ebersbach)  teils  auf 
einer  Ferienreise  durch  Nordböhmen,  teils  bei  späterer  Gelegenheit  ge- 
sammelt und  mir  freundlichst  zur  Verfügung  gestellt  hat.  Sie  finden  sich 
in  den  , Deutschen  Volksliedern  aus  Böhmen'  nicht,  oder  berühren  sich 
mit  dort  publicierten  Texten  nur  in  allgemeinen  Motiven. 

12. 

1.  Es  lebten  zwei  in  einem  Sinn.  4.  Die  Mutter  merkte  sieh  das  Wort 
Sie  lebten  in  der  Unschuld  hin,  Und   sprach  (?)   zum   Jüngling  dieses 
Sie  liebten  sich  herzinnig  lieb.  Wort: 

Das  Schicksal  trennt  sie  wunderlich.         „Wenn  du  nicht  kehrst  bald  zurück, 

Sonst  kommst  du  um  dein  Erdenglück.'1 

2.  Der  Jüngling  wollt'  auf  Reisen  gehn. 

Da  blieb  sein  Mädchen  weinend  stehn.  5.  Der  Jüngling  trat  die  Reise  an 
Da  sprach  die  Mutter:    „Mein  liebes  Und  reiste  in  des  Liebchens  Land. 

Kind,  Wie  ihm  da  zu  Mute  war, 

Du  weinst  dir  deine  Äuglein  blind."         Als  er  da  sein  Mädchen  sah! 

3.  „Doch,  Mutter,  hab'  dir  keine  Not,       6.  Die  roten  Wangen  waren  bleich, 
Schon  längst  wünsch'  ich  mir  meinen        Die  Hände  und  Füsse  starr  wie  Eis. 

Tod.  Sie  lispelt'  ihm  noch  leise  zu: 

Wenn  er  nicht  kehrt  recht  bald  zurück,       „Mit  mir  geht's  in  die  ewige  Ruh'." 
Sonst  kommt  er  um  sein  Erdenglück." 

7.  Sie  schaut  noch  einmal  die  Sonne  an, 
Dann  sinkt  sie  gleich  in  seinen  Ann. 
Ganz  unschuldvoll  und  seelenrein 
Schlief  sie  in  seinen  Armen  ein. 

(Sobochleben  b.  Teplitz). 

Das  Motiv  ist  das  gleiche  wie  in  dem  Lied  ,Es  zog  ein  Knab'  ins 
fremde  Land'  (D.  Vir.  a.  B.  S.  90  f.).  Im  einzelnen  aber  zeigen  die  Lieder 
keine  Verwandtschaft. 


1)  So  1870/71.     Dafür  im  Jahre  1866:   schwarzrotgold. 

2)  1866:    Österreich,  Frankreich. 


188 


Vöretzsch: 


Ich  hab  als  armer  Tischlergesell 

Für  das  Leben  keinen  Mut. 

Wenn  ich  bei  meiner  Werkstatt  steh. 

Da  heisst  es:  Hoble  gut! 

Ach  hobeln  thu  ich  herzlich  gern, 

Das  fällt  mir  gar  nicht  schwer. 

Mir  glänzet  nie  des  Schicksals  Stern, 

Und  das  verdriesst  mich  sehr. 


13. 

3. 


War"  mir  des  Meisters  Pepi  gut! 
War  nicht  ihr  Vater  reich. 
War  er  so  arm,  wie  ich  es  bin, 
So  warn  wir  beide  gleich. 
Doch  heimlich  ist  sie  mir  doch  gut, 
Sie  liebt  mich  innerlich  (inniglich?) 
Das  giebt  mir  Kraft,  das  giebt  mir  Mut, 
Das  freut  mich  innerlich. 


War'  mir  des  Meisters  Pepi  gut, 
Es  würd'  mich  herzlich  freim. 
Kommt  sie  zu  mir  in  die  Werkstatt 

'rein, 
Geht  mir  das  Herz  aus  dem  Leim. 
Ich  bin  dem  Mädchen  herzlich  gut, 
Ich  liebe  sie  recht  heiss, 
Auch  ich  vergiess'  fürs  Leben  gern 
Mein  Blut  und  meinen  Schweiss. 


4.  Drum  hobeln  will  ich,   weil  ich  kann. 
Bei  Tag'  und  bei  der  Nacht, 
Bis  endlich  mich  bei  meinem  Fieiss 
Die  Liebe  glücklich  macht. 
Und  bringt  die  Liebe  es  zustand". 
Und  Pepi  ist  mein  Weib, 
Dann  leimt  und  hobelt  meine  Hand 
Nur  noch  zum  Zeitvertreib. 


(Aus  einem  Liederbuch.    Schluckenau.) 

Der  glatte  Text  scheint  modernen  Ursprungs.  Das  Versmass  stimmt 
mit  dem  des  bekannten  ,Hobelliedes'  aus  Baimunds  ,  Verschwender'  („Da 
streiten  sich  die  Leut'  herum  — Wohl  um  den  Wert  des  Glücks")  überein: 
vielleicht  ist  es  zu  dieser  Melodie  gedichtet,  wie  ja  auch  Einzelheiten  des 
Textes  au  das  Lied  erinnern. 


14. 


1.  Wenn  man  in  späten  Enkeltagen 
"Von  Sechsundsechzig  spricht. 
Da  wird  man  sieh  verwundert  fragen: 
Warum  kam  denn  Baiern  nicht? 


Hannover,  Württemberg-  und  Dessau1) 
Liesset  alle  ihr  im  Stich, 
Bis  Manteuffel  unterdessen 
Euch  wohl  auf  die  Kappen  stieg. 


2.  Warum  seid  ihr  nicht  erschienen,         5.  Und  der  Baier  sprach:  Erschienen 
Als  man  drang  in  Böhmen  ein?  Warn  wir  nicht  zur  rechten  Zeit  allhier. 

Franz  Joseph  hat  es  euch  ja  geschrieben,     Allein  dass  wir  zu  Haus  geblieben: 
Dass  ihr  sollt  zur  Stelle  sein.  Hatten  soviel  gutes  Bier. 


3.  Oder  habt  ihrs  nicht  könnt  lesen 
Die  Depesch'  des  Generals, 
Weil  besoffen  ihr  gewesen 
Noch  zum  Abendmahl? 


6.  Wo  wir  hinkamen  allerorten, 
Da  tranken  wir  zu  jeder  Stund, 
Sonst  wärs  uns  sehr  sauer  worden: 
Das  war  der  Verspätungsgrund. 

(Sobochleben.) 


1)   Natürlich:  Hessen.    Die  Sängerin  jedoch  erklärte  auf  Befragen:  Dessau,    So  wird 
Hessen  zu  Dessau  mir  wegen  eines  vorausgehenden  ,und'. 


Zu  den  deutschen  Volksliedern  ans  Böhmen  und  aus  Niederhessen.  IS'.i 


15. 

1.  Was  hört  man  jetzt  neues  vom  Kriege.    3.  .Die  Kugeln,  die  hört  man  schon  pfeifen, 
Was  hört  man  zu  jetziger  Zeit?  Da  liegen  die  Toten  gehäuft, 

Man  hört  nichts  als  Kämpfe  und  Siege.        Dort  sticht  mau  mit  mördrischer  Lust 
Das  Schlachtfeld  ist  allzu  bereit.  Meinem  Bruder  das  Schwert  in  die 

Brust." 
-.  J  >  Schwester,  ich  muss  dich  verlassen. 

Muss  fort  in  das  mördrische  Land,      4.  Die  Schwester  thut  weinen  und  klagen  — 
Ich  kann  dich  vor  Schmerz  kaum  Ist  das  nicht  ein  traurig  Geschick?  - 

umfassen,  _Im  Schlachtfeld  ist  er  gehlieben. 

So  komm  doch  und  reich  mir  die  Zu  mir  kehrt  er  nicht  mehr  zurück." 

Hand." 

5.  Die  Mutter  thut  weinen  und  klagen. 
Der  Vater  naht:  .Wo  ist  mein  Solin?" 
In  Bosnien  liegt  er  begraben, 
Das  ist  der  Soldaten  ihr  Lohn. 

(Schluckenau.  Liederbuch.) 
Tübingen. 


Der  Wolf  mit  dein  Wockenbriefe. 

Märehen  in  Kattenstedter  Mundart. 
Mitgeteilt  von  E.  Damköhler,  erläutert  von  K.  Weinhold. 


Et  war  e  mal  en  gräf,  de  harre  drei  deehter,  äwer  keine  harre  hei 
sau  leif  als  de  jingeste,  dat  war  sin  schdtkint.  Wenn  hei  nä'r  schtat  faur, 
denn  brochte  hei  se  immer  wat  niede,  un  alles  wat  se  sek  winsche,  dat 
kreuch  se.  Wi  nun  mal  weder  gröter  marcht  war  in  der  schtat,  da  frauch 
de  gräf  sin  dechterken,  wat  et  an  liwesten  bebben  wolle?  hei  wolle  et 
kepen.  Un  dat  meken  winsche  sek  nen  bipseben  wokkenbreif.  De  gräf 
verwundere  sek,  dat  sine  dochter  sek  nen  wokkenbreif  winsche,  äwer  hei 
se  ja,  hei  wolle  nen  recht  hipschen,  den  besten,  de'  te  kepen  warre,  mede 
bringen.  De  gräf  leit  min  änsebpannen  un  wi  hei  äffären  wolte,  da  kam 
sine  dochter  noch  emäl  änjelopen  un  se,  hei  solle  äwer  jö  den  wokken 
breif  nieb  vorjetten. 

Dat  weder  war  den  dach  sau  seltene,  un  wi  de  gräf  in  dat  holt  kam, 
wü  hei  doreb  moste,  da  sungen  de  vogels  sau  bipsch,  dat  de  gräf  meine, 
sau  schene  harre  hei  se  noch  nich  ehert.  Wi  de  gräf  nü  sau  in  sinen 
wägen  sät,    ewwerlachte  bei  sek,    wat  hei  alle  kepen  wolle,   wat  hipsches 


19(1  I  'amköliler: 

solle  et  äwer  sin.  Met  der  wile  war  hei  nä'r  schtat  ekommen,  wü  schön 
alles  lewe.  Da  war  vel  te  sein  un  vel  te  kepen.  De  gräf  mäke  erseht 
sine  jeschefte  äf  un  denn  kofte  hei  in;  hei  sochte  immer  dat  beste  üt,  wat 
da  war.  Wi  hei  mi  schön  sau  wit  fartich  war.  date  nä  hiis  fären  wolle. 
da  folt  ene  in,  date  den  wokkenbreif  noch  nich  harre,  im  dene  dorfte  hei 
doch  nich  vorjetten. 

Hei  junk  alsau  wedder  ua'n  marchte  un  sochte  un  sochte,  könne  äwer 
keinen  wokkenbreif  finnen.  Hei  frauch.  wü  wol  wekke  te  hebben  warren, 
äwer  keinder  harre  wekke  sein.  Hei  leip  noch  en  pär  mal  ewwert  marcht. 
äwer  ne,  et  war  kein  wokkenbreif  da.  Da  worte  recht  bedriwet:  wat 
warre  wol  sin  dechterken  sein,  wenn  hei  den  wokkenbreif  nich  mede 
brochte,  wü  et  sek  sau  vel  op  efreut  harre?  Et  junk  ne  sau  nä,  hei  konue 
et  äwer  nich  endern  un  se  terlezt  tau  siuen  kutscher:  wey  willen  man  nä 
hus  fären,  et  geit  al  op  n  äbent  lös.  Un  sei  fauren  wech.  De  gräf  sät  in 
sine  kutsche  un  se  kein  wort,  hei  dachte  man  immer  an  den  wokkenbreif. 
Wi  hei  nun  in  dat  holt  ekommen  war  un  dat  hei  sau  in  jedanken  sät,  da 
schimmere  op'n  mal  wat  vor  ene  von  böme;  hei  kukke  nipe  tau  un  wi 
hei  necher  kam.  jewäre  hei  op'n  böme  en  wulf.  de  harre  en  wunder- 
schönen wokkenbreif  in  der  schnitte.  De  gräf  leit  gliks  schtille  holen  un 
frauch  den  wulf.  op  hei  den  wokkenbreif  nich  krien  kenne.  Ne'i,  se  de 
wulf,  dene  geiwe  hei  nich  her.  Da  bot  de  gräf  ene  vele  jelt,  wenne  ene 
den  wokkenbreif  leite,  äwer  de  wulf  wollne  nich  herjeben.  Terlezt  se  de 
gräf,  hei  solle  ene  doch  mau  den  wokkenbreif  jeben.  hei  solle  6k  alles 
hebben,  wate  hebben  wolle.  Da  se  de  wulf.  wenn  hei  hebben  solle,  wat 
den  gräfen  tauerscht  op  der  brie  bejenen  de,  wenne  üt'n  holte  keime,  denn 
solle  hei  ök  den  wokkenbreif  hebben.  Nun  harre  de  gräf  nen  hipschen 
püdel,  de  ene  allemal,  wenn  hei  nä  hüs  kam,  bis  op  de  brie  entjejen  leip, 
un  dachte,  de  wulf  meine  disen  püdel.  Hei  vorschprök  denn  ök,  dat  de 
wulf  hebben  solle,  wat  ene  tererscht  op  der  brie  bejenen  warre.  Da 
schme'it  de  wulf  den  wokkenbreif  von  böme  un  de  gräf  faur  vulder  freuden 
nä  hus. 

Wi  hei  nun  üt'n  holte  rüter  kam,  date  nä  sinen  schlösse  kukken 
könne,  da  säch  hei  schön  von  widens  sinen  püdel  ankommen,  äwer  ök 
sine  kleine  dochter,  de'  al  lange  op  eren  väder  ewärt  harre,  un  weil  hei 
nich  kam,  ene  en  betjen  entjejen  junk.  Den  gräfen  schwane  nischt  güts, 
wi  hei  de  beiden  daher  kommen  säch,  un  reip  sinen  kutscher  tau.  hei 
solle  taufären,  dat  se  er  nä'er  brie  keimen  wi  dat  kint.  Hei  hoffe  6k 
immer  noch,  dat  de  püdel  en  betjen  vorut  löpen  solle;  äwer  je  rascher 
de  gräf  faur,  deste  harter  leip  dat  meken  un  de  pudel  bleif  terie.  Den 
gräfen  ewwerleip  et  heit  un  költ  un  in  siner  angest  joche  hei,  wate  könne, 
äwer  et  hulp  ne  nischt.  Wi  hei  op  de  brie  kam.  war  sine  dochter  ök  da 
un  lache  un  frauch  gliks  eren  väder,  ope  ök  den  wokkenbreif  harre.  De 
gräf  mäke    en    frintlich  jesichte,    sau   gut    et  gän  wolle  un  se:   ja,    mi 


Der  Wolf  mit  dem  Wockenbrief'e.  191 

deohterken,  dene  hewwe  ek  uich  vorjetten.  Dat  meken  marke  äwer  sinen 
väder  doch  an,  date  wat  op'n  harzen  harre,  hei  war  nich  sau  fro  un'  sau 
frintlich  wi  sist.  Et  frauch  ne  denn  6k,  op  ne  wat  arre  gän  warre,  äwer 
hei  leit  sek  nischt  üt,  dämet  et  sine  dochter  nich  marken  solle.  Wi  se 
nü  na  hüs  kämen,  da  war  de  freude  gröt  ewwer  all  de  Sachen,  de  de  gräf 
mede  brocht  harre;  äu  meisten  freue  sek  äwer  de  jingeste  dochter  ewwer 
den  hipschen  wokkenbreif;  sau  wat  schönes  harre  se  noch  nich  esein.  Bi 
al  diser  freude  un  disen  jüwel  war  den  gräfeu  doch  schlecht  te  sinne,  hei 
wolle  6k  fro  sin,  äwer  hei  könne  et  nich,  hei  moste  immer  an  den  wulf 
denken.  Et  dure  6k  nich  sau  lange,  da  folt  et  der  grefinne  op,  dat  er 
man  sau  bedriwet  war,  un  se  frauch  ene.  Anfanks  wolle  hei  et  nich  se'in, 
terlezt  äwer  verteile  hei  alles,  wi  et  ene  gän  war  in  holte,  un  meine,  wenn 
hei  doch  man  den  wokkenbreif  nich  enommen  harre. 

Se  wären  alle  in  gröter  not,  blös  de  jingeste  dochter  harre  keine 
angest  un  meine,  de  wulf  warre  wol  nich  kommen.  Nän  äbenbröe  säten 
se  alle  in  der  schtüwe  un  verteilten  sek  noch  wat.  Da  op  ein  mal  pumpe 
wat  än't  dör.  Da!  da  isse,  se  de  gräf,  un  vor  angest  wüsten  se  nich,  wat 
se  anfengen  sollten.  Se  leipen  heu  un  her  un  wollten  de  dochter  vor- 
schteken.  Met  der  wile  jink  et  al  weder:  „bum,  bum,  bum!  ek  wil  hebben, 
wat  mek  vorschpröken  is,  ek  wil  hebben,  wat  mek  vorschpröken  is." 
Harreje!  et  war  de  wulf  un  wolle  dat  meken  hälen.  Ne,  se  de  grefinne, 
mine  dochter  krichte  nich,  dat  mach  kommen  wi  et  wil,  un  schlöt  dat 
meken  in  de  kämer.  Awer  de  wulf  kloppe  immer  harter  än't  dör  un  wort 
al  unjedillich,  dat  hei  sau  lange  wären  moste.  Da  kam  de  gräf  un  sine 
fni  op  den  jedanken,  se  wollten  nä  eren  schwineharten  schikken,  de  harre 
6k  en  kleines  meken,  dat  war  met'n  gräfen  sinder  dochter  in  glikeu  alder: 
dat  wollten  se  hipsch  äntrekken  un  den  wulwe  herjewen.  Se  sen  denn 
nun  taun  wulwe,  hei  solle  dat  meken  hebben,  äwer  hei  meste  noch  en 
betjen  wären,  bis  sei  et  änetrekt  harren. 

Et  düre  ök  nich  lange,  da  war  den  schwineharten  sin  meken  da.  Dat 
moste  der  kleinen  grefinne  sine  klöder  äntein,  wort  hipsch  terechte  mäkt 
un  denn  vör't  schloss  efeurt,  wu  de  wulf  war.  Un  dei  wulf  se  tau  den 
meken:  set  dek  op  minen  rüen  schwänz,  ek  wil  dek  fären  holt  in't  laut, 
ewwer  hals,  ewwer  kop,  ewwer  schtok,  ewwer  blök!  un  vort  junk  et  in't 
holt  nä'n  wulwe  sinder  hele. 

In  der  hele  lach  vel  löf  un  mos,  wü  de  wulf  oppe  schleip;  hir  solle 
uün  dat  meken  bliben  un  den  wulwe  wat  hüshölen.  Dat  meken  se  6k 
vor  lauter  angest,  ja,  dat  wolle  et  daun.  Nä  ner  wile  se  de  wulf,  hei 
meste  jezt  weder  fürt  in't  holt,  et  solle  sek  äwer  nich  underschtän  un 
wechlöpen,  sist  jinge  et  ene  schlimm.  Dämet  jink  de  wulf  vort.  Dat  meken 
war  nun  ganz  allene  in  der  hele  un  fonk  an  mette  schrien;  et  war  sau 
angeste.  dat  de  wulf  et  opfreten  dee,  äwer  wech  te  löpen  undersehtunt  et 
sek   ök   nich,    et  wüste  jo   keineu    bescheit  in  der  wiltnisse.     Wi  de  wulf 


]92  Damköliler: 

weder  kam,  wäre  kellisch  meue;  hei  lachte  sinen  kop  in  den  mekeu  sinen 
schöt  un  se  vor  et:  „lüse  mek".  Dat  meken  Mse  ene  denn  ök,  und  däbi 
schleip  de  wulf  in.  Wi  de  wulf  weder  op  wäke.  frauch  hei  dat  meken, 
wat  et  wol  an  der  tit  warre,  un  dat  meken  so:  „et  wart  wol  sau  an  der 
tit  sin,  dat  min  väder  niefn  schwinen  in  midäsläger  lit."  „Bist  rechte  nich. 
bist  rechte  nich,"  se  de  wulf  un  lachte  sek  in  de  ekke.  "Wi  et  äbent  war. 
se  de  wulf  vör't  meken:  „set  dek  op  minen  rüen  schwänz,  ek  wil  dek  fären 
holt  int  lant,  ewwer  hals,  ewwer  kop,  ewwer  schtok.  ewwer  blök"  un 
brochte  et  weder  nä'n  schlösse. 

Op'n  schlösse  waren  se  noch  alle  oppe  un  schpröken  davon,  wu  et 
wol  den  meken  jinge  un  op  de  wulf  et  wol  nich  emarkt  harre,  dat  et  dat 
rechte  nich  warre.  Ach,  se  de  grefinne,  wüvon  solle  denn  dat  marken? 
hei  kennt  jo  unse  dochter  nich:  hei  wart  wol  nich  weder  kommen.  Indem 
kloppe  et  dreimal  än't  schlossdör  un  se:  ,,ek  wil  hebben.  wat  mek  vor- 
schpröken  is."  Richtich,  de  wulf  war  weder  da  un  brochte  den  sehwine- 
harten  sin  meken  weder  un  wolle  dat  andere  hebben.  Nun  wüsten  se  op'n 
schlösse  nich,  wat  se  mäken  sollten.  Da  folt  der  grefinne  in,  dat  de  kau- 
harte ök  en  meken  harre,  dat  met  erer  dochter  in  gliken  alder  war.  Nun 
wort  den  sin  meken  ehält.  Et  moste  sek  6k  hipsch  te  rechte  mäken  un 
denn  wort  et  den  wulwe  henejeben.  Wi  et  vört  dör  kam,  se  de  wulf 
weder:  „set  dek  op  minen  rüen  schwänz,  ek  wil  dek  fären  holt  in't  lant, 
ewwer  hals,  ewwer  kop,  ewwer  schtok,  ewwer  blök"  un  fürt  jnnk  et  in't 
holt  nä'n  wulwe  sinder  hele.  Nä  ner  wile  se  de  wulf  weder  tau  deu  meken, 
hei  wolle  mal  vört  gän,  et  solle  sek  äwer  nich  underschtän  un  wechlöpen, 
sist  jinge  et  ene  schlimm.     Dat  meken  bleif  denn  ök  in  der  hele. 

Wi  de  wulf  weder  kam,  worte  meue.  Hei  lachte  sineu  kop  den  meken 
weder  in  den  schöt  un  se:  „lüse  mek".  Dat  meken  lüse  ene  denn  ök  im 
däbi  schleip  de  wulf  in.  Wi  hei  weder  op  wäke,  frauche  dat  meken,  wat 
et  wol  an  der  tit  warre.  un  dat  meken  antwere:  „et  wart  wol  sau  an  der 
tit  sin,  dat  min  väder  met'n  keuen  in  midäsläger  lit."  „Bist  rechte  nich, 
bist  rechte  nich"  brumme  de  wulf  un  lachte  sek  in  de  ekke.  Wi  et 
äbent  eworren  war,  se  hei  weder  tau  den  meken:  „set  dek  op  minen  rüen 
schwänz,  ek  wil  dek  fären  holt  in't  lant.  ewwer  hals,  ewwer  kop,  ewwer 
schtok,  ewwer  blök"  un  brochte  et  weder  nä'n  schlösse. 

Op'n  schlösse  wären  se  in  angest,  op  de  wulf  ök  den  kauharten  sin 
meken  weder  bringen  warre.  Indem  dat  se  noch  davon  schpröken,  junk 
et  an  döre:  „bum,  bum,  bum,  ek  wil  hebben,  wat  mek  vorschpröken  is, 
ek  wil  hebben,  wat  mek  vorschpröken  is."  De  wulf  war  weder  da.  Jezt 
hulp  alles  nischt,  se  mosten  de  grefinne  herjeben.  Dat  kleine  meken  kreuch 
de  besten  kleder  äu,  de  et  harre,  näm  sinen  wokken  un  den  hipschen 
wokkenbreif  un  wort  vör't  schloss  efeurt,  wü  de  wulf  al  rare;  Wi  et  hen 
kam.  se  de  wulf:  „set  dek  op  minen  rüen  schwänz,  ek  wil  dek  fären  holt 
in't  laut,  ewwer  hals,  ewwer  kop,  ewwer  schtok,  ewwer  blök,"  un  fürt  junk 


Der  Wolf  mit  dem  Wockenbriefe.  L93 

et  weder  dorch't  holt  nä'n  wulwe  sinder  hele.  Wi  se  ne  tit  lank  da  wären, 
se  de  wulf,  hei  wolle  mal  wechgän;  et  solle  sek  äwer  jo  nich  underschtän 
im  wechlöpen,  sist  jinge  et  ene  schlimm;  dämet  junk  de  wulf  vort;  dat 
meken  fenk  äwer  an  te  schrien,  dat  et  hir  sau  schteinwint  allene  sin  solle. 
Wi  de  wulf  weder  kam,  worte  meue,  lachte  siuen  kop  in  den  meken  sinen 
schöt  im  se:  „lüse  mek".  Dat  meken  lüse  den  wulf  un  däbi  schleip  hei 
in.  Wi  hei  weder  op  wäke,  frauch  hei,  wat  et  an  der  tit  warre,  un  dat 
meken  autwere:  „et  wart  wol  sau  an  der  tit  sin,  dat  min  väder  met  sinen 
jesten  an  der  tafel  sit."     „Bist  rechte,  bist  rechte"  se  de  wulf. 

Dat  meken  moste  nun  immer  bi  den  wulwe  in  der  hele  bliben.  Op 
lezt  könne  et  et  awer  nich  mer  utholen  un  eines  däges  näm  et  sinen 
wokken  un  wokkenbreif  un  leip  fürt,  immer  dorch't  holt  wat  et  löpen  könne. 
Et  leip  den  ganzen  dach,  könne  sek  äwer  nich  üt  den  holte  rinnen;  et  wort 
äbent  un  schön  dister  im  et  war  immer  noch  in  der  wiltnisse.  Et  war  sau 
marrode,  dat  et  sek  en  ögenblik  hensatte.  Wat  wolle  dat  weren,  wenn  ei 
erseht  ganz  dister  wort  un  de  willen  diro  kämen?  op'n  böm  könne  et  nich 
klettern,  de  wären  sau  hoch  im  sau  dikke.  Et  reip  nä  väder  un  mutter, 
äwer  et  hör  keinen  minschen.  Un  wenn  de  wulf  nun  kam?  Et  fonk  an  te 
schrien  un  leip  weder  wider  dorcht  holt  bis  et  dister  wort.  Da  op  ein  mal 
schimmere  dorch  de  beme  en  licht.  Dat  meken  junk  drop  tau,  un  wi  et 
necher  kam,  jewärie  et  en  klein  hiseken.  Et  kukke  dorcht  fenster  un  säch 
in  der  schtiiwe  ne  öle  fru,  de  schpunt  immer  flitick  vor  sek  hen,  öne  op 
te  kukken.  Sonst  war  wider  keinder  drinne.  Dat  meken  fäte  sek  en  harze 
im  kloppe  an,  äwer  de  fru  schine  et  nich  ehert  te  hebben,  se  schpunt  wider; 
et  kloppe  noch  en  mal  an.  Da  kukke  de  fru  rüter  un  frauch,  wer  da  warre. 
Ach,  se  dat  meken,  kenne  je  mek  denn  dise  nacht  nich  bi  jich  beb.olen-3 
ek  hewwe  mek  in  holte  vorlören  un  weit  nich  wfrek  bin.  Butten  in  holte 
grüle  ek  mek,  beholt  mek  .doch  dise  nocht,  ek  wil  6k  ganz  ärtich  sin  im 
nicht  eten«un  drinken.  Ja,  se  de  fru,  beholen  kau  ek  dek  nich,  min  doehter, 
min  man  is  en  minschenfreter,  un  wenn  de'  nä  lnis  kimt  im  rikt,  dat  hir 
wer  is,  denn  frite  dek  op.  Lop  jö  fürt,  date  dek  nich  jewär  wart.  Da  fonk 
dat  meken  an  te  schrien  un  bide  de  fru  sau  vele,  se  mechte  et  doch  be- 
hölen,  et  kenne  nich  mer  gän  un  wü  et  iu  der  Finsternisse  hensolle?  se 
solle  et  doch  vorschtekeu,  et  wolle  6k  müsekenschtille  sitten  un  sek  nich 
rippeln  un  nich  reen.  Dat  hilpt  dek  nischt,  se  de  fru ,  min  man  rikt  dat 
gliks,  wenn  wer  in  hüse  is,  un  däbi  kukke  se  sek  dat  meken  en  betjen 
jenauer  an,  un  wi  se  säch,  dat  et  sau  hipsch  war  un  dat  et  saun  schönes 
klet  äne  liarre,  da  düre  se  dat  meken  doch  un  se,  et  solle  mau  rinkommen, 
sei  wolle  et  dise  nacht  behölen.  Dat  meken  moste  nun  alles  vorteilen,  wi 
et  ne  gän  liarre.  Därop  häle  de  fru  wat  te  eten  her,  un  wi  dat  meken 
ejetten  harre,  se  de  fru,  se  wolle  et  nun  und'ne  in  kelder  vorschteken,  dat 
ere  man  et  nich  marken  de,  bei  warre  wol  bäle  kommen;  et  solle  sek 
äwer  jö  schtille  vorholen,   sist  warre  et  vorlören.     Dat  meken  vorschprök 


1<)4  Damköhler: 

dat    denn    ök    un    wort    nun    in    kelder    ebrocht    un    da    in    ne    öle  kiste 
schtöken. 

Et  düre  6k  nich  lange,  da  mäke  sek  butten  de  wint  op  un  et  wort  en 
jerusche  un  en  jebräsche,  als  op  de  beme  umme  breken  wollten,  un  de 
schturm  kam  immer  uecber  un  necber  bis  dichte  vor't  lnis  un  in  de  hüsder. 
Da  wort  et  schtille.  Dat  war  de  frü  ere  man.  de  minschenfreter.  Sau  wi 
de  wint  in  de  schtüwe  trat  un  sinen  gröten  mantel  awe  tön  harre,  se'  hei 
tau  sinder  frü:  „frü,  ek  rüke  minschenfleisch,  ek  rüke  minsehenfleisch." 
„Ach  wat,"  se  de  frü.  „du  bist  wol  nich  rechter  klauk,  wü  soll  hir  minsehen- 
fleisch  sin.  ek  hewwe  nischt."  „Doch,"  secht  hei,  „ek  rüke  minschenfleisch, 
häle  man  her,  ek  hewwe  gröten  hunger,"  un  däbi  schniffele  hei  umher,  op 
hei  et  nich  Annen  kenne.  De  frü  schult,  wü  hei  sek  sau  wat  denken  kenne, 
dar  se  wene  in  hüse  harre;  hei  warre  wol  nich  recht  jescheit,  in  dise  jejent 
keime  kein  minsche.  Hei  ble'if  äwer  däbi.  er  warre  minschenfleisch  in  hüse, 
un  wenn  sei  et  nich  gütwilliger  herhälen  de,  denn  wolle  hei  et  schön 
Annen.  Nun  wort  de  frü  doch  bange  un  se  se  vor  eren  man,  hei  solle 
sek  man  te  freden  jeben,  se  wolle  et  ök  herhälen,  äwer  hei  solle  er  vor- 
schpreken.  den  minschen  nischt  te  dann.  „Brink  et  man  erseht  her."  se 
hei.  „dat  wart  sek  schön  Annen."  De  frü  moste  nü  dat  meken  hervorholen, 
im  wi  et  den  minschenfreter  säch.  zettere  un  bewwere  et  an  ganzen  karper 
un  bide  ene,  hei  mechte  et  doch  nicht  daun;  un  de  frü  schprök  ök  vor 
dat  meken  un  se  tau  eren  man:  „kukke  mal,  dit  kleine  artige  worin,  dat 
darfste  mek  nich  opfreten."  Dat  meken  moste  nun  vorteilen,  wu  et  ene 
gän  harre,  wat  vor  ne  bewantnis  et  met  den  wokkenbreiwe  harre  un  wu 
et  her  war.  Därop  se  de  man,  hei  wolle  et  an  lebente  läten,  et  solle  sek 
te  bede  le'in,  denn  morjen  freu,  e  de  sunne  opjinge,  wolle  hei  et  metnemen 
un  nä  hüs  bringen.  Keinder  war  fröer  wi  dat  meken.  De  frü  mäke  en 
bede  te  rechte,  wü  et  sek  rin  lachte  un  et  schleip  ök  bäle  in. 

Den  anderu  morjen,  de  sunne  war  noch  lange  nich  opegän,  da  war 
de  wint  schön  te  jange.  Dat  meken  moste  opschtän  un  sek  te  rechte 
mäken.  Wi  alles  sau  wit  fartich  war,  bedanke  sek  dat  meken  bi  der  frü, 
näm  sinen  wokkeu  un  wokkenbreif  un  de  reise  junk  lös.  De  wint  mäke 
sek  op,  dat  de  beme  bräschten,  näm  dat  meken  in  sinen  mantel  un  fürt 
junk  et  dorch  de  luft.  Grade  wi  de  sunne  opgän  wolle,  kämen  se  vor'n 
hipschen  schlösse  an.  De  wint  satte  et  hir  äf  un  se,  et  solle  sek  hir  op'n 
schlosshof  setten  un  änfengen  te  schpinneu.  Dat  meken  dät  denn  dat  6k 
un  de  suune  schiue  op  den  wokkenbreif,  datte  blitzere  un  blenkere. 

Op  den  schlösse  wöne  äwer  en  prinz,  de  harre  noch  nich  lange  frit. 
Wi  nun  de  prinz  opwäke  im  üt"n  fenstere  kukke  un  dat  meken  mit  den 
hipschen  wokkenbreiwe  säch.  da  wolle  hei  abselüt  den  wokkenbreif  hebben. 
Dat  meken  moste  op't  schloss  kommen  uu  et  worr  errät,  op  et  den  wokken- 
breif nich   vorkepen   de.     Et  se  äwer  ne,  dene  vorkefte  et  nich:   wenn  et 


Der  Wulf  mit  dem  Wockenbriefe.  195 

awer  ne  nacht  bi  den  prinzen  schläpen  kenne,  denne  wolle  et  den  wokken- 
breif  herjeben.     Dämet  wärme  6k  invorschtän. 

Den  prinzen  sine  frii  harre  eren  manne  äwer  nen  schläpdrunk  ejeben, 
uu  wi  dat  meken  et  äbents  op  sine  kämer  kam,  da  schleip  de  prinz  schon 
un  woke  de  ganze  nacht  nich  weder  op,  un  dat  meken  könne  kein  wort 
metne  schpreken.  Den  andern  morjen,  wi  de  sunne  opjunk,  war  de  prin- 
zessinne  schon  da  un  wolle  den  wokkenbreif  hebben.  Dat  meken  äwer  se, 
den  wokkenbreif  jeiwe  et  noch  nich  her.  de  prinz  harre  de  ganze  nacht 
eschläpen  un  et  harre  kein  wort  metne  schpreken  kennen;  et  wolle  erseht 
noch  ue  nacht  bi  ene  schläpen.  Dat  jeschöch  6k.  De  prinzessinne  harre 
eren  manne  äwer  weder  neu  schläpdrunk  ejeben,  un  dat  meken  könne 
weder  nicli  metne  schpreken,  weil  hei  nich  opwäke.  Wi  äu  andern  morjen 
de  prinzessinne  kam  un  den  wokkenbreif  hebben  wolle,  jäf  ne  dat  meken 
äwer  noch  nich  her;  et  so,  de  gräf  harre  de  ganze  nacht  eschläpen,  et 
wolle  6k  de  dride  nacht  noch  bi  ene  bliben,  denn  solle  se  den  wokken- 
breif ganz  beschtimt  hebben.  De  prinzessinne  leit  sek  denn  6k  därop  in 
un  mäke  eren  manne  weder  den  schläpdrunk  te  rechte.  Wi  et  äbent  wort 
un  de  prinz  sek  henlem  wolle,  da  dachte  hei:  „wiitau  sollek  denn  immer 
den  schläpdrunk  nemen?"  un  jot  ne  wech,  un  nun  könne  dat  meken  metne 
schpreken  un  se  erkennten  sek.  De  wulf  metn  wokkenbreiwe  war  nemlich 
dise  prinz  ewest  un  dit  meken  war  vor  ene  beschtimt.  Den  prinzen  sine 
frü  äwer  war  ne  hexe  un  wolle  nich,  dat  dise  beiden  tesamme  keimen. 
Jezt  wort  se  hals  ewwer  kop  fürt  ejocht,  un  de  beiden  andern  hebben  sek 
efrit  un  sint  gliklich  met  enander  ewest. 


Das  Märchen  vom  wulve  met'n  wockenbreiwe  ist  von  Herrn  Ober- 
lehrer Ed.  Damköhler  in  Blankenburg  am  Harz  in  der  Mundart  seines 
Heimatdorfes,  des  benachbarten  Kattenstedt,  so  aufgezeichnet  worden,  wie 
er  es  oft  von  seinem  Vater,  und  dieser  wieder  von  seinen  Eltern  gehört 
hatte.  Ich  will  einige  vergleichende  Ausführungen  dazu  geben,  da  dieses 
Märchen  einer  weit  verbreiteten  alten  Familie  angehört,  die  über  Europa 
verstreut  ist  und  wahrscheinlich  aus  Asien  stammt.  Doch  werde  ich  mich 
auf  das  zunächst  liegende  beschränken. 

Das  Gruudthema  der  verschiedenen  Erzählungen  ist,  dass  ein  Vater 
(König,  Graf,  Kaufmann)  genötigt  wird,  seine  liebste  Tochter  au  ein 
tiei'isches  Wesen  zu  geben,  das  aber  ein  verzauberter  Mensch  ist;  seine 
Erlösung  wird  durch  das  Mädchen  vollzogen. 

In  dem  Kattenstedter  Märchen  soll  ein  Graf  seiner  jüngsten  Tochter 
aus  der  Stadt  als  Geschenk  einen  Wockenbrief  (d.  i.  ein  verziertes  Stück 
von  Pergament    oder  dünner  Pappe,    das  um  den  Flachs  am  Rockenstiel 


]!)(;  Weinhold: 

gelegt  wird)1)  mitbringen.  Er  findet  keinen,  begegnet  aber  auf  dem  Heim- 
wege einem  Wolfe  mit  einem  schönen  Wockenbriefe.  Er  erhält  ihn  von 
dem  AVolfe  gegen  das  erste,  das  ihm  zu  Hause  entgegenkommen  werde. 
Das  ist  nun  seine  Tochter.  Als  der  Wolf  sie  abholen  kommt,  wird  erst 
dir  Tochter  des  Schweinehirten,  dann  die  des  Kuhhirten  untergeschoben: 
beide  bringt  der  Wolf  zurück  und  verlangt  die  rechte.  So  muss  ihm  denn 
zuletzt  das  Grafen  töchterchen  folgen.  Sie  wohnt  mit  dem  Wolfe  in  der 
Holde,  lanoweilt  sich  aber  so,  dass  sie  mit  ihrem  Wochen  und  dem  Wocken- 
briefe  entflieht.  Sie  findet  nicht  aus  dem  Walde  heraus,  abends  gelangt 
sie  zu  einem  Hause.  Die  Frau  desselben  nimmt  sie  auf  ihr  Bitten  ein 
und  versteckt  sie  vor  ihrem  Manne-,  einem  Menschenfresser,  dem  Winde. 
Aber  der  riecht  das  Menschenfleisch,  doch  erbarmt  er  sich  des  Mädchens 
und  trägt  es  am  andern  Morgen  auf  seinem  Mantel  zu  einem  schönen 
Schlosse,  wo  ein  jung  vermählter  Prinz  wohnt.  Die  Grafentochter  setzt 
sich  auf  Rat  des  Windes  vor  das  Schloss  und  spinnt.  Die  Sonne  scheint 
auf  den  schönen  Wockenbrief;  der  Prinz  sieht  das  und  will  den  Brief 
haben,  den  sie  aber  nur  gegen  eine  Nacht  bei  ihm  hergeben  will.  Der 
Prinz  bekommt  zweimal  einen  Schlaftrunk  von  seiner  Frau,  so  dass  das 
Mädchen  kein  Wort  mit  ihm  sprechen  kann.  In  der  dritten  Nacht  aber 
dachte  der  Prinz:  wozu  soll  ich  denn  immer  den  Schlaftrunk  nehmen? 
und  so  konnte  das  Mädchen  mit  ihm  reden  und  sie  erkannten  sich.  Der 
Prinz  war  nämlich  der  Wolf  und  die  kleine  Gräfin  für  ihn  bestimmt.  Da 
ward  die  Frau,  die  eine  Hexe  war,  fortgejagt  und  jene  heirateten  sich. 

Man  sieht  leicht,  dass  in  der  Erzählung  einiges  gestört  ist  und  fehlt. 
Die  Überlieferung  ist  in  dem  aus  Fehmern  bei  Müllenhoff  (Sagen, 
Märchen  und  Lieder  der  Herzogtümer  Schleswig -Holstein  und  Lauen- 
burg. Kiel  1845.  S.  385)  mitgeteilten  Märchen  vom  weissen  Wolf 
besser. 

Ein  König  verirrt  sich  auf  der  Jagd  im  Walde  und  ein  schwarzes 
Männchen  führt  ihn  zurecht  gegen  das  Versprechen,  dass  es  zum  Lohne 
das  erste,  das  dem  König  zu  Hause  entgegen  kommen  werde,  erhalte. 
Das  ist  die  jüngste  Toohter.  Nach  acht  Tagen  holt  ein  weisser  Wolf  die 
Prinzessin  ab,  nimmt  sie  auf  seinen  Rücken  und  jagt  mit  ihr  über  Berg 
und  Thal  nach  dem  gläsernen  Berge;  dort  wirft  er  sie  ab  und  läuft  davon. 
Das  Mädchen  sucht  ihn  nun.  Es  kommt  zu  einer  kleinen  Hütte,  wo  eine 
Frau  ihm  von  ihrer  Hühnersuppe  mitteilt  und  die  Knochen  mitgiebt,  als 
sie  es  weiter  zum  Winde  schickt,  der  wohl  vom  weissen  Wolfe  wissen 
werde.     So   wandert   die  Prinzessin   zum  Winde,    dann   zur  Sonne,    erhält 


1)  Schambach,  Wörterbuch  der  niederdeutschen  Mundart  der  Fürstentümer 
Göttingen  und  Grubenhagen  S.  303.  Woeste,  Wörterb.  der  westfälischen  Mundart  S.  328. 
—  Wockenblad,  das  Pergament  oder  steife  Papier,  das  um  den  Spinnrocken  gebunden 
wird,  Bremisch-niedersächsisches  Wörterbuch  V,  284.  Danneil,  Wörterbuch  der 
altmärkisch -plattdeutschen  Mundart  S.  249. 


Der  Wolf  mit  dorn  Wockenbriefe.  197 

von  beiden  Hühnerknochen  mit  und  kommt  endlich  zum  Monde,  der  vom 
weissen  Wolfe  auch  nichts  weiss,  aber  sagt:  das  schwarze  Männchen  gebe 
Hochzeit  im  gläsernen  Berge.  Der  Mond  bringt  sie  hin,  in  der  Eile  hat 
sie  aber  eins  der  Hühnerknöchlein  vergessen.  Sie  versucht  nun  am  Glas- 
berge hinaufzuklettern,  indem  sie  die  Knöchelchen  als  Leitersprossen  an- 
legt. Oben  fehlt  noch  eine  Sprosse,  die  sie  durch  ihren  kleinen  Finger 
ergänzt.  In  dem  Berge  sitzt  das  schwarze  Männchen  als  verwunschener 
Prinz  mit  angezauberter  Frau.  Er  erkennt  die  Prinzessin  nicht,  die  nun 
ein  Lied  vom  weissen  Wolfe  singt.  Sie  muss  es  wiederholen  und  der  Prinz 
erkennt  sie.  Der  Zauber  ist  gelöst,  die  falsche  Frau  wird  Verstössen  und 
die  Königstochter  geheii-atet. 

Zu  dieser  Gruppe  gehört  auch  die  pommersche  Erzählung  vom 
weissen  Wolf,  aus  Meesow,  Kr.  Regenwalde,  bei  ülr.  Jahn,  Volks- 
märchen aus  Pommern  und  Rügen  I.  110.  60  (Norden  1891),  die  freilich  am 
Anfang  und  Schluss  arge  Änderungen  hat. 

Hier  wird  eine  Prinzessin  von  einem  jungen  Herrn  entführt,  Sie  muss 
ihn  im  Walde  lausen1)  und  die  gefundene  sehr  grosse  Laus  auf  den  Fahr- 
weg  legen.  Da  kommt  ein  Wagen  mit  der  Frau  des  jungen  Herrn  und 
fährt  über  die  Laus;  mit  einem  Knall  verschwindet  alles  und  die  Prinzessin 
ist  ganz  allein.  Ein  abgedankter  Soldat  weist  ihr  den  Weg  zu  einem 
kleinen  Häuschen,  worin  eine  alte  Frau  wohnt,  deren  Söhne  Sonne,  Sterne 
und  Mond  sind,  Menschenfresser,  die  sich  aber  des  Mädchens  erbarmen 
und  ihr  sogar  drei  glänzende  Kleider  schenken.  Der  Mond  giebt  ihr  an, 
wie  sie  zu  dem  weissen  Wolfe  kommen  könne  und  giebt  ihr  die  Knöchelchen 
der  drei  Hühner  mit,  von  denen  sie  dort  gegessen  hat.  Diese  muss  sie  als 
Brückeriteile  in  das  grosse  Wasser  legen,  und  als  ihr  eines  fehlt,  schneidet 
sie  sich  den  kleinen  Finger  ab  und  kommt  so  hinüber  zu  der  Stadt  des 
weissen  Wolfes.  Sie  legt  nun  das  Kleid  an,  das  ihr  Sonne  beim  Abschiede 
mitgab;  die  Frau  des  weissen  Wolfes  begehrt  es  und  bekommt  es  gegen 
ihre  Erlaubnis,  dass  das  Mädchen  eine  Nacht  bei  dem  Prinzen  bleiben 
dürfe.  Ein  Schlaftrunk  betäubt  diesen.  Ebenso  in  der  zweiten  Nacht, 
welche  das  Mädchen  durch  das  Sternenkleid  erkauft.  Aber  in  der  dritten 
Nacht,  welche  ihr  das  Mondkleid  verschaffte,  goss  der  weisse  Wolf  den 
ihm  verdächtigen  Trank  weg  und  erkennt  nun  die  Prinzessin.  —  Diese 
pommersche  Variante  lässt  nun  nicht  die  Lösung  des  Zaubers  und  die  Ver- 
einigung des  weissen  Wolfes  mit  ihr  eintreten,  sondern  die  Prinzessin  wird 
reich  beschenkt  entlassen  und  heiratet  den  abgedankten  Soldaten. 

In  der  Fehmernschen  und  der  Pommerschen  Erzählung  hat  das  Auf- 
suchen   des    verschwundenen  Wolfes   durch  das  Mädchen  eine  bedeutsame 


1)  Das  Lausen  und  die  irefundenc  grosse  Laus  spielt  auch  in  dem  dänischen  Märchen 
vom  Wolf  Königssohn  (Sv.  Grundtvig,  Dänische  Volksmärchen.  Übers,  von  W.  Leo.  Leipzig 
1878.   S.  252  f.)  eine  Rolle. 

Zcitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1S93.  14 


198  Weinhold: 

Stellung,  Prüfungen  seiner  Liebe  sind  dabei.  In  der  Kattenstedter  Fassung 
ist  die  Erinnerung  daran  nur  dunkel.  Diese  in  dem  Märchen  von  Amor 
und  Psyche  am  schönsten  entwickelte  Fahrt  nach  dem  verlorenen  Geliebten 
finden  wir  auch  in  dem  hessischen  Märchen  Tom  Löweneekerchen  (Grimm, 
K.  u.  H.  M.  Nr.  8.8),  in  dem  dänischen  vom  Wolf  Königssohn  und  eigent- 
lich auch  in  dem  hannoverschen  vom  Raben  (Grimm,  K.  u.  H.  M.  III,  153). 

Im  Grunde  aber  gehört  dieselbe  uicht  zu  dem  ältesten  Bestände  der 
Geschichte.  Dieser  liegt  darin,  dass  das  Mädchen  das  verzauberte 
Tier  lieb  gewinnt  und  durch  seine  Liebe  erlöst. 

Diese  einfache  Gestalt  hat  eine  Gruppe,  worin  der  Verlauf  so  ist,  dass 
dem  Mädchen  von  dem  Tiere  erlaubt  wird,  die  Eltern  zu  besuchen,  unter 
dem  Gebote,  die  gegönnte  Frist  nicht  zu  versäumen. 

In  dieser  Weise  erzählt  das  schwäbische  Märchen:  drei  Rosen 
auf  einem  Stiel  (E.Meier.  Deutsche  Volksmärchen  aus  Schwaben  Nr.  57), 
so  genannt,  weil  der  Vater  der  jüngsten  Tochter  vom  Markt  drei  Rosen 
auf  einem  Stiel  mitbringen  soll.  Diese  hütet  ein  schwarzes  Ungeheuer, 
dem  der  Yater  zur  Lösung  seines  eigenen  Lebens  die  Tochter  angeloben 
muss.  Das  Tier  erlaubt  ihr  sehr  bald  zu  dem  Vater  zu  gehen,  nur  solle 
sie  am  nächsten  Tage  zurückkehren.  Sie  ist  gehorsam,  findet  aber  das 
Ungeheuer  wimmernd  und  im  Sterben.  Allein  da  sie  kommt,  kriecht  ein 
schöner  Prinz  aus  dem  haarigen  Pelz. 

In  einer  Erzählung  aus  der  Schwalmgegend  in  Hessen  (Grimm, 
K.  u.  II.  M.  HI,  152),  wo  auch  eine  Rose  das  von  der  jüngsten  gewünschte 
Geschenk  ist  und  das  grosse  schwarze  Tier  sich  zunächst  auch  nicht  ver- 
wandeln kann,  versäumt  das  Mädchen,  weil  der  kranke  Vater  stirbt,  die 
Frist  und  trifft  bei  der  Rückkehr  alles  im  Garten  und  Schloss  traurig  ver- 
wandelt. Unter  einem  Kohlhaufen  findet  sie  das  Ungeheuer  wie  tot,  ist 
sehr  betrübt,  begiesst  es  mit  Wasser  und  es  wird  lebendig  und  wandelt 
sich,  erlöst,  in  einen  schönen  Königssohn. 

In  dem  nie  der  sächsischen  Märchen  (aus  Sichelstein,  bei 
Schambach  und  Müller,  Niedersächs.  Sagen  und  Märchen  S.  263),  wo  auch 
eine  Rose  das  ist,  was  der  Vater  von  seiner  Kauffahrt  mitbringen  soll,  ist 
das  „Gedierze"  ein  Bär,  an  den  sich  das  Mädchen  bald  gewöhnt.  Der 
Besuch  bei  den  Eltern  ist  vergessen.  Das  Mädchen  findet  nun  eines  Tages 
den  Bären  wie  tot.  Sie  beweint  ihn.  und  als  die  Thränen  auf  ihn  fallen, 
erwacht  er  und  steht  erlöst  als  schöner  Prinz  vor  ihr. 

Nach  dem  verwandten  masurischen  Märchen  (Toppen,  Aberglauben 
aus  Masuren  mit  Sagen  und  Märchen.  Danzig  1867.  S.  142),  ebenfalls  mit 
der  Rose,  lässt  das  halb  wolf-,  halb  bärartige  Tier  das  Mädchen  einmal 
nach  Hause  fahren.  Als  sie  gehorsam  zurückkehrt,  findet  sie  das  Wesen 
in  Ohnmacht,  küsst  es  vor  Schmerz  und  erlöst  es  dadurch. 

Ebenso  erlöst  in  einer  kroatiscli-krainischen  Erzählung  (Friedr. 
Krauss,  Sagen  und  Märchen  der  Südslaven  I.  no.  66)  ein  Kuss  des  Mädchens 


Der  Wolf  mit  dem  Wockenbriefe.  199 

den  verzauberten  Igel,  dem  es  durch  die  Rose,  die  es  gewünscht,  zu  eigen 
geworden  war. 

Nach  einer  baskischen  Erzählung  (Webster,  Basque  Legends. 
London  1877.  S.  167)  ist  das  Ungeheuer,  in  dessen  Besitz  die  Königs- 
tochter durch  den  Wunsch  nach  einer  Blume  kam,  eine  Schlange.  Das 
Mädchen  versäumt  die  gegönnte  Frist  um  einen  Tag,  findet  die  Schlange 
ganz  erstarrt,  erwärmt  sie  und  sagt  ja,  als  es  von  ihr  gefragt  wird,  ob  es 
sie  heiraten  wolle.  Auf  dem  Kirchgange  wird  die  Schlange  zum  schönen 
Prinzen,  die  Schlangenhaut  wird  von  der  Prinzessin  zu  einer  bestimmten 
Stunde  verbrannt  und  der  Zauber  ist  vernichtet1). 

Sehr  nahe  steht  dieser  Gruppe  das  welschtiroler  Märchen  von 
dem  Blatte,  welches  singt,  tanzt  und  musiziert  (la  foglia  che 
canta,  che  balla  e  che  suona),  das  sich  die  jüngste  Kaufmannstochter 
wünscht  und  dadurch  in  die  Gewalt  einer  Schlange  gerät  (Chr.  Schneller, 
Märchen  und  Sagen  aus  Wälschtirol.  Innsbruck  1867.  Nr.  25).  Sie  wird 
von  der  Schlange  gut  behandelt:  als  sie  zu  der  Hochzeit  ihrer  beiden 
Schwestern  geladen  wird,  geht  die  Schlange  mit,  und  als  der  Hochzeit- 
reigen getanzt  wird,  verlangt  die  Schlange,  dass  es  mit  ihr  tanze.  Wenn 
auch  mit  Grausen,  thut  es  das  Mädchen,  zertritt  dabei  den  Schwanz  der 
Schlange  und  ein  bildschöner  Jüngling  liegt,  vom  Zauber  befreit,  in 
ihrem  Arm. 

In  allen  diesen  Märchen  empfängt  das  Untier  erst  mit  Lösung  der 
Verwünschung  menschliche  Gestalt:  eine  Blume  (oder  ein  Blatt)  ist  allen 
eigen.  Dem  singenden  Blatt  der  welschtiroler  Erzählung  entspricht  zu- 
nächst die  singende  Rose3)  des  deutschtiroler  Märchen  (Zingerle.  Kinder- 
und  Hausmärchen.  Innsbruck  1852.  Nr.  30),  in  welchem  aber  abweichend 
von  den  übrigen  kein  Tier,  sondern  ein  alter  Mann3)  der  Hüter  der  Rose 
und  das  Wesen  ist.  das  die  Königstochter  dafür  fordert.  Er  geht  mit  ihr 
zur  Hochzeit  der  beiden  älteren  Prinzessinnen.  Die  jüngste  beobachtet 
das  Gebot,  nicht  zu  lachen  und  zu  sprechen  und  enthauptet  auch  auf  seinen 
Befehl  den  Alten,  ans  dessen  Rumpf  der  Schlüssel  zu  allen  Schätzen  des 
verzauberten  Schlosses  fällt.  Die  Königstochter  war  nun  steinreich  und 
frei,  ein  Schluss,  der  an  das  Pommersche  Märchen  erinnert,  aber  ebenso 
wenig  ursprünglich  und  echt  ist  als  der  dortige. 

1)  Die  Verbrennung  der  Tierhaut  findet  sich  auch  im  Märchen  ,Hans  mein  Igel",  in 
der  indischen  Geschichte  vom  verzauberten  Brahmanensqhn,  wo  der  Zauber  gelöst  ist.  ;:ls 
die  Schlangenhauf  verbrannt  wird:  Pantschatantra  von  Th.  Benfey  II,  147,  und  ebenso  in 
der  Smhäsana-dvätriheikä  in  der  Geschichte  von  dem  in  einen  Esel  verwandelten  Gandharva: 
jL  Weber,  Indische  Studien  XV,  254.  Mehr  noch  bei  Benfey,  Pantschatantra  I,  260  f., 
265  ff.  über  die  Entzauberung  durch  Verbrennung  der  angenommenen  Hülle. 

2)  Eine  Rose,  die  spricht  und  singt,  bringt  in  dem  lothringischen  Märchen  vom 
weissen  Wolfe  der  Vater  der  jüngsten  mit.  Cosquin,  Contes  populaires  de  Lorraine 
II,  215. 

3)  In  dem  Fehmernschen  Märchen  sind  das  schwarze  Männchen  und  der  weisse  Woli 
zwei  Erscheinungsformen  desselben  verzauberten  Prinzen 

14* 


200  Weinhold: 

In  der  Gruppe,  welche  wir  hier  vorführten,  hält  das  Mädchen  das 
Orebot.  In  einer  andern  aber  übertritt  sie  es  und  die  Trennung  von  dem 
geheimnisvollen  "Wesen  erfolgt  sofort.  Dasselbe  war  dem  Mädchen  um  so 
lieber  geworden,  als  es  in  der  Nacht  menschliche  Gestalt  annahm.  Nach 
allerlei  Gefahren  findet  das  Mädchen  den  Geliebten  wieder  und  vereinigt 
sich  bleibend  mit  ihm. 

Yon  den  deutschen  Märchen  gehört  das  hessische  vom  singenden 
springenden  Löweneckerchen  hierher  (Grimm,  K.  u.  H.  M.  Nr.  88). 

Ein  Vater,  der  auf  Reisen  geht,  soll  den  drei  Töchtern  etwas  mit- 
bringen; die  jüngste  wünscht  eine  Lerche  (das  Löweneckerchen).  Als  er 
diese  findet,  packt  ihn  ein  Löwe,  dem  er  als  Lösung  seines  Lebens  die 
jüngste  Tochter  geloben  muss.  Dieselbe  geht  am  nächsten  Morgen  in  den 
Wald,  wo  der  Löwe  sie  empfängt  und  in  sein  Schloss  führt.  Bei  Nacht 
ist  er  ein  schöner  Mann,  die  Hochzeit  wird  da  begangen;  auch  alle  seine 
Leute  sind  dann  Menschen.  Nach  einiger  Zeit  lässt  sie  der  Gemahl  zur 
Hochzeit  der  ältesten  Schwester  nach  Hause  auf  Besuch.  Als  die  zweite 
sich  verheiratet,  bittet  sie  ihn,  mitzugehen,  und  er  thut  es,  sagt  aber,  kein 
Strahl  eines  brennenden  Lichtes  dürfe  ihn  treffen,  sonst  müsse  er  sieben 
Jahre  lang  als  Taube  fliegen.  Trotz  aller  Vorsicht  fällt  nun  dort  ein 
Kerzenstrahl  auf  ihn  und  er  entfliegt  als  Taube.  Nun  sucht  die  Frau  nach 
ihm,  folgt  sieben  Jahre  laug  seinen  Blut-  und  Federspuren,  bis  diese  auf- 
hören. Da  steigt  sie  zu  Sonne  und  Mond  hinauf,  um  nach  der  Taube  zu 
fragen;  der  Mond  erfährt  vom  Winde,  dass  die  Taube  wieder  ein  Löwe 
geworden  und  am  Roten  Meere  mit  einem  Lindwurm  kämpfe.  Dorthin 
weist  sie  der  Nachtwind  und  auf  seinen  Rat  schneidet  sie  am  rechten  Ufer 
die  elfte  der  dort  stehenden  grossen  Ruten  ab  und  schlägt  den  Lindwurm 
damit,  der  nun  schwach  wird.  Der  Löwe  wird  Mensch,  aber  auch  der 
Lindwurm  eine  Königstochter,  die  den  Jüngling  fasst,  mit  ihm  auf  den 
Vogel  Greif  springt  und  ihn  entführt. 

Aber  die  junge  Frau  verzagte  nicht  und  kam  endlich  zu  dem  Schlosse. 
worin  der  Löwenprinz  mit  der  Königstochter  lebte.  Sie  öffnete  das  Kästchen, 
das  die  Sonne  ihr  geschenkt  hatte  und  zog  das  sonnenstrahlende  Kleid  an, 
das  darin  lag.  Die  Schlossfrau  begehrt  es  und  erhält  es  gegen  Fleisch 
und  Blut:  d.  h.  sie  muss  erlauben,  dass  jene  eine  Nacht  in  der  Kammer 
des  Bräutigams  schlafe.  Dieser  wird  durch  einen  Schlaftrunk  betäubt.  Die 
zweite  Nacht  erkauft  die  treue  Frau  durch  eine  goldene  Glucke  mit  zwölf 
goldenen  Küchlein,  die  im  Ei  waren,  das  ihr  der  Mond  gab.  Diesmal  wird 
der  Schlaftrunk  weggegossen  und  der  Prinz  erkennt  seine  Gattin.  Sie 
entfliehen  auf  dem  Vogel  Greif  und  kommen  in  ihr  Schloss  zu  ihrem 
Kinde  zurück. 

In  diesem  Märchen  sind  die  Abenteuer  der  suchenden  Frau  ähnlich 
erzählt,  wie  in  dem  früher  erwähnten  aus  Fehmern  und  Pommern  und  in 
dem  Kattenstedter. 


Dei  Wolf  mit  dem  Wockenbriefe.  201 

Sehr  ausführlich  und  vielfach  von  dem  Gange  der  genannten  Märchen 
abweichend,  auch  mit  andern  Motiven  gemischt,  entwickelt  das  dänische 
Märchen  vom  Wolf  Königssohn  die  Schicksale  der  Prinzessin,  nach- 
dem ihr  Ungehorsam  den  Wolfprinzen  vertrieben  hat  (Sv.  Grundtvig, 
Dänische  Volksmärchen.  Übersetzt  von  W.  Leo.  Leipzig  1878.  S.  252  ff.). 
Der  Wolf  wandelt  sich  nachts  in  einen  Menschen,  hat  aber  streng  verboten, 
Licht  anzuzünden,  so  dass  die  Königstochter  ihn  nie  sah.  Nach  zwei  Jahren 
darf  sie  ihre  Eltern  besuchen.  Die  Mutter  giebt  ihr  beim  Abschiede  ein 
Messerellen  mit,  womit  sie  den  geheimnisvollen  Mann  ritzen  solle.  Klage 
er  über  Schmerzen,  sei  er  ein  Mensch.  Er  klagt  und  hinkt  fortan;  sie 
verspricht  künftig  folgsamer  zu  sein.  Aber  nach  zwei  Jahren,  als  sie 
wieder  bei  den  Eltern  gewesen,  folgt  sie  doch  dem  üblen  Rat  der  Mutter. 
macht  in  der  Nacht  Licht  und  sieht  nun  ihren  Gatten,  der  sofort  entflieht. 
Die  schweren  Prüfungen  der  suchenden  Frau  werden  von  ihr  bestanden, 
und  die  beiden  werden  endlich  wieder  vereint  und  der  Zauber  ist  gelöst. 
Dagegen  endet  das  verwandte  norwegische  Märchen  unglücklich, 
da  der  in  einen  Bären  bei  Tage  verwandelte  Mann,  als  ihn  die  Frau  auf 
Anstiften  ihrer  Mutter  in  der  Nacht  beleuchtet  hat  und  er  durch  einen 
herunterfallenden  Tropfen  des  Talglichts  geweckt  wird,  genötigt  ist,  sie 
für  immer  zu  verlassen.  Die  Abenteuer  des  Suchens  fehlen  natürlich. 
(Asbjörnsen,  Tales  from  the  fjeld  —  from  the  norse  by  G.  W.  Dasent. 
London  1874.    S.  353.) 

Unglücklich  schliesst  auch  die  lothringische  Erzählung  vom 
weissen  Wolf  (le  loup  blaue:  E.  Cosquin,  Contes  populaires  de  Lorraine. 
Paris  1887.  II,  no.  63)1).  Der  Gegenstand  des  Wunsches  der  jüngsten 
Tochter  ist  eine  sprechende  Rose.  Der  Vater  findet  einen  Strauch  mit 
sprechenden  und  singenden  Rosen  vor  einem  Schlosse.  Dem  weissen 
Wolfe,  der  auf  ihn  stürzt,  als  er  die  Rose  bricht,  muss  er  die  erste  Person 
versprechen,  die  ihm  zu  Hause  entgegenkommt.  Es  ist  die  jüngste  Tochter. 
Der  Vater  führt  sie  zu  dem  weissen  Wolfe,  der  abends  ein  schöner  Prinz 
wird  und  nur  am  Tage  Tier  ist.  Daheim  sagt  der  Vater,  wto  das  Mädchen 
geblieben  ist.  Die  älteste  Tochter  geht  auf  das  Schloss  und  ihr  verrät  die 
Schwester  das  Geheimnis.  Alsbald  hört  man  ein  schreckliches  Geheul,  der 
Wolf  kommt  und  stürzt  tot  bei  dem  Mädchen  nieder.  Es  ist  sein  ganzes 
Leben  unglücklich. 

In  einem  piemontesischen  Märchen,  das  A.  de  Gubernatis  auf- 
zeichnete (Die  Tiere  in  der  indogermanischen  Mythologie.  Aus  dem  Eng- 
lischen übersetzt  von  M.  Hartmann.  S.  G30),  ist  ein  guter  Abschluss  bei 
sonst  gleichem  Verlaufe  möglich  gemacht.  Die  jüngste  der  drei  Töchter, 
Margarete,  wünscht  von  dem  reisenden  Vater  nur  eine  Blume.  Eine  Kröte 
droht  ihm  beim  Pflücken  den  Tod,  wenn  er  ihr  nicht  eine  Tochter  vermähle. 


1)   Vgl.  dazu  die  vergleichenden  Ausführungen  E  Cosquins  a.  a.  0.  S.  217—230. 


2Q2  Weinhold: 

Die  jüngste  entschliesst  sich  zum  Opfer.  In  der  Nacht  wird  sie  ein  schöner 
Jüngling.  Aber  er  gebietet  ihr,  alles  geheim  zu  halten,  sonst  müsse  er 
R-wie  Kröte  bleiben.  Dennoch  verrät  sie  ihren  Schwestern  das  Geheimnis 
und  die  Kröte  verschwindet.  Der  Ring,  den  ihr  Gemahl  ihr  früher  ge- 
geben, der  alle  ihre  Wünsche  erfüllen  solle,  versagt;  der  Geliebte  erscheint 
nicht  wieder.  Als  sie  aber  den  Ring  als  nutzlos  in  einen  Teich  wirft,  steigt 
der  Vermisste  als  schöner  erlöster  Jüngling  heraus. 

In  einem  toskanischen  Märchen,  das  Gubernatis  ebenfalls  aus 
Volksmund  aufzeichnete  (a.a.O.  S.  631),  verletzt  das  Mädchen  auch  das 
Gebot,  über  das  Geheimnis  zu  schweigen  und  ausserdem  versäumt  es  die 
ihm  zur  Heimkehr  von  dem  Besuche  der  Eltern  gesetzte  Frist.  Der 
Zauberer  (von  der  Tierverwandlung  ist  keine  Erinnerung  geblieben)  ver- 
schwindet und  das  Mädchen  wandert  unter  Abenteuern,  welche  zu  diesen 
Märchen  ursprünglich  nicht  gehören,  sieben  Jahre  lang  herum.  Ob  sie  den 
Gesuchten  finde,  ist  nicht  gesagt. 

Hier  sei  nun  genauer  des  Märchens  von  Psyche  und  Cupido  ge- 
dacht, das  Apulejus  von  Madaura  in  seinen  Metamorphosen  (IV,  28  bis 
VI,  24)  erzählt  und  zum  Gemeingut  der  gebildeten  Welt  gemacht  hat1). 
Es  ist  nichts  Anderes,  als  eine  im  Stil  jenes  afrikanischen  Schriftstellers 
der  Periode  der  Antonine  ausgeführte  Variante  unseres  Märchenstoffs,  die 
keinen  antiken  Göttermythus  enthält,  sondern  dieser  ist  gewaltsam  in  die 
alte  indo- europäische  Fabel  hineingedeutet  worden. 

Die  Hauptzüge  sind  diese.  Ein  König  und  eine  Königin  halten  drei 
Töchter,  deren  jüngste,  Psyche  mit  Namen,  von  wunderbarer  Schönheit 
ist.  Aber  sie  findet  keinen  Freier,  und  als  die  beiden  älteren  Schwestern 
heiraten,  befragt  der  Vater  das  milesische  Orakel  Apollos  und  erfährt,  das-. 
Psyche  auf  dem  Gipfel  eines  Berges  ausgesetzt  werden  solle,  wo  ein  Un- 
geheuer in  Schlangengestalt  sie  holen  werde.  Psyche  wird  dorthin  gebracht, 
der  Zephyr  trägt  sie  auf  eine  blumige  Bergwiese  und  zu  einem  wunder- 
baren Schlosse.  Sie  sieht  niemanden,  obgleich  sie  köstlich  bedient  wird, 
und  alle  Nächte  teilt  ihr  Lager  ein  unbekannter  Gatte.  Nach  einiger  Zeit 
hat  sie  nach  den  Schwestern  Sehnsucht;  der  Gatte  giebt  ihren  Bitten,  sie 
durch  den  Zephyr  holen  zu  lassen,  nach,  obgleich  er  die  Gefahr  erkennt, 
und  sie  bringen  voll  Neid  Psyche  dazu,  das  vermeintliche  Ungeheuer  töten 
zu  wollen.  Psyche  erkennt  Cupido,  der  Dolch  entsinkt  ihr,  ein  Tropfen 
Öl  träufelt  auf  den  Schläfer,  weckt  ihn  und  er  entfliegt  in  die  Lüfte.  Nun 
folgen  die  Irrfahrten  Psyches,  um  den  Entflohenen  zu  finden.  Sie  ent- 
schliesst sich  endlich  zu  Venus  zu  gehen,    die  sie  zuerst  züchtigt  und  ihr 


1)  Die  Zugehörigkeit  des  Psychemärchens  zu  unserer  Familie  hat  schon  W.  Glimm 
in  den  Ausführungen  zu  dem  Märchen  vom  Lövreneckerchen  hervorgehohen:  Kinder-  und 
Hausmärchen.  3.  Aufl.  [lSfi6)  III.  155;  ja  schon  in  den  altdänischen  Heldenliedern,  Balladen 
und  Märchen  (1811  S.  529  erkannt.  Ich  muss  hier  bemerken,  dass  ich  die  Abhandlung 
\ ,  ,li  M.  Andr.  Lang  im  1.  Bd.  der  Biblioth.  de  Carabas  Cupid  aud  Psyche  (London  18S7) 
nicht  gelesen  habe. 


Der  Wolf  mit  dem  Wockenbriefe.  203 

dann  drei  schwere  Aufgaben  giebt:  einen  grossen  Haufen  gemischten 
Getreides  zu  sondern,  eine  Flocke  von  dem  goldenen  Pliess  furchtbarer 
Widder  zu  bringen,  ein  Fläschchen  vom  Wasser  des  Styx  zu  holen. 
Endlich  schickt  Venus  sie  in  die  Unterwelt,  damit  sie  ihr  etwas  von  der 
Schönheit  der  Proserpina  in  einem  Büchschen  bringe.  Sie  findet  überall 
wunderbare  Hilfe,  als  sie  aber  neugierig  das  Proserpinabüchschen  öffnet, 
fällt  sie  in  einen  tiefen  Schlaf.  Doch  Cupido  weidet  sie:  die  Prüfungen 
sind  zu  Ende,  das  Paar  wird  für  immer  vereint  und  der  Dichter  lässt  die 
Götter  beim  Hochzeitsmahl  erscheinen.  Voluptas  ist  das  Kind  des  Paares. 
Wo  Apulejus  die  Fabel  von  Amor  und  Cupido  kennen  lernte,  die  er 
als  schönste  Episode  seinem  Eselroman  einfügte,  wird  sich  beantworten 
lassen:  wahrscheinlich  in  Griechenland  wahrend  seines  mehrjährigen 
Aufenthaltes  daselbst.  Er  war  ein  Sammler  von  Geschichten,  wie  seine 
Metamorphosen  beweisen,  und  kannte  (Met.  T.l)  die  milesischen  Erzählungen, 
die  mit  den  persischen,  und  diese  wieder  mit  den  indischen,  zusammen- 
hangen. 

In  dem  unerschöpflichen  Schatze  indischer  Geschichten  finden  sieh 
auch  solche,  welche  die  Grundzüge  der  von  uns  hier  berührten  Märchen 
enthalten.  Was  ich  oben  als  ältesten  Bestand  derselben  bezeichnete,  dass 
das  Mädchen  das  verzauberte  Tier  lieb  gewinnt  und  durch  seine  Liebe 
erlöst,  erscheint  in  einer  in  Kashmir  spielenden  Geschichte  im  Dhermangada 
Cheritra  (Benfey,  Pantschatantra  1,  254),  wo  die  dem  Sohne  des  Königs 
von  Kanakapuri  verlobte  Tochter  des  Königs  von  Suräshtra  den  Bräutigam 
in  Schlangengestalt  findet.  Obschon  darüber  sehr  betrübt,  pflegt  sie  doch 
liebreich  die  Schlange,  führt  sie  nach  den  heiligen  Orten  und  erhält  am 
letzten  derselben  den  Befehl,  die  Schlange  in  einen  Wasserbehälter  zu 
setzen.  Darin  verwandelt  sich  dieselbe  in  einen  schönen  Mann,  mit  dem 
die  treue  Gattin  fortan  in  Kashmir  vergnügt  lebt. 

Andere  Züge  enthält  ein  indisches  Volksmärchen  aus  Benares1)  von 
Tulisa,  der  Tochter  eines  Holzhauers,  welche  der  Sohn  des  Schlangen- 
königs heiratet.  Ihr  Glück  wird  durch  ihre  Mutter  gestört,  die  durch  ein 
altes  Weib  die  Tochter  dazu  verführt,  die  verbotene  Frage  nach  seinem 
Namen  an  den  Gemahl  zu  thun,  wodurch  alles  verschwindet,  was  sie  be- 
glückte. Aber  durch  schwere  Arbeiten,  die  ihr  die  Schlangenkönigin,  die 
Mutter  des  verlorenen  Gatten,  aufgiebt,  und  die  sie  durch  Hilfe  dankbarer 
Tiere  löst,  bricht  sie  zuletzt  den  Zauber  und  wird  mit  dem  von  der 
Schlangengestalt  befreiten  Geliebten  wieder  vereint  (Benfey,  Pantscha- 
tantra 1,  265). 

Ich  führe  sodann  nur  noch  die  achte  Erzählung  des  Nachtrags  zum 
ersten  Buche  des  Pantschatantra  an,    vom   verzauberten  Brahmanensohn2). 


1)  Aus  dem  Asiatic   Journal.    Nouv.  ser.    t.  II    von   II.  Brockhaus   am  Ende  seiner 
Somadeva-Übersetzung  mitgeteilt. 

2)  Übersetzt  von  Benfey  a.  a.  0.  II,  114  f. 


204  Weinhold: 

Die  Gattin  eines  Brahmanen  hat  nach  langer  Unfruchtbarkeit  eine  Schlange 

als  Sohn  geboren,  die  sie  in  mütterlicher  Liebe  pflegt  und  als  sie  gross 
eeworden,  verheiraten  will.  Der  Brahmane  geht  auf  des  Weibes  Bitte  aus, 
eine  Braut  zu  suchen,  und  ein  anderer  Brahmane  giebt  ihm  seine  Tochter 
für  den  Sohn  mit.  Alles  ist  bei  der  Heimkehr  entsetzt,  dass  das  schöne 
Mädchen  mit  einer  Schlange  vermählt  werden  soll,  aber  dieses  selbst  willigt 
ein,  damit  das  Wort  ihres  Vaters  wahr  bleibe.  Es  pflegt  die  Schlange  und 
einmal  in  der  ISacht  wandelt  sich  diese  in  einen  Mann.  Der  Brahmane. 
welcher  das  Paar  auf  dem  Lager  findet,  verbrennt  die  zurückgebliebene 
Schlangenhaut  und  der  Zauber  ist  zerstört1). 


Zum  Schluss  will  ich  auf  eine  Märchengruppe  hinweisen,  in  der  die 
Vernichtung  des  Zaubers  durch  einen  Jüngling,  den  Bruder  des  verzauberten 
Mädchens  geschieht.  Dazu  geliert  ein  niederschlesisches  Märchen, 
von  Heinr.  Fischer  in  Wolfs  Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie  1,  310 
mitgeteilt.  Ein  Vater  hat  seine  Tochter  in  eine  Taube  verwünscht:  der 
Bruder  sucht  sie  auf.  als  er  herangewachsen  ist.  und  kommt  dabei  zum 
"Winde,  zum  Raben  und  zur  Sonne.  Die  Sonne  weist  ihn  zu  einem  Schlosse 
auf  einer  Insel,  auf  welche  eine  gläserne  Brücke  führt.  Er  kommt  über 
dieselbe,  indem  er  Knöchelchen  mit  Sirup  aufklebt  und  für  das  fehlende 
letzte  seinen  kleinen  Finger  hingiebt.  Er  findet  die  Schwester  mit  drei- 
zehn andern  Mädchen  in  dem  Schlosse  schlafen,  zur  Erlösung  fehlte  aber 
noch  etwas  und  die  Schwester  ward  in  die  finstere  Welt  verwünscht.  Ein 
Müller  giebt  dem  Jüngling  Bescheid  darüber  und  ein  Rabe  traut  ihn  in 
einer  Tonne  Mehl  dorthin.  Durch  Stimmen  wird  ihm  geraten,  die  Besen 
auf  dem  Boden  zu  Asche  zu  kehren  und  diese  ins  Wasser  zu  werfen.  Da 
wiid  der  Zauber  gelöst. 

Ein  waldeckisches  Märchen  (Reinhold  das  Wunderkind,  bei  Curtze. 
Volksüberlieferuiigen  aus  dem  Fürstentum  Waldeck,  Nr.  "20)  erzählt,  wie 
ein  verschwenderischer  Graf  seine  drei  Töchter  hintereinander  an  einen 
Bären,  einen  Adler  und  einen  "Walfisch  verkaufte.    Der  nachgeborene  Sohn 


1)  Wir  dürfen  uns  hier  des  deutschen  Märchens  Hans  mein  Igel  (Grimm,  K.H.M. 
no.  108)  erinnern.  Hans  ist  halb  Igel  halb  Mensch  und  Sohn  eines  Bauern,  der  sich  ein 
Kind  wünschte,  und  wäre  es  ein  Igel.  Er  weist  im  Walde  einen  verirrten  König  zurecht, 
gegen  das  Gelöbnis  dessen,  das  zu  Hause  ihm  als  erstes  hegegnen  würde.  Es  ist  die 
Tochter,  doch  wird  dort  beschlossen,  den  Igelmenschen  zu  betrügen.  Hans  bringt  dann 
noch  einen  König,  der  im  Walde  verloren  war,  gegen  gleiches  Gelöbnis  aus  der  Not  und 
dieser  wie  seine  Tochter  heschliessen,  ihr  Wort  zu  halten.  —  Hans  Igel  reitet  nun  auf 
seinem  Gockelhahn  in  das  erste  Königreich,  wo  er  allen  feindlichen  Empfang  besiegt,  die 
Prinzessin  mit  sich  führt,  dann  mit  seinen  Horsten  blutig  sticht  und  furtjagt.  Im  zweiten 
Königreich  wird  er  mit  Ehren  empfangen  und  die  Hochzeit  gefeiert.  Iu  der  Brautkammer 
streift  er  die  Igelhaut  ab  und  lässt  si>'  verbrennen.  Nun  ist  er  ganz  Mensch  und  alles 
voll  Freude, 


Der  Wolf  mit  dem  Woekeubriefe.  205 

Reinholcl  zieht  später  aus,  die  Schwestern  zu  erlösen.  Er  kommt  jedesmal 
zurecht,  wenn  die  Verwandlung  der  Schwäger  in  Menschen  nahe  ist  und 
erhält  beim  Abschied  Bärenhaare,  Adlerfedern  und  Fischschuppen  als 
Mittel  im  Kampfe  gegen  den  Zauberer  Zornebock,  der  als  wilder  Stier 
auftritt.  Er  tötet  denselben  und  erlöst  damit  die  von  Zornebock  gefangene 
Prinzessin,  die  Schwester  jener  in  Bären-,  Adler-  und  Walfischgestalt  ver- 
wünschten Prinzen,  seiner  Schwäger.  Aller  Zauber  ist  nun  gebrochen  und 
Reinhold  heiratet  zum  Schluss  die  Prinzessin. 


Die  Thorali  -Wimpel  oder  Mappe. 

E  i  n    B  e  i  t  r  a  g    z  u  r    j  ü  d  i  s  c  h  e  n    Volkskunde. 
Von  Georg  Minden. 


In  der  Januarsitzung  (1893)  des  Vereins  für  Volkskunde  erlaubte  ich 
mir,  zwei  mit  Stickereien  in  Form  hebräischer  Buchstaben  versehene, 
3_4OT  lange,  etwa  15  cm  breite  Leinwandstreifen  vorzulegen,  für  welche 
die  Bezeichnung  „Thorah -Wimpel",  in  Norddeutschland  auch  „Mappe", 
üblich  ist. 

Unter  Thorah  (d.  h.  Lehre  oder  Gesetz)  versteht  man  in  der  jüdischen 
Religion  den  Pentateuch,  von  dem  regelmässig  beim  öffentlichen  Gottes- 
dienst ein  Abschnitt  vorgelesen  wird.  Diese  Vorlesung  darf  aber  nicht  aus 
gedruckten  Büchern  erfolgen,  sondern  sie  wird  nach  orientalisch-altertüm- 
licher Weise  aus  einer  einseitig  beschriebenen  Pergamentrolle  vorgenommen, 
welche  in  einem  an  der  Ostseite  der  Synagoge  befindlichen  Schreine,  der 
„heiligen  Lade"  (aron  hakkadosch  oder  nach  sogenannter  polnischer  Aus- 
sprache oren  hakkaudesch)  aufbewahrt  wird.  In  den  Synagogen  reicher 
Gemeinden  finden  sich  oft  Dutzende  solcher  Rollen.  Ist  eine  unbrauchbar 
geworden,  so  wird  sie,  damit  kein  Unfug  damit  verübt  wird,  häufig  auf 
dein  Friedhof  begraben;  solche  Gräber  finden  sich  auf  dem  berühmten 
Prager  Begräbnisplatz. 

Auf  die  Herstellung  der  Thorah-Rollen  wird  grosse  Sorgfalt  verwendet. 
Der  Text,  >welcher  in  den  angeblich  von  Esra  nach  dem  babylonischen 
Exil  erfundenen  Quadratbuchstaben  geschrieben  wird ,  darf  nicht  die 
geringste  Abweichung  von  der  Überlieferung  enthalten.  Er  darf  nicht 
„punktiert"  sein,  d.  h.  es  fehlen  die  in  den  Drucken  und  in  nicht  zum 
Gottesdienst  bestimmten  Handschriften  üblichen  Punkte  und  Striche  über, 
unter  und  zwischen  den  Buchstaben,  durch  welche  1)  die  Interpunktion, 
2)  die  Vokalisation  (die  Buchstaben  selbst  sind  nur  Konsonanten),   3)  die 


206  Minden: 

Melodieen,    nach   denen  die  psalmodiereride  Recitation  erfolgt,    angegeben 

werden. 

Ali  die  ;ius  den  zusammengehefteten  Pergamentblättern  bestehende, 
viele  Meter  lange  Rolle  wird  an  beiden  Enden  je  eine  runde  Stange  be- 
festigt, welche  oben  und  unten  über  das  Pergament  hinausragt  und  zum 
Schutz  für  dasselbe  mit  Rundhölzern  versehen  ist.  Um  diese  Stangen  wird 
dann  die  Rolle  von  rechts  und  links  aufgerollt,  mit  der  „Wimpel"  oder 
„Mappe"  umbunden  und  dann  in  einen  aus  kostbarem  Stoff  hergestellten 
Überzug  hineingesteckt,  so  dass  die  Stangen  oben  und  unten  hervorsehen. 
Auf  den  oberen  Enden  der  Stangen  wird  meistens  ein  goldener  oder 
silberner  Zierrat  in  Form  einer  Krone  gesetzt.  Diese  Krone  ist  oft  eine 
vielfache,  die  dann  symbolisch  erklärt  wird:  1)  Die  Krone  des  Königtums 
(des  Hauses  David),  2)  des  Priestertums  (des  Hauses  Aharon),  darüber 
3)  die  Krone  der  Gelehrsamkeit  und  4)  über  diesen  allen  die  „Krone  des 
guten  Namens".  Viele  Thorairrollen  sind  noch  mit  einem  die  Widmung 
tragenden  Schild  und  mit  einem  „Thorahfinger"  versehen,  d.  h.  mit  einer 
silbernen  Hand  mit  ausgestrecktem  Zeigefinger,  um  damit  bei  der  Vor- 
lesung (dem  „Leinen"  vom  lateinischen  linea)  die  Linien  anzuzeigen,  damit 
der  Vorleser  nicht  in  eine  falsche  Zeile  gerate.  Natürlich  ist  dies  nur 
eine  Solennität,  da  der  Vorsänger  den  ganzen  Text  genau  auswendig  weiss. 
Das  Auswendigrecitieren  ist  aber  verboten,  damit  sich  ja  kein  Fehler  in 
den  Text  einschleiche. 

Sowohl  das  „Herausnehmen"  der  Thorah,  als  das  „Wiedereinheben" 
geschieht  mit  grosser  Feierlichkeit. 

Auf  die  „Wimpel"  bezieht  sich  nun  folgender  echt  volkstümliche 
Brauch,  der  bei  orthodoxen  Gemeinden  wohl  noch  heute  geübt  werden 
mag:  Nach  der  am  8.  Tage  nach  der  Geburt  stattfindenden  Beschneidung 
eines  Knaben  wird  die  Windel,  in  welcher  derselbe  bei  diesem  Akte  ge- 
legen, in  vier  Streifen  zerschnitten,  welche  aneinander  geheftet  und  in 
hebräischer  Sprache  mit  dem  Namen  des  Kiudes.  dem  Datum  seiner  Geburt 
und  einem  Spruch  beschrieben  werden,  welcher  bedeutet:  „Gott  lasse  ihn 
„gross  werden  zur  Thorah,  zur  Chuppah  und  zu  guten  Werken!  Amen! 
„Solah!"  d.  h.  er  möge  gut  lernen,  sich  verheiraten  (chuppah  =  Trau- 
himmel) und  Wohlthaten  üben.  Diese  Schriftzüge  werden  gestickt  und 
mit  mehr  oder  minder  reichen  Ornamenten  versehen,  von  denen  einige 
symbolische  Bedeutung  haben,  indem  z.  B.  beim  Worte  Thorah  eine  aus- 
gebreitete Rolle  oder  ein  dieselbe  hoch  erhebender  Vorsäuger,  beim  Wort 
Chuppah  ein  unter  dem  Trauhimmel  befindliches  Paar  und  ähnliches  dar- 
gestellt wird.  Ebenso  häufig  finden  sich  aber  nichtssagende,  im  Stile  des 
Zeitalters  übliche  Ornamente  ohne  besondere  Beziehuug. 

Dieses  Band  wurde  von  dem  Kuaben,  sobald  er  gross  genug  war.  um 
in  die  Synagoge  mitgenommen  zu  werden  —  was  etwa  mit  dem  5.  Lebens- 
jahre   geschah       -    dorthin  gebracht  und  zum  Andenkeu,    soweit  es  nicht 


Die  Thorah  -Wimpel  oder  Mappe.  207 

für  eine  Thorarolle  gebraucht  wurde,  im  heiligen  Schreine  aufgehängt.  In 
Zweifelsfällen  diente  es  auch  oft  neben  den  Registern  und  den  den  Stamm- 
baum enthaltenden  Leichensteinen  als  staudesamtliche  Urkunde.  Der  Um- 
stand, dass  sich  an  den  Wimpeln  manchmal  Blutnecken  linden,  erklärt 
sich  daraus,  dass  sie  aus  der  bei  der  Beschneidung  gebrauchten  Leinwand 
gefertigt  sind. 

Zu  bemerken  ist,  dass  aut  diesen  Wimpeln  figürliche  Darstellungen 
üblich  sind,  ebenso  wie  sieh  an  dem  Vorhang  der  heiligen  Lade  (paroches) 
häufig  der  Löwe  als  Wappentier  des  Stammes  .Inda  vorfindet,  während 
sonst  in  der  Synagoge  figürliche  Darstellungen  durchaus  verpönt  sind, 
gemäss  dem  biblischen  Verbot,  dass  man  keinerlei  „Bild"  der  Gottheit 
fertigen  dürfe. 

Von  den  beiden  vorgelegten  Wimpeln,  die  aus  einer  kleinen  bayerischen 
Gemeinde  stammen,  trägt  die  eine  die  Jahreszahl  1696,  die  andere  1480 '). 

Das  jüdische  Volkstum,  welches  in  grossen  Resten  noch  lebendig  ge- 
blieben ist,  aber  —  wie  alles  Volkstum  --  im  Zeitalter  der  Eisenbahnen 
schnell  schwindet,  dürfte  des  Interessanten  viel  bieten.  Dasselbe  ist  zwar 
litterarisch  vielfach  benutzt:  aber  die  systematische  wissenschaftliche  Be- 
arbeitung vom  Standpunkt  der  Volkskunde  aus  fehlt  noch.  Bei  der  eigen- 
tümlichen Verbindung  orientalischer  und  europäischer  Anschauungen,  bei 
dem  steteu  Zurückgreifen  des  Volksgeistes  auf  eine  reiche  und  eifrig  ge- 
pflegte Litteratur,  endlich  bei  der  steten  Wechselwirkung  der  in  den  ver- 
schiedensten Ländern    angesiedelten  Gemeinden    untereinander,    dürfte  eiu 


1)  Die  hebräischen  Jahreszahlen  werden  durch  Buchstaben  ausgedruckt,  indem  die 
ersten  zehn  Buchstaben  des  Alphabets  die  Einer,  die  darauffolgenden  die  Zehner,  die 
letzten  die  Hunderte  ausdrücken.  Die  Zahlen  werden  dann  addiert,  so  dass  jedes  Wort 
gleichzeitig  einen  Zahlenwert  hat.  Hieraus  entspringen  die  bekannten  kabbalistischen 
Spielereien.  Die  Tausende  werden  in  der  ..kleinen  Zeitrechnung"  nicht  ausgedrückt.  Da 
nun  das  Jahr  seit  Erschaffung'  der  Welt  TidOO  in  das  Jahr  1240  p.  Chr.  n.  fällt,  so  müssen 
die  in  die  eine  Wimpel  eingestickten  Buchstaben  resch,  mein  (r  und  m)  =  240,  d.  h.  1480 
p.  Chr.  n.  gelesen  werden.  Dies  Alter  erschien  den  meisten  Sachverständigen,  denen  ich 
die  Wimpel  zeigte,  zu  hoch.  Herr  Professor  Lessing  jedoch,  der  auch  die  Güte  hatte, 
mich  auf  ein  im  hiesigen  Kunstgewerbe -Museum  vorhandenes,  sehr  reich  gesticktes  der- 
artiges Band,  das  aus  dem  Anfang  des  IS.  Jahrhunderts  stammt,  aufmerksam  zu  machen, 
meinte,  dass  es  nach  dem  Charakter  der  Stickerei,  die  teils  gothisierende,  teils  Renaissance- 
formen zeigt,  nicht  unmöglich  wäre,  dass  dies  Band  aus  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
stamme  —  falls  es  nämlich  in  Oberitalien  gefertigt  sei.  Dies  ist  bei  den  Wanderungen, 
die  solche  Gegenstände  zu  machen  pflegen,  nicht  ausgeschlossen. 

Unerklärt  dagegeu  bleibt,  dass  die  andere  Wimpel  am  Schlüsse  in  hebräischen  Buch- 
staben die  Inschrift  zeigt  „Oberin  Günzburg".  Der  Einsender  schrieb  mir  zwar,  dass  ein 
Frauenkloster  dieses  Namens  sich  in  der  Nähe  befinde.  Es  ist  aber  nach  Ansicht  des 
Herrn  Professor  Lessing  ausgeschlossen,  dass  etwa  diese  Arbeit  im  Kloster  gemacht  sei. 

Herr  Dr.  Ulrich  Jahn  bemerkte  bei  der  Diskussion,  dass  die  bayerischen  Bauern  die 
Taufwindeln  „Patsche"  (mhd.  fasche,  bayer.-österr.  die  Patschen,  Fädschen:  das  breite 
Band,  womit  die  Kinder  umwickelt  werden,  Wickelband,  lat.  faseia:  Schmeller,  Bayer. 
Wörterbuch  l2,  779)  genannt,  ebenfalls  mit  einem  frommen  Spruch  liesticken  und  auf- 
bewahren. 


208  Aiumaim: 

solches  Studium  auch  für  die  Volkskunde  im  allgemeinen  fruchtbar  werden. 
Doch  ist  eine  besonders  sorgfältige  Sichtung  und  Kritik  des  Stoffes  wohl 
angebracht,  da  derselbe  der  Entstellung  durch  der  Parteien  Hass  und  Gunst 
besonders  ausgesetzt  ist. 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinus  von  Cochem 
als  Quelle  geistlicher  Yolksschauspiele. 

Von  J.  J.  Ainniaun. 


Das  Passionsspiel  des  Böhmerwaldes1),  oder  im  engeren  Sinne  das 
Höritzer  Passionsspiel,  ist,  w7ie  ich  bei  Herausgabe  desselben  im  30.  Jahr- 
gange der  Mitteilungen  des  Vereins  für  die  Geschichte  der  Deutschen  in 
Böhmen  (daraus  besonders  abgedruckt,  Prag  1892)  nachgewiesen  habe,  aus 
dein  Leben  Jesu  von  P.  M.  von  Cochem  entnommen. 

Der  Verfasser  dieses  Passions,  der  Leinwebermeister  Paul  Gröllhesl 
aus  dem  Markte  Höritz  im  Böhmerwalde,  nahm  den  Text  zu  seinem  Spiele 
fast  wortgetreu  aus  dem  bekannten  Volksbuche  Cochems;  kritischen  Sinn 
hatte  er  nur  insofern  nötig,  als  er  in  dem  umfangreichen  Werke  Cochems 
aus  verschiedenen  Abschnitten  passende  Stellen  auswählen  und  diese  so 
zusammenfügen  musste,  dass  ein  dramatisches  Ganze,  ein  Volksschauspiel 
daraus  wurde.  Eine  solche  Arbeit  macht  zwar  manchem  Volkspoeten  keine 
grossen  Schwierigkeiten.  Ich  kenne  einen  solchen  Mann  im  Böhmerwalde, 
der  mir  nicht  ohne  Selbstbewusstsein  versicherte,  dass  er  „jedes  Gesehiehten- 
büchel"  in  ein  „Gspiel"  (Volksschauspiel)  umzuwandeln  vermöge  -  es 
sieht  freilich-  auch  danach  aus.  Der  Standpunkt  unseres  Verfassers  war 
jedoch  etwas  weniger  willkürlich.  Gröllhesl  hatte  vor  der  Zusammen- 
stellung des  Höritzer  Passions  bereits  Kenntnis  von  andern  volkstümlichen 
Passionsspielen  und  liess  sich  bei  seiner  Arbeit  hiervon  leiten.  Dies  beweist 
uns  schon  seine  Dreiteilung  des  Spieles  nach  Art  anderer,  älterer  geist- 
licher Volksschauspiele  in  ein  Paradeisspiel,  Schäferspiel  und  eigent- 
liches Passionsspiel.  Ja  Gröllhesl  scheint  mehr  als  bloss  den  Rahmen 
dieser  Spiele  gekannt  zu  haben,  ihm  dürfte  bereits  bekannt  gewesen  sein, 
dass   sich  schon  in  älteren  Passionsspielen  Stücke2)  aus  Cochem  eingefügt 


1)  Es  ist.  hauptsächlich  in  zwei  Fassungen  (Höritzer  und  Tweraser  Passion)  über- 
liefert, von  denen  der  H.  P.  die  ursprüngliche  Fassung  ist,  der  T.  P.  nur  unbedeutende 
Abweichungen  vom  ersten  zeigt.     Vgl.  meine  Ausgabe  des  Böhmerwald- Passionsspieles, 

2)  Vgl.  das  Passionsspiel  aus  dem  Böhmerwald  S.  15  f. 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinas  von  Cochem.  209 

finden  und  dass  also  Cochems  Leben  Jesu  zu  weiterer  Ausbeute  besonders 
geeignet  sei  —  denn  dass  etwa  umgekehrt  das  Höritzer  Passionsspiel  von 
1816  die  Quelle  für  so  viele  andere  Spiele  gewesen  sei,  ist  nach  der  zeit- 
lichen und  räumlichen  Entfernung  nicht  anzunehmen1). 

Man  erzählt  auch  im  Markte  Höritz,  Gröllhesl  habe  einige  Zeit  bei 
sich  einen  Schauspieler  beherbergt,  der  die  Spieler  in  der  dramatischen 
Darstellung  unterrichtet  habe.  Es  wäre  nicht  unmöglich,  dass  letzterer 
auch  bei  der  Zusammenstellung  des  Textes  von  Einfluss  war,  wiewohl 
Gröllhesl  sein  Textbuch  eigenhändig  geschrieben  resp.  aus  Cochem  ab- 
geschrieben hat. 

Gewiss  ist,  dass  der  Höritzer  Passion  sich  in  der  Auswahl  der  Scenen 
und  im  dramatischen  Bau  auf  andere  ältere  Überlieferungen  geistlicher 
Volksschauspiele  stützt  und  daher  auch  mit  diesen  einen  Zusammenhang 
zeigt,  der  ihm  zugute  kommt.  Dadurch  rückt  unser  Passionsspiel  in  eine 
Reihe  mit  anderen,  besonders  in  Österreich  heimischen  Spielen  gleicher 
Art,  und  im  Gegensätze  zu  den  alten  Passionsspielen  wie  das  Brixlegger, 
das  Oberammergauer,  das  Thierseer  und  andere  kann  man  hier  von  einer 
Jüngern  Gattung  sprechen,  bei  welcher  sich  der  Passion  selbst  durch  die 
stoffliche  Beschränkung  schon  mehr  der  Form  des  weltlichen  Dramas 
nähert,  durch  die  Voraussetzung  eines  Paradeis-  und  Schäferspieles  aber 
eine  Erweiterung  erfährt,  die  über  den  bei  grösseren  Aufführungen 
gewohnten  Inhalt  eines  Passions  wiederum  hinausreicht  und  zugleich  neues 
Interesse  für  das  ganze  Spiel  erweckt.  Von  diesen  Gesichtspunkten  liess 
ich  mich  leiten,  als  ich  dem  Markte  Höritz  im  Böhmerwalde  eine  grosse 
Aufführung  ihres  Passionsspieles  empfahl  und  mich  zu  einer  entsprechenden 
volkstümlichen  Neubearbeitung  erbötig  machte s).  Alle  diese  neueren 
Passionsspiele  fristen  den  älteren  von  Brixlegg,  Oberammergau,  Thiersee, 
Erl  gegenüber  ein  armseliges  und  für  weitere  Gesellschaftskreise  nahezu 
unbekanntes  Dasein;  doch  warum  sollte  nicht  auch  eines  derselben,  wenn 
es  auf  Grund  der  ursprünglichen  Überlieferung  in  volkstümlichem  Geiste 
entsprechend  umgearbeitet  und  ausgestattet  wird,  in  grossartiger  und 
würdiger  "Weise  und  dazu  mit  Erfolg  aufgeführt  werden  können? 

In  der  That  hat  sich  der  Markt  Höritz,  in  opferwilliger  Weise  vom 
deutschen  Böhmerwaldbunde  ermuntert  und  unterstützt,  für  diesen  Gedanken 
gewinnen  ljissen.  In  der  herrlichen  Gebirgslandschaft  dieses  Böhmerwald- 
marktes ragt  bereits  ein  neues  Volksschauspiel  -  Haus  empor,  das  im 
saftigsten  Wiesengrün  gelegen  und  von  Wald  umsäumt  jedem  Fremden, 
der  sich  auf  der  neuen  Böhmerwaldbahn  der  Station  Höritz  nähert,  von 
ferne  entgegenlacht.  Bei  300  Einwohnern  des  Marktes  übte  ich  diesen 
ganzen  Winter  für  das  neubearbeitete  Spiel  ein,  und  alle  Beteiligten  setzten 


1)  Vgl.  Osten-.  Litteraturolatt  I.  Jahrg.  Nr.  8  S.  252. 

2)  Vgl.  das  Passionsspiel  des  Böhmerwaldes  S.  30. 


•_>]()  Ammann: 

ihre  besten  Kräfte  für  das  Unternehmen  ein,  dass  Höritz  ein  Seitenstück 
zu  Oberammergau  werde. 

So  werden  denn  schon  in  diesem  Sommer,  1893,  an  allen  Sonn-  und 
Feiertagen1)  in  dem  elektrisch  beleuchteten  Hause  die  ersten  grossen  Auf- 
führungen stattfinden,  denen  die  ganze  deutsche  Bevölkerung  der  näheren 
und  ferneren  Umgebung  mit  Spannung  entgegensieht.  Ich  hoffe,  das  Drama 
aller  Dramen  wird  auch  hier  eine  gute  Aufnahme  finden  und  manchen 
Freund  der  Volksdichtung  und  der  Natur  in  unsern  herrlichen,  aber  noch 
weltvergessenen  Böhmerwald  führen. 

Ich  wollte  schon  bei  Herausgabe  des  Böhmerwald-Passionsspiels  den 
Nachweis  liefern,  dass  ausser  diesem  Passion  noch  manches  andere  Yolks- 
schauspiel  auf  Cochems  Leben  Jesu  zurückgeht,  ohne  dass  dies  bisher 
bekannt  war.  allein  es  fehlte  dort  für  diese  Untersuchung  der  nötige 
Raum2).     Ich  trage  dies  nuu  hier  nach. 

Ähnlich  wie  beim  Yolksepos  und  beim  Yolksliede  kann  man  auch  bei 
den  Yolksschauspielen  die  Erfahrung  machen,  dass  sie  erst  im  Lauf  der 
Zeit  durch  Änderungen  oder  Erweiterungen  und  Zusätze  so  geworden  sind, 
wie  sie  uns  heute  in  irgend  einem  Textbuche  vorliegen.  Ich  konnte  dies 
im  Böhmerwalde  öfters  beobachten.  Wenn  ein  bekanntes  Yolksschauspiel 
wie  das  Christkindelspiel.  der  ägyptische  Josef,  die  Räuber  auf  Maria- 
Kulm  und  andere  in  einem  Dorfe  mit  irgend  einem  neuen,  zugkräftigen 
Zusatz  oder  mit  einer  Änderung  aufgeführt  wird,  so  dauert  es  nicht  lauge, 
bis  andere  Spielgesellschaften  dasselbe  bringen  oder,  wenn  sie  der  Neuerung 
nicht  habhaft  werden  können,  sie  nachahmen  oder  gar  einen  andern  Ersatz 
dafür  bieteu.  denn  es  herrscht  auch  auf  diesem  Gebiete  grosser  Ehrgeiz. 
Auf  «liese  Weise  giebt  es  auch  bei  Yolksschauspielen  keinen  völligen  Still- 
stand, und  diese  Stücke  bilden  sich  fort  und  um  und  verändern  in  Einzel- 
heiten vielfach  ihre  Gestalt.  Dieser  Entwicklungsgang  mag  sich  bei  manchen 
Volksschauspielen  in  so  ausgedehntem  Masse  vollzogen  haben,  dass  aus 
kleinen  Anfängen  allmählich  ein  ganzes  Volksschauspiel  wurde,  wie  wir 
dies  auch  bei  den  alten   Oster-  und  Passionsspielen  sehen. 

Die  Änderungen  und  Zusätze  sind  nicht  immer  Eigenarbeit  von  Yolks- 
poeten,  sondern  häufig  werden  sie  ldoss  aus  anderen  naheliegenden  Quellen 
übertragen.  Eine  solche  Quelle  für  verschiedene  geistliche  Yolksschauspiele 
war  auch  Cochems  Leben  Jesu,  und  wenn  viele  Volksschauspiele  heute 
dieselben  Stinke  enthalten,  so  erklärt  sich  dies  nicht  so  sehr  aus  der  un- 
mittelbaren Abhängigkeit  dieser  Spiele  untereinander,  sondern  vielmehr 
auf  Grund  der  gemeinsamen  Quelle,  die  überall  zugänglich  war  und  deren 
gute  Verwendbarkeil   beim  Volke  allmählich  allgemein  bekannt  wurde. 


1)   Vom  4.  Juni  an  bis  gegen  Mitte  September. 

■J     Vg]    das  Passionsspiel  des  Böhmerwaldes  S.  15  f. 


Das  Loben  Jesu  von  P.  Märtinus  von  Cochem.  2  11 

J.  K.  Sehröer  hat  im  Anschlüsse  an  K.  Weinholds  bekannte  Unter- 
Snchungen  (vergl.  Weihnachtsspiele)  an  etlichen  österreichischen  Volks- 
schanspielen  nachgewiesen,  dass  sie  Verse  ans  Hans  Sachs'  Tragödie  von 
Schöpfung,  Fall  und  Austreibung  Adams  aus  dem  Paradiese  enthalten, 
vergl.  J.  K.  Schröers  Deutsche  Weihnachtsspiele  aus  Ungern,  Wien  1858 
Nachtrag,  Germanistische  Studien  von  Bartsch  III,  197  f.,  Weimarisches 
Jahrbuch  III,  391  f.,  IV,  383  f.,  A.  Hartmann  im  oberbayerischen  Archiv 
34,  1  f.  und  in  Volksschauspiele  1880,  Vorrede  VII,  J.  Bolte  im  Jahrbuch 
des  nd.  Vereins  9,  94  f.  und  Korrespondenzblatt  9,  91.  Ähnlich  wie  des 
alten  Meisters  Hans  Sachs  Tragödie  (1548)  in  Spielen  späterer  Zeit  ver- 
arbeitet wurde,  so  hat  auch  Cochems  Volksbuch  (1680)  wieder  auf  viele 
geistliche  Spiele  eingewirkt,  ja  sogar  solche  hervorgerufen.  Wenn  auch 
J.  K.  Schröers  Hinweis  auf  Hans  Sachs  in  einzelnen  Spielen,  wie  z.  B.  im 
Vordernberger  Paradeisspiel1)  mehr  Licht  in  die  Entstehung  brachte,  so 
blieben  doch  durch  die  Unbekanntschaft  mit  Cochems  Leben  Jesu  sehr 
auffällige  Stücke  dieser  Spiele,  sowie  ganze  Spiele,  unaufgeklärt;  ander- 
seits aber  reicht  auch  Cochem  nicht  aus,  um  nun  „alle"  Teile  auf  ihren 
Ursprung  zurückführen  zu  können,  zumal  da  auch  die  Anlehnung  ver- 
schiedener Volksschauspiele  an  Cochem  qualitativ  und  quantitativ  sehr 
verschieden  ist.  Ein  für  die  Untersuchung  schwieriger  Umstand  ist  auch, 
dass  die  Heilige  Schrift  zugleich  Quelle  für  Cochem  und  für  die  geist- 
lichen Volksschauspiele  ist,  so  dass  wir  die  Heilige  Schrift  sowohl  durch 
Cochem  als  über  Cochem  hinaus  überall  und  zumeist  in  ausgiebigster  Weise 
vertreten  finden. 

Wir  wollen  zunächst  das  von  K.  Weinhold,  Weihnachtsspiele  S.  302  f. 
mitgeteilte  Paradeisspiel  aus  Vordernberg  in  Obersteier  zur  Ver- 
gleichung  heranziehen.  Die  Hs.  ist  aus  dem  Jahre  1847,  Weinhold  nimmt 
aber  als  ursprüngliche  Abfassungszeit  wie  beim  Vordernberger  Weihnachts- 
spiel das  15.  oder  16.  Jahrhundert  au2).  Da  nun  auch  hier  Cochems  Leben 
Jesu  benutzt  wurde,  so  muss  wenigstens  die  Fassung  des  ganzen  Spieles, 
wie  es  uns  in  der  Hs.  von  1847  überliefert  ist.  ans  Ende  des  17.  oder  ins 
18.  Jahrhundert  herabgerückt  werden.  Freilich  ist  nichtsdestoweniger  für 
andere  Teile  des  Spieles,  besonders  für  die  gesanglichen  und  wohl  auch 
für  die  von  *Haus  Sachs  entlehnten,  ein  höheres  Alter  anzusetzen,  denn 
die  Scheidewand  zwischen  dem  älteren  Texte  und  den  jüngeren  Zusätzen 
macht  sich  um  so  auffälliger  bemerkbar,  als  jeuer  poetisch  ist,  diese  aber 
prosaisch  gehalten  sind,  eine  wunderliche  Mischung  in  ein  und  demselben 
Spiele  und  bezeichnend  für  die  Entstehungsweise.  Man  wird  hier  mit 
J.  K.  Sehröer3)   annehmen  müssen,    dass  die  poetischen  Stücke  die  ältere, 


1)  Vgl.  K.  Weinholds  Weihnachtsspiele  S.  134,  300. 

2)  Vgl.  Weihnachtsspiele  S.  134,  300. 

3)  Vgl.  Deutsche  Weihnachtsspiele  aus  Ungern,  Wien  1858  S.  177. 


212  Am  mann: 

ursprüngliche  Fassung  ausmachen  und  dass  zu  diesen  erst  später  die 
prosaischen  Teile  aus  Cochems  Buche  hinzugefügt  wurden.  Wenn  auch 
im  Vordernberger  Paradeisspiel  einerseits  in  Versen  Cochems  prosaischer 
Text  verarbeitet  ist,  anderseits  auch  Hans  Sachs'  Verse  in  Prosa  erscheinen, 
als  stammten  sie  gleichfalls  aus  Cochems  Buche,  so  mag  das  doch  nur  eine 
Ausgleichung  der  verschiedenartigen  Teile  sein,  die  von  einem  späteren 
Compilator  besorgt  wurde.  Es  zeigt  sich  in  diesem  Spiele  auch  über 
Cochem  hinaus  Verwertung  der  Heiligen  Schrift,  so  dass  wir  hier  alte 
geistliche  Lieder  mit  Stellen  von  Hans  Sachs  und  Cochem,  sowie  aus  der 
Heiligen  Schrift  zu  einem  nicht  eben  harmonischen  Ganzen  verquickt 
finden. 

Im   V.  P.   (Vordernberger  Paradeisspiel)    S.  306 ')    sagt   Gott  Vater  in 

Versen: 

,"Wann  du  außgelebt  wirst  haben, 

Werden  dich  die  Engel  in  den  Himmel  tragen." 

Bei  Cochem*)  S.  43b  heisst  es  unten  in  der  Erzählung  gleichfalls: 

....  „sonder  wan  wir  auff  diser  weit  außgelebt  hätten,   wären  wir 
von  den  Engeln  lebendig  in  den  Himmel  getragen  worden." 

Diese  Worte  bezeichnet  Cochem  als  allen  „Theologis  communiter",  sie 
könnten  daher  möglicherweise  auch  aus  einer  andern  Quelle  stammen. 
Hier  sind  aber  wahrscheinlich  nur  aus  Cochems  Prosaworten  Verse  ge- 
macht worden.  Ein  Gegenstück,  wie  der  Compilator  auch  Verse  des  Hans 
Sachs  in  Prosa  umgesetzt,  zeigt  uns  zu  S.  304  des  V.  P.  die  Stelle: 

„Ad;im  nimm  an  den  lebendigen  Atem"  u.  s.  w.3). 

Im  V.  P.  spricht  Lucifer  (neben  Satan  und  Belial)  S.  309  unten: 

.  .    .  „die  wir  so  lüderlicher  Weise  verscherzet  haben." 

Dazu  lässt  sich  im  H.  P.  (Höritzer  Passion)  und  bei  Cochem  die  erste 
Rede  Lucifers  vergleichen4): 

„was  wir  liederlich  verscherzet  haben." 

Im  V.  P.  S.  314  beginnt  die  Gerichtsscene  mit  den  zwei  Töchtern  Gottes 
(Barmherzigkeit  und  Gerechtigkeit  wie  im  H.  P.  nach  Cochem).  Voraus 
geht  im  V.  P.  S.  314  eine  Art  Prolog  in  Prosa,  den  der  Engel  spricht. 
Selbst  dieser  Prolog  ist  aus  Cochem 5)  entlehnt,  wir  finden  nur  unbedeutende 
Kürzung  und  die  formelle  Änderung,  dass  es  im  V.  P.  heisst:  „in  unserer 


1)  Nach  K.  Weinholds  Weibnachtsspielen  citiert. 

2)  Nach  der  Ausgabe  von  1697  Frankfurt  a.  M.  8.  Kap.  „vom  Paradeiß"  citiert.   Vgl. 
Das  Passionsspiel  des  Böhmerwaldes  S.  8  f. 

3)  Vgl.  Deutsche  Weihnachtsspiele  aus  Ungern  von  J.  K  Schröer  S.  178,  weiter  noch 
S.  182,  184. 

4)  Vgl.  Cochems  Ausgabe  von  16'.)7  8.  Kap.  „vom  Paradeiß"  8  44. 

5)  Vgl.    ebenda   i).  Kap.    „wie    über    den   Adam   Gericht    gehalten   und   er  auß  dem 
Paradeiß  gestossen  worden". 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinas  von  Cochem.  213 

Komödien",  während  Cochem  sagte:  „in  disem  Capitel".  Dann  beginnt  im 
V.  P.  S.  314  f.  die  Barmherzigkeit  mit  den  Teufeln  ihren  Streit  um  den 
Menschen.  Hier  gehen  zunächst  der  Prosa  wieder  Reden  in  Versen  voran, 
die  eine  ausführlichere  Quelle  als  Cochems  Leben  Jesu  voraussetzen. 
Besonders  fällt  hier  auf,  dass  die  Barmherzigkeit  von  sich  sagt:  „Ich  werde 
die  Lieb  und  Barmherzigkeit  Gottes  genannt"  und  später  wiederum: 
„ich  als  die  Liebe". 

Hier  habeu  wir  noch  eine  Erinnerung  au  die  ehemaligen  vier  Töchter 
Gottes,  was  wohl  auch  in  einer  andern  Quelle  —  Hans  Sachs  ist  hier  aus- 
geschlossen —  enthalten  war.  Der  genaue  Anschluss  an  unsere  Ausgabe 
Cochems  beginnt  in  V.  P.  S.  316  mit  der  Anklage  Lucifers,  bei  Cochem 
9.  Kap.  S.  45b;  nur  schliesst  sich  der  Verfasser  des  V.  P.  nicht  so  sklavisch 
an  Cochem  an  wie  der  des  H.  P. ,  er  wählt  mit  besserem  Verständnis  das 
für  das  Spiel  Passende  aus,  fügt  auch  wieder  andere  Stücke  dazwischen 
ein.  er  war  also  sicher  ein  gebildeterer  Mann,  vielleicht  ein  mit  Volks- 
schauspielen vertrauter  Geistlicher. 

Dass  im  V.  P.  eine  „bestimmte"  Fassung  des  Lebens  Jesu  von  Cochem 
benutzt  wurde  (nicht  etwa  die  von  1689  oder  ein  Nachdruck  dieser  wie 
die  von  1741),  zeigt  sich  S.  322  unten:  „Es  ist  mir  lieb,  mein  lieber  Son," 
welche  Stelle  in  der  Auflage  von  1741  weggelassen  ist,  dagegen  in  der 
von  1697  bei  Cochem  S.  48  b  zu  finden  ist.  S.  223  spricht  die  Worte  des 
zweiten  Absatzes  von  unten  im  H.  P.  Gott  Vater,  im  V.  P.  Gott  Sohn, 
nachdem  es  bei  Cochem  nur  heisst  S.  48b  unten:  „Darnach  sprach  Gott". 
Damit  kann  nur  Gott  Vater  gemeint  sein  —  es  könnte  diese  Änderung 
für  die  Annahme  eines  geistlichen  Verfassers  wiederum  Bedenken  er- 
wecken. 

Es  folgt  nun  die  Verheissung  der  Erlösung  nach  dem  biblischen  Text, 
eine  Scene,  die  mau  bei  Cochem  erwarten  möchte,  die  aber  bei  ihm  nicht 
zu  finden  ist.  Auffallend  ist  auch,  dass  der  T.  P.1)  diese  Stelle  hat,  während 
sie  im  H.  P.  fehlt.  A.  Pangerl  dürfte  die  Scene  aus  anderen  Volks- 
schauspielen bekannt  gewesen  und  von  ihm  nach  dem  biblischen  Texte 
eingefügt  worden  sein.  Der  Text  dieser  Scene  stimmt  im  T.  P.  nicht 
genau  zum  V.  P.  Ebenso  erinnert  der  Gesang  Adams  und  Evas  im  T.  P. 
zu  Anfang  an  den  Gesang  Adams  und  Evas  S.  326  im  V.  P.  beim  Weggang 
aus  dem  Paradiese.  Als  das  erste  Menschenpaar  in  höchster  Betrübnis  auf 
Erden  weilt,  sendet  nach  dem  V.  P.  S.  327  ihm  Gott  seinen  Engel  mit  der 
Verheissung  der  Erlösung:  „Nicht  betrübe  dich  so  ser  Adam!  auß  deinem 
Samen  wird  widerum  ein  Mensch  geboren  werden  ..."  und  vorher  klagt 
Adam:  „Ach  weh  ich  armer  Mann,  ach  weh  was  hab  ich  gethan,  daß  ich 
so  ein  großes  Gut  mit  einem  einzigen  Apfelbiß  verscherzet  hab!  u.  s.  w. 


1)  Tweraser  Passion  von  A.  Pangerl  ist  eine  dem  H.  P.  ganz  nahestehende  Fassung, 
zusammen  B.  P.  (Böhmerwald-Passion).  Vgl.  S.  7  meiner  Ausgabe  des  Passionsspieles  des 
Böhmerwaldes. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893.  15 


•>H  Aiiiinnmi: 

Auch  diese  Stelle  ist  wieder  nach  Cochem  dramatisiert,  vgl.  das  9.  Kap. 
„von  dem  Leben  Adams"  S.  51b  (in  der  Ausg.  von  1682  S.  57):  Als  ein- 
mal der  fromme  Ertz-vatter  Adam  den  weg  zum  paradeiß  ansähe,  und  bey 
sich  bedachte,  was  für  ein  grosses  gut  er  für  sich  und  seine  Kinds-Kinder 
verschertzt  hatte,  fienge  er  an  bitterlich  zu  wainen,  und  zu  sprechen: 
„0  mich  armen  Mann,  was  hab  ich  gethan?  was  für  ein  grosses  gut  hab 
ich  durch  einen  apffelbiß  verschertzet"  u.  s.  w.  „Als  der  gute  Adam  dise 
wort  redete,  da  schickte  Gott  einen  Engel  zu  ihm.  welcher  ihn  mit  freund- 
lichen Worten  anspräche:  Nicht  betrübe  dich  zu  sehr,  o  Adam,  dan  auß 
deinem  samen  wird  geboren  werden  ein  mensch,  welcher  wird  seyn  ein 
gerechter  und  fridsamer  held"  u.  s.  w.  wie  im  V.  P.  Im  V.  P.  macht  Adam 
S.  328  f.  Testament.  Die  Anrede  an  die  Kinder  zeigt  eingangs  und  in  der 
zweiten  Hälfte  Entlehnung  aus  Cochem  ebenda  S.  52b— 53,  in  der  ersten 
Hälfte  aber  ist  eine  Betrachtung  über  die  Kürze  des  menschlichen  Lebens 
mit  Vergleichen  eingefügt,  die  Cochem  nicht  enthält. 

Es  folgt  nun  ohne  Beziehung  zu  Cochem  im  V.  P.  ein  Wechselgesang 
zwischen  dem  Tod  und  Adam  in  Versen.    Es  ist  endlich  die  Zeit  der  Er- 
lösung herangenaht  und  Gott  Vater  sendet  seinen  Sohn  in  die   Welt:    dies 
ist  im  V.  P.  (S.  331—334)  uach  Cochems  44.  Kap.  „Gott  Vatter  gibt  seinen 
Sohn    der   Welt"    S.  218b:    „Mein   allerliebster  Sohn  ...  die  Zeit   ist  nun 
da"    u.  s.  w.  (in  der  Ausg.  von  1682  S.  244)   gearbeitet.     Die  Antwort  des 
Sohnes  im  V.  P.  S.  331  f.  ist  aus  Cochems  45.  Kap.  S.  222—23  entnommen. 
Die  Rede  Gott  Vaters  im  V.  P.  S.  332  unten  nach  Cochem  222—23,  auch 
der  Schlussvers  oben  S.  323  stammt  aus  Cochem  S.  223a  unten:  „.  .  damit 
er    die    schäfflein,    so    der   höllische  wolff  schon  im  rächen  hatte,    möchte 
erretten."    Zur  folgenden  Rede  des  Gott  Sohues  im  V.  P.  S.  333  oben  vgl. 
bei  Cochem  das  44.  Kap.  S.  221a,  b  über  den  Gehorsam;  und  Gott  Vaters 
Antwort    ebenda  ist  eine  Wiederholung  einer  früher  erwähnten  Stelle  mit 
einer  Beziehung  zum  folgenden  Spiele  vom  guten  Hirten.    Im  V.  P.  S.  333 
bis  34    ist  Gott  Sohn    zur  Reise    in    die  Welt    bereit    und    spricht    seine 
Abschiedsworte.     Auch    bei    Cochem,    45.  Kap.   S.  221—23    verlässt   Gott 
Sohn    den    goldenen  Palast    seines  Vaters    und    steigt   in   das  Jammerthal 
hinab;   wie  ein  Bräutigam  war  er  hervorgegangen  und  wie  ein  Riese  auf- 
gesprungen,   zu  laufen  seinen  Weg  vom  hohen  Himmel  u.  s.  w.,    auch  die 
Wirkung  des  Abschieds  im  Himmel  zeichnet  Cochem  S   222b  oben.     Die 
Dramatisieruni;    verlangte    gewisse  Änderungen,    aber    in  der  Hauptsache 
bietet  Cochem  genau  dieselbe  Darstellung  wie  das  V.  P.    Wenn  Gott  Sohn 
beim  Abschied  vom  Vater  spricht:    „Nun  Adieu,  mein  allerliebster  himm- 
lischer Vater,  nun  Adieu,  mein  allerliebster  heiliger  Geist;    sieh  ich  gehe 
in  die  Welt  ins  leiden,  welches  mir  von  Ewigkeit  ist  zubereit.    Nun  Adieu, 
ihr  lieben  Englein!"  so  ist  diese  Stelle,  wenn  sie  auch  in  Cochems  Leben 
v  Jesu  nicht  zu  finden  ist,  doch  im  (leiste  Cochems  verfasst,  vgl.  das  97.  Kap. 
..von  dem  Abschied  Christi  von  Maria  und  seinen  Jüngern". 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinus  von  Cochem.  215 

Der  Engel  singt  im  V.  P.  am  Schlüsse  des  I.  Teiles:  Gloria  in  excelsis 
)eo,  womit  auf  die  Geburt  Christi  hingewiesen  wird;  es  folgt  aber  da- 
elbst  kein  Christkiudlspiel,  sondern  das  Spiel  vom  guten  Hirten,  in  welchem 
Christus  nicht  als  Kind,  sondern  als  Jüngling  auftritt.  Hier  musste  also 
ler  Verfasser  des  V.  P.  Cochem  gegenüber  einen  grossen  Sprung  machen, 
lichtsdestoweniger  ist  aber  auch  im  Spiele  vom  guten  Hirten  Cochem 
nieder  benutzt.  S.  344 — 48,  359  —  61,  also  wiederum  die  Rede  in  Prosa, 
st  Cochems  166.  Kap.  „von  dem  guten  Hirten"  S.  1126  f.  entnommen. 
Daneben  findet  sich  aber  im  V.  P.  noch  eine  starke  dramatische  Erweite- 
ung,  die  mit  Cochem  nichts  mehr  zu  thun  hat.  Hier  tritt  erst  die  Selb- 
tändigkeit  des  Verfassers  des  V.  P.  hervor,  wiewohl  auch  im  I.  Teile 
chon  Zusätze  ähnlicher  Art  vorkommen.  Es  ist  indessen  kaum  anzu- 
lehmen,  dass  die  Verse  des  V.  P.  blosse  Erfindung  des  Verfassers  sind, 
ondern  auch  hier  benutzte  er,  wenn  er  nicht  eine  bestimmtere  Quelle 
latte,  mindestens  verwandte  Volksschauspiele  und  geistliche  'Volkslieder, 
'gl.  die  Bemerkungen  Weinholds  und  Schröers  zum  V.  P. 

Ich  führte  von  den  übereinstimmenden  Stellen  nur  die  kürzeren  und 
ninder  auffälligen  mit  Gegenüberstellung  der  Texte  an,  die  längeren 
Hellen  konnte  ich  des  Raumes  wegen  hier  und  im  folgenden  nur  mit 
Wahlen  andeuten.  Der  vergleichende  Leser  wird  erkannt  haben,  dass  hier 
n  den  prosaischen  Teilen  fast  ausschliesslich  Cochems  Leben  Jesu  benutzt 
worden  ist.  Allerdings  genügt  Cochem  nicht  für  alle  Stellen  im  V.  P.; 
venn  man  dem  Verfasser  des  V.  P.  auch  Eigenart  zutrauen  wollte,  wird 
nan  doch  ausser  Cochem  noch  eine  weitere  Quelle  voraussetzen  müssen. 

Dem  V.  P.  ist  zunächst  das  Obergrunder  Weihnachtsspiel1) 
'O.W.)  anzuschliessen,  da  dasselbe  gleichfalls  auf  Cochem  zurückgeht  und 
laher  auch  mit  unserem  Böhmerwald -Passion  einen  gewissen  Zusammen- 
hang hat.  Die  ersten  zwei  Auftritte  enthalten  Stücke  in  Prosa  und  in 
Versen,  die  aber  zunächst  nach  der  Heiligen  Schrift,  besonders  nach  der 
jenesis  zusammengestellt  sind,  erst  im  dritten  Auftritt  beginnt  der  An- 
ichluss  an  Cochem.  Voraus  geht  hier  die  Scene,  wie  Gott  das  Menschen- 
paar nach  dem  Sündenfall  vor  seinen  Thron  ruft,  wie  wir  dies  im  V.  P. 
and  im  T.  P.  nach  der  Gerichtsscene  finden,  auch  noch  nach  der  Genesis 
3,  9  f.  bearbeitet,  dann  beginnt  aber  S.  368  die  Anklage  Lucifers  und  der 
Streit  der  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit,  getreu  nach  Cochem  (Ausg. 
von  1697  Frankfurt  a.  M.)  9.  Kap.  S.  45  f.  Der  Text  folgt  Cochem  bis 
S.  373  (zur  Schlange),  da  ist  dann  die  Verkündigung  des  Fluches  an  die 
Schlange  an  Eva  und  Adam  eingefügt,  wie  dies  im  V.  P.  und  auch  im 
T.  P.  mit  der  Hervorrufung  des  Menschenpaares  vor  den  Thron  nach  der 
Genesis  verbunden  ist.  Jene  Scene  ist  hier  also  in  zwei  Teile  zerrissen 
und  dazwischen  steht  Cochems  Text,    ein  fast  untrügliches  Zeichen,    dass 


1)   Bei  A.Peter,  Volkstümliches  aus  Österreichisch-Schlesien  (Troppau  1864)  1,  368  f. 

15* 


9](";  \miii.inn: 

diese  Scene  von  den  jeweiligen  Bearbeitern  immer  nach  der  Genesis  ein- 
gefügt wurde,  also  kaum  einer  abweichenden  Ausgabe  Cochems  oder  einer 
anderen  Quelle  entstammt.  Nach  der  gereimten  Rede  des  Engels  und  der 
Vertreibung  der  ersten  Menschen  aus  dem  Paradiese  folgt  S.  375  wieder 
Anschluss  au  Cochem  S.  48b.  Auch  hier  spricht  Gott  Vater  nach  dem 
Wortlaut  der  Ausgabe  von  1697:  „Es  ist  mir  lieb,  mein  lieber  Sohn!"  wie 
im  V.  P.  und  H.  P.,  so  dass  also  eine  Ausgabe,  wie  die  von  1741,  für  das 
0.  W.  ausgeschlossen  ist.  Weiter  wird  im  0.  W.  das  Leben  Adams  und 
Evas  auf  Erden  dargestellt  S.  375 — 78:  die  anfängliche  Xot  und  Betrübnis 
und  die  neuen  Versuchungen  durch  den  Teufel.  Dieser  Teil  ist  in  diesen 
Ausgaben  Cocbems  nicht  zu  finden,  auch  lässt  der  Inhalt  nicht  gerade  auf 
Cochem  schliessen.  Der  vierte  Auftritt  S.  378  —  79,  wie  Gott  den  Engel 
Gabriel  nach  Nazareth  zu  Maria  sendet,  schliesst  sich  wieder  wortgetreu 
an  Cochems  42.  Kap.  „von  der  Verkündigung  Maria"  S.  208a,  b  an.  Audi 
hier  zeigt  sich  Anschluss  an  die  Ausgabe  von  1697  im  Gegensatze  zu  der 
von  1791,  weil  S.  378  die  Bezeichnung  „eingeborener"  (Sohn)  zu  jener 
Ausgabe  stimmt,  in  dieser  aber  fehlt.  Der  fünfte  Auftritt  enthält  den 
englischen  Gruss  in  Versen,  zwar  nach  den  Worten  der  Heiligen  Schrift 
zusammengestellt,  aber  zugleich  nach  Cochem  gearbeitet,  weil  unter  anderm 
S.  379  V.  16—17  aus  Cochem  S.  213b  entnommen  ist.  Vgl.  Cochem:  ,.Diß 
allein  kau  ich  sagen,  daß  es  ein  werck  deß  hl.  Geistes  seye.  welches  er 
in  eigener  person  verrichten  wird"  und:  „Dieses  wird  der  heilige  Geist  in 
dir  ausrichten"  .  .  Die  betreffenden  Stellen  aus  der  Heiligen  Schrift  sind 
sämtlich  auch  bei  Cochem  verzeichnet,  vgl.  43.  Kap.  Der  sechste  Auftritt 
S.  380 — 82  ist  dem  51.  Kap.  Cochems  „Wie  Joseph  Mariam  heimlich  ver- 
lassen wolte"  entnommen,  und  zwar  die  Kede  Josefs  siehe  bei  Cochem 
S.  _'.')7a  und  die  gereimte  Rede  des  Engels  bei  Cochem  S.  259a,  Josefs 
Rede  nach  dem  Erwachen  bei  Cochem  S.  259b,  die  Rede  an  Maria  ebenda 
S.  259b  — 60a.  die  Antwort  Marias  (S.  381  — 82)  ebenda  S.  260a.  b.  Die 
Rede  des  Landpflegers  (S.  382).  ferner  vom  siebenten  Auftritt  die  Reden 
Josefs  und  Marias  sind  aus  Cochem  54.  Kap.  „Wie  Maria  und  Joseph  nach 
Bethlehem  reiseten"  S.  275a, b  entnommen:  aber  die  letzten  kurzen  Reden 
S.  383:  „Lasset  mich  .  .  ."  und  „Des  sei  Gott  gelobt!  .  .  ."  sind  hier  bei 
Cochem  nicht  zu  finden;  sondern  folgen  im  54.  Kap.  erst  S.  281a.  b  oben. 
Im  achten  Auftritt  S.  383 — 88  sind  die  bitteren  Erfahrungen,  die  Josef  und 
Maria  beim  Suchen  einer  Herberge1)  in  Bethlehem  machten,  in  mehreren 
Scenen  dargestellt.  Zuerst  hat  es  Josef  mit  einem  groben  und  eigen- 
nützigen Gastwirt  zu  thun.  vgl.  dazu  Cochem  55.  Kap.  S.  282a  und  die 
Klagereden  weiter  S.  282  b.  der  Verkehr  mit  dem  milder  gesinnten  Bürger 
bei  Cochem   55.  Kap.   S.  281b,    der  Verkehr    mit   dem   groben  Bauer  bei 


1)   Vgl.  zu  den  Herberg-   und  Hirtenscenen  besonders  W.  Pailler.  Weihnacbtsliedei 
und  Krippenspiele.    Innsbruck  1884.  I  und  II.  wo  viele  Beispiele  dieser  Art  zu  finden  sinffl 


Das  Leben  Jesu  von  1'.  töartinus  vou  Cochem.  217 

Cochem  früher  im  54.  Kap.  S.  278  a,  b,  die  Anweisung-  einer  Höhle  wird 
im  O.W.  dem  Gastwirt  zugeteilt,  während  bei  Cochem  S.  284a  Josef  diese 
äelbst  aufsucht,  die  Klagereden  zwischen  Josef  und  Maria  bei  Cochem 
S.  283  a,  b  und  weiter  284  a. 

Mit  dem  neunten  Auftritt  S.  388—402  beginnen  die  Hirtensceuen,  die 
mundartlich  und  komisch,  wie  es  in  Volksschauspielen  beliebt  ist,  gehalten 
sind.     Hierzu  kann  Cochem  nicht  als  Quelle  gedient  haben.     Sowie  aber 
S.  398    wieder    die    gewöhnliche  Prosarede    erscheint,    so  zeigt  sich  auch 
wieder   genauer  Anschluss    an  Cochems    59.  Kap.    „Von  der  Ankunft  der 
Hirten"   S.  319a,  b  bis  320a    oben.     Von  S.  399  (Gesang  der  Hirten)  bis 
zum  Ende  des  neunten  Auftritts  ist  Mundart  mit  Rede  in  Versen  gemischt, 
wozu  Cochem  nichts  ähnliches  bietet.    Auch  der  zehnte  Auftritt  S.  402—6, 
obwohl   in  Versen  abgefasst,    ist  dennoch  nach  Cochems  64.  Kap.  8.  347. 
348a.   349b  unten  (vgl.  im  0.  W.  S.  405  unten).   450b  und  O.  W.  S.  406, 
5  f.,  ferner  451.    Im  elften  Auftritt  S.  407—11  haben  wir  wieder  gereimte 
Rede,  die  nicht  so  wortgetreu,  aber  doch  aus  Cochem  hervorgegangen  ist. 
So  S.  409  oben   und  Cochems  64.  Kap.  S.  352a,  b,    S.  111  Herodes'  Rede 
und  Cochems    65.  Kap.    „Wie   die  hl.  3  König  nach  Bethlehem  kommen" 
S.  354a,  b.    Zum  zwölften  Auftritt  S.  412  vgl.  Cochem  S.  355a,  b,  zu  S.  412, 
15  f.    vgl.    Cochem  S.  359a,    zu  S.  414  vgl.  Cochem  S.  361b.   364a,  b,    zu 
S.  415,  9  f.  vgl.  Cochems  70.  Kap.   „Von  «1er  Flucht  in  Egypten"  S.  396a. 
Das  Unterspiel  S.  416—17  finde  ich  bei  Cochem  nicht.    Der  letzte  Auftritt, 
der  dreizehnte,  S.  417  —  22,  stellt  den  Bethlehemitischen  Kindermord  und 
das  Ende  des  Herodes  dar.    Dazu  lässt  sich  nur  im  allgemeinen  Cochems 
65.  Kap.  „Von  der  Rückreiß  der  drey  Konigen"  und  73.  Kap.  „Wie  Herodes 
die  unschuldige  Kindlein  tödtet"   vergleichen,  im  einzelnen  wurde  aber  im 
0.  W.  mehr  Gewicht  auf  die  Charakteristik  des  Herodes  und  seiner  Helfer 
gelegt.    Bezüglich  Herodes'  Tod  heisst  es  bei  Cochem,  65.  Kap.  S.  430  nur, 
dass  er  eines  erbärmlichen  Todes  gestorben  sei.    Wenn  also  auch  im  Ober- 
grunder  Weihnachtsspiel  fast  durchaus  Cochem  benutzt  worden  ist,  so  be- 
merken wir  manchmal  doch,   besonders  in  gereimten  Stücken,  eine  etwas 
freiere   Behandlung,    einzelne  Scenen   scheinen   sogar    (wie  besonders  das 
Nachspiel)  aus  anderer  Quelle  zu  stammen,    wie   denn  überhaupt  bei  den 
Verfassern  der  Volksschauspiele  eine  mehr  oder  weniger  genaue  Kenntnis 
der   verwandten    volkstümlichen    Schriften    und  Spiele,    der  ersteren  vom 
Lesen,  der  letzteren  vom  Hören,  vorauszusetzen  ist. 

Ich  füge  hier  nur  beiläufig  bei,  dass  auch  das  Christkindl-Spiel 
des  Böhmerwaldes  (bei  A.  Hartmann,  Volksschauspiele  S.  474  f.)  von 
Cochemschem  Einfluss  nicht  ganz  frei  ist. 

Ich  ziehe  ferner  das  Zuckermantier  Passionsspiel  (Z.  P.)1)  zur 
Vers-leichuno-    mit    Cochem    heran.      Dasselbe    ist    durchweg    in    Versen 


1)    Bei  A.  Peter,  Programm  des  Gymuas.  zu  Troppau  1868  und  69. 


218 


Aiimiaun: 


geschrieben  und  enthält  ein  Paradeisspiel  und  im  Anschlüsse  daran  den 
Passion.  Vor  dem  ersten  Auftritte  des  Paradeisspieles  wird  anstatt  einer 
Vorrede  gesangsweise  von  der  Erschaffung  der  Welt  erzählt.  Diese  Er- 
zählung bildet  eine  kurze  gereimte  Inhaltsangabe  der  Kap.  1  —  8  Cochems 
(Ausg.  von  1697),  worin  die  Erschaffung  der  Welt  und  des  Menschen  und 
der  Fall  der  Engel  behandelt  wird.  Im  ersten  Auftritte,  S.  18—19,  über- 
giebt  Gott  dem  Adam  das  Paradies  und  erschafft  die  Eva,  vgl.  Cochems 
8.  Kap.  S.  43  a,  b.  Zu  V.  77—88  vgl.  Cochems  7.  Kap.  S.  3.6—37,  zu  V.  89 
bis  100  vgl.  Cochems  8.  Kap  S.  44  (V.  92 :  „was  wir  verscherzet  han"  und 
Cochem  S.  44  a:  „was  wir  liederlich  verschertzt  haben").  Dann  im  zweiten 
Auftritte  S.  20  f.: 

V.  105  —  6:  Cochems  8.  Kap.  S.  44a: 


Der  Baum  so  edel  ist, 
Dass  ihr  all's  wissen  könnt; 


da  er  doch  ein  so  edler  bäum  ist,  .  .  daß 
ihr  alles  wissen  köntet 


Man  hört  auch  Cochem  in  dem  V.  13  und  21 :  „0  wol,  ein'  schöne  Frucht," 
„Ach,  ach,  wie  gut,  wie  süss,"  vgl.  Cochem  S.  44a  unten.  Im  dritten 
Auftritte  kommt  die  Gerichtsscene  mit  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit. 
Hier  müsste  ich  alles  ausschreiben,  wollte  ich  die  Vergleichung  genau 
durchführen,  daher  mögen  folgende  Beispiele  genügen: 

Bei  Cochem  9.  Kap.  S.  46b: 

Es  will  sich  nicht  geziemen,  dass  Eure 
göttliche  Majestät  wider  Ihr  eigenes  Wort 
thun  sollte.  Denn  sie  hat  zum  Adam  ge- 
sagt .  .  . 


V.  194  des  Z.  P.: 

Geziemen  will  sich's  nicht, 
0  göttliche  Majestät, 
Dass  anders  werd'  gerieht't, 
Als  wie  dein  Spruch  besteht. 

V.  210  f.: 

Wann  du  die  Sund',  o  Gott, 
Dem  Adam  thät'st  verzeih'n, 
So  würd'  er  dein  Gebot 
Zu  keiner  Zeit  nicht  scheu'n. 

V.  226: 

Weil  ich  bekennen  muss, 
Dass 

V.  290  f. : 

Es  ist  mir  lieb,  mein  Sohn, 
Doch  wird  dir's  übel  geh'n. 
Wust  müssen  Spott  und  Hohn. 
Ja  sogar  den  Tod  aussteh'n. 

V.  298  f.: 

Obschon  nun  Adam  wird 
Der  ew'gen  Straf  befreit, 
Sei  er  doch  judiciert 
Zum  zeitlichen  Tod  und  Leid, 


Bei  Cochem  9.  Kap.  S.  4i  a: 

Wann  du,  o  Gott,  dem  Adam  die  Sünde 
ohue  einige  Strafe  solltest  nachlassen,  so 
würdest  du  ihm  Ursach  geben,  hernach 
desto  freier  zu  sündigen. 

Bei  Cochem  9.  Kap.  47  a : 
Ich  muß  bekennen,  dass  Adam 


Bei  Cochem  9.  Kap.  S.  48  b: 

Es  ist  mir  lieb,  mein  lieber  Sohn,  es  wird 
dir  aber  in  der  menschheit  gar  übel  er- 
gehen. Du  wirst  .  .  .  den  todt  müssen 
außstehen. 

Bei  Cochem  9.  Kap.  S.  48b  unten: 

Ob  schon  ich  die  ewige  straff  Adams  auff 
mich  nemmen  .  .  .  dannoch  befreye  ich 
ihn   nicht  von   der  zeitlichen  straff 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinas  von  Cochem.  219 

Mit  V.  306  tritt  dann  gleich  «1er  Engel  auf,  verkündet  dem  Menschen- 
paare Urteil  und  Strafe,  aber  auch  die  künftige  Erlösung,  darauf  treibt  er 
sie  aus  dem  Paradiese.  Peter  bemerkt  S.  28  Anm.:  „Die  Scheidung  der 
drei  ersten  Auftritte  wurde  nach  dem  Obergrunder  und  Einsiedler  Weih- 
nachtsspiele vorgenommen."  Nach  einer  kurzen  Moral  folgt  die  eigentliche 
Vorrede  zum  Passion,  in  der  von  der  Erschaffung  Adams  bis  zum  Tode 
Christi  die  wichtigsten  Ereignisse  erzählt  sind.  Der  Verfasser  giebt  hier 
nichts  als  eine  dürftige  Inhaltsangabe  der  wichtigsten  Ereignisse  nach 
Cochems  Werke,  z.  B.  S.  435:  „Wurd'  gleich  ein  Rath  gehalten",  vgl. 
Cochems  91.  Kap.  „von  dem  Rath  gegen  Christum". 

Im  vierten  Auftritte  wird  dargestellt,  wie  Christus  die  Wucherer  aus 
dem  Tempel  treibt.  V.  470—501  ist  zu  einer  komischen  Scene  erweitert, 
indem  die  Juden  in  ihrem  Deutsch  miteinander  schachern.  Dieses  Stück 
hängt  mit  Cochem  nicht  zusammen,  sondern  ist  volkstümliche  Einlage, 
auch  das  Gespräch  zwischen  Christus  und  Kaiphas  V.  502—37  ist  freier 
behandelt,  doch  ist  V.  512—21  aus  Cochems  93.  Kap.  S.  563b  entnommen. 
Zu  V.  509—11  vgl.  Cochems  92.  Kap.  S.  559  a.  Jesus  beklagt  V.  538—53 
Jerusalem,  vgl.  Cochems  92.  Kap.  S.  556;  die  Worte  Jesu  V.  554—59  sind 
Cochems  93.  Kap.  S.  565  b  und  566  a  entlehnt.  Getreuer  wieder  ist  der 
Anschluss  an  Cochem  von  V.  560  —  75.     Vgl. 

V.  5(30  —  61 :  Cochem  S.  507  a,  b: 

Ach,  mein  allerliebster  Sohn!  Da   es  nun   finster  wäre,    und    der  Herr 

Was  Leid  hast  du  mir  angethon,  noch  nicht  käme  ...  O  mein  liebster  Sohn, 

Dass  du  so  lang  heunt  in  der  Nacht         wie  hast  du  mich  betrübt?    Ich  hab  ver- 
Nicht  kommen  bist.    Ich  hab'  gedacht,      maint,  du  seyest  gefangen  u.  s.  w.  S.  508  a. 
Du  sei'st  von  Juden  angegriffen 
Oder  gefänglich  hingerissen. 

Mit  V.  591  beginnt  die  Berathung  der  Juden  wider  Christum,  die  nach 
dem  Inhalt  der  vorgebrachten  Klagen  sehr  an  Cochem  und  den  IV.  Aufzug 
des  H.  P.  Erinnert,  bezüglich  der  vielen  Personennamen  aber  mag  noch 
eine  andere  Quelle  benutzt  worden  sein.  Ganz  aber  geht  es  dann  in  den 
folgenden  Auftritten  im  Geleise  Cochems  weiter.  Christus  offenbart,  wie 
im  H.  P.,  seiner  Mutter  das  Leiden  und  nimmt  nach  den  drei  vergeblichen 
Bitten  der  Mutter  Abschied;  er  hält  mit  seinen  Jüngern  das  Abendmahl 
und  nimmt  die  Fusswaschung  vor,  bezeichnet  Judas  als  Verräter  und  geht 
mit  drei  Jüngern  auf  den  Ölberg;  es  folgt  Judas'  Verrat  und  die  Gefangen- 
nehmung  am  Ölberg. 

Bis  hierher  umfasst  die  Handlung,  von  der  ersten  Scena  des  eigent- 
lichen Passions  an  gerechnet,  drei  Auftritte,  im  4.  bis  9.  Auftritte  sind 
dann  die  Leiden  Christi  vom  Verhöre  bei  Annas  bis  zum  Kalvarienberg 
weitergeführt,  im  10.  Auftritte  ist  Christus  am  Kreuze,  und  Marienklagen 
und  ein  Epilog  schliessen  das  Ganze.  Merkwürdig  ist  die  Übereinstimmung 
der   Zahl  10    der  Auftritte  hier   und  im  H.  P.,    denn  wenn  beide  Spiele 


220  Ämmanii  r 

auch  auf  derselben  Quelle  (Cochem)  beruhen,  so  ist  doch  die  gleiche  Ein- 
teilung des  Ganzen  bei  formell  so  verschiedener  Behandlung  auffällig. 

Die  Übereinstimmung  zwischen  Cochem  und  dem  eigentlichen  Passion 
ist  nicht  derart,  dass  sie  Zeile  für  Zeile  nachgewiesen  werden  kanu.  Es 
genügt  wohl,  im  allgemeinen  festzustellen,  dass  der  Z.  P.  auch  in  diesen 
Teilen  des  eigentlichen  Passions  vielfach  auf  Cochem  beruht.  Der  prosaische 
Text  Cochems  ist  bei  freier  Behandlung  hier  in  Verse  gebracht,  allein 
manche  Scenen  sind  auch  unserem  B.  P.  und  Cochem  gegenüber  ungleich 
reicher  an  Beden  oder  Zahl  der  Personen;  so  kommen  im  Z.  P.  V.  1099  f. 
bei  der  Fusswaschung  alle  12  Jünger  zum  Wort,  V.  1441  f.  ist  Petrus' 
Reue  und  V.  1583  f.  Judas'  Verzweifelung  sehr  weitläufig  behandelt, 
V.  2365  f.  bekehrt  sich  Longinus,  bei  der  Kreuzabnahme  spricht  hier  auch 
noch  Josef  von  Arimathia,  Pilatus,  Nikodemus;  Maria  Magdalenas  Klage- 
rede V.  2405  —  22  ist  auch  hier  gegenüber  Cochems  Text  zeitgemäss  um- 
erewandelt.  Die  Übereinstimmung  aber  mit  Cochem  lässt  sich  doch  an 
einzelnen  Stellen  auch  hier  nachweisen,  man  vergleiche  nur  die  Bitten 
Marias  beim  TJrlaubuehmen  oder  die  Verkündigung  des  Todesurteils  Christi. 
Allerdings  sind  hier  im  Passion  selbst  manche  Stellen  auch  sehr  frei 
wiedergegeben,  manche  beruhen  auf  selbständiger  Darstellung  von  Seite 
des  Verfassers,  der  wahrscheinlich  ein  Geistlicher  war  und  die  Sprache  in 
dem  Masse  beherrschte,  dass  er  hier  weniger  Cochems  Worte,  als  den  Geist 
der  Cochemschen  Darstellung  benötigte.  Es  ist  aber  auch  nicht  aus- 
geschlossen, dass  der  Verfasser  des  Z.  P.  in  den  Auftritten  des  eigentlichen 
Passions  neben  Cochem  noch  eine  andere  Quelle  benutzt  hat.  denn  es  zeigt 
sich  zum  öftern  bei  den  Volksschauspielen,  dass  sie  aus  verschiedenen 
Überlieferungen  zusammengeflossen  sind. 

Ein  ähnliches  Verhältnis  wie  beim  Z.  P.  werden  wir  auch  beim 
Kärntnerischen  Leiden  Christi  finden. 

Im  Salzburger  (Gasteiner)  Paradeisspiel  (S.  P.)1)  kommt  gleich- 
falls eine  Teufelsscene  vor,  der  Streit  zwischen  Gerechtigkeit  und  Barm- 
herzigkeit wird  liier  aber  sehr  kurz  abgethan,  im  Oberuferer  Paradeis- 
spieP)  fehlt  er  ganz.  Dennoch  ist  auch  das  Salzburger  Passion  nicht 
ohne  Zusammenhang  mit  Cochem.  Man  vgl.  S.  P.  V.  109—14  mit  Cochems 
9.  Kap.  „Von  dem  Leben  Adams"  S.  48b  unten;  ferner  den  Teil,  der  kurz 
den  Streit  enthält, 

S.  P.  V.  123  f.:  Cochem,  Anfang  des  9.  Kap.  S.  45 a: 

Es  hat  gehalten  einen  streit  wie    die   gerechtig-  und    barmhertzigkeit 

Die  gerechtigkeit  und  barmherzigkeit.  miteinander  vor  Gott  gestritten  haben,  ob 

Es  war  die  sach  bald  soweit  komen,  man    das    menschliche    geschlecht    ver- 

Daß  Got  den  menschen  solt  verdamen.  dämmen    oder    erhalten    solle    ....    daß 


1)  Bei  J.  K.  Schröer,  Deutsche  Weihnachtsspiele  aus  Ungern,  Wien  1858  S.  142  f. 
2,  Ebenda  S.  123  f.  und  Weimar.  Jahrb.  IV,  383  f. 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinas  von  Cochem.  221 

So  hat  doch  die  barmherzigkeit  Gott   dem   menschlichen   geschlecht   ver- 

am  end  gewonnen  in  dem  streit.  schonet,  und  dessen  schuld  auff  sich  ge- 

Daß  Got  den  menschen  wolt  verschonen  nommen  habe  .  .  . 
und  hat  die  schuld  auf  sich  genomen. 

J.  K.  Schröer  S.  146  Anm.  zu  136  meinte,  dieses  Stück  (der  Streit 
zwischen  Barmherzigkeit  und  Gerechtigkeit)  sei  ein  späterer  Zusatz,  der 
im  Vordemberger  Passion  (Weinhold  S.  302  f.)  noch  weiter  ausgesponnen 
wurde.  Allerdings  liegen  diesen  Volksschauspielen  ältere  Überlieferungen 
zugrunde,  allein  ein  einzelnes  Einschiebsel  ist  dieses  Stück  nicht,  da  davor 
und  danach  auch  Cochems  Text  benutzt  ist.     Man  vergleiche  noch 

S.  P.  V.  169  f.:  Cochems  9.  Kap.  S.  51b,  52b,  53b: 

Als  Got  den  Adam  weinen  sach,  Als  der  gute  Adam  diese  wort  redete,  da 

schickt  er  im  seinen  engel  nach.  schickte  Gott  einen  Engel  zu  ihm. 

(Das  Folgende  stimmt  nur  inhaltlich  zu  Cochem.) 

Der  Adam  lebt  über  900  jar,  Also  sturb  diser  fromme  vatter,  als  er  900 

doch  keine  erlösung  folget  dar.  und  30  jähr  alt  wäre  und  vermachte  seinen 

Alsdann  macht  er  vor  seinem  end'  Kindern  zum   testament  die  hoffnung  der 

seinen  Kindern  auch  ein  testament,  erlösung. 

So  starb  also  Adam  der  fromme  man,  Weil  aber  keine  Erlösung  folgte  .... 

ließ  seine  Kinder  in  Frieden  stahn. 

Das  S.  P.  verdankt  also  Cochem  mehr  als  das  Stück  vom  Streit, 
scheint  aber  erst  nachträglieh  um  diese  Teile  erweitert  worden  zu  sein. 
Eine  stückweise  Erweiterung,  vom  einfachen  Liede  ausgehend,  ist  auch 
liier  anzunehmen1). 

Hinsichtlich  des  Streites  zwischen  Barmherzigkeit  und  Gerechtigkeit 
muss  ferner  auf  ein  Paradeisspiel  aus  Obersteiermark  in  P.  K. 
Roseggers  Heinigarten  I,  860  —  67  verwiesen  werden,  das  in  Versen  ge- 
schrieben und  gar  volkstümlich  ist.  Am  Schlüsse  der  Comedie  wird  der 
ungerechte  Verwalter,  der  die  Bauern  quält,  vom  Teufel  geholt,  ähnlich 
wie  Herodes  in  den  Christkindlspielen.  Wie  die  beiden  Töchter  Gottes, 
so  tritt  auch  beim  Gerichtsstreit  der  Teufel  auf.  Von  einem  genaueren 
Zusammenhang  dieses  Spieles  mit  Cochem  und  den  bereits  erwähnten  be- 
merkte ich  jedoch  nichts. 

Das  erst  von  J.  Bolte  in  Alem.  XVII,  2  S.  121  f.  veröffentlichte  Adam- 
und  Evaspiel  aus  Elsass  zeigt  mit  Cochem  keinerlei  Zusammenhang, 
dagegen  ist  es  wegen  seiner  Beziehung  zu  Hans  Sachs  und  anderen  süd- 
deutschen Volksschauspielen  sehr  lehrreich. 

Im  Vorspiel  zum  Erler  Passion8)  siegt  die  Barmherzigkeit  erst,  als 
ihr  im  Streit  mit  der  Gerechtigkeit  Liebe  und  Busse  helfen.  Hier  ist  von 
der    in  Volksschauspielen   gewohnten  Zahl   der  Töchter  Gottes  (2)  wieder 


1)  Vgl.  J.  K.  Schröer  in  der  Einl.  zu  den  deuisch.  Wßihnachtssp.  S.  34.    J.  Bolte  in 
Alem.  XVII,  2  S.  122.  . 

2)  Bei  A.  Hartmann,  Volksschausp.  S.  3LM  f. 


222  Ammann: 

abgewichen,  auf  Cochem  lässt  sich  der  Text  nicht  zurückführen,  soweit 
ihn  A.  Hartmann  mitgeteilt  hat,  denn  er  dürfte  so  alt  als  Cochem  und 
daher  vou  ihm  unabhängig  sein.  Wohl  aber  muss  ich  bei  A.  Hartmauns 
wertvoller  Sammlung  von  Volksschauspielen  noch  länger  verweilen,  um 
auch  hier  Cochems  Einfluss  nachzuweisen.  Da  sind  vor  allem  die  Halleiner 
Spiele,  S.  78  f.,  zu  berücksichtigen. 

Das  erste,  Halleiner  Herberg-  oder  Adventspiel  (H.H.)  könnte 
inhaltlich  sehr  wohl  nach  Cochem  gearbeitet  sein,  wenn  auch  in  der 
poetischen  Umarbeitung  nicht  viel  wörtliche  Übereinstimmung  vorhanden 
ist:  der  Verfasser  zeigt  überhaupt  grössere  Selbständigkeit.  Im  einzelnen 
finden  wir  fast  alle  Gedanken  auch  bei  Cochem  im  54.  Kap.  „Wie  Maria 
und  Joseph  nach  Bethlehem  reiseten"  S.  275  f.,  auch  mit  übereinstimmenden 
Ausdrucksweisen.     So  vgl.  im 

H.H.  V.  28:  Cochem  S.  27".  I. : 

W'nd  helfen  mir  mein  Gott  und  Herr,      dan  der  liebe  Gott  wird  mir  schon  dahin 

helffen. 

Ganz  unzweifelhaft  ist  aber  das  Halleiner  Dreikönigsspiel  (H.  D.) 
S.  105  f.  nach  Cochem  gearbeitet.  Beim  Opfern  der  Gaben  sprechen  die 
heiligen  drei  Könige  in  ungebundener  Rede,  ebenso  ist  die  Rede  des 
Herodes  und  die  Daukrede  Marias  in  Prosa:  dies  ist  zum  Teil  wörtlich 
aus  Cochem  entlehnt.  Die  Rede  des  Herodes  S.  106  s.  bei  Cochem  im 
65.  Kap.  „Wie  die  hl.  drey  König  nach  Bethlehem  kommen''  S.  304a:  die 
Red.-  Kaspars  S.  108  s.  bei  Cochem  im  65.  Kap.  S.  361b.  Die  Rede 
Melchiors  ist  in  Versen,  die  Balthasars  ist  wieder  freier  behandelt,  ebenso 
ist  die  Marias  S.  109  nicht  so  sehr  nach  Cochem  S.  365  a  gegeben,  sondern 
die  Rede  bei  Cochem  erinnert  mehr  an  die  Josephs  V.  100 — 3.  Die  ge- 
bundene Rede  klingt  wohl  ab  und  zu  an  Cochem  an.  allein  getreuen  An- 
schluss  finde  ich  keinen.  Hier  finden  wir  demnach  Cochems  Anteil  zu- 
nächst in  unveränderter  Form  eingeschoben,  und  man  möchte  annehmen, 
das  Einschiebsel  rühre  wiederum  erst  aus  späterer  Zeit  her.  Ich  kann 
jedoch  zwischen  'lern  Alten  und  Neuen  keine  Naht  entdecken  und  vermute 
hier,  dass  der  Wechsel  zwischen  Poesie  und  Prosa  und  selbst  das  Ab- 
schweifen in  der  Prosa  von  Cochems  Text  vielleicht  die  freie  Behandlungs- 
weise  des  Verfassers  kennzeichnet. 

Das  Oberaudorfer  Passionsspiel  (0.  P.)  hat  uns  A.  Hartmann 
S.  373  f.  nicht  vollständig  mitgeteilt,  aber  es  ist  schon  aus  dem  1.  Aufzuge 
zu  ersehen,  dass  Cochem  benutzt  wurde.  Ich  wähle  zur  Vergleichung  nicht 
so  sehr  Stellen  aus  der  Heiligen  Schrift,  die  aus  Cochem,  aber  auch  aus 
anderer  Quelle  stammen  können  wie  in  0.  P.  S.  374.  41  -  44  und  Cochems 
98.  Kap.  (Abendmahl)  S.  600b,  sondern  Stellen  wie 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinus  von  Cochem. 


223 


0.  P.  S.  375,  51.  59: 

Sey  uns,  mein  Freund,  Willkomm!     Der 
Meister  laßt  dich  grüssen. 

Er  möcht  in  deinem  Haus  das  Oster- 
lamm  gemessen. 

Willkomm,  o  liebster  Gast,  o  Meister  . . 


Cochem  S.  600  b: 

Als  die  zween  Jünger  (im  0.  P.  Johannes 
und  Petrus)  zu  dem  Haußvater  kamen, 
und  ihn  im  Namen  Christi  grüsten, 
empfinge  er  sie  gar  freundlich,  und  war 
sehr  fro,  daß  ihm  Chr.  solche  Ehre  thun 
wolte  .... 

Der  Hausherr  lieffe  Chr.  entgegen, 
sprechend : 

Seyd  mir  Willkomm,  mein  geliebter 
Meister,  ich  erfreue  mich,  dass  ihr  mir 
die  Ehr  thut,  und  die  Ostern  in  meinem 
Hauß  halten  wollet. 

Ferner  0.  P.  S.  376,  79—82  uud  Cochem  S.  602a.    Vgl.  die  Fusswaschung 
im  0.  P.  S.  376—77  mit  Cochems  99.  Kap.  S.  603  f.,  insbesondere 


O.  P.  S.  377,  99  f.: 

Vor  dem  Himmel  und  Erd  muß  auf  den 

Knieen  liegen, 
Soll  waschen  meine  Fuß  und  sich  vor 

mir  jetzt  biegen? 
Ach  Herr,  in  Ewigkeit  wascht  du  die 

Fuß  nicht  mir! 


Cochem  S.  604  b: 

Soltest,  darfür  sich  alle  Knye  im  Himmel 
und  auff  Erden  biegen,  vor  mir  gottlosen 
Sünder  niderknyen?  Darum  in  Ewigkeit 
solst  du  mir  meine  Füss  nicht  waschen  . . 


u.  s.  w.  Dieser  P.  wäre  für  eine  genauere  Vergleichung  wichtig  wegen 
seiner  Beziehungen  zum  Vorder- Thierseer ,  vergl.  A.  Hartmanns  Anm. 
S.  377—80. 

Haben  wir  in  0.  P.  ein  Passionsspiel,  das  dem  des  Böhmerwaldes 
rücksichtlich  der  Quelle  nahesteht,  so  finden  wir  bei  A.  Hartmann,  Volks- 
schauspiele *S.  528  f.  noch  eines,  das  ausserdem  noch  dem  B.  P.  örtlich 
benachbart  ist.  Das  Passionsspiel  aus  dem  Bayerischen  Walde 
nämlich,  teilweise  in  Versen  abgefasst,  hat  auch  Cochems  Text  verwertet. 
Man  vergleiche  nur  das  „Urlaubnelimen"  Christi  zu  Bethanien  beiderseits, 
ferner  die  Ölberascene  und  die  Reden  der  Juden  in  Prosa,  dann  Ausdrucks- 
weisen  wie  82  arme  Waislein,  218  ach,  ach,  258  Leb  wohl!  gute  Nacht! 
264  Adje,  leb  wohl  zu  tausend  Mal!  113,  194  f.,  208,  245  f.,  269  f.  u.  a., 
was  hinter  einer  freieren  Bearbeitung  Cochems  Text  und  Darstellung 
wiedererkennen  lässt. 

(Sckluss  folgt.) 


•>L>4  Weinhold: 


Kleine  Mitteilungen. 


Schwur  unter  dem  Basen. 

Bekannt  ist  aus  den  skandinavischen  Rechtsaltertümern  der  Brauch  des  Rasen- 
ganges (gänga  undir  jarbarmen),  der  bei  dem  Abschluss  der  Blutbrüderschaft  und 
auch  als  Gottesurteil  (skirsla)  in  Übung  war.  Bei  dem  Eingehen  der  Blutbrüder- 
schaft deute  ich  ihn  mit  Konr.  Maurer  (unsere  Zeitschrift  III,  106)  als  eine  Ver- 
stärkung des  Eides,  den  die  sich  Verbrüdernden  schworen.  Aus  Deutschland  ist 
kein  entsprechender  Gebrauch  bekannt.  Aber  etwas  nahe  Verwandtes  hat  J.  Grimm 
aus  einer  ungarischen  Urkunde  von  1360  nachgewiesen  (Deutsche  Keehtsaltertümer 
120  .  wonach  bei  Streitigkeiten  um  Landbesitz  der  Schwur  mit  blossen  Füssen, 
gelöstem  Gürtel  und  einer  Erdscholle  auf  dem  Kopf  geleistet  ward.  Derselbe 
Brauch  bei  Grenzstreitigkeiten,  als  eine  regni  consuetudo  ab  antiquo  approbata  in 
einer  Urkunde  von  1370  bezeichnet,  galt  auch  in  Siebenbürgen  (Korrespondenzbl. 
des  Vereins  für  siebenbürg.  Landeskunde  VI,  49). 

Ich  kann  nun  aus  einer  schlesischen  Urkunde  von  1590  ein  Seitenstück  hierzu 
beibringen.  In  dem  langwierigen  Prozess.  den  die  Herzogin  Barbara  von  Liegnitz- 
Brieg,  Tochter  des  Kurfürsten  Joachim  II.  von  Brandenburg,  gegen  die  Bauern 
von  Popelau  im  Oppelnschen  Fürstentum  führte1),  die  Holz-  und  Wildfrevel  in 
den  zu  Brieg  gehörigen  Grenzwäldern  mit  grüsstem  Trotz  begingen,  war  1590  im 
November  eine  Tagsatzung  zur  Grenzhandlung  an  Ort  und  Stelle  anberaumt  worden 
und  die  Grenzen  wurden  durch  Zeugenvernehmung  festgestellt.  In  den  Schluss- 
akten über  den  endlosen  Rechtsstreit  von  1626  (K.  Archiv  zu  Breslau.  F.  Brieg  I. 
11  e,  alte  Sign.  I.  4b)  heisst  es  über  jene  Verhandlung-): 

Bey  diessen  Zeugnissen  ists  noch  nicht  geblieben,  sondern  es  sind  ao  1590 
bey  besichtigung  der  gräntzen  in  anwessenheit  des  Opplischen  burggrafen  Haussen 
Oderwolffs,  des  Opplischen  cammer-procuratoris  Matthias  Xossen  und  des  Oppk- 
schen  forstmeisters  Caspar  von  Hardtenbergks  neun  alte  erlebte  pawren  auss  den 
dörffern  Scholckowitz.  Crostitz  und  Popelau  auf  wägen  herzugeführet  worden, 
weil  sie  aldters  halben  nicht  wol  gehen  mügen,  die  haben  bekandt  und  auss- 
gesaget  etc.  etc. 

Am  Rande  steht  daneben:  per  testes  vicinos  de  a»  1590  numero  9  ex- 
aminalos in  finibus  et  sub  dio  (sie!)  im  grabe  mit  einem  rasen  au! 
dem   köpfe. 

Aus  dieser  Randbemerkung  ergiebt  sich  also,  dass  die  Zeugen  bei  der  Ver- 
eidigung auf  ihre  Aussage  in  einer  Grube  stunden  und  ein  Rasenstück  auf  dem 
Kopfe  hatten.  Die  Grube  erinnert  an  den  nordischen  Rasengang,  bei  dem  der 
ausgehobene  und  auf  Stützen  gelegte,  an  beiden  Enden  am  gewachsenen  Rasen 
haftende  Grasstreifen,  unter  den  die  Schwörenden  traten,  notwendig  eine  grab- 
artige Vertiefung  voraussetzt.  Die  Rasenstücke  scheinen  Reste  des  älteren  vollen 
Streifens. 


1)  Vgl.  darüber  Schimmelpfennig  in  der  Zeitschrift  des  Vereins  für  Geschichte  und 
Altertum  Schlesiens  XIV,  371  ff. 

2)  Die  genaue  Mitteilung  der  Stelle  verdanke  ich  Herrn  Geh.  Archivrat  Professor  Dr. 
Grünhagen. 


Kleine  Mitteilungen.  225 

Doch  ist  dabei  zu  bedenken,  dass  die  Bauern  von  Popelau,  Krostitz  und 
Scholkowitz  Polen  waren  und  dass  ein  polnischer  Rechtsbrauch  hier  möglich  ist, 
wenn  auch  die  Gerichtsherren  des  Oppelnschen  Fürstentums  als  Deutsche  er- 
scheinen, der  briegischen  ganz  zu  schweigen.  Halten  wir  den  verwandten 
ungrischen  Rechtsbrauch  hinzu,  so  würde  sieh  ergeben,  dass  die  Eidesstärkung 
durch  den  Rasen  auf  dem  Kopf  der  Schwörenden  eine  weit  verbreitete  Sitte  ge- 
wesen ist,  welche  in  Skandinavien  eine  besondere  Ausbildung  erfuhr,  die  sich  aber 
nicht  bloss  bei  den  Nord-Germanen,  sondern  auch  bei  schlesischen  an  die  Deutschen 
grenzenden  Polen  und  in  Ungarn  und  Siebenbürgen  nachweisen  lässt. 

K.  Weinhold. 


Zum  Aberglauben  auf  Island. 

Über  den  „tilberi"  oder  Zuträger,  welcher  nach  isländischem  Volksglauben 
benutzt  wird,  um  gleich  unserem  Drachen  für  seinen  Herrn  Milch  und  dergleichen 
zu  stehlen,  habe  ich  in  meinen  „Isländischen  Volkssagen  der  Gegenwart"  (1860) 
S.  93 — 94,  und  hat  mehr  noch  Jon  Arnason  in  den  „Islenzkar  JvjoiVsögur  og 
Aefintyri",  Bd.  I  (1862)  S.  430 — 35,  mancherlei  beigebracht.  Inzwischen  hat  aber 
die  im  Eyjafjöröur  neu  erscheinende  Zeitschrift  „Stefnir"  in  ihrer  zweiten  Nummer 
auf  Grund  eines  alten  Gerichtsbuches  über  einen  Prozess  berichtet,  welcher  im 
Jahre  1703  im  Eyjafjöröur  über  einen  tilberi  geführt  wurde,  und  die  Zeitschrift 
„Sunnanfari"  in  Nr.  10  ihres  zweiten  Jahrganges  (1893)  einen  weiteren  Bericht 
über  eine  Klagesache  beigefügt,  welcher  aus  gleichem  Anlass  im  Jahre  1804  ebenda 
anhängig  gemacht  wurde.  Als  Belege  für  das  lange  Fortleben  dieses  Aberglaubens 
verdienen  solche  Berichte  beachtet  zu  werden. 

München.  K.  Maurer. 


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Volkstümliche  Kirchendarstellungen. 

Nebenstehende  Zeichnung  befindet  sich,  in  Silber  graviert, 
auf  der  Schnalle  eines  Frauengürtels,  den  ich  auf  einer  Wande- 
rung über  das  Dovrefield  in  Aune  abzuzeichnen  Gelegenheit 
hatte.  Nach  der  Inschrift  stammt  der  Gürtel,  der  zu  einem  noch 
vorhandenen  Silberschmuck  gehört,  aus  dem  Jahre  1670.  Schon 
damals  entsann  ich  mich,  öfters  Kirchendarstellungen  als  orna- 
mentale Verzierung  gesehen  zu  haben.  Später  sah  ich  dann 
Stickereien  von  dem  Hardangerfjord,  von  denen  mir  zunächst 
die  auf  Halstüchern  mit  roter  Wolle  eingestickten  Kirchen  auffielen  (das  Industrie- 
Museum  in  Christiania  besitzt  mehrere  davon).  Diesen  Kirchenabbildungen  kann 
ich  noch  folgende  hinzufügen:  Auf  Brettern  gemalt,  kommen  sie  häufig  an  den  in 
Oberbayern  verbreiteten  Maibäumen  vor;  ein  bosnischer  Teppich,  der  1891  im 
Kunstgewerbeblatt  abgebildet  war,  zeigt  ein  kirchenähnliches  Bild;  ferner  auf  der 
von  Herrn  Dr.  U.  Jahn  S.  340  des  ersten  Jahrgangs  unserer  Zeitschrift  abgebildeten 
Haubenschachtel  aus  Jamund,  auf  einem  aus  dem  Weitzacker  stammenden  Teller 
in  dem  Berliner  Museum  für  Volkstrachten  und,  wenn  ich  nicht  irre,  auch  auf 
einem  huzulischen  Gerät  der  von  Herrn  A.  Meyer  Colin  im  Verein  für  Volkskunde 
einmal   ausgelegten   Sammlung.     Es  scheint  also,    als   ob  die  Kirche  ein  beliebtes 


226  Honig: 

Motiv    in    der  Volkskunst  sei.    von   dem  vielleicht  eine  gewisse  schützende  Kraft 

ausziehen  sollte.    Jedenfalls  wird  es  interessant  sein,  weitere  Nachweise  von  solchen 
Darstellungen  zu  erhalten. 

Berlin.  R.  Mielke. 


Ein  Sommer-  und  Winterspiel  aus  Schlesien. 

Der  Winter  bleibt  draussen  stehen,  der  Sommer  spricht: 
Guten  Abend  ihr  Herren,  Frauen  und  Mann. 
Schaut  euch  den  Sommer  und  Winter  recht  an, 
Über  eine  kleine  Weile  werde  ich  euch  solche  Freude  vormachen, 
Dass  ihr  müsst  drüber  lachen. 
Äpfel  und  Birnen  hab  ich  euch  lassen  wachsen, 
Die  hab  ich  euch  gegeben  zum  Essen: 
Wenn  aber  wird  kommen  der  Winter,  der  grausame  Mann, 
Der  hat  einen  ganz  neuen  Zottelpelz  an. 

Der  Winter  kommt  herein  und  spricht: 

Ei  Sommer,  was  heisst  du  mich  einen  grausamen  Mann? 

Ich  habe  dir  dein  Lebtage  noch  nichts  zu  Leide  gethan. 

Zuhause  hab  ich  noch  viel  Schafe  und  Rinder, 

Und  wenn  ich  dran  wagen  wollte  meine  schöne  schwarze  Kuh, 

Sag  wer  soll  Herr  sein  —  ich  oder  du?  — ') 

Ei,  Sommer,  wärest  du  mein  Knecht, 

Ich  teilt  es  mit  dir  halb. 

Sommer:    Und  wenn  es  kommt  zur'  Frühlingszeit, 
Pflanz  ich  mir  in  mein  Gärtelein 
Viel  Blumen  wunderschön2). 

Winter:    Und  wenn  es  kommt  in  Kaporal3) 
Fang  ich  mir  fette  Fanken  ein 
In  meine  kupfernen  Pfannen, 
Und  schlacht  dazu  ein  fettes  Kalb, 
Ei,  Sommer,  das  kannst  du  nicht. 

Sommer:    Wart,  wart,  ich  werd  dir  einen  Possen  thun, 
Und  dir  nichts  mehr  wachsen  lassen '). 

Winter:    Was  scher  ich  mich  um  dein  Zuwachsen, 
Sitz  ich  des  Winters  auf  der  Bank, 
Und  spinne  meinen  langen  Flachs, 


1)  Ei,  Sommer,  was  hab  ich  dir  Leids  gethan,  Dass  du  mich  heisst  einen  grau- 
samen Mann?  Ich  hab  schon  längst  um  die  Thür  verkehrt  Und  deine  Spottred  angehört. 
Nun  setz  ich  dran  meine  beste  Kuh,    Zu  wissen  bin  ich  Herr  oder  du. 

Deutsche  Volkslieder  aus  Böhmen  S.  50. 

2)  Ähnlich  aber  besser  erhalten    D.  Volksl.  a.  Böhmen  S.  50. 

3)  Und  wenn  es  kommt  um  Weihnachtezeit,  Da  schlacht  ich  mir  ein  fettes  Schwein 
Dazu  ein  fettes  Kalb.  Deutsche  Volksl.  a.  Böhmen  S.  50. 

4)  Ei,  Winter,  poche  nicht  zu  sehr,  Ich  werd  dir  eins  beweisen  Mit  meinem  Ernste 
x-uwer.  Ich  werde  nichts  mehr  wachsen  lan.  Der  Hunger  wird  dich  greifen  an.  Das 
wird  dich  kränken  mehr.  D.  Volksl.  a.  Böhmen  a.  a.  0. 


Kleine  Mitteilungen.  -227 

Ich  meinen  Korn  und  Weizen  ausdresch, 
Ei,  Sommer,  «Ins  kannst  du  nicht. 

Sommer:    Willst  du  noch  reden  und  schwatzen  viel, 

Ich  dich  wohl  hinter  den  Strauch')  noch  schmeiss  [wirf!  ihn  hin] 
Und  dir  den  grauen  Bart  ausreiss-), 
Die  Sonne  soll  dich  verzehren3). 

Winter:    Ach  lieber  Sommer,  das  thu  nur  nicht, 
Ich  will  gern  leben  nach  deiner  Pflicht. 
Bist  du  der  Herr  und  ich  der  Knecht, 
So  haben  wir  alle  beide  recht '). 
Drum  bitt  ich  dich  um  Verzeihung. 

Sommer:    Verzeihen  will  iehs  dir  zwar  noch  mal, 
Und  keinen  Groll  dazu  haben, 
Drum  musst  du  immer  fertig  sein, 
Und  mit  mir  singen  ein  Liedelein, 
Dem  lieben  Gott  zu  ehren. 

Beide  singen: 

Wie  hoch  ist  der  Himmel, 

Wie  glänzend  die  Erd, 

Wie  freun  sich  die  Menschen, 

Wenns  Sommer  soll  werden. 

Wie  lieblich,  wie  herrlich,  wie  reizend,  wie  schön, 

Wenn  alles  in  Feldern  und  Wäldern  thut  stehn5). 

Aus    Hartlieb    bei    Breslau,    aufgezeichnet    von    Gertrud   Forell    und   Berthold 

Honig. 


> 

Grimm,  Mylhol.  '  S.  632  ff.,  637  lf. 

Unland,  Volksl.  I  S.  23  ff.  (Fl.  Bl.  1580). 

H.  Sachs,  Ein  Gespräch  zwischen  dem  Sommer  und  dem  Winter.  (Keller 
4,  255  ff.] 

Deutsche  Volkslieder  aus  Böhmen.  Redigiert  von  A.  Hruschka  und  Wendelin 
Toischer,  Nr.  70-72. 

Fränkische  Volkslieder  —  herausgegeben  von  Fr.  W.  Frhr.  v.  Ditfurth  11. 
Nr.  37s. 

M.  V.  Süss,  Salzburger  Volkslieder  S.  267  — 272. 


1)  s.  Grimm,  Myth. 4  S.  638:  Wir  wollen  hinter  die  Hecken  Und  wollen  den  Sommer 
wecken. 

2)  Grimm  a.  a.  0.:  Er  kratzt  dem  Winter  die  Augen  aus. 

3)  Nun,  Winter,  hast  du's  bei  mir  aus,  Ich  sag-  dir's  kurz  mit  einem  Wort :  Scher 
dich  zum  Haus  hinaus!  Ich  werd  dich  werfen  hintern  Strauch  Und  raufen  dir  den  Bart 
heraus,    Die  Sonn  soll  dich  verzehren.  Deutsche  Volksl.  aus  Böhmen  S.  51. 

4)  Unland,  Volksl.  I,  S.  29:  Ü  lieber  Sommer,  ich  gib  dir's  Recht,  Du  bist  mein 
Herr  und  ich  dein  Knecht.  —  Ditfurth,  Frank.  Volkl.  II.  S.  287:  Du  Winter  jetzt  hab  ich 
das  Recht,  Bin  ich  der  Herr  und  du  mein  Knecht.  —  Ähnlich  Deutsche  Volkslieder  aus 
Böhmen  S.  49.  —  Süss,  Salzburger  Volkslieder  S.  272. 

5)  Die  drei  letzten  Strophen  stimmen  im  wesentlichen  zu  dem  böhmische])  Streit- 
lied  aus  Gahlonz  a.  a.  0.  S.  51,  nur  weicht  das  gemeinsame  Schlusslied  ab. 


228  H"!l 

Die  uralte  heidnische  Vorstellung'  eines  Kampfes  der  beiden  Riesen,  des 
Sommers  und  des  Winters,  hat  sich  in  Liedern  und  Spielen  des  Volkes  noch 
erhalten.  Immer  unterliegt  der  Winter,  denn  er  ist  freudenlos  und  schaurig  wie 
die  Nacht;  der  liebe  Sommer  dagegen,  ein  freundlich  seliger  Mann,  erfreut  wie 
der  Tag,  und  nur  ihn  zu  begrüssen  fühlt  das  Volk  sich  gedrängt.  Nach  und  nach 
erhält  auch  der  Winter  seine  Freuden,  die  er  mm  dem  Sommer  entgegenhalt.  In 
dem  Volkslied,  das  Unland  nach  einem  Fl.  Blatt  von  1580  mitteilt,  wird  der  Streit 
nur  mit  "Worten  ausgefochten,  der  AVinter  fühlt  sich  überwunden  und  gesteht  ron 
selbst  mit  etwas  plötzlichem  Übergang  seine  Schwäche.  Auch  in  H.  Sachs'  Ge- 
spräch zwischen  Sommer  und  Winter  lebt  die  Personifikation  noch  fort,  wie  sie 
unsere  Sprache  selbst  bietet:  „der  Winter  steht  vor  der  Thür".  In  elegischer 
Stimmung  sitzt  der  Dichter  im  Gartenhause  und  naiv  malt  er  die  plötzliche  Wand- 
lung in  der  Natur.  Der  Sommer,  der  schone  Jüngling,  muss  zur  Thür  hinaus,  der 
alte  Winter  besteht  auf  seinem  Rechte,  das  ihm  von  Gott  ebenso  geworden  ist 
wir  dem  Sommer.  Beide  rühmen  ihre  Vorzüge  und  werfen  sich  die  Nachteile 
vor.  Die  christlichen  Gedanken  drängen  sich  zum  Schlüsse  vor:  Gott  wird  gelobt, 
der  alle  Dinge  so  wohl  geordnet  hat  und  jeder  Jahreszeit  ihr  Gutes  giebt. 

In  unserem  Lied  begegnen  wir  altem  und  neuem.  Zu  jenem  gehört  der  wirk- 
liche Kampf  der  beiden  Gewalten,  zu  dem  letzteren  der  Streit  über  Vorzüge  und 
Nachteile  und  schliesslich  das  Lob  Gottes.  Der  Text  ist  verderbt.  Weit  besser 
sind  die  verwandten  deutsch-böhmischen  Streitlieder  vom  Erzgebirge  und  aus 
Gablonz,  namentlich  letzteres  stimmt  wesentlich  zu  dem  schlesischen  und  kann 
zu  seiner  Herstellung  benutzt  werden.  Auch  das  fränkische  aus  Dankelfeld 
(Ditfurth  II  Nr.  378)  ist  besser  erhalten,  nicht  minder  das  ausgeführte  Winter- 
und  Sommergespiel  bei  Süss.  Salzburger  Volkslieder.  Dr.  B.  Honig. 


Der  Sommersonntag  in  Heidelberg  1893. 

Während  die  Zeitungen  im  vorigen  Spätherbst  von  einem  Amtsvorsteher  im 
Siegener  Land  sein  gewaltsames  Einschreiten  gegen  alte  Volksgebräuche  meldeten. 
brachten  sie  in  diesem  März  eine  bessere  Kunde  aus  Heidelberg.  Dort  in  der 
Stadt  hatte  sich  die  alte  Sommerverkündigung  durch  herumziehende  Kinder  zwar 
erhalten,  war  aber  zu  einem  Bettelumgang  herabgekommen.  Da  war  der  Gemein- 
nützige Verein  in  Heidelberg  auf  den  löblichen  Gedanken  gekommen,  dem  schönen 
deutschen  Frühlingsbrauch  wieder  aufzuhelfen  und  ein  fröhliches  Kinderfest  daraus 
zu  machen.  Es  ist  trefflich  gelungen  und  der  Umzug  der  wohlgekleideten  Knaben 
und  Mädchen  mit  den  bebänderten  und  grünbekränzten  Stäben,  in  der  Mitte  den 
laubumkleideten  Sommer  und  den  strohumschoberten  Winter  führend,  ist  allen 
eine  wirkliche  Augenweide  gewesen.  Die  sehr  entstellten  Verse,  die  sie  sangen, 
könnten  wohl  durch  andere,  die  aus  den  sonst  erhaltenen  „Sommerliedern"  leicht 
zu  ergänzen  wären,  sieh  ersetzen  lassen.  Ein  Holzschnittbild  hat  diesen  Sommer- 
umzug hübsch  festgehalten  für  die  Erinnerung. 


Volksreime  auf  Bettlerhoclizeiteii. 

Der  Volkshumor,  der  ohne  Gift  und  Galle  mit  scharfer  Beobachtung  alle  Er- 
scheinungen des  Lebens  begleitet,  hat  die  Heiraten  armer  Leute  nicht  übergangen. 


Kleine  Mitteilungen.  229 

In  K.  Simrocks  Deutschem  Kinderbuch  finden  wir  unter  Nr.  306  (2.  Aufl.)  folgenden 
wohl  aus  Schwaben  stammenden  Reim: 

Widele  Wedele.  Hinterm  Städele 
Hat  der  Bettelmann  Hochzeit. 
Pfeift  ihm  Läusle,  tanzt  ein  Mäusle, 
's  Igele  schlägt  die  Trommel. 
All  die  Tier,  die  Wedele  haben, 
Solln  zur  Hochzeit  kommen: 
Kruckensticl  und  Ofengabele, 
Das  sind  meine  Hochzeitknaben,   - 
Edelleut1)  und  Bettelleut 
Das  sind  meine  Hochzcitleut. 

Weiter  führt  ein  Gespräch  zwischen  einer  Mutter  und  ihrer  Gevatterin,  das 
Ed.  Fiedler  in  seinen  Volksliedern  und  Volksreimcn  in  Anhalt-Dessau  (Dessau 
1847)  S.  84  aus  Gross -Alslebeu  mitteilte5): 

Gun  Dag,  Prä  Gevätem.  —  Schön  Dank,  Frä  Gevätern.  —  Wo  wollt  denn 
hin,  Prä  Gevätern?  —  Nä  en  Markt.  --  Wat  wollt  ihr  da  holen?  —  Rosmarie.  — 
Für  wen  denn?  —  Für  meine  Dochter.  —  Die  Dochter  will  doch  wol  nicke  freien? 

—  Xu  freilich.  —  Wen  freiet  sie  denn?  —  Raten  Se  mal,  Prä  Gevätern!  —  Se 
freit  doch  wol  kein  Kaufmann?  —  Noch  ein  vilke  bäßern.  --  Se  freit  doch  wol 
kein  Schuster?  —  Noch  ein  vilke  bäßern.  —  Se  freit  doch  wol  kein  Linneweber? 

—  Wenn  se's  nich  raten  können,  denn  will  ichs  Euch  sagen.  Se  freit  ein  Besken- 
binder,  der  hingern  Oben  sein  Geld  verdienen  kann.  Jedesmal,  wenn  er  ein  Besken 
gebunden  hat,  hat  er  hundert  Thaler  in  seinem  Beutel.  —  Dat  is  zuvil.  Krigt 
er  denn  keine  Musik  dafür?    —    Nuke  freilich.   --  Was  für  ein.-?         Klotzmajor. 

—  Wie  seht  denn  die?  —  Haue  nutt  nutt  nutt,  Haue  nutt  nutt  nutt,  —  Haue  nutt, 
Haue  nutt,  Haue*  nutt,  nutt,  nutt 

Von  der  Besenbinderhochzeit  erzählen  nun  andere  Volksreime.  Simrock  im 
Deutschen  Kinderbuch  bringt  einen  (Nr.  309),  ich  weiss  nicht  woher? 

Bürstenbinders  Tochter  und  Besenbinders  Sohn, 

Die  haben  sich  versprochen,  sie  wolln  einander  hon. 

Die  Mutter  kam  gelaufen  und  schrie  im  Laufen  laut: 

Viktoria,  Viktoria!  meine  Tochter  ist  'ne  Braut! 

Und  wenn  sie  erst  beisammen  sind  und  haben  dann  kein  Haus, 

So  setzen  sichs  ins  Körbel  und  gucken  oben  raus. 

In  Schlesien  hörte  ich  den  Reim: 

Besenbinders  Tochter  und  Bürstenbinders  Sühn, 

Die  wulden  Hochzeit  machen  und  hatten  nischt  derzun 

und  mit  einer  Variante  lautet  er  ebenda: 

Kesenbinders  Tochter    Und  Kachelmachers  Sühn, 
Wolden  sich  zunander     Ni  na  nander  thun. 
Die  Mutter  kam  gesprungen     Und  schrie  vor  Freda  laut: 
Juchhe,  juchhe,  mei  Mädel,    Mei  Mädel  die  is  Braut. 


1)  ?  Wedelleut. 

2)  Wiederholt  von  Pli.  Wegener,  Volkstümliche  Lieder  aus  Norddeutschland.  Leipzig 
1879.  1,  48. 

Zeitschrift  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1693.  16 


•J30  Weinhold: 

Kuniin  tanz  ber  itm  a  Uven    Dreimal  riim  und  mini. 
Ock  stiißt  mer  kene  Kachel     Kene  Kachel  iim1). 

Es  giebt  aber  noch  mehr  Gestalten  des  lustigen  Reims.  Aus  der  Ober- 
lausitz (Görlitz)  teilte  mir  Pastor  August  Baumgart  nach  häuslicher  Überlieferung 
folgende  mit: 

Käserindeis  Tochter    Und  Quargspitzels  Sun, 

Die  wühlen  mitnauder  Huxt  machen    Und  hatten  nischt  derzün 

Als  um  an  Dreier  Bräzeln     Und  um  an  Brummer-')  Bier; 

Se  gingen  mitnander  ein  Krätschen3)    Und  mit  dar  Fiedl  a  für. 

Fast  wörtlich  stimmt  überein  der  Keim  aus  Kaiserswalde  bei  Schluckenau  in 
Böhmen4): 

Käserandeis  Tochter    Und  Quorkspitzens  Sun, 
Die  wollten  mit  enander  Huxt  machen     Und  hotten  nischt  derzün. 
Dou  kejften  se  iim  a  Dreier  Bräzeln     Und  um  n  Dreier  Bier, 
Und  lotschten  druf  an  Krätschen     Ahinder  und  afür. 

Nahe    verwandt    endlich    ist    der    Reim    aus    Jauernig    in    Österreichisch- 

Schlesien5): 

Äppelpepels  Tochter    On  Flaumanäza  Sun, 

Die  wolda  anander  haia'n    On  hotta  nischt  derzü. 

Em  an  Bima  Fräzel,     Em  an  Binia  Bir, 

Ginga's  ai  a  Krätschen    Mit  der  Gaije  afir. 

Er  derft  ich  ni  dos  Maßr  wätza,     's  watt  ni  fil  zu  fraßa  sätza: 

Said  gebäta  on  komt,     Nämd  ich's  Hälzla  on  tonkt. 

K.  W. 


Bücheranzeigen. 


De  outwikkelingsgang  der  Germaansche  Mythologie.  RedeToeriiig  uit- 
gesproken  te  Groningen  d.  20.  Sept.  1892  door  Dr.  B.  Symons.  Gro- 
ningen, J.  B.  Walters  1892.    28  S.    8°. 

Bei  Übergabe  des  Rektorats  der  Universität  Groningen  an  seinen  Nachfolger 
hat  Herr  Prof.  Symons  eine  Rede  über  den  Entwickelungsgang  der  Germanischen 
Mythologie  gehalten,  worin  er  in  lebendiger  Weise  die  Bewegung  in  dieser 
Wissenschaft  schildert.    Nachdem  er  die  Frage:   was  ist  Mythologie?  aufgeworfen 


1)  Der  gemütliche  Schläsinger.    Kalender  für  1889.    Herausgegeben  von  Max  Heinzel. 
Schweidnitz.    S.  65. 

2)  Vierpfennigstück. 

3)  Kretscham. 

4)  Deutsche  Volkslieder  aas  Böhmen.    Prag  1891.  S.  203  Nr.  183. 

5)  A.  Peter,  Volkstümliches  aus  Österreiehisch-Schlesien.   Troppau  1865.  I.  S.  115. 
Nr.  315. 


Bücheranzeigen.  "23 1 

und  die  ältesten  Methoden  der  Mythendeutung,  die  allegorische  oder  symbolische, 
und  die  euhemeristische,  skizziert,  sowie  als  die  Anlange  der  wissenschaftlichen 
Behandlung  der  Mythologie  K.  0.  Müllers  Prolegomena  zu  einer  wissenschaftliehen 
Mythologie  (1825)  und  die  Deutsche  Mythologie  Jakob  Grimms  (1835)  bezeichnet 
hat,  würdigt  er  das  bewundernswürdige  Werk,  das  er  zuletzt  nannte,  und  be- 
zeichnet die  Gefahren,  welche  darin  für  eine  übereifrige  Nachfolge  lagen.  Hr.  S. 
geht  dann  auf  die  durch  Ad.  Kuhn  gegründete  vergleichende  Mythologie  und  auf 
die  durch  Willi.  Schwartz  in  die  Mythendeutung  eingeführte  anthropologische  Rich- 
tung über,  und  gelangt  so  zu  den  mytho logischen  Arbeiten  von  Mannhardt,  welche 
die  Bedeutung  der  Sitten  und  Gebräuche  für  die  Mythologie  als  höher  und  sicherer 
erwiesen  als  die  der  Sagen  und  Märchen  und  litterarischen  Darstellungen.  Allein 
auch  er  geriet  auf  Abwege,  so  sehr  seine  „ethnologisch-historische  Methode"  einen 
Fortschritt  bedeutet. 

Zum  Schluss  deutet  Hr.  S.  nur  kurz  auf  die  Arbeiten  von  E  PI.  Meyer,  Laistner, 
S.  Bugge  und  Otto  Gruppe,  um  die  Bewegung  in  der  germanischen  Mythologie, 
welche  im  vollen  Fluss  ist,  erraten  zu  lassen.  Von  der  historischen  Kritik'  hofft 
er.  dass  sie  uns  die  Geheimnisse  des  ältesten  Denkens  und  Dichtens  unserer  Vor- 
fahren, welche  in  den  Mythen  liegen,  entschleiern  werde.  K.  W. 


La  Mythologie  du  Nord  eclairee  par  des  inscriptions  latines  en  Germanie, 
en  Gaule  et  dans  la  Bretagne  anciemie  des  premiers  siecles  de  notre 
ere.  Etudes  par  Frederic  Sander.  Stockholm  P.  A.  Norstedt  &  Söner 
(1892).    S.  IL  186.    gr.  8°. 

Der  Verfasser  des  vorliegenden  Buches,  der  seit  einem  Jahrzehnt  mit  Schriften 
über   nordische   Götter-    und  Heldensage    (Eddastudier.    Stockh.  1882.     Hvem  var 
Sigurd   Fafnersbane?    1883.     Nordisk    Mythologie.     Gullveig    eller    Hjalmters    och 
Ölvers    saga    i    öfversiittning.    1887.     Guldhornen    frän    Gallehus    i  Slesvig.    1888. 
Harbardssangen  jämte  Grundtexten  tili  Völuspa.    1891)  hervorgetreten  ist,  hat  den 
guten  Gedanken  gehabt,  die  lateinischen  Inschriften  römischer  Zeit  aus  den  Nord- 
provinzen   des   Reichs,    die  germanische  Götternamen  enthalten  oder  zu  enthalten 
scheinen,    zu    sammeln    und    zu    erklären.     So  ist  das  Buch  entstanden.     Wir  be- 
dauern   aber    sehr    bestimmt   aussprechen    zu   müssen,    dass  dem  guten  Gedanken 
die   Kraft    der   Ausführung  durchaus  nicht  entsprach  und  dass  dem  Verfasser  zur 
Lösung  der  schwierigen  Aufgabe   der  Erläuterung  der  mythologischen  Namen  der 
Inschriften   methodische  Kritik  und  gründliche  grammatische  Kenntnisse  des  Ger- 
manischen und  Keltischen  durchaus  fehlen.    Auf  die  einschlägige  Litteratur,   oder 
wie  man  auch  sagen  darf,  auf  die  Versuche  anderer,  die  schwierigen  rätselhaften 
Namen  zu  deuten,  ist  nur  vereinzelt  Rücksicht  genommen.    In  einem  Anhang  über 
die  Ossiangesänge  will  Herr  S.  ausführen,  dass  die  Helden  derselben  die  germani- 
schen   und    keltischen   Götter    sind,    die   auf  den  am  Hadrianwall  in  England  ge- 
fundenen Steinen  genannt  werden;   und  in  einem  zweiten  über  das  finnische  Epos 
Kalevala  legt  er  seine  Ansicht  vor,  dasselbe  enthalte  den  Wanenmythus.    Vielleicht 
findet    Hr.   S.    hier    bei    denen,    welche    die   Wanengottheiten    zu  Finnen  machen 
wollen,  Beifall.  K.  W. 


16* 


232 


Weinhold: 


Plutarchs  Romane  q*aestious.  Translated  a.  d.  1603  by  Philemoa 
Holland  —  now  again  edited  by  Frank  Byron  Jevons  —  witli 
dissertations  on  Italian  cults,  myths,  taboos,  man-worsbip,  Aryan 
marriage,  sympathetic  Magic  and  the  eating  of  beans.  London. 
MDCCCXCII.  Published  by  David  Nutt  in  the  Strand.  8.  CXXVIII. 
170.   8°. 

Das  vorliegende,  trefflich  ausgestattete  Buch  bildet  den  siebenten  Band  der 
Bibliotheque  de  Carabas,  einer  durch  Herrn  Andr.  Lang  hervorgerufenen  und  von 
Herrn  Dav.  Nutt  gepflegten  Unternehmung.  Ältere  Übersetzungen  antiker  Werke 
werden  darin  neu  gedruckt  und  mit  gelehrten  Einleitungen  ausgestattet,  welche 
den  volkskundlichen  Gewinn  aus  den  römischen  und  griechischen  Werken  (in  der 
Bidpai-Übersetzung  auch  aus  dem  Indischen)  ziehen.  Diesmal  ist  Mr.  Jevons,  der 
Philologe  der  Universität  von  Durham,  der  moderne  Gelehrte,  welcher  den  alten 
Autor  als  Polkloristen,  wie  die  Engländer  sagen  und  die  ihnen  nachsprechen, 
untersucht,  Die  Romanae  quaestiones  Plutarchs  sind  das  älteste  Buch,  das  sich 
ein  Thema  aus  der  Volkskunde  stellt:  sie  sind  eine  Darstellung  der  Sitten  und 
Gebräuche  Borns,  welche  Plutarch  nach  ihrem  vom  griechischen  sich  unter- 
scheidenden italischen  Charakter  prüft  und  deren  Gründe  er  von  seinem  philo- 
sophischen Standpunkt  zu  entdecken  sich  bemüht.  Herr  Jevons  geht  natürlich  bei 
seiner  Arbeit  (der  Introduction  des  vorliegenden  Bandes)  von  einem  anderen 
Gesichtspunkt  aus  und  erweist  den  alten  volkstümlichen  Charakter  jener  Gebräuche, 
indem  er  auf  vergleichendem  Wege  vorgeht.  Die  einzelnen  Kapitel  sind  schon 
in  dem  Titel  angegeben. 


Graf,  Arturo,  Miti,  Leggende  e  Superstizioni  del  Medio  Ero.  Volume  II. 

Torino,  E.  Loeseher,  1893.   S.  397.   8°. 

Der  erste  Band  dieser  Sammlung  bisher  verstreuter  Abhandlungen  zur  mittel- 
alterlichen Litteratur-  und  Sagengeschichte  hat  uns  nicht  vorgelegen;  wir  berichten 
daher  nur  über  den  zweiten,  welcher  enthält:  die  Legende  von  einem  Pabst 
(Silvester  IL,  Gerbert);  die  Dämonologie  Dantes;  ein  Pilatusberg  in  Italien;  War 
Boccaccio  abergläubisch?;  der  heilige  Julian  im  Decamerone  und  anderswo:  über 
den  Verzicht  Pabst  Cölestins  V.:  die  Sage  von  einem  Philosophen  (Michael 
Scotus):  K.  Artur  im  Ätna;  ein  geographischer  Mythus  (mons  calamitatis,  der 
Magnetberg). 

Es  sind  interessante  Vorwürfe,  die  gelehrt  und  ernst  behandelt  werden,  mit 
Anmerkungen  und  Anhängen,  daher  eine  dankenswerte  Gabe  für  die,  welche 
Sagenstudien  gründlicher  treiben. 


Un  vieux  rite  meMical.     Par  Henri   Gaidoz.    Paris,   E.  Rolland.    1892. 

S.  85.   8°. 

In  unserer  Zeitschrift')  haben  wir  bereits  an  verschiedenen  Stellen  auf  den 
weit  verbreiteten  abergläubischen  Brauch  aufmerksam  gemacht,  sich  mittels  Durch- 
kriechens durch  ein  Baum-  oder  Steinloch  von  Krankheiten  oder  Gebrechen  zu 
befreien.     Herr    H.  Gaidoz    in   Paris,    der  Herausgeber  der  Melusine,    hat  nun  in 


1;   I.  101.   II,  50   81.    111.  106. 


Bücheranzeigen.  233 

einem  zu  Ehren  von  Anatole  de  Barthelemy  geschriebenen,  hübsch  ausgestatteten 
Büchlein,  das  nur  in  1J0  Exemplaren  gedruckt  ward,  jenen  alten  Heilritus  nach 
seiner  Verbreitung  und  mannigfachen  Gestaltung  monographisch  behandelt. 

Im  1.  Kapitel  stellt  er  die  ihm  bekannten  Fälle  zusammen,  die  sich  auf  das 
Durchkriechen  zwischen  zwei  Baumwurzeln,  durch  ein  Baumloch  oder  einen  Baum- 
spalt bezichen;  im  2.  Kapitel  das  Schlüpfen  durch  ein  Erdloch  und  den  skandi- 
navischen Rechtsbrauch  des  ganga  undir  jaröarmen,  im  ■'!.  Kapitel  die  von  Stein- 
uml  Felslöchern  bekannten  Beispiele:  im  4.  Kapitel  geht  er  auf  die  an  kirchliche 
Reliquienschreine  und  Altarsteine  übertragenen  verwandten  Heilriten  über,  die  in 
Prankreich  besonders  häufig,  aber  auch  sonst,  und  selbst  aus  dem  protestantischen 
Skandinavien  nachweisbar  sind.  Im  5.  Kapitel  werden  eine  grössere  Reihe  im 
Grunde  zustimmender  Bräuche  vorgeführt,  und  im  6.  die  Erklärungen  besprochen. 

Professor  Gaidoz  erklärt  sich  zunächst  mit  einem  gewissen  Vorbehalt  gegen 
die  Herleitung  des  Ritus  aus  einem  Kultus  der  Xaturkräfte,  weil  der  zu  Grunde 
liegende  Gedanke  zu  philosophisch  für  die  älteste  Zeil  sei.  Auch  die  von  Liebrecht 
zuerst  aufgestellte  Theorie,  das  Durchkriechen  der  Kranken  durch  den  Spalt  oder 
das  Loch  sei  der  symbolische  Akt  der  Wiedergeburt  zur  Gesundheit,  verwirft  er, 
wie  ich  glaube,  auf  nicht  genügende  Gründe.  Sehr  bestimmt  erklärt  sich  Herr 
G.  gegen  Nyrops  Ansieht,  dass  der  Ritus  ursprünglich  die  Reinigung  von  Sünden, 
später  von  Krankheiten  bedeute,  und  erklärt  sich  selbst  für  die  schon  von  J.  Grimm 
vertretene  Auffassung  des  Akts  als  Übertragung  (transplantation)  der  Krankheiten 
durch  das  mit  Abstreifen  (frottement)  verbundene  Durch  kriechen. 

Wer  sich  mit  dem  merkwürdigen,  wahrscheinlich  über  unsern  ganzen  Planeten 
verbreiteten  abergläubischen  Heilgebrauch  beschäftigt,  wird  das  Büchlein  unseres 
Kollegen  Henri  Qaidoz  nicht  entbehren  können.  K.  Weinhold. 


pinderella.    Three  Hundred  and  Forty-five  Variante  of  Cinderella,  Catskin 

and  Gap  o"  rushes,  abstracted  and  tabulated,  with  a  discussion  of 
niedia'val  analog'ues  and  notes,  by  Marian  Roalfe  Cox.  With  an 
Introductiön  by  Andrew  Lang.  London,  published  for  tlie  Folk-Lore 
Society  by  David  Xutt.    1893.    S.  LXXX.    535.    8°. 

Ein  eigentümliches  Buch,  wie  es  wenige  giebt,  dessen  Druck  auch  nur  durch 
eine  englische  Gesellschaft  gleich  der  Folk-lore  Society  for  collecting  and  printing 
relics  of  populär  antiquities  etc.  möglich  war!  Herr  Andrew-  Lang  äussert  in  der 
dim  aufgegebenen  Einleitung  auch  unverhohlen  seinen  Schrecken,  als  er  diese 
Skelettierung  eines  Märchens  erblickte;  es  war  ihm,  als  habe  er  einen  Blick  auf 
die  Stelle  gethan,  wo  der  Riese  Hop  o'  my  Thumbs  die  Knochen  seiner  kleinen 
Opfer  verwahrte.  Drei  zerlegte  Gerippe  reizender  Kindermärchen  hat  die  gelehrte 
und  fleissige  Miss  Cox  hier  präpariert;  es  sind  die  untereinander  sich  berührenden 
von  Cinderella  (Aschenbrödel),  Catskin  (Allerleirauh)  und  Cap  o"  Rushes  (die 
Gänsehirtin  am  Brunnen),  welche  Miss  Cox  in  allen  ihr  erreichbaren  Varianten 
durch  alle  Welt  aufgesucht  hat.  Zuerst  skelettiert  sie  jede  Variante  nach  ihren 
Hauptzügen  (part  I  Abstracts),  dann  erzählt  sie  die  Geschichten  ausführlicher 
(part  H  Tabulations)  und  giebt  als  part  III  die  verwandten  Märchen,  in  denen  an 
die  Stelle  eines  Mädchens  ein  Knabe  gesetzt  ist  (herotales,  wie  sie  dieselben  be- 
titelt) ebenfalls  zuerst  skizziert,  dann  in  zusammenhängendem  Bericht.  Nachträge 
und  Noten  schliessen  das  Buch.  In  einer  Vorrede  äussert  sich  Miss  Cox  mehr 
abhandelnd    über  ihr  Thema,    unter  Herbeiziehung  der  mittelalterlichen  analogen 


•_>;;i  Marelle: 

Geschichten.  Den  wesentlichsten  Teil  der  Introduction  von  Mr.  Andr.  Lang  bilde] 
seine  Auseinandersetzung'  mit  M.  Cosquin  und  Mr.  Jacobs.  Für  die  Forscher  in 
der  weitverbreiteten  und  vielfach  verwickelten  Märchenlitteratur  wird  die  Cinderella 
von  Miss  Cox  immer  eine  interessante  und  förderliche  Erscheinung'  sein. 

K.  \V. 


Ch.  Thuriet,  Traditions  populaires  de  la  Haute-Saöne  et  du  Jura,  Paris, 
Emile  Lechevalier,  Librairie  historique  des  Provinees,  1  vol.  in -8  de 
652  p.    tire  ä  200  ex. 

Recueil  de  387  pieces  de  divers  genres:  legendes  merveüleuses  et  miraeuleuses 
concernant  les  forets,  les  rivieres,  les  montagnes,  les  chäteaux,  les  eglises,  les 
chapelles,  les  ruines  de  la  contree;  croyances  et  pratiques  superstitieuses;  chansons 
et  contes  rustiques  etc.  Ce  nouveau  livre  de  M.  Thuriet  offre  le  meine  interet 
varie  que  celui  qu'il  a  public  l'annee  derniere  sous  le  titre  de  Traditions  popu- 
laires du  Doubs.    Vgl.  die  Zeitschrift  des  Ver.  für  Volkskunde  1892,  II,  212. 

Ch.  Marelle. 


A.  Bielenstein,  Die  Grenzen  des  lettischen  Volksstammes  und  der  lettischen 
Sprache  in  der  Gegenwart  und  im  13.  Jahrhundert.  Ein  Beitrag  zur 
ethnologischen  Geographie  und  Geschichte  Russlands.  St.  Petersburg, 
Verlag  der  Kais.  Akademie  der  Wissenschaften.  1892.  S.  XVI.  548. 
4°.  Dazu:  Atlas  der  ethnologischen  Geographie  des  heutigen  und 
des  prähistorischen  Lettenlaudes.    ebd.  7  Blätter  fol. 

Der  Verfasser  des  bekannten  preisgekrönten  Werkes  ..Die  lettische  Sprache 
(Berlin  18G3)",  Pastor  Dr.  A.  Bielenstein  zu  Dohlen  in  Kurland  hat  die  Frucht 
seiner  durch  Jahrzehnte  gepflegten  Studien  über  die  vorgeschichtlichen,  geographi- 
schen und  ethnologischen  Zustände  des  Lettenlandes  jüngst  abgeschlossen  und  durch 
die  Kaiser!  Akademie  in  Petersburg  die  Freude  erlebt,  dieselben  in  einem  statt- 
lichen, mit  einem  Atlas  versehenen  Quartbande  veröffentlichen  zu  können.  Wir 
müssen  uns  hier  auf  einen  Bericht  über  das  wichtige  Werk  beschränken,  eine 
kritische  Behandlung  denen  überlassend,  die  mit  lettischer  Geschichte,  Sprache  und 
Volkskunde  vertraut  sind. 

Der  erste,  kurze  Teil  giebt  die  Grenzen  an  zwischen  den  Letten  einerseits 
und  ihren  Nachbarn  andererseits,  welche  sind  die  Livcn.  die  Littauer,  die  "Weiss- 
russen und  die  Esthen.  Die  Sprachgrenzen  fallen  nicht  selten  mit  den  Wasser- 
scheiden zusammen. 

Der  zweite  Teil  beginnt  mit  vergleichender  Besprechung  der  Völkertafeln  der 
Inländischen  Reimchronik  und  des  Kiewer  Chronisten  Nestor.  Genannt  werden 
darin  Liven,  Lettgallen,  Semgallen,  Selen,  Kuren.  Östlich  von  den  Liven  hausen 
die  Lettgallen,  die  in  ihrem  äussersten  Ende  im  heutigen  Witebskischen  erst  im 
14.  Jahrhundert  von  den  deutschen  Ordensrittern  erreicht  wurden.  Die  Verhältnisse 
des  13.  Jahrhunderts  sind  hier  dunkel.  Dagegen  sind  die  der  Semgallen,  südlich 
der  Düna,  klar.  Die  Selen  im  kurischen  Oberlande  sind  von  geringer  Bedeutung. 
Über  die  Kuren  wie  über  die  Semgallen  geben  die  Teilungsurkunden  des  13.  Jahr- 
hunderts zwischen  dem  Bischof  von  Riga  und  dem  deutschen  Orden  helles  Licht. 
Die  Methode  der  Untersuchung  ist,  dass  für  jede  einzelne  Landschaft  die  Ortsnamen 
in  Tabellenform,  je  nach  den  alten  Quellen  und  nach  den  heutigen  lettischen  und 


Bücheranzeigen.  235 

deutschen   Namen    zusammengestellt    werden.     Die  Ergebnisse  der  geographischen 
Untersuchung  sind  durch  8  Karten  auf  7  Blättern  dargestellt. 

Hierauf  folgt  die  schwierige  Behandlung  der  Nationalität  der  Semgallen,  Kuren 
und  Wenden. 

Dr.  Bielenstein  stellt  durch  sprachliche  Untersuchung  der  Orts-  und  Personen- 
namen das  lettische  Volkstum  der  Semgallen  fest  und  beweist  auch  die  Un- 
haltbarkeil der  Vernichtung  oder  Vertreibung  der  Semgallen  durch  die  Kriege  des 
13.  Jahrhunderts.  Er  erweist  durch  Zeugnisse,  die  bis  ins  16.  Jahrhundert  reichen, 
dass  semgallisches  Volk  nicht  bloss  in  dem  Landstrich  von  Autz  bis  Bauski' 
(Aagebiet),  sondern  auch  westlich  von  der  Windau  in  der  Hasenpoth-Grobinsehen 
Gegend,  und  sogar  nördlich  von  der  Düna  zwischen  Liven  und  Lettgallen  in  der 
Wendensehen  Gegend  gesessen  hat.  Das  stimmt  dazu,  dass  bis  heute  rein  sem- 
eallischer,  d.  h.  niederlettischer  Dialekt  von  der  Ostseeküste  bei  Libau  in  dem 
ganzen  Südstrich  des  heutigen  Kurland  bis  über  Wenden  und  Wolrnar  hinaus 
herrscht. 

Was  nun  die  Kuren  betrifft,  die  von  manchen,  so  von  Pastor  Watson  (f  1826) 
für  Letten  gehalten  wurden,  so  schliesst  sich  Dr.  B.  der  schon  von  Wiedemann 
in  der  Einleitung  zu  dem  Sjögrenschen  Werk  über  die  livische  Sprache  (Peters- 
burg 1861)  vertretenen  Meinung  an,  dass  die  alten  Kuren  Finnen  waren  und  be- 
weist dies  durch  den  finnischen  Charakter  der  Personennamen  und  der  alten  und 
Tausender  von  heutigen  Ortsnamen. 

Andererseits  giebt  aber  Dr.  B.  alte  Beweise  für  das  lettische  Element  neben 
und  zwischen  dem  finnischen  bis  hoch  nach  Nordkurland  und  bis  zur  Windau- 
mündung  aus  Orts-  und  Personennamen  nicht  bloss  in  den  Stammsilben  derselben, 
sondern  auch  in  den  grammatischen  Formen.  So  gelangt  er  zu  dem  neuen  Er- 
gebnis, dass  die  Kuren  weder  reine  Letten,  noch  reine  Finnen  gewesen  sind,  son- 
dern dass  die  Bevölkerung  des  Kurenlandes  gemischt  war:  Letten  und  Finnen 
haben  dort  nebeneinander  gelebt.  Er  macht  sogar  den  Versuch,  den  Procentsatz 
zwischen  Lettisch  und  Finnisch  in  den  einzelnen  politischen  Kirchspielen  festzu- 
stellen und  findet,  dass  sich  derselbe  vom  13.  Jahrhundert  bis  in  die  Gegenwart 
garnicht  geändert  habe.  Die  Finnen  haben  im  Norden  Kurlands  und  an  dem 
Rigischen  Meerbusen,  sowie  an  der  offenen  Ostsee  bis  Libau  und  noch  weiter 
südlich  am  dichtesten  gesessen;  im  Innern  des  Landes,  nach  den  Grenzen  des 
alten  Semgallens  und  an  der  Windau  hinauf,  nehmen  sie  mehr  und  mehr  ab  und 
auf  der  Wasserscheide  zwischen  Windau  bei  Nigranden  und  der  Ostsee  bei  Nieder- 
bartau verlieren  sich  die  finnischen  Ortsnamen  ganzlich.  Es  werden  also  südlich 
vom  heutigen  Kurland  nach  Littauen  hinein  finnische  Gebiete  und  Ansiedelungen 
nicht  mehr  zu  suchen  sein. 

An  diesen  wichtigsten  Teil  des  Buches  schliessen  sich  Exkurse  (S.  334  bis 
390).  zuerst  über  die  kurischen  Wenden  der  Chronik  Heinrichs,  die  als  Letten 
erwiesen  werden,  die  von  der  Windau  (lett.  Wenta),  an  der  sie  wohnten,  den 
Namen  empfangen  hatten.  Der  zweite  Exkurs  behandelt  die  Frage,  welches  Volk, 
die  indogermanischen  Letten  oder  die  ural-altaischen  Finnen,  älter  am  Rigischen 
Meerbusen  sei.  Im  Anschluss  an  K.  Schirren  und  Y.  Koskiuen,  aber  mit  mehr 
Beweismitteln,  tritt  Dr.  B.  für  die  Priorität  der  Letten  vor  den  finnischen  Liven 
oder  Kuren  ein. 

Dann  wird  untersucht,  ob  die  Grenzen  zwischen  Letten  und  Littauern  sich 
seit  700  Jahren  verändert  haben.  Es  werden  nur  kleine  Verschiebungen  zugelassen: 
an  der  Südgrenze  Kurlands  zu  Gunsten  der  Letten,  um  Memel  etwas  zum  Vorteil 
der  Littauer. 


236  Hartmann: 

Den  Schluss  machen  Anhänge,  der  wichtigste  eine  philologische  Untersuchung 
über  die  Dialekte  der  lettischen  Sprache  (S.  391—409),  als  welche  bezeichnet 
werden  das  Hochlettische  im  Osten,  das  Niederlettische  (der  Schriftdialekt)  in  der 
Mitte  des  Landes  (Weimar,  Wenden,  Mitau,  Bauske,  Dohlen,  Autz,  Amboten, 
Bartan),  und  der  Stranddialekt  (der  Tahmische)  um  den  Rigischen  Meerbusen  und 
in  der  Windauschen  Gegend. 

Die  Karten  des  Atlas  geben  klare  Übersichten  über  das  im  Werke  ausgeführte 
zur  ethnologischen  Geographie  des  Lettenlandes.  Nach  Angabe  Herrn  Dr.  B.s  hat 
die  meisten  seine  Tochter  Martha  gezeichnet,  die  letzte  Karte  einer  seiner  Söhne. 
Auch  im  Druck  wurden  sie  schön  ausgeführt. 

Wir  wünschen  dem  hochverdienten  Verfasser  dieses  Werkes,  dass  er  sich 
noch  lange  an  der  vollendeten  Frucht  seiner  Lieblingsstudien  freuen  möge! 

K.  W. 


Büttner,  Fr.  C.  G..  Suaheli -Schriftstücke,  in  arabischer  Schrift,  mit  latei- 
nischer Schrift  umschrieben,  übersetzt  und  erklärt.  Mit  11  Facsimile- 
tafeln.  Stuttgart  und  Berlin,  W.  Spemann  1892  (auch  u.  d.  T.:  Lehr- 
bücher  des  Seminars  für  Orientalische  Sprachen  zu  Berlin,   Band  X). 

Die  Aufpfropfung  der  Religion,  Sitte,  Denkweise  von  Kulturvölkern  auf  ganz 
oder  fast  ganz  uneivilisierte  Volksstämme  ergiebt  Bildungen,  die  das  höchste 
Interesse  des  Freundes  der  Volkskunde  erwecken.  Freilich,  wo  das  Ursprüng- 
liche durch  jene  Berührungen  völlig  verwischt  ist,  wird  dieses  Interesse  von  einem 
Gefühle  des  Bedauerns  begleitet  sein.  Denn  aus  der  hybriden  Bildung  lässt  sich 
zwar  das  Verlorene  bei  richtiger  Methode  und  besonderer  Begabung  für  diese  Art 
der  Forschung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  rekonstruieren,  es  werden  aber  immer 
noch  zahlreiche  Rätsel  bleiben,  vieles  wird  als  fraglich  bezeichnet  werden  müssen. 
In  jedem  Falle  ist  diesen  Zwitter-Halbkulturen  dann  eine  besondere  Aufmerksam- 
keit zuzuwenden,  wenn  für  sie  eine  neue,  besonders  wichtige  Epoche  der  Weiter- 
bildung eintritt. 

Das  ist  der  Fall  bei  einem  grossen  Teile  der  Bantu-Stämme  Mittelafrikas. 
Uns  liegt  es  am  nächsten,  hier  an  diejenigen  dieser  Stämme  zu  denken,  welche, 
in  Zanzibar  und  dem  Küstengebiete  von  Deutsch -Ostafrika  wohnend,  unter  dem 
Namen  Suaheli  zusammengefaßt  werden  und  in  Sprache,  Glauben,  Sitte  von  dem 
islamischen  Arabertum  gründlichst  durchsetzt  sind.  Hier  ist  die  deutsche,  bezw. 
englische  Herrschaft  gesichert,  und  es  ist  eine  Frage  der  Zeit,  dass  diese  Herr- 
schaft auf  das  Leben  jener  Stämme  einen  durchdringenden  Einfluss  übt  und  dem 
Gemisch  von  Ursprünglichem  und  Arabischem  ein  neues  fremdes,  kräftiges  Element 
zuführt.     Hier  gilt  es  zu  retten,  was  noch  zu  retten  ist. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  sei  hier  das  Verdienst  des  vorliegenden 
Buches  hervorgehoben,  welches  noch  nach  anderen  Richtungen  hin  als  eine  höchst 
willkommene  Gabe  begrüsst  werden  darf.  Verf.  hat  mit  scharfem  Blick  unter  dem 
ihm  zu  Gebote  stehenden  Material  das  ausgesucht,  was  neben  den  Zielen,  die  ihm 
in  erster  Linie  gesteckt  waren,  ein  Hilfsmittel  für  die  sprachliche  Ausbildung  zu 
schaffen,  in  dem  hier  angedeuteten  Betracht  wichtig  ist.  Er  Hess  sich  dabei  leiten 
von  der  Rücksicht  auf  die  „wunderlichen  Vorstellungen,  welche  in  Deutschland 
über  die  geistigen  Kapazitäten,  sowie  über  das  intime  Leben  der  „Neger"  herrschen," 
und  welche  „auch  diejenigen,  welche  nicht  Suaheli  fachmännisch  zu  lernen  ge- 
sonnen sind,  ein  wenig  in  die  Denk-  und  Ausdrucksweise  unserer  Ostafrikaner 
hineingucken  lassen". 


Bücheranzeigen.  237 

Die  Stücke,  die  als  volkskundlich  interessant  zu  nennen  wären,  sind:  Reise 
nach  Reichen  im  südwestliehen  Teile  von  Deutsch-Ostafrika;  Begräbnisgebräuche 
in  Zanzibar;  drei  Märchen:  der  Sultan,  welcher  Gottes  Allmacht  leugnete:  die 
Todesfurcht  als  Heilmittel  (einer  an  Dickleibigkeit  leidenden  Frau  wird  vom  Arzte 
gesagt,  sie  müsse  in  sieben  Tagen  sterben;  am  achten  Tage  kommt  sie,  von  der 
Todesfurcht  abgemagert,  scheltend  zum  Arzt,  der  ihr  sagt,  die  Furcht  sei  eben 
d.js  Mittel  gewesen);  die  Spur  des  Löwen  (ein  Sultan  sieht  die  schöne  Frau  seines 
Wezirs  und  schickt  diesen  sofort  weit  weg:  als  er  bei  seinem  Besuche  der  Frau 
zudringlicher  wird,  setzt  ihm  diese  ein  reiches  Mahl  vor,  dessen  verschiedene 
Schüsseln  jedoch  alle  denselben  Geschmack  haben;  auf  die  erstaunte  Frage  des 
Sultans  danach,  sagt  sie  nur:  „wer  versteht,  versteht";  er  versteht,  lässt  aber  einen 
lose  sitzenden  Ring  zurück;  diesen  findet  der  rückkehrende  Wezir  und  behandelt 
die  Frau  als  untreu;  deren  Vater  klagt  beim  König  im  Beisein  des  Gatten:  er 
habe  einen  wohlgepflegten  Garten  gehabt,  den  habe  der  Wezir  gemietet,  aber  ver- 
nachlässigt; der  Wezir  führt  an,  er  habe  nach  einer  Reise  die  Spur  eines  Löwen 
an  der  Gartenthür  gefunden,  da  sei  er  nicht  hineingegangen;  der  Sultan:  „der 
Löwe  ging  hinein,  ass  aber  die  Früchte  nicht");  drei  Gedichte:  Augenlid,  Auge 
und  Pupille:  Lob  einer  schönen  Frau:  das  Lied  vom  fremden  Gast. 

Zugleich  sei  hier  hingewiesen  auf  den  am  4.  März  d.  J.  vom  Verf.  gehaltenen 
Vortrag  „Bilder  aus  dem  Geistesleben  der  Suaheli,  ihrer  epischen  und  lyrischen 
Dichtung  entnommen1-,  der  in  den  Verh.  der  Berliner  Ges.  f.  Erdkunde  1893 
S.  147  ff.  abgedruckt  ist.  Es  ist  bereits  an  anderer  Seite  (s.  Voss.  Ztg.  Nr.  131, 
18.  3,  93)  darauf  aufmerksam  gemacht  worden,  dass  die  dort  erwähnten  zwei  Tier- 
märchen,  Affe  und  Haifisch,  und  Eselin  und  Löwe  indischen  Ursprungs  sind  und 
sich  fast  unverändert  im  Pantsehatantra  (Buch  4)  finden.  Vielleicht  geht  auch 
einiges  in  den  „Schriftstücken"  auf  indische  Quellen  zurück. 

Berlin.  Martin   Hartmann. 


Aus  den 

Sitzungs-Protokollen  des  Vereins  für  Volkskunde. 


Berlin,  Freitag,  den  24.  Februar  1893.  Herr  Geheimrat  Prof.  Dr.  Bastian 
sprach  über  die  Verbleiborte  der  abgeschiedenen  Seelen  in  Volks-  und  Völker- 
kunde, über  die  Entwicklung  der  Vorstellungen  vom  Tod  und  von  der  Seele,  über 
die  Einwirkung  von  Traumbildern,  die  Unterscheidung  zweier  (oder  mehrerer) 
Seelen,  ihr  (meist  schädliches)  Herumschweifen  und  Bannen  desselben  (an  den 
Seelenfesten),  sowie  über  die  Vorstellungen  vom  Seelenaufenthalt  (Abbilder  der 
oberirdischen  Welt  oder  Inseln  der  Seligen,  endlich  Walhalla  und  Sonnenhaus  für 
gefallene  Krieger)  und  von  der  Rückkehr  der  Toten,  zuletzt  über  die  Mittel,  um 
dieselbe  zu  verhindern.  In  der  sich  anschliessenden  Diskussion  hob  besonders  der 
Vorsitzende,  Geheimrat  Weinhold,  germanische  Parallelen  hervor. 

Freitag,  den  24.  März.  Professor  Brückner  sprach  über  den  gegenwärtigen 
Stand  der  Mythologie;  er  begann  mit  der  Creuzerschen  Symbolik  zu  Anfang  des 
Jahrhunderts  und  der  Widerlegung,  die  sie  erfuhr,  besprach  hierauf  die  Auf- 
stellungen   der    vergleichenden    (indo-europäischen)  Mythologie    und    wies  auf  die 

16** 


238  Lewy:    Nachtrag. 

Lücken  und  Mängel  dieses  Systems  hin,  welche  durch  die  moderne  Folklore  und 
durch  die  Ergebnisse  der  Anthropologie  zu  ergänzen  sind,  wie  dies  durch  E.  B.Tylor 
und  Andrew  Lang  mit  bestem  Erfolg  erstrebt  worden  ist.  Hierauf  sprach  Fräulein 
E.  Lemke  über  Ort  und  Treiben  der  Toten  im  ostpreussischen  Volksglauben  auf 
Grund  eigener  Aufzeichnungen:  über  Totenbräuche,  über  Vorstellungen  von  der 
Seele,  über  Getstersichtigkeit,  Nachziehen  der  Seelen  (Varnpyrismus),  endlich 
Totenerseheimuigen  aller  Art  (in  der  Neujahrsnacht,  als  Irrlichter  und  ähnliches). 
Freitag,  den  28.  April.  Herr  Prof.  C.  Arendt  sprach  über  Vorstellungen 
der  Chinesen  über  den  Verbleib  der  abgeschiedenen  Seelen;  er  hob  die  Schwierig- 
keiten der  Sinologie  hervor,  die  Religionsmischung'  in  China,  die  Überlebsel  alter 
Menschenopfer,  den  Heroenkult,  welchem  einige  der  populärsten  Götter  des 
modernen  China  ihren  Ursprung  verdanken,  den  Ahnenkult  in  Familie  und  Ge- 
meinde, den  Glauben  an  die  Verpflichtungen  des  Toten,  das  Schwanken  der  Auf- 
fassung von  einem  eigentlichen  Seelenaufenthalte,  endlich  die  Vielförmigkeit  der 
Seelen,  wie  sie  sich  schon  in  der  Namengebung  kundgiebt.  —  Direktor  Wilhelm 
Schwartz  teilte  Belege  modernsten  Geisterglaubens  und  eigene  Erfahrungen  beim 
Sammeln  um  ..Altertümern"  mit.  —  Geheimrat  Weinhold  berichtete  über  die 
gelungene  Erneuerung  des  Frühlingseinzuges  in  Heidelberg  zum  Sommertag 
(D.  Lätare)  1893.  A.  Brückner. 


Nachtrag  zu  S.  132  f. 

Den  mir  von  der  Druckerei  zugesandten  Korrekturabzug  des  Schlusses 
meiner  Arbeit  „Morgenländischer  Aberglaube  in  der  römischen  Kaiserzeit"  habe 
ich  durch  eigenen  Zufall  nicht  erhalten.  Ich  muss  daher  an  dieser  Stelle  ein 
wenig  nachbessern. 

§  6  soll  vielmehr  lauten:  Wenn  jemand  spricht:  „Im  Übermass  und 
Uberflussl"  —  so  gehört  das  zu  den  emoritischen  Gebräuchen.  Rabbi 
J'huda  sagt:  „Im  Übermass  und  Überfluss  möge  sein  Haus  nichts 
haben!" 

Letzteres  soll  die  Strafe  sein.  In  welchem  Falle  jener  Wunsch  üblich 
war,  weiss  ich  nicht. 

In  der  Erläuterung  zu  §  9  waren  die  Worte  „Wein  und  Lehen  u.  s.  w.  bis 
und  für  den  Mund  ihrer  Schüler!"  kursiv  zu  drucken  und  ohne  Absatz  an  das 
Vorhergehende  anzuschliessen,  da  sie. mit  zu  der  Parallelstelle  aus  dem  Talmud 
gehören. 

Zu  dem  Namenstausche  zwischen  Mann  und  Frau  (S.  142)  vergleiche  man 
R.  Andree,  Ethnogr.  Parall.  u.  Vergl.  S.  176:  Änderung  des  Namens  behufs 
Täuschung  der  Dämonen. 

Mülhausen  im  Elsass.  Heinrich  Lewy. 


Druck  verbesserungreu  zum  1.  Heft  sind 

S.  09  Z.  4  v.  u.  mit  lies  nit. 
.  89   „  24  v.  ei.  Fevons  lies  Jevons. 


Das  Saterland. 

Ein  Beitrag  zur  deutschen  Volkskunde 
von  Theodor  Siebs. 

I.  Einleitendes.  II.  Herkunft  der  Saterländer  und  älteste  Nachrichten  über  das  Gebiet. 
III.  Recht  und  Verfassung;  kurze  geschichtliche  Angaben.  IV.  Wohnung.  V.  Sitten  und 
Gebräuche.     VI.    Tracht.     VII.    Aberglaube.     VIII.    Lebensweise    und    Erwerbsquellen. 

IX.   Sprachliches.    X.  Poesie. 


I.  Einleitendes. 

Die  Saterltnder,  ein'  kleines  Völkchen  friesischer  Abstammung, 
wohnen  auf  einem  rings  von  Hochmoor  umschlossenen  schmalen  Sand- 
rücken an  den  Ufern  der  Leda  oder  Sater  Ems  (djü  e\  d.  h.  der  Fluss).  Das 
Ländchen,  welches  als  ein  Teil  des  Amtes  Friesoythe  dem  Herzogtume 
Oldenburg  angehört,  besteht  aus  vier  Kirchspielen.  Die  nördlichste  Ge- 
meinde ist  Strücklingen,  dann  folgt  Ramsloh,  der  alte  Mittelpunkt  des 
Saterlandes,  dann  Scharrel  und  als  die  südlichste  Gemeinde  die  im 
Jahre  1821  gegründete  Siedlung  Neuscharrel1). 

Das  Land  ist  heute  ohne  grosse  Mühen  zu  erreichen2),  bis  zum  Beginn 
unseres  Jahrhunderts  aber  war  es  schwer  zugänglich.  Die  Moorwege,  die 
hineinführten,  waren  schlecht,  ja  zu  gewissen  Zeiten  gefährlich;  die  um- 
ständliche   Bootfahrt    auf    dem    schmalen,    in    vielen    Windungen    dahin- 


1)  Gemeinde  Strücklingen  (36,59  qkm,  2107  Einw.)  mit  den  Bauerschaften  Strück- 
lingen, Bollingen,  Utende,  Bokelesch;  Ramsloh  (39,32  (/km,  802  Einw.)  mit  Bauerschaft 
Ramsloh  und  Hollen;  Scharrel  (59,03  qkm,  842  Einw.)  mit  den  Ortschaften  Scharrel, 
Fermesand,  Sedeisberg;  Neuscharrel  (14,12  qkm,  464  Einw.).  Näheres  später  bei  Be- 
handlung der  Flurnamen.  Vgl.  Ortschaftsverzeichnis  d.  Grossherzogt.  Oldenburg,  herausg. 
vom  statist.  Bureau.  Oldbg.  1891.  [Die  von  dem  Herrn  Dr.  Siebs  auf  Grund  der  Olden- 
burgischen Katasterkarten  entworfene  Karte  des  Saterlandes  beizugeben,  haben  äussere 
Umstände  verhindert.     D.  R.] 

2)  Von  Augustfehn,  einer  Station  der  Bahnstrecke  Oldenburg -Leer,  führt  eine 
Fahrstrasse  über  Barssel-Strücklingen-Ramsloh-Scharrel  nach  Friesoythe;  von  Ihrhove, 
einer  Station  der  Bahnlinie  Leer- Neuschanz,  führt  eine  Strasse  über  Collinghorst  und 
Rhauderfehn  nach  Strücklingen;  auch  kann  man  von  Zwischenahn  auf  der  Landstrasse 
über  Edewecht  und  Friesoythe  nach  Scharrel  gelangen.  Grosse  Kanäle  (der  Kanal 
Bollingen -Barssel,  welcher  mit  dem  wichtigen  Hunte -Emskanal  in  Verbindung  steht,  der 
Friesoyther  Kanal  im  Osten  und  ferner  der  sogenannte  Westkanal)  dienen  dem  Güter- 
transport, vor  allem  dem  des  Torfes.    Darüber  s.  unten  („Erwerbsquellen"). 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893.  17 


240  Siebs: 

strömenden  Flusse,  die  dem  Transithandel  zwischen  Niederwestfalen  und 
Ostfriesland  diente  ward  nur  von  Saterländern  besorgt;  das  Land  brachte 
hervor,  was  seine  Bewohner  brauchten,  kaum  mehr  noch  weniger:  so  ward 
es  von  Fremden  fast  garnieht  besucht.  Auch  verliessen  die  Saterländer 
ihre  Heimat  nicht,  denn  kleine  Reisen  bediugten  schon  grosse  An- 
strengungen. So  stunden  sie  fast  ganz  ausser  Berührung  mit  der  übrigen 
Welt  und  haben  lange  Zeit  hindurch  ihre  altüberlieferte  Sprache,  ihr  Recht 
und  ihre  Gebräuche  treuer  bewahrt  als  die  Nachbarstämme. 

Kam  je  ein  Fremder  dorthin,  so  war  er  erstaunt  über  die  eigenartige 
Sprache,  Kleidung  und  Sitte  und  brachte  sicherlich  wundersame  Märe 
heim.  Die  sonderbarsten  Gerüchte  kamen  über  das  Land  in  Schwans, 
zumal  da  die  Saterländer  selber  etwaigen  wandernden  „Folkloristen"  ihre 
Mühen  mit  erschreckenden  Berichten  reichlich  lohnten.  Ein  gewisser  M.  D. 
und  der  Pastor  Hoche,  der  im  Jahre  1798  das  Gebiet  durchstreift  hat, 
sind  noch  glimpflich  behandelt  worden;  anders  die  Niederländer  Hettema 
und  Posthumus,  deren  Erfindungen  mit  denen  ihrer  Gewährsleute  wett- 
eifern. Dir  Buch  ist  von  Nieberding  gewürdigt  worden,  der  auch  in 
dankenswerter  Weise  historische  Nachrichten  über  das  Land  gesammelt 
hat1).  —  Die  Sprache  ist  erst  vor  fünfzig  Jahren  gründlich  untersucht 
worden,  obschon  bereits  Justus  Moser  und  auch  Strodtmann.  der  Verfasser 
des  osnabrückischen  Wörterbuches,  auf  ihre  hohe  Bedeutung  hingewiesen 
hatten.  Das  grösste  Verdienst  um  die  saterländische  Sprachforschung  hat 
sich  Johann  Minssen  erworben:  er  ist  seinen  Arbeiten2)  leider  früh 
durch  die  Übersiedelung  nach  Frankreich  entzogen  worden.  Seine  reichen 
Stoffsammlungen,  von  denen  ein  Teil  in  der  Übersetzung  bei  L.  Strackerjan3) 
abgedruckt  ist,  sind  leider  unwiederbringlich  verloren;  eine  Anzahl  Ab- 
schriften neuerer  Urkunden  und  einige  Volkslieder  hat  Professor  Minssen 
mir  gütigst  überlassen  —  auch  an  dieser  Stelle  herzlichen  Dank  dafür! 
Ich  habe  es  mir  zur  Aufgabe  gemacht,  reiches  Material  für  die  Erforschung 
der  saterländischen  Sprache  und  Sitte  zu  sammeln 4) ;  ein  fünfmaliger 
längerer   Aufenthalt    an   Ort    und   Stelle   ist  mir  dazu  von  grossem  Nutzen 


1)  vgl.  M.  D.  im  Westfäl.  Magazin  (neues,  fortgesetzt  von  Weddigen)  1799. 
4.  Quartal.  —  J.  G.  Hoche,  Reise  durch  Osnabrück  und  Niedermünster  in  das  Saterland, 
Ostfriesland  und  Groningen.  Bremen  1S00.  —  Hettema  und  Posthumus,  onze  Reis 
naar  Sageiterland.  Franeker  1836.  —  Nieberding,  Das  Saterland.  Strackerjan's  Beitrr. 
z.  Gesch.  d.  Grossherzogts.  Oldenbg.    Bremen  1837.  I,  244  ff.,  378  ff.,  436  ff. 

2)  Minssen,  J.,  in  Ehrentraut's  fries.  Archiv  I  (1849),  II  (1854). 

3)  Aberglaube  und  Sagen  aus  dem  Herzogt.  Oldenbg.    2  Bde.    Oldbg.  1867. 

4)  Zu  grossem  Danke  fühle  ich  mich  verpflichtet  Herrn  Pastor  Dumster  in  Scharrel 
für  seine  Aufzeichnungen,  Herrn  Lehrer  Busch  für  seine  Unterweisung,  ferner  Herrn 
Remmer  Dumstorf,  und  manchen  anderen  Gewährsleuten.  —  Herrn  Dr.  Kollmann 
gebülirt  reicher  Dank  für  die  auf  meine  Bitte  gelegentlich  der  letzten  Volkszahlung  ge- 
machten sprachstatistischen  Erhebungen ,  die  in  unserer  Zeitschrift  I,  377  ff.  veröfl'ent- 
licht  sind. 


Das  Saterlanrl.  241 

gewesen.     Die  Ergebnisse,    die  mir  für  die  deutsche  Volkskunde  wissens- 
wert seheinen,  will  ich  hier  mitteilen1). 

II.    Die  Herkunft  der  Saterländer  und  die  ältesten  geschichtlichen  Nachrichten 

über  das  Gebiet. 

Wir  sind  völlig  im  Unklaren  darüber,  ob  das  Gebiet  des  heutigen 
Saterlandes  zur  alten  Heimat  der  Chauken,  der  Ampsivarier  oder  der 
Chasuarier  gehört  hat.  Zu  Tacitus'  Zeiten  hatten  Friesen  (wahrscheinlich 
die  Frisii  maiores)  das  Küstenland  zwischen  Fli  und  Ems  inne,  Chauken 
(ob  die  Chauci  maiores  oder  minores,  ist  ungewiss)  das  Gebiet  zwischen 
dem  Unterlaufe  der  Ems  und  Weser;  Südgrenze  dieser  Völkerschaften  war 
vielleicht  der  Hochmoorstrich  Ä),  welcher  sich  etwa  von  der  Kuimremündung 
über  Groningen  an  deu  Ausfluss  der  Hunte  zieht.  Südlich  davon  wohnten 
an  beiden  Ufern  der  Ems  die  Brukterer,  am  rechten  die  Bructeri  maiores 
etwa  bis  zur  Hase,  am  linken  die  minores  bis  an  die  Lippe  (Tac.  Annal. 
I,  60).  Zwischen  den  Brukterern  und  den  Chauken  mochten  vor  Neros 
Zeit  die  Ampsivarii  wohnen,  bis  sie,  von  den  Chauken  verdrängt,  in  die 
Bheinlande  zogen  (Annal.  Xin,  55);  an  den  Ufern  der  Hase  sassen  viel- 
leicht die  Chasuarii,  dem  Gebiete  des  heutigen  Saterlandes  benachbart. 
In  diesen  Gegenden  müssen  einst  Kämpfe  mit  den  Römern  stattgefunden 
haben.  Im  Jahre  12  v.  Chr.  fuhr  Drusus  mit  einer  Flotte  aus  der  Rhein- 
mündung die  Nordseeküste  hinauf  und  in  die  Ems  ein;  auf  der  Ems  be- 
siegte er  die  Bootflotte  der  Brukterer  (Strabo  VII  pag.  290:  „ev  xw  A/uaaia 
Aqovoo?  Bqovxtzqovs  xaTEvavfid%t]oea).  Diese  Nachricht  lehrt,  dass  die 
Brukterer  im  Emsgebiete  sassen.  Den  Ort  des  Seetreffens  freilich  können 
wir  nicht  bestimmen,  denn  möglicherweise  sind  sie  der  römischen  Flotte 
weit  stromabwärts  entgegengefahren;  anderseits  aber  ist  nicht  ausgeschlossen, 
dass  Drusus  die  Ems  oder  Leda  aufwärts  bis  in  das  Land  der  Brukterer 
verfolgt  hat.  Dass  eine  solche  Absicht  ausführbar  war,  haben  die  Züge 
des  Germanicus  erwiesen:  im  Jahre  15  n.  Chr.  gelangte  er  mit  der  Flotte 
in  das  obere  Emsgebiet,  und  im  folgenden  Jahre  ist  er  wahrscheinlich  gar 
die  Hase  aufwärts  gefahren.     Auf  der  Leda  konnten  die  Schiffe  sicherlich 


1)  Die  saterländischen  Texte  sind  in  möglichst  einfacher  Schreibung  gegeben,  e  ist 
tonloses  e  (hochd.  gäbe);  e  ist  kurzes  offenes  ce  (wie  iu  hochd.  kenne);  die  entsprechende 
Länge  ist  [■;  e  ist  geschlossenes  e  (hochd.  See):  6  ist  durch  g,  o  gegeben;  «  ist  langes 
offenes  o;  silbebildcudes  /,  m,  n,  r  sind  durch  (<?)/,  (e)m,  (e)n,  (e)r  dargestellt;  u  ist  kon- 
sonantisches u  wie  engl,  w,  i  konson.  i;  u<  ist  schwache  labiodentale  Spirans;  ;;  ist  velares 
n  (hochd.  darjketi) ;  g  ist  Spirans  wie  im  westfälischen  gut;  ch  ist  der  sogenannte  ac/i-Laut, 
so  auch  stets  in  seh  (nicht  .s  zu  sprechen);  s  ist  tonloser,  z  ist  tönender  s-Laut;  sogen, 
echte  Geminate  (italien.  fat-to)  ist  durch  Apostroph  bezeichnet,  z.B.  sefen  „setzten-';  alle 
un bezeichneten  Vokale  sind  offen  (hochd.  finde,  menür),  alle  mit  ~  versehenen  geschlossen 
(hochd.  Üben,  hören);  '  auf  geschlossenem  Vokal  bezeichnet  den  stark  gestossenen  Accent, 
auf  offenem  Vokal  den  Wortaccent;  "  bezeichnet  den  stark  schleifenden  Ton.  —  Wo  nichts 
anderes  gesagt  ist,  sind  die  Texte  in  der  Mundart  von  Hollen  gegeben. 

2)  Th.  Siebs,  Zur  Gesch.  d.  engl.-friesischen  Sprache.    Halle  1889.    S.  10. 

17* 


242  Siebs: 

Utende  erreichen,  denn  soweit  ist  noch  heute  der  Pluss  schiffbar  und  reicht 
der  Wechsel  der  Gezeiten.  Bis  zum  13.  Jahrhundert,  vor  dem  Einbrüche 
des  Dollart  (1277)  wird  sieh  also  die  Flut  noch  weiter  oberhalb  geltend 
gemacht  haben.  Und  dass  thatsächlich  Römer  in  der  Gegend  von  Utende 
gewesen  sind,  scheint  durch  römische  Münzen  erwiesen  zu  sein,  die  dort 
im  Moore  gefunden  und  vor  etwa  50  Jahren  von  dem  Pastor  Trenkamp 
an  den  General  Wardenburg  in  Oldenburg  gesandt  worden  sind1). 

Jacob  Grimm  (Gesch.  d.  d.  Sprache  *  470)  hat  die  Vermutung  aus- 
gesprochen, dass  die  Brukterer,  weil  sie  sich  wie  die  Friesen  und  Chauken 
in  «fCorc  und  c/.niToveg  schieden,  dem  friesisch-chaukischen  Stamme,  sagen 
wir:  den  Iugävouen,  zuzurechnen  seien.  Andere  und  viel  gewichtigere 
Gründe  könnten  uns  veranlassen,  diese  Stammesangehörigkeit  auch  für 
andere  Gebiete  zu  behaupten:  z.  B.  lässt  die  Betrachtung  der  Ortsnamen 
eine  Beziehung  zum  englisch-friesischen  Stamme  für  das  Gebiet  vermuten, 
welches  etwa  durch  die  Liuie  Haselünne — Lingen — Rheine — Lemförde — 
Diepholz — Vechta — Cloppenburg—  Löningen — Haselünne  umschlossen  wird 
und  Teile  der  Gaue  Agredingo,  Hasago,  Lerigo  und  Dersaburg  ausmacht. 
So  drängt  sich  auch  leicht  der  Gedanke  auf,  die  Saterländer  könnten  Reste 
eines  seit  alter  Zeit  dort  wohnhaften  Yolkes  von  ingävouischem  Stamme 
sein.  Dagegen  aber  streitet  ihre  Sprache,  welche  eine  lange  Periode 
gemeinsamer  Entwicklung  mit  der  ostfriesischen  durchgemacht 
habeu  muss.  Sie  steht  der  emsfriesischen  Sprache,  wie  sie  uns  aus  den 
altfriesischen  Rechtsquellen  des  Mittelalters  und  noch  aus  dem  Hochzeit- 
liede  des  Imel  Agena  von  Upgant  (17.  Jahrhundert)  bekannt  ist,  so  nahe, 
dass  eine  jener  analoge  selbständige  Ausbildung  in  einem  abgelegenen 
Landstriche  undenkbar  wäre,  und  dass  wir  vielmehr  Einwanderung  aus 
Ostfriesland  annehmen  müssen.  Darauf  weisen  auch  der  Xame  des 
Saterlandes,  sagenhafte  Überlieferungen,  die  Volkstracht  und  andere 
Momente  der  kulturgeschichtlichen  Entwicklung  hiu. 

Lange  Jahrhunderte  hindurch  wird  uichts  von  den  Bewohnern  jener 
Gegenden  berichtet,   geschweige  denn  von  einem  Saterlande.     Das  Gebiet 


1)  In  Utende  ist  die  Sage  lebendig,  dass  dort  Drusus  mit  seinen  Schiffen  auf  das 
Land  geraten  sei.  Sie  weist  natürlich  auf  gelehrte  Einflüsse  zurück,  ist  aber  volkstümlich 
geworden  und  ward  mir  dort  von  einem  alten  Gewährsmanne,  dem  alles  historische  Wissen 
fremd  ist,  so  erzählt: 

„dl  römische  Drüzus,  dl  iz  med  'n  flot  vrfadent  op  Amde  (d.  h.  Emden) 
töü,  un  dö  iz  hi  op  Hi'Jenjebi>rg  (zwischen  Utende  und  Bokelesch)  fest  kernen, 
un  dö  iz  hl  op  Amde  töügeen;  dl  behg,  dl  leit  ein  de  e»a  (liegt  am  Flusse). 

Ledebur  (das  Land  und  Volk  der  Bructerer,  S.  180)  nahm  an.  dass  das  von  Ptole- 
mäus  (II,  14,  12)  erwähnte  Ziazovzävda  (andere  Hss.  SdrovravSa  SeiovzavSa  Ztron-Tada) 
auf  29u  20'  östl.  L.  und  54 D  20'  nördl.  Br.  „Sater  Utende"  bedeute.  Das  ist  natürlich 
nicht  ernst  zu  nehmen;  wenn  aber  jener  Name  einfach  als  Missverständnis  einer  Stelle 
des  Tacitus  gedeutet  wird  (sua  tutanda  Annal.  IT,  73  vgl.  Müller,  Die  Marken  des  Vater- 
landes, Bonn  1837),  so  ist  damit  ebenso  wenig  gewonnen. 


Das  Saterland.  243 

scheint    um  900   dem  pagus  Agredingo  oder  Agrotingo  angehört  zu  haben, 
in  welchem  834  Meppia  und  948  Weres  (Vrees  im  Kirchspiel  Werlte  =  948 
Werkte)    erwähnt    werden.     Böttger1)    setzt  Scharrel  als  Schnittpunkt  der 
Gaue   Agredingo,  Emisga  und   Hasagowe    an;    vielleicht    lag    der  Untergau 
Fmkiga"),    der    in  Urk.  948   neben   dem  Eesiga  genannt  wird,    in  diesem 
Gebiete.     Dahin   gehören   auch  die  Ortsnamen  Oidi  (1014),    Oita  und  Oite 
(öfter),    d.  h.  Altenoythe  und  Hof  Oita  (1238),    sowie  der  Nebenfluss  der 
Leda,   die  Finola  d.  h.  Vehne  (Bremer  Stiftungsurk.  b.  Adam.  Brem.  MG. 
Scr.  VII,  288).    Ortsnamen  des  heutigen  Saterlandes  werden  erst  in  viel 
späterer  Zeit  genannt,  und  zwar  zuerst  Utende  als  Besitz  des  Johanniter- 
ordens   in   einer  Urkunde   vom    13.  Mai    1359    (Friedländer,    Ostfrs.  Urkb. 
Nr.  86),    derzufolge  der  kercheer  to  XJthende  bezeugt,  dass  Bole  to  Boldinck 
(Bollingen)  dem  Kloster  Langen  ein  Stück  Moor  abtritt.     Iu  Bokelesch  bei 
Utende    soll    einst   eine  Kommende  der  Tempelherren  gewesen   sein,    die 
nach    Aufhebung    des   Ordens    im   Jahre  1312    den  Johannitern    zugeteilt 
ward:   dass  es  in  deren  Besitz  ist,   erweist  zuerst  eine  Urkunde  von  1319 
(Richthofen,   Untersuch,  über  fries.  Rechtsgesch.  II,  814.  1305).     Erst  zu 
Anfang    des    19.  Jahrhunderts    ist   die  Kommende  Bokelesch  säkularisiert 
worden.     Das    sind    vereinzelte    Namen    von    Dörfern;    das    Saterland    als 
solches    tritt    erst   mit    dem  Jahre  1400  in   die  Geschichte  ein.     In  einer 
Urk.  vom  23.  Mai  1400  geloben  zu  Emdeu  alle  Häuptlinge  und  Gemeinden 
von  Ostfriesland  den  Abgeordneten  der  Hansestädte,  dass  sie  fernerhin  den 
Vitalienbrüdern  keinen  Vorschub  mehr  leisten  und  allen  Kaufleuten  Frei- 
heit des  Verkehrs  und  Befreiung  vom  Strandrecht  gewähren  wollen;   das 
thun  „ok  alle  Murmurland  mid  orem  seghele,  Lantsingerland  mit  orem  seghele, 
Overlodingerland  myd  oren  twen  seghelen,    Sagharderland  (so  Friedländer 
Nr.   171;    Sagherderland   Nr.   1730)    mit  orem  seghele  und  Astringerland  mit 
orem  seghele."-     Später  (1417)  erscheint  das  Saterland  in  einer,   wenn  auch 
lockeren  Verbindung  mit  den  friesischen  Landschaften:  „Item  Segelterland 
is  aec  een  deel  fan  disse  saun  zelanden  ende  iout  tribuet  ende  schat  den  biscop 
fan  Munster"-  (Richthofen,  Uss.  II,  8  ff.,  Rechtsq.  S.  112).    Der  Name,  der  nun 
häufiger  wird,  wechselt  zwischen  dat  land  von  Sagelterlande  (11.  Juni  1401), 
Sagelierlande  (7.  April  1405,  21.  Okt.  1497),  Seghelterlande  (10.  Nov.  1424), 
Zegeederland    (5.  Mai    1457),    Saghelsland    (andere   Ausfertigung    derselben 
Urkunde);    in   späterer  Zeit  finden  wir  Sagaterland,   Saegerterland  (1617), 
im    18.  Jahrhundert  Sagcterland,   Sagderland,   Sagterlandt,   Sachterland  und 
Saijterland,   Saegeterland ,   Saederland,    Saeterland,  Saterland.     Sehr  wichtig- 
ist   natürlich    die    heute    an    Ort    und    Stelle    geltende    Form:    sie    lautet 
SdUrlöund  (Hollen),  der  Saterländer  heisst  Seiter,  saterländisch  seltersch. 


1)  Diöcesan-  und  Gaugrenzen  Norddeutschlands  II.  Bd.  Halle  1874.  S.  7. 

2)  D.  Meyer,  Mitteilungen  des  histor.  Vereins  zu  Osnabrück  III,  272. 


244  Siebs: 

Die  Erklärung  dieses  Namens  ist  für  uns  von  höchster  Bedeutung. 
Der  Sprachkundige  sieht  sogleich,  dass  der  älteren  Form  das  g  und  l  zuzu- 
sprechen sind,  und  dass  in  dem  e  nicht  ein  altes  e  (das  würde  heute  e' 
lauten),  sondern  ein  Kontraktionsprodukt  zu  sehen  ist.  Die  ältere  heimische 
Form  muss  Ssgelterlönd  geheisseu  haben,  und  die  ist  ja  auch  urkundlich 
mehrfach  bezeugt.  Im  Landesarchiv  zu  Ramsloh,  das  1812  von  den 
Franzosen  versteigert  ward,  befand  sich  ein  metallener  Siegelstempel  mit 
dem  Bildnisse  Karls  des  Grossen  und  der  Umschrift  „S.  Parochianorum  in 
Sagelte",  und  das  Ramsloher  Kirchensiegel  (Nieberding  a.  a.  0.  448)  zeigte 
einen  sitzenden  Heiligen  mit  der  Umschrift  „St.  Jacobus  patronus  in  Sagelten"- . 
Weil  mm  Scharrel  die  Apostel  Petrus  und  Paulus,  Strücklingen  den  heiligen 
Georg,  Ramsloh  aber  den  Jakobus  zum  Schutzheiligen  hatte,  folgert  Richt- 
hofen  (Uss.II,  1303),  Sagelle  müsse  der  ältere  Name  für  Ramsloh  gewesen  sein. 
Das  ist  aber  ungerechtfertigt.  Wir  kennen  den  Namen  Ramsloh  aus  fast 
ebenso  früher  Zeit  als  den  des  Saterlandes  (curetus  in  Rameslo  Urk.  9.  Juni 
1459);  die  Ramsloher  Kirche  ist  älter  als  die  der  übrigen  Dörfer  (s.u.)  und 
war  gewiss  einmal  die  einzige  des  Landes;  und  anstatt  den  durch  gar  keine 
Gründe  zu  stützenden  Namenswechsel  des  Dorfes  anzunehmen,  ist  es  weit 
einfacher,  das  „Sagelte"  auf  dem  —  gewiss  nicht  alten  —  Siegel  als  eine 
Abstraktion  aus  dem  Yolksnameu  aufzufassen ,  welche  die  politische 
Zusammengehörigkeit  der  Dörfer  bezeichnen  sollte.  Wie  ist  nun  dieser 
Volksname  etymologisch  zu  deuten  und  was  lehrt  er  von  der  Herkunft 
des  Volkes?  Die  üblichen  Erklärungen1)  sind  unhaltbar.  Man  muss  sich 
der  Form  Saghehland  (1457)  erinnern  und  an  das  nicht  allzu  fern  am 
Hümmling  gelegene  Söget  anknüpfen,  welches  auch  als  Sagel  erscheint. 
Wir  finden  in  Urk.  1459  Abel  von  Sagel,  1394  Ludike  van  Sagelen;  daneben 
in  der  gleichen  Urk.  von  Zogelen,  to  Sogelen  und  in  Sogele  1394,  Soeghel 
1457,  Zoghel  1460,  Sogell  1462,  Soegell  1496;  die  älteste  Form  ist  Sugila 
(Registrum  Sarachonis),  ferner  Sugele  im  13.  Jahrh.2).  Sie  ist  entstanden 
aus  mnd.  suge,  zöge  (ags.  sugu)  „Sau"  und  ld  (mnd.  loh,  lö~,  got.  lauhs) 
„Wald",  bezeichnet  also  das  Gehölz,  in  dem  die  Schweine  weideten.  Nur 
aus  dieser  w-Form  lassen  sich  lautgesetzlich  die  niederdeutschen  Namen 
Sogel,  Sagele  uud  späteres  Sögel  (vgl.  mnd.  kogel,  koggel,  kagel,  kögel  =  ahd. 


1)  Au  Ableitung  von  afrs.  säth  Sumpf  oder  von  sätha  Soden  ist,  ganz  abgesehen  von 
sachlichen  Gründen,  der  Lautverhältnisse  halber  nicht  zu  denken;  ebenso  wenig  an  eine 
Beziehung  zur  Saterkirche  in  Lastrup,  wo  nach  unglaublichem  Berichte  die  Saterländer 
eingepfarrt  gewesen  und  wohin  sie  schon  am  Saterdag  zum  Gottesdienste  gewandert  wären. 
—  So  vergleiche  ich  auch  nicht  den  Namen  eines  in  AVestfalen  (1*1-1;.  26.  März  1248)  ge- 
nannten Hermannus  de  Saterslo.  —  Vgl.  Minssen,  Frs.  Arch.  II,  139. 

2)  Der  Name  ist  keinesfalls  durch  Metathese  aus  *Sigula  'Segele  zu  erklären  und 
mit  den  vielen  Ortsnamen  zu  vergleichen,  die  Segel-  Siyel-  in  ihrem  ersten  Teile  zeigen 
(Seegel,  Sieqelsdorf,  Seegelsbüll  vgl.  segel  aigel  „Geschwulst,  Beule,  d.  h.  woraus  das  Wasser 
abläuft"  Schmeller  III,  209),  denn  auch  sonst  erscheint  der  Name  Sögein,  z.  B.  zweimal  im 
Norden  von  Bramsche. 


Das  Saterland.  245 

kugela  Mütze)   erklären.     Sugile  war  Hauptort  einer  comitia,    welche  man 
die  Grafschaft  der  Sögeier  oder  (mit  dem  allgemein  üblichen  Einsehub  des 
unorganischen   t   zwischen   l    und   der  Endung   -re,    -ere)    Sögeiter    nannte. 
Nom.  Sugü(e}re  bedeutet  „der  Sögeier";  in  frs.  Form  würde  (mit  Umlaut, 
vgl.    knepel   Knüppel)    der  Gen.  Plur.    *Segil-t-ra   *Sigil-t-ra   lauten.     Der 
Name  dieser  Sögeiter  Grafschaft  ist  urkundlich  belegt.    1238  bestimmt  Graf 
Otto  von  Tecklenburg  die  Morgengabe  für  seinen  Sohn  Heinrich  und  Jutta, 
die  Tochter  des  Grafen  Otto  von  Ravensberg:  „assignabinms  filio  nostro  . . . 
Curiam   Oyte  ....    Item  comitiam  Sygeltra  .  .  ."     In  einer  Urkunde  vom 
18.  Juni  1252  werden  der  Hof  Oythe  und  die  Grafschaft  Sögel  von  "Walram 
von  Montjoie,  seiner  Frau  Jutta  und  deren  Mutter  Sophia,  Witwe  des  Grafen 
Otto  von  Ravensburg,  dem  Bischof  Otto  II.  und  Stift  Münster  übertragen: 
^Proprietäten  Oytlie   cum  suis  pertinentiis ,    cometiam  Sigheltra  et  alia".    — 
Wir  haben  durch  diese  Erörterungen  erwiesen:  1)  dass  die  Sögeier  um  1250 
Segeiter  bezw.  Sigelter  genannt  wurden;  2)  dass  um  1400  die  Vorfahren  der 
heutigen  Saterländer    in   engerer  politischer  Beziehung  zu  den  friesischen 
Landschaften  standen  und  ihr  Land  Segelterlönd  nannten.    Halten  wir  dazu 
die  Thatsache,    dass  ihre  Sprache  mindestens  bis  um  1200  eine  der  ems- 
friesischen  gleiche  Entwicklung  durchgemacht  hat,  so  dürfen  wir  den  Schluss 
ziehen,    dass  Ostfriesen   zwischen   1200  und  1400  einen  —  vielleicht 
schwach  bevölkerten  -  -  Teil  des  Sögelter  Landes  besiedelt  und  mit 
dem  ihnen  geläufigen  Namen  Segelterlönd  bezeichnet  haben.    Sie  scheinen 
sich  hinsichtlich  der  Kulturverhältuisse  den  —  vermutlich  westfälischen  — 
Bewohnern  in  mancher  Beziehung  angeschlossen,  dieselben  aber  allmählich 
resorbiert  zu  haben. 

Die  Kunde  von  der  Einwanderung  ist  in  der  Sage  "bewahrt.  Hoche 
erzählt,  die  Saterländer  sollten  aus  Burtange  gekommen  sein,  und  auch 
die  mehrfachen  Beziehungen  zum  Hüminling,  die  von  Strackerjan  in  den 
Sagen  (H,  224)  gemeldet  werden,  weisen  auf  die  Herkunft  aus  Westfalen 
hin.     Anders  habe  ich  die  Überlieferung  erzählen  hören: 

„Dö  aide  Ijüdi  hebe"  kweden,  der  wlren  tre'1  üt  Westfre'slöund  für  kernen, 
nemlich  Karkhof,  Blök  un  Aw'ik,  un  du  schein  sik  in  Strükelje,  Römelse  un 
Schedel  set't  hebe,  un  fon  dö  tre'  schel  gdns  Selterlu"nd  ütsprüted  uwze1)." 

Hierin  ist  bewahrt,  dass  die  Besiedlung  durch  Friesen  geschehen  sei; 
die  Variation,  dass  es  Westfriesen  gewesen  seien,  konnte  sich  leicht,  ja 
sie  musste  sich  ergeben,  sobald  man  im  Gegensatze  zum  Plattdeutschen  der 
jetzigen  Ostfriesen  das  West  friesische  als  eine  dem  Saterländischen  nahe 
verwandte  Sprache  kennen  lernte.  Die  drei  genannten  Familien  gelten 
noch  heute  als  die  ältesten,  aber  sicherlich  sind  sie  nicht  friesisch,  denn 
einmal    sind    sie  die   einzigen,    welche  in  ganz  unfriesischer  Weise  einen 


1)  .Die  alten  Leute  haben  gesagt,  da  wären  drei  aus  Westfriesland  gekommen, 
nämlich  Karkhof,  Block  und  Awik,  und  die  sollen  sich  in  Strückliugen,  Ramsloh  und 
Scharrel  gesetzt  haben,  und  von  deu  dreien  soll  ganz  Saterland  entsprossen  sein." 


246  Siebs: 

Stamnmamen  führten  (s.  unten  bei  Behandlung  der  Eigennamen),  und  dann 
sind  die  Namensformen  so  unfriesiseh  und  so  plattdeutsch  wie  möglich 
(vor  allem  Karkhof  vgl.  stl.  serke  Kirche).  Die  ganze  Sache  ist  aber  leicht 
erklärlich.  Die  drei  Familien  sind  westfälisch,  sie  galten  mit  Eecht  als 
die  ältesten  und  waren  vielleicht  schon  vor  der  friesischen  Besiedlung  dort 
ansässig.  Mit  dieser  Tradition  verband  sich  im  Laufe  der  Zeit  sagenhaft 
die  Nachricht  von  der  Einwanderung,  und  es  ergaben  sich,  nachdem  die 
Friesen  das  Übergewicht  gewonnen,  zwei  Versionen.  Entweder  man  kom- 
binierte so:  jene  drei  Familien  sind  die  ältesten  im  Lande,  die  Saterländer 
stammen  aus  Friesland,  ergo  sind  jene  drei  Familien  die  friesischen  An- 
siedler; oder  man  schloss:  jene  drei  ältesten  Familien  stammen  aus  West- 
falen, die  Saterländer  sind  Ansiedler,  ergo  sind  die  Saterländer  aus  West- 
falen eingewandert.  Wir  dürfen  hierin  ein  interessantes  und  klares  Beispiel 
der  Sagenvariation  sehen. 

Schon  frühe  urkundliche  Beweise  haben  wir  dafür,  dass  Friesen  im 
Saterlande  wohnten.  In  Urk.  von  1400  überträgt  Graf  Claus  von  Tecklen- 
burg  dem  Bischof  von  Münster  .„alle  herlicheit,  alle  vrye  und  eygene  gude  .... 
in  den  Kerspelen  van  Oyte,  van  Cropendorpe,  va7i  Lastoipe,  van  Essene,  van 
Lonynghen,  van  Lynherden,  van  Molbergen,  an  den  Waterstrome,  an  Sagelter- 

lande,    an  den  Scharlevresen "     Hier  werden  also   die  Friesen   in 

Scharrel  den  anderen  Saterländern  gegenübergestellt:  daraus  schliesse  ich, 
dass  entweder  Scharrel  zur  Zeit  der  friesischen  Besiedlung  noch  un- 
bewohnt war  und  deshalb  nachher  im  Gegensatze  zu  den  übrigen  Dörfern 
eine  rein  friesische  Bevölkerung  zeigte,  oder  dass  damals  der  Name 
Scharrel  noch  nicht  als  Ortsname  empfunden,  sondern,  wie  öfter  in  den 
benachbarten  niederdeutschen  Gegenden,  als  Appellativum  gebraucht  ward. 
Stl.  sehedel  ist  Diminutiv  von  scheid  (Hollen)  sch<7d  (Scharrel)  =  afrs.  skerd 
Neutr.  „Scharte,  Grenze".  Viel  später  haben  die  Saterländer  die  ndd.  Form 
„Scharrel"'  an  die  gefälschten  Privilegien  und  Freiheiten  geknüpft,  die  Karl 
der  Grosse  den  Friesen  verliehen  haben  sollte,  und  sich  Charlefrije  Freesen 
genannt.  So  schreiben  sie  in  einer  Deduktion  ihrer  Freiheit  au  das  Dom- 
kapitel zu  Münster,  das  ihnen  eine  neue  Landfolge  aufdringen  wollte,  um 
1700:  „weswegen  wir  Supplikanten  Saijterländer  mehrerer  Fueg  und  Ursach 
haben,  von  söhlcen  jure  sequelae  exempt  zu  sein,  gestalt  das  wir  oder  vielmehr 
unser,*  Saijterlandt  annoch  zu  der  Grafseitaft  Teekienburg  gehörig  gewesen, 
nach  Ahnleitung  admneti  uiult  dahbeij  sub  No.  2  erfindtliches  E.rtractus  des 
uhralten  Tecklenburgisclieyi  in  der  Archive  dahselbsten  obhandenen  Legerbuches 
jederzeit  für  Charit-  frije  Fresen  gehalten  ..."  „.  . .  .  dasz  uhraltes  archivium 
Teckknbuniicum  dahrthuet,  dasz  wir  für  Charte  freye  Freesen  von  mehr 
dun  dreij  hundert  Jahren  gehalten  .  ."  Und  dann  folgen  jene  Extractus 
(Hettema  a.  a.  0.  S.  312  ff.),  in  denen  es  heisst:  „.  .  .  alte  Protocolla,  Vor- 
zeigung und  Register  Saderlandt  und  dasige  Ohrter  betreffend  wiederum  fleissig 
nachgeschlagen   und    befindet   sich    dieses  und  nicht  anders  darein  alsz  alszo: 


Das  Saterland.  247 

die  Charles  freije  Freesen  im  Saderlandt  am  Grafenschatz  4XI3  Tonne 
Botter".  Dieser  Name  erst  scheint  zur  Aufnahme  des  Bildes  Karls  des 
Grossen  in  das  Wappen  geführt  zu  haben,  und  gerade  darum  ist  die  oben 
mitgeteilte  Ansicht  Richthofens,  dass  unter  Sagelten  die  Scharreier  nicht 
einbegriffen  seien,  höchst  unwahrscheinlich.  Der  Verknüpfung  mit  dem 
Namen  Scharrel  wird  es  auch  zu  danken  sein,  dass  die  Gestalt  Karls  in 
der  Sage  bewahrt  ist;  gerade  in  Scharrel  ist  das  der  Fall.  Dort  erzählte 
mir  „der  alte  Grip": 

„In  det  Lörjholter  mer  twischen  dm  Ämzegöö  un  Fängöö  der  iz  det  seh,  </, 
dir  schel  noch  en  ste'n  anstände,  der  schel  det  wrlpen  noch  öpstönde  fon  Karel 
der  Grase.  Nu  gwjt  det  sched  fon  derüt  det  ölde  jap  eter  bet  tö  de  rode  ride, 
un  dan  gutjt  et  fon  de  rode  ride  eter  Seiter  pol,"  d.  h.  die  Grenze  geht  dem 
alten  Tief  nach  bis  zur  roten  Riede  und  von  da  bis  zum  Sater  Meer. 

Damit  ist  wohl  die  alte  Grenze  zwischen  Emsigö  und  Fenkigö  be- 
zeichnet; für  eine  infolge  der  vielen  späteren  Grenzstreitigkeiten  gemachte 
Erfindung  möchte  ich  es  nicht  halten. 

Dass  Friesen  ihr  Heimatland  verlassen  und  fremde  Gegenden  besiedelt 
haben,  dafür  giebt  es  viele  Beweise  —  man  denke  an  die  Kolonisation 
Nordfrieslands,  des  Wurster  und  des  Stedinger  Landes.  Anlass  zur  Aus- 
wanderung haben  wohl  meistens  die  grossen  Fluten  gegeben,  die  den 
Küstenbewohnern  ihr  Land  raubten.  Und  so  ist  sehr  wohl  möglich,  dass 
die,  welche  der  Einbruch  des  Dollart  im  Jahre  1277  heimatlos  gemacht 
hatte,  die  Ems  aufwärts  fahrend,  sich  neue  Wohnsitze  gesucht  haben. 
Auffällig  bleibt  allerdings,  dass  sie  gegen  das  fette  Marschland  unfrucht- 
bare Sandstrecken  eingetauscht  haben  sollten;  aber  ihnen  war  dort  ein 
engerer  Zusammenhang  mit  der  alten  Heimat  ermöglicht,  Auch  kennen 
wir  andere  Fälle,  wo  Friesen  auf  der  Geest  im  Binneiilande  Nieder- 
lassungen   gegründet    haben    und    zwar   auf  westfälischem  Boden1).     Dass 


1)  Ich  begnüge  mich  mit  urkundlichen  Angaben;  andere  Beweise  gedenke  ich  später 
einmal  mitzuteilen.  Zeugnis  für  die  Ansässigkeit  von  Priesen  in  den  Moorgegenden  des 
Dümmer  Sees  ist  eine  von  Otto  von  Braunschweig  1318  ausgestellte  Urkunde:  „nos  con- 
tulimus  nobili  viro  domino  Rodolfo  de  Depltolte  bona  et  praedia  infrascripta  ad  pheodum 
nostrum  speetantia  videlicet  comitiam  Wisch frisonum  et  advocatiam  duarum  turtum  sitarum 
in  Drebbere  .  .  .  Item  bona  in  üaldum  in  paroehia  Dilingen."  Mit  den  hier  vereinzelt  er- 
scheinenden Wischfriesen  können  nicht  etwa  Friesen  in  ter  Wisch  an  der  Euitenaa  gemeint 
sein,  denn  diese  können  nicht  zu  Braunschweig  gehört  haben:  auch  spricht  die  Zusammen- 
stellung mit  Drebbere  und  Diliugen  dagegen  —  In  Westerwald  wird  Mitte  des  12.  Jahr- 
hunderts Vreseherilo  (Loo  1306,  heute  Vriescheloo)  erwähnt.  —  In  einer  Urk.  von  1238  wird 
in  der  Gegend  von  Meppen  „Vrysenberg  (et  Frysiam  et  omnia  hiis  atlinentia)"  erwähnt. 
—  1226  heisst  es  in  eiuem  Teilungsvertrage  zwischen  den  Brüdern  Otto  und  Ludwig 
Grafen  von  Raveusberg:  „omnes  Uli  Frysones,  gui  manserint  in  cometiis  eoinitis  Lodewiei,  Mos 
habebit,  reliquos  omnes  habebit  comes  Otto,  gui  venerint  de  sua  Frisia  ab  alia  parte." 
Friesische  Ansiedlungen  in  der  Gegend  von  Beckum  zwischen  Liesborn  und  Lippe  werden 
durch  eine  Urkunde  1276  wahrscheinlich  gemacht:  „agri  et  silvae  ab  orientali  via  exteriori 
quae  vulgo  dicitur  Vresenewech  versus  plagam  oeeidentakm  libere  relinquentur  ecclesiae 
Lesbernensi  et   silvae  ex  ea  parte  praedietae  viae  quae  dicitur  Vresenewech  versus  plagam 


248  Siebs : 

gerade  der  grosse  Einbruch  des  Dollart  vom  Jahre  1277  zur  Besiedlung 
des  Saterlandes  Anlass  gegebeii  habe ,  lässt  sich  deswegen  nicht  mit 
Sicherheit  behaupten,  weil  schon  für  die  Mitte  des  13.  Jahrhuuders  eben 
im  Emsgebiete  friesische  Siedlungen  nachweisbar  sind.  Man  darf  nicht 
vergessen,  dass  auch  zu  Anfang  des  13.  Jahrhunderts,  namentlich  in  den 
Jahren  von  1218  bis  1221  furchtbare  Sturmfluten  das  ostfriesische  Küsten- 
land verheert  haben. 

III.    Recht  und  Verfassung;  kurze  geschichtliche  Angaben. 

Aus  den  oben  mitgeteilten  Urkunden  ist  zu  entnehmen,  dass  die 
comitia  Sigheltra,  die  um  1238  im  Besitze  des  Grafen  von  Tecklenburg 
war,  1252  nebst  der  curia  Oythe  an  das  Bistum  Münster  verkauft  ward; 
späterhin  aber  ward  diese  Übertragung  für  ungiltig  erklärt,  und  jene  Be- 
sitzungen blieben  bei  Tecklenburg.  Ob  und  inwieweit  auch  das  Gebiet 
des  heutigen  Saterlandes  dieser  Oberherrschaft  untergeben  war,  ob  und 
inwieweit  die  Tempelherren,  denen  Bokelesch  gehörte,  und  nach  1312  die 
Johanniter  eine  Schirmherrschaft  ausübten,  ist  nicht  zu  sagen;  sicher  ist 
nur,  dass  es  kurz  vor  1400  dem  Grafen  Nikolaus  von  Tecklenburg  eigen 
war  und  dass  dieser,  nachdem  er  1393  von  den  Bistümern  und  Städten 
Münster  und  Osnabrück  besiegt  worden,  alle  seine  Besitzungen  im  Amte 
Cloppenburg  und  im  Emslande  1400  au  das  Bistum  Münster  abtreten 
musste.  darunter  va?i  Sayelterlande  und  an  den  Scharlevresen"  (siehe  oben 
S.  246).  Und  münsterisch  blieb  das  Saterlaud  bis  zum  Jahre  1803. 
Von  seiner  älteren  Geschichte  ist  uns  wenig  bekannt.  Vielleicht  hat  es 
unter  deu  Fehden  der  Bischöfe  von  Münster  mit  den  Ostfriesen  und  mit 
den  Grafen  von  Oldenburg  manches  zu  leiden  gehabt.  Ubbo  Emmius 
(Hist.  Fris.  decas  JJI  S.  401)  sagt:  „Nee  morati  Frisü.  ne  quid  inultum 
relinquant,  in  Sayeltanos,  qui  ad  Ledam  palustri  in  solo  habitabant,  Frisici 
quidem  yeneris,  sed  a  plurimis  jam  afinis  episcopo  Monasteriensi  facta  a  suis 
secessione  parentes,  hostilifer  ineurrunt  atque  omnem  eorum  ayrum  nemine  pro- 
fitiere auso  urendo  et.  populando  quam  maxime  vastuni  faciunt."  Lrkund- 
liches  ist  uns  über  diesen  Eiufall  der  Ostfriesen  im  Jahre  1493  nicht 
überliefert.  Abgesehen  davon,  dass  die  Saterländer  von  Zeit  zu  Zeit 
Mannschaften  zu  den  münsterischen  Truppen  stellen  mussten,  scheinen  sie 
von  den  Fehden  und  Raubzügen,  die  im  15.  und  16.  Jahrhundert  die 
Amter  des  Münsterlandes  hart  betrafen,  wenig  gemerkt  zu  haben:  durch 
ibre  Lage  waren  sie  geschützt.  Schwer  aber  hatten  sie  im  dreissigj ährigen 
Kriege  zu  leiden,  denn  im  Winter  1622/23  zog  Graf  Mansfeld  mit  seinen 
Scharen  raubend  und  plündernd  auf  den  gefrorenen  Moorwegen  durch  das 


orientahm     tarn     civibus     Lippensibus    uuam    ecclesiae     Lesbernensi    ad    pascua     communia 
relinguentw." 


Das  Saterland.  249 

Saterland  nach  Ostfriesland.  Bis  auf  den  heutigen  Tag  lebt  der  gefürchtete 
Name  der  Mansfelder  im  Munde  des  Volkes.  Im  Jahre  1672  hatte  das 
Land  einen  Raubzug  der  holländischen  Besatzung  von  Burtange  zu  er- 
dulden. Im  siebenjährigen  Kriege  blieb  es  verschont,  nur  musste  es  zu 
den  Kontributionen  beitragen,  die  vom  Münsterlande  zu  leisten  waren. 
Volle  vier  Jahrhunderte  hatte  es  die  Schicksale  des  Bistums  geteilt;  als 
dieses  im  Jahre  1803  seiner  Selbständigkeit  verlustig  ging,  ward  das  Sater- 
land mit  anderen  Gebieten  im  Reichsdeputationshauptschluss  dem  Herzog- 
tume  Oldenburg  als  Entschädigung  für  den  aufzuhebenden  Weserzoll  zu- 
geteilt. Mit  Oldenburg  ward  es  durch  das  Senatskonsult  vom  13.  Dezbr. 
1810  dem  französischen  Kaiserreiche  einverleibt,  nacli  Befreiung  Deutsch- 
lands von  der  Fremdherrschaft  aber  an  Oldenburg  zurückgegeben. 

Wenn  auch  das  Land  von  Kriegen,  die  das  Nachbargebiet  betrafen, 
manchmal  verschont  geblieben  ist,  so  hat  es  doch  immer  viel  Kampf  und 
Streit  gegeben.  Namentlich  die  Scharreier  lagen  oft  mit  den  Lorupern 
und  mit  den  Bewohnern  von  Wrees  und  Werelte  am  Ilümmling  in  Grenz- 
fehden, die  zu  langen  Verhandlungen  mit  der  bischöflichen  Regierung 
führten.  Die  waren  überhaupt  nichts  Ungewohntes,  vielmehr  ist  die  ganze 
Geschichte  des  Ländchens  eine  Kette  von  Protestationen  gegen  die  Mass- 
regeln  der  Oberherrschaft.  Die  Saterländer  beriefen  sich  stets  auf  ihre 
Verfassung  des  freien  Dorfes,  die  ihnen  wohl  damals,  als  die  Friesen 
das  Land  besiedelten,  nach  dem  Muster  anderer  Dörfer  zugestanden  war. 
Die  Grafen  von  Tecklenburg  scheinen  eine  Art  Schirmherrschaft  geübt  zu 
haben,  während  die  drei  Dörfer  als  eine  einzige  Dorfmarkgenossenschaft 
ihre  genossenschaftlichen  Beamten  beibehielten.  So  blieb  es  auch  lange 
Zeit,  nachdem  das  Land  an  einen  geistlichen  Grundherrn,  den  Bischof  von 
Münster,  abgetreten  war.  Dem  Dorfregimente  lag  es  ob,  die  Angelegen- 
heiten der  ungeteilten  Mark  -  -  vor  allem  des  Moores  —  mit  den  ver- 
schiedenen Nutzungsrechten  zu  verwalten  und  die  Feld-,  Gewerbs-  und 
Ortspolizei  auszuüben;  ferner  stand  bei  ihm  die  Rechtspflege  und  die  Ver- 
tretung nach  aussen.  Dieses  Dorfregiment  ward  von  den  vollberechtigten 
Dorfmarkgenossen  gebildet,  d.  h.  von  den  Inhabern  eines  eigenen  Herdes. 
Sie  kamen  alljährlich  am  Fasnachts- Dienstag  (s.  Gebräuche  V)  auf  dem 
Kirchhofe  in  Ramsloh  zusammen  und  wählten  dort,  auf  zwei  Jahre  zu- 
nächst, die  zwölf  Burgemeister  (burgemestere) ,  für  jedes  Kirchspiel  vier. 
Von  denen  mussten  nach  Jahresfrist  sechs,  durften  jedoch  alle  abdanken. 
Sie  wurden  in  der  Regel  „die  Zwölfe"  genannt.  Interessant  ist,  dass  Hoche 
(a.  a.  0.  S.  165)  hierfür  den  Namen  „Äsen"  angiebt.  Wir  dürfen  dabei 
keineswegs  an  ein  Missverstehen  des  afrs.  Wortes  attha  „Geschworener" 
denken,    sondern  wir  können  an  afrs.  Cisega  anknüpfen1).     Sodann  gab  es 


1)    Herr  Professor  Heck  in  Halle   hat   die  Güte  gehabt,   mich  gesprächsweise  auf 
diesen  Zusammenhang  aufmerksam  zu  machen.  Derselbe  hat  darum  garnichts  Befremdliches, 


250  S'ebs: 

sechs  schutemestere,  welche  das  Amt  der  Feldhüter  und  zugleich  das  der 
Eichmeister  (fkernestere)  bekleideten.  Sie  waren  untergeordnete  Gemeinde- 
beamte; ihren  Namen  verdankten  sie  der  Obliegenheit,  das  Vieh  zu 
„schütten",  d.  h.  pfänden  (ags.  scyttan,  afrs.  sketta,  mnd.  schütten).  In  einem 
jetzt  auf  dem  grossherzoglichen  Archive  zu  Oldenburg  befindlichen  Kechts- 
buche,  das  am  24.  Januar  1587  von  den  Eingesessenen  des  Saterlandes 
vereinbart  und  dort  aufgezeichnet  ist,  sind  „Ordnung  oder  articulen  für 
Schuttemeisters  up  das  Saterland  nach  ehren  uhralten  gebrueck  und  gerechtig- 
keiten"  niedergelegt.  In  diesem  „Sagterlandes  Gerecht"  wird  den 
Schüttemeistern  zur  Pflicht  gemacht,  die  Masse  und  Gewichte  zu  bewahren, 
darnach  zu  eichen  und  durch  eine  zeitweilige  Revision  (wröge)  dafür  zu 
sorgen,  dass  im  Lande  weder  von  Auswärtigen  noch  von  Einheimischen 
nach  anderem  Masse  und  Gewichte  verkauft  werde.  Sie  haben  ferner  auf 
die  Einschätzung  und  auf  die  Abgaben  zu  achten;  drei-  oder  viermal  im 
Jahre  Umgang  zu  halten,  ob  ein  jeder  mit  der  nötigen  Bewaffnung  ver- 
sehen ist;  zu  sorgen,  dass  an  Sonn-  und  Feiertagen  während  der  Predigt 
kein  Bier  verzapft  werde;  die  Bierpreise  nach  dem  Preise  von  Gerste, 
Malz  und  Hopfen  zu  bestimmen  (die  Preise  der  übrigen  Lebensmittel 
wurden  nach  Witten,  d.  h.  Weisspfennigen  auf  Grund  der  jeweiligen  zu 
Leer  geltenden  Preise  festgestellt).  Die  Brüche  (brelce)  für  Zuwider- 
handlungen bestand  in  der  Lieferung  von  Bier,  das  die  Leute  im  eigenen 
Hause  zu  brauen  pflegten.  Die  Masse  und  Gewichte,  nach  denen  die 
Schüttemeister  eichten,  wurden  zusammen  mit  dem  Archiv  in  der  Rams- 
loher  Kirche  aufbewahrt.  Sie  befanden  sich  in  der  hölzernen  löndkiste,  die 
mit  drei  Hängeschlössern  versehen  war;  zu  je  einem  derselben  hatten  die 
vier  Burgemeister  jedes  Kirchspiels  gemeinschaftlich  einen  Schlüssel,  so 
dass  die  Kiste  nur  in  Gegenwart  von  Vertretern  aller  Gemeinden  geöffnet 
werden  konnte.  Die  Masse  und  Gewichte  (dö  niete  un  dö  wechten),  die  nur 
auf  kurze  Zeit  beim  Umgang  der  Wroge  entnommen  werden  durften,  waren 
schepel  (Scheffel),  fiödep  (d.  i.  plattd.  ferup,  wohl  =  fiöde  höp  „der  vierte 
Haufen"  =  74  Tonne),    krüs  (Kanne,   eig.   „Krause"),    rnenel  (72  Kanne), 


weil   das  Wort    äsega   durch  Urkunden,    die    das   Jeverland   betreffen,   bis   zur  Mitte  des 
15.  Jahrhunderts   bezeugt   ist.    Prof.  Heck  hat  mir  in  gütigster  Weise  Einsicht  in  bisher 
noch  ungedruckte  Urkunden  gestattet,  die  er  dem  grossherzogl.  Archiv  zu  Oldenburg  ent- 
liehen hatte  —  ich  spreche  ihm  hierfür  sowi.'  für  viele  wertvolle  Bemerkungen  zu  diesem 
Kapitel  meinen  herzlichen  Dank  aus.     Es  finden  sich  folgende  höchst  lehrreiche  Stellen: 
29  Aug.  1348    Hayo  Harles  und  Lubbe  Onneken  verpflichten  sich  zum  Schutze  der 
alten  Freiheiten  und  Rechte.     Sie  wollen  richten  „na  lüde  des  laut  rechtes 
Wide  azeye  hohen."    In  demselben  Jahre:  „antworden  na  asigheioke  muh' 
lantrechte* .    Vgl.  Schiller-Lübben,  Mnd.  Wb.  I,  133. 
13.  Aug.  1439    „so  schalen  se  nemen  to  hulpe  de  aseghe  van  beyden  lande".      Vgl.   asiga 

asge,  asing-,  ose-  mnd.  Wb.  I,  133. 
24.  Juni  1440    erschein!  der  äsega  wir  im  Saterlande  als  „a;e".    Es  heisst   „antworden 
na  lüde  da  a:ebokes  urnle  lantrechtes."     Vgl.   die   Formen  Eichthofen,  Wb. 
S.  608  ff. 


Das  Saterland.  251 

wlten  triächter  (hölzerner  Trichter),  eine  (Elle),  enster  (vgl.  afrs.  ense  Unze; 
sine  Unzenwage  mit  verstellbarem  Gewicht  an  dem  einen  Wagebalken  = 
ldl.  unster).    Ferner  enthielt  die  Landkiste  das  (S.  244)  erwähnte  metallene 
Siegel,  einen  Eichstempel  (jklrzen)  und  das  gesamte  Archiv,  bestehend  aus 
3riefen  und  gerichtlichen  Akten,  aus  den  Rechten  der  Schüttemeister  und 
lein    obengenannten   Sageiter  Landrecht.     Das  Vorhandensein  aller  dieser 
Stücke  ist  noch  durch  eine  Revisionsurkunde  vom  20.  August  1812  bezeugt. 
im  23.  Dezember  desselben  Jahres  aber  wurden  die  Masse  und  Gewichte 
—  während   der  französischen  Okkupation  —  durch  den  damaligen  Make 
leidhaus  auf  Befehl   des  ünterpräfekten  Eisendecher  im  Bezirk  Quaken- 
Driick    versteigert    und    von   Saterländern   für  28  fres.  28  Cents,   angekauft. 
Das   Siegel    ging    verloren.     Das  Schüttemeistersbuch    und   das  Landrecht 
wurden    in    der    Mairie    von  Ramsloh    niedergelegt;    ersteres   kam    später 
»•elegentlich    eines  Prozesses    nach    Oldenburg,    letzteres    kam    ebendahin 
mf  das  Landesarchiv,  doch  ward  eine  Kopie  in  Ramsloh  bewahrt.    Es  ist 
tes  wichtigste  Aktenstück  des  Saterlandes.     Wir  lernen   daraus,    dass  um 
1587    die  Jurisdiktion  noch  in  den  Händen  der  Burgemeister   war.     Die 
Grundlagen  der  Rechtspflege,  die  den  Zwölfen  oblag,  sind  in  18  Artikeln 
ausgesprochen,    deren  Hauptinhalt  folgender  ist:    1.    Die  Parteien  müssen 
zwei   im  Lande   pfahlfeste  Bürgen    stellen  und  sich  zur  Tragung  der  Kosten 
verpflichten  für  den  Fall,    dass  sie  den  Prozess  verlieren;    2.    Acht  Tage  vor 
dem    Termin  ?nüsse7i  die  Zwölfe  von  der  Kanzel  herab  benachrichtigt  werden, 
der  Beklagte  jedoch  durch  den  Kläger;  3.  Der  Kläger  muss  die  Klage  schrift- 
lich einbringen,    und  dem  Kläger  geht,    damit  er  seine  Verteidigung  verfassen 
kann,    eine   Abschrift  zu;    4.    Die  Urteüsfindung  geschieht   am  Sonntage;  den 
Erbgesessenen    des  Landes    wird  das  Erkenntnis  vorgelegt;    es  wird  von  ihnen 
eventuell  untersiegelt  {Gebühr  1  ortrik);    5.    Die  Parteien  verpflichten  sich,  bei 
der  Verhandlung  weder  mit  Worten  noch  thätlich  sich  aneinander  zu  vergreifen, 
bei  Brüche  von  5  Goldgulden  bezw.  Pfändung;    6.  Die  Richter  sind  unverletz- 
lich,   bei  Strafe  von    10  Goldgulden;    7.    Die  Zwölfe  sind  mächtig  des  dritten 
Teiles  der  Landesgerechtigkeit;  8.,  9.  Ausbleiben  eines  Richters  oder  einer  Partei 
bei  der  Verhandlung  ist  strafbar  (echte  Nöte  ausser  Krankheit  werden  nicht 
angeführt);  statt  eines  fehlenden  Richters  kann  aus  dem  betreffenden  Kirchspiele 
ein  Ersatzmann   gewählt  werden;    10.    Die  Zwölfe  müssen  das   Urteil  bis  zur 
Veröffentlichung  geheim   halten,    bei  Strafe  der  Abdankung  und  zwei  Tonnen 
Bieres;    11.    Zur    Veröffentlichung  des  Urteils  muss  jeder  Hauswirt  erscheinen, 
bei  Strafe    einer    Tonne  Bieres    —    die   Hälfte  gehört    in  solchen  Fällen   den 
Zwölfen,  die  Hälfte  dem  Lande  —  bezw.  bei  Pfändung;  wir  haben  hierin,  wie 
mir  Herr  Professor  Heck  gütigst  mitteilte,  wohl  eine  Spur  der  allgemeinen 
Dingpflicht  zu  sehen;  12. — 18.  behandelt  die  allgemeinen  Pflichten  der  Richter 
und  die  Gerichtsgebühren. 

Aus  Recht    und  Verfassung    lassen   sich  nur  wenige  sichere  Schlüsse 
auf   die  Abstammung  der  Saterländer  ziehen.     Wo  wir  Übereinstimmung 


252  Siebs: 

mit  ostfriesischen  Einrichtungen  finden,  ist  direkte  Entlehnung  nicht  immer 
mit  Gewissheit  anzunehmen,  weil  Ostfrieslaud  manche  Institutionen  mit 
Westfalen  und  anderen  sächsischen  Gebieten  gemein  gehabt  hat.  —  Das 
saterländische  Landmass  älterer  Zeit  scheint  westfälisch  zu  sein:  1  Scheffel- 
saat  (schepelsPd)  zu  4  Viertel,  das  fidrdel  zu  4  Ringen  (rir]  ist  hier  „Bezirk", 
d.  h.  dessen  Ertrag;  es  ist  auch  das  Stück  Moores,  auf  dem  ein  „Ring  Torf" 
gestochen  werden  kann,  vgl.  unten  Kap.  VIII).  Die  Münze  ist  der  ost- 
t'riesischen  gleich:  1  ostfrs.  Gulden  (2/3  fl.  holländ.)  =  10  Schäpe  =  20  Stüber 
=  200  Witte  (Weisspfennige);  1  Ortrik  (Örtje)  =  l/4  Stüber;  1  ostfrs.  Daler 
=  V/2  ostfrs.  Gulden;  1  Reichsort  =  l/4  Reichsthaler  =  30  Stüber;  1  Schäp 
=  ll'/9  Pfg.  unserer  heutigen  Reichswährung;  seit  1651  galt  ein  Thaler 
=  27  Schäpe  =  3  Mk.  Im  Saterlande  sowie  in  Friesoythe  war  infolge  des 
Handelsverkehrs  die  Leerer  Münze  in  Gebrauch,  während  in  Münster  und 
Osnabrück  nach  Reichsthalern,  Schillingen  und  Groschen,  in  Oldenburg 
nach  Reichsthalern,  Schillingen,  Stübern,  Groten,  Ortjes  und  Schwären 
gerechnet  ward.  Ebenso  sind  auch  die  Masse  und  Gewichte,  welche  für 
den  saterländischen  Handel  in  Frage  kommen,  aus  Ostfriesland  entlehnt: 
es  heisst  im  Schüttemeistersbuch  „item  alles  nach  Lehrer  mathe  und  gewechte 
wie  allhier  im  Saterlandt  gebriieklich  ist"  u.  s.  w.  Auch  sind  die  erwähnten 
Bezeichnungen  emier  und  fiödep  durchaus  friesische  Formen.  Rein  friesisch 
auch  wäre  der  Name  „Äsen",  den  wir  oben  erklärt  haben;  die  Benennung 
„burgemestere"  für  die  Gemeindevorsteher  aber  scheint  aus  dem  west- 
fälischen Gebiete  zu  stammen:  hier  findet  sie  sich  oft,  während  das  frs. 
burgamastere  allerdings  in  Westfriesland  vorkommt,  im  Ostfrs.  in  älterer 
Zeit  jedoch  nicht  bekannt  ist  (statt  dessen  erscheint  z.  B.  büreddirmon 
Ältermann).  Während  aber  iu  Ostfriesland  das  Amt  unter  den  Herd- 
besitzern jährlich  der  Ordnung  nach  wechselte  *),  wurden  im  Saterlande  die 
Bürgermeister  gewählt,  wie  es  in  Westfalen  Sitte  war.  Durchaus  un- 
friesisch ist  auch  die  Sprachform  „schutemestere"  (ygl.  afrs.  sketta,  skettere), 
ist  aber  in  westfälischen  und  überhaupt  in  niederdeutschen  Gegenden  für 
den  Begriff  „Feldhüter"  bezeugt;  auch  in  Ostfriesland  findet  sich  frei- 
lich das  Amt  der  „Schüttemeister",  doch  hat  es  hier  eine  veränderte  Be- 
deutung2).    Ausserdem    gab    es    noch   die   bfirrhichier  (Bauernrichter  oder 


1)  Ursprünglich  ward  der  äsega  in  Ostfriesland  gewählt,  vgl.  Küre  3  Rechtsqu. 
S.  4  [Heck]. 

2)  Es  sind  hier  die  Aufseher  über  die  „Absperrung"  der  Wasserwerke  (Schottwerke). 
In  den  „Ostfrs.  Mannigfaltigkeiten"  II,  151  heisst  es  „Schüttemeister,  in  den  Städten  auch 
Schütten  Richter,  Schütten  Hoftlinge;  schon  vor  dem  Jahre  15G7  waren  diese  in  Emden 
bekannt,  diese  mussten  die  Aufsicht  über  den  Schiessgraben  führen,  die  Bürger  im  Schiessen 
üben,  Grenzstreitigkeiten  entscheiden,  die  Strassen  rein  halten,  für  Abwässerung  sorgen, 
die  Baupolizei  führen,  Immobilien-Verkäufe  beaufsichtigen,  über  den  Torf-  und  Brennholz- 
Verkauf  Aufsicht  führen,  den  Syl  in  Emden  im  Stande  halten  und  für  Reinlichkeit  der 
Stadtbrunnen  sorgen."  Hier  also  sind  die  Funktionen  der  Grenzwächter  und  Feldhüter 
mit  der  des  Wasserschütters  vereinigt,  und  später  scheint  in  Anknüpfung  an  ostfrs.-plattd. 


Das  Saterland.  253 

Ortsrichter),  denen  aber  keinesfalls,  wie  der  Name  es  vermuten  lässt,  eine 
juristische  Funktion  oblag.  Das  Amt  wechselte  jährlich  unter  den  Haus- 
besitzern, von  denen  je  vier  im  Dorf'e  darauf  zu  achten  hatten,  dass  das 
bürriucht  befolgt  wurde,  d.  h.  dass  die  Bauern  ordnungsmässig  zur  Gemeinde- 
arbeit an  "Wegen  u.  s.  w.  herangezogen  würden  (man  nennt  das  „wl  möHe 
in  de  mente"  wir  müssen  an  die  Gemeindearbeit).  Die  Form  bürrmchter 
ist  gut  friesisch;  weil  uns  aber  jener  Name  im  eigentlichen  Ostfriesland 
nicht  bezeugt1)  ist,  kann  er  möglicherweise  eine  Nachbildung  der  in 
Westfalen  üblichen  Bezeichnung  „burrychteru  sein  (G.  L.  v.  Maurer,  Gesch. 
der  Dorfverfassung  II,  25.  27.  62,  speciell  für  das  Stift  Münster,  vergl. 
D.  Weistümer  III,  27.  28).  —  Endlich  das  „Sigillum  ■parochianorum  in 
Sagelten"-  (s.  oben  S.  244)  wird  von  den  Kirchspielseingesessenen 
geführt,  weist  also  nicht  etwa  auf  die  Einrichtung  der  „Kerkrade"  hin, 
die  je  einer  für  das  Quartier  eines  Kirchspiels  als  Verwaltungsmänner 
gewählt  wurden  und  ein  Kirchensiegel  führten.  —  Fassen  wir  diese 
Erörterungen  kurz  zusammen,  so  ergiebt  sich,  dass  Recht  und  Verfassung 
weder  als  friesischen  noch  als  sächsischen2)  Ursprunges  zu  erweisen  sind, 
vielmehr  stützen  sie  in  allen  Punkten  die  oben  erörterte  Ansicht  von  der 
Mischung  friesischer  und  sächsischer  Einflüsse. 

Es  war  also  die  Verfassung  des  Saterlandes  die  des  freien  Dorfes; 
aber  über  seiner  Regierung  stand  eine  Oberherrschaft:  in  früherer  Zeit 
die  Grafen  von  Tecklenburg,    späterhin    die  Bischöfe  von  Münster.     Die 


schütter  =  Schütze  das  Amt  des  Schützennleisters  hinzugekommen  zu  sein:  vgl.  Minssen, 
Frs.  Areh  II,  191  der  noch  die  jetzt  verschwundene  Form  schetere  (sgettere)  verzeichnet. 
Darnach  Bremer,  Paul-Braunes  Beitr.  XVII,  836. 

1)  Nur  in  Langewold,  Vredewold,  Humsterland  (Ommelande),  also  nicht  in  Fries- 
land östlich  der  Hunse.  Schwerlich  wird  man  das  Gegenteil  aus  einer  Stelle  der  „Ostfrs. 
Mannigfaltigkeiten"  (II,  251)  folgern  können,  wo  es  sehr  ungenau  heisst:  „jede  Gemeinde 
wühlte  jährlich  ihre  Vorsteher,  die  vorzüglich  die  Polizei-  und  Militärsachen  verwalten 
mussten;  sie  Messen  Bauerrichter,  Keddeu,  auch  Schüttemeister.  —  Das  afrs.  ked(d)  plur. 
keddar  kann  keinesfalls,  wie  Richthofen  im  Wörterb.  (vgl.  auch  Bremer,  Paul  Braunes 
Beitr.  17,  321)  behauptete,  mit  kelha  „verkünden"  zusammengestellt  werden;  es  bedeutet 
meines  Erachtens  „Sprecher"  und  weist  auf  einen  germ.  Stamm  *kudja-  zurück,  welcher 
die  Tiefstufe  der  in  afrs.  kwetha  ags.  cweiSan  enthaltenen  Wurzel  repräsentiert.  Hiermit 
ist  wohl  auch  der  in  ags.  Urkk.  überlieferte  Eigenname  Cydda  (germ.  *kudjan-)  zu  ver- 
gleichen. 

2)  In  den  „Mitteilungen  des  histor.  Vereins  zu  Osnabrück"  VI,  197  heisst  es:  „Die 
Saterländer  sind  nach  Sprache,  Bauart,  Lebensweise  und  Rechtsinstituten  den  Friesen  nicht 
zuzuzählen.  In  letzterer  Hinsicht  ist  ein  Bericht  Suurs  (Klöster)  beweisend:  Im  Jahre 
1463  gab  Hermann  ter  Molen,  geschworener  Richter  zu  Oite,  den  Richterstab  in  der  Hand 
haltend,  mit  seinen  Kürgenossen  den  Ausspruch,  dass  einer  der  ältesten  Brüder  des 
ostfrs.  Klosters  Langen  das  von  demselben  in  Anspruch  genommene  Moor  begehen  und 
schwören  solle,  wie  weit  das  Eigentum  des  Klosters  gehe.  Kürgenossen  sind  keine 
friesische,  sondern  eine  echt  westfälische  Einrichtung,  und  daraus  folgt,  dass  das  Gerichts- 
wesen im  Saterlande  sächsisch  war  "  Der  Beweis  mag  an  sich  gelten,  leider  aber  nur  bis 
auf  den  Punkt,  dass  Oyte  nicht  zum  Saterlande  gehört  und  dadurch  die  ganze  Erörterung 
überflüssig  wird. 


254  S>ebs: 

Grafen  scheinen  sich  um  das  Schicksal  des  Ländchens  wenig  gekümmert 
zu  nahen,  wofern  ihnen  nur  die  Abgaben  (stl.  sehet,  ndd.  schatt)  richtig 
eingeliefert  wurden.  In  einer  Cloppenburgischen  „Amtsrenteyrechnung" 
vom  Jahre  1585/86  steht:  „Item  die  semptlichen  Einwohner  des  Sagaterlandes 
geben  Jarlichs  an  Buttern,  welche  ein  Grauenschatz  genannt  wirt,  damit  sie 
Dienst  und  aller  Pacht  gefreiet,  und  dieselbige  zu  Phryßoytha  auf  die  Wage  zu 
lieffern  schuldig  seyn,  nemblich  i1^  Vassu  (=  1350  Pfund).  Jener  Butterschoss, 
der  schon  in  einer  Amtsrenteirechnung  von  1472  kurz  erwähnt  wird,  und 
ebenso  ein  in  späterer  Zeit  (ohne  Jahreszahl)  genannter  Tribut  von  95  ,% 
(d.  h.  Thaler)  pro  Monat  reichen  also  in  das  15.  Jahrhundert  zurück;  ja  der 
Name  „Grauenschatz"  kann  als  Beweis  gelten,  dass  er  schou  der  Tecklen- 
burgischen  Herrschaft  entrichtet  ward.  Hettema  und  Posthumus  (S.  238) 
nennen  ihn  grewerschet,  also  „Gräberschatz".  Das  stl.  greue  war  durch  das 
deutsche  „gräf  verdrängt  worden  und  ward,  zumal  unter  der  bischöflichen 
Oberherrschaft,  nicht  mehr  verstanden;  man  dachte  wohl  an  eine  Abgabe 
für  Torfgräberei  (greyer  der  Torfgräber),  und  die  volksetymologische  Um- 
gestaltung des  Wortes  hat  sich  bis  heute  erhalten.  Mir  ward  auf  meine 
Frage  darnach  die  Antwort:  ,.grey  ersehet  iz  nü  nit  möu  („G.  giebt  es  min  nicht 
mehr").  —  Im  Traktat  von  den  Seelanden  (1417)  heisst  es:  „Segeiterland  iout 
tribuet  ende  schat  den  biscop  fan  Munster".  Vom  Bischof  ward  zur  Erhebung 
dieser  Abgaben  ein  Vogt  eingesetzt,  der  vom  Saterlande  unterhalten  werden 
musste:  ein  solcher  wird  1585  zuerst  genannt.  Späterhin  ward  ihm  die 
Oberaufsicht  über  das  Land,  die  Erhebung  der  Abgaben  aber  einem 
Receptor  übertragen.  Bis  heute  hat  sich  das  Amt  des  Vogts  erhalten,  doch 
umfasst  es  jetzt  nur  die  Verwaltung  der  säkularisierten  Kommeudegüter. 
—  Die  münsterische  Regierung  war  bemüht,  das  Land  nach  Kräften  aus- 
zubeuten und  die  Privilegien  hinwegzuräumen.  Ausser  dem  regelmässigen 
Schoss  wurden  ausserordentliche  Gelder  erhoben,  mit  denen  die  Sater- 
länder  zu  Kriegskontributionen  herangezogen  wurden;  die  wichtigsten  ihrer 
alten  Vorrechte  aber  wurden  genommen  durch  den  Zwang  der  Landfolge 
und  durch  die  Aufhebung  des  eigenen  Gerichtswesens.  Als  freie  Unter- 
tanen hatten  sie  früher  nur  im  Falle  dringender  Gefahr  Beihilfe  zur 
Landesverteidigung  leisten  müssen;  kurz  nach  dem  dreissigjährigen  Kriege 
aber  setzte  der  Bischof  Christoph  Bernhard  eine  geordnete  Landesverteidi- 
gung durch:  in  jeder  Gemeinde  musste  ein  Anführer  erhalten  werden,  der 
die  wehrfähigen  Männer  in  den  Waffen  zu  üben  hatte;  Gewehr  uud  Säbel 
musste  sich  ein  jeder  selbst  beschaffen,  und  ein  Tambour  ward  aus  der 
Gemeindekasse  besoldet.  Solche  Neuerungen  fanden  wenig  Anklang.  In 
Petitionen,  Denkschriften  und  Prozessen  sträubte  man  sich  gegen  diese 
Lasten  und  beanspruchte  Stadtrechte,  gleiches  Recht  mit  dem  benachbarten 
Friesoythe.  Bisweilen  werden  die  ältesten  Einwohner  des  Landes  als 
Zeugen  für  die  alten  Privilegien  vernommen.     Solchen  Prozessen  ist  wohl 


Das  Saterland.  255 

die  Erfinduug  von  Traditionen  wie  „Charles  freie  Friesen"  (s.  o.  S.  246) 
zu  danken,  und  vielleicht  ist  auch  die  Aufstellung-  des  gesamten  Sagt'er- 
laudes  Gerechtes  von  1587  nur  zur  Opposition  gegen  die  von  Münster  be- 
fohlene Änderung  des  Gerichtswesens  geschehen.  Ursprünglich  war  das 
Saterland  einem  Gaugerichte  untergeordnet,  wahrscheinlich  dem  Gogericht 
auf  dem  Hümmling,  welches  schon  1335  erwähnt  wird:  ,.  Wi  Otto  von  Dothe 
hebbet   vorcoft   unde  vorcopet  usse  ghogherichte  uppen  Homelyngcn  mit  al  den 

rechte   de  dat  us  usse  vader  lieft  gheerft deme  Edelen  manne  greue 

Nycolausse  van  Tekeneborgh."  Dieses  Gogericht  scheint  auch  für  die 
Dorfgeriehtsbarkeit  des  Saterlandes  die  höhere  Instanz  gewesen  zu  sein, 
bis  alle  diese  Institutionen  durch  Einführung  der  münsterischen  Hof-  und 
Landgerichtsordnung  im  Jahre  1571  vernichtet  wurden.  Zwar  ist  wohl  die 
Regierung  anfangs  nicht  allzu  streng  vorgegangen,  indem  es  die  in  hohem 
Ansehen  stehenden  Gogeriehte  allmählich  einschlafen  liess  und  bei  dem 
Gerichte  zu  Friesoythe,  das  für  die  Saterläuder  anstatt  des  eigenen  Dorf- 
gerichtes zuständig  ward,  zwei  Schöffen  auf  Lebenszeit  austeilte.  Bald 
aber  war  jede  Spur  der  freien  Gerichtsbarkeit  getilgt;  eine  leise  Erinnerung 
an  das  alte  Gogericht  kann  man  darin  sehen,  dass  sich  noch  zu  Anfang 
des  18.  Jahrhunderts  Raban  Wilhelm  Düvell  (1701  —  1723)  „Richter  in 
Friesoyte  und  Gograf  im  Satirlande"  nennt.  Und  wie  die  freie  Gerichtsbar- 
keit, so  sind  alle  Privilegien  den  Saterländern  im  Laufe  der  Zeiten  ge- 
nommen worden:  Einiges  von  dem,  was  die  münsterische  Regierung  be- 
lassen hatte,  nahm  ihnen  die  oldenburgische  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts; 
durch  das  französische  Kaisertum  wurden  vollends  alle  Freiheiten  hinweg- 
geräumt und  später,  als  die  oldenburgische  Gemeindeordnung  wieder  ein- 
geführt ward,  nicht  restituiert.  Sogar  die  in  so  manchen  Gemeinden  als 
ein  Recht  der  Markgenossen  bewahrte  freie  Jagd  und  Fischerei  ist  auf- 
gehoben; nur  der  Bienenfang  ist  unbehindert.  Alles  in  allem  unterscheidet 
sich  die  Verfassung  des  Saterlandes  heute  nicht  von  derjenigen  der  übrigen 
Gemeinden  des  Grossherzogtums  Oldenburg. 

Von  den  kirchlichen  Verhältnissen  haben  wir  erst  aus  später  Zeit 
genauere  Kunde.  Ob  die  Tempelherren  und  dann  die  Johanniter  zu 
Bokelesch,  deren  alte  Kapelle  noch  erhalten  ist,  in  irgend  welcher  kirch- 
lichen Beziehung  zum  Saterlande  gestanden  haben,  ist  nicht  erwiesen,  jedoch 
ist  es  wahrscheinlich.  Aus  dem  nächstältesten  Bauwerke,  der  Kirche  zu 
Ramsloh,  ist  wenig  zu  erschliessen.  Es  ist  ein  Backsteinbau,  der  wohl 
nicht  über  das  15.  Jahrhundert  zurückreicht.  Die  Westseite  ist  mit  einem 
niedrigen  Turme  geziert,  in  dem  die  Glocken  hängen.  Schmucklos  wie 
das  Äussere  ist  auch  das  Innere  der  Kirche,  das  durch  kleine  Schiess- 
scharten ähnliche  Fenster  nur  matt  erhellt  wird.  Weit  jünger  noch  ist  die 
Kirche  zu  Scharrel;  die  Strücklinger  behelfen  sich  mit  einer  Notkirche. 
Kirchen  und  Friedhöfe  bieten  kein  Interesse.    Die  einzigen  Zeugnisse,  die 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1693.  18 


256  Siebs: 

einen  historischen  Wert  besitzen,  sind  Glockeninschriften1),  welche  einen 
Schluss  auf  die  Erbauungszeit  der  Kirchen  gestatten.  Die  beiden  Momente: 
dass  der  älteste  Kirchenbau  schwerlich  über  das  15.  Jahrhundert  zurück- 
zudatieren ist,  und  dass  die  älteste  Glocke  aus  dem  Jahre  1427  stammt, 
können  unsere  Ergebnisse  betreffs  der  Kolonisation  nur  stützen  (vgl.  S.  244). 
So  sehr  sich  die  Saterländer  manchmal  gegen  die  weltlichen  Regierungs- 
massregeln des  Bistums  gesträubt  haben,  sind  sie  doch  seit  zwei  Jahr- 
hunderten treue  geistliche  Untertanen  gewesen.  Die  kirchliche  Entwicke- 
lung  ist  in  ihrem  regelmässigen  Gange  nur  für  kurze  Zeit  durch  die 
Reformation  unterbrochen  worden.  Von  deren  Bedeutung  gewinnen  wir 
kein  klares  Bild,  da  alle  Berichte  von  parteiischer,  streng  katholischer 
Seite  stammen.  Nieberding  (a.  a.  0.)  erklärt,  dass  die  Bewohner  durch 
rohe  Gewalt  von  den  Mansfeldern  im  Jahre  1623  zum  protestantischen 
Glauben  gezwungen  worden  seien.  Aber  dem  widerspricht  einmal,  dass 
es  doch  nicht  möglich  gewesen  wäre,  dem  Volke  während  des  kurzen 
Durchzuges  der  Truppen  erfolgreich  eine  neue  Religion  aufzuzwingen; 
ferner  ist  erwiesen,  dass  schon  im  16.  Jahrhundert  die  Reformation  be- 
gonnen hatte,  und  dass  1609  Scharrel,  1613  alle  drei  Kirchspiele  einen 
protestantischen  Geistlichen  hatten.  Fanatische  Schilderungen  berichten, 
dass  die  Saterländer  durch  den  Protestantismus  völlig  verroht  waren,  und 
dass  erst  1670  dem  Jesuitenorden  gelungen  war,  die  „semibarbara  Sater- 
landia"  zum  alten  Glauben  zurückzuführen  (Diepenbrock,  Gesch.  des  vor- 
maligen Amtes  Meppen  S.  357  ff.,  364  ff.).  Heute  sind  die  Saterländer  — 
abgesehen  von  den  protestantischen  Besiedlern  der  zu  Strücklingen  gehörigen 
Kanalbau -Kolonieen  --  fast  alle  katholisch2).  Die  Kirche  führt  insofern 
die  Aufsicht  über  das  Schulwesen,  als  dem  Pfarrer  die  Inspektion  über 
die  Schulen  seiner  Gemeinde  zusteht;  die  nächsthöhere  Behörde  ist  der 
Kreisschulinspektor  in  Vechta.     Bei  dieser  engen  Verbindung  von  Kirche 


1)  Auf  der  grossen  Glocke  in  Scharrel  steht  geschrieben:  „Mater  mea,  cui  nomen 
erat  „Jesus,  Maria,  Lucas,  Marcus,  Matthaeus,  Johannes,  Gott*  nata  est  anno  1427  et  mortua 
1843,  in  quo  anno  ego  Petronika  Paulina  nata  sunt  sub  pastore  Oldenburg."  Die  alte  In- 
schrift der  „mater'  wird  (so  meint  auch  Minssen  in  schriftlicher  Mitteilung)  gelautet  haben 
„goten  1427",  und  das  ist  vom  Giesser  der  neuen  Glocke  missverstanden  und  durch  „gott" 
wiedergegeben  worden.  Wir  dürfen  nach  jenen  Worten  vermuten,  dass  Scharrel  erst  zu 
Anfang  des  15.  Jahrhunderts  ein  selbständiges  Kirchspiel  geworden  ist.  Die  Umschrift  der 
alten  Strücklinger  Glocke,  welche  jetzt  geborsten  im  Turme  liegt,  lehrt  uns,  dass  das 
Kirchspiel  im  16.  Jahrhundert  Utende  hiess:  „Maria  ik  hete,  dat  karspel  to  Uelende  het  mi 
taten  gheten  anno  MDX1V.  her  aigelt  eilerdt  to  Boldinck.  wilden  Hier  to  Servken,  eilerd  to 
noerende,  bartolt  Klwobe  de  mi  ghaten  hat.''  In  Ramsloh  sind  zwei  Glocken.  Auf  der  älteren 
liest  man:  „Anno  Domini  1487  tempore  domini  roberti  curati  in  Raemsto  me  fecit  Tomas  de 
Damone" ;  auf  der  jüngeren:  „maria  bin  yck  gebeten  de  van  ramelslo  hebben  my  taten  ghyten 
anno  1747 .   daer  by  goet  ghert  van  wor  my* . 

2)  Daher  kamen  1890  in  Strücklingen  auf  1284  katholische  Einwohner  823  anders- 
gläubige, in  den  drei  anderen  Gemeinden  aber  auf  2088  katholische  nur  20  andersgläubige. 
Über  den  Protestantismus  im  Saterlande  vgl.  Hoche  a.  a.  0.  S.  175  ff. 


Das  Saterlaud.  257 

und  Schule1)  und  bei  dem  durchaus  einheitlichen  Bekenntnisse  ist  begreif- 
lich, dass  die  Leute  streng  kirchlich  sind  und  der  Einfluss  der  Geistlichen 
sehr  gross  ist.  „Di  pestöar  het  kwiden"  (der  Pastor  hat  gesagt)  bedeutet 
ein  Gebot.  Stets  aber  habe  ich  grosse  Duldsamkeit  gegenüber  den  Pro- 
testanten gefunden:  die  Frage  des  Auftretens  gegen  Andersgläubige  wird 
eben  bei  der  unumschränkten  Herrschaft  des  Katholicismus  niemals 
brennend;  doch  liegt  auch  ein  gut  Teil  selbstäudigen  und  vorurteilsfreien 
Denkens  darin. 

IV.  Wohnung. 

Eine  genaue  Beschreibung  des  Hauses,  welches  von  den  mir  bekannten 
Wohnungen  am  klarsten  die  saterländische  Bauart  veranschaulicht,  soll  hier 
gegeben  und  durch  Wort  und  Bild  erläutert  werden. 

Uz  hüs  iz  bööd  in  duzend  sekshünert  un  nivgen  un  tdchentig  un  iz  det 
ölstt  in  Holen,  un  det  iz  so  mähet.  Wan  det  hüs  mäket  wet,  ddn  welde  erste 
dö  forbinde  mäket,  det  synt  dö  stonere  un  dö  bölken.  Dan  kamt  op  elke  side 
op  dö  stonere  en  rim  so  lorj  az  det  gänse  hüs  weze  schel.  Wan  det  klär  iz,  ddn 
wet  et  öpriucht',  dan  synt  'er  spone  ope,  elke  tri-'  fö"t  en,  fon  fiürenholt.  Dan 
wet  mäket  op  elke  side  en  ütkebene,  uner  fon  stine,  un  dirop  käme  dän  öplorjer 
elke  tri'  föH  ein;  man  der  synt  6k  noch  hüze  med  klämde  wöge.  Befte  käme 
,1  ni  hömstoke  fon  dö  müre  an  det  spon;  färe  kamt  en  stinene  muri,  det  hat 
me  fon  en  gowel,  dertrug  kumt  ddn  jü  grötdöre.  Ddn  wet  et  latet  un  dän  tekt 
med  hede  un  stre\  man  uner  op  dö  ütkebetje,  der  käme  pone,  dö  we*de  ficht 
mäket  med  doke  fon  stre'.     Bupe  op  kumt  en  frest  fon  hede. 

Wa'  me  kumt  in  f/z  hüs,  dän  iz  fär  V  döre  en  häge;  ican  me  der  ürgwqt, 
(hin  iz  op  'e  lirfke  side  fon  de  täl  erste  dl  edh&dene,  det  hat  di  plats,  wir  me 
det  ed  öunsmit  fär  den  winter  töu  ferbadenjen.  Ddn  kumt  so  'n  litje  döre,  der 
dö  be'ste  üt-  un  Tngutje,  un  dän  küme  dö  küstäle,  derin  stö"nde  dö  be'ste  med  'n 
Lop  eter  jü  täl,  un  derböpe  iz  jü  hilde,  dir  wet  det  stri' öpstat',  der  me  dö  be'ste 
fon  fodert  un  strait.  Dan  kumt  det  köherhuk;  wi  kwede  fon  kaherhuk,  man 
det  mai  ivi'l  en  dyttk  wo" d  weze.  Wan  me  in  de  grötdöre  Inkumt  op  'e  riuehter 
höunde,  dir  iz  di  hätjststdl;  dän  hebe  wl  en  weuerkömer,  deröun  hebe  wi  en 
stil,  dir  me  linen  op  mähet.  Ü7i  dan  kumt  dt  wäskkömer  med  'n  döre  eter 
hüten,  dertrug  guiji1  wi  in  'n  tun  un  hälje  6h  det  wäter  derin  üt  'en  söd.  Op 
di  weuerhömer  un  dl  wäskkömer,  dir  hebe  wi  en  bin  ope  fon  dö  stonere  töu  dö 
li'kire.  Dan  kumt  det  flet,  det  lait  op  dö  bi  s/den  fon  de  täl;  op  jü  ene  side 
synt  dö  finstere  un  dir  stöunde  dö  kisten  un  kuferte;  op  jü  üer  side,  der  synt 
dö  bidstide,  un  det  iz  jü  lirjke  side. 


1)  Den  Schulen  kommen  die  Einkünfte  der  säkularisierten  Kommendegüter  in 
Bokeleseh  zu  statten,  die  vom  Vogte  in  Ramsloh  verwaltet  werden.  Jede  Gemeinde  bildet 
eine  Schulacht:  1.  Schule  in  Scharrel  und  Sedeisberg  (3  Lehrer);  2.  Ramsloh,  Hollen, 
Holleuermoor  (3);    3.  Strücklingen,  Bokeleseh.  Wittensand  (4);   4.  Neuscharrel  (1). 

18* 


258  Si'bs: 

Wan  me  tö"  de  gr>  tdöre  inkumt,  dein  kamt  me  midi-  in  't  h,'is  op  \  tal 
Wan  jü  tal  tö"  end  iz,  dam.  iz  der  det  fiür.  Bupe  det  fiür,  der  iz  en  hälböm 
an  'e  bölke  un  an  den  halböm  der  honit  en  setelhäke  an  un  an  den  setelh  -h 
honet  det  geschir,  wir  det  iten  an  seden  of  bret'  tuet,  det  kon  en  setelofenpot 
of  en  pone  weze.  Befte  det  fiürh  <d  stunde  dö  schape  med  puselöine  un  tin'm 
fite  d  röpe,  der  honje  jü  kloke  un  det  saufet  un  äl  det  geschir,  wet  tOu  't  iten- 
mäkjen  brükt  wt  t. 

Bin«  de  tal  iz  di  bölke,  un  der  iz  in  'e  mide  cn  balchgat.  der  wet  di  röge 
instat  un  öpft:'d. 

Det  iz  nü  det  wönhüs.  Der  befte  iz  noch  di  hökömer,  der  büpe  iz  nein 
bölke  un  iz  trug  <:it  wögt  fon  det  wönhüs  ö"schat.  Bote  fon  'c  icai  iz  ök  en 
grötdöre,  der  fire  toi  det  hö  in.  Uner  det  hö  hebe  wi  >'n  tüfelkekeler;  irmske 
den  hökömer  in  dö  ütkeberje  he'  wi  en  stöye  med  'n  bedsU'de  derän,  un  op  < 
linke  aide  fon  'e  tal  ein  dö  bedstede  iz  di  mölkkömer  med'n  finster  du-  n.  Eirmed 
iz  jü  bischriuene  ür  det  hüs  tu"  ende. 

Ramsloh  und  Holleu  haben  unter  den  Dörfern  des  Saterlandes  den 
alten  Charakter  am  reinsten  erhalten,  doch  diesen  allen  sind  gewisse 
Eigentümlichkeiten  gemeinsam.  Die  Häuser  erstrecken  sich  nicht  in  weiten 
Zwischenräumen  längs  der  Landstrasse,  sondern  sind  auf  ziemlich  engem 
Räume  um  einen  Mittelpunkt  versammelt.  Der  eigentliche  Kern  des  Dorfes 
(terp)  heisst  det  löuch  (auf  Wangeroog  dait  läuch):  es  ist  das  afrs.  Wort  loch 
und  lässt  sich  am  besten  mit  ..der  Ort"  übersetzen.  Eine  Fahrstrasse  führt 
durch  das  Dorf,  und  von  ihr  zweigen  einige  Querpfade  ab.  Die  Häuser 
liegen  mit  der  Stirnseite  an  diesen  Wegen,  jedoch  meist  um  ein  paar  Meter 
von  ihnen  entfernt,  sodass  rechts  von  der  grossen  Hausthür  ein  Misthaufen 
Platz  hat,  der  (etwa  weil  er  eingehegt  ist?)  hage  genannt  wird.  Hinter 
dem  Hause,  bisweilen  die  Längsseiten  begrenzend,  ist  ein  kleiner  Garten 
(tun)  angelegt,  der  das  nötigste  Gemüse  liefert.  In  ihm  ist  der  Ziehbrunnen 
(söd).  Nahe  beim  Hause  auch  haben  die  meisten  Bauern  einen  aus  Stein 
gemauerten  Backofen  (öPgeri)  und  einen  Schafstall  (seht  'peköue),  eine  dürftige 
Lehmhütte,  die  mit  Heidekraut  gedeckt  ist.  Hinter  den  Gärten  ziehen  sich 
Ackerfelder  (dö  iske,  d.  h.  Esche)  und  Wiesen  hin.  Aus  der  Ferne  sieht 
man  von  einem  solchen  Dorfe  nur  seine  Wahrzeichen.  Kirchturm  oder 
Windmühle:  im  übrigen  erscheint  es  als  ein  Komplex  von  Bäumen,  die 
sich,  obschon  nicht  hoch,  über  die  Strohdächer  der  niedrigen  Häuser 
erheben. 

In  früherer  Zeit  soll  es  im  Saterlande  mehrere  grössere  Gebäude  ge- 
geben haben:  befestigte  Backsteinbauten  (stenhvze),  die  mit  Wall  und 
Graben  umgeben  waren.  Sie  wurden  Burgen  genannt  und  stammten  wohl 
aus  dem  14.  oder  15.  Jahrhundert.  Die  Stätten,  wo  sie  gelegen  haben, 
sind  noch  zu  erkennen;  man  will  sogar  Spuren  von  einzelnen  Anlagen,  von 
Brunnen  und  dergl.  gefunden  haben.  Solcher  Burgplätze  giebt  es  in  Strück- 
lingen,  Scharrel  und  Ramsloh  je  einen,  in  Hollen  drei.    Von  der  Burg,  die 


Das  Saterland. 


259 


bei  der  „Dille"  in  der  siebenten  Flur  von  Hollen  lag,  ward  mir  berichtet: 
„bl  de  dile,  der  was  töfärne  en  stenhüs,  det  was  en  ardigen  högen  be'rig,  un 
.■inwendig  was  H  dl  stene.  Do  hebe  dö  Ij&de  der  an  wöned  un  hebe  ze,  det  det 
der  so  därig  (sumpfig)  was,  en  grefte  rund  üme  tr>"  heyed.  Der  op  V  borg,  <l<  r 
hed  6k  an  wöned,  der  gm\t  noch  en  grefte  üme  töu;  hüs  iz  der  nit  mar  töu 
siöen  (zu  sehen)."  Der  Gedanke,  dass  Wall  und  Graben  zu  anderen  Zwecken 
als  zur  Entwässerung  geschaffen  sein  könnten,  wird  einem  Saterländer  frei- 
lich nicht  kommen! 

Im  Kirchspiele  Ramsloh,  besonders  in  der  Bauerschaft  Hollen,  finden 
wir  die  ältesten  Bauernhäuser  erhalten,  doch  in  das  16.  Jahrhundert 
reicht  wohl  keines  zurück.  Alle  zeigen  die  rein  westfälische,  also  sächsische 
Bauart:  Wohnung,  Ställe  und  Vorratsräume  sind  unter  einem  einzigen 
Dache  vereinigt.  Bei  meiner  Beschreibung  habe  ich  ein  Hollener  Haus 
aus  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  zum  Muster  genommen,  weil  es  unter 
den  grösseren  Häusern  des  Ländchens  zweifellos  eines  der  ältesten  ist 
(s.  Taf.  3,  1  und  die  Grundrisse).    Daneben  ist  die  Ansicht  eines  kleineren 


Hauses  gegeben. 


Fig.  1. 


Fig.  2. 


Die  Seitenmaueru  sind  sehr  niedrig,  so  dass  das  Dach  sich  nur  wenig 
über  den  Erdboden  erhebt;  dieser  Abstand  beträgt  bei  dem  erwähnten 
Hollener  Hause,  dessen  Masse  ich  selbst  genommen  habe  und  hier  mitteile, 
V-^m  gegen  etwa  73/4  m  Firsthöhe.  Diese  Wände  bestehen  aus  Fachwerk, 
das  mit  Backsteinen  ausgefüllt  ist;  kleine  alte  Häuser  haben  wohl  noch 
Lehmfüllung,  und  das  nennt  man  „gekleimte  Wände"  (Iclttmde  wöge,  vgl. 
Taf.  3,  2).  Auch  auf  der  Vorderseite  des  Hauses  fällt  das  Strohdach  weit 
herab,  in  der  Mitte  einen  Ausschnitt  lassend  (Taf.  3,  2)  für  die  grötdöre, 
die  den  grössteu  Teil  der  Giebelseite  einnimmt  und  weit  genug  ist,  einen 
beladenen  Wagen  durchzulassen.  Über  diesem  (etwa  3V4  vi  hohen)  Thore 
wölbt  sich  derWalm:  er  wird  hom  genannt  (plattd.  ham),  was  wahrschein- 
lich ein  Schutzdach  bedeutet.  Er  gewährt  der  nach  rückwärts  liegenden 
Thür    und    überhaupt    der   Giebelwand  Schutz   vor  Wind  und  Wetter  und 


260  Siebs: 

hindert,  dass  der  Regen  vom  Dache  gerade  vor  dem  Eingänge  des  Hauses 
abtrieft;  unter  dem  hom  (vgl.  Wangeroog  iähork)  stehend,  ist  man  in  freier 
Luft  und  doch  gegen  die  Witterung  geschützt.  Die  grosse  Thür  ist  meist 
in  vier  Felder  geteilt,  die  einzeln  aufgemacht  werden  können:  steht  einer 
der  oberen  Teile  offen  (Taf.  3,  2),  so  ist  dem  Ein-  und  Ausgehen  gewehrt, 
aber  der  Durchzug  frischer  Luft  unbehindert.  Den  Ställen  wird  durch 
zwei  hölzerne  Mape  an  der  Giebelwand  Luft  zugeführt,  dem  Bodenräume 
durch  ein  Loch  über  dem  hom,  welches  ülengat  (Eulenloch  s.  Taf.  3,  2) 
genannt  wird.  Dieses  fehlt  den  Häusern,  bei  denen  der  obere  Teil  des 
Giebels  (gdwel,  plattd.  Lehnwort)  ein  flach  zurückliegendes  Dreieck  bildet. 
Das  Dach  ist  mit  Heide  QiPde)  und  Stroh  gedeckt,  der  First  (frest)  besteht 
aus  Heide;  über  den  Seitenmauern  findet  man  auch  oft  Pfannendeckung 
(Taf  3,  1),  die  einen  leichteren  Abfluss  des  Regenwassers  zulässt. 

Das  ist  die  äussere  Ansicht  des  Hauses:  fragen  wir  nun,  wie  ein 
solcher  Bau  geschaffen  wird.  Zuerst  werden  die  Yerbindte  (forbinde), 
d.  h.  die  Ständer  mit  den  darüberliegenden  Balken  errichtet  (Fig.  2,  a  und  b). 
Das  zwischen  Ständer  und  Balken  mit  Zapfen  eingefügte  Querholz  wird 
stekbend  (Steckband  c)  genannt1).  Die  beiden  Reihen  der  Ständer  (Fig.  lc) 
sind  auf  jeder  Seite  mit  rime  (Sparrsohlen)  belegt,  so  lang  als  das  Haus 
werden  soll  (etwa  20  m  Länge  gegen  15  m  Breite).  Über  dem  so  ent- 
standenen Yierkant  (A),  das  den  inneren  Raum  des  Hauses  bildet,  wird 
das  Sparrenwerk  (dö  spone  Fig.  2  d)  errichtet,  und  dann  wird  gelattet  und 
gedeckt.  Der  -Boden  (B  Fig.  2)  wird  bölke  genannt.  Jetzt  werden  die 
niedrigen  Seitenmauern  (Fig.  2  f)  aufgeführt  und  durch  Auflanger  (öplo, 
Wanger.  üplaqer,  auf  den  Hauptsparren  abgeschärfte  Sparrhölzer,  Fig.  2  e) 
mit  dem  spon  verbunden.  Dadurch  hat  man  dö  ütkeberje'1')  gewonnen,  welche 
geteilt  und  einerseits  als  Viehställe  und  Kammern  (Fig.  2  C),  anderseits 
als  hilde  und  als  bin  benutzt  werden,  hilde  (plattd.  hilde,  hclde,  kille)  heisst 
jener  „abschüssige"  Raum  (Fig.  2  D)  unter  den  Auflangem  und  über  den 
Stallungen,  in  welchem  das  Yiehfutter  bewahrt  wird;  die  äussersten  Winkel 
Qi)  der  hilde  werden  dö  öukere  genannt3).  Den  auf  der  gegenüberliegenden 
Seite  entsprechenden  Bodenraum  über  der  Weber-  und  Waschkammer  be- 
zeichnet man  einfach  als  brn  (Wangeroog  bhu.  d.  h.  Bühne).  —  Die  Giebel- 
mauer ist  mit  dem  Spann  durch  Walmsparren  (hömstoke)  verbunden. 


1)  Ein  sogenannter  Halbständer,  d.  h.  von  halber  Stärke,  wird  marntje  [Männchen?) 
genannt  —  Sind  zwei  Querhölzer  gabelförmig  zu  beiden  Seiten  des  Ständers  eingelassen, 
so  bezeichnet  man  das  als  jächtbend.  Jacht-  scheint  mir  eine  abstrakte  fo-Bildung  von  der 
[/jeug  zu  sein:  germ.  *jeohta-,  afrs.  *iacht-,  also  ..Jochband" :  vgl.  westvlaeni.  jacktijzer  (?), 
de  Bo,  Idiot.  S.  411. 

2)  afrs.  *atkebbinge.  eig.  -Vuskübbnngen",  vgl.  ndl.  kubbing,  ist  eine  Ableitung  von 
*lcebbe  =  plattd.  kübbe,  germ.  *kubjö-  (vgl.  ags.  cofa,  nhd.  koben). 

3)  Wangeroog  äuken;  vielleicht  diente  dieser  Platz  ursprünglich  zur  Aufbewahrung 
der  Feldfrüchte,  so  dass  das  ablautende  got.  akrau  zu  vergleichen  wäre. 


Das  Saterland  261 

Treten  wir  durch  die  grosse  Thür  in  das  Haus  ein  (vgl.  Fig.  1),  so 
befinden  wir  uns  auf  der  geräumigen  Dreschdiele  (täl  A).  Die  kleineren, 
zu  beiden  Seiten  abgeteilten  Räume  dienen  grossenteils  als  Viehställe. 
Sehen  wir  uns  die  Einrichtung  an.  Gleich  links  vom  Eingange  liegt  die 
edhe'denc  (Torfwinkel  L),  daneben  das  kaluerhuk  (Kälberstall  J)1).  Dann 
überschreiten  wir  den  kleinen  Gang,  der  zu  einer  Seitenthür  des  Hauses 
führt  und  kommen  an  die  KüstäU  (#).  Darin  stehen,  durch  die  grossen 
stonere  (c)  und  durch  kleine  Pfähle  (fürschgtele,  eig.  „Schottungen")  von 
der  Diele  getrennt,  die  be'ste;  mit  den  Köpfen  sind  sie  dem  Inneren  des 
Hauses  zugewandt.  Das  ist  eine  Eigenart  der  meisten  sächsischen  Häuser 
gegenüber  den  friesischen,  in  denen  das  Grossvieh  mit  dem  Hinterteile 
der  Diele  zugekehrt  steht.  Lasius 2)  sieht  den  Hauptnutzen  der  friesischen 
Sitte  darin,  dass  das  "Vieh  sich  von  hinten  besser  präsentiere,  und  dass  die 
Ställe  bequemer  zu  reinigen  seien;  ich  glaube  aber,  dass  der  sächsischen 
Einrichtung  von  allem  daran  gelegen  sein  muss,  Raum  zu  sparen  und  mög- 
lichst reichen  Dünger  zu  producieren,  der  ja  für  die  Geest  und  somit  auch 
für  das  sandige  Saterland  wertvoller  ist,  als  für  die  fetten  Marschgegenden. 
Von  einem  absoluten  Vorzuge  des  einen  Brauches  vor  dem  anderen  ist 
darum  kaum  zu  reden.  Bemerkenswert  ist  übrigens,  dass  sich  in  einzelnen 
Häusern  des  Kirchspiels  Strücklingen  die  friesische  Stellung  findet. 

Rechts  vom  Eingange  liegt,  ebenfalls  von  der  Diele  durch  eine  niedrige 
Scheidewand  (schoi)  getrennt,  der  Pferdestall  (A)  und  daneben  der  Schweine- 
koben (AI).  Daran  stösst  die  durch  ein  grosses  Fenster  erhellte  weuerkörner 
(D)  mit  Webstuhl  (det  stel,  h)  und  Spinngerät  (we'l,  hdspel  </).  Ein  schmaler 
Gang,  der  als  wdskkömer  benutzt,  wird,  liegt  daneben;  er  hat  einen  Ausgang 
nach  dem  tun. 

Das  ganze  häusliche  Leben  des  Saterländers  spielt  auf  der  geräumigen 
Diele.  Im  Hintergrunde,  etwa  2  m  vor  der  Rückwand,  brennt  das  offene 
Herdfeuer  («),  der  Mittelpunkt  des  häuslichen  Verkehrs.  Es  wird  fort- 
während unterhalten,  denn  an  Torf  ist  kein  Mangel.  In  manchen  Häusern 
dient  er  abends  sogar  zur  Beleuchtung,  und  bei  seinem  dunkelroten  Scheine 
verrichtet  man  Handarbeit  und  unterhält  man  sich.  Schornsteine  giebt  es 
in  den  älteren  Wohnungen  nicht.  Der  Torfrauch  verbreitet  sich  im  ganzen 
Hause.  Das  hat  seine  Vorteile,  denn  er  verscheucht  das  Ungeziefer,  auch 
macht  er  eine  Rauchkammer  überflüssig.  Fleisch  und  Speck  sind  an  den 
Deckbalken  über  dem  Herde  gut  aufgehoben.   Doch  auch  viel  Unreinlichkeit 


1)  ed  (ags.  äd  ahd.  eh)  bedeutet  „Brennmaterial-',  h&dene  afrs.  kerne  ags.  hyme 
..Eeki '".  —  kaluerhuk  ist  die  richtige  Form :  köluer-  ist  Analogiebildung;  nach  dem  Singular 
kölu  „Kalb".  Interessant  ist  die  sprachliche  Erläuterung  (s.  im  stl.  Text),  die  mein  » rewähis- 
mann  gab. 

2)  Das  friesische  Bauernhaus.  Quellen  und  Forschungen  LV.  Strassburg  1885  S.  6; 
vgl.  auch  S(ieb)s,  Weserzeitung  vom  18.  Januar  1885 ;  aus  diesem  Artikel  sind  im  Folgenden 
einige  Bemerkungen  verwertet  worden. 


262  Siebs; 

bringen  der  Rauch  und  die  stäubende  Asche  mit  sieh.  Das  äussere 
Ansehen  des  Dorfes  ist  freundlich,  und  selten  sind  die  Strassen  und  Wege 
schmutzig,  denn  der  Sandboden  saugt  die  Feuchtigkeit  schnell  auf;  im 
Innern  der  Häuser  aber,  wo  Menschen  und  Vieh  in  solcher  Einmütigkeit 
nebeneinander  leben,  wo  die  Leute  auf  engem  Räume  schlafen,  essen  und 
arbeiten,  ist  von  Sauberkeit  nicht  zu  reden.  Der  Platz  zu  beiden  Seiten 
des  Feuers  (det  flet)  ist  zugleich  Küche,  Esszimmer,  Wohnstube  und 
Schlaf kammer.  Oben  an  dem  Deckbalken  ist  eine  Stange,  der  hälböm1), 
augebracht,  daran  hängt  der  Kesselhaken  (setelhäke)  mit  dem  grossen 
kupfernen  Kessel.  An  der  Hinterwand  sieht  man  zwei  Schränke  (schape,  b) 
aus  dunklem  Holze,  darauf  stehen  Schüsseln,  Teller  und  Krüge  aus  Por- 
zellan, Steingut  und  Zinn.  Ihre  Güte  und  Zahl  richtete  sich  einst  nach 
dem  Vermögen  des  Hausherrn.  Auf  manche  Zinnteller  und  -schusseln 
sind  einfache,  aber  geschmackvolle  Muster  eingeritzt;  das  Steingut  zeigt 
vielfach  jene  eingebrannten  alten  Blumenmuster,  die  früher  in  Holland  so 
verbreitet  waren.  Leider  sind  in  den  letzten  zwanzig  Jahren  viele  dieser 
Stücke  von  reisenden  Trödlern  angekauft  worden,  so  dass  in  manchen 
Häusern  nur  noch  schadhaftes  Gut  zu  finden  ist.  Neben  den  Schränken 
hängt  das  Küchengeschirr.  Links  vom  Herde,  in  einem  durch  ein  breites 
Fenster  erhellten  Räume  (C),  stehen  ein  Tisch  und  Stühle  (e).  Zur  Essens- 
zeit werden  sie  bisweilen  ans  Feuer  gerückt.  Auch  die  beiden  grossen 
Kleidertruhen  an  der  Fensterwand  (d)  werden  gern  als  Sessel  benutzt. 
Auf  der  gegenüberliegenden  Seite  des  flet  sind  die  vier  alkovenartigen 
Betten,  je  zwei  übereinander  (f).  Sie  sind  durch  einen  Vorhang  verdeckt, 
manche  auch  durch  einen  schiebbaren  Bretterverschlag  {schot),  der  wie  die 
Truhen  kaum  wahrnehmbare  Spuren  einer  dereinstigen  bunten  Bemalung 
zeigt.  Neben  dieser  Schlafstätte  ist  ein  Gelass  abgeteilt,  dem  durch  ein 
besonderes  Fenster  frische  Luft  zugeführt  wird:  die  Milchkammer  (E).  — 
Das  also  ist  die  Ausstattung  des  Wohnraumes,  von  dessen  Mittelpunkte, 
dem  Herde,  aus  man  das  ganze  Leben  und  Treiben  im  Hause  überschauen 
kann.  Trotz  dieses  Strebens  der  sächsischen  Bauart,  alle  Räume  unabgeteilt 
und  übersichtlich  unter  einem  Dache  zu  vereinigen,  hat  es  sich  doch  nicht 
vermeiden  lassen,  dass  die  Milch  und  gewisse  andere  Vorräte  in  einem 
besonderen  Gemache  untergebracht  wurden,  und  dass  wenigstens  ein  ein- 
ziges gesondertes  Gelass,  und  sei  es  auch  bloss  für  Krankheitsfälle  in  der 
Familie,  geschaffen  ward  (weyerkömer).  Manche  Saterländer  haben  über- 
haupt den  Vorzug  der  abgeschlossenen  Wohnräume  anerkannt  und  das  flet 
von  dem  vorderen  Teile  des  Hauses  durch  eine  Wand  mit  einer  Thür, 
womöglich  einer  Glasthür,  geschieden.  Aber  auch  die  alten  Vorratsräume 
haben  sich  als  unzulänglich  erwiesen.    Der  Segen  der  Getreideernte  ruht 


1)   Entspricht  lud  dem  mnd.  hol  ahd.  hähala  „Kesselhaken",   so  ist  es  als  Lehnwort 
aus  dem  Plattdeutschen  anzusehen. 


Das  Saterland.  263 

auf  dem  Boden  (bölke):  das  Koni  wird  mit  der  fürke  durch  das  balhgat 
(balclu/af)  hinaufgelangt  und  dort  aufgefleit;  für  das  Heu  aber  musste  ein 
Anbau  (die  hö&ömer  F)  gemacht  werden,  der  in  manchen  Häusern  eine 
besondere  Einfahrt  hat;  unter  der  Heukammer  lagern  in  einem  Keller  die 
Kartoffeln;  ein  kleines  Nebengelass  ((?)  wird  als  Schlaf kammer  benutzt. 
Das  Alles  ist  ein  späterer  Anbau,  über  dem  keine  Bodenräume  sind. 

Diese  Schilderungen  zeigen  deutlich,  dass  wir  im  Saterlande  die  reinste 
Form  des  sächsischen  Hauses  haben.  Falls  die  Besiedler  des  Landes  je 
in  ihrer  alten  Heimat  der  sogenannten  friesischen  Bauart  gewohnt  gewesen 
wären,  so  hätten  sie  sie  jedenfalls  zu  Gunsten  einer  anderen  aufgeben 
müssen.  In  Friesland  kann  nur  die  Fülle  des  Ernteertrages  Anlass  gegeben 
haben,  den  Vierkant  des  Hauses  als  Speicher  zu  verwenden  und  die  Wohn- 
räume in  einen  Anbau  zu  legen,  oder  was  dasselbe  sagt:  Wohnhaus  und 
Scheune  zu  einem  grossen  Gebäude  zusammenzuschweissen.  Nach  der  Über- 
siedelung in  die  neue  Heimat,  wo  Klima  und  Bodenbeschaffenheit  und  somit 
auch  die  Erwerbsquellen  andere  waren,  wäre  die  auf  die  alten  Verhältnisse 
berechnete  Bauart  gewiss  nicht  beibehalten  worden.  So  herrscht  auch  in 
dem  von  Friesen  besiedelten  Lande  Wursten  nicht  der  Typus  des  friesischen, 
sondern  des  sächsischen  Hauses,  und  von  einer  engeren  Verwandtschaft  der 
nordfriesischen  Hofanlagen,  sowohl  des  Festlandes  als  auch  der  Inseln,  mit 
den  ostfriesischen  ist  nicht  die  Rede  (vgl.  Henning,  Das  Deutsche  Haus. 
Quellen  und  Forschungen  XLVII,  Strassburg  1882;  Jensen,  Die  nordfrs. 
Inseln,  Hamburg  1891,  S.  194  ff.).  Die  Besiedler  trugen  eben  den  ver- 
änderten Verhältnissen  Rechnung,  und  so  mussten  sich  für  das  wenig 
ertragfähige  Saterland  Gebäude  verbieten,  die  darauf  berechnet  waren,  den 
reichen  Erntesegen  der  ostfriesischen  Marschlande  zu  bergen  —  ganz  ab- 
gesehen davon,  dass  den  Einwanderern  sicherlich  die  Mittel  zu  solchen 
Bauten  gefehlt  hätten1). 


1)  Verschieden  ist  die  Ansicht  darüber,  inwieweit  der  Typus  des  sächsischen  und 
des  sogenannten  friesischen  Hauses  voneinander  abhängig  seien  (vgl.  Meitzen,  Das  deutsche 
Haus  in  seinen  volkstümlichen  Formen.  Berlin  1882  S.  lOfgg.;  Henning  a.  a.  0.;  Derselbe, 
Die  deutschen  Haustypen.  Quellen  und  Forschungen  LV,  2.  Strassburg  1885:  Lasius,  Das 
fries.  Bauernhaus,  Quellen  u.  Forschgen.  LV,  1.  An  diesen  Stellen  auch  die  Litteratur). 
Bevor  eine  solche  Frage  behandelt  wird,  müsste  aber  festgestellt  sein,  was  wir  überhaupt 
unter  „friesischer  Bauart"  zu  verstehen  haben.  Die  altfries.  Quellen  erlauben  wohl  einige 
Vermutungen  über  die  Grösse  der  Häuser  (Henning,  D.  d.  H.  S.  133),  aber  nicht  über  ihre 
Anlage.  Lasius,  mit  dem  ich  1884  im  Jeverlaude  manche  Punkte  erörterte,  hat  in  seiner 
dankenswerten  Schrift  nur  die  Herrenhäuser  und  einige  grössere  Höfe  des  Jeverlandes 
berücksichtigt  und  darauf  seine  Ansicht  von  dem  friesischen  Typus  gegründet.  (Wichtiges 
Material,  z.  B.  das  interessante  stenhüs  zu  Stumpens  ist  freilich  ausser  Acht  gelassen).  Das 
selbständige  Wohnhaus  ist,  wie  Henning  (Haustypen  S.  3)  treffend  bemerkt,  nicht  zu 
seinem  Bechte  gekommen.  Nicht  nur  die  grossen  Marschhöfe  der  jeverländischen  Küste, 
sondern  auch  die  Häuser  der  ostfriesischen  Inseln  (wovon  das  Fischerhaus  auf  Spiekeroog, 
Lasius  S.  22,  ein  Bild  geben  soll)  imd  vor  allem  die  der  Moorgegenden,  z.  B.  des  Brokmer- 
landes,  sind  friesische  Häuser.  Diese,  sowie  auch  die  westfriesischen  Bauernhäuser,  sind 
eingehend  zu  berücksichtigen,  wenn  ein  friesischer  Typus  aufgestellt  werden  soll. 

18** 


264  Siebs: 


V.   Sitten  und  Gebräuche. 

Ich  will  im  Folgenden  die  wichtigsten  Gebräuche  mitteilen,  die  im 
Saterlande  bei  Geburt  und  Taufe,  bei  der  Hochzeit,  bei  Tod  und  Begräbnis 
geübt  werden,  und  dann  berichten,  wie  man  dort  die  regelmässigen  Feste 
feiert. 

Geburt  und  Taufe. 

Wdn  der  'n  beiden  (afrs.  bern  Kind)  geboren  wet,  ddn  iz  oft  j Fi  bddmüer1) 
derbl.  Iz  det  beiden  nü  kernen,  Jan  wet  him  we'l  en  bitsken  seilt  op  de  tutje 
lait,  det  schel  gö"d  weze.  Dan  wet  dö  naiste  fiynde  derfon  bisched  telt,  un 
ddn  den  Her  dai,  dan  möuten  twe'n  fadere  (Gevatter)  weze  fon  dö  naiste  fiynde 
(Freunde),  dö  gut]e  der  ddn  med  eter  serke  (Kirche),  der  iz  jü  funte  (oder 
di  döpsten),  un  ddn  wet  det  be'den  dopt  (kesent)  un  den  nöme  rät  (Xame 
gegeben).  Det  iz  den  Her  dai  eter  de  gebürt.  Wan  ze  ddn  wier  üt'e  serke 
küme,  dan  synt  dö  naiste  nähere  un  fon  dö  naiste  fiynde  in  det  Ms,  un  der 
höHde  ze  dan  sehne  (sehne),  un  med  't  iten  un  drirfken  iz  de  seke  bisleten. 

Von  Wichtigkeit  ist  vor  allem  die  Bezeichnung  des  Kiudtaufsschmauses 
mit  selme  oder  selme  —  beide  Formen  habe  ich  gehört.  Das  entsprechende 
wanger.  Wort  siilem  (masc),  vgl.  harling.  sylm  subst.  scylmen  verb.  weist 
mit  Sicherheit2)  auf  altes  anlautendes  k  zurück,  vgl.  stl.  serke,  wang.  stirik 
=  Kirche  (kerke).  Ich  erkläre  *kelma  als  maskuline  Abstraktbildung  zu  *kella 
„benennen"  (kelt  „nennt"  (ahd.  challii)  Richthofen,  Frs.  Rechtsqu.  335,  6 
hat,  nach  Analogie  der  Präteritalformen,  die  Assibilierung  aufgegeben), 
vgl.  setma  „Satzung"  zu  setta  „setzen".  Bemerkenswert  ist,  dass  unter 
einem  alten  Bilde  im  Leeuwarder  Altertumsmuseum,  „de  friesche  maaltijd" 
genannt,  die  Worte  stehen:  „op  haerre  kerstendegge  en  kallingen  off  frionne 
spreckkinge  1420";  sind  damit  Tauffeste  oder  Multiloquia  gemeint?  —  Von 
anderen  Gebräuchen,  wie  Strackerjan  deren  einige  erwähnt,  ist  mir  nichts 
bekannt  geworden;  besonders  unwahrscheinlich  ist  mir  die  Angabe  (II,  127), 
dass  man  zu  Bokelesch  jedem  Manne  in  dem  Hause,  wo  sich  ein  neugeborenes, 
noch  nicht  getauftes  Kind  befand,  ein  weisses  Betttuch  umgehängt  habe. 


Verlobung  und  Hochzeit. 


Dl  sün  fregede  sine  ölden:   „bdbe  un  meme,  synt  ji  dermed  infersten,  det 
ik  det  wucht  (Mädchen)  töu  min  bre'd  nime  un  dermed  hilkje3)?''   Un  wan  ze  ddn 


1)  bddmüer  (eig.  Badmutter)  wird  die  Hebamme  genannt:  so  auch  auf  Wangevoog 
beßmöuder,  auf  Sild  bämotfer.  In  Westfriesland  sagt  man  dafür  kriemheister,  eig.  Wochenbett- 
heberin,  vgl.  stl.  kräm  Wochenbett  und  afrs.  henda  auffangen. 

2)  Die  Form  verbietet,  an  afrs.  selma  ags.  selma  as.  selmo  ..Bettstelle,  Lager"  anzu- 
knüpfen (=  nordfrs.se/me  Bendsen,  I>.  nordfrs.  Spr.  S.  127.  417.  420  „Bettstelle"  gegenüber 
sulme  (Stedesand)  sollem  (Moringer  Mundart)  „Kindtaufe".  —  Auch  an  ags.  citd  „Kind-  ist 
nicht  zu  denken. 

3)  vgl.  ndl.  hijlijk,  ahd.  hlleih  Hochzeit. 


Das  Saterland.  265 

fWübnis  krige,  dän  gir\en  ze  medenoner  eter  'n  pestöur  un  Uten  sik  der  SPmchrlue 
^einschreiben),  un  dun  wüden  ze  tre*  syndege  op  'e  rige  fon  den  pestö"r  fon  de 
\ansel  ürspreken  (öHezen),  un  wan  der  ne'n  insäge  kumt,  dun  kuden  ze  hilkje. 
Tö"furne  girien  dein  di  brydigam  un  jü  br&d  twe'n  euende  (zwei  Abende)  fär 
ie  höchtid  un  nö*geden  Iure  frynde  un  nähere:  „wi  wolen  me'den  hilkje,  un  dun 
mu"(,  >i  ji  dl  kenne,  hüs  op  'e  bölke,  leidere  in  'e  söedr)  die  möHen  ze  töu  de 
höchtid  käme. " 

Den  eünd  für  de  höchtid,  dem  wude  d.i  bre'dwäien  (Brautwagen)  jaget, 
snige  med  ein,  enige  ök  we'l  med  twe'n.  Dö  hänste  wuden  bikrdnset  un  dän 
kernen  dir  fidür  wuchter  op  elke  wü'ien.  Un  dö  wuchtere,  dö  op  den  wäien 
mren,  dö  hidenen  en  witen  tdskendö"k  in  de  ene  höunde,  un  in  de  vre  hö"nde 
en  putelje  med  füzel  of  win.  Dir  slügen  ze  med  um  de  kop  tö11  az  wilde 
mänsken.  Un  bi  elk  hehjst  gh]  en  kerl  bi  öun  un  hild  him  bin  töm  fest  un 
stiürde"  (lenkte,  steuerte)  him.  Nu  kumt  di  wäien  der  je1  an  in't  höchtidiu'is. 
Dein  wilen  dö  wuchtere,  dö  op  de  br&dwäjfin  irireii,  det  göud  nit  miste  (missen). 
Dan  rät  et  (gab  es)  so  fül  aldrm  in  det  höchtidshüs :  dö  der  kernen,  dö  kwklen, 
det  jö  hiden  der  niks,  un  dö  der  in't  hüs  wiren,  dö  holden,  wetjö  der  brachten, 
det  wds  niks.  Wan  dein  di  kufert  un  dö  bede  un  dan  det  we'l  med  'n  gröten 
dizene  fläks  (Spinnrad  mit  einem  grossen  Diesen  Flachs)  derän  fon  di  wäien 
ö"  schel,  wolen  dö  wuchtere,  dö  op  den  wäien  synt,  det  nit  miste.  Dein  711""/,  n 
ze  dö  wuchtere  un  den  fürmon  fon  de  wäien  med  ivin  of  biör  un  fitzel  ö^köpje. 
Dan  wolen  dö  wuchtere  det  bed  op  de  bedsted  mukje,  un  dein  hebe  dö  nähere 
en  biiire  of  in  pyt  ful  fuge  (ein  Kissenbüren  oder  einen  Beutel  mit  Federn) 
un  smite  'en  op  det  bed.  Dein  mene  dö  wuchtere  det  bed  iz  börsten,  un  dän 
rakt  det  en  gröten  schandul.  Dan  kernen  dö  näberswuchtere"  un  dö  Ijyden,  dö 
jö  tö"  de  höchtid  nö'ged  hiden,  dö  kernen  dein  's  eyends  un  brochten  dö  hanen 
(Hennen),  un  dun  rate  det  so  fül  spektäkel  ö",  ddn  smiten  ze  dö  hanen  man 
so  töu't  höchtidshüs  in,  un  dän  wüden  dö  hauen  gripet  un  död  mäket.  Un  ddn 
tviid  köffi.  un  svker  un  win  un  biör,  als  's  eiicnek  fertert,  un  nü  girren  ze  eter 
hüs  tö"  un  hirmed  was  det  's  eünds  bisleten  (beschlossen). 

Di  brydigam  med  sin  be  tjügen  (Zeugen)  git]en  's  me'dens  (des  Morgens) 
wai  un  hälden  jü  bre'd  üt.  In  ölde.n  tiden  hiden  dö  bre'de  ök  we'l  twö  wuchtere 
az  biguijere  bi  sik,  man  det  iz  nü.  nit  mör,  un  in  ölden  tiden  dein  gii]  dl  det 
höchtidföHk  me  eter  serke,  wan  ze  hilkeden.  Un  brydigam  un  bre'd  med  Türe 
be  tjügen  giijen  nü  eter  serke,  un  dö  tjügen  mosten  dän  in  gegenwart,  wan  ze 
hilkje,  derbi  weze.  Un  nü  wert  dir  >  rst  en  höamt  de'n,  un  eter  det  höamt  hilkje 
ze,  un  dan  gurje  ze  eter  hüs  den  dödenwai  eter  un  möHen  ddn  töu  de  grötdöre 
ingiaje,  nit  tö"  de  litse  (kleine)  döre,  weil  jö,  wan  jö  död  synt,  ök  töw  de 
gräte  döre  ütdreien  (hinausgetragen)  we'de;  un  ddn  faiqt  det  schroten  (Schiessen) 


1)  Eine  interessante  Einladuugsformel :  „Haus  auf  den  Balken,  Leiter  in  den  Sod", 
d.  h.  der  ganze  Hausrat  soll  auf  die  Bühne  gebracht  und  die  Leiter,  auf  der  man  zur 
Bühne  hinansteigt,  im  Brunnen  versteckt  werden.  So  können  alle  Hausgenossen  getrost 
zur  Hochzeit  gehen,  niemand  braucht  als  Hüter  daheimbleibeu. 


266  Siebs: 

fon  dö  tjvgen  un  dö  Her  Ijijde  öun,  dö  jö  fcrbigurje,  un  ddn  wert  der  snaps 
traktirt. 

Un  wdn  ze  dan  in  det  höchtidshiis  ankörnen,  ddn  kemjü  aide  miier  (Mutter) 
fon  den  brydigam  un  Miede  dö  be  fon  de  döre  in  un  latte  (führte)  dermed 
fern  det  fi/ir  (Feuer)  töw  un  rate  (gab)  jü  jwne  wlu  den  sUöu  (Schleef )  in  de 
luV'nde;  un  derüm  kwed  min  ök  we'l:  „ik  wol  den  sl/öu  noch  nit  üt  de  hö"nde 
reize  (geben)".  Un  ddn  wiide  him  erst  en  gles  win  Ichjed  un  ddn  girj  't  eter 
'n  disk  wei  töu  köffidrirjken.  Un  wan  't  ddn  midei  wert  un  wan  det  en  gröte 
höchtid  iz,  ddn  we'de  op  elke  side  fon  de  teil  (Diele)  ployken  leit,  der  set  det 
föHk  sik  befte  loijs.  Der  wert  ddn  det  iten  opdreien  (aufgetragen).  Bupe  an 
sit  di  brydigam  un  jü  bre'd  un  derneist  dö  be  tjügen,  un  ddn  dl  eter  de  fer- 
wäntschaft  föHgje  ze  eter  de  r/ge.  Am  ende  site  dö  be'denc.  Ddn  synt  de~r 
twe'n,  dö  det  iten  öpdrcgen  dwö  med  'n  gröten  höndöuk  in  't  knöpgat  hoijjen; 
erste  sope  med  hauen  un  ddn  tjuken  ris  (dicken  Reis),  gorte  med  plümen  un 
ddn  wud  det  spek  un  wurst  un  schicken  kut  sniden  un  wiide  op  möre  telere 
weise?,  det  elk  hirfon  so  fül  kr/ge  ktide  az  hl  man  mäte  (mochte).  Un  wdn 
dö  bre'dljt/de  'et  göud  dwö  honen,  ddn  wert  ök  we'l  en  fat  sche'p  (fettes  Schaf) 
of  en  faten  weder  slächtet.  Un  bi  det  iten  un  eter  det  iten  wude  erst  bi<~ir 
(Bier)  schthjkt  un  für  't  iten  un  eter  't  iten,  dö  genen  di  brydigam  un  jü 
In-f'd  med  'n  tin'nen  kop  un  'en  letse  deran  (zinnerne  Tasse  und  ein  Löffel 
darin),  det  föHk  rund  un  nö'geden  him  töu  drirjken.  Un  wan  ddn  det  me'ltid 
öpherde,  ddn  gii]en  ze  we'l  fon  den  plats  öu,  der  jö  seten  luden;  ddn  farjde  det 
snapsütschfh]ken  ö"n  töu  fiäür  (vier)  üre  eter  midei,  ddn  wiide  bcreided  töu  de 
fesper.  Un  's  eünds,  wdn  der  müzik  bi  was,  ddn  körn  der  noch  jürjföulk  mör 
üt  det  terp  (Dorf)  un  git/en  me  wei  tö"  donsjen  un  tö11  driijken  tö"  de" 
nacht  öun. 

Aus  keinem  anderen  friesischen  Gebiete  sind  mir  so  wertvolle  Berichte 
über  die  Hochzeitsfeier  bekannt  geworden.  —  Die  Bezeichnungen  des  Bräuti- 
gams und  der  Hochzeit  sind  im  Stl.  entlehnt,  während  die  meisten  anderen 
frs.  Mundarten  die  alten  Namen  dafür  bewahrt  haben1).  Die  Bräuche  aber 
sind  altes  Erbgut.  Natürlich  hat  man  von  einigen  wenigen  kirchlichen  Ein- 
flüssen abzusehen,  z.  B.  das*  die  Hochzeit  gern  auf  den  Josefstag  (19.  März) 
verlegt  wird.  Als  der  am  besten  geeignete  Wochentag  gilt  der  Donnerstag 
(tfmersdei),  der  dem  Gotte  der  Ehe  heilig  war;  die  nächstgelegenen  Tage, 
der  Mittwoch  und  Freitag,  werden  gemieden.  Ist  die  Feier  festgesetzt,  so 
besorgen  Braut  und  Bräutigam  selbst  die  Einladungen.  Die  Gäste  er- 
widern diese  Ehre  mit  Geschenken,  vor  allem  spenden  sie  die  höchtids- 
hanen.     Auch  hierin  ist  vielleicht  eine  Spur  des  Thunerkultes  zu  sehen: 


1)  Noch  im  Hochzeitsliede  des  Imel  Agena  heisst  es  breydegum,  bretjdlofft,  vgl.  harling. 
braidigomm;  nordfrs.  briägum  (Sild),  breedgutj  brielep  (Wiedingharde),  westfrs.  briloft.  Altere 
Saterländer  gebrauchen  statt  höchtid  auch  werschup  (Wirtschaft,  Gelage),  vgl.  harling, 
waschop;  in  anderen  Gegenden  gdme'  (Wurster  Glossar)  und  kost  (holsteinisch  plattd.).  — 
I  ii  Scharrel  sagt  man  freier  statt  brydigam. 


Das  Saterland.  267 

Halm  und  Henne  waren  dem  Gotte  geweiht;  am  Niederrhein  heisst  es, 
man  müsse  die  Hühner  gut.  füttern,  wenn  am  Hochzeitstage  gut  Wetter 
werden  solle;  Hochzeitshahn,  Brauthalm  und  Bräutelhulm  sind  aus  dem 
Brauche  anderer  Gegenden  bekannt.  Und  ferner:  früher  war  es  Sitte,  dass 
das  Paar  sowohl  bei  der  Verlobung  (wang.  libelbiör),  als  auch  nach  der 
Vermählung  einen  Trunk  that,  der  anderwärts  „Johannissegen"  heisst  und 
mit  Thors  Minne,  dem  nordischen  Hochzeitstrunke,  zu  vergleichen  ist 
(Weinhold,  Deutsche  Frauen  II,  383;  anord.  Leben  462).  Endlich  verdient 
auch  das  Schwenken  der  Tücher  Erwähnung,  das,  wie  im  Saterlande,  so 
auch  auf  den  nordfriesischen  Halligen  bei  Hochzeiten  üblich  und  vielleicht 
ebenfalls  ein  Rest  des  Thunerkultes  ist  (vgl.  Chr.  Jensen,  Die  nordfries. 
Inseln  S.  320,  E.  H.  Meyer,  Germ.  Myth.  S.  90). 

Die  stld.  Hochzeitsfeier  lässt  noch  deutlich  die  alte  Scheidung  in  Ver- 
trag und  Übergabe  erkennen.  Bei  dem  Vertrage  erscheint  hier  die  Braut 
nicht  beteiligt.  Aus  dem  elterlichen  Hause  wird  ihre  fahrende  Habe  in 
Begleitung  von  Jungfrauen  auf  Wagen  in  das  Heim  des  künftigen  Gatten 
geführt  —  das  ist  der  eigentliche  Brautlauf  (Weinhold  a.  a.  O.  I,  407). 
Um  jene  Güter,  besonders  aber  um  den  mit  Flachs  bewundenen  Spinn- 
rocken, der  das  Sinnbild  der  jungfräulichen  Braut  zu  sein  scheint  (Simrock, 
Myth.  6  601),  entspinnt  sich  ein  Kampf.  Er  endet  damit,  dass  der  Kauf 
abgeschlossen  und  mit  einem  Trünke  besiegelt  wird.  Spuren  des  Braut- 
raubes und  Brautkaufes  haben  sich  darin  bewahrt.  Dass  sodann  die 
Jungfrauen  im  Hause  des  Bräutigams  das  Hochzeitsbett  zurechtmachen  und 
dabei  allerlei  Scherz  getrieben  wird,  ist  mir  aus  anderen  Gebieten  nicht 
bekannt. 

Auch  der  zweite  Hauptteil  der  Feier,  die  Übergabe,  findet,  insoweit 
sie  nicht  in  die  Kirche  verlegt  ist,  im  Hause  des  Bräutigams  statt.  Die 
Eltern  der  Braut  spielen  bei  der  Entscheidung  über  die  Heirat  keine 
Rolle,  ebensowenig  bei  der  Hochzeit.  Das  Paar,  das  in  der  Kirche 
eingesegnet  ist,  begiebt  sich  auf  dem  Totenwege  (dem  likwei  der  alten 
Rechtsquellen)  nach  Hause  und  wird  vor  der  Hauptthür  von  der  Mutter 
des  Mannes  empfangen  und  um  den  Herd  geführt1).  Uralt  ist  dieses 
Umwandeln  der  Feuerstätte,  altindischem  Brauche  zu  vergleichen. 
Dann  legt  die  Schwieger  das  Sinnbild  ihrer  häuslichen  Gewalt,  den 
grossen  Kochlöffel  oder  Sleef  (sliö"),  in  die  Hand  der  jungen  Frau.  Das 
ist  eine  wohl  nur  aus  dem  Saterlande  bekannte  Sitte,  und  sie  ist  um 
so  auffälliger,  als  von  einem  Symbol  der  Übergabe  des  Weibes  an  den 
Mann,  z.  B.  Ring,  Schuh  oder  Hut3),  keine  Rede  ist.    Das  junge  Paar  ist 


1)  Dass  dort  die  Braut  eine  Messerspitze  Kaminruss  essen  müsse,  um  einen  Vor- 
schmack  künftiger  Bitternisse  zu  haben  (Strack.  II,  125),  ist  nicht  glaublich. 

2)  In  Westfriesland  springt  man  zum  Schlüsse  der  Hochzeitsfeier  über  einen  Hut. 
—  Von  dem  Brauche,  dass  im  Saterlande  der  Bräutigam  über  einen  Tisch  ins  Brautbett 
springen  müsse  (II,  126),  habe  ich  keine  Spur  gefunden. 


268  Siebs: 

nun  im  Besitze  seiner  häuslichen  Rechte,  und  Braut  und  Bräutigam  gehen 
als  Gastgeber  mit  einer  Schale  Branntwein  und  einem  Löffel  umher  und 
reichen  jedem  Anwesenden  davon.  Dieser  Brauch  ist  gemeinfriesisch,  er 
herrscht  auch  in  Nord-  und  Westfriesland  überall.  Dort  ist  das  Fest- 
getränk ein  Aufguss  von  Branntwein  auf  gezuckerte  Rosinen1).  Die 
anderen  Hochzeitsbräuche,  wie  das  Festmahl,  der  Tanz  und  die  Freuden- 
schüsse bieten  wenig  Bemerkenswertes. 

Tod  und   Begräbnis. 

Wan  der  an  stüruen  (gestorben)  iz,  dän  we'de  dö  nähere  rüpen  —  det 
synt  dän  seks  nähere,  dö  mö"ten  dö  fiynde  derfon  bisched  tele  un  dö  mcPten 
Mm  ök  ferklödje.  Bi  ölden  tklen,  dän  mosten  dö  be'dene  hide  det  gänse  terp 
trug.  Dl  rund  far  det  bigreün,  dän  kwiden  jö  in  elke  hüs,  wän  det  dl  fair 
was:  „Geske  (Geesehe,  Frauenname)  un  dö  bi'de2)  le'te  hide  med  'n  döde  tö" 
höwene,  iten  un  drii]ken,  wet  god  biliöH  (beliebt)".  Was  't  en  bi'den,  dum 
kwiden  jö:  ,.</.;  aide  he  Jan  un  Geske  le'te  hide"  un  so  fere  (und  so  weiter). 
Wan  der  en  dödiu  iz,  dän  mö^t  'er  erste  fon  dö  nähere  firkb\h  </  wi'de.    l>än 

(nähen)  dö  wiue  det  hdneklöd  of  hendeklöd;  dö  rnönljüde,  wan  't  en  mö- 
monske  (Mannsmensch)  iz,  dö  putsje  (barbieren)  him  dan  un  wäske  Mm.  Dän 
Irichtir  en  schi?i  Mimend  (reines  Hemd)  ö"n  un  dän  det  heneklod  ök  un  wet 
dan  so  op  't  stri'  del  leit.  Dän  mö"t  'er  en  hüskolt  mähet  we'de,  un  so  möH 
hi  dän  twö  etmffl  leze  (liegen),  er  lü  bigreün  we'de  kon;  un  dän  kämt  dö 
nähere  wier  un  l'ze  (legen)  Mm  int  hüsholt.  Un  dän  den  Her  dei 's  me'dens, 
dän  kumt  det  fö"lk,  un  dö  nähere  käme  un  mäkje  köfje  of  biör  un  bncirtje  det 
föHk.  Un  wan  det  det  serkterp  (Kirchdorf)  iz,  dan  kumt  de  pestöur  un  de 
koster  un  dö  be'dene  un  hälje  'ne  (holen  ihn)  sinken  (singend)  üt\  man  wan 
det  fere  her  iz,  dan  wet  dl  döde  med  'e  wäjen  eter  't  serkhöw  wai  flrt  (nach 
dem  Kirchhof  weggeführt).  Dän  kirnen  der  dö  naiste  fidür  wiue  op  den 
dödenwäien  un  fär  'n  flu  seks  jir  slten  noch  op  elke  läderUmpe  (Leiterzipfel) 
in  wlumonske  fon  dö  naiste  fiynde,  man  det  iz  nü  nit  mö  (nicht  mehr);  ärjh  ld< 
wi  de  der  6k  w&l  wai  dräj$n  (getragen),  besüners  litje  be'dene".  Di  döhe  (Grab), 
dl  iz  dän  klär,  un  dän  we'de  ze  bigreün.  Dän  gui]e  dö  Ijüde  in  de  serke  un 
ihr  wet  en  tiunene  mise  de'n  (wird  eine  singende  Messe  gethan)  un  dereter 
en  pritin/i  (Predigt),  un  dirmed  iz  de  seke  blsleten. 

Dass  das  Saterland,  im  Gegensatze  zu  Nordfriesland,  so  wenig  von  den 
alten  Gebräuchen  bei  der  Leichenfeier  bewahrt  hat,  ist  dem  eifrigen  Vor- 
gehen der  Geistlichkeit  zu  danken.  Die  üppigen  Gastereien  nach  der 
Beerdigung  (Toten-,  Tröstel-  oder  Ehrenbiere),  die  früher  üblich  waren, 
und  von  denen  sich  in  West-  und  Nordfriesland  (Jensen  a.  a.  O.  S.  348) 


1)  Ich  habe  das  auch  im  .Teverlande  als  Festgetränk  beim  Saatdreschen  kennen  ge- 
lernt.    Dort  nennt  mau  es  „smerige  bönen"  (schmierige  Bohnen  . 

2)  Diese    sicher   verbürgte  Pluralform    (statt  be'dene)   ist   nur   in  dieser  Formel  zu 
finden. 


Das  Saterland.  269 

Spuren  erhalten  haben,  sind  abgeschafft.  Aus  der  alten  Ladeformel  aber 
erkennen  wir  noch  die  Sitte,  zu  „essen  und  trinken,  was  Gott  beliebt" 
(.1.  h.  alles  Mögliche).  Jene  „Leichenbitte"  enthält  ferner  ein  sehr  wert- 
volles Zeugnis  für  die  alte  Feier  der  Leichenschau.  Die  sicher  ver- 
bürgten Worte  med'n  döde  tö'1  höwene  nämlich  bedeuten  „mit  einem  Toten 
zur  Darstellung":  tö"  höwene  steht  für  tö"-  öwene,  welches  einem  altfrs.  tö 
auwande  (Brokmerland) ,  ti  äivane  (Westfriesland)  entsprechen  muss  (afrs. 
äwa,  ags.  eawan  zeigen).  Die  Formel  töu  öwene  ward  dann  nicht  mehr 
verstanden  und  in  Anlehnung  an  löu  Uwe  (zum  Kirchhofe)  zu  tö"  höwene 
geändert.  —  Dass  die  Kinder  das  Amt  des  Leiohenbitters  versehen,  ist 
auch  auf  Süd  üblich  (Jensen  a.  a.  0.  S.  336);  die  übrigen  Freundschafts- 
dienste aber  werden  von  den  nächsten  Nachbarn  besorgt,  vor  allem  das 
Einkleiden1)  der  Leiche.  Sie  wird  sorgfältig  gewaschen  und,  wenn  es  ein 
Mann  ist,  rasiert,  dann  mit  Hemd  und  heneklöd")  angethan  und  auf  eine 
Schütte  Stroh  gebettet,  wo  sie  zwei  Etmal  (zweimal  24  Stunden)  liegen 
muss.  Erst  kurz  vor  der  Beerdigung  —  so  ist  es  auch  in  Nordfriesland 
Sitte  —  wird  der  Verstorbene  in  das  Msholt  d.  h.  in  den  Sarg3)  gelegt. 
Beim  Begräbnisse  sitzen  vier  Weiber  (so  auch  in  Nordfriesland;  in  West- 
friesland deren  zwei)  auf  dem  Toteuwagen.  Dass  man  wie  in  jenen 
Gegenden  mit  der  Leiche  vor  der  Bestattung  die  Kirche  umwandelt,  ist 
mir  aus  dem  Saterlande  nicht  bekannt. 

Mittwinter. 
Dl  e'we"nd  fär  midewinter,  der  kwede  (sagen)  wl  tö'1  fon  tjukebükse'wend 
(Dickbauchsabend),  dun  wert  der  pufert  bäken,  im  dan  kricht  elk  sed  (satt) 
pufert,  un  dän  fregje  dö  bidene  (Kinder)  de  mö"er:  „-meine,  iz  dit  nü  dl  e'wend, 
det  wl  sed  Ue  könne?"  „Ji  düners  (nicht  *tüners,  also  plattd.  „ihr  Donners")," 
kwed  jü  möuer,  „krlg  ji  ältid  nü  sed?"  —  Un  so  iz  dl  e'wend  fär  PäsMn  un 


1)  Auf  Wangeroog  giebt  es  dafür  die  besondere  Bezeichnung  Snklö«Ser,  während 
sonst  „ankleiden"  durch  Med  Präter.  Met  Part.  Möidert  gegeben  wird.  Auf  Süd:  bereewin 
Jensen  S.  337. 

2)  Über  die  Bedeutung  von  kenne-  (henneMed,  hennebed,  hennekost  vgl.  hunnenMet, 
hunnebedde)  s.  Siebs,  Zeitschr.  f.  d.  Philol.  24,  154).  —  heneklöd,  der  kwiden  dö  aide  Ijüde 
ök  we'l  ton  fon  negeklöd  (Totenkleid),  s.  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  24,  460.  —  Nicht  „Leichen- 
klcid",  sondern  „Trauerkleid"  scheint  die  Form  regenkled  bedeutet  zu  haben  (Outzen, 
Nordfrs.  Wb.  S.  278;  Molema,  Groning.  Wb.  „regensprijd"  S.  342,  vgl.  ndl.  regenkleed).  Die 
Etymologie  ist  unklar:  an  afrs.  hre,  ahd.  hrio  anzuknüpfen,  verbietet  schon  das  g;  ebenso 
wenig  ist  an  Zusammenhang  mit  ndl.  rouwkleed  zu  denken.  Da  das  Wort  aus  dem  Ndl. 
und  Plattd.,  nicht  aber  aus  dem  Fr  s.  sicher  zu  belegen  ist,  so  ist  Vergleich  mit  ahd.  hregil 
am  wahrscheinlichsten.    Dieses  Wort  ist  im  Afrs.  durch  hreil  vertreten. 

3)  eig.  „Holz,  das  zur  Behausung  dient":  in  Strücklingen:  dödkiste.  Wangeroog. 
dCßdholt  oder  holt-,  harling.  hueshold,  daudekist.  Nordfrs.  UkkOst  „Leichenkiste",  westfrs. 
dieffet  ..Totenfass".  —  In  Nordfriesland  findet  man  zahlreiche  Steinsärge,  die  als  Tränktröge 
gebraucht  werden  und  „nöst"  heissen  (Amrum:  naast  Johänsen,  Nordfrs.  Spr.  S.  106).  Afrs. 
nost  Rechtsq.  228,  11.  229,  13  (ö  ist  vor  st  zu  o  gekürzt  worden)  ist  zu  vergleichen  mit 
ahd.  nuosk  Tränkrinne. 


270  sieDS: 

ök  fär  Piaster.  Un  dän  Midhvintcrsdei  un  Päskedei  un  Pirjsterdei,  ddn  teert 
der  tjuke  gorte  med  plüme  seden  (gesotten),  un  der  kumt  Sirup  ür  un  der  kumt 
ddn  di  höhe  swinekop  med  tafele  un  musterd  eter  (der  halbe  Schweinskopf 
mit  Kartoffeln  und  Senf)  [Strücklingen]. 

Wein  en  dai  fär  nijir  (Neujahr)  körn,  ddn  wud  älehöundegöud  änschafet 
töu  'n  tvepelröud.  Dein  moste  erste  en  stok  kruld  (gekrallt)  we'de,  der  körn  ddn 
hupe  en  holten  hart  op,  ddn  kernen  der  in  det  hart  krulde  stiken  (Stäbchen) 
öun  fon  'n  fö"t  lot] ;  derüme  tö"  wüd  en  bau  fon  en  wilgene  jed  (Bügel  von 
einer  Weidengerte)  set'.  Ddn  fon  farner  side  wud  det  med  klinstergöuld 
(Flittergold),  gö"ldpopir  un  rö"zen  fersierd,  un  op  dö  stiken  körn  op  elk  en 
äpel.  Uner  det  hart  wud  en  bred  sink  lint  (Band)  üme  töu  strikt  un  hotjede 
ddn  so  le*g  del  (tief  nieder)  az  di  wepelrö^d  brul  was.  Un  wan  nü  di  wepel- 
rö"d  klär  was,  ddn  wud  so  lone  teued  (gewartet)  det  'et  tjüsterg  (düstei")  was, 
un  ddn  ghjen  en  pör  mon  dermed  eter  Iure  fiynde.  Ddn  moste  en  iviymänske 
of  en  wucht  den  ivepelrö"d  dö  fiynde  bine  de  dar  sete  un  di  mönspersön  di 
dkl  (that)  det  schiöten  (Schiessen)  bitte  fdr  't  finster.  Wan  det  whtmänske 
of  det  wucht  den  wepelräPd  derin  seile,  dän  hiden  jö  sö'n  gerlmml  derbi: 

Jih-  bran  ik  jöu  en  wepelrS"d, 

den  wol  ik  jö"  schäyke  (schenken), 

un  wän  ji  ml  gripe  iroln, 

dan  mö"t  ji  J0"  nit  loije  bitänke  (bedenken)". 

Dän  ronen  ze  weg  un  ddn  mönten  dö  Her  him  gripe,  un  wän  ze  him  ddn  krigen 
op  hire  gründe,  dän  mosten  jö  med  him  in  't  hüs,  un  dän  gin  det  fezitjen 
(„visitjen,  d.  h.  bewirten")  lös.  Man  kernen  jö  fon  hire  gründe  ö"  (ab), 
dän  wiren  jö  frei  un  hövgeden  (brauchten)  ze  nit  me  (mit).  Un  so  gin  't  ök 
den  eünd  fdr  hilge  tre1  könige,  man  dän  was  in  den  wepelrö"d  nen  hart,  suner 
'n  stirne  (Stern). 

Dan  den  ne'jirsme'den,  ddn  stüd  elk  eder  (früh)  op,  um  di  ene  fär  di  Her 
wil  di  erste  weze,  um  det  nPjir  an  ö"töuwinen.  Un  so  gh]  det  dän  hüs  bi  hüs 
det  gänse  terp  trüg  un  krigen  in  elk  hüs  fuzel  un  ök  ne^irskö^ke.  Un  so  gut  t 
den  gänse  dai  trüg. 

Die  Völlerei  an  den  Festabenden  scheint  mit  dem  alten  Speiseopfer 
zusammenzuhängen.  Besonders  werden  diese  „Dickbauchs-"  oder 
„Vollbauchsabende"  aus  den  Landen  nördlich  der  Elbe  bezeugt.  Im 
Saterlande  durfte  am  Neujahrsabend  der  „halbe  Schweinskopf"  nicht  fehlen: 
das  mag  auf  die  alten  Schweineopfer  zurückführen,  die  man  zu  Mittwmter 
der  Frija  darbrachte1). 


1)  Vgl.  Jahn,  Opfergebr.  S.  265.  Man  darf  in  solchen  Annahmen  aber  nicht  zu  weit 
gehen  und  darf  nicht  vergessen,  dass  in  manchen  Gegenden  aus  praktischen  Gründen  das 
Schwein  während  des  Winters  fast  die  einzige  Fleischspeise  ist.  In  den  Wesermarschen 
isst  man  im  Frühling  fast  ausschliesslich  Kalbfleisch,  im  Sommer  Schafe,  im  Herbste 
Rinder  und  im  Winter  Schweinefleisch. 


Das  Saterlana.  271 

Unter  den  Gebräuchen  der  Zwölften  nimmt  das  Werfen  der  wepel- 
rö"d  die  wichtigste  Stelle  ein.  Wenn  dieses  Wort  echt  saterländisch  ist, 
kann  es  nicht,  wie  Kuhn,  Nordd.  Sagen  S.  406,  518  annimmt,  Diminutiv 
von  got.  waips,  ahd.  weif  (vgl.  ostfrs.-plattd.  ivepeln)  sein:  in  solchem  Falle 
müsste  es  wcpelrö"d  lauten.  Es  scheint  vielmehr  aus  werpelröud  entstanden 
zu  sein  (vgl.  nordfrs.  wjarpeln,  Intensivum  zu  „werfen")  und  Werfrute  zu 
bedeuten.  Überall  ist  der  Glaube  verbreitet,  dass  die  Zwölften  der  Weis- 
sagung und  dem  Losen  besonders  günstig  seien  (s.  unten  Kap.  All). 
Strackerjan  (I,  88)  erzählt,  dass  im  Saterlande  die  ivepelrö"d  zum  Loswerfen 
verwandt  worden  sei,  und  demnach  könnte  man  versucht  sein,  sie  als 
„Würfelrute"  zu  deuten.  Aber  der  Bericht  von  einer  längst  „verschwun- 
denen Sitte"  ist  stets  sehr  bedenklich  und  auch  die  Art,  wie  sie  geübt 
worden  sein  soll,  ist  nicht  glaubhaft.  Ich  vermute,  dass  wir  die  in  anderen 
Gegenden  übliche  Auspeitschung  böser  Dämonen  vergleichen  müssen. 
Man  peitscht  die  Mare  aus,  man  sucht  das  wilde  Heer  durch  Peitschen- 
knallen zu  vertreiben,  und  gerade  zur  Zeit  der  Wintersonnenwende  verjagt 
man  die  Dämonen  durch  Peitschenknallen,  Rutensehlagen,  Schiessen  und 
Lärmen  (Jahn,  Opfergebr.  S.  259).  Wie  sich  ein  Rest  solcher  Bräuche 
z.  B.  in  den  schlesischen  Schmackostern,  jenen  verzierten  Osterruten,  er- 
halten hat,  so  in  der  stld.  wepelröud.  Und  auch  in  der  Art  der  Überbringung 
zeigen  andere  Gebiete  Vergleichbares.  Die  Bursche  „fitzeln"  („dengeln", 
„pfeffern")  um  Weihnachten  die  Mädchen,  und  diese  erwiedern  den  Brauch 
um  Neujahr  (Mannhardt,  Baumkult  S.  265  fgg.).  Strackerjan  (II,  32)  be- 
richtet, dass  sich  zu  einem  ähnlichen  Scherze  unter  den  jungen  Leuten 
des  Saterlandes  die  Überbringung  der  wepelröud  entwickelt  habe :  sie  werde 
dem  jungen  Mädchen  am  Neujahrsabend  als  eine  Liebeswerbung  dar- 
gebracht. Ob  das  hölzerne  Herz  auf  diesen  Brauch  hindeuten  soll,  ist, 
wie  alle  derartigen  symbolischen  Deutungen,  völlig  unsicher.  Kuhn  wollte 
in  dem  oberen,  bügelartigen  Teile  der  wßpelrö"d  das  Bild  des  Rades,  d.  h. 
der  Sonne  erkennen1);  das  Abschälen  des  Bastes  von  den  Ruten  könnte 
man  (vgl.  Jahn  a.  a.  0.  S.  195)  auf  das  Flachsopfer  beziehen  u.  a.  m.  — 
ich  glaube  aber,  dass  es  sehr  gewagt  ist,  solchen  Schmuck,  wie  er  bei 
Maibaumkronen  und  Sonnenruten  vielfach  erscheint,  im  einzelnen  sinnbild- 
lich zu  erklären.  Mannhardt  (Baumkult  S.  163  fgg.,  247  fgg.)  meint,  dass 
die  Überbringung  der  weprtröud,  wie  in  anderen  Gebieten  das  Maienstecken, 
ursprünglich  mit  der  Liebeswerbung  verbunden  gewesen  sei.  Eine  solche 
Behauptung  ist  an  sich  unbeweisbar;  ihr  widersprechen  aber  auch  meine 
Berichte,  nach  denen  die  wepelrö"di)  nicht  nur  von  Burschen,  sondern  auch 
von  Mädchen  ausgebracht  wird  und  von  einer  Erwiederung  nicht  die  Rede 
ist;    es  heisst  nur,  dass  man  am  5.  Januar  (also  am  Ende  der  Zwölften) 


1)  Vgl.  auch  Wolf,  Beiträge  z.  d.  Myth.  I,  114. 

2)  Die    an    den    alten   Wettlauf    erinnernde   Verfolgung    des   Überbringers   ist   be- 
merkenswert. —  Altfrs.  heisst  Weihnachten  midwinter  und  der  5.  Janr.  twilifta  (tolefta)  dl. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893.  19 


272  Siebs: 

ebenfalls  wepelröude  überbringt,  die  aber  anstatt  des  Herzens  (dem  christ- 
lichen Dreikönigsbrauche  gemäss)  einen  Stern  zeigen.  Nach  Strackerjans 
Angaben  hingegen  ward  vor  Zeiten  die  ioipelrö"d  von  den  Mädchen,  denen 
die  Werbung  genehm  war.  durch  eine  ti/nskir  erwiedert.  Das  war  ein 
Kohlstrunk,  der  in  einen  Torfsoden  gesteckt  war  (II,  34)  und  auf  der 
Spitze  eine  Papierlaterne  trug;  durch  den  Stamm  waren  Querstäbe  gesteckt, 
an  denen  Äpfel  und  Kuchen  hingen.  Noch  eher  als  die  wepelrö"d  Hesse 
sich  diese  tf/nskir  mit  dem  Weihnachtsbaume  vergleichen;  aber  solche 
Berichte  über  längst  „verschwundene  Sitten"  sind  sehr  unzuverlässig1). 

Glaubwürdiger  ist  die  Nachricht,  dass  man  am  zweiten  Weihnachts- 
tage  (II,  27),  dem  Steffenstage,  den  „Steffen  aus  der  Tonne  klopfte". 
Einer  ward  in  eine  Tonne  gesteckt  und  mit  dieser  in  das  Dorf  gerollt; 
dabei  und  nachher  ward  tüchtig  getrunken.  Steffenstrunk  und  Tonnen- 
treiben sind  ja  mancherwärts  üblich2).  Auch  die  Sitte,  dass  während  der 
Zwölften  nichts  rundum  gehen,  besonders  aber  das  Spinnrad  nicht  gedreht 
werden  durfte  (Kuhn  a.  a.  0.  S.  418),  ist  aus  anderen  Gegenden  bezeugt: 
auf  Föhr  durften  Schiebkarren  und  Wagen  in  dieser  Zeit  nicht  gebraucht 
werden  (Jensen,  Die  nordfrs.  Inseln  S.  376).  Übereinstimmung  nord-  und 
ostfriesischen  Brauches  also  ist  auch  hier  wieder  erkennbar. 

Auf  die  von  Strackerjan  (II,  30)  mitgeteilten  Lieder  ist  nichts  zu 
geben:    sie  verraten  weder  in  Form  noch  in  Inhalt  saterländische  Spuren. 

Fasnacht. 

Bl  ölden  tiden,  dein  flrden  dö  ljf/de  tri1  dege  foseleünd  (Fastelabend).  Den 
sündai,  wan  det  fö"ik  üt  de  lest  tjönst  (Gottesdienst)  körn,  dein  girjen  ze  eter 
't  wershüs  un  donseden  so  lor\,  we'l  jit  gdnse  nacht  trüg.  Wan  't  dem  Ijächt 
(licht,  hell)  wude,  dein  mäkeden  dö  feilte  (Jungen)  en  aide  imete'ne  (Bienen- 
korb) med  'n  stri'sil  (Strohseil)  um  'e  neke  (Nacken)  un  an  med  'n  gafele 
(Gabel)  un  an  med  'n  eskepfjt  (Aschensack),  det  was  en  stok  med  'n  plun 
derän,  dl  wud  die  Kir  un  dir  u-i't  (nass)  mäket  un  in  'c  eske  stipet.  Dan  gir\ 
det  geneljen  (gängeln)  dn  un  ze  gh^en  die  hüze  bllörjs;  weke  raten  (gaben)  him 
en  wüst  op  'e  gafele,  weke  raten  him  en  ai  (Ei)  in  'e  te'ne,  un  dl  den  eskepgt 
drüch,  dt  mäste  derop  päije,  det  da  Her  gerjelre  (Gängeier)  him  dir  niks  fon 
weg  nümeti.  Wdn  jö  det  terp  rund  wiren,  ddn  gvqen  jö  wler  in  det  wershüs, 
un  dir  wilden  dö  äiere  un  wüste  ferterd.  Dan  giijen  dö  fente  dl  ine  hlr,  dl 
Tier  dir  un  halden  dö  wuchtere  eter  't  wershüs  töu.    Dö  wuchtere  mosten  häled 


1)  Die  Etymologie  ist  völlig  unsicher.  An  die  Bedeutung  ..Gartenschere"  ist  nicht 
zu  denken;  eher  könnte  in  tun  der  Begriff  „flechten"  (zäunen)  und  in  skir  der  Begriff 
„Stock,  Stütze"  gesucht  werden  (vgl.  mnd.  schare,  scliarlatte,  siehe  auch  scher-latte  Doornkaat, 
Wb.  III,  116),  also  etwa  „ein  mit  Zauinverk  versehener  Stab".  Schmeller  verzeichnet 
„Zaunscher",  eine  Art  Fischzeug,  s.  bayr.  Wb.  II,  452.  1130. 

2)  Der  Steffen  oder  Pferdesteffen  (Wodan?)  spielt  auch  auf  Wangeroog,  in  den  Dit- 
marschen  etc  ,  eine  grosse  Rolle.  Nach  Strackerjan  (II,  40)  sind  im  Saterlande  Kuchen- 
eisen mit  Pferd  und  Reiter  im  Gelrauche. 


Das  Saterland.  273 

weide:   den   dei  girjen  ze  fon  sehten  der  nit  wei.     Dan  wüde  wier  dönsed  so 
loije  as  ze   wden. 

Di  te'sdei  (Dienstag)  det  was  bekensdei,  dän  hebe  die  triö  sespele  (drei 
Kirchspiele)  eter  Römelse  geen;  in  jü  Römelsder  serke  hed  en  gräte  londkiste 
sten,  wir  die  poplre  fon  't  Selterlö"nd  änwlren.  Der  wuden  ök  an  öpbiwdred 
dö  ■ikemestere  hire  srken  (Sachen),  tö"m  be'spil  enster,  fiödep,  krüs  un  dl  wet 
dö  ikemestere  (Tgl.  S.  250)  brüke  mosten.  Dan  wüden  op  det  Römelsder  serkhöw 
df>  burgemestere  weled  un  ök  dö  schüfe mestere,  dö  vnren  az  nü.  dö  feldhyteri . 
Wan  det  nü  de'n  (gethan)  was,  dan  girjen  dö  Römelsder  med  dö  Holener  eti  r 
Klompketile.  Dan  hiden  ze  suke  bekene  fon  stre*,  dö  wiren  fon  stre'  töhöpe 
bünden,  un  dan  gii]  det  ene  terp  jün  't  Her  (gegen  das  andere),  dän  scheuen 
un  trönen  (schoben  und  drängten)  ze  sik  un  sliigen  sik  med  dö  bekene.  Di 
dan  Tirreg  (zurück)  mäste,  di  hid  ferleden  (verloren)  un  moste  dein  me  med 
dö  f/er  eter  hire  wershüs  tö".  Dan  wvd  ö^nfäted  (angefasst,  d.  h.  angefangen) 
töw  donsjen  un  biör  un  füzel  tö"  drinken.  [Un  wan  det  dan  de'n  was,  dän  voüd 
di  foseleünd  anerwaine  (irgendwo)  b/greün.  Det  hebe  ik  nit  blö"ked  (gesehen), 
man  det  hebe  ik  fertelen  herd.]  Un  dan  wud  donsed  so  lorje,  f.,"  twelu  i/re,  un 
<L  r med  was  di  foseleünd  tö"  endi . 

Nach  einem  anderen  Berichte  fand  das  „Gängeln"  schon  eine  Woche 
vor  Fasnacht  statt:  acht  dege  fär  f>seleii?id  dän  bise'den  (benähten)  dö  fente 
hire  hö"de  med  popir  un  girjen  in  twe'n  köpele,  gräte  un  litje,  ale  terpe  in  't 
8elterlö"nd  trug  um  äiere  un  wüste  un  soi]en  derbi  midwinterssone;  dö  äiere 
un  ivuste,  dö  biwdrden  jö  op  tö"  foseleünd. 

Diese  Darstellungen  weichen  in  einigen  wesentlichen  Punkten  von 
denen  Strackerjans  (II,  36  fgg.)  ab.  Dass  die  Rollen  beim  Einsammeln 
der  Gaben  an  den  Eierülk,  den  Judas  und  den  Wurstberend  verteilt  sind, 
ist  jedenfalls  erst  eine  spätere  scherzhafte  Zuthat;  nach  meinem  Berichte 
ist  unter  den  Gänglern  „der  Manu  mit  dem  eskepijt",  der  au  den  „Hans 
Muff"  mit  dem  Aschensack  erinnert1).  Von  den  „midwinterssoijeu,  die  diese 
Leute  anhüben,  ist  mir  nicht  «las  Geringste  bekannt  geworden.  -  Der 
Haupttag  der  Fasnachtszeit  war  der  bekensdei,  wahrscheinlich  zugleich 
die  grösste  Feier  des  ganzen  Jahres,  gleichsam  ein  Stiftungsfest  der  sater- 
ländischen  Verfassung  (s.  oben  S.  24'J).  Eine  ganz  ähnliche  Feier  des 
Winterschlusses,  die  mit  dem  grossen  Frühlingsthing  verbunden  war,  hat 
sich  in  Nordfriesland  erhalten:  sie  ist  auf  Petri  Stuhlfeier  übertragen 
worden  (22.  Februar).  Die  Hauptsache  war  da  früher  das  Bikenbrennen;  es 
ist  allmählich  zu  einer  Belustigung  der  Kinder  herabgesunken  (Müllenhoff, 
Schlesw.-holst.  Sagen  S.  167;  Jensen  a.a.O.  354  fgg.).  Nach  Strackerjans 
Bericht  wurden  auch  im  Saterlande  die  bekene  (afrs.  beken  =  germ.  ''baukin-, 


1)  Die  Deutung  dieses  Namens  durch  Simrock  (Myth. 6  548)  ist  unhaltbar.  Nicht 
weil  er  die  Kinder  in  den  Muff  steckt,  sondern  wegen  des  schlechten  Geruches,  den  er 
mit  seinem  Aschensacke  verbreitet,  heisst  der  Mann  „Hans  Muff".  Um  einen  besonders 
schlechten  Geruch  zu  erzeugen,  wird  im  Saterlande  die  Asche  nass  gemacht. 

19* 


274  Siebs: 

vgl.  ahd.  bouhhan  =  germ.  %aukan-),  d.  h.  die  Zeichen  (Baken)  angezündet, 
und  damit  ward  unter  wildem  Geschrei  ein  Fackellauf  über  die  Felder 
gemacht.  Meine  Angaben  reden  davon  nicht,  wohl  aber  von  einem 
Scheinkampfe,  der  zwischen  den  Dörfern  Kamsloh  und  Hollen  bei 
Klompketile  (d.  h.  Klampensteg),  hart  an  der  Grenze  der  beiden  Bauer- 
schaften stattfand.  Vielleicht  waren  ursprünglich  beide  Bräuche  neben- 
einander vorhanden,  und  später  ist  das  Fackellaufen  abgekommen.  In 
gleicher  Ursprünglichkeit  wie  im  Saterlande  hat  sich  wohl  nirgends  das 
Scheingefecht  erhalten  (vgl.  Mannhardt,  Baumkult  548  fgg.).  Ob  es  den 
Kampf  des  Sommers  mit  dem  "Winter  darstellen  sollte,  der  schliesslich 
gefangen  und  begraben  wai'd,  und  ob  die  anderwärts  üblichen  Wettläufe, 
Vogelschiessen  u.  dgl.  Abschwächungen  ähnlicher  Kämpfe  sind,  lässt  sich 
nicht  erweisen.  —  Was  Strackerjan  von  einem  „Ruuenbouk"  berichtet, 
klingt  unglaublich;  jedoch  die  Mitteilung  aus  Barssel,  dass  dort  ein  alter 
Ehemann  zu  Fasnacht  eine  Fahne  über  die  neuverheirateten  Männer  ge- 
schwungen und  sie  ermahnt  habe,  ihren  Weibern  treu  zu  sein,  scheint, 
wie  so  mancher  andere  Fasnachtsbrauch,  auf  die  Verehrung  des  Thuner 
zurückzuführen  (vgl.  oben  S.  267). 

Ostern. 

Wan  me  op  de  Ilebreg  (Ilebrücke)  steint  un  in  't  nöde  (Norden)  kiket, 
dan  iiueht  (sieht)  man  halk  ö^ger1),  wir  tofädene  (zuvor)  det  päskefiür  öbadend 
(abgebrannt)  ivnde.  In  de  unke  für  päsken  slipende  (schleppten)  dö  fente 
busk  un  strük  töhnpe,  en  gräten  ber/g,  we'l  az  en  hüs  hoch,  un  wan  't  da?i 
pdskemöndai  was  un  't  beginde  dunker  tö  weden,  dan  kernen  ale  Ijijde  öld  un 
juri  der  töhöpe  un  dan  wüde  det  päskefiür  önstikt  (angesteckt).  Man  det  fiür 
detö  moste  med  stel  (Stahl)  un  sten  wonen  wüde.  Wan  det  fiür  dan  lystig 
badende,  dornende  fciitr  un  unechtere  derüme  tö,  bikeden  (bickten)  med  hire 
äiere,  un  wel  det  äi  fon  den  ör  styken  (entzwei)  slüch,  di  hide  detselge  wonen. 
Wan  det  fiür  dan  mör  ütbadend  was,  nömen  dö  fente  gröte  brande  derfon,  dö 
namili  u  ze  bekene  un  der  ronen  zi!  med  herüme  az  wan  't  male  (verrückte) 
(ji/i/i  iriren.  Was  't  fiür  dan  ütbadend,  dan  girren  ze  in  prosesiön  eter  serke 
un  (jiijen  tree  (dreimal)  um  't  höio  (Kirchhof)  un  dan  eter  hüs;  ölde  Ijuiti 
g/nen  ök  wel  toter  eter  H  päskefiür  un  häleden  sik  der  'n  glöine  (glühende) 
köle  her,  wir  ze  in  't  hüs  det  fiür  fon  neen  med  önstikti-n.  [Scharreier 
Mundart.] 

Der  Tanz  um  das  Osterfeuer,  welches,  wie  auch  das  erste  Herdfeuer 
im  Neubau,  mit  Stahl  und  Stein  gewonnen  werden  muss,  ferner  das  Eier- 
bicken,  der  Fackellauf  und  der  dreimalige  Umgang  um  die  Kirche  —  alle 
diese  Bräuche  sind  im  einzelneu  auch  aus  anderen  Gegenden  bekannt.  — 


1)    bedeutet  nicht  etwa  „heiliges  Ufer",  sondern  halk  ist  =  ags.  healic  „hoch". 


Das  Saterland.  275 

Die  Bezeichnung  „pascha"  ist  über  ganz  Friesland  verbreitet,  vgl.  aordfrs. 
püask  (Amrum)  westfrs.  peeske. 

Pfingsten. 

Krisü   hemelfärt  —   det  's  tjön  (zehn)  dege  fdr  pinster  —  ddn  löteden 

(losten)  die  wuchtiri,  wel  jü  königin  wize  schul,  un  reiten  (gaben)  dan  elk 
in  fifte  höht  (472),  derfär  wilden  in  höud  un  in  kräns  töustäld  (eig.  zugestellt, 
(1.  h.  bestellt). 

Pinstirmö"ndai  eter  di  lest  tjöinst,  ddn  mosti  dl  ölde  könig  den  fügel  op 
'e  melni  (Mühle)  hebe,  ddn  gin  detjihjfö"lk  wen  eter  det  hjnigshns  un  ferdrorjken 
der  in  höhte  tune  b%ör,  de  moste  dl  könig  die  jtre  riki  (geben).  Dan  ginin 
ze  fon  der  eter  de  melni,  Holinir  un  Römilsdir  ali  be  terpi,  un  dan  wud  der 
kwedin :  „leH  üs  bedje,  det  gßd  üs  fdr  üngluk  btwclrt"  un  ddn  fdtede  det  fügel- 
srhintin  ö"n.  Ddn  schöt  dl  könig  erste  tre'i  (dreimal),  ddn  schöt  dl  fögd  enml. 
un  ddn  schöt  dl  mulir  insin,  un  ddn  küd  elk  schiöti  so  gdu  (schnell)  a  der 
man  wtt.  Ddn  wi/d  so  lorje  schitin,  det  dl  fügel  derö"  fei  (herabfiel).  Ddn 
körn  ofti  noch  strtd,  waildet  elke  terp  den  könig  hebe  teil.  Ddn  körn  jü  königin 
med  in  ne'en  höud  un  in  kräns  dercin  un  set'ti  den  hö"d  den  op,  di  den  fügel 
öuschetin  hfdi.  Dan  moste  dl  ölde  kernig  —  di  Mde  in  tinnin  fügel  in  't 
knöpgat  bumiljin  --  den  möst  hl  den  dwö  (thun,  d.  h.  geben),  dl  den  fügel 
ö"schitin.  Mde,  un  dl  was  dan  det  jir  könig.  Dein  nöm  dl  ne'i  könig  sin  ne'i 
königin  un  dl  ölde  sin  ölde  königin  in  'n  trem  (Arm)  un  girjin  eter  't  wershüs 
wai,  un  der  dl  det  föulk  befte  In  un  dl  fiölinstriker  (Geigenstreicher)  girj 
faröp.  Ddn  dönsidin  dö  be  pör  (die  beiden  Paare)  triö  splle  (drei  Spiele, 
Tänze)  alini,  un  ddn  donside  eil  det  föHk. 

Jü  nacht  fär  pinstermöundai  ddn  wud  in  gröten  mdiböm  feir  det  wershüs 
öpr/ucht',  bupe  med  in  twerstok  (Querstock),  op  'e  ine  side  en  holtini  schiijki, 
op  'i  iiir  side  in  putelji.  Wem  ze  ddn  den  vir  dai  in  zet  (eine  Weile)  donsid 
hiden ,  ddn  do?iseden  ze  um  den  mdiböm  töu,  un  dein  moste  dl  könig  un  ja 
königin  an  den  mdiböm  stö"?idi  un  hebi  med  sik  been  (miteinander)  an  tdske- 
döuk  töu  pdkjin  (packen),  der  dönsidin  dö  üer  (die  anderen)  ddn  eil  ürher 
(drüberher).  Ddn  ginin  ze  eter  dö  neiste  nabirhuzi,  un  ddn  mosten  dl  könig 
un  jü  königin  bl  't  fiür  stöundi  med  den  tciskidö"k,  un  der  donseden  ze  dan 
wler  dl  ürher  rund  um  't  fiür  tö".  Ddn  giij  't  wier  etir  't  wershüs  töu.  Un 
so  iz  det  in  öldi  tiden  wizen,  man  opstüns  (zur  Stunde,  d.  i.  jetzt)  flrt  elki 
terp  feir  sik  det  fügilschwtin  op  pinstermö"ndai. 

Unter  dieser  Fülle  von  alten  Bräuchen,  welche  die  saterländische 
Pfingstfeier  ausmachen,  stehen  mehrere  ganz  vereinzelt  da.  Maifest  und 
Vogelschiesseu  sind  hier,  wie  man  es  öfters  findet,  miteinander  verschmolzen, 
und  Sonnwendbrauch  ist  in  dieser  Feier  aufgegangen.  Maikönig  wird,  wer 
im  Wettschiessen  Meister  bleibt:  ihm  wird,  als  dem  besten  Schützen,  das 
Zeichen  des  zinnernen  Vogels  übergeben,  und  von  der  Königswürde  ergreift 


276  Siebs: 

er  Besitz,  indem  ihm  die  Maikönigin1)  den  Hut  aufsetzt.  "Während  in  den 
meisten  anderen  Gegenden  der  König  selbst  seine  Braut  wählen  darf,  wird 
diese  hier  unter  den  Mädchen  des  Dorfes  schon  zu  Himmelfahrt  ausgelost. 
Ihr  Kranz  und  des  Königs  Hut  werden  auf  gemeinsame  Kosten  beschafft. 
Elf  Tage  später,  am  Pfingstmontag,  erst  findet  das  Vogelschiessen  statt. 
Bei  diesem  sind  zwei  Punkte  besonders  auffällig:  vor  allem  das  Gebet  zu 
Beginn  der  Feier,  das  dem  Ganzen  eine  eigenartige  Weihe  giebt.  Und 
ferner:  im  Saterlande  wird  der  Vogel  nicht  von  einer  Stange  oder  vom 
Maibaum,  sondern  von  einem  Flügel  der  Windmühle  herabgeschossen,  und 
nächst  dem  vorjährigen  Könige  und  dem  Vogte  hat  der  Müller  das  Recht, 
vor  den  anderen  Leuten  zu  schiessen.  -  -  Der  zweite  Teil  der  Feier  spielt 
beim  Maibaume.  Das  ist  (II,  52)  eine  Birke2)  mir  einem  Querstocke,  von 
dem  auf  der  einen  Seite  ein  hölzerner  Schinken,  auf  der  anderen  eine 
Flasche  herabhängt.  Dass  man  den  Maibaum  mit  Trink-  und  Esswaren 
schmückt,  wissen  wir  auch  aus  anderen  Gegenden3),  und  den  Erntemai 
zierte  man  gern  gerade  mit  Würsten.  Schinken,  Weinflaschen  und  dergl. 
(vgl.  Mannhardt,  Baumkult  S.  170  —  172;  202  f gg.);  dass  man  aber  einen 
hölzernen  Schinken  und  eine  leere  Flasche  aufgehängt  hätte,  ist  mit- 
sollst nicht  bekannt.  Von  der  Sitte  (H,  78)  dass  vor  Zeiten  auch  im  Sater- 
lande ein  Erntemai  aufgerichtet  ward,  ist  keine  Spur  bewahrt;  ist  dieser 
Bericht  aber  glaubwürdig,  so  liegt  die  Vermutung  nahe,  dass  der  erwähnte 
Schmuck  des  vor  der  Ernte  errichteten  Maibaumes  etwa  einen  Gegensatz 
zum  herbstlichen  Erntemai  bilden  sollte,  der  mit  einem  wirklichen 
Schinken  und  einer  gefüllten  Flasche  geziert  war.  --  Der  Maibaum  wird 
umtanzt,  und  dann  müssen  alle  über  ein  Taschentuch  springen,  das  von 
dem  Königspaare  gehalten  wird.  Wahrscheinlich  ist  dieser  Sprung  ein 
Rest  der  anderwärts  üblichen  Sitte,  über  das  Sommersonnenwendfeuer  zu 
springen.  Dass  Tänzer  und  Tänzerinnen  dann  von  Hof  zu  Hof  gehen,  ist 
ebenfalls  für  andere  Gegenden  (vgl.  z.  B.  Kuhn,  Märkische  Sagen  S.  327) 
bezeugt,  wie  denn  überhaupt  ein  Pfingstumzug  vielerwärts  stattfindet4).  Es 
darf  als  sicher  gelten,  dass  dem  Gewittergott  Thuner  ein  Anteil  an  dem 
Mittsommerfeste  zukam  (vgl.  auch  Hillebrandt,  Die  Sonnwendfeste.  Festschr. 
f.  Konrad  Hofmann  S.  339).  Da  nun  jener  Sprung  über  das  Tuch  sich 
beim  Umgänge  um   die  häuslichen  Herde  wiederholte,    so  mag  man  darin 


1)  Von  der  Fflirlit  einer  Gegengabe    II,  52)  ist  mir  nichts  bekannt  geworden. 

2)  Die  Birke  heisst  dl  rizene  hörn;  der  Vogelbeerbaum  (Eberesche)  heisst  meines 
Wissens  niemals  mäiböm,  wie  Strackerjan  [1,52  meint,  sondern  kwlke  oder  drözelkebe'eböm. 

3)  Selbst  in  grossen  Städten  findet  man  Reste  dieses  Brauches  bewahrt.  Ich  erinnere 
midi,  dass  noch  etwa  vor  25  Jahren  stets  auf  dem  Bremer  Schützenfeste  eine  hohe,  mit 
Seife  beschmierte  Stange  errichtet  war.  Sie  war  mit  einer  Krone  geschmückt,  in  der  Ess- 
war, d.  bunte  Tücher  u.  dergl.  hingen.  Die  Knaben,  die  den  Stamm  erklettert  hatten, 
durften  sich  ein  Stück  her  abnehmen. 

4)  Pfingstprozessionen  haben  siel,  namentlich  in  katholischen  Gegenden  erhalten, 
nach  Strackerjan  II.  52  auch  im  Saterlande. 


Das  Saterland.  277 

eine  Spur  des  Thunerkultes  sehen,  umsomehr  als  in  diesem  das  Tuch  auch 
sonst  eine  Rolle  spielt  (s.  oben  S.  267.  274). 

Ernte  und  Sonstiges. 

Tickte  bl  kalk  <~>"ger  leze  (liegen)  ewige  ekere,  dö  P'tpkeberig  hete,  un  fuks 
derart  synt  örs  fn'ge  ekere,  dö  man  Schyrionswerft  namde ,  un  hiran  leit  det 
aide  höf,  wet  nü  ök  rögenekere  synt.  Nit  fir  derfon  iz  det  melenkiys  (Mühlen- 
kreuz), wir  ze  töfdrne  uner  aden  's  eünds,  wan  't  minen  (Mähen)  den  (gethan, 
fertig)  was,  töhöpekemihe ,  medere  un  binstere  (Mäher  und  Binderinnen),  un 
dir  wdlden,  det  hat  dt  ene  pakede  den  ör  bi  de  b'ene  un  walterden  sik  so  herüme 
[Scharr el].  Wan  dl  röge  töuhüs  was,  dein  wud  der  ädenbiör  helden  (Ernte- 
bier gehalten);  ddn  wa'  der  müzik  in  'n  wersküs,  der  gi>]  det  jwrje  föHk  dl 
waine  (hin),  ök  dö  jwqe  kerle  (Ehemänner)  un  wlve,  un  ddn  wud  der  donsed 
un  fiksen  (tüchtig)  dnhjken  bet  möundegs  midens  (morgens),  det  was  stilswigend 
(stillschweigend,  d.  h.  „in  der  Regel")  dltid  ädenbiör  [Utende]. 

Von  den  Erntebräuchen,  die  Strackerjan  (II,  78;  vgl.  Kuhn,  Nordd. 
Sagen  S.  395)  nennt,  ist  mir  nichts  erzählt  worden:  weder  dass  man  einen 
Erntemai  errichte,  noch  dass  man  gleichzeitig  mit  dem  Mähen  fertig  zu 
werden  strebe  und  zu  Ende  desselben  einen  Haufen  (Peterbelt?)  stehen  lasse. 
Die  Flasche,  die  man  zu  Bokelesch  zuletzt  in  den  Roggen  legt,  haben  wir 
als  Symbol  der  Fruchtbarkeit  bereits  am  Maibaume  kennen  gelernt  (vgl. 
Schade,  Sage  von  der  heiligen  Ursula,  Hannover  1854,  S.  89).  Wie  sich 
hierin  die  Bräuche  vor  und  nach  der  Ernte,  die  Bitt-  und  Dankopfer, 
ähneln,  so  auch  findet  sich  das  im  Saterlande  bei  der  Ernte  übliche 
Lwäle"  der  Mäher  und  Binderinnen  in  anderen  Gegenden  als  Maibrauch. 
Während  in  Kelbra  bei  Sangerhausen  Schnitter  und  Schnitterinnen  bei  der 
Ernte  sich  paarweise  einen  Hügel  hinabwälzen,  berichtet  englische  Sitte 
„the  rolling  of  young  couples  down  Greenwichhill ,  at  Easter  and 
Whitsuntide"  (Mannhardt,  Baumkult  S.  480  fgg.).  Dieses  Wälzen  und 
das  Beilager  auf  dem  Ackerfelde  berührt  sich  mit  altindischem  Kulte  und 
inuss  ein  uralter  Brauch  gewesen  sein,  der  einer  Fruchtbarkeit  spendenden 
Gottheit  galt  (vgl.  Alfr.  Hillebrandt  a.  a.  0.  S.  336  fgg.).  Wenngleich  der 
Zeugnisse  aus  germanischen  Ländern  sehr  wenige  sind,  vermag  ich  für 
friesisches  Gebiet  noch  zwei  Belege  beizubringen.  Die  Sitte  wird  auf  dem 
nordfriesischen  Festlande  geübt  und  heisst  in  der  Gegend  von  Niebüll 
Lmefdewälern"  d.  h.  „Matwälzen".  Für  Helgoland  bezeugen  ähnliches  die 
„Schleswig-Holsteinischen  Anzeigen  von  1750":  Bursch  und  Mädchen  legen 
sich  altem  Herkommen  gemäss  ins  Korn,  er  kriecht  unter  ihre  faltenreiche 
Kortel;  eventuell  heiratet  später  der  Kortler  die  Kortelfamel,  und  dafür 
muss  an  die  Obrigkeit  eine  Strafe  erlegt  werden  (vgl.  auch  Schütze,  Holst. 
Idiot.  II,  327).  —  Das  ädenbiör  (Erntebier)  bietet  zu  Erläuterungen  keinen 
Anlass. 


278  Ilwof: 

Weitere  Sitten  und  Bräuche,  die  sich  auf  die  Landwirtschaft  be- 
ziehen, teilt  Strackerjan  mit,  andere  werde  ich  an  späterer  Stelle  einflechten 
—  es  sind  Bauernregeln.  Was  unter  der  Erde  wachsen  soll,  muss  bei 
abnehmendem  Monde  gepflanzt  werden,  alles  Andere  bei  zunehmendem; 
in  der  Galluswoehe  (vgl.  unten  Kap.  VII)  darf  nicht  gesäet  werden;  in  den 
blauen  sechs  Wochen  (St.  Thomas  bis  Lichtmess,  21.  Dezbr.  big  2.  Febr.) 
müssen  die  Eichen  beschnitten,  am  Weihnachtsmorgen  die  Bäume  um- 
wickelt werden;  Jakobi  soll  man  das  Koggenmähen  beginnen,  zu  Johannis 
die  Heidsclmueken  scheren  u.  a.  m.  (Schluss  folgt.) 


Allerlei  Inschriften  ans  den  Alpenländern. 

Gesammelt  und  mitgeteilt  von 
Franz  Ihvot'. 


Auf  meinen  zahlreichen  Wanderungen  durch  die  österreichischen, 
deutschen  und  Schweizer  Alpen,  auf  meinen  vielen  Kreuz-  und  Querzügen 
zu.  Wagen  und  zu  Fuss,  über  Berge  und  durch  Thäler,  von  Ungarns  West- 
grenze bis  in  die  Mitte  der  Schweiz,  habe  ich  —  allerdings  nur  nebenbei 
—  meine  Aufmerksamkeit  auch  auf  Inschriften  gelenkt,  welche  ich  an  den 
Häusern,  auf  Brunnen,  Grabsteinen  etc.  aufgezeichnet  fand  und  dieselben, 
wenn  sich  mir  Zeit  und  Gelegenheit  bot,  abgeschrieben. 

Ohne  irgendwie  auf  Vollständigkeit  oder  Systematik  Anspruch  zu 
machen,  stelle  ich  sie  hier  zusammen1),  geordnet  nach  Ländern,  mit 
Steiermark  beginnend  und  mit  einer  Inschrift  aus  der  östlichen  Schweiz 
schliessend,  und  füge  einigen  kurze  Anmerkungen  bei. 

Aus  Steiermark. 

Beim  Bockwirth  ist  es  hier  genannt, 
Hier  kriegt  man  Bradel  allerhand, 
Auch  Suppen,  Fleisch  und  Wurst  daneben, 
So  dass  man  kann  recht  lustig  leben; 
Wer  Geld  hat,  der  geh'  da  hinein, 
Beim  Bockwirth  ist  guts  Pier  und  Wein, 
Wer  aber  keins  im  Beidel  hat, 
Der  geh  vorbei,  ist  kein  Schad. 
Aul'  einem  Wirtshause  in  Sehladming  an  der  Enns. 


1)  Zugleich  als  Nachträge  zu  Ludwig  von  Hörmann,  „Grabscliriften  und  Marterl™" 
I.  und  II.  Folge  (Leipzig  1891)  und  zu  desselben  „Haussprüche  aus  den  Alpen" 
(Leipzig  1892). 


Allerlei  Inschriften  aus  den  Alpenländem.  279 

Gott  dem  Herrn  trau  ich, 
Auf  sein  Wort  bau  ich. 

Auf  einem  Hause  in  Neumarkt. 

(Zu  oberst  das  Bild  eines  umgekehrten  Stiefels.) 

Weil  die  Welt  jetzt  ist  so  aufgeklärt, 
Drum  ist  der  Stiefel  umgekehrt. 
Soll  die  Welt  einst  anders  werden, 
Kommt  der  Absatz  wieder  auf  die  Erden. 

Auf  dem  Schilde  eines  Schusters  zu  Maria  Zell    (vgl.  Haussprüche  aus  den 
Alpen  von  Hörmann,  S.  111.  179). 

Dieses  Haus  steht  in  Gottes  Hand, 

Beim  Seewirth  ist  es  genannt. 

Liebe  Gäste  kommt  herein, 

Ihr  werdet  gut  bewirthet  sein 

Mit  Branntwein,  Bier  und  echten  Wein 

Und  mit  verschiedenen  Speisen, 

Auch  wird  man  Freundschaft  euch  erweisen. 

Auf  dem  Hause  des  „Seewirth"  am  Erlafsee  bei  Maria  Zell. 

Mein  \?  in  rnier 

Deil  ich  mit  dier  Glückh  kombt  offt 

brichß  ich  an  dier  Wo[  mau  nit  hofft 

fo  rechß  gott  an  mier  Aber  yil  eher 

vergiß  ich  dein  Kombt  ohnglük  her. 

fo  vergiß  gott  mein  gefchrieben  den  26.  Juni  1650 

daß  Coli  vnßer  Beder  ferbintnuß  fein.  Ullrich  Graff  zu  Sultz. 

Ulrich  Graf  zu  Sultz  1640 

Anna  Katharina  Gräffin  zu  Sultz 

geborne  Gräfin  zue  hohen  Einbs. 

In  runde  Gläser  der  in  die  Stadtpfarrkirche  zu  Murau  sich  öffnenden  Fenster 
des  fürstlich  Schwarzenbergischen  Oratoriums  eingeritzt. 

Der  Steinsockel  des  grossen  schmiedeeisernen  Brunuengitters ,  eines 
Meisterwerkes  der  Schmiedekunst,  auf  dem  Marktplatze  zu  Brück  au  der 
Hur,  trägt  folgende  Inschriften: 

Ich  Hanns  Prasser 
Im  1626  Jahr  Trinckh  lieber  Wein  als  Wasser. 

Von  Grnainer  Statt  Trvnckh  ich  das  Wasser 

ich  Erpavet  war.  So  gern  als  Wein. 

So  kvndt  ich  eiu 
Reicherer  Prasser  sein.1) 


1)    Diese  Strophe   etwas  geändert  aus  Wiener -Neustadt  bei  Hörmann,  Haussprüche, 
S.  172. 


280 


Ihvof: 


Destwegen  bin  ich 
worden  graben, 
Das  man  ein  kielen 
Trvnckti  kan  haben 
Und  mag  mich  drinckhen 
Ohne  Sorgen 
Hat  man  kain  Gelt 
So  thve  ich  borgen. 


Umb  wegen  Rebe- 

Lions  Gefahr 

Die  Stadt  Linz 

Relegert  gar1) 

Der  Bartlmai  Linzer 

Marckh  hie  Gehalten  war. 


Ich  arbeit  das  Läder  mit  Pleiss 
Meinem  Herrn  zu  Nutz  und  mir  zu  Preiss. 
Auf  dem  Hause  eines  Lederers  in  Übelbach,  nördlich  von  Graz,   unter  dem 
Bilde  eines  in  Arbeit  begriffenen  Lederers. 

Im  1629  er  Jahr 
Defs  Monath  October  fürwahr 
Thät  dieser  Elephant  allda  Stallung  han, 
Ihn  habn  gesehn  viel  Fraun  und  Mann 
Ob  freud  und  verwundern  sich  sehr. 
Den  Allerhöchsten  Lob  und  Ehr 
Dass  Elephant  so  klar  und  fein 
Giebt  zu  erkennen  die  Allmacht  sein. 
Unter  dem  Bilde  eines  Elephanten  im  Hofe  des  Gasthofes  zum  Elephanten  in 
Graz.     (S.  283  sub  „Brixen"). 

Hier  unter  diesem  Leichenstein 
Ging  dieser  Mann  zur  Prüfung  ein, 
Er  wartet  auf  die  ewige  Ruh', 
Er  drückt  erst  ein,  dann  beide  Augen  zu! 
Auf  einem  Grabstein  im  Friedhofe  von  St.  Leonhard  in  Graz. 

Betrübtes  Beingerüst  von  einem  alten  Sünder 
Erweiche,  Stein,  das  Herz  der  neuen  Bosheitskinder. 
Auf  einem  Grabstein  im  Steinfeld -Friedhofe  in  Graz. 

Gott  lieben  macht  selig, 
Wein  trinken  macht  fröhlich, 
Drum  liebe  Gott  und  trinke  Wein 
So  wirst  du  selig  und  fröhlich  sein. 
Auf  dem  Gasthause  „Eichberger"  auf  dem  Buchkogel  w.  von  Graz.    Derselbe 
Spruch  von  fünf  anderen  Orten  bei  Hörmann,  Haussprüche,  S.  156. 

Wir  pauen  hoch  und  fest 
und  seyn  nur  fremde  Gast, 
wo  wir  werden  ewig  sein, 
pauen  wir  mir  wenig  drein. 
An   einem  Hause  in  Ligist.     Derselbe   Spruch,    in   etwas   verderbter  Fassung, 
stund  an  dem  Kanzlergut  bei  Tobelbad  und  an  einem  Hause  in  Badegg  bei  Tobelbad. 


1)  Im  Sommer  1626  wurde  Linz  in  Ober- Österreich  von  den  aufständischen  Bauern 
unter  der  Führung  des  Stephan  Fadinger  belagert  und  daher  der  Bartholomäus-Markt  statt 
in  Linz  in  Brück  an  der  Mur  abgehalten. 


Allerlei  Inschriften  aus  den  Älpenländern.  281 

Fang  an  mit  Gott,  mit  Gott  hoer  auf, 

Das  ist  der  sehoenste  Lebenslauf. 
Gottes  Wille  sei  mein  Ziel,  Dieses  Haus  ist  gut  gebaut, 

Weil  Gott  nur  das  beste  will.  Gott  dem  Herren  anvertraut. 

Gott  weiss  dich  überall  zu  finden,  Zum  Wirtshaus  gut  bestellt, 

Drum  hüte  dich  vor  allen  Sünden.  Hier  bekommst  was  gefallt. 

Haussprüche  aus  Ligist. 

Michel  Reisch  bin  ich, 
Das  Gebet  mach  nicht  für  mich 
Und  nur  für  dich, 
Wenn  ich  stirb  so  bet  für  mich. 
An    einem   Hause    auf   der  Pakalp    (Übergang  aus  Steiermark   ins   kärntische 


Lavantthal). 


Das  Haus  ist  für  dich  und  nicht  für  mich. 
AVer  nach  mir  kommt  beth  für  mich.     1818. 


An  einem  Hause  zu  Gösting  bei  Graz. 

Peter  Schreck  bin  ich  genant. 
Der  Himel  ist  mein  Vaterland, 
Die  Welt  ist  nur  ein  schlechte  Stadt, 
Da  kein  Mensch  zu  bleiben  hat. 
An  einem  Hause  an  der  Pakalp. 

Alle  Zeit  lustig  ist  gefarlieh 
Alle  Zeit  draurig  ist  beschwerlich. 
Lassen  wir  nur  Gott  gewalden, 
Hat  uns  stehts  besorg,  wird  uns  noch  erhalden. 
An  einem  Hause  in  der  Liebenau  bei  Graz. 

Allda  thut  man 

Hassen  —  Verachten  —  Lieben 
Die  Schalkheit  —  die  Laster  —  den  Frieden 
Schuitzen  —  Ehren  —  Verfechten 
Die  Armen  —  die  Frommen  —  die  Rechten. 
Umschrift  auf  dem  Wappen  des  Marktes  Deutsch-Landsberg,  sw.  von  Graz. 

Pist  durschtig,  gehe  her 
Und  lab  dich  hier. 
Auf  dem  Brunnen  in  der  Burgruine  Wildon,  s.  von  Graz. 

In  fridt  bin  ich  dahin  gefarn, 
Den  meine  äugen  gesen  habn 
Dein  Haylandt  Herr  von  dir  bereit 
Zum  liecht  der  ganzen  christenhait. 
Indess  nie  ich  in  diser  grufft 
Biss  auff  meins  Herrn  widerkhunfft. 
Auf  dem  Grabstein  des   kais.  Rates  Sigmund  Schrott  zu  Khindberg,  gest.  am 
11.  Juni  1571.     In  der  Pfarrkirche  zu  Cilli. 


282  Hwof: 

Das  ist  des  Jägers  Ehrenschild 
Dass  er  bewacht  und  hegt  das  Wild. 
Auf  dem  Hause  eines  Jägers  bei  Cilli. 

•    Aus  Ober- Österreich. 

Man  nennt  das  grösste  Glück  auf  Erden 
Gesund  zu  sein! 
Ich  sage  nein. 

Ein  grösseres  Glück  ist  gesund  zu  werden. 
Auf  der  Sophien-Esplanade  in  Ischl. 

(Oben  eine  Hausmarke  mit  der  Jahreszahl  1585.) 
Vicentz  Pavdinger  gmachd. 
Wo  Got  zum  Haus  nit  gibt  sein  Gvnst 
So  Arbeit  iedermann  vmbsvnst.     Psa.  127. 
(Wo  der  Herr  nicht  das  Haus  bauet,   so  arbeiten  umsonst,   die  daran  bauen. 
Ps.  127,  1.)     Auf  dem  Hause  Nr.  5  auf  dem  Stadtplatze  zu  Gmunden.     Auch  bei 
Hürmann,  Haussprüche  S.  107,  jedoch  nicht  vollständig  und  wortgetreu. 

Der  Ochs  hat  Fleisch  und  Bein  zum  Laufen, 
Darum  kann  ich  das  Fleisch  ohne  Bein  nicht  verkaufen. 
Auf  dem  Hause  eines  Metzgers  zu  Hallstadt. 

Aus  Salzburg. 

Trag  nichts  hinein,  trag  nichts  hinaus, 
So  bleibt  der  Friede  stets  im  Haus. 
Auf   einem  Hause    zu  Zell    am   See.     (Vgl.   Hörmann,    Haussprüche,    S.  104 
und  112.) 

Das  Beste  ist  auf  dieser  Welt 
Dass  Tod  und  Teufel  nimmt  kein  Geld, 
Sonst  raüsst  gar  mancher  arme  G'söll 
Oft  für  einen  Reichen  noch  in  d'Höll. 
Auf  einem  Hause  zu  Hallein.     (Derselbe  Spruch  auf  einem  Hause  zu  Imst  in 
Tirol.     Hörmann,  Haussprüche,  S.  136.) 

Gott  ist  mein  Herr  und  Schöpfer 
Ich  bin  der  Thon,  er  ist  der  Töpfer. 
Auf  dem  Hause  eines  Töpfers  zwischen  St.  Johann  im  Pongau  und  Lend. 

Dieses  Haus  gehört  mein  und  doch  nicht  mein, 
dem  zweiten  wird  es  auch  nicht  sein, 
den  dritten  trägt  man  auch  hinaus, 
Und  wenn  der  Tod  kommt  vor  die  Thür, 
So  gehts  dem  vierten  so  wie  mir. 
Lieber  Freund  jetzt  frag  ich  dich, 
Wem  gehört  dies  HausV 
Am  Hiesenbauerhaus  am  Wege  auf  den  Gaissberg  bei  Salzburg. 


Allerlei  Inschriften  aus  den  Alpenländern.  283 

Aus  Tirol. 

Lieber  Gast  komm  schnell  herein, 
Hast  Du  Geld,  so  hab'  ich  guten  Wein; 
Hast  Du  kein  Geld,  so  magst  drüben  einkehren, 
Da  steht  ein  Brunnen  mit  zwei  Röhren. 
Auf  einem  Wirtshaus  im  Brixenthal. 

Dieses  Haus  ist  mein 
Und  doch  nicht  mein. 
Auf  einem  Hause  bei  Imst  im  Oberinnthal.    (Vgl.  S.  282  und  Hörmann,  Haus- 
sprüche, S.  125-128.) 

Wiewohl  dies  Haus  ist  ganz  klein, 
So  scheint  gleichwohl  die  Sonn'  herein. 
Christus,  die  Sonne  der  Gerechtigkeit 
Scheine  herein  zu  aller  Zeit. 
Auf  einem  Hause  bei  Imst. 

Ich  achte  meine  Hasser 
Nicht  mehr  als  Regenwasser, 
Das  von  dem  Dache  fliesst. 
Und  ob  sie  mich  beneiden, 
Sie  müssens  dennoch  leiden, 
Dass  Gott  mein  Helfer  ist. 
Auf  einem  Hause  zu  Mayrhofen  im  Zillerthal.     Vgl.  Hörmann,    Haussprüche, 
Seite  6. 

Der  älteste  Gasthof  in  Brixen,  der  seit  1545  besteht,  trägt  noch  jetzt 
„als  des  Hauses  Schild  und  Zier,  das  Elephantenthier".  An  der  Westseite 
des  Hauses  stellt  ein  wiederholt  aufgefrischtes  Freskobild  den  Elefanten 
in  natürlicher  Grösse  mit  Führern  und  Begleitern,  teils  in  orientalischer, 
teils  in  spanischer  Tracht,  vor.     Dabei  folgende  Inschrift: 

Als  man  zalt  1551  Jar  den  2.  tag  Januari  fürwar 

Was  dies  thier  Elephandt  in  Teutschland  unerkant 

Allhie  durchgfuerdt  worden  zu  eeren  den  grossmächtigen 

Fürsten  und  Herrn 
Maximilian  zu  Behem  Künigreieh         Ertzherzogen  zu  Ostreich. 
Andre  Posch  die  liess  malen  Lenhart  Mair  ditz  verfaren. 

Gott  well  das  haus  in  seiner  verhuetung  haben 
Des  Inhaber  leib,  ehr  unnd  guet  allezeit  bewaren. 
Anno  1645  hat  Lenhart  Eschpaur  Miller  dis  wider  verneuweren  lassen1). 
Der  erste  Elefant,    der   in  Deutschland  gesehen  wurde,    ist  derjenige, 
welchen  Harun  al  Kaschid,   der  Khalife,   Karl  dem  Grossen  als  Geschenk 


1)  Ein  anderer  auf  demselben  Gasthofe  befindbeher  Spruch  bei  Hörmann,  Haus- 
sprüche aus  den  Alpen,  S.  157.  —  Vgl.  zu  beiden  den  S.  280  angeführten  Spruch  auf  dem 
Gasthofe  zum  Elefanteu  in  Graz. 


284  Ihrof: 

sandte  (Einhard,  Vita  Karoli,  Caput  16;  Monachus  Sangalleusis  IL  8),  und 
der  den  Namen  Abul  Abbas  trug;  er  wurde  dem  Kaiser  am  19.  Juli  802 
zu  Aachen  vorgeführt  (Einhard,  Annales  ad  annum  801,  802).  —  1443  soll 
ein  Elefant  auf  der  Messe  zu  Frankfurt  a.  M.  gezeigt  worden  sein,  1482 
wurde  ein  solcher  zu  Köln  bewundert,  1563  ebenda  jener  Elefant,  den 
König  Philipp  IL  von  Spanien  dem  Kaiser  Ferdinand  I.  schickte.  —  Der 
Elefant,  der  im  Jänner  1551  durch  Brixen  zog.  war  jener,  ein  männlicher 
asiatischer,  den  Erzherzog  Maximilian,  später  Kaiser  Maximilian  IL  aus 
Spanien  mitbrachte;  im  März  1552  kam  dieses  Tier  nach  Wien,  wurde 
dort  im  April  zur  Schau  gestellt  und  später  in  die  Menagerie  nach  Ebcrs- 
dorf  auf  dem  Marchfelde  gebracht1). 

In  dem  Speisesaale  des  Gasthauses  zur  Post  in  Füssen  am  Lech  in 
Bayern  befindet  sich  ein  Ölgemälde,  die  Stadt  Füssen  darstellend,  oben 
rechts  das  österreichische,  unten  links  das  bayerische  Wappen  zeigend,  mit 
folgender  Inschrift,  welche  sich  auf  den  dortselbst  am  22.  April  1745 
zwischen  Maria  Theresia  und  dem  Kurfürsten  von  Bayern,  Maximilian  III. 
Josef  abgeschlossenen  Frieden  bezieht: 

Europa  singt  der  Freuden  Lied, 
was  man  sobald  geglaubet  nimmer, 
geschähe  doch,  es  wurde  Fried, 
Und  zwar  anheut  in  diesem  Zimmer. 
Hier  wurcl  der  tapfern  Guelphen  Haus 
mit  Österreich  gesöhnet  aus, 
es  grüne  Bayrn  und  dem  nichts  gleich 
das  höchste  Haus  von  Österreich. 
Füssen  den  24.  April  1745. 

Aus  der  Schweiz. 

Hier  liegt  Hans  Gottlieb  Lamm, 
Er  starb  durch'n  Sturz  vom  Damm, 
Eigentlich  hiess  er  Leim, 
Das  passt  aber  nicht  in'n  Reim. 
Grabschrift  auf  dem  Friedhofe  zu  Rorschach  am  Bodensee. 

Nun  mögen  zwei  lateinische  Inschriften  folgen,  die  mir  beide  beachtens- 
wert scheinen,  die  eine,  weil  sie,  ein  Chronogramm  enthaltend,  auf  einem 
schlichten  Bauernhause  in  einem  Tiroler  Dörfchen  steht,  die  andere,  als 
historisches  Denkmal  und  wegen  der  edlen  Gesinnung,  die  sie  zum  Aus- 
druck bringt. 

PaX  VIVa  liYIC  DoMYl  CaeterlsqVe  IntrantlbVs. 

Auf  einem  Bauernhause  zu  Virgen  im  Iselthale  in  Tirol  (174(;). 


1)   A.  Kaufmann,  Über  Tierliebhaberei  im  Mittelalter.    (Historisches  Jahrbuch  der 
Görres-Gesellschaft  (1884)  V.  S.  399-423,  bes.  S.  409  f.  und  423.) 


Allerlei  Inschriften  aus  den  Alpenländern.  285 

AVe 
SanCta  qVae  ab  IpsoMet  Deo  ConstltVta  IVstltla! 

Haec  in  Aedibus  his  judiciariis  caeca  esse  jubetur. 
Divites  ne  respiciat,  pauperes  ne  despiciat. 
Sed  jus  suum  cuique  tribuat. 

ProprIIs  IMpensIs  aedlflCarl  flerlqVe  CVraVIt 

fran.  Ant.  Pps.  Archieps  Salisburg.    S.  S.  Aplcae 

Legat      Primas  German.     S.  R.  J.  Pps   ab  Harrach. 

(Auf  dem  alten  Gerichtshause  zu  "Windisch -Matrei  im  Iselthale  Tirols;  über 
der  Schrift  das  habsburgische  Wappen.  —  Franz  Anton  Graf  von  Harrach,  geb. 
1665,  wurde  1709  zum  Erzbischof  von  Salzburg  erwählt  und  starb  1727.  —  Das 
Iselthal,  die  Tauernthäler,  die  sich  vom  Velber-  und  vom  Kaiserbauern  herab 
erstrecken,  sowie  das  Thal  Defreggen  gehörten  im  18.  Jahrhundert  noch  zum  Hoch- 
stifte Salzburg  und  wurden  erst  später  zu  Tirol  geschlagen.) 

Zum  Schluss  einen  gewiss  unbeabsichtigten  „Kalauer"  auf  einer  Haus- 
inschrift. Noch  bis  vor  kurzem  war  auf  einem  Hause,  seitlich  von  der 
Keplerstrasse  in  Graz  zu  lesen: 

Wer  auf  Gott  vertraut 
Hat  wol  gebaut. 

und  unmittelbar  darunter  in  gleichen  Schriftzügen: 

Hier  bekommt  man  gutes  Sauerkraut. 

Graz  in  Steiermark. 


Bilder  aus  dem  fseröischeii  Volksleben. 

Von  V.  U.  Haniinershainil). 
Aus  dem  Faeröischen  übertragen  von  Dr.  Otto  L.  Jiriczek. 

(Schluss.) 


Grindaboct. 

Wir  waren  zum  Fischen  ausgefahren  und  hatten  ausser  Angelhaken 
auf  kleine  Fische  und  Weisslinge  auch  die  Grossaugel  mit  und  hatten  eine 
grosse  Heilbutte  bereits  über  das  Wasser  gezogen,  da  riss  sie  sich  los  und 
verschwand  mit  Angel  und  Schnur  auf  Nimmerwiedersehen;  kein  Wunder, 
dass  wir  uns  über  ihr  Ausreissen  und  den  Verlust  des  guten  Bissens 
ärgerten.  Doch  dieser  Ärger  war  bald  vergessen;  denn  gleich  darauf  be- 
kamen wir  anderes  zu  denken,  das  erfreulicher  war.    Im  Süden  sahen  wir 


ö 


286  Jiriczek: 

ein  Boot,  das  rasch  mit  dem  Mast  ein  Zeichen  gab1):  die  Faugschnüre 
wurden  eiligst  eingezogen  und  wir  drei  ruderten,  so  scharf  es  nur  ging, 
auf  die  Grindwale  zu.  Nach  einer  Weile  waren  wir  so  nahe  heran- 
gekommen, dass  man  das  Schnauben  der  Wale  hörte;  Wind  und  Wasser 
waren  regungslos  still,  die  See  stand  wie  gestanztes  Blut  und  die  Berge 
spiegelten  sich  in  ihr.  Die  Herde  erwies  sich  gross,  wir  schätzten  sie  auf  ' 
mindestens  800  Stück.  Ein  Boot  war  ihnen  jetzt  in  den  Rücken  ge- 
kommen und  nun  versuchte  mau  die  Herde  durch  Würfe  mit  dem  ans 
Schnürende  gebundenen  Senkstein  zu  treiben  und  sie  in  die  gewünschte 
Richtung  zu  lenken.  Die  Wale  waren  lammsfromm,  flohen  nicht  vor  den 
Booten  und  Hessen  sich  mühelos  aus  dem  Meere  zu  den  Inseln  locken. 

Aber  obwohl  die  Treiber  froh  waren,  sie  so  nahe  zu  den  Inseln  ge- 
bracht zu  haben,  schien  es  doch  eine  Zeitlang,  dass  sie  nicht  weiter  zu 
bringen  wären:  denn  so  oft  sie  glücklich  um  das  Südende  von  Nölsö  ge- 
kommen waren,  drängten  sie  sich  um  das  Boot  zurück  und  wollten  ost- 
wärts zurück  in  das  offene  Meer;  sie  mochten  das  Gefühl  haben,  dass  sich 
hier  eine  Schar  abgelöst  habe  und  wollten  sich  mit  der  Herde  wieder 
vereinen;  —  die  Boote  waren  zu  gering  an  Zahl  und  vermochten  sie  nicht 
zu  hindern,  und  die  Ruderer  begannen  von  dem  vielen  Rudern  müde  zu 
werden;  auch  waren  die  Fahrzeuge  schlecht  bemannt:  nicht  mehr  als  drei 
Mann  in  jedem  Boote,  und  so  konnten  nicht  mehr  als  zwei  rudern,  einer 
musste  auf  dem  Endsitze  stehen  und  die  Scheuchwürfe  thun.  Die  meisten 
befiel  daher  Missmut  und  sie  sorgten  darüber,  dass  die  ganze  grosse  und 
langwierige  Mühe,  die  sie  gehabt  hatten,  erfolglos  zu  werden  drohte.  Zu 
allem  Glücke  war  ein  Mann  auf  der  Südspitze,  der  Torf  häufen  mit  Gras- 
torf zudecken  wollte;  kaum  hatte  er  die  Boote  erblickt,  welche  die  Wal- 
herde trieben,  so  lief  er  schon  aus  Leibeskräften  in  das  Dorf,  um  die 
Walbotschaft  [Grindabod]  zu  überbringen;  noch  ehe  er  ins  Dorf  kam. 
schrie  er:  Grindabod!  Grindabod!  so  dass  es  weithin  erscholl,  und  nun 
rannte  einer  über  den  anderen  mit  dieser  Freudenbotschaft  im  Tune,  die 
Kinder  stimmten  mit  ein  und  jedermann  stürzte  in  vollem  Laufe  zu  dem 
Bootsschuppen  herab,  um  das  Boot  flott  zu  machen  und  die  Walfang- 
Gerätschaften  hineinzulegen:  Grindwalleinen,  Walfischspiesse,  Fischpicken, 
Harpunen  und  Geröll,  durch  dessen  Wurf  die  Wale  gescheucht  werden. 
Frauen  und  Mädchen  kamen  mit  Speisesäcken,  Kisten  und  Strümpfen  ge- 
laufen. Sobald  der  Mann,  der  die  Botschaft  brachte,  ins  Haus  gekommen 
war  und  zuverlässige  Nachricht  vom  Grindwal  geben  konnte,  wurde  an  der 
richtigen  Stelle  ein  Signalfeuer  für  die  Streyrnoyinger  angezündet,  und  auf 
Streynioy  wurde  mit  einem  Feuer  erwidert  und  den  nächsten  Dörfern,  die 
das  Feuer  nicht  sehen  konnten,  Botschaft  gesandt. 


1)   Wird   eine  Walherde   erblickt,   so   benachrichtigt  man  andere  Boote  durch  Auf- 
hissen einer  Jacke  (od.  ähnl.)  am  Mast. 


Bilder  aus  dem  faeröischen  Volksleben.  287 

Die  armen  Leute,  die  bei  den  Walen  liegen,  abgemattet  und  erschöpft 
und  doch  entschlossen,  nicht  nachzugeben,  so  lang  der  Arm  noch  ein  Ruder 
heben   kann,    sie   arbeiten   noch  immer,    obschon  es  ihnen  aussichtslos  er- 
scheint, sich  überanzustrengen;  sie  wissen  ja  von  nichts,  was  im  Dorfe  vor 
sich  geht  und  wie  nahe  die  Hilfe  ist.    Nun  sieht  das  Finderboot  die  Lohe 
auf  dem  Kuhberge  [nördlich  von  Thorshavn],  die  Antwort  zu  Nes  und  die 
Flammen    in    Strendur;    die  Besorgnis,    es  habe   sie   niemand  vom  Lande 
erblickt,    dürfen    sie    nun    schwinden   lassen  --  und  doch  wagen  sie  noch 
nicht  vollständig  sich  darauf  zu  verlassen,    dass  die  Sache  gut  steht,   dass 
die  Botschaft    ihnen   gilt;    es    könnte  ja  eine  andere  Walherde  im  Westen 
sein,  die  dort  verkündigt  wird.    Aber  im  selben  Augenblick  sehen  sie  auch 
schon  ein  grosses  Boot,  dann  ein  zweites,  drittes,  viertes  auf  sie  zuhalten. 
Der  Schaum  sprüht  auf,  so  rudern  sie  --es  sind  die  Nolsoyinger,  die  da 
kommen.    Die  Leiter  des  Fanges  fahren  auf  das  Finderboot  zu  und  fragen 
dort,  in  welche  Bucht  sie  die  Wale  zu  treiben  gedächten;  die  Finder  über- 
lassen ihnen  die  Entscheidung,    aber  fügen  doch  hinzu,   sie  würden  gerne 
sehen,    dass    die  Herde   geradenwegs   in  die  Thorshavnbucht  hielte,    wenn 
nach  ihrer  Meinung  Aussicht  dafür  wäre,  sie  dorthin  zu  lenken;  die  Finder 
sind    ja    arme  Leute    und   wollen    natürlich  ungern  den  grossen  Fang  aus 
den   Händen    lassen,    der    ihnen   zu   erwarten   steht,    wenn   es  glückt,    die 
Wale  zu  töten.    Die  Leiter  bitten  nun  die  Treiberboote,  die  Herde  gegen 
Thorshavn   zu  treiben,    und  nun  kam  mehr  Leben  in  das  Treiben,    denn 
nun  kam  Boot  auf  Boot,    alle  mit  frischen  Kräften  gut  besetzt,    und  bald 
waren  ungefähr  fünfzig  grosse  Boote,    mit  je  acht  bis  zehn  Männern  be- 
mannt, hinter  der  Herde,  und  die  Flotte  wuchs  jeden  Augenblick,  indem 
nach  und  nach  die  Boote,  die  einen  längeren  Weg  zu  rudern  hatten,  hinzu- 
stiessen.    Waren  vorher  bei  der  geringen  Anzahl  der  Boote  die  Leute  be- 
sorgt gewesen,    sie  möchten  zu  schwach  sein,    um  die  Walherde  geraden- 
wegs in  eine  Bucht  treiben  zu  können,    so  waren  sie  jetzt  fast  übermütig 
infolge   ihrer  Menge   und  hielten  jeden  Zweifel  an  dem  Gelingen  für  aus- 
geschlossen;   sie   sollten  bald  eines  besseren  belehrt  werden.     Sie  wollten 
die  Sache    beschleunigen    und    die  Wale    zu  schnellerer  Fahrt  antreiben, 
ruderten    daher  knapp   an  sie  und  warfen  Steine  auf  sie,    doch  allzunahe, 
so    dass    die  Wale  scheu  wurden  und  in  unruhige  Bewegung  kamen;    das 
gefiel  den  meisten  Treibern  sehr  gut,    und  sie  ruderten  so  hart,    dass  sie 
den  Walen  folgen  konnten,  und  schlugen  auf  sie  los;  das  wurde  aber  den 
Walen   zu  viel,    und  husch!  —  sie  tauchten  unter.     Schreien  und  Brüllen 
und  Getöse    von    den  Rudern   hatte  bisher  geherrscht  —  nun  hielten  alle 
inne  und  es  wurde  so  still  und  ruhig,   dass  man  den  schwächsten  Laut  in 
der    ganzen  Flotte    hätte    vernehmen    können.     Alle  zogen  die  Ruder  ein 
und  hielten  sie  still,   sie  lauschten,   ob  sich  kein  Blasen  vernehmen  lasse, 
sie  standen  auf  den  Bänken,  um  der  Herde  mit  den  Augen  zu  folgen  und 
zu  erspähen,  wo  sie  sei;  —  nichts  liess  sich  hören,  nichts  sehen,  die  Wale 

Zeitschrift  d.  Verein*  f.  Volkskunde.     1893.  20 


288  Jiriczek: 

waren  verschwunden.  Ungeduld  befiel  die  Männer,  man  griff'  wieder  zu 
den  Rudern,  ein  Boot  ruderte  dahin,  das  andere  dorthin,  um  die  Wale  zu 
suchen,  aber  kein  Wal  Hess  sich  sehen  oder  hören,  und  in  manchem  Boote 
konnte  mau  Flüche  und  Verwünschungen  gegen  die,  welche  in  ihrem  über- 
grossen Eifer  ihnen  den  prächtigen  Fang  verdorben  hatten,  vernehmen. 
Doch  die  Herde  war  nicht  ganz  verschwunden  —  unter  der  Ansiedlung 
auf  Nölsö  sah  man  wieder  mehrere  Strahlen  aufspritzen,  ein  Boot,  das  sich 
in  der  Nähe  befand,  gab  mit  dem  Mast  ein  Zeichen,  um  sie  zu  benach- 
richtigen, und  daraufhin  fuhr  das  ganze  Heer  von  Booten,  das  weit  zer- 
streut gewesen  war,  pfeilschnell  und  schäumend  auf  die  Herde  zu.  Der 
Svslumaun  und  die  Fangleiter  ordneten  nun  an,  wie  getrieben  werden  solle 
und  passten  wohl  darauf,  dass  kein  Boot  den  Walen  zu  nahe  käme  und 
sie  scheu  mache,  da  sie  Neiguug  zum  Tauchen  hatten.  Nun  glückte  es; 
die  Herde  liess  sich  über  die  Untiefen  und  Blindschären  gegen  die  west- 
liche Bucht  zu  treiben,  dann  wieder  hinaus  um  Tinganes,  die  Boote  legten 
sich  in  dreifachem  Halbringe  vor,  und  nun  ging  es  landwärts,  gegen  die 
flachen  Uferstrecken  im  Grunde  der  Bucht:  jetzt  war  die  Zeit  für  den 
ersten  Harpunenwurf  gekommen,  den  einer  der  Leiter  thnn  sollte;  die 
Waffe  sauste  nach  allen  Kegeln  der  Kunst  und  fuhr  einem  der  hintersten 
Wale,  der  geradenwegs  auf  das  Land  zuschwamm,  in  den  Schwanzteil, 
knapp  vor  der  Flosse;  ein  Blutstrahl  wirbelte  aus  der  Wunde,  der  Wal 
wurde  rasend,  fuhr  wie  gepeitscht  durch  die  Herde  und  teilte  ihr  seine 
Raserei  mit,  so  dass  sie,  einen  nachstürzenden  Wogenberg  hinter  sich, 
davonrasten;  die  See  türmte  sich  vor  ihneu  auf,  wo  sie  fuhr,  und  wurde 
von  ihnen  weit  in  das  Land  getragen;  da  spürten  sie  Grund  und  wollten 
wieder  in  die  See  umkehren,  doch  ehe  die  vordersten  Wale,  die  am 
weitesten  auf  das  Land  geraten  waren,  sich  zum  Wenden  anschicken 
konnten,  strömte  die  Flut  von  ihnen  zurück  und  sie  lagen  im  Trocknen; 
die  am  Laude  befindlichen  Männer  stürzen  nun  herbei  und  schneiden  ihnen 
den  Hals  auf,  so  dass  das  Blut  in  Strömen  rinnt  und  das  Meer  rot  färbt. 
Jene  Wale,  die  die  letzten  waren  und  nicht  am  Sande  aufsassen,  da  sie 
keinen  Platz  fanden,  brechen  sich  nuu  gegen  die  Boote  durch,  die  ihnen 
mit  Waffen  und  Steinen  begegnen,  und  selbst  wenn  sie  die  erste  und 
zweite  Kette  durchbrochen  haben  sollten,  geschieht  es  nur  äusserst  selten, 
dass  sie  nicht  vor  der  dritten  umkehren;  wohin  sie  kommen,  werden  sie 
verletzt  uud  gesteinigt,  das  Blut,  in  dem  sie  schwimmen,  blendet  sie,  und 
sie  selbst  wühlen  die  See  bis  zum  Grunde  auf;  sie  sind  nun  ganz  rasend, 
und  gelingt  es  einem  einzelnen  Wale,  alle  drei  Ringe  zu  durchbrechen, 
so  kehrt  er  oft  von  selbst  wieder  zu  den  anderen  zurück,  unter  denen  der 
Mord  wütet.  Ja,  hier  herrscht  Mord,  und  es  ist  schauerlich  genug  zu  sehen 
für  den  friedlichen  Zuschauer  auf  dem  Lande:  hier  stürmen  einige  Wale 
an  verschiedenen  Stellen  des  Strandes  an  das  Land,  dort  liegen  Boote 
mitten    unter    den  Tieren,    die  Blut  emporspritzen   und  sich  hin  und  her 


Bilder  aus  dem  fceröischen  Volksleben.  289 

winden,  aber  harpuniert  werden,  wo  sie  zum  Vorscheine  kommen;  andere 
ermatten  infolge  des  Blutverlustes,  der  grosse  Haken  wird  in  sie  ein- 
geschlagen und  die  Schnur  ans  Land  gezogen,  damit  man  sie  aufziehen 
und  so  schnell  als  möglich  zur  Blutgewinnung  ihnen  den  Hals  aufschneiden 
könne;  sonst  beginnt  das  Fleisch  zu  faulen;  mau  watet  bis  unter  die  Arme 
ins  Wasser,  um  das  Ende  der  Schnur,  an  der  der  Wal  befestigt  ist, 
entgegenzunehmen;  alle  haben  die  Hände  voll  Arbeit,  überall,  aus  den 
Booten  wie  vom  Strande  ertönen  Rufe,  und  dazwischen  hört  man  auch 
Fluch-  und  Scheltworte.  Kein  Wunder,  dass  ein  altes  Wort  umgeht,  kein 
Grindwalfang  könne  glücken,  wenn  Priester  oder  Weiber  am  Lande  stünden 
und  dem  Morde  zusähen;  -  -  ob  nicht  der  Ursprung  dieses  Wortes  darin 
liegen  mag,  dass  sich  die  Männer  genierten,  sich  in  ihren  Manieren  bei 
dem  Todschlage  der  Wale  sehen  zu  lassen? 

Anderthalb  Stunden  sind  vergangen,  seit  die  Herde  zugetrieben  worden 
war,  und  jetzt  liegen  800  Wale  tot  auf  dem  Lande.  Es  ist  so  eng  auf 
dem  mit  Walen  dicht  belegten  Strande,  dass  hier  erst  Platz  geschafft 
werden  muss,  ehe  man  an  die  Bezeichnung  gehen  kann,  und  darum  ergeht 
vom  Syslumann  die  Aufforderung  an  die  Walfänger,  zu  kommen  und  die 
Wale  nach  Vägsbotn  [ein  Stadtteil  von  Thorshavn]  zu  schaffen.  Darauf 
kommt  der  Syslumann  mit  zwei  Gehilfen,  sie  gehen  von  Wal  zu  Wal  und 
schneiden  jedem  Zahl  und  Wertzeichen  in  die  Haut.  Das  Finderboot  darf 
sich  jetzt  einen  Wal  wählen;  hier  liegt  einer,  der  auf  einen  „Gulden" 
[„gyllin"  =  7,6  nmörka  (10,000—20,000  Q Ellen  Land)]  und  drei  „skinn" 
|-=  yso  gyttin"]  abgeschätzt  ist,  den  wählen  sie,  und  der  Mann  dieses  Bootes, 
der  zuerst  die  Wale  gesehen  hat,  bekommt  ausser  seinem  Anteil  am  Wale 
auch  den  Kopf;  ist  der  Wal  fett,  so  hat  er  eine  gute  Tonne  Thran  aus 
dem  Kopfe  allein.  Ferner  werden  einige  Wale  ausgesondert,  die  als  Ent- 
gelt für  jene  Leute  dienen,  welche  all  den  Fremden  aus  anderen  Dörfern, 
die  hier  versammelt  sind,  für  die  Zeit  der  Verteilung  Speise  und  Trank 
gewähren;  das  geschieht  vor  der  Teilung  der  Beute.  Dann  wird  geteilt 
und  ausgerechnet,  wieviel  auf  ein  Boot  kommt,  nachdem  der  vierte  Teil 
der  Wale  jenen  zugefallen  ist,  die  den  Grund  und  Boden  in  jenem  Distrikte, 
wo  die  Waltötung  stattfand,  besitzen.  Eine  Wache  wird  zur  Bewachung 
der  Wale  ausgestellt,  damit  nichts  abhanden  komme  oder  die  Flut  oder 
Brandung  keinen  Wal  fortschwemme:  die  anderen  Walfänger  fangen  dann 
an,  in  ihren  nassen  Kleidern  zu  tanzen,  um  sich  warm  zu  halten  und  die 
Kleider  an  sich  zu  trocknen,  während  im  Laufe  der  Nacht  die  Vorarbeiten 
zur  Verteilung  besorgt  werden.  -  Der  Syslumann  nimmt  sich  ein  paar 
Männer,  die  im  Rechnen  und  Schreiben  tüchtig  sind;  sie  sollen  nach  der 
jüngsten  Bevölkerungszahl,  wie  sie  um  Neujahr  war,  herausbringen,  wie 
gross  die  Anzahl  der  Leute  in  jedem  zum  Waldistrikte  gehörigen  Dorfe 
ist,  und  dann  ausrechnen,  was  jedes  Dorf  als  seinen  Anteil  in  „Guldeu" 
und  „skinn"  haben  soll,  ferner  nach  der  Liste  die  Wale  aussuchen,  deren 

20* 


290  Jirlczei: 

Abschätzungswert  gerade  die  Summe,  die  ein  Dorf  erhalten  soll,  erreicht: 
denn  die  Sache  wird  verwickelt,  wenn  man  ein  paar  „skinn"  von  einem 
Wale  zulegen  müsste,  dessen  grösster  Teil  bereits  einem  anderen  Dorfe 
gehört:  endlieh  wird  für  jedes  Dorf  ein  Zettel  mit  den  Nummern  der  Wale, 
die  ihm  zufallen,  geschrieben,  und  die  Arbeit  ist  nicht  so  leicht  ins  Reine 
zu  bringen,  wenn  sie  rasch  geschehen  soll,  wie  alle  Walfänger  wünschen, 
um  so  bald  als  möglich  heimzukommen,  damit  nichts  von  den  Walen  zu- 
grunde gehe. 

Die  Westströmung  ist  in  den  Fjord  [bedeutet  faeraisch  auch  Sund!] 
gekommen  und  mit  ihm  die  günstigste  Zeit  zur  Fahrt  nach  Yagar,  der 
\\ "i'stseite  von  Streymoy,  Hest  und  Koltur;  die  Leute  aus  dem  Westen 
werden  daher  ungeduldig  und  wollen  vom  Syslumann  die  Zettel  bekommen 
und  treiben  sich  vor  seinem  Hause  im  Tune  herum;  doch  er  hat  sich  ein- 
gesperrt, niemand  kann  hinein,  ehe  er  fertig  ist,  und  er  darf  sich  nicht 
stören  lassen,  sondern  muss  sich  für  alle  Rufe  nach  Eile,  die  ihm  aus  dem 
Tune  hineingerufen  werden,  taub  stellen:  denn  es  kommt  auf  genaue 
Teiluug  an,  so  dass  man  ihm  nachher  nichts  vorzuwerfen  habe.  Doch  die 
Westmänner  weichen  nicht  von  der  Thür;  bekommen  sie  ihre  Zettel  nicht 
jetzt,  so  verpassen  sie  die  Strömung  und  müssen  noch  sechs  Stunden 
warten,  ehe  die  Strömung  wieder  günstig  ist.  —  —  Jetzt  öffnet  sich  die 
Thür  der  Syslumannstube:  „Zwölf  „skimi"  per  Boot!"  Die  Nachricht  wird 
unter  allen  Walfängern  in  Eile  von  Mund  zu  Mund  verbreitet;  die  Zettel 
werden  ausgeteilt  und  die  Dorfgenossen  machen  sich  nun  daran,  ihre  Wale 
aufzusuchen.  Jetzt  wird  aufgeschnitten  und  in  die  Boote  verteilt,  soviel 
sie  um-  tragen  können;  und  bei  dieser  Arbeit  stehen  sie  bis  zum  Gürtel 
im  Wasser,  und  in  diesem  feuchten  Anzüge  setzen  sie  sich  in  das  Boot 
und  können  nicht  eher  trockene  Kleider  anziehen,  als  bis  sie  nach  Zurück- 
legung des  oft  recht  langen  Weges  heimgekommen  sind.  Man  stösst  vom 
Lande  ab  und  «'greift  die  Ruder,  die  Hauben  werden  auf  die  Ruderbänke 
gelegt  und  der  Dankpsalm  erklingt  von  all  den  Booten,  die  in  Hundertzahl 
mit  ihren  schweren  Lasten  vom  Lande  abstossen;  sind  auch  die  Stimmen 
nicht  immer  ganz  rein,  und  wäre  auch  manches  au  der  Melodiefärbung  des 
Psalmes  auszusetzen,  so  hört  man  doch,  dass  die  Herzensmeinung,  die  in 
dem,  was  gesungen  wird,  liegt,  gut  ist,  und  manches  Herz  wird  gerührt 
und  manches  Auge  feucht  bei  den  Zuschauern,  die  auf  dem  Lande  stehen 
und  auf  die  Schar  blicken,  die  Gott  lobt  und  ihm  aus  innerstem  Herzen 
für  seine  Barmherzigkeit  uud  Gnade  dankt. 

Die  Zeit  wird  den  in  den  Dörfern  daheim  gebliebenen  lang;  volle 
48  Stunden  sind  verflossen,  seit  jene  auf  die  Walfischjagd  ausfuhren,  und 
noch  keine  Nachricht;  sie  trösten  sich  damit,  dass  ein  Entkommen  der 
Walherde,  wie  es  leider  oft  geschieht,  unwahrscheinlich  ist,  sonst  wären 
sie  ja  schou  längst  zurück:  sie  spähen  und  spähen  mit  sehnsüchtigem 
Herzen,  ob  sich  noch  kein  Boot  zeigt,  steigen  auf  Hügel,  von  denen  sich 


Bilder  aus  dem  fseröischen  Volksleben.  291 

der  Ausblick  auf  das  Meer  weiter  öffnet  —  nichts  ist  zu  sehen,    und-  alle 
müssen    sich    in  Geduld  üben.   —      -  Da  erschallt  der  Ruf:    „Die  Boote 
kommen!"    und  man  hört  den  Psalmengesang  über  das  Meer;    sie  nähern 
sich,  und  das  ganze  Dorf,  Jung  und  Alt,  eilt  zum  Laudungsplatze,  um  den 
müden    und    durchnässten    Männern    heisse   Suppe    oder  Kaffee  zu  geben, 
wenn   sie  auf  das  Land  steigen.     Die  Boote  sind  bis  zum  Sinken  belastet 
und  ragen  kaum  eine  Handbreite  über  das  Wasser,  zwei  Männer  schöpfen, 
eine  schwache  Brise  kräuselt  das  Wasser  am  Strande.    „Zwölf  „skinn"  per 
Boot,    sechs   für  uns,    die  wir  die  Hälfte  bekommen,   und  alles  steht  gut" 
—    das    sind  die  ersten  Nachrichten,    die  erfragt  und  freudig  beantwortet 
werden.     Die   Boote    werden    ausgeladen,    und    wenn  die  Beute  gross  ist, 
wird    oft  nach  kurzer  Ruhe  gleich  wieder  nach  dem  Reste -gefahren.     Ist 
die  gesamte  Last  heimgeführt,  so  wird  sie  unter  die  einzelnen  Häuser  nach 
der  Kopfzahl  verteilt,  da  man  25  Leute  auf  ein  Boot  beim  Walfang  rechnet; 
ein  Dorf,    das   200  Einwohner   hat,    erhält  also  derart  acht  Bootsladungen. 
Doch  wird  nicht  allen  das   gleiche   zugeteilt,    zwei  Hausteile1)  gehen  auf 
einen  Mannsteil,  wie  ihn  die  bekommen,  die  die  Wale  so  weit  transportiert 
und    mit   ihnen  soviel  Plackerei  gehabt  haben,    und  gewisse  innere  Teile 
fallen  speciell  denen.  7.u,    die   die  Fische  aufgeschnitten  haben.     Jegliches 
Menschenkind  im  Dorfe,    von  dein  alten  Weibe,    das  nicht  mehr  arbeiten 
kann,  aber  doch  froh  ist,  soviel  Thrau  verkaufen  zu  können,  dass  sie  sich 
Tabak  kaufen  und  eine  Prise  gönnen  kann,  bis  zum  Kinde,   das  noch  in 
der  Wiege  liegt,  bekommt  sein  Teil;  --  ist  es  zu  verwundern,   dass  sich 
alle  freuen,  wenn  der  Ruf  erschallt:  Griudabod!? 


In  der  Spinnstube. 

Die  Tagesarbeit  im  Freien  war  vollbracht;  die  Knechte  waren  draussen 
gewesen,  um  Heu  zu  schlagen  und  nach  den  Schafen  zu  sehen;  der  Haus- 
wirt selbst  hatte  Heu  vom  Schober  gezogen  und  den  Kühen  gegeben  und 
ausserdem  einen  Korb  mit  Heu  gefüllt,  um  ihnen  abends  beim  Melken 
ein  Büschel  daraus  zuzustecken;  die  Mägde  hatten  des  Yiehs  gewartet,  die 
Kühe  getränkt  und  den  Stall  gefegt.  Nun  waren  alle  in  der  Rauchstube 
zusammengekommen,  das  Feuer  loderte  in  der  Esse,  in  der  Glasstube 
brannten  dem  neuangekommenen  Gaste  zu  Ehren  Kerzen  und  die  Thran- 
lampen  in  der  Rauchstube  wurden  angezündet,  denn  der  Winter  hatte  be- 
gonnen; der  Tag  war  kurz  und  der  Abend  lang  und  die  Abendstunden 
bis  Weihnachten  sollten  zum  Wollwebeu  benutzt  werden;  es  ist  Landes- 
brauch,  sich  mit  der  Wollarbeit  zu  beeilen,  ehe  im  Februar  die  Ausfahrt- 
zeit und  Frühjalirsfischerei  beginnt.  —  Die  Kisten  mit  Wolle  standen  daher 
auf   dem    Fussboden,    die    Spinnrocken    mit    Strähnen,    Strick,    Scheiben, 


1)    d.  h.  Anteil  für  die  Hauslieger. 


292  Jiriczek : 

Rädchen  und  Spindel  wurden  hereingebracht  und  die  Axeu  in  die  Wand- 
verkleidung  oder  vor  die  Alkovbettstellen  eingesetzt  und  der  Hausherr 
wies  nun  jedem  seine  Arbeit  an:  die  Burschen  und  jüngeren  Knechte 
sollten  karden,  die  älteren  spinnen.  Die  Mädchen  setzten  sich  auf  Baum- 
strünke, Wirbelstücke  und  Kisten  um  die  Feuerstätte,  einige  abseits,  und 
strickten  Strümpfe  und  Ärmel;  andere,  zu  zweien  gepaart,  strickten  Jacken; 
ein  altes  Weib  sass  auf  dem  Sitzplatz,  zunächst  dem  Feuer,  und  hatte 
einen  kleinen  Jungen  in  den  Armen;  sie  hatte  ihm  geloben  müssen,  ihm 
den  ganzen  Abend  Märchen  zu  erzählen,  damit  er  nicht  einschlafe  und 
ohne  Nachtmahl  zu  Bette  gebracht  werde.  Der  Webestuhl  stand  ruhig  in 
der  Glasstube;  das  Yadmel  daran,  das  zu  Julkleidern  bestimmt  war,  war 
so  rasch  gewachsen,  dass  die  Weberin  mit  den  übrigen  Frauen  am  Abende 
strickte  Die  Spinner  warfen  ihre  Yadmelsüberröcke  ab,  um  in  Hemd- 
ärmeln das  Rädchen  unbehinderter  an  dem  Rocken  schnurren  zu  lassen 
und  derart  leichter  wetteifern  zu  können,  wer  die  meisten  Pfund  Wollgarn 
spinne,  bis  das  Nachtmahl  käme  und  die  Arbeit  aufgegeben  würde. 

Und  nun  schnurren  die  Rocken,  kratzen  die  Karden,  klappern  die 
Stricknadeln  und  die  Arbeit  kommt  bei  allen  in  Fluss.  Doch  das  Sprich- 
wort sagt:  „Schweigen  erschwert  das  Rudern,"  und  so  ist  auch  jede  Mühe 
und  Arbeit  schwer,  wenn  es  dabei  gar  keine  Unterhaltung  giebt,  die  die 
Stunden  der  Arbeit  verkürzt.  Daher  herrscht  nie  Stillschw-eigen  in  der 
Rauchstube  an  Winterabenden;  der  Hausherr  oder  einer  der  Knechte,  der 
eine  gute  Stimme  hat  und  vorzutragen  versteht,  singt  die  langen  Lieder 
von  SjürS  Sigmundarson,  Sigmund  Brestisson,  Götu-Trönd  und  anderen 
Helden  der  Vorzeit;  alle  in  der  Stube  geben  Gehör  und  lauschen,  während 
die  Strophe  gesungen  wird,  fallen  jedoch  ein,  wenn  der  Refrain  des  Liedes 
kommt.  Einige  prägen  sich  das  Gesungene  ein,  um  das  Lied  zu  erlernen 
und  es  selbst  vortragen  zu  können,  wenn  zur  Julzeit  der  Tanz  wiederum 
Alt  und  Jung  in  der  Byg'd  zusammenruft,  und  in  den  Tanzstuben  jeden 
Sonn-  und  Feiertag  zwischen  Jul  und  Fasten  eine  Kette  froher  Menschen 
sich  dreht,  die  ihr  bestes  Vergnügen  zu  dieser  Zeit  an  den  Liedern  finden, 
welche  den  alten  Tanz  beleben. 

Das  Lied  war  beendet,  alle  verstummten,  sowohl  der  Vorsänger  als 
die  Männer  und  Frauen,  die  nach  jeder  Strophe  den  Refrain  mitgesungen 
hatten.  Da  begann  die  Alte  am  Herde  Märchen  zu  erzählen;  das  war  ein 
Vergnügen,  ihr  zuzuhören:  als  aber  Riesen,  Troll,  Gespenster  und  ähnliche 
Unholde  in  der  Erzählung  auftraten,  befiel  die  Jugend  Angst,  die  Karden 
fuhren  nicht  mehr  Strich  um  Strich,  die  Stricknadeln  hörten  auf  zu  klappern, 
und  oft  wurde  neugierig  und  ungeduldig  gefragt:  „Und  wie  ward  es  dann, 
Mütterchen?"  — 

So  verging  der  Abend  rasch:  das  Feuer  zur  Bereitung  des  Nacht- 
mahles wurde  angezündet,  und  als  es  gegen  Mitternacht  ging,  wurde  der 
Topf  vom  Feuer  gehoben  und  die  Suppe  dicke  Milch,  Molke,  Grütze  oder 


Bilder  aus  dem  fsei'öischen  Volksleben.  293 

was  es  nun  sein  mochte,  auf  Schüsseln  oder  ähnliche  Lehmgefässe  aus- 
geschöpft, beziehungsweise  das  Fleisch  oder  der  Fisch,  der  zum  Nacht- 
mahl gekocht  worden  war,  auf  Mulden  herausgehoben.  Die  Magd,  welche 
die  Speise  bereitete,  hatte  Brotteig  geknetet  und  scharrte  die  Kohlen 
zurecht,  um  Gerstenbrötchen  oder  Kuchen  zu  backen.  Das  Nachtmahl 
wurde  getrunken  oder  gegessen,  das  Abendgebet  abgehalten,  die  Männer 
gingen  noch  vor  die  Thür,  um  nach  der  See  auszuschauen,  ob  man  morgen 
werde  ausfahren  können,  und  dann  fuhr  jeder  schleunigst  unter  die  warmen 
Bettdecken,  und  alles  war  ruhig.  Am  spätesten  kam  doch  das  Mädchen 
dazu,  das  mit  dem  Backen  beschäftigt  war;  die  Brötchen  mussten,  ehe  sie 
in  die  heisse  Asche  gelegt  wurden,  eine  ordentliche  Rinde  bekommen,  und 
schliesslich  wurden  Torfstücke  in  die  Asche  gelegt,  mit  denen  das  Feuer 
am  nächsten  Morgen  neu  belebt  werden  sollte. 


Volksrätsel  aus  dem  Belgischen1). 

Aus  dem  Yolksmunde  gesammelt 
von  0.  Schell. 


1.   Et  körnen  ens  drei  Düwen    Öwer  den  Kerkhof  te  schnüwen. 
De  eine  seit:    Eck  wösl,  dat  et  Dag  wör. 
De  angre  seit:    Eck  wöal,  dat  et  Neit  wör. 
De  dre'ide  seit:    Et  ess  mech  alles  enerlei; 
Ech  han  Dag  on  Neit  keng  Rouh.  Sonne,  Mond  und  Wind. 

2.  Et  geng  ens  en  Dierken  öwer  de  Brock; 
De  Bensches  gengen  de  Knibbel  de  Knick; 
De  Hörkes  gengen  de  Roll  de  Roll. 

Wenn  du't  nitt  rötst,  dann  wusch  de  doli.  Das  Schaf. 

3.  Hinter  unserm  Hause 

Hängt  ne  Bemabause  (Berlabause,  Birlabause). 

Wenn  die  liebe  Sonne  scheint, 

Unsre  Bemabause  weint.  Der  Eiszapfen. 

Eck  schmit  wat  Wittes  op  et  Däk,      5.    Oben  spitz  und  unten  breit, 
Dat  kömmt  gel  wir  heronger.  Durch  und  durch  voll  Süssigkeit. 

Das  Ei.  Der  Zuckerhut. 

Josef  en  Egypten,  7.  En  isern  Hüs, 

De  hat  en  Deng,  dat  wippten,  En  isern  Düar 

Rongs  herörn  rnet  Hör  besatt;  On  do  en  häulten  Jakob  vuar. 

Rot  ens,  wat  ess  dat?        Das  Auge.  ? 


1)  Als  Ergänzung  dienen  die  im  Urquell  I,  131  ff.  und  III,  138  f.  veröffentlichten 
Rätsel.  Auch  nur  einigermassen  genügende  Litteraturnachweise  zu  geben,  würde  zu  weit 
führen  und  ist  darum  unterblieben. 


294 


Schell: 


8.    Eins,  zwei,  drei,  ihr  Jagdgesellen! 
Macht  euch  fertig  schnell  zum  Schuss; 
Lasst  die  Hunde  wacker  bellen; 
Drei,  zwei,  eins  ich  haben  muss. 
Drei,  zwei,  eins,  das  hat  gemacht 
Uns  schon  manchesmal  die  Jagd. 
Zwei,  drei,  eins,  die  soll  nicht  schelten, 
Uns  den  Undank  leicht  vergelten. 

1,  2,  3  =  Heer;  3,  2,  1  =  Reh;   2,  3,  1  =  Ehr. 


9.  Ein  ganzes  Reck  voll  weisser  Hühner 
Und  mitten  drin  ein  roter  Hahn. 
Der  Mund. 

10.   Das  Erste  frisst, 
Das  Zweite  isst, 
Das  Dritte  wird  gefressen, 
Das  Ganze  wird  gegessen. 
Das  Sauerkraut. 

12.    Hinten  Fleisch,  vorne  Fleisch, 
In  der  Mitte  Holz  und  Eisen. 
Vorne  geht  das  Pferd, 
Hinten  geht  der  Hauer. 
(Elberfeld.) 


11.    Raten,  raten;  wer  kann  raten? 

Dieses  Ding  sitzt  zwischen  Braten, 
Zwischen  Braut  und  Bräutigam. 
Der  Kuckuck  soll  dich  holen. 
Das  Ding  ist  nicht  von  Polen. 
In  Berlin,  der  grossen  Stadt, 
Die  das  Ding  nur  einmal  hat. 
Das  „R". 


Hinten  Fleisch,  vorne  Fleisch, 
In  der  Mitte  Holz  und  Eisen. 
(Kronenberg.) 

Der  Bauer,  der  Pflug  und  das  Pferd. 


13.    An  beiden  Enden  rund 

Und  in  der  Mitte  ein  Pfand 


oder     Vorne  rund  und  hinten  rund; 
In  der  Mitte  wie  ein  Pfund. 

Otto. 
14.    Mit  Schreien  wurd'  ich  geboren; 

Als  ich  geboren  war,  wuchs  ich  nicht  mehr.  Das  Ei. 

15.   Diwi,  diwidi! 

Weiss  wie  Schnee, 
Grün  wie  Klee, 
Rot  wie  Blut, 
Schwarz  wie  ein  Rabe, 
Wer's  rät,  soll's  haben. 


16.  Aussen  blank  und  innen  blank, 

Und  mitten  drin  ein  hölzernes  Kreuz. 

17.  Ich  weiss  ein  kleines,  dickes  Fräulein; 
Wenn  man's  ansieht,  weint  man. 

18.  In  Gladbach  kann  man's  garnicht  finden; 
In  Viersen  kann  man's  immer  sehn. 
Man  kann  von  Rheydt  bis  Dülken  gehn, 
Kann  man  es  nicht  ergründen. 

Doch  wer  dies  Rätsel  will  gewinnen, 
Der  streng'  den  Kopf  ein  wenig  an, 
Und  denk  ein  wenig  nach  den  Sinnen, 
Dann  gleich  im  Anfang  ist  er  dran. 


Die  Kirsche. 
Das  Fenster. 
Die  Zwiebel. 


Das  „S"  (vgl.  Nr.  45). 


Volksrätsel  aus  dem  Bergischen.  295 

19.    Et  wor  eil  Mann  van  Hüpplepöpp, 
De  hatt'  en  Glied  van  dausend  Stück 
On  noch  en  ruaden  Bat. 
Oder:  Es  war  ein  Mann  von  Höpplipöpp; 

Er  hat  ein  Kleid  von  tausend  Stück 
Und  einen  ledern'  roten  Bart.  Der  Hahn. 

20.    (Man  vergleiche  Nr.  15,  49). 

Erst  weiss,  dann  grün,  dann  rot  werd'  ich; 

Und  nun,  mein  Kind  erquicke  dich.  Die  Kirsche. 

21.  Als  ich  des  Morgens  früh  erwacht, 
Da  sah  ich,  was  ich  nicht  gedacht: 
Auf  unserm  Klee 

Ein  weisses  Reh; 

Das  hatt'  weder  Fleisch  noch  Gebein  — 

Läuft  doch  vor  Regen  und  Sonnenschein.       Der  Schnee. 

22.  Es  ist  ein  grosser,  weisser  Hut, 

Steht  doch  keinem  Mädchen  gut.  Der  Zuckerhut. 

23.  Es  ging  ein  Ritter  wohl  über  den  Rhein, 
Der  brachte  seinem  Fräulein  Wein; 

Er  hatte  weder  Glas  noch  Fass; 

Sage,  worin  trug  er  das?  Die  Weintraube. 

24.   Es  ging  ein  Herr  nach  Bohnebach,       25.    (Variante  zu  Nr.  11.) 

Von  Bohnebach  nach  Brandebach,  Rat',  rat',  rat'; 

Von  Brandebach  nach  Kastern,  Es  ist  gar  leicht  zu  raten; 

Von  Kastern  nach  Tastern,  Man  find't  es  nur  im  Braten. 

Von  Tastern  nach  Leipzig,  Berlin  ist  eine  grosse  Stadt, 

Von  Leipzig  mit  der  Extrapost  -  Die  das  Ding  nur  einmal  hat. 
Da  wurde  er  umgebracht.  Das  „R". 

Die  Kaffeebohne. 

26.    Äppelschen,  Päppeischen  op  der  Bank, 
Äppelschen,  Päppeischen  onger  der  Bank. 
Et  ess  kien  Doktor  in  Brobank  (England,  ganzen  Land), 
Da  en  Äppelschen,  Päppeischen  mäken  kann 
Oder:        De  Äppelken,  Päppelken  wiader  kurieren  kann.  Das  Ei. 

27.    Im  Gemüse  ist  es  nicht, 
Aber  im  Salat; 
Und  der  König  hat  es  nicht, 
Aber  der  Soldat; 
Und  der  Esel  hat  es  hinten.  Das  „L". 

28.    Einer  und  Keiner  gingen  auf  den  Oller; 
Einer  ging  heronger; 
Keiner  ging  heronger; 

Wer  blieb  noch  op  dem  Oller?  „Und". 

Oder:  Niemand  und  Keiner  gingen  in  ein  Haus; 

Niemand  ging  heraus,  Keiner  ging  heraus. 
Wer  blieb  im  Haus?  „Und". 


296 


Schell: 


29.    In  einem  dunklen  Kämmerlein 
Beweget  sich  ein  Hiimmerlein; 
Das  klopft  bei  Tag  und  klopft  bei  Nacht, 
Ob  einer  schläft,  ob  einer  wacht.        Herz  und  Herzschlag. 


30. 


Fünf  Höhlen  in  einem  Loch; 
Sage,  was  ist  das  doch? 

Der  Handschuh. 


31.    Et  geng  en  Frauken 
Öwer  en  Bräuken, 
Hat  en  Säcksken  om  Rauken. 
Watte  wor  dodren?  Watte. 


32. 


Es  stand  ein  Mann  hinter'm  Haus 

Und  zog  seinen  langen  Schlampampe!  heraus; 

Er  dachte  in  seinem  Sinn: 

Ach,  wie  ist's  so  öd'  darin! 

Ein  Mann  mit  einer  Geldbörse. 


33. 


Ich  trage  das  Kleid  der  Unschuld; 

Italien  ist  meine  Heimat; 

Die  Juden  sind  meine  ärgsten  Feinde. 


Das  Ei. 


34. 


In  einem  kleinen  Kästchen 

Sass  ein  kleines,  rotes  Affchen. 

Da  kamen  fünf  gegangen 

Und  haben  es  gefangen, 

Und  führten  es  nach  Fremmelbach, 

Und  dann  nach  Nagelbach; 

Hier  wurde  es  umgebracht. 

Der  Floh. 


35.  Es  steht  im  Acker 
Grün  und  wacker; 
Es  hat  Adele  Häute 
Und  beisst  alle  Leute. 

Die  Zwiebel. 


36.    Die  ersten  (Silben)  machen  nass; 
Die  dritte  thut  oft  weh; 
Das  Ganze  hat  der  Rhein 
Gleich  hinter'm  Bodensee. 


37.    Woher  kommt  der  Regen? 

38.  Als  Krankheit  bringt  es  viele  Qualen, 
Als  Fluss  durchwandert  es  Westfalen. 

39.  Der  Geliebte  lag  und  schlief; 
Die  Geliebte  kam  und  rief; 

Und  der  Baum,  unter  dem  er  schlief, 
War  der  Name,  den  sie  rief. 

40.  Du  trägst  mich  doppelt  im  Gesicht. 
Und  auch  beim  Kusse  fehl'  ich  nicht; 
Ein  Nebenfiuss  bin  ich  vom  Rhein, 
Zwei  Fürstentümer,  ziemlich  klein. 


Der  Wasserfall. 
Vom  Böhmerwald. 


Die  Ruhr. 


Wachholder. 


Lippe. 


41.    Karl  sass  vor  der  Thür  und   Puff.     Karl   pfiff  nicht  und  doch  sass  Karl 
vor  der  Thür  und  Pfiff.  Pfiff,  der  Hund. 


42.   Hinter  dem  Hause  steht  etwas, 
Das  brennt  Tag  und  Nacht 
Und  brennt  doch  kein  Haus  ab. 


Die  Brennessel. 


Volksrätsel  aus  dem  Bergischen.  297 

43.  Wer  geht  auf  dem  Kopf  in  die  Kirche? 

Die  Nägel  unter  den  Schuhen. 

44.  Was  liegt  zwischen  Küllenhohn  und  Hahnerberg?  „Und". 

45.    In  Solingen  bin  ich  gross  und  dick, 
Du  siehst  mich  auf  den  ersten  Blick. 
In  Remfcheid  bin  ich  lang  und  mager, 
Desto  grösser,  desto  behager. 
In  Ronsdorf  bin  ich  krumm,  schief  und  bucklig; 
Bin  ich  am  Korpus  zwar  noch  klein, 
So  muss  ich  an  der  Seele  doch  viel  grösser  sein. 
Ich  bin  bei  stetem  Saus  und  Braus 
Stets  der  beste  Wirt  im  Haus.  Das  „S"  (vgl.  Nr.  18). 

46.  Ich  weiss  etwas,  das  trägt  einen  Wagen  Heu,  aber  keine  Nähnadel. 

Das  Wasser. 

47.  (Man  vergl.  Nr.  24). 

Es  ist  ein  Ding,  das  geht  von  Mühlheim  nach  Kassa,  von  Kassa  nach  Tassa, 
von  Tassa  nach  Mün(d)chen,  von  München  nach  Leipzig,  von  Leipzig  nach  Hause. 

Mühle,  Kasse,  Tasse,  Mund,  Leib,  Abort. 

48.   Buten  platt  on  bennen  platt; 

Pladderjan,  rod  ess,  wat  ess  dat?  Das  Fenster. 

49.  (Man  vergl.  Nr.  15,  20.) 

Weiss  kam  ich  auf  die  Welt; 

Ich  ward  ganz  grün, 

Doch  du  verschmähtest  mich. 

Dann  ward  ich  rot  und  schwarz, 

Mein  Herz  wie  Stein  so  hart. 

Da  nahmst  du  mich 

Und  ich  erquickte  dich.  Die  Kirsche. 

50.  Ich  weiss  ein  Ding,  das  bald  erschreckt  und  bald  erfreut,  das  ohne  Zunge 
leckt  und  ohne  Zahn  und  Magen  doch  unersättlicher  als  manches  Raubtier  frisst. 
Es  frisst,  so  lang  etwas  zu  fressen  ist;  sobald  es  trinkt,  erlischt  sein  gluterfüllter 
Blick  und  es  stirbt  im  Augenblick.  Das  Feuer. 

51.    Im  Winter  werfen  sich  mit  mir  die  muntern  Knaben, 

Im  Sommer  kann  man  mich  vom  Strauch  als  Blume  haben. 

Der  Schneeball. 

52.  De  Bür  Schmitt  et  fott  on  de  Städter  steckt  et  en  de  Täsch.  Wat  ess  dat? 

Der  Nasenschleim. 

53.    Mitten  in  der  Nacht, 
Da  fiel  mir  etwas  ein; 
Da  liefen  mehr'  tausend, 
Die  hatten  kein  Bein. 
Sie  hatten  mehr-  Augen  als  ich 
Und  sahen  einander  doch  nicht. 
Einem  Bauer  fiel  in  der  Nacht  der  Kartoffelhaufen  ein. 


298  Schell: 

54.  Welche  Ähnlichkeit  besteht  zwischen  einem  Advokaten  und  einem  "Wagenrad? 

Sie  müssen  beide  geschmiert  werden. 

55.    Loch  auf  Loch; 
Haare  um's  Loch ; 
Musik  im  Loch; 
Freude  im  Loch. 
Der  Mund  des  Trompeters  und  das  Mundstück  der  Trompete. 

56.    Wann  haben  die  Mädchen  und  Frauen  den  meisten  Schaum  zwischen  den 
Beinen?  Wenn  sie  melken. 

57.  Holter  di  Polter 
Get  öwer  den  Olter; 
Hiddrich-Zittrich 

Kömmt  nimmer  widrich  (wieder).  Der  Rauch. 

58.  Auf  Lustig  geh  ich: 
Auf  Lustig  steh  ich; 
Lustig  ist  mein  Hosenband; 
Lustig  bin  ich  drum  genannt. 

Das  Fell  eines  Hundes,  „Lustig"  genannt,  wurde 
zu  Schuhsohlen  und  Hosenträgern  verwandt. 
M.  vorgl.   ,Am  Urd's  Brunnen"   Band  II   S.  37,    dort  auch  die  Sage,  welche 

die  Entstehung  des  Rätsels  angiebt.    Dieselbe  Sage  hörte. ich  von  einem  pommer- 

schen  Lehrer  in  der  Mitte  der  60er  Jahre. 

59.  Ech  geng  ens  nach  der  Mussei  (ss  weich) 
Und  wusch  minne  schwatte  Pussel  (ss  weich); 
Do  köm  en  Mann  gegangen, 

De  hat  son'n  Langen  do  hangen. 
Do  seit  ech  för  den  Mann: 
Ech  wöal,  dat  ech  dinnen  Langen 
En  minner  Pussel  hätt'  hangen. 
Eine  Frau  ging  nach   der  Mosel  und  wusch  ihren  schwarzen  Topf.     Da  kam 
ein  Mann  mit  einer  langen  Bratwurst. 

60.  Tweiben  sot  op  Dreiben 
On  hat  Enben; 

Do  körn  Vierben 

On  nom  em  dat  Enben  af 

On  schmit  dornet  dat  Vierben; 

Do  lit  Vierben  dat  Enben  fallen. 
Ein  Mann  sass  auf  einem  dreibeinigen  Melkstuhl  und  nagte  an  einem  Schweins- 
fuss.     Da  kam   ein  Hund  und  riss  ihm  den  Knochen  weg.     Der  Mann  ergriff  den 
Melkstuhl  und  warf  damit  nach  dem  Hunde,  welcher  nun  den  Knochen  fallen  liess. 

61.  Zwischen  zwei  Bergen  brummt  ein  Bär.  Der  Leibeswind. 

62.  Je  mia  dat  nie  devan  nömmt,  je  grötter  wet  et.  Das  Loch. 

63.  Wat  ess  et  klörschte  an  der  Stuav?  Der  Tropfen  an  der  Nase. 

64.  We  ess  et  frechste  en  der  Stuav? 

Die  Fliege;  sie  setzt  sich  jedermann  auf  die  Nase. 


Yolksrätsel  ans  dem  Bergischen.  299 

65.  Wie  schreibt  man  dürres  Gras  mit  drei  Buchstaben?  Heu. 

66.  Wie  het  et  elfte  Gebot?  Lass  dich  nicht  verblüffen. 

67.  Wannia  (wann)  kommen  Berg  on  Dal  tesämen? 

Wenn  ein  Buckliger  in  einen  Graben  fällt. 

68.  We  nömmt  cm  alles  onger  der  Nas'  weg?  Der  Barbier. 

69.    Ich  kenne  einen  schwarzen  Mann, 
Im  Winter  liebt  ihn  jedermann; 
Doch  wenn  die  Sommerblumen  blühn, 
Dann  kümmert  sich  kein  Mensch  um  ihn.  Der  Ofen. 

70.    Er  hat  einen  Kamm   und   kämrat  sich  nicht;    er  hat  einen  Sporn  und  ist 
doch  kein  Reitersmann.  Der  Hahn. 

71.    Es  ist  ein  Tier,  das  hat  keine  Egge  und  auch  keinen  Pflug 

Und  pflügt  doch  allen  Leuten  genug.  Der  Maulwurf. 

72.  Wer  hat  das  grösste  Taschentuch?  Die  Hühner. 

73.  Es  ist  ein  Ding,  hinten  thut  es  essen  und  vorn  thut  es  sich  brechen. 

Die  Häckselmaschine. 

74.  Wehret  mir  die  Hühner.     Katzen  und  Hunde  thun  mir  nichts. 

Der  Regenwurm. 

75.  Welches  Futter  frisst  kein  Gaul?  Das  Futter  in  einem  Kleide. 

76.    Es  kommt  ein  Fässchen  aus  einem  engen  Land, 
Das  hat  weder  Reif  noch  Verband 
Und  hat  zweierlei  Getränke.  Das  Ei. 

77.  Kommen    sie,    dann    kommen    sie    nicht,    und    kommen    sie  nicht,    dann 
kommen  sie.  Lösung  s.  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  III,  74. 

78.  Wer  ist  der  erste  Mensch  gewesen? 

Abel.    (Als  Kain  seinen  Bruder  erschlagen  hatte,  war  er  gewesen.) 

79.  Wo    hat  Gott   der  Herr  den  Esel   hingesetzt,    als  er  nach  Jerusalem  ge- 
ritten ist?  In  das  10.  Gebot  hinter  den  Ochsen. 

80.  Es  ist  was,  das  können  100  Pferde  nicht  den  Berg  heraufziehen. 

Das  Garnknäuel. 

81.  Was  für  Gedanken  hat  der  Küster,  wenn  er  läutet? 

Er  möchte  gern  wieder  aufhören. 

82.  Wer  ist  zuerst  in  der  Kirche?  Der  Schlüssel. 

83.  Warum  thut  der  Hahn  die  Augen  zu,  wenn  er  kräht? 

Weil  er  es  auswendig  kann. 

84.  Vorne  wie  eine  Schere,    in  der  Mitte  wie  ein  Besen  und  hinten  wie  ein 
Bleuel.  Huhn. 


300  Ammann : 

Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinus  von  Cochem 
als  Quelle  geistlicher  Yolksschauspiele. 

Von  J.  J.  Ammann. 

(Schluss.) 


Auch  in  den  deutschen  Volksschauspielen  aus  Steiermark,  die 
jüngst  A.  Schlossar  herausgegeben  hat1),  finden  wir  Cochems  Leben 
Jesu  vielfach  verwertet.  Gleich  im  ersten  Stücke,  „das  Paradeisspiel", 
finden  wir  S.  16  V.  352  f.  das  9.  Kap.  bei  Cochem:  „Wie  Adam  aus  dem 
Paradeiß  gestossen  wird"  fast  wortgetreu  und  ähnlich  wie  im  Vordern- 
berger  Paradeisspiel  aufgenommen;  doch  zeigt  sich  auch  hier  in  der 
Wiedergabe  des  älteren  Cochemscheu  Textes  grössere  Freiheit  als  in 
unserem  Böhmerwald-Passion.  Wir  begegnen  hier  im  Mitterndorfer 
Paradeisspiel  (M.  P.)  I.  S.  7  V.  115  —  116  in  der  Bede  Gott  Vaters 
demselben  Spruche  wieder  wie  im  V.  P.  und  bei  Cochem: 

„Und  wann  du  werdest  ausgelebt  haben, 

So  werden  dich  die  Engel  in  Himmel  tragen." 

Nach  der  Verführung  und  dem  Süudenfall  der  ersten  Menschen,  die 
wie  im  V.  P.  grösstenteils  poetisch  behandelt  sind,  folgt  in  Prosa  die 
Gerichtsscene  wie  im  V.  P.  nach  Cochem.  Selbst  die  Einleitung  Cochems 
zum  9.  Kap.  ist  da  S.  16  V.  352  —  59  im  M.  P.  aufgenommen.  Der  Engel 
tritt  auf  und  spricht:  „Damit  alle  Christgläubigen  besser  verstellen,  was 
dies  für  eine  Gnade  sei,  dass  Gott  das  Menschengeschlecht  verschonet  und 
die  Schuld  auf  sich  genommen  hat,  also  wird  in  dieser  Betrachtung  augen- 
scheinlich vorgestellt  werden,  wie  die  Gerechtigkeit  und  die  Barmherzigkeit 
miteinander  vor  Gott  gestritten  haben,  dass  kein  anderes  Mittel  gewesen 
sei  als  ilie  Menschwerdung  Gottes."  Cochem  dagegen  sagt:  „Damit  die 
einfältige  besser  v.,  w.  für  ein  grosse  G.  es  seye,  d.  G.  dem  menschlichen 
geschlecht  v.  u.  dessen  seh.  a.  s.  g.  habe,  wird  in  diesem  Capital 
betrachtungs-weis  gesetzt,  wie  die  gerechtig-  u.  b.  m.  e.  v.  G.  g.  h. ,  ob 
man  das  menschliche  geschlecht  verdammen  oder  erhalten  solle." 

Die  ganze  folgende  Gerichtsscene  stimmt  dann  wie  im  V.  P.  und  im 
B.  P.  zu  Cochems  Darstellung.  Doch  ist  S.  21 — 22  V.  529—68  in  poetischer 
Form  ein  Streit  zwischen  Gott  Vater  und  Luzifer  eingefügt,  worauf  V  559 
bis  608    wieder  Prosa   nach  Cochem  folgt.     Die  Verurteilung  Adams  und 


1)    2  Bände.  Halle,  Max  Niemeyer.  1891.  —  Das  Leben  Jesu  von  Cochem  citiere  ich 
von  hier  an  nach  der  Linzer  Ausgabe  von  1750,  Verlag  von  J.  A.  Ilger. 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinas  von  Cochem. 


301 


Evas  S.  24  V.  609  —  75  ist  auch  hier  in  ähnlicher  Fassung-  wie  im  T.  P. 
wieder  zu  finden.  Von  S.  27  f.  V.  676  f.  bis  zum  Schlüsse  des  Paradeis- 
spieles aus  Steiermark  begegnen  wir  in  den  prosaischen  Teilen  wiederholt 
dem  Cochemschen  Texte.  So  ist  das  Testament  Adams  S.  28  —  29  V.  714 
bis  26  mit  geringen  Änderungen  aus  Cochem  entnommen.     Man  vgl. 


M.  P.  714  —  26: 

0  ihr,  meine  lieben  Kinder,  ihr  habt 
gar  oft  und  vielmal  gehört,  wie  dass 
ich  in  dem  Paradeis,  in  dem  Ort  der 
Wollustbarkeit  gewesen  bin  und  wegen 
meinem  Ungehorsam  in  dieses  Elend 
bin  Verstössen  worden.  Als  ich  einst- 
mals über  die  Massen  sehr  betrübt  war, 
sendete  mir  Gott  einen  Engel,  welcher 
zu  mir  sagte,  wie  aus  meinem  Stamme 
ein  Mensch  soll  geboren  werden,  der 
uns  aus  diesem  Elend  erlösen  soll. 
Damm  ihr,  meine  lieben  Kinder,  bittet 
Gott  unablässlich,  dass  er  doch  einmal 
seine  Verheissung  erfülle.  O  Erden,  er- 
öffne dich !  0  ihr  Felsen,  zerspaltet 
euch  und  bringt  uns  hervor  den  lang- 
gewünschten Messias. 


Cochems  10.  Kap.  am  Ende: 

Ihr  meine  liebe  Kinder,  ich  hab  euch 
vilmal  gesagt,  wie  daß  ich  im  paradeiß 
der  wollustbarkeit  gewesen,  und  leyder 
durch  meinen  ungehorsam  in  dis  elend 
Verstössen  worden.  Als  ich  mm  dessent- 
wegen einmal  über  die  massen  betrübt 
wäre,  schickte  mir  Gott  einen  Engel, 
welcher  mir  gesagt,  dass  aus  meinem 
saamen  würde  ein  mensch  gebohren 
werden,   welcher  uns  aus  diesem  elend 

erlösen  werde derowegen  bittet 

den  lieben  Gott  ohne  Unterlaß,  er  wolle 
seine  verheissung  endlich  einmal  er- 
füllen. 

(Wie  die  Punkte  andeuten,  sind  ein 
paar  Zeilen  aus  Cs.  Texte  weggelassen, 
hier  dagegen  ein  paar  eingefügt,  die  bei 
C.  fehlen!) 


S.  30  V.  765  —  75  eröffnet  Gott  Vater  seinem  Sohne  den  Entschluss 
zur  Sendung  des  Messias.  Die  Worte  finden  sich  in  Cochems  44.  Kap.: 
Gott  Vatter  gibt  seinen  Sohn  der  "Welt. 


Vgl. 


M.  P.: 

Nun,  mein  allerliebster  Sohn,  jetzt  ist 
die  Zeit  da,  dass  du  dich  aufmachest 
und  in  die  Welt  hinunter  kommest.  Du 
weisst  es,  wie  ich  dich  vom  ganzen 
Herzen  liebe,  dennoch  erbarmet  mich 
das  Menschengeschlecht  so  sehr,  dass 
ich  sein  Elend  nicht  länger  mehr  an- 
sehen kann.  Und  weil  dann  kein  andres 
Mittel  ist,  ihnen  zu  helfen,  so  komme 
dann  dem  armen  verlassenen  Menschen- 
geschlecht zu  Hilf,  ich  will  lieber  an  dir 
das  grösste  Herzenleid  ansehen,  als  dass 
ich  das  Menschengeschlecht  sollt  ver- 
derben lassen. 


Cochem: 


Mein  allerliebster  Sohn,  .  .  .  sihe,  die 
zeit  ist  nun  da,  dass  du  dich  aufmachest, 
und  in  die  weit  hinab  steigest.  Du  weist 
zwar,  dass  ich  dich  mit  unendlicher  lieb 
liebe  .  .  .  dannoch  erbarmet  mich  der 
armen  menschen  so  sehr,  dass  ich  ihr 
elend  nicht  länger  kann  ansehen.  Weil 
dann  kein  anderes  mittel  ist,  ihnen  zu 
helffen,  ....  so  komme  den  armen  ver- 
lassenen zu  hülf  ....  ich  will  doch  dis 
lieber  sehen  als  die  arme  sünder  ewig- 
lich verderben  lassen. 


Auch  die  Antwort  des  Sohnes  ist  dem  folgenden  Kapitel  bei  Cochem 
entnommen,  doch  ist  dieselbe  im  M.  P.  stark  gekürzt.     Vgl. 


302  Ammann: 

M.  P.  776  —  83:  Cochems  45.  Kap. 

(Chi-,  steigt  vom  Himmel  herab): 

Mein  herzallerliebster  Vater,    weil  es  Allerliebster   Vater,    weil    dann    dein 

nun  dein  göttlicher  Willen  ist,  dass  ich  göttlicher  will  ist,    daß  ich  soll  mensch 

soll  Mensch   werden,    so  bin  ich  schon  werden,  so  bin  ichs  von  hertzen  zu  friden. 

bereit.  Sieh,  ich,  dein  eingeborener  Sohn,  ....    Sihe,  ich  dein  eingebohrner  Sohn 

geh  hin  zu  leiden  und  mein  edles  Leben  gehe    hin   zu    sterben    und   mein  edles 

an    einem    so    schmählichen    Kreuz    zu  leben  an  einem  sehmählichen  galgen  zu 

lassen.     Das    thu    ich    und    den    armen  lassen.     Dannoch  thue  ich  dis  alles  dir 

Sündern  zu  lieb,  damit  ich  deinen  gött-  und    den  armen  Sündern  zu  lieb,    .  .  . 

liehen  Willen  erfülle  und  die  Altväter  aus  damit  ich  deinen  willen  erfülle,  und  die 

der  Vorhölle  erlöse.  armen  sünder  von  der  höllen  erlöse. 

Auch  die  Abschiedsworte,  die  Gott  Sohn  S.  32  V.  810—17  spricht, 
verraten  mindestens  Cochemschen  Einfluss,  im  besonderen  lässt  sich  diese 
Stelle  mit  jener  im  X.  Aufzuge  unseres  Passions  vergleichen,  wo  Chr.  das 
Kreuz  küsst  und  dasselbe  anspricht.  Was  aber  an  poetischen  Teilen, 
Übergängen  und  Gesängen  im  M.  Paradeisspiel  zu  finden  ist,  sowie  die 
Teufelsscenen  gegen  Anfang  und  am  Schlüsse  des  Stückes,  das  lässt  sich 
nicht  unmittelbar  auf  Cochems  Leben  Jesu  zurückführen,  hier  liegt  viel- 
mehr eine  andere  volkstümliche  Überlieferung,  die  sich  auch  mit  Hans 
Sachs'  „Tragedia  von  der  schepfung  fall  und  ausstreibung  Adams  aus  dem 
paradeiss"  berührt,  zu  Grunde. 

Vgl.  A.  Schlossars  Anm.  I,  311  —  15. 

Wie  das  Mitterndorfer  Paradeisspiel  enthält  auch  das  bei  A.  Sehlossar 
I  S.  37  folgende  Schäferspiel  aus  Mitterndorf  (M.  S.)  (wie  das  Vordern- 
berger  bei  Weinhold)  jenen  Teil  aus  Cochems  Leben  Jesu,  welcher  als 
Zwischenspiel  (Pilger  und  Schäfer)  im  Böhmerwald-Passion  vorkommt. 
Diese  Parabel,  wie  sie  Cochem  zum  „andern  Sonntag  muh  Ostern"  erzählt, 
ist  im  M.  Schäferspiel  S.  52  f.  V.  401  —  520  eingefügt.  Nach  fünf  Versen 
Einleitung,  die  bei  Cochem  fehleu,  und  die  der  Pilger  spricht,  vernimmt 
man  wie  bei  Cochem  den  Ruf  des  guten  Hirten:  „O  Schaf  lein,  o  Schäf- 
lein,  wo  bist  du?"  Wie  jenes  Einleitungsverse  sind,  folgt  nun  auch  noch 
eine  prosaische  Rede  des  Pilgers  in  fünf  Zeilen  (V.  408 — 11),  die  nicht 
Cochem  entnommen  sind,  sondern  als  eigene  vermittelnde  Beigabe  des 
Verfassers  oder  Kompilators  des  ganzen  Stückes  betrachtet  werden  müssen. 
Dann  beginnt  aber  der  Pilger  nach  Cochem:  „O  mein  liebstes  Kind,  wie 
kommst  du  so  gar  allein  in  diese  Wildnis  und  was  ist  denn  geschehen, 
dass  du  also  weinst?"  Das  folgende  Zwiegespräch  weicht  nur  in  un- 
bedeutenden Wendungen  manchmal  von  Cochems  Texte  ab,  bis  die  Rede 
wieder  in  die  poetische  Form  und  in  das  Schäferspiel  übergeht.  Auch 
beim  Übergang  macht  sich  wieder  die  Umarbeitung  von  Seite  des  Ver- 
fassers oder  Kompilators  bemerkbar.  Zum  Schlüsse  spricht  bei  Cochem 
der  Pilger  voll  schmerzlichen  Mitleids  zum  Schäfer:  „Ach  du  armes  Kind!" 
Dartuif  geht  der  Pilger  weinend  seines  Weges  weiter.    Im  M.  Schäferspiele 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinus  von  Cochem.  303 

jedoch  heisst  es  an  dieser  Stelle  Y.  514  f.:  ,.0  mein  liebstes  Kind,  wie 
erbarmst  du  mir,  dass  du  wieder  allein  musst  in  diesen  Wald  hinein". 
Dann  kommt  noch  der  Hirt  (d.  i.  im  B.  P.  der  Schäfer)  zum  Worte,  aber 
nun  als  Übergang  in  gebundener  Eede: 

„Nun  niuss  ich  wieder  in  diesen  wilden  Wahl 

und  will  mein  ScMflein  rufen  mit  heller  Stimme  gar  bald: 

Vielleicht  möcht  es  doch  kommen  zu  mir  oder  mich  erhören 

Und  sich  doch  einmal  zu  mir  bekehren: 

0  Schäflein,  o  Schäflein,  lass  dich  finden!" 

Vgl.  auch  die  Anm.  A.  Schlossars  I  S.  316  f. 

Das  Krippelspiel  aus  Hitzendorf  (H.  K.)1)  ist  nach  Art  der  im 
Volke  beliebten  Christkindspiele  iu  Versen  geschrieben,  enthält  viele  Lieder 
und  Hirtenscenen,  so  dass  hier  in  der  Hauptsache  kein  so  unmittelbarer 
Zusammenhang  mit  Cochems  Leben  Jesu  zu  erwarten  ist.  In  diesen 
Christkindlspielen  hat  sich  überhaupt  die  Phantasie  des  Volkes  am  stärksten 
bethätigt;  das  war  besonders  für  die  Bauern  der  richtige  Stoff,  worin  sie 
sich  heimisch  fühlten  und  ihr  eigenes  Wesen  zum  Ausdruck  bringen 
konnten,  daher  auch  die  vielen  Hirtenlieder  und  Hirtenscenen  in  diesen 
Spielen.  Dennoch  mag  aber  auf  manche  Teile  dieser  Spiele  Cochems 
Darstellung  eingewirkt  haben.  So  folgt  in  diesem  Krippenspiel  aus  Hitzen- 
dorf S.  75  V.  59  f.  auf  die  Darstellung  des  englischen  Grusses,  der  aller- 
dings nicht  bloss  bei  Cochem,  sondern  auch  in  der  Hl.  Schrift  zu  finden 
war,  die  Verwunderung  Josefs,  als  er  die  Schwangerschaft  Marias  bemerkt. 
Auch  Cochem  hat  darüber  ein  eigenes  Kapitel:  „Wie  Joseph  Mariam  heim- 
lich verlassen  wolte".     Im  Krippenspiel  lauten  die  V.  59  f.: 

Nicht  genug-  kann  ich  verwundern  mich: 

So  oft  als  ich  Mariam  aDsich, 

Ich  bin  betrübt  wohl  also  sehr; 

Mich  dankt,  als  ob  Maria  schwanger  war. 

Dazu  lassen  sich  Redeweisen  aus  Cochem  vergleichen,  wie:  „Als  Joseph 
verstanden  hatte,  dass  ich  schwanger  wäre,  verwunderte  er  sich  höch- 
lich ..."  eine  Stelle,  die  Cochem  selbst  aus  Brigittas  Offenbarung  geschöpft 
hat,  daher  auch  diese  die  Quelle  sein  könnte;  ferner  .  . .  „dass  sie  schwanger 
wäre  —  deswegen  betrübte  sich  der  gute  Mann  so  hoch  .  .  ."  Der  Engel 
klärt  den  Josef  über  das  Wunder  auf  V.  69  f.: 

Joseph,  du  Sohn  Davids,  hör  mich  an:  u.  s.  w. 

Auch   bei  Cochem  heisst   es:    „Joseph,   du   söhn  Davids,   fürchte  dich 

nicht  zu  nehmen  Mariam  .  .  ."   was  allerdings  Cochem  selbst  nur  aus  dem 

Evangelium  Matthäi  entlehnt  hat,  das  also  auch  als  Quelle  dienen  konnte. 

Doch  oenauer  nach  Cochems  Darstellung  ist  dann  die  Art,  wie  Josef  seinen 


1)    Bei  A.  Scklossar  I.  S.  71-115. 

Zeitschrift  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893.  21 


304 


Ammann : 


Fehler  Maria   gegenüber   gutzumachen    sucht.     Der   Josef  sagt,    nachdem 

ihn  der  Engel  belehrt  hat,  V.  73  f.: 

Ei,  wenn's  also  ist,  so  weich  ich  wohl  nicht  ab. 
Aber  wie  wird's  mir  armen  Tropf  ergehen? 
Wie  werd  ich  bei  meiner  Maria  bestehen? 
Aber  sie  ist  ganz  sanft  und  demütig; 
Ich  werd  mich  zu  ihren  Füssen  legen, 
Sie  wird  mir  meine  Schuld  vergeben. 

Der  Josef  kniet  dann  vor  Maria  nieder  und  sagt: 

Mein  Maria,  verzeih  mir  doch, 

Weil  ich  dich  hab  betrübt  so  hoch: 

Ich  hab  dich  gehabt  in  Willen  zu  verlassen, 

Mich  zu  begeben  in  ein  andre  Strassen. 

So  weil  mir  der  Engel  von  Gott  hat  erzählt, 

Dass  du  sollst  gebären  den  Heiland  der  Welt, 

Verzeih  mir  doch,  Maria  rein, 

Hinfüro  will  ich  dein  getreuer  Diener  sein. 

Maria  sagt: 

Joseph  steh  auf. 

Deine  Schuld  sei  dir  vergeben. 

Ganz  in  denselben  Gedanken  bewegt  sich  Cochems  Darstellung  im 
genannten  Kapitel.  Josef  „wolte  wegen  der  hertzlichen  lieb,  so  er  zu 
Maria  trüge,  sie  nicht  gern  verlassen,"  aber  er  hatte  sich  doch  aus  heiligem 
Schrecken  entschlossen,  sie  zu  verlassen.  Als  er  sich  knieend  im  Gebete 
zu  Gott  gewandt  hatte,  da  erschien  ihm  der  Engel  des  Herrn  und  klärte 
ihn  auf.  Nun  ruft  er  aus:  „0  wie  hab  ich  dann  so  übel  gethau,  «laß  ich 
schier  andere  gedancken  auf  sie  gemacht  hätte?  Ach  Gott  wolle  mirs  ver- 
zeyhen,  wann  ich  übel  gethau  hab,  daß  ich  hab  wollen  von  ihr  gehen! 
Solche  gedancken  sollen  mir  mein  lebtag  nicht  mehr  in  den  sinn  kommen. 
Wer  will  nun  erklären,  wie  demüthig,  wie  andächtig  und  beweglich  der 
hl.  Joseph  Marinin  um  verzeyhung  gebetten  habe.  Des  morgens  frühe 
gienge  er  in  ihre  kammer,  helle  demüthig  auf  seine  knye,  und  mit  heissen 
zähren  und  vilen  seuftzen  sprach  er  zu  ihr:  Meine  allerliebste  Maria,  ich 
bitte  demüthig  um  verzeyhung  u.  s.  w.  Iu  liebreicher  Wechselrede  wird 
nun  die  ganze  Angelegenheit  besprochen  und  jedes  fühlt  sich  glücklich. 
„Es  ist  aber  nicht  genug  auszusprechen,  in  was  für  ehren  der  hl.  Joseph 
hernach  die  Jungfrau  gehalten,  und  wie  treulich  er  ihr  gedient  habe  .  .  ." 
Wer  hier  den  Gedankengang  und  selbst  einzelne  Ausdrücke  beiderseits 
vergleicht,  wird  herausfühlen,  dass  auch  das  H.  Krippenspiel  wenigstens 
in  einzelnen  Teilen  nach  Cochem  bearbeitet  sein  dürfte. 

Die  Scene,  wie  Josef  zu  Bethlehem  Herberge  sucht,  findet  sich  nicht 
nur  im  H.  Krippenspiel  (V.  251  f.),  sondern  ist  fast  iu  jedem  Christkindl- 
spiel  mehr  oder  weniger  ausgeführt.  Auch  Cochem  erzählt  die  Erlebnisse 
der    hl.   Familie    zu    Bethlehem,    sowie    auf   der  Reise    nach  Ägypten    in 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Marianus  von  Cochem.  305 

ausführlicher  Weise,  und  gerade  in  diesen  Zügen  dürfte  Cochems  Dar- 
stellung auf  diese  Spiele  von  Einfluss  gewesen  sein.  Wenn  auch  Cochem 
diese  Erzählungen  aus  andern  Quellen  seiner  Zeit  schöpfte,  so  ist  es  doch 
wahrscheinlicher,  dass  bei  diesen  Volksschauspielen  das  bekannte  Volks- 
buch •  von  Cochem  als  jene  älteren  Quelleu  selbst  benutzt  worden  sind. 
Hier  lässt  sich  ein  unmittelbarer  Zusammenhang  zwischen  jener  Scene 
und  Cochems  Darstellung  nicht  nachweisen,  weil  auch  diese  Scene  gegen 
Cochems  Breite  sehr  dürftig  und  mehr  allgemein  gehalten  ist.  Doch  Hesse 
sich  selbst  hier  auf  die  Grobheit  des  Wirtes  hinweisen,  der  den  armen 
Gästen  zuruft, 

V.  259:     Schert  ihr  euch  fort! 
Bei  mir  ist  kein  Ort: 

V.  269:    Es  ist  kein  Ort! 
V.  313:     So  geht  nur  fort! 

Cochem  erzählt  gleichfalls,  dass  Josef  mit  schimpflichen  Worten  sei 
abgewiesen  worden,  wo  er  um  Herberge  bat;  man  habe  ihm  zugerufen: 
„So  packe  dich  nur  fort!"  Auch  die  Zahl  der  Hirten  wird  bei  Cochem 
auf  drei  angegeben,  doch  sind  dann  die  Namen,  Reden  und  Lieder  der- 
selben in  volkstümlicher  Art  ausgebildet  worden.  Eine  andere  Scene  in 
diesen  Spielen,  die  auch  Cochem  ausführlich  und  mit  allem  Beiwerk  be- 
handelt, ist  das  Auftreten  der  hl.  3  Könige.  Obwohl  das  H.  Krippenspiel 
auch  hier  die  Scene  viel  kürzer  und  in  Versen  wiedergiebt,  scheinen  doch 
einzelne  Anklänge  noch  auf  Cochem  zurückzugehen.  So  vgl.  V.  598:  Wir 
haben  verbracht  eine  weite  Reis  ...  V.  602:  Ein  gewaltiger  König  muss 
er  sein  .  .  .  mit  Cochems  Redeweisen  im  Kap.  von  den  Heil.  Drey  Königen: 
„und  achteten  nicht  die  weite  reys"  .  .  .  „daß  aus  dem  Jüdischen  volck 
ein  gewaltiger  König  würde  gebohren  werden".     Oder  vgl. 

H.  K.  V.  603  f.:  Cochem: 

Darum  bin  ich  jetzunter  besinnt,  Doch  endlich   fasseten  sie  die  resolution, 

Nach  Jerusalem  zu  ziehen  geschwind,  nach  Jerusalem  zu  ziehen,  und  dort  nach 

Alldort  zu  erfragen  frei:  der  Juden  König  zu  fragen liesse 

Wo  dieser  neugeborne  König  sei.  die  Schriftgelehrten  versammeln,    um  zu 

Die  Schriftgelehrten,  die  dort  sein,  erfahren,  an  welchem  ort  der  Heyland  zu 

Die  werden's  uns  auszeigen  fein:  finden  seye. 

Der  Pomp  und  Lärm,  den  die  Ankunft  der  drei  Könige  in  der  Stadt  ver- 
ursacht, stimmt  wieder  ganz  mit  Cochems  Darstellung  überein.  Er  sagt: 
„Alle  thüren,  laden,  fenster  und  Strassen  waren  voller  leuth,  disen  aufzug 
anzusehen." 

Im  H.  Krippenspiel  ruft  Herodes  V.  659  f.: 

„Was  ist  das?  .  .  . 

Oder  was  bedeut'  das  Trompeten  oder  Pfeifen? 

Oder  will  der  Feind  die  Stadt  angreifen? 

21* 


306  A  i  ii  1 1  i;l  11 11 : 

Der  Diener  meldet,  es  seien  drei  Könige  mit  viel  Ross  und  Mann  aus 
fremden  Landen  angekommen,  wie  dies  auch  Cochem  schildert.    Vgl.  dabei 

H.  K.  V.  670:  Cochem  64.  Kap.  S.  304b: 

Es  ist  ...  an  den  Hof  kommen  .  .  .  Als  sie  nach  Hof  kamen  .  .  . 

Herodes  forscht  die  Könige  in  listiger  Berechnung  aus,  lässt  die  Schrift- 
gelehrten  rufen,  sendet  die  Könige  nach  Bethlehem  und  bittet  sie  bei  der 
Bückkehr,  ihm  Bericht  zu  erstatten.  Auch  hier  ist  sowohl  im  Gedanken- 
gang, als  mitunter  in  Redensarten  dieselbe  Verwandtschaft  zu  Cochems 
Darstellung  zu  beobachten  wie  oben;  nur  hat  der  Bedieute  des  Herodes 
im  Krippenspiele  eine  besondere  Rolle,  die  durch  die  dramatische  Um- 
gestaltung hervorgerufen  wurde  und  bei  Cochem  nicht  zu  finden  ist. 

Balthasar    spricht    beim   Eintritt    in   den   Stall   im  Namen   der  Könige 

V.  869  f.: 

Wir  bitten  dich,  zeig  uns  doch  an 

Das  neugeborne  Kindelein, 

Dass  wir  es  beten  an  und  opfern  fein. 

Bei  Cochem  sprechen  die  Könige  (65.  Kap.  S.  810b): 

„Wir  seynd  von  fernen  landen  anhero  kommen,  den  neugebohrnen 
König  zu  grüssen:  als  bitten  wir  demüthiglich,  du  wollest  dich  würdigen 
ihn  uns  zu  zeigen." 

Ebenso  lassen  sich  die  Reden  der  hl.  drei  Könige  V.  880  f.,  die  War- 
nung durch  den  Engel  V.  928  f.  mit  Cochems  Darstellung  vergleichen. 
Vgl.  im  Wortlaute  V.  898  f.: 

-Ach,  wahrer  Gott  und  Mensch  du  bist, 

Ach  liebes  Kind,  Herr  Jesu  Christ! 

Ich  thu  dir  auch  präsentieren  .  .  .  den  Myrrhen" 

und  Cochem  (65.  Kap.  S.  312  b): 

„sie  praesenth'ten  dieselbige  dem  armen  Kindlein  ....  daß  du  seyest 
wahrer  Gott  und  wahrer  Mensch,  ein  wahrer  König  und  Heyland  der 
gantzen  weit." 

Maria  dankt  für  die  Gaben  der  hl.  drei  Könige  V.  904  f.: 

„Ihr  Herrn  und  König',  ich  sag  euch  grossen  Dank 
Um  eure  köstlichen  Gaben  und  eure  Geschank." 

Bei  Cochem  heisst  es  S.  313b: 

„Die  Mutter  Gottes   nähme  anstatt  ihres  Söhnleins  die  gaben    an,    und 
thate  sich  .  .  .  ehrbarlich  bedancken." 

Der  Engel  weckt  den  Josef  und  mahnt  ihn  zur  Flucht  nach  Ägypten 
V.  1022  f.: 

„Auf,  auf,  Joseph,  schlaf  nit  ein, 
Steh  eilends  auf  und  merk  mir's  fein : 
Sei  munter  und  versteh  mein  Wort, 
Du  sollst  dich  bald  machen  fort 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinus  von  Cochem.  307 

Und  ziehen  ins  Ägypten -Land, 

Du  und  Maria,  beide  zur  Hand: 

Und  nehmet  auch  mit  das  Kindeleiu  zart, 

Dieweilen  Herodes  gesiunet  ward, 

Dem  Kind  zu  stellen  nach  dem  Lehen  .  .  .  ." 

Diese  Verse  sind  lediglich  eine  Umbildung  des  Berichtes  Lukas;  der 
aber  auch  bei  Cochem  zu  finden  ist  im  70.  Kap.  „Wie  Maria  und  Joseph 
in  Egypten  flohen".  Es  heisst  da  S.  342:  „Sihe,  da  erschiene  der  Engel 
des  Herrn  dem  Joseph  im  schlaff  sprechend:  Stehe  auf,  und  nimm  das 
Kindlein  und  seine  Mutter;  fliehe  in  Egypten -land,  und  bleibe  alda,  bis 
ich  dirs  sage.  Dann  es  wird  geschehen,  daß  Herodes  das  Kind  suchen 
wird  zu  tödten.* 

Später  V.  1068  f.  spricht  Maria  zu  Josef: 

Ach,  mein  Gott,  wie  hast  du  uns  verlassen  .  .  ." 

und  bei  Cochem  S.  343a:   „0  mein  Gott  und  Herr,  verlasse  uns  nicht!" 
Josef  erwidert  V.  1071  f.: 

„Wein'  nur  nit,  mein'  Maria. 

Gott  und  die  Engel  werden  uns  beschützen  vor  allen, 

Dass  wir  nit  in  die  Hand'  Herodes  fallen." 

Bei  Cochem  heisst  es  in  nicht  mehr  zweifelhafter  Übereinstimmung 
S.  343b:  „Der  fromme  Joseph  tröstete  sie,  sprechend:  Nicht  weynet  so 
sehr,  meine  liebe  Maria,  dann  der  Herr  wird  uns  schon  beystehen,  und 
die  Heil.  Engeln  werden  uns  beschützen,  daß  wir  nicht  in  die  hände 
Herodes  fallen. 

Ebenso  beweiskräftig  ist  folgende  Übereinstimmung: 

H.  K.  V.  1074  f.:  Cochem  S.  343a: 

Maria  sagt:  Maria  weckt  das  schlafende  Kind  und 

O  mein  herzallerliebstes  Kindeleiu,  spricht: 

Wir  haben  wohl  Ursach  zu  wein'n.  O    mein    allerliebstes    Söhnlein ,     wir 

Dann  bis  Herodes  haben  wir  viel  Kreuz     haben    wohl    ursach   zu    weynen;    dann 
gehabt  schon.  bishero    haben  wir  zwar  vil  creutz  ge- 

Jetzt  fangt  an  die  Weissagung  Simeon's:     habt,    aber   jetzund  fanget  unser  creutz 
Dass  ich  und  du  auf  dieser  Erden  recht    an.     Jetzt    fanget    die   Weissagung 

Viel  miteinander  leiden  werden.  Simeon's  an  erfüllet  zu  werden,  dass  du 

und  ich  auf  diser  weit  werden  vil  müssen 
leyden. 

Abgesehen  von  der  deutlichen  Übereinstimmung  beider  Texte  ist  die 
Stelle  auch  beachtenswert,  weil  die  Vergleichung  mit  Cochem  den  ur- 
sprünglichen Text  des  Krippenspieles,  den  A.  Schlossar  mit  Unrecht  ver- 
besserte, rechtfertigt.  A.  Schlossar  bemerkt  I  S.  325  zu  S.  110  Z.  1078 
und  79:  in  der  Hs.  laute  es:  „Dass  ich  und  du  auf  dieser  Welt  viel  werden 
müssen  leiden".  Das  ist  also  wirklich  die  richtige  Lesart,  der  Verfasser 
vernachlässigte  hier  den  Reim.  Im  V.  1076  soll  es  offenbar  statt  „bis 
Herodes"  nach  Cochem  heissen:  „bishero".    Die  letzteren  Beispiele  setzen 


308 


Ammunn: 


es  also  ausser  allen  Zweifel,  dass  zum  Hitzendorfer  Krippenspiel  auch 
Cochem  ausgenutzt  wurde;  dies  gilt  stellenweise  mehr  bloss  vom  Gedanken- 
gang, stellenweise  aber  auch  vom  Wortlaut.  Zweifellos  ist  aber  ausser 
Cochem  bei  der  Zusammenstellung  des  ganzen  Spieles  auch  noch  eine 
andere  volkstümliche  Quelle  massgebend  gewesen.  Nicht  selten  bemerkt 
man,  dass  der  Verfasser  von  der  idealeren  Fassung  Cochems  zu  Gunsten 
des  derberen  Volksgeschmackes  abweicht,  sich  überhaupt  mehr  vom 
dramatischen  als  erzählenden  Momente  leiten  lässt. 

Das  bei  A.  Schlossarl.  S.  117  folgende  Spiel  ist  „Die  Geburt  Christi" 
benannt.  Dieses  ist  wiederum  gereimt,  aber  in  längeren  und  sehr  holperigen 
Verszeilen.  Es  sollen  meist  sechs  Hebungen  sein,  die  aber  oft  kaum 
zusammenzubringen  sind.  Dagegen  ist  dieses  Christkindlspiel  noch  in  viel 
näherer  Beziehung  zu  Cochems  Text  als  das  vorausgegangene. 

Im  Prologus  V.  1  —  26  ist  der  Inhalt  in  allgemeinen  Zügen  und  die 
Beziehung  der  Spieler  zu  den  Zuschauern  berührt.  Selbst  hier  scheint  der 
Verfasser  Cochem  vor  sich  gehabt  zu  haben,  wenigstens  verraten  V.  7,  9 
bis  22  die  Cochemsche  Darstellung  in  Wort  und  Gedanken;  ebenso  gilt 
dies  sogar  vom  Gesang  V.  27  f.: 

„Als  die  neun  Monat  zu  End  gegangen, 
Trug  Maria  sehr  grosses  Verlangen, 
Ihr  Rindlein  zu  sehen, 
Mit  dem  sie  doch  gross  Herzenleid 
Auf  Erden  musst  ausstehen.'" 

Cochem  spricht  in  einem  ganzen  Kapitel  vom  Verlangen  Jesu  und 
Maria  nach  der  Geburt  (53.  Kap.  S.  230  f.).  Derselbe  Gedanke  wird  gleich 
in  den  folgenden  Versen  32  f.  noch  im  besondern  ausgeführt.  Maria  tritt 
nämlich  auf  und  spricht: 

..Ach,  was  vor  grosse  Freuden,  ach.  was  vor  Süssigkeil. 

Empfinde  ich  im  Herzen,  indem  nunmehr  die  Zeit 

Der  neun  Monat  gehet  zu  End:  dass  ich  mein  liebstes  Kind  empfangen, 

Nun  bald  mit  Augen  sehen  werde,  ist  mein  höchstes  Verlangen  .... 

Dieweil  das  Kind,  mein  Gott,  so  in  mein  Leib  verschlossen  .... 

Dass  ich  dein  eingebornen  Sohn  nach  Würdigkeit  bedienen  mag." 

Bei  Cochem  (53.  Kap.  S.  230  f.)  heisst  es:  „Maria  gedachte  oft  bey  sich: 
0  wann  doch  die  zeit  einmal  käme,  daß  mein  allerliebreichestes  kindlein 
möchte  gebohren  werden!  Wie  wolte  ich  ihm  so  fieissig  dienen  .... 
damit  sie  denjenigen,  den  sie  so  herzlich  liebte,  mit  ihren  äugen  möchte 
anschauen  ....  0  was  für  freud  wird  mir  dises  seyn,  was  für  süssigkeit 
werde  ich  daraus  schöpfen!  ....  Es  wäre  dis  allersüsseste  Christkindlein 
schier  neun  Monat  lang  in  dein  jungfräulichen  leib  gelegen  und  verschlossen 
gewesen." 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinus  von  Cochem. 


309 


Noch  deutlicher  tritt  die  Entlehnung  aus  Cochem  in  den  folgenden 
Versen  hervor.  Wir  finden  nun  von  V.  44 — 352  Zeile  für  Zeile  Anschluss 
an  Cochem.  Die  Abweichungen  sind  fast  nur  formeller  Art,  insofern  sie 
durch  die  Umsetzung  in  Verse  bedingt  sind.     Man  vgl.  z.  B. 


V.  44  — 55: 

Ach,  mein'  allerliebste  Mutter,  ich  bitt 
euch,  thut  nit  erschrecken, 

Indem  ich  schlechte  Zeitung  euch  habe 
zu  entdecken: 

Von  Kaiser  Augustus  ist  ein  Gebot 
Unerhörtermassen 

Ausgegangen,  dass  sich  jedermann  sollte 
schätzen  lassen: 

An  dem  Ort,  da  er  gebürtig,  soll  dieses 
geschehen. 

Mein'  liebe  Maria,  wir  beide  sollen  nach 
Bethlehem  gehen; 

Weil  wir  alldort  gebürtig  und  unser  Ge- 
schlecht von  dannen, 

So  weiss  ich  nicht,  Maria,  was  wir  sollen 
anfangen. 

Maria: 

Lasst  euch  nur  nicht  verstören,  liebster 

Joseph  mein, 
Nach  Bethlehem  zu  reisen,  möcht  Gottes 

AVillen  sein. 

Joseph: 

Meine  liebe  Maria,  ich  verstör  mich  nicht 

meinetwegen, 
Ich  werd  wohl  mit  göttlicher  Half  nacher 

Bethlehem  kommen  mögen. 


Cochems  54.  Kap. 
Wie  Maria  und  Joseph  nach  Bethlehem 
reyseten : 

Ach   meine   liebe  Maria,    ich  bringe 
gar  schlechte  zeitung; 


dann  es  kommt  ein  gebott  vom  Kayser, 
daß  ein  jeder  sich  soll  schätzen  lassen 


an  dem  ort,  da  er  gebürtig  ist.  So 
weiß  ich  nicht,  wie  wirs  immer  machen 
werden:  dann  wir  beyde  müssen  nach 
Bethlehem  reysen,  dieweil  unser  ge- 
schlecht von  daunen  ist. 


Maria  sagte: 

Laß  dich  dis  nicht  verstöhren,  mein 
lieber  Joseph,  dann  es  scheinet,  es  seye 
der  will  Gottes,  daß  wir  dahin  reysen. 


H.  Joseph  sagte: 

Ich  verstöhre  mich  nicht  meinetwegen; 
dann  ich  will  wohl  mit  der  hülf  Gottes 
nach  Bethlehem  kommen. 


So  geht  die  Übereinstimmung  fort,  und  dort,  wo  bei  Cochem  kein 
Zwiegespräch,  sondern  Erzählung  ist,  hilft  sich  der  Verfasser  durch  Ände- 
rung. So  erklärt  Josef  in  V.  70  und  72,  zu  welchem  Zwecke  er  einen 
Ochsen  und  Esel  mitgenommen  habe  (jenen  zum  Verkaufen,  diesen  zum 
Eeiten).  Diese  Stelle  findet  sich  bei  Cochem  auch  im  gleichen  Kapitel, 
aber  kommt  erst  in  der  Erzählung  S.  237b  vor.  Die  Erzählung,  wie  der 
Bauer  die  Flüchtigen  von  seiner  Thür  weist  V.  106  —  39,  findet  sich  bei 
Cochem  S.  238b  f.  Der  Gesang,  der  hier  wie  anderwärts  die  Scheidewand 
für  die  folgende  Scene  bildet  (V.  140—44),  bildet  nur  eine  kurze  Inhalts- 
angabe der  folgenden  Scene  und  dürfte  auch  vom  Verfasser  des  Spieles 
herrühren,  wie  wir  schon  beim  ersten  Gesänge  bemerkt  haben. 


310 


Ammann: 


Die  neue  Scene  V.  145  f.  führt  uns  Josef  und  Maria  in  Bethlehem  vor, 

wie  sie  vergebens  Herberge  suchen  und  schliesslich  iu  einer  Höhle  t  Her- 
kunft finden.  Bei  Cochem  ist  dies  im  55.  Kap.  „Wie  Joseph  zu  Bethlehem 
Herberg  sucht."  behandelt.  Cochem  erzählt.  Josef  habe  in  Bethlehem 
zuerst  einen  seiuer  besten  Freunde  aufgesucht,  sei  aber  mit  seiner  Bitte 
um  Herberge  abgewiesen  worden.  Ebenso  sei  es  ihm  bei  einem  zweiten 
Freunde  ergangen.  Darauf  nahm  er  seine  Zuflucht  zu  den  Wirten,  aber 
auch  diese  wiesen  ihn.  mitunter  unter  Beschimpfungen,  ab.  In  dieser  Not 
und  Verlassenheit  schlägt  zuletzt  Josef  vor.  in  einer  Steinhöhle  an  der 
Stadtmauer  (am  obern  Ende  der  Stadt)  ein  Obdach  zu  suchen.  Dort  richtet 
er  die  Stätte,  so  gut  es  geht,  zum  'Wohnen  her.  Diesen  ganzen  Gedanken- 
gang giebt  das  Spiel  in  wörtlicher  Anlehuuug  wieder.  Bemerkenswerte 
Änderungen  sind  nur  folgende:  Zuerst  begrüssen  Josef  und  Maria  Bethlehem, 
wo  sie  oben  angelangt  sind  und  das  sie  vor  Augen  sehen.  Der  erste  Freund 
erhielt  hier  im  Spiele  den  Namen  Titus,  der  zweite  Bufinus.  der  Wirt 
Reichhardt.  Das  Zwiegespräch  zwischen  Josef  und  Titus  entspricht  genau 
der  Darstellung  Cochems,  der  hier  auch  die  Zwiegesprächsform  hat,  aber 
bei  Rufmus  und  Reichhardt  war  dies  nicht  mehr  möglich,  da  Cochem  hier 
nur  mehr  erzählt,  und  zwar  nicht  mit  jener  Ausführlichkeit,  wie  sie  der 
Verfasser  für  sein  Spiel  notwendig  hatte.  Da  der  Verfasser  nun  auch  diese 
Personen  gleichartig  wie  die  erstere  im  Zw-iegespräche  darstellt,  so  möchte 
man  liier  vermuten,  der  Verfasser  habe  vielleicht  eine  ausführlichere  Quelle 
als  Cochem,  der  diese  Legenden  auch  nur  und  nicht  immer  im  ganzen 
Umfange  aus  gelehrten  Werken  seiner  Zeit  entnommen  hat.  vor  sich  gehabt. 
Wenn  dies  bei  solcher  Volkslitteratur  aber  überhaupt  unwahrscheinlich  ist, 
so  wird  eine  solche  Annahme  hier  dadurch  widerlegt,  dass  wir  auch  in 
diesen  Teilen  nur  Cochemschen  Text  nachweisen  können.  Der  Verfasser 
sah  sich  nämlich,  wenn  er  au  der  betreffendeu  Stelle  Cochems  uicht  Stoff 
genug  fand,  in  unmittelbarer  Umgebung  um  und  nahm  verwendbare 
Gedanken  auf.  wenn  sie  auch  bei  Cochem  in  anderer  Beziehung  stehen, 
was  bei  Cochems  Breite  und  häufiger  Wiederholung  leicht  anging.  So 
klagt  Josef  nach  dem  Zwiegespräch  mit  Rufinus  V.  19:2  f.: 

„Ach,  allerliebste  Maria,  ach,  was  ist  das  für  ein"  Schaud: 
Sehet,  wie  ich  von  meinen  Freunden  in  meinem  eigenen  Vaterland 
Also  Verstössen  bin: " 
Dieser  Gedanke    kommt   bei  Cochem   nicht   nach   der  Erwähnung  des 
zweit. 'ii   Freundes  vor.    sondern  ist  erst  in  der  Klagerede  Josefs  enthalten, 
welche  S.  -242a  folgt,    als   er  bei  Freunden  und  Wirten  vergebens  gesucht 
hatte.     Es  heisst  dort:    ..<>  meine  liebe  Maria,  was  fangen  wir  immer  an? 
wo  wollen   wir  hingehen,    damit   wir  unterkommen?    wann  wir  müsten  aut 
der    Strassen    bleiben,    ich    müste   mich  ja   vor  leyd  vertrauern,    daß  ich 
euch    alliier    in    meinem   vatterland,    unter   meinen   freunden,    so 
schlecht  solte  tractieren.    Ich  müste  ja  vor  mitleyden  kranck  werden. 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinus  von  Cochem.  311 

wann  ihr  bey  diser  kalten  winters-zeit  auf  offener  Strassen  müstet  ligen 
bleiben."  Diese  Klagerede  inuss  nun  dein  Verfasser  auch  zugleich  zur 
Klagerede  nach  der  Unterredung  mit  dem  Wirte  Keichhardt  herhalten,  da 
Cochem  nur  diese  eine  Klagerede  für  beide  Falle  hat.  Vgl.  Josefs  Rede 
V.  222  f.: 

„Ach,  mein'  herzallerliebste  Maria,  was  wollen  wir  anfangen, 

Wo  wollen  wir  hingehn,  damit  wir  unterkommen? 

Sollen  wir  dann  unter  dem  freien  Himmel  auf  offner  Strassen 

Liegen?     Ach,  dass  Gott  erbarm,  nun  sein  wir  ganz  verlassen. 

Ich  bedaure  nur  euch,  ich  thu  es  frei  bekennen, 

Indem  ihr's  seht  und  hört,  ich  muss  mich  herzlich  schämen, 

Dass  ich  von  meinen  Freunden  und  Bekannten  allhier 

In  meinem  eigenen  Vaterland  also  schimpflich  abgewiesen  wir." 

Noch  viel  genauer  ist  dann  der  Anschluss  an  Cochem  im  Folgenden 
V.  230  —  299,  wo  den  grössten  Teil  Klagereden  bilden,  die  Cochem  mit 
Vorliebe  aller  Orten  einfügt. 

Die  Klagerede  Marias  V.  300  —  313    ist    aus  zwei  Reden  Marias   bei 
Cochem  S.  245a:    „0  Bethlehem  .  .  ."   und   S.  245b  — 246a:    „Mein  aller- 
liebster ...  so  vile  Patriarchen  und  Propheten  zu  sehen  begehrt  haben 
zusammengezogen. 

Die  Rede  Josefs  V.  314—  19  und  ebenso  die  folgenden  Reden  V.  320 
bis  25  stehen  bei  Cochem  S.  246  a  am  Schlüsse  des  Kapitel  „Joseph  sucht 
Herberg  zu  Bethlehem". 

Von  V.  326 — 38  wird  die  Geburt  Christi  vorgestellt,  auch  genau  nach 
Cochem,  der  dies  im  57.  Kap.  „Von  der  Geburt  Christi"  weitläufig  be- 
handelt; ebenso  sind  dort  V.  339  —  54  enthalten.  Dass  Josef  zuletzt  ein 
Schlummerlied  singt  (V.  355  —  69)  ist  bei  Cochem  nicht  erwähnt,  doch 
heisst  es  S.  268a:  „Sobald  das  kindlein  in  der  krippen  läge,  hauchte  der 
ochs  und  esel  mit  ihrem  athem  über  dasselbige,  als  wann  sie  verstand 
hätten,  und  wüsten,  daß  das  kindlein  der  wärme  bedürfte."  Daraus  könnte 
die  1.  Strophe  des  Schlummerliedes  hervorgegangen  sein: 

„Schlaf,  o  allerholdseligstes  Kind, 
Schlafe  im  kalten,  brausenden  Wind: 
Ochs  und  der  Esel,  die  heizen  dir  ein 
Mit  ihrem  Athem,  o  lieb's  Rindelein: 
Ach  schlafe,  ach  schlafe!" 

Die  folgende  Scene  wird  wieder  durch  einen  inhaltverkündenden 
Gesang  (V.  370  —  74)  eröffnet,  dann  tritt  der  Engel  als  Prologus  auf  und 
drückt  den  Inhalt  des  Gesanges  noch  ausführlicher  in  eiuer  Anrede  aus. 
Dieser  Teil  des  Spieles  geht  von  V.  375—691  und  enthält  die  Verkündigung 
der  Geburt  Christi  und  die  Anbetung  der  Hirten;  bei  Cochem  das  59.  Kap. 
„Wie  die  Engeln  den  Hirten  die  Geburt  Chr.  verkündiget  haben".  Schon 
der  Wechsel  der  Versart  lässt  in  diesen  Hirtenscenen  den  Einfluss  einer 
andern    Quelle    erraten.     Neben  Alexandrinern   erscheinen   auch  Verse  mit 


3J2  Aininanu: 

vier  und  fünf  Hebungen.  Wahrscheinlich  hat  hier  den  Verfasser  eiu 
anderes  volkstümliches  Christkindlspiel  beeinflusst,  denn  Cochem  konnte 
zu  komischen  Hirtenscenen  weder  Stoff  noch  Veranlassung  bieten.  Vgl. 
A.  Schlossar,  Anm.  S.  328  zu  S.  136  Z.  399. 

Schon  V.  525  f.  bemerken  wir  jedoch  in  der  Verkündigung  des  Engels 
wieder  Anschluss  an  Cochem  im  genannten  Kap.  S.  273  f. :  auch  in  den 
kurzen  Wechselreden  des  Galli  und  Stichi  V.  535 — 38,  bei  Cochem  S.  274b. 
Von  V.  539  f.  werden  die  Gaben  der  Hirten  erwähnt,  wovon  Cochem  im 
besonderen  nichts  erzählt,  doch  finden  sich  auch  in  den  folgenden  Versen 
bis  V.  590  noch  einzelne  Anklänge  an  Cochem  (V.  542,  554,  561  —  63). 
„Das  Gesang"  V.  591—95  beruht  auf  Cochem  S.  275a.     Vgl.  nur: 

Die  Hüten  fielen  auf  die  Erd,  Die   Hirten   fiellen   .  .  .  auf  der  Erden 

Sie  beteten  an  das  Kindlein  werth,  und  betteten  das  kindlein  an  .  .  .  daß  sie 

Vor  Freuden  thäten  sie  weinen:  vor  freuden  weynten  ...    Sie  thäten  auch 

Sie  opferten  ihre  Gaben  auf.  ihre  taschen  auf  und  opferten  dem  lieben 

Obwohl  sie  waren  kleine.  kindlein  die  gaben. 

Die  folgenden  Gespräche  der  Hirten  V.  596  —  691  berühren  sich 
manchmal  mit  Cochem,  vielfach  zeigen  sie  aber  auch  andere  Form  und 
andern  Inhalt. 

Der  Engel  tritt  V.  692  wieder  als  Prologus  auf  und  verkündet  die 
folgenden  Scenen:  die  Reise  der  hl.  drei  Könige,  Herodes'  Ausforschungen 
und  Nachstellungen,  die  Anbetung  der  hl.  drei  Könige  und  ihre  Rückreise, 
die  Flucht  nach  Ägypten,  den  Kindermord.  Die  erste  dieser  Scenen  reicht 
von  V.  714 — 888  und  zeigt  Cochem  gegenüber  einige  Erweiterungen.  So 
hat  hier  jeder  der  drei  Könige  einen  Sterndeuter  bei  sich  mit  besonderem 
Namen.  Das  stimmt  zwar  mit  Cochems  Darstellung  im  64.  Kap.  „Wie  der 
Stern  den  H.  drey  Königen  ist  erschienen"  im  allgemeinen  überein,  doch 
fehlen  da  die  Namen:  auch  war  im  Stern,  sowie  es  König  Meleher  an- 
schaut, eine  Jungfrau  zu  sehen,  die  ein  Kindlein  trägt,  während  nach 
Cochem  —  er  folgt  hier  einem  Autlior  operis  imperf.  —  „mitten  in  disem 
stern  sasse  ein  schönes  Kindlein,  mit  einer  goldenen  cron  auf  seinem 
häuptlein  und  einem  creutz  in  seinem  häudlein".  Es  mag  sein,  dass  hier 
der  Verfasser  noch  eine  zweite  Quelle  neben  Cochem  vor  sich  hatte,  doch 
beweisen  andere  Anlehnungen  zweifellos,  dass  Cochem  hier  auch  benutzt 
wurde.  Vor  allem  erklären  sich  mit  Hilfe  Cochems  jene  zwei  Verse  nach 
V.  811,  welche  A.  Schlossar  unverständlich  geblieben  waren: 

„"Wegen  welchen  auf  den  Berg  Victorial  auch  zwar 

Gewachet  worden  über  tausend  Jahr." 

Diese  Verse  erklären  sich  aus  der  Erzählung  Cochems:  „Daher  schreibt 
ein  alter  Scribent  (jener  Author  operis  imperf.).  daß  in  Orient  zwölff 
männer  gewesen  seyen,  welche  zu  gewissen  zeiten  auf  den  berg  Victorial, 
alwo  eine  lustige  höhl  und  brunuen,  und  vile  anmuthige  bäum  waren, 
hinauf  gestigen,   und  alda  gewacht  und  gebettet  haben,  daß  Gott  zu  ihrer 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinus  von  Cochem. 


313 


zeit  den  stern  "wolte  lassen  aufgehen."  Im  Spiele  spricht  jeder  der  drei 
Könige  mit  seinem  Sterndeuter,  was  bei  Cochem  nur  einmal  angedeutet 
ist,  allein  jeder  spricht  fast  dasselbe  wie  sein  Vorgänger.  Man  wird  schon 
aus  diesem  Umstände  schliessen  dürfen,  dass  solche  Erweiterung  nur 
dramatisches  Beiwerk  ist.  Es  ist  auch  bezeichnend,  dass  K.  Kaspar  wieder 
etwas  anderes  im  Sterne  sieht  als  Melcher,  nämlich  dasselbe,  was  wir 
oben  bei  Cochem  fanden: 

„In  Mitte  des  Sterns  sehe  ich  ein  Kindlein  an, 
So  auf  dem  Haupt  tragt  eine  goldne  Krön, 
Auch  ein  goldenes  Kreuz  sein  Scepter  war  ..." 

Zur  Kennzeichnung  der  Anlehnung  an  Cochem   möge  noch  die  Rede 
Melchers  verglichen  werden: 


V.  854. 

Da  das  jüdische  Volk  thät  im  Land 
Moab  liegen 

Und  König  Ballali  wollt  wider  si  ob- 
siegen, 

Beruft  selber  den  Propheten,  tbat  in 
ersuchen, 

Er  sollte  das  jüdische  Volk  verfluchen; 

Und  da  er  solches  Volk  sollte  vermale- 
deien, 

Thüte  selber  es  davor  benedeien. 

Gesprochen:  es  wird  ein  Stern  ausgehen 
aus  Jacob  schnell 

Und  eine  Ruth  entspriessen  aus  Israel, 


Cochem  am  Anfang  des  64.  Kap.: 
Als  das  Israelitische  volck  im  land 
Moab  ligend,  in  das  gelobte  land  ziehen 
wolte,  berufte  der  König1  Balac  einen 
heydnischen  Propheten,  namens  Balaam, 
in  der  wahrsager-kunst  treflich  erfahren, 
daß  er  das  Israelitische  volck  solte  ver- 
fluchen. Gott  aber  redete  durch  den 
mund  des  falschen  Propheten,  daß  er 
wider  seinen  willen  dem  volck  muste 
benedeyen :  und  unter  andern  Weis- 
sagungen, die  er  durch  den  Geist  Gottes 
redete,  sprach  er:  Es  wird  ein  stern 
aufgehen  aus  Jacob,  und  es  wird  eine 
Ruth  entspriessen  aus  Israel.  Er  wird 
schlagen  die  Fürsten  der  Moabiter,  und 
die  Kinder  Seth,  und  gantz  Idumeen 
und  Israel  wird  alsdann  mächtig  werden. 
Derjenige,  so  aus  dem  geschlecht  Jacob 
wird  entstehen,  wird  herrschen  und  seine 
feind  zerstöhren. 


Vgl.  V.  734—35! 
Israel  wird  sodann  mächtig  werden 

Vgl.  V.  737! 
Und  seine  Feind'  zerstören  auf  Erden: 

Die  Teile  aus  Cochems  Text,  die  hier  im  Spiele  nicht  verwendet 
wurden,  stehen  bereits  früher,  V.  734  f.,  in  der  Rede  von  Melchers  Stern- 
deuter.    Zuletzt  schlägt  Kaspar  vor  V.  885: 

„Mein  Rath  war,  wir  sollten  von  der  Reis  abstehen, 
Und  nachher  Jerusalem  in  die  Stadt  hingehen, 
Uns  zu  erkundigen  wegen  des  Kindlein, 
Wo  es  möcht  anzutreffen  sein.'' . 

Bei  Cochem  S.  304  heisst  es  etwas  kürzer:  „Doch  endlich  fasseten  sie 
die  resolution,  nach  Jerusalem  zu  ziehen,  und  dort  nach  der  Juden  König 
zu  fragen."     Darauf  folgt  der  Gesang  im  Sinne  von  Cochem  S.  304b. 

In  der  folgenden  Scene,  V.  894  f.,  wird  Herodes  mit  den  hl.  drei 
Königen  in  Beziehung  gebracht.     Das  Selbstbekenntnis,    das  Herodes  hier 


314  Ainmaim: 

V.  894 — 905  ablegt,  enthält  mehr  als  Cochem  bietet,  doch  deutet  Cochem 
im  Kap.  „von  den  unschuldigen  Kindlein"  S.  360  an,  dass  Herodes  noch' 
andere  Mordthaten  begangen  habe.  Auch  das  folgende  Zwiegespräch 
zwischen  Herodes  und  seinem  Diener  Protus  und  weiter  mit  den  hl.  drei 
Königen  ist  dramatisches  Beiwerk;  Cochem  giebt  das  kürzer  und  im 
Erzählungston.  Es  mag  hier  den  Verfasser  eine  andere  Quelle  neben 
Cochem  beeinflussf  haben,  doch  könnte  der  Verfasser  bei  einiger  Belesen- 
heit diese  Änderungen  auch  selbst  gemacht  haben;  denn  auch  hier  blickt 
neben  vielfachen  Wiederholungen  häufig  Cochems  Darstellung  durch. 

Vgl.  z.  B.  V.  1006  —  7:  Cochem  S.  305a: 

„Sollt  ein  neuer  Judenkönig  sein  geboren  „Daß  sich  Herodes  verstöhrte,  ist  kein 

auf  Erden,  wunder:    dann    er    fürchtete,    der  neue 

Wo  ich  vielleicht  von  meinem  Reich  König    würde    ihn    aus    seinem    reich 

würde  Verstössen  werden?"  stossen." 

Vgl.  auch  V.  978  f.  mit  Cochems  Kap.  „von  der  Ankunft  der  Heil 
drey  Königen". 

Die  Könige  kommen  nach  Bethlehem,  finden  das  Kind,  beten  es  an 
und  geben  ihm  ihre  Geschenke  V.  1032  — 1155.  Auch  hier  herrscht  eine 
dramatisch  freiere  Bewegung  als  in  der  Erzählung  Cochems,  doch  stimmt 
in  der  Hauptsache  die  dramatische  Darstellung  auch  zu  Cochem.  Vgl. 
V.  1058  —  61: 

„Der  Stern  thut  still  stehen,  was  soll  wohl  dies  sein, 

Als  wollt  er  uns  zeigen  das  kleine  Kindelein: 

Sehet,  wie  er  hinwirft  die  Strahlen  und  seinen  Schein! 

Ach,  sollte  denn  in  dieser  Hütten  das  kleine  Kindlein  sein?" 

mit  Cochem  von  der  Ankunft  der  Hirten  S.  308:  „Was  mögen  die  fromme 
Königen  gedacht  haben,  als  sie  den  stern  über  diser  höhl  sahen  still 
stehen  ....  Weil  aber  der  stern  je  länger  je  grössere  strahlen  auf  die 
hold  schösse,  wurden  sie  erleuchtet,  daß  das  arme  kindlein,  so  in  der  höhl 
wäre,  der  König  der  Juden  seye."       ' 

Vgl.  V.  1114—17:  Cochem  S.  315  (Rückreise): 

„Glaubt's,  ihr  hochweise  Herren,  mein  Kind  „Die  seeligste  Jungfrau  erklärte  ihnen, 

ist  gewisslich  Gottes  Sohn.  wie  daß  er  wahrhaftig  der  Sohn  Gottes 

Damit  er  die  Welt  erlöse,  hat  er  die  seye,    und    darum    die  menschheit  an- 

Mensehheit  angenomm',  genommen  habe,  damit  er  für  die  Sünden 

Drum  muss  er  in  der  Jugend  schon  leiden  der  weit  solte  genug  thun.     Er  würde 

Angst  und  Noth,  viel  auf  diser  weit  müssen  leyden,   ja 

Wann  er  wird  sein  erwachsen,  sterben  endlieh  den  bittern  tod  ausstehen." 

einen  bittern  Tod." 

V.  1 1 20  —  21:  Cochem  ebenda : 

„Urlaub  wollen  wir  nehmen  von  dem  „Da    nun    die    H.    drey   König   nach 

Kindelein.  langem  gespräch  von  Maria  Urlaub  ge- 

YVie  auch  von  Maria,  der  Mutter  sein."        nommen  .  .  ." 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Marianus  von  Cochem.  315 

Die  Könige  werden  dann  vom  Engel  gewarnt,  dass  sie  nicht  zu  Herodes 
zurückkehren  sollen.  Hier  ist  wiederum  V.  1156—65  nach  Cochem  S.  315  a 
Gearbeitet,  auch  V.  1178—89  nach  Cochems  70.  Kap.  „Wie  Maria  und  Joseph 
in  Egypten  flohen". 

Mit  der  Kede  des  Herodes  V.  1190—1209  ist  Cochems  73.  Kap.  „Wie 
Herodes  die  unschuldige  Kindlein  getödtet"  (zu  Anfang)  in  Verse  um- 
gesetzt: was  dann  Herodes  zu  den  Soldaten  spricht  und  diese  selbst  melden, 
ist  dramatische  Erweiterung,  wozu  jedoch  auch  Cochems  Erzählung  von 
dem  schrecklichen  Kindermord  Stoff  genug  lieferte.  Der  Engel  hält  dann 
eine  Schlussrede,  worin  er  nochmals  die  Haupthandlungen  der  „Tragödie" 
erwähnt. 

Die  Vergleichung  des  Geburt-Christi-Spiels  mit  Cochem  zeigt  dem- 
nach, dass  das  ganze  Spiel  eigentlich  nur  eine  Umsetzung  des  Cochemschen 
Textes  in  Verse  ist.  Wenn  auch  bei  einzelnen  abweichenden  Teilen  der 
Eiufluss  einer  andern  Quelle,  vielleicht  ein  anderes  Christkindlspiel,  wahr- 
scheinlich ist,  so  ändert  dies  au  dem  Haupt -Abhängigkeitsverhältnis  von 
Cochem  nichts.    Cochem  war  bei  diesem  Spiele  in  der  Hauptsache  Quelle. 

Nun  folgt  bei  A.  Schlossar  I.  S.  169  f.  „Das  Leiden  Christi"  oder 
das  Steiermark  ische  Passionsspiel,  bei  dem  die  Vergleichung  für 
uns  doppelt  wichtig  ist,  weil  nicht  nur  die  Beziehung  zu  Cochem,  sondern 
auch  zu  unserem  B.  P.  in  Betracht  kommt.  Wir  fiuden  hier  in  der  Haupt- 
sache wiederum  Cochems  Text  in  Verse  umgesetzt,  nur  zeigt  dieses  Leiden- 
Christi -Spiel  nebenbei  starke  Erweiterungen,  die  nicht  mehr  auf  Cochem, 
sondern  auf  eine  andere  Quelle  zurückzuführen  sind1).  So  geht  liier, 
ähnlich  wie  bei  den  Paradeisspielen,  eine  Teufelsscene  voran.  Magdalena 
sollte  vom  Hoffartsteufel  gewonnen  werden,  sie  lässt  sich  jedoch  von  der 
Schwester  Martha  zu  Jesus  bekehren.  Besser  gelingt  später  den  Teufeln 
ihre  Verführung  mit  Judas  Ischariot,  der  vom  Geizteufel  zum  Verrate  ver- 
leitet wird.  In  dieser  letzteren  Teufelsscene  berührt  sich  dieses  Passions- 
spiel mit  unserem  Tweraser  Passion,  wo  eine  Judas -Teufelsscene  ein- 
geschaltet ist,  während  die  vorangehende  Teufelsscene  weder  mit  Cochem 
noch  mit  unserem  Passionsspiel  eine  Berührung  zeigt.  Zwar  erzählt  Cochem 
auch  im  86.  Kap.  „von  der  Bekehrung  Mariae  Magdalenae",  aber  sie  wird 
hier  nicht  in  unmittelbare  Beziehung  zu  den  Höllengeistern  gebracht.  Der 
Anschluss  an  Cochem  beginnt  in  diesem  Passion  erst  V.  220  f.:  „Be- 
urlaubung Jesu  von  Maria". 

Der  Verfasser  hat  mit  der  Umsetzung  des  Cochemschen  Textes  in 
Verse  mit  vier  oder  drei  Hebungen  zugleich  den  Inhalt  stark  zusammen- 
gezogen, was  übrigens  nur  dem  Spiele  zugute  kommt.  Die  Beurlaubung 
beschränkt    sich    hier    hauptsächlich    auf    die    drei   Bitten   Marias.     Selbst- 


1)   Vgl.  die  Anmerk.  A.  Schlossars  zu  diesem  Stücke  S.  330—34. 


316  Anunann: 

verständlich  kann  bei  solcher  Zusamraeuziehung  kein  so  getreuer  Anschluss 
an  Cochems  Test  erwartet  werden. 

Ich  stelle  hier  zur  Beurteilung  dieses  Abhängigkeitsverhältnisses  die 
erste  Bitte  nach  beiden  Texten  gegeneinander.     Vgl. 

V.  260—67:  Cochem:  ..Wie  Chr.  seiner  Mutter  sein 

Leyden  offenbahrte": 
..Weil  du.  mein  Kind,  gedenkst  daran  Mein  hertz-allerliebstes  kind,  du  weist, 

An  unser  beides  Lieben,  wie  grosse  lieb  ich  zu  dir  trage,    und 

Ritt'  dich  deswegen  herzlich  schön,  daß  mir  natürlicher  weise  nicht  möglich 

Dein  Urlaub  thu  aufschieben:  seye,  von  dir  geschieden  zu  sein:  dero- 

Gewähr  mir  mir  ein"  treue  Bitt,  wegen,    wann    es    durch   Gottes   willen 

Weil  es  ist  nun  zum  Sterben,  möglich    ist,    so    bitte  ich,    du   wollest 

Ach.  liebster  Schatz,  versag  mir's  nit.        dein  leyden  noch  eine  weil  aufschieben, 
Lass  mir  die  Gnad  erwerben.-  damit  wir  beyde  noch  eine  zeit  in  lieb 

imd  freud  bey  einander  wohnen  .... 

Im  Passion  ist  das  Aufschieben  des  Leidens  nicht  die  erste  Bitte  wie 
bei  Cochem,  sondern  schlechthin  eine  Bitte,  darauf  kommen  erst  die  drei 
Bitten,  wobei  dann  aus  der  zweiten  bei  Cochem  im  Passion  zwei  Bitten 
gemacht  wurden.  Die  zweite  Bitte  Marias  verlaugt  die  Wahl  eines  andern, 
nicht  so  schrecklichen  Todes.  Daraus  wurde  im  Passion  die  erste  Bitte, 
Chr.  solle  sich  von  den  Juden  und  Heiden  nicht  so  schmerzlich  morden 
lassen,  und  zugleich  die  zweite  Bitte,  er  solle  nicht  eines  solchen  Todes 
sterben.  Die  dritte  Bitte  stimmt  wieder  beiderseits  überein,  Maria  begehrt 
nämlich  mit  ihrem  Sohne  zu  sterben.  Offenbar  ist  hier  im  Passion  eine 
Verwirrung  eingetreten,  die  sich  entweder  durch  Unaufmerksamkeit  des 
Verfassers  oder  durch  mangelhafte  Überlieferung  erklärt.  Der  erste  und 
zweite  Aufzug  des  Böhmerwahl- Passions  sind  hier  zusammengezogen  oder 
es  findet  vielmehr  die  Beurlaubung  nur  von  der  Maria,  nicht  auch  von  den 
Freunden  statt.  Es  folgt  darauf  gleich  das  letzte  Abendmahl  S.  183 
V.  388  f.  Damit  aber  der  Abschied  von  den  Jüngeru  nicht  ganz  un- 
berücksichtigt bleibe,  tritt  Jesus  vor  dem  Abendmahle  auf  und  erwähnt 
jetzt  des  Urlaubes  von  seinen  Jüngern.     Vgl.  den  Anfang  des  B.  P.  mit 

Y.  388  f.:  Cochem  vom  Abschied  Christi  S.  Hb: 
0  allerliebste  Jünger  mein.  Meine  liebste  freund,  die  zeit  kommet 
Nun  ist  die  Zeit  ankommen.  herzu,  daß  ich  hingehe  den  willen 
Dass  ich  nit  lang  werd  bei  euch  sein:  meines  himmlischen  Vatters  zu  ver- 
Schmerzvoll  hab  Urlaub  g'nommen  richten,  derowegen  muß  ich  von  euch 
Von  meiner  liebsten  Mutter  schon,  meinen  abschied  nehmen,  weil  ich  nicht 
Wie  ihr  selbst  wohl  gesehen.  länger  bey  euch  bleiben  kan 


Doch  ist  auch  mein  Verlangen  sehr,         Mit    grossem    verlangen   habe  ich  ver- 
Zu  g'niessen  mit  euch  das  Osterlamm       langt    mit    euch    das  Osterlämmlein  zu 

essen  .... 
Noch    sind    wir    aber  nicht  beim  Abendmahle.    vielmehr  befiehlt  der 
Herr  erst  seinen  Jüngern,  wo  er  das  Abendmahl  halten  will.     Auch  diese 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Marianus  von  Cochem.  317 

Erweiterung  (V.  408—36)  ist  Cochem  entnommen,  doch  ist  V.  437—63  ,ein 
Selbstgespräch  des  Judas  Ischarioth  eingeschoben,  das  in  seiner  derben, 
volkstümlichen  Art  vom  Verfasser  selbst  herrühren  mag. 

Das  Abendmahl  (V.  464  —  664)  ist  gegenüber  dem  B.  P.  stark  aus- 
geweitet und  zu  den  vielen  Reden  der  Jünger  reichte  auch  Cochems  Text 
nicht  aus,  der  Verfasser  half  sich  selbst.  So  wird  zum  Abendmahle  Steirer 
Wein    verlangt    und  Simon    beteuert   seinen  guten  Willen   mit  folgendem 

Spruch : 

„Ich  wollte  auch  nichts  darnach  fragen, 

Wenn  man  mich  auch  voneinander  thiit  sagen  (d.  i.  sagen)." 

Dagegen  vgl.  man  bezüglich  Cochems: 

V.  465  —  67:  Cochem  4.  Kap.  S.  24  (IL  Teil): 

Seid  willkommen,  liebster  Meister  mein,  Seyd  mir  Willkomm,    mein  geliebter 

Mich  g' freut's,  dass  ihr  bei  mir  wollt  Meister!   ich  erfreue  mich,  daß  ihr  mir 

sein,  die  ehr  thut,  und  die  Ostern  in  meinem 

Das  Abendmahl  zu  gemessen haus  halten  wollet. 

Bei  der  Fusswaschuug  will  sich  Petrus  nach  Cochems  5.  Kap.  S.  28b 
nicht  waschen  lassen.  Als  aber  der  Herr  sagt:  „.  .  .  so  wirst  du  keinen 
Theil  an  mir  haben,"  ist  er  bereit,  sich  den  ganzen  Leib  waschen  zu 
lassen.     Auch  diese  Stelle  ist  in  den  Passion  aufgenommen.     Vgl. 

V.  625  —  30:  Cochem  S.  28  b: 

Petre,  wenn  du  nit  die  Püß  lässt  waschen        Werde    ich    dich   nicht  waschen,    so 

dir,  wirst  du  keinen  theil  an  mir  haben. 

Sollst  du  keinen  Theil  haben  an  mir. 

Petrus:  Petrus  erschrak  sehr  und  sprach: 

Herr,  nicht  allein  die  Pässe  mein,  0  mein   lieber  Meister,    ehe   ich  von 

Hand  und  Haupt  sollen  auch  gewaschen       dir  wolte  geschieden  sein,  lieber  wolte 
sein.  ich   zulassen,    daß   du  mir  den  gantzen 

leib  waschetest. 

Jesus:  Vgl.  B.  P.  III.  Aufzug  Z.  612: 

Petre,  gewaschen  ist  ganz  rein,  Es  ist  genug,  wenn  nur  die  Püß  sind 

Es  dürfen  nur  die  Piisse  gewaschen  sein,    gewaschen. 

Allerdings  konnte  hier  auch  die  Heil.  Schrift  als  Quelle  dienen.  Vgl. 
Das  Passionsspiel  des  Böhmerwaldes  S.  17  und  Job.  13,  10. 

Von  V.  665  —  755  wird  Judas'  Verrat  dargestellt.  Der  Geizteufel  tritt 
hier  wieder  auf  und  ermuntert  den  Judas  zum  Verrat.  Der  Kaiphas  zählt 
ähnlich  wie  im  Tweraser  P.  dem  Judas  in  gereimten  Sprüchen  das  Geld 
hin,  doch  zeigt  sich  im  Wortlaute  keinerlei  Beziehung  zum  Tweraser  P., 
auch  die  Verführung  des  Judas  ist  im  T.  P.  anders  dargestellt.  Es  bleibt 
nur  V.  755:  „Ein  gutes  Trinkgeld  geb  ich  noch  dir"  auffällig,  da  er  mit 
dem  B.  P.:  „Wir  werden  dir  noch  ein  gutes  Trinkgeld  geben"  überein- 
stimmt, ohne  dass  diese  Worte  auf  Cochem  als  gemeinsame  Quelle  zurück- 
geführt   werden    könnten.     Die  Beziehung    zu  Cochem    ist   hier    nicht   so 


31 8  Aiimiann: 

ausgesprochen  wie  in  andern  Stellen,  zumal  da  die  Teufelssceue  und  die 
Zählreime  mit  Cochem  nicht  in  Berührung  sind.  V.  683  f.  ist  auch  so 
allgemein  gehalten,  dass  sieh  schwer  eine  besondere  Beziehung  erwarten 
lässt.  Näher  steht  hier  Y.  683  dem  Böhmerwald-Passion  als  Cochem  oder 
der  Heil.  Schrift.     Vgl. 

H.  P.  725:  Leiden  Chr.  1,  ti83: 

Seid  gegrüsst,  ihr  wohlweiseste  Herrn!  Seid  gegrüsst.  dir  jüdische  Herrn! 

Bei  Cochem  heisst  es  nur:  „Ihr  Herrn!"  Vgl.  Das  Passionsspiel  les 
Böhmerwaldes  8.  17.  Diese  ganze  Judasscene  zeigt,  wie  gewöhnlich  mehr 
volkstümliche  Bearbeitung. 

Mit  V.  756  f.  beginnt  die  Ölbergscene,  die  ganz  nach  Cochem,  aber 
weniger  umfangreich  als  im  B.  P.  bearbeitet  ist.  Gewisse  Teile  sind  hier 
sogar  zwischen  den  Versen  in  Prosa  eingefügt.  So  die  Rede  des  Engels 
Z.  795—800  nach  Cochems  II.  Kap.  12  S.  73,  die  folgende  Rede  des  Engels 
Z.  807  —  16  nach  Cochem  S.  74:  die  Verse  sind  hier  inhaltlich  leer,  weil 
sie  zu  viel  Stoff  der  Cochemschen  Darstellung  zusammenfassen.  Die 
Gefangennehmung  V.  886  — 93'.»  ist  in  Versen  abgefasst  und  bietet  um- 
gekehrt wieder  mehr  als  Cochem  enthält.  Die  Rede  des  Judas  V.  859 
bis  66,  879  —  85,  die  Reden  der  vier  Juden,  V.  886  —  915,  deren  Zahl  mit 
dem  B.  P.  übereinstimmt,  die  Rede  des  Petrus  und  Malchus,  V.  916  —  35, 
sind  dramatische  Erweiterungen,  welche  über  Cochem  hinaus  wahrschein- 
lich nur  durch  die  Phantasie  des  Verfassers  dieses  Passions  zustande  ge- 
kommen sind:  denn  auch  hier  sind  überall  Cochemsche  Redensarten  bei- 
gemischt, vgl.  V.  859.  886,  888.  904  —  7.  908.  913—15.  922  und  die  Rede 
Jesus"  zu  Judas  V.  871  —  78  ist  wohl  nur  eine  Verarbeitung  der  Rede  bei 
Cochem  im  IL  Kap.  13  S.  83  a.  Jesus  wird  nun  vor  den  Rat  geführt 
y.  940—1031.  Hier  fällt  besonders  die  Prosarede  des  Kaiphas  auf  V.  942 
bis  54,  die  genau  zu  Cochems  IL  Kap.  16  S.  104  stimmt,  aber  auch  die 
folgenden  Verse  lassen  sich  alle  inhaltlich  auf  Cochem  (16.  Kap.)  zurück- 
führen, nur  die  Umsetzung  in  Verse  machte  gewisse  Änderungen  not- 
wendig. Von  V.  1032  —  54  bildet  des  Judas  Reue  eine  besondere  Scene, 
in  der  auch  der  Teufel  auftritt  und  sieh  im  voraus  auf  seine  Beute  freut. 
Im  H.  P.  fehlt  diese  Scene  ganz,  im  T.  P.  ist  ein  Teil  derselben  auf- 
genommen: Judas  wirft  dem  hohen  Rate  sein  Blutgeld  hin:  bei  Cochem 
ist  im  19.  Kap.  von  Petri  Verleugnung,  auch  von  Judas"  Reue,  sowie  von 
der  Thätigkeit  des  Teufels  die  Rede,  so  dass  selbst  in  dieser  Teufelssceue 
Cochems  Einfiuss  wirksam  sein  kann. 

Die  Verleugnung  Christi  V.  1056—91  zeigt  einige  dramatische  Er- 
weiterungen gegenüber  dem  B.  P.,  doch  ist  hier  wie  bei  Cochem  und  im 
B.  P.  wieder  die  Magd,  die  den  Petrus  verdächtigt  und  überall  auch  in 
den  Reden  Übereinstimmung  mit  Cochems  n.  Kap.  19  S.  129.  Die  Er- 
weiterung kommt   hauptsächlich  daher,    weil   der  Verfasser  die  dreimalige 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Marianus  von  Cochem.  319 

Verleugnung,  wie  sie  Cochem  erzählt,  stärker  ausgenutzt  hat.  Die  Überein- 
stimmung mit  Cochem  liesse  sich  in  vielen  Versen  wie  anderwärts  durch 
Gegenüberstellung  veranschaulichen.  Die  erste  Scene  des  VII.  Aufzuges 
im  B.  P.  nach  Cochems  II.  Kap.  18  findet  sich  ähnlich  auch  hier  V.  1092 
bis  1108  wieder,  doch  mehr  bloss  angedeutet,  indem  hier  Maria  nur  bei 
Petrus  sicli  über  ihren  Sohn  erkundigt  und  von  diesem  das  Bekenntnis 
seiner  Verleugnung  erfährt.  Von  Johannes,  Magdalena,  den  Wächtern,  von 
Jesu  Klagerede  im  Kerker  ist  hier  keine  Rede,  aber  Maria  Frage  V.  1092 
bis  93  und  Maria  und  Petrus'  Antwort  V.  1094—1108  ist  fast  wortgetreu 
aus  Cochems  II.  Kap.  19  S.  131  entnommen.  Jesus  vor  Pilatus  V.  1109 
bis  53  stimmt  mit  Cochems  II.  Kap.  20  und  dem  B.  P.  üborein,  um  so 
mehr,  als  hier  teilweise  die  Rede  in  Prosa  eingefügt  ist.  Jesus  vor  Herodes 
V.  1154 — 1200  enthält  wiederum  Prosa  neben  Versen.  Die  Überein- 
stimmung mit  Cochems  II.  Kap.  21  und  dem  B.  P.  wird  jedem  ver- 
gleichenden Leser  sofort  klar,  nur  sind  einige  Reden  liier  einem  Diener 
des  Herodes  zugeteilt.  Jesus  wieder  vor  Pilatus  V.  1201  —  70.  Auch  hier 
geht  die  Übereinstimmung  mit  Cochems  II.  Kap.  22  und  damit  mit  dem 
B.  P.  in  derselben  Weise  weiter.  Die  Geisselung  Jesu  V.  1271  — 1339  ist 
von  gereimten  Sprüchen  begleitet,  wie  diese  ähnlich  auch  im  H.  P.  ist, 
doch  findet  sich  im  Wortlaute  keine  Beziehung.  Diese  Sprüche  zeigen 
auch  mit  Cochems  LI.  Kap.  24  keinen  Zusammenhang,  sondern  sind  durch 
Überlieferung  von  den  altern  Spielen  auf  die  Jüngern  übergegangen  oder 
danach  wieder  neu  nachgebildet  worden. 

Christus  wird  wiederum  zu  Pilatus  geführt  und  verurteilt  V.  1340 
bis  1436.  Der  Gedankengang  ist  auch  hier  derselbe  wie  im  B.  P.  uud  bei 
Cochems  II,  Kap.  29  —  30;  eine  kleine  Abweichung  macht  sich  hier  durch 
Einführung  zweier  Diener  des  Pilatus  geltend,  während  die  Gemalin  des 
Pilatus  nicht  auftritt,  Das  Urteil  ist  in  Prosa  und  im  gleichen  Wortlaut 
wie  bei  Cochem  und  im  B.  P.  mitgeteilt.  Nun  folgt  die  letzte  Judassceue, 
Judas'  Verzweiflung  V.  1437  —  1508,  in  der  der  Teufel  und  der  Tod  auf- 
treten. Diese  Scene  hat  weder  mit  Cochem  --  denn  im  19.  Kap.  ist  zwar 
der  Teufel  erwähnt,  aber  der  Tod  nicht  —  noch  mit  dem  B.  P.  genaueren 
Zusammenhang.  Doch  zeigt  sich  dieser  gleich  wieder  im  folgenden  Kreuz- 
gang  V.  1509  —  41.  Die  Begegnung  mit  Maria  folgt  hier  in  anderer  Ord- 
nung als  im  B.  P.  nach  dem  Zusammentreffen  mit  Simon  von  Cyrene  und 
der  Veronika,  die  Reden  selbst  stimmen  fast  wortgetreu  zu  Cochems  II. 
Kap.  33  f.  und  zum  B.  P.  Die  Kreuzigung  und  der  Tod  Christi  V.  1542 
bis  1738  sind  ausführlicher  behandelt  als  im  B.  P.  Hauptsächlich  sind  die 
Spottreden  der  Juden,  die  Bekehrung  des  Longinus  Züge,  die  der  Verfasser 
vielleicht  nicht  bloss  aus  Cochem  schöpfte,  sondern  vielfach  nach  eigenem 
Geschmack  oder  aus  andern  Darstellungen  von  Volksschauspielen  einfügte. 
Im  allgemeinen  mag  wohl  auch  hier  Cochem  als  Richtschnur  für  die  Dar- 
stellung   gedient   haben,    aber    es   ist  begreiflich,    wenn  bei  der  ungemein 

Zeitsehr.  d.  Vereins  r.- Volkskunde.    1S93.  22 


320  Aiimiann: 

breiten  Erzählung  Cochems  und  bei  der  Umsetzung  in  Verse  von  Seite 
des  Verfassers  nicht  nur  hier,  sondern  auch  an  manchen  andern  Stellen 
vom  Wortlaute  Cochems  abgewichen  und  der  gleiche  Gedankengang  mehr 
in  eigene  "Worte  gekleidet  wurde.  Es  müsste  jedem  andern  bei  Dramati- 
sierung einer  so  weitläufigen  Erzählung  ebenso  gehen:  man  würde  die 
dramatisch  tauglichen  Stellen  wenig  verändert  aufnehmen,  bei  überreichem 
Stoff  aber  würde  man  sich  mehr  vom  Gedankengange  leiten  lassen  und 
die  Worte  lieber  selbst  dazu  geben,  als  sie  aus  verschiedenen  Stellen 
zusammensuchen.  Allerdings  greifen  gewisse  Scenen,  wie  die  Toufels- 
scenen,  in  diesem  Leiden  Christi  weiter  über  diese  Quelle  hinaus;  sie  be- 
deuten wahrscheinlich  einen  Einfluss  anderer  Volksschauspiele  oder  volks- 
i  ümlicher  Überlieferungen. 

Das  Leiden  Christi  aus  dem  Gurkthale  in  Kärnten,  das 
A.  Schlossar  im  Anhange  seiner  D.  Volksschauspiele  11.  S.  271  f.  mitteilt, 
zeigt,  wie  schon  A.  Sehlossar  II.  S.  400  bemerkte,  in  vielen  Teilen  Be- 
ziehungen zum  Steiermärker  Leiden  Christi,  das  wir  in  der  Hauptsache 
bereits  als  eine  dichterische  Bearbeitung  Cochems  kennen  gelernt  haben. 
\.  Schlossar  verweist  auf  die  Beurlaubung,  die  Fusswaschung,  den  Urteils- 
spruch, worin  sich  eine  gemeinsame  Vorlage  erkennen  lasse.  Diese  gemein- 
same Vorlage  ist  eben  Cochems  Text,  der  da  wieder  durchblickt.  Es  lässt 
sich  hier  aber  bei  der  starken  Änderung  der  Sprache,  hier  Verse  —  dort 
Prosa,  auch  durch  eine  genauere  Vergleichung  nicht  sicher  feststellen,  in 
welchem  Ausmasse  Cochem  benutzt  wurde  und  ob  unmittelbar  oder  viel- 
leicht durch  eiii  anderes  Volksschauspiel. 

Vom  Prolog  II.  S.  271  wollen  wir  absehen,  da  derselbe  gewöhnlich 
nur  in  weiten  Zügen  eine  Inhaltsangabe  bildet  und  eine  geistliche  oder 
weltliche  Ermahnung  an  die  Zuschauer  enthält,  sich  daher  zur  Vergleichung 
nicht  gut  eignet.  Aber  auch  der  zweite  Auftritt,  wo  der  Tod  singt  und 
nilet.  zeigt  keine  recht  deutliche  Beziehung  zu  Cochem,  wiewohl  Cochem 
in  seinem  Zusatz  zu  dem  Leben  Jesu  (von  den  vier  letzten  Dingen:  Tod, 
Gericht,  Hölle.  Himmelreich)  auch  vom  Tode  im  besondern  handelt.'  So 
könnte  die  vierte  Strophe  des  nach  Höltys  Totengräberlied  bearbeiteten 
Liedes  (V.  43  —  48)  auf  Cochem  beruhen,  der  den  Tod  Christi  auch  in 
nahen  Zusammenhang  mit  dem  Tode  der  Menschen  bringt  (vgl.  I.  Kap.: 
„Wie  erschrecklich  der  Tod  seye"  und  A.  Schlossar  II.  S.  401).  Ferner 
spricht  der  Tod  V.  63:  ..Mein  Pfeil  wird  ihn  gewiss  nicht  fehlen"  .  .  . 
Diese  Darstellung  des  Todes  mit  dem  Pfeile  erinnert  lebhaft  an  Cochems 
Abbildung  zum  genannten  Kapitel.  Der  Tod  durchbohrt  mit  einem  langen 
Pfeile  den  im  Bette  liegenden  Kranken,  während  die  Augehörigen  ver- 
zweifelt die  Hände  ringen  und  wehklagen.  Die  Möglichkeit  einer  An- 
lehnung an  Cochem  ist  hier  nicht  ausgeschlossen,  sowie  auch  später  die 
Judasscenen  mit  den  Teufeln  eine  ähnliche  Beziehung  haben  könnten. 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinus  von  Cochem.  321 

Im  dritten  Auftritt  erscheint  Christus  mit  seinen  Jüngern.  Er  offen- 
bart ihnen  die  Nähe  seines  Leidens,  die  Absichten  seiner  Feinde  und 
fordert  sie  zum  letzten  Besuche  Bethaniens  auf,  um  von  der  Mutter  und 
den  Freunden  Abschied  zu  nehmen.  Damit  wird  also  einerseits  das  Leiden 
geoffenbart,  anderseits  die  Urlaubnehmung  vorbereitet.  Diese  Darstellung 
entspricht  nicht  ganz  der  Cochems,  wiewohl  sich  der  Schluss  mit  Cochems 
Darstellung  vergleichen  lässt: 

V.  83  —  88:  Cochems  II.  Kap.  3  S.  14: 

Lasst  uns  gehn  nach  Bethanea  Am  Grünen-Donnerstag  morgens  käme 

Zum  G'nuss  der  letzten  Freuden  der   betrübte  Sohn  Marke    wider,    und 

Wo  ich  noch  hoff,  der  Mutter  mein        wolte  den  letzten  tag  seines  lebens  mit 
Und  auch  den  Freunden  eben  seinen  allerliebsten  freunden  in  freuden 

Vor  meinem  Tod  das  Lebewohl  verzehren. 

Und  auch  Urlaub  zu  geben.  (Urlaub  von  Mutter  und  Freunden  ist 

dann  wieder  nach  Cochems  Darstellung!) 

Die  Anordnung  des  Stoffes  und  die  dramatische  Fügung  verrät  über- 
haupt in  diesem  Leiden  Christi  grössere  Freiheit  in  der  Behandlung;  es 
kann  daher  obige  Scene  neben  einer  Anlehnung  an  Cochem  noch  jene 
dramatische  Wendung  erfahren  haben,  dass  Christus  zuerst  mit  seinen 
Jüngern  auftritt,  um  den  Besuch  Bethaniens  anzukündigen.  Im  vierten 
Auftritte  zeigt  sich  der  Anschluss  an  Cochem  bereits  deutlicher.  Die  Juden 
halten  Rat  wicler  Christum,  Kaiphas  spricht  zur  Versammlung.  Diese  Scene 
fehlt  im  Steiermärker  P.,  dagegen  finden  wir  sie  im  B.  P.  und  bei  Cochem 
I.  Kap.  91  „Von  dem  Rath  wider  Chr.". 

V.  89  —  92    setzt    eine  Erörterung    des  Lebens    und  Wirkens   Christi 
voraus,    wie   dies  schon  im  ersten  Rat  wider  Christum   und  dann  hier  im 
zweiten  bei  Cochem  zu  finden  ist.    Es  wird  jedoch  nicht  auf  die  einzelnen 
Thaten  eingegangen,  sondern  nur  ganz  allgemein  gesagt: 
Kaiphas:    „Euch  sind  bekannt,  Ihr  lieben  Herren, 

Christi  That  und  falsche  Lehren! 

Viel  Volk  hat  er  an  sich  gezogen, 

Mit  falscher  Lehre  Viel'  bewogen:" 

Die  weitere  Rede  des  Kaiphas  ist  auch  ziemlich  frei  behandelt,  doch 
lässt  sich,  freilich  auch  mit  Beziehungen  zur  Heil.  Schrift,  vergleichen 
V.  93-96:  Cochems  I.  Kap.  91  S.  466b  f.: 

Und  lasst  man  ihm  ferner  seinen  Muth,  Lassen  wir  ihn  also,   so  werden  alle 

Die  Juden  er  verführen  thut:  an  ihn  glauben.  Und  die  Römer  werden 

Und  fallen  uns  die  Römer  ein,  kommen    und    unser    Land    und    Leute 

Vom  Lande  wir  vertrieben  sein.  nehmen. 

Auch  die  Reden  der  Räte  erinnern  an  Cochem.     Vgl. 

V.  107—10:  Cochems  II.  Kap.  15  S.  97a: 

Man  muss  mit  Listen  unterkommen,  Wenn  man  einenHexenmeister,  welcher 

Dass  er  in  unsre  G'walt  wird  g'nommen!     das  gantze  land  verzaubert  hätte  ...  end- 
lich durch  List  gefangen  bekommen  hätte. 
22* 


3  2  2  Am  mann: 

Cochems  I.  Kap.  91  S.  468  b: 
Der  Vogel  rauss  gefangen  werden,  Dann    er    wäre   vogel-frey  gemacht: 

Sodann  kann  man  sein  Nest  verderben.        und    wer   ihn  nur  antraffe,    dorfte   ihn 

umbringen. 

V.  115—16:  Cochems  II.  Kap.  13  S.  78: 

Nur  nicht  gleich  an  dem  Ostertag!  Die  Herren  aber  sagten:    Es  dunckl 

Das  Volk  aufrührisch  werden  mag.  uns  nicht  rathsam  zu  seyn,    an  disein 

hl.  Oster- Fest;    dann   es   wurde  grosse 
aufruhr  unter  dem  volck  machen. 

Vom  5.  bis  7.  Auftritt  haben  wir  Teufelsscenen  mit  Judas,  in  denen 
nicht  allein  Cochem,  sondern  vielleicht,  wie  beim  Steiermärker  Leiden 
Christi,  auch  eine  andere  alte  Überlieferung,  hereinspielt.  Der  8.  Auftritt: 
die  Unterhandlung  des  Rates  mit  Judas  —  ist  hier  stark  zusammengezogen, 
die  Zählreime  zeigen  aber  auch  hier  wieder  eine  andere  Fassung  als  im 
Steiermärker  oder  im  B.  P.  Der  9.  Auftritt  ist  eine  Rede  des  Judas  in 
acht  Verszeilen,  dagegen  ist  der  10.  Auftritt:  der  Abschied  Jesu  von  Maria, 
Magdalena  und  Martha  —  entsprechend  der  Cochemschen  Fassung  breiter 
behandelt.  Doch  ist  diese  Scene  hier  noch  kürzer  dargestellt  als  im  Steier- 
märker Leiden  Christi.  Hier  ist  nur  die  dritte  Bitte  (V.  285:  „Lass  mich 
mit  dir  auch  sterben")  deutlich  geschieden,  die  erste  und  zweite  läuft  auf 
den  gleichen  Gedanken  hinaus  (V.  259:  „Thue  dich  dem  Tod  entziehen" 
—  V.  269:  „Thue  dich  dem  Tod  entwinden"),  auch  werden  diese  nicht 
als  erste  und  zweite  Bitte  bezeichnet.  Sonst  ist  in  diesem  Auftritte  die 
Offenbarung  des  Leidens  in  ähnlicher  Weise  wie  im  Steiermärker  P.  mit 
dem  Abschied  von  den  Freunden  verbunden.  Es  lässt  sich  hier  auch  einige 
Übereinstimmung  zwischen  dem  Kärntnerischen  und  Steiermärkischen  P. 
bemerken.     Vgl. 

Kärntn.  P.  V.  270  —  77:  Steierm.  P.  V.  284  —  91 : 

Gleichwie  der  Mensch  verloren  hat  Mein  Schatz  und  mütterliche  Zucht. 

Beim  Apfelbaum  das  Leben,  Antwort  darauf  zu  geben: 

Der  G'nuss  war  ihm  ja  tödtlich  schad,  Weil  Adam  durch  des  Baumes  Frucht 

Sein  Heil  hat  er  vergeben:  Verloren  hat  sein  Leben, 

So  thuet  auch  mich  in  gleicher  G'stalt  So  muss  ich  auch  mit  meinem  Tod 

Die  Liebe  hart  bezwingen,  Am  Holz  das  Leben  erwerben, 

Die  Sund  den  Menschen  g'fangen  halt,  Und  alle  Trübsal,  Angst  und  Noth 

Ich  musst  ihm  's  Leben  bringen.  Gern  leiden  bis  ins  Sterben. 

Vgl.  beide  Fassungen  mit  Cochems  Darstellung  II.  Kap.  2  und  im 
I.Aufzuge  des  B.  P.:  „Chr.  sprach:  Meine  allerliebste  Mutter,  daß  du  be- 
gehrest, ich  solle  mir  einen  geringem  tod  erwählen,  das  kan  nicht  seyu: 
dann  die  Göttl.  Gerechtigkeit  erfordert,  daß  ich  die  allergrausamste  marter 
und  allerbittersten  tod  leyden  solle;  damit  die  sünde  Adams  und  aller 
menschen  völliglich  bezahlt  werden.  Dann  gleichwie  die  sünder  meinem 
himmlischen  Vater"  u.  s.  w. 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martimis  von  Cochem. 


323 


Die  Vergleichung  beweist  nicht  viel,  doch  könnte  man  an  dieser  Stelle 
vermuten,  der  Steierm.  Text  stehe  dem  Kärntner  fast  näher  als  die  hier 
etwas  weiter  abstehende  Darstellung  Cochems.  Vgl.  aber  eine  andere  Stelle 
in  beiden  Spielen: 


Rärntn.P.  V.  290  —  301: 
Maria : 
Gott  sei's  geklagt,  weil's  doch  sein 

muss, 
Ich  kann  nicht  sein  entgegen, 
Gieb  mir  doch  aus  deinem  Gnadenfluss 
Den  himmlisch  letzten  Segen. 


Christus: 
Der  Vater  in  dem  Himmelreich, 
Der  wolle  dich  gesegnen, 
Der  heilige  Geist  lass  dir  zugleich 
Kein  Unheil  auch  begegnen: 
Nun  ist  es  Zeit,  dass  ich  mich  gieb 
In  meines  Feindes  Händen, 
Um  alles,  was  da  malt  die  Schrift 
Zu  leiden,  Strick  und  Banden. 

(Vgl.  Cochems  II.  Kap.  S.  9a: 
„Uises  haben  schon  vorlängst  die  Pro- 
pheten geweissaget  .  .  .u) 

Maria: 
So  geh,  mein  Sohn,  erlös  die  Welt, 
Und  thue  nach  Gottes  Willen: 
Weil  es  ansonst  war  schlecht  bestellt, 
Thue  dies  mit  Blute  stillen. 
Der  Vater  wolle  dir  beistehn, 
Den  du  zum  G'leit  mir  geben, 
Und  mit  dir  zu  dem  Tod  hingehn: 
Bring  uns  das  ewige  Leben. 


Steierm.  P.  V.  372-87: 
Maria: 
Ach  weh,  nun  muss  ich  schon  zurück, 
Ich  kann  nichts  mehr  erwerben: 
Mein  Herz  bricht  mir  zu  tausend  Stück, 
Für  Leiden  muss  ich  jetzt  sterben; 
Nun  küss  ich  dich  zum  letztenmal, 
Bring  dich  nicht  mehr  zuwegen, 
So  bitt  ich  dich  zu  tausendmal 
Um  deinen  heiligen  Segen. 

Christus : 
Gesegn'  dich  Gott,  o  Mutter  mein, 
Sammt  allen  deinen  Freunden, 
Nun  will  ich  mich,   es  muss  doch 

sein, 
Ergeben  meinen  Feinden. 


Alles,  was  worden  prophezeit, 

Muss  heut  also  geschehen, 

In  Kürz'  werd't  ihr  mit  grösster  Freud 

Mich  alle  wiedersehen. 

Cochems  III.  Kap.  S.  19  b: 
....   so   gehe    hin    und    erlöse    die 
Welt. 


Gott  der  himmlische  Vatter  wolle 
dich  stäreken,  der  hl.  Geist  wolle 
dich  trösten  .  .  . 


Eine  auffällige  Übereinstimmung  findet  sich  bei  diesen  Stellen  nur  im 
K.  P.  293  und  St.  P.  379,  K.  P.  298-99  und  St.  P.  382-83,  wo  die  Bitte 
um  den  Segen  und  der  Entschluss  Christi,  sich  den  Feinden  zu  übergeben, 
ausgesprochen  wird.  Die  Übereinstimmung  der  ersten  Stelle  erklärt  sich 
indessen  aus  Cochem,  wo  Maria  beim  Abschied  Christi  (Kap.  III  S.  19a) 
spricht:  „Dann  tausendmal  besser  ist  mir,  mit  dir  sterben,  als  ohne  dich 
leben.  Wann  es  dann  aber  muß  gesehyden  sein,  so  bitte  ich  demütig 
um  deinen  Göttlichen  See  gen,  damit  ich  gestäreket  werde,  das  grosse 
leyd    gedultiglich    auszustehen.'-     Ebenso    lässt  sich   die  zweite  Stelle  mit 


324  Aimnann: 

den  Abschiedsworten  Christi  bei  Cochem  Kap.  III  S.  15a  zusammenhalten: 
„Nun  dann,  meine  allerliebste  Mutter!  weil  es  muß  geschieden  seyn, 
so  sage  ich  dir  gute  Nacht,  und  befehle  dich  meinem  himmlischen 
Vatter.  Und  ihr,  meine  liebe  Freunde,  lebet  wohl,  meine  zeit  ist  da, 
daß  ich  von  euch  scheyde,"  wenn  auch  von  der  Übergabe  an  die  Feinde 
hier  im  besondern  nicht  die  Rede  ist.  V.  302  f.  des  K.  P.  zeigt  deutliche 
Abhängigkeit  von  Cochem.  Wir  bemerken  also,  dass  sowohl  der  St.  P. 
als  der  K.  P.  hier  eine  Beziehung  zu  Cochem  aufweisen,  und  wenn  nun 
diese  beiden  P.  auch  unter  sich  eine  gewisse  Übereinstimmung  zeigen,  so 
erklärt  sich  diese  nicht  aus  der  unmittelbaren  Abhängigkeit  dieser  beiden 
P.  von  einander,  sondern  durch  ihre  Abhängigkeit  von  Cochem  als  der 
gemeinsamen  Quelle  beider.  Die  V.  310  folgenden  Trostreden  der  Frauen 
sind  wieder  freier  gehalten,  der  Verfasser  bemüht  sicli  sichtlich,  mehr 
poetischen  Schwung  in  die  Schlussreden  des  10.  Auftritts  zu  bringen; 
doch  verraten  V.  321,  324,  327,  330  —  32,  344  auch  hier  Cochemschen 
Einfluss. 

Dagegen  hört  im  11.  und  12.  Auftritte  plötzlich  wieder  Cochems  Ein- 
fluss  auf,  auch  der  Steiermärkische  Passion  zeigt  hier  keine  Beziehung 
zum  Kärntnerischen.  Der  hohe  Rat.  sowie  Judas  sind  hier  volkstümlich 
karikiert,  die  italienischen  Namen  der  Ratspersonen  sprechen  insbesondere 
für  den  volkstümlichen  Ursprung  dieser  Scenen. 

Auch  im  13.  bis  15.  Auftritt  ist  keine  unmittelbare  Benutzung  Cochems 
nachzuweisen,  denn  eine  solche  Darstellung  kann  ebensowohl  auf  der  Er- 
zählung der  Evangelisten  als  auf  Cochems  Wiedergabe  nach  den  Evangelien 
beruhen.  Das  was  in  Cochems  Darstellung  eigentümlich  ist,  findet  sich 
hier  eben  nicht;  auch  in  der  Fusswaschungsscene  kann  ich  keine  deutliche 
Beziehung  zwischen  dem  Steierm.  und  Kärntn.  Spiele  und  daher  auch  nicht 
zwischen  dem  letzteren  und  Cochem  entdecken1).  Eine  gewisse  Überein- 
stimmung in  der  formellen  Behandlung  solcher  Scenen,  die  schon  in  der 
Heil.  Schrift  eine  feste  Gestalt  haben,  versteht  sich  von  selbst,  ebenso  ist 
allen  diesen  Spielen  eine  gewisse  volkstümliche  Charakterisierung  und 
Behandlung  eigen,  wie  sie  sicli  im  Laufe  der  Zeiten  im  Volke  traditionell 
fortgeerbt  hat.  So  lässt  sich  auch  im  folgenden  zweiten  Aufzuge  in 
allen  fünfzehn  Auftritten  nur  weniges  finden,  was  mit  einiger  Sicherheit 
als  Cochems  Eigentum  nachgewiesen  werden  kann.  Im  4.  Auftritt  erinnert 
die  üble  Behandlung,  welche  Martha  von  den  zwei  Rittmeistern  erfährt, 
sowie  im  5.  Auftritt  der  Wechselgesang  zwischen  Maria  und  dem  Wächter 
an  Cochems  XVIII.  Kap.  „Mariae  kommt  zeituug  ihr  Sohn  seye  gefangen". 
Dem  Wortlaute  nach  Hesse  sich  im  5.  Auftritt  eine  Stelle  vergleichen. 
Beiderseits  spricht  der  Wächter: 


1)    Vgl.  Schlossar,  Volksschausp.  II,  S.  400. 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinas  von  Cochc 


325 


V.  955  —  58: 

Man  hat  heut  diese  Nacht 
Ein  G'fangnen  hergebracht. 
Gestossen  hin  und  her, 
Geschlagen  noch  viel  mehr. 


Cochems  XVIII.  Kap.  S.  126a:. 

Man  hat  vor  etlichen  stunden  einen  ge- 
fangenen mit  grossen  schimpf  herein  ge- 
führt, der  arme  mensch  sähe  übel  aus, 
und  war  gar  jämmerlich  zerschlagen. 


In  V.  978  und  '.)81  werden  die  Juden  in  ihrem  Treiben  gegenüber 
Jesu  als  „rasend"  und  „toll"  bezeichnet.  Auch  bei  Cochem  heisst  es  im 
XIY.  Kap.  „"Wie  Chr.  gefangen  worden"  S.  86b  nach  Chrysostomus ,  dass 
Gott  in  dieser  Leidensnacht  allen  Teufeln,  selbst  dem  Lucifer,  Macht  über 
die  Juden  gegen  Christus  gegeben  habe,  so  dass  „sie  gleichsam  vor  Zorn 
und  Bosheit  rasend  wurden". 

In  V.  983  nennt  Judas  den  Annas  „Hochwürdig",  wie  dies  auch  bei 
Cochem  im  XVI.  Kap.  S.  106  a  vorkommt. 


V.  104;:. 

Sau  au,  wer  hat  dir  denn 
Das  Lehramt  übergeben  .  .  . 

Besonders    zeigt    der    9.  Auftritt 
Übereinstimmung  mit  Cochem: 

V.  1129  —  40: 


Maria: 

Bekenn  die  Wahrheit  doch  nur  ein. 
Die  Augen  nichts  Guts  ankünden. 
Ach,  Johann,  mit  welchen  Schmerzen 
Wart  ich  deiner  Gegenwart; 
Sag  es  diesem  armen  Herzen, 
Geht  es  meinem  Sohne  hart? 

Johannes: 
Ach,  Maria,  ich  muss  gesteht!, 
Es  thut  sehr  schlecht  mit  ihm  hergehn. 
Denn  Judas  hat  ihn  verratheii, 
Er  ist  in  der  Juden  Gewalt  gerathen. 
Wird  hart  gebunden  und  tribulirt, 
Zum  hoheu  Priester  hingeführt. 


V.  1145  —  46: 

Ach,  Kind,  ach,  Sohn,  ach,  meine  Freud! 
0,  Juda.  welch  Undankbarkeit! 


Wi 


Cochems  XV.  Kap.  S.  98a: 

1  hat  dir  g'walt  gegeben,  zu  lehren 


inhaltlich    und   selbst    im  Wortlaute 


Cochems  XVIII.  Kap.  S.  124: 
Johannes  hat  vom  Weinen  Augen  wie 
lauter  feur,    als   er  von  Caiphas'  Haus 
nach  Bethanien  kommt. 

Maria  spricht: 

0  mein  Johannes,  sage  bald  an.  wie 
stehet  die  sach  mit  meinem  armen  Kind? 
Dann  ich  mereke  wohl,  dass  du  traurige 
bottschaft  bringest.  Ich  bitte  dich,  sage 
nur  bald,  wie  es  stehe. 

Der  liebe  Johannes  hielte  die  zahlen 
ein,  so  vil  er  kirnte,  und  sprach:  0  liebe 
Frau,  mit  eurem  Sohn  stehet  es  so 
schlecht,  dass  ich  michs  scheue  zu  sagen. 
Dann  die  Juden  ihn  als  einen  mörder 
gefangen  .  .  .  und  gehen  so  übel  mit 
ihm  um,  dass  ichs  vor  hertzenleid  nicht 
sagen  kan:  und  Judas  der  böse  mensch 
hat  ihn  verräthen,  zu  Annas  und  Caiphas 
geführt. 

Cochem  XVIII.  Kap.  S.  125a: 

Ach,  ach  mein  Kind  Jesu! 

wo  ist  mein  trost  und  freud! 

()  Judas,  du  undanckbarer  mensch! 


326  Ammann: 

V.  1156:  Cochem,  S.  125b: 

Drum  lasset  uns  der  Stadt  zugehn.  gehe  doch  mit  mir  in  die  stadt. 

An  diesen  Stellen  finden  wir  auffällige  Übereinstimmung,  indessen  ist 
dem  Umstände,  dass  diese  Übereinstimmungen  gerade  in  specifisch  Cochem- 
schen  Partieen  zu  finden  sind,  mehr  Gewicht  beizulegen  als  dem  überein- 
stimmenden Wortlaute  selbst.  Es  gewinnt  den  Anschein,  als  wären  im 
Kärntu.  P.  aus  Cochem  nur  solche  Stellen  eingefügt,  die  gerade  Cochem 
eigen  sind;  aber  auch  hier  zeigt  sich  kein  sehr  enger  Anschluss,  wenn 
man  selbst  davon  absieht,  dass  der  Text  iu  Verse  umgesetzt  und  daher 
stark  verändert  werden  musste. 

In  allen  weiteren  Auftritten  finde  ich  dann  keine  deutliche  Anlehnung 
mehr  an  Cochem  bis  zum  Todesurteil  in  V.  21  17 — 35,  das  dem  Sinne  ent- 
sprechend in  Prosa  eingefügt  wurde.  Doch  auch  iu  diesem  Urteilsspruch 
ist  Cochem  nicht  getreu  wiedergegeben,  sowie  auch  die  Stelle  im  Steierm.  P. 
und  im  Böhmerwald-Passion  wieder  etwas  abweichend  lautet.  Man  muss 
annehmen,  dass  jeder  Verfasser  zwar  den  Spruch  aus  Cochem  genommen, 
aber  jeder  nach  eigenem  Geschmack  verarbeitet  hat. 

Auch  in  den  folgenden  Auftritten  begegnen  wir  wieder  poetisch  ver- 
arbeiteten Stellen,  die  wohl  nur  auf  Cochem  zurückzuführen  sind.  So  lässt 
sich  die  Rede  des  ersten  Portier  zu  Maria  beim  zweiten  Kreuzfall  mit 
Cochems  Darstellung  „Chr.  begegnet  seiner  Mutter"  zusammenhalten: 

V.  2325  — es :  Cochems  XXXIII.  Kap.  S.  233b: 

Dann   derjenige,    so   die  nägel  trüge, 
hielte    dieselbige    der  traurigen  Mutter 
vor  die  äugen,  sprechend: 
Schau.  Weib,  sieh  die  drei  Nägel  an,  Sihe,  o  Weib,  mit  diseu  nageln  muss 

Woran  dein  Sohn  muss  Innigen,  dein   Sohn  heut  ans  creutz  geschlagen 

Sie  werden  ihm  wohl  taugen  schon,  werden:  hättest  du  ihn  besser  erzogen, 

Wann  er  am  Kreuz  wird  prangen.  so     wäre    er    zu    solchem    leyd    nicht 

kommen. 

Als  Maria  Jesus  auf  dem  Leidenswege  zu  begegnen  sucht,  bittet  sie 
Johannes  um  das  Geleite,  auch  Martha  und  Magdalena  sind  dabei.  Hier 
scheint  die  ganze  Scene,  wiewohl  nicht  überall  im  Wortlaute,  nach  Cochem 
bearbeitet.     Vgl. 

V.  2409.  Cochems  XXXIII.  Kap.  S.  232b: 

Darum    sprach    Maria    zu    Johanne: 
0  mein  Johann,  ich  bitte  dich.  Mein  lieber  vetter  Johannes,    ich   sihe, 

Zeig  mir  den  rechten  Ort,  dass  ich  an  disem  ort,  vor  dem  grossen 

Damit  den  Sohn  wohl  sehe  ich.  volck     nicht     kan     zu    meinem     söhn 

Und  sprechen  könnt  ein  Wort.  kommen,    darum  bitte  ich,   führe  mich 

an  einen  ort,  da  ich  mit  ihm  vor  seinem 
end  ein  wörtlein  reden,  oder  ihn  in 
seinem  levden  trösten  könne  .  .  . 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinas  von  Cochem.  327 

Johannes:  St.  Johannes  sprach:  Liebe  Frau,  ich 

Wenn  es  so  Euer  Wille  ist,  fürchte    .  .  .,    danuoch    will    ich    euch 

Ihr  allerliebste  Frauen,  disen  dienst  erweisen,  und  durch  einen 

So  lasst  uns  gehn,  spart  keine  Frist,  kurtzen  weeg  an  einen  ort  führen,    wo 

Wir  wollen  ihn  beschauen.  er  mus  vorüber  gehen  .... 
Ich  glaub,  wir  sind  am  rechten  Weg, 
Wie  die  Blutstropfen  zeigen  .  .  . 

Diese  Scene  ist  in  ihrer  ganzen  Eigenart  nach  der  Cochemschen  Dar- 
stellung gezeichuet,  doch  stimmt  der  Wortlaut  wiederum  mir  teilweise 
überein.  Freilich  ist  hier  zu  beherzigen,  dass  dieser  Passion  überhaupt 
in  seiner  kurzen,  skizzenhaften  Behandlung  der  Scenen  die  eingehende 
und  breite  Darstellung  Cochems  nicht  brauchen  konnte;  anderseits  wollte 
der  Verfasser  ein  derberes,  echt  volksmässiges  Spiel  machen,  das  nach 
seiner  Erfahrung  nicht  durchweg  nach  Cochem  bearbeitet  sein  durfte,  wenn 
es  seinen  Zuschauern  gefallen  sollte. 

Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  liesse  sieh  der  ungenaue  Anschluss 
an  Cochem  erklären,  wenn  er  auch  sonst  keine  andere  Quelle  benutzt 
hätte,  allein  es  scheint  doch,  dass  der  Verfasser  dieses  Passions  Cochem 
nur  in  gewissen  Scenen  wirklich  zu  Rate  gezogen  hat  und  auch  hier  sich 
mehr  bloss  vom  Gedankengange  als  vom  Wortlaut  leiten  liess. 

Ich  finde  nämlich  auch  bis  zum  Ende  des  Passions  keine  auffällige 
Stelle  mehr,  die  auf  Cochem  zurückzuführen  wäre,  denn  soweit  nur  die 
Heilige  Schrift  ausgebeutet  wird,  lässt  sich  Cochem  nicht  als  besondere 
Quelle  ansehen  und  erweisen. 

Diesem  Passion  folgt  noch  als  Zwischenspiel  zum  Leiden  Christi  ein 
Schäferspiel1)  und  als  Nachspiel  die  Auferstehung.  Auch  diese  Stücke 
zeigen  keinen  deutlichen  Zusammenhang  mit  Cochem. 

Im  ganzen  erweist  sich  demnach  Cochems  Leiden  Jesu  als  Quelle  für 
viele  geistliche  Volksschauspiele  und  man  darf  annehmen,  dass  mit  den 
hier  verglichenen  Spielen  die  Zahl  der  von  Cochem  abhängigen  nicht  ein- 
mal erschöpft  ist. 

Wir  fanden  fünf  Paradeisspiele,  die  mehr  oder  weniger  aus  Cochems 
Leben  Jesu  geschöpft  haben,  und  zwar  das  V.  P.  (Vordernberger  Paradeis- 
spiel),  das  Paradeisspiel  im  0.  W.  (Obergrunder  Weihnachtsspiel),  das 
Z.  P.  (Zuckmantler  Paradeisspiel),  das  S.  P.  (Salzburger  Paradeisspiel), 
das  M.  P.  (Mitterndorfer  Paradeisspiel),  ferner  fünf  Weihnachtsspiele, 
und  zwar  das  0.  W.  (Obergrunder  Weihnachtsspiel),  das  H.  H.  (Halleiner 
Herbergsspiel),  das  H.  D.  (Halleiner  Dreikönigsspiel),  das  H.  K.  (Hitzen- 
dorfer  Krippelspiel),  die  G.  Chr.  (Geburt  Christi  aus  Steiermark),  ferner 
zwei    Schäferspiele,    und    zwar  das  Spiel  vom   guten  Hirten   im  Y.  P. 


1)  Dieses  dürfte  vor  dem  2.  Aufzuge  eingefügt  worden  sein,  wo  zur  folgenden  Ölberg- 


scene  eine  Waldgegend  dargestellt  wird. 


328  Ammaim: 

(  Vor  demb  erger  Paradeisspiel)  und  das  Mitterndorfer  Schäferspiel  im  M.  P. 
(Mitterndorfer  Paradeisspiel),  ferner  sechs  Passionsspiele,  von  denen 
das  B.  P.  (Böhmerwald- Passionsspiel)  und  das  St.  P.  (Steiermärkische 
Leiden  Christi)  Cochem  am  nächsten  stellen,  während  das  Z.  P.  (Zuck- 
mantler  Passionsspiel),  das  0.  P.  (Oberaudorfer  Passionsspiel),  «las  Passions- 
spiel  aus  dem  Bayerischen  Walde  und  das  K.  P.  (Kärntnerische  Passions- 
spiel)  nur  mein1  oder  weniger  auf  Cochem  zurückgeführt  werden  können. 

Bei  der  verschiedenen  Abhängigkeit  dieser  Spiele  von  Cochems  Leben 
Jesu  ist  beachtenswert,  dass  manche  Spiele  prosaische  Stücke  aus  Cochem 
enthalten,  die  ohne  grosse  Veränderung  eingefügt  werden  konnten  und  daher 
leichter  zu  erkennen  sind;  dass  hingegen  bei  manchen  Volksschauspielen 
von  poetischer  Form  Cochems  Text,  wenn  er  verwertet  werden  sollte, 
erst  in  Verse  umgesetzt  werden  musste,  wobei  sich  dann  eine  grössere 
Selbständigkeit  der  Verfasser  geltend  macht  und  die  Abhängigkeit  nicht 
überall  mit  voller  Sicherheit  nachzuweisen  ist. 

Teile,  die  in  diesen  Volksschauspielen  über  Cochems  Leben  Jesu  und 
die  Heilige  Schrift  hinausgehen,  sind  entweder  eigene  Erfindung  der  Ver- 
fasser, oder  sie  entstammen  einer  andern  Quelle.  Auf  Rechnung  der  Volks- 
poeten möchte  ich  besonders  die  Bildung  der  Zählreime,  mancher  Judas-, 
Teufels-,  Hirtenseenen,  mancher  derben  Dialoge  setzen,  wobei  allerdings 
meistens  auch  noch  Einfluss  alter  Überlieferungen  mitwirkt,  andere  eigen- 
artige Scenen  mögen  oft  direkt  auf  eine  andere,  uns  noch  nicht  bekannte 
Quelle  zurückgehen.  Eine  wichtige  Quelle  dieser  Art  für  die  jüngeren 
geistlichen  Volksschauspiele  ist  gewiss  durch  den  Hinweis  auf  Cochem 
offenbar  geworden.  Wie  des  Meisters  Hans  Sachs  erwähnte  Tragödie  ins 
Volk  eindrang  und  das  Volksschauspiel  erweckte  und  belebte,  so  hat  noch 
in  ausgedehnterem  Masse  Cochem  durch  sein  Volksbuch  besonders  auf  das 
deutsche  Volk  im  Süden  eingewirkt. 

Was  die  Darstellung  der  Töchter  Gottes  im  Paradeisspiele  im  besondern 
betrifft,  ist  zu  beachten,  dass  dieser  Mythus  über  Cochem  weit  zurückreicht, 
vgl.  Passionsspiel  aus  dem  Böhmerwald  S.  15.  R.  Heinzel  hat  uns  gezeigt, 
dass  dieser  Mythus  auf  den  84.  Psalm,  11. — 12.  Vers:  Misericordia  et  veritas 
obviaverunt  sibi;  iustitia  et  pax  osculatae  sunt.  Veritas  de  terra  orta  est 
et  iustitia  de  coelo  prospexit  -  -  zurückzuführen  ist.  Für  unsere  Volks- 
schauspiele war  wohl  einzig  und  allein  Cochems  Fassung  massgebend, 
dennoch  zeigte  sich  in  einer  handschriftlichen  Überlieferung  zum  Erler 
Passion  keinerlei  Zusammenhang  mit.  Cochems  Darstellung,  daher  diese 
Überlieferung  auf  eine  andere  ältere  Fassung  zurückgehen  dürfte.  Ab- 
gesehen von  verschiedenen  Gedichten  des  Mittelalters  (Erlösung,  Anegenge, 
De  Mynnen  rede)  bot  auch  st.  Bernardus,  Sermol.  de  Amuintiatione  B.M.V.1) 
eine  für  Theologen  bequeme  Fassung  dieses  Mythus,  sowie  darauf  auch  in 


1     Vgl.  Migue  cursus  patrolog.  lat.  tom.  1S3.  383—390.    Schluss  des  Sermo. 


Das  Leben  Jesu  von  P.  Marianus  von  Cochem.  :V_".i 

verschiedenen  Predigtwerken1)  Rücksicht  genommen  ist.  Von  solcher  Seite 
hat  nicht  nur  Cochem  selbst,  der  leider  für  seine  Fassung  keine  Quelle 
angiebt,  sondern  vielleicht  auch  der  Verfasser  der  alten  Erler  Hs.  die 
Anregung  zu  dieser  Darstellung  empfangen. 


Yillotte  Miilane  (Friaulisclie  Dorf  Lieder). 

Mitgeteilt  von  Dr.  E.  Schatzmayr  in  Triest. 


Dem  „Furlaner"  (Friauler)  ist  Lied  und  Gesang  Lebensbedürfnis:  von 
früh  morgens  bis  spät  abends,  bei  der  Arbeit  auf  dem  Felde  und  in  der 
Werkstatt,  auf  der  Wanderschaft  und  daheim  in  Haus  und  Garten  hört 
man  ihn  singen.  Mehr  noch  die  Furlaner  innen.  Einzeln  und  in  Chören, 
in  Feld  und  Wald,  in  den  Spinnereien,  auf  den  Wegen  und  Steigen,  nach 
dem  Vesperläuten  erschallen  ihre  mehr  oder  minder  fröhlichen  Gesänge 
(villotte).  Die  Furlaner  sind  eben  ein  dem  deutschen  Nachbar  im  Norden 
(Kärnten)  und  Westen  (Tirol)  in  mancher  Hinsicht  näher  als  dem  wälschen 
Landesgenossen  verwandtes  gemütvolles,  derbes,  tüchtiges,  überaus  arbeit- 
und  sparsames  Landvolk  an  den  Südhängen  der  hämischen  Alpen  (Caruia) 
und  auf  den  vorliegenden  Ebenen  bis  Görz,  Monfalcone  und  Grado  in  den 
Lagunen  der  Adria. 

Beim  hiesigen  Volke  heisst  das  Land,  wo  furlaniseh  gesprochen  wird: 
la  Furlania,  wo  deutsch  gesprochen  wird:  la  Tedescheria.  „La  Germania" 
ist  Deutschland  und  Österreich. 

Der  friaulische  Dialekt  gehört  zur  Gruppe  der  ladinischen2)  Mund- 
arten, zu  welchen  auch  das  „Romaunsch"  (Rhätoromanisch  in  Graubünden 
und  Tirol)  gezählt  wird.  Es  existiert  ein  gutes  Wörterbuch  von  Pirona. 
Die  Lautlehre  des  Friaulischen  und  der  verwandten  Mundarten  ist  von 
Ascoli  (geb.  in  Görz)  im  ersten  Bande  des  Archivio  glottologico  italiano 
behandelt  worden.  Bei  Resiutta  an  der  Poutebba-Bahn  wird  ein  Unter- 
dialekt gesprochen,  der  sehr  altertümlich  ist. 

Fra  i  canti  popolari  italiani,  i  friulani  sono  i  piü  profondi  --  sagt  ein 
Kenner  italienischer  Volkslieder. 


1)  Vgl.  Wiser.  Th.,  Vollständiges  Lexikon  für  Prediger  und  Katecheten.    Regensburg 
1857  XI.  Bd.  S.  273. 

2)  Siehe  mein  Buch  „Avanzi  delT  antico  dialetto  triestino"   (Triest,  bei  Dase,  1891). 


330 


Schatzmayr: 


Urtext. 

1. 

Benedete  1'  antiga-e  (=  .Je  auticaglie", 

gli  antichi) 
I  ere  dute  buine  int  (=  gente) 
E  cumö  norne  baga-e, 
Dute  plene  di  bon  timp!  (=  buontemponi). 

2. 

( luand  ch'  o  levi  su  par  Carnje 
(Quando  io  andavo  su  per  la  Carnia) 
Jö  no  levi  mai  di  band : 
Cuafri  nolis  te  sachete 
(Quattro  nuces  „ze  sack,  etto") 
Lis  fantatis  a  miö  comand. 


Nachdichtung. 


In  den  guten  alten  Zeiten, 
Da  war  alles  gut  und  echt  — 
Heutzutag  ist  alles  Schwindel, 
Alles  pof'el.  falsch  und  schlecht! 


Beim  Hinauftrieb  in  den  Karngau 
Lebe  hoch  der  alte  Brauch!  — 
Hatt'  ich  immer  Geld  im  Beutel 
Und  die  schönsten  Mädel  auch. 


E  une  di  une  di  jo  (l)and  a  messe 
'o  1'  hai  vidude  a  capitä, 
E  in  che  glesie  benedete 
O  m'  hai  finit  d"  inamorä. 


Und  eines  Tags,  eines  Tags  ging  ich 

zur  Messe: 
Da  sah  ich  das  Schönste  was  es  giebt, 
Und  in  der  lieben,  guten  Kirche. 
Da  —  hab'  ich  mich  in  sie  verliebt. 


Ti  ricuardistu,  ninine, 

Cuand  ch' o  erin  sul  rival  — 

Tra-la-la,  opla!  — 

Magari  che  '1  foss! 

Tu  has  eapadis  plui  bussadis 

Che  no  fucis  sul  cocolar! 


Gedenkst  du  noch  daran.  Geliebte, 

Wie  wir  standen  auf  der  Höh"  — 

Bopla,  juchliee!  — 

Ach,  wenn's  noch  so  war! 

Da  kriegtest  du  mehr  Bussel.  Kind. 

Als  Blätter  an  dem  Nussbauni  sind. 


Ves  chei  voi  come  dos  stelis, 
(Avetis  quegli  occhi)  (due  stelle) 
Chel  nasut  cussi  ben  fat  — 
Shnpri  alegri  e  mai  passion! 
(Lieblings-Refrain  oder  „ritornello"  vieler 
friaul.  Volkslieder). 

G. 

Cuan'  che'  1  füc  al  bruse  1'  aghe 
Ance  jö  ti  sposi  te  — 
Simpri  alegri  e  mai  passion! 


Die  Augen  wie  zwei  Sterne. 
Das  Naschen,  ach,  wie  lieb  — 
Du  verflixter  Herzendieb! 


Wirst  du's  "Wasser  brennen  seli'n, 
Werd'  ich  gleich  dich  freien  gehn. 


E  Tunin  al  e  un  biel  zovin, 
Ch'  al  sä  ben  puartä  il  capjel : 
El  merete  Teresine 
Se  no  föss  nome  par  chel. 


Tonerl  ist  ein  hübscher  Bursche, 
Tonerl  trägt  so  fesch  den  Hut: 
Er  verdient  die  hübsche  Resi, 
Schon  weil  er  sich  trägt  so  gut. 


Villotte  friulane  (Friaulische  Dorflieder). 


331 


Su  la  plui  alte  cime 

AI  je  ve'  1  soreli  a  buin  ore  — 

Ma  eheste  no  je  1'  ore 

Di  abandona  V  amorl 


Auf  höchster  Bergesspitze 
Geht  schon  die  Sonne  auf  — 
Ha,  das  ist  nicht  die  Stunde, 
Wo  ich  vom  Liebchen  lauf! 


Dait  im  tic  a  di  ehe  puarte 

Ch'  al  si  alzi  chel  saltel  (oder  „cluca" 

=  Klinke!) 
Viva  1'  amor!  — 

Che  salti  für  la  nie  morose  (mia  amorosa) 
Che  la  capi  a  brazzecuel. 

10. 

Colmi  ine,  colmi,  ninine. 
Bambinute  dal  Signor  - 
Simpri  alegri  c  mai  passion!  — 
La  passion  non  1'  hai  mai  vude, 
E  cumö  manco  che  mai! 


11. 

L'  e  tan'  timp  ch'  a  ti  oseli, 
Par  capati  sul  vergön, 
E  cumö  che  t'  hai  capade, 

Di  tinjiti  no  soi  bon! 

12. 

Un  garoful  senze  mani 
Hai  plantäd  sun  t'  un  biel  mür: 
Quan'  che  passarä  "1  mio  zovin 
AI  dirä  che  1'  e'  1  mio  cur! 

13. 

Duo  mi  disin  che  soi  biele, 
E  dis'  anc  jö  ca  no  1'  e  mal: 
Hai  une  biele  cotulute 
Lis  curdelis  sul  grimal. 

14. 

Veso  vö,  veso  vö  che  biele  fie: 
No  la  dais,  no  la  dais  a  di  nisun? 
Viva  T  amor!  — 
La  tinjiso  conservade 
Come  1'  ueli  da  la  lum! 


15. 

Dulä  sono  ches  zornadis, 
Bambinute  dal  Signor! 


Gebt  einen  Tick  (Stoss)  jener  Pforte 
Dass  sieh  aufthu'  jenes  Schloss  - 
Es  lebe  die  Liebe!  — 
Dass  herausspring'  meine  Liebste, 
Dass  ich  sie  hasche  und  umhalse. 


Nimm  mich,   nimm  mich;  mein  Schätz- 
chen, 
Herrgottskindchen  du,  juchhee!  — 

Immer  lustig,  nie  betrübt!  — 
Trauer  hab'  ich  nie  empfunden 
Und  jetzt  weniger  denn  je! 


Stellte  nach  dir  lange,  lange, 
Bis  ich  fing  dich  auf  dem  Leim  — 
Und  nun  kann  ich  dich  Gefangne, 
Ach,  nicht  halten  fest  daheim! 


Eine  Nelke  ohne  Stengel 
Steckt'  ich  an  die  Wand  zum  Scherz: 
Wann  mein  Schatz  daran  vorbeigeht, 
Wird  er  sagen,  's  ist  mein  Herz! 


Alle  sagen,  dass  ich  hübsch  sei 
Und  ich  denk',  es  dürft'  so  sein: 
Hab'  ein  neues  Unterröekchen 
Und  dazu  ein  Schürzchen  fein. 


Ja  warum,  Eure  hübsche  Tochter 
Gebt  ihr  nicht,  gebt  ihr  nicht  einem 

Mann? 
Wollt  ihr  sie  verschlossen  halten   (sich 

verzehren  lassen) 
"Wie  das  Ol  in  der  Lampe  dann? 


Ach,  wo  sind  die  schönen  Tage, 
Du  mein  (goldnes)  Gotteskind! 


332 


Schatzmayr: 


IG. 

Tra  i  rizzös  e  la  barote 
Mi  han  finit  d'inamorä, 
Tra  la  eise  e  la  mura-e 
Mi  ves  fat  inamoia! 


An  euch  Löckchen  unterm  Häubchen 
Hab'  ich,  ach,  so  viel  gedacht, 
Bis  ihr,  zwischen  Zaun  und  Mauer, 
Gänzlich  mich  verliebt  gemacht! 


17. 

(.'beste  \  iole  palidute 
Öolte  su  dal  vas  cumö, 
Jö  vei  däle  a  di  ehe  frutc 
Che'  I  so  cur  al  sedi  gnö! 


Dieses  holde  blasse  Veilchen, 
Frischgepflückt  vom  Blumenschrein, 
Will  ich  geben  jenem  Mädchen, 
Dass  ihr  Herze  werde  mein! 


18.   Screnata. 

Ance  eheste,  e  jio  voi  vie, 
In  braz  a  vö  lasci  il  mio  cur 
Simpri  alegri  e  mai  passion! 


19.   Matinata. 

El  gial  al  cante 
E  cri  che'  1  di  — 
Mandi,  ainine, 
Voi  a  durmi. 
Cur  mio  dilet 
No  sta  vai  — 
Mandi,  ninine, 
Devi  parti! 

20. 

Öolmi,  colmi,  Tramontine, 
Ch'  anee  jö  soi  Tramontin, 
Jö  vei  gioldi  la  eucagne 
Od  mistir  del  contadin. 


Stand  eben. 

Noch  dieses  (Lied),  und  dann  geh  ich 

weg, 
Im  Arme  euch  lass  ich  mein  Herz  — 
Immer  fröhlich,  und  nie  betrübt! 

Morgenlied. 

Es  kräht  schon  der  Hahn, 
Der  Tag  bricht  an  — 
Leb'  wohl,  mein  Liebchen, 
Will  schlafen  gän. 
Mein  herzig  Schätzchen, 
0  weine  nicht  — 
Leb'  wohl,  mein  Liebchen, 
Mich  ruft  die  Pflicht. 


Nimm  mich,  nimm  mich,  Älplerin, 
Denn  auch  ich  ein  Alpler  bin, 
Wollen  wie  Schlaraffen  leben, 
Bauer  ich,  du  Bäuerin. 


21. 

0  butäit  chei  fiers  in  aghe, 
O  fermait  chel  bastiment  — 
A  1'  e  dentri  '1  gnö  ear  zovin 
Ch'  al  sin  va  tan.'  malcontent! 

AI  vaive  ane  el  soreli 
Mi  mi  par  di  vi'  vidiit 
A  vede  a  fa  partenze 
Tante  biele  zoventiii. 

Dopo  il  dl  de  la  partenze 
Mi  e  scurit  duquant  il  motul, 
Je  perdude  la  speranze 
Di  vede  plui  chel  biel  front. 


Ketten  werfet,  werft  ins  Wasser, 
Haltet  jenes  Schifflein  fest, 
Das  den  Liebsten  mir  entführet, 
Der  betrübt  die  Heimat  lässt. 

Alle,  alle  mussten  weinen, 
Sonne  selbst  zu  weinen  schien, 
Als  sie  soviel  schöne  Jugend 
Traurig  sah  von  hinnen  ziehn. 

Seit  dem  schwarzen  Scheidetage 
Ist  verdüstert  mir  die  Welt  — 
Wcid'  ich  je  ihn  wiedersehen 
Der  mir,  ach,  so  wohlgefällt?! 


Villott.e  Mulane  (Friaulische  Dorflieder). 


333 


22, 

Öolmi  me,  colmi,  ninine, 
Contentine  du  saräs: 
Une  male  parauline 
Tu  da  me  no  tu  I'  oras! 


Nimm  mich,   nimm  du  mich,  mein  Lieb- 
chen, 
Dann  hast  du  das  Glück  bei  dir: 
Denn  kein  einzig  böses  Wörtchen 
"Wirst  du  hören  je  von  mir! 


("'csle  vile   no  je  une   nie. 
Je  une  ponte  di  citäd: 

Dur   i   zovins  eh'  a  son  drenti 
Son  di  Iniine  eualitäd. 

24. 

'o  soi  slade  a  Palmenjovc 
Dal  mio  solit  confessor  — 
Simpri  alegri  e  inai  passion! 
El  m'  ha  dit  ch'  a  mi  maridi, 
0,  ce  predi  dal  Signor! 


Dieses  Dörfchen  ist  kein  Dörfchen, 
Isl  ein  Städtchen,  eine  Sladt, 
Weil  die  Jugend,  die  darin  wohin, 
So  viel  Schick  und  Tugend  hat. 


Ich  bin  gewesen  zu  Palmanuova 
Bei   meinem  gewöhnlichen  Beichtvater 
Immer  fröhlich,  nie  betrübt!  — 
Er  hat  mir  gesagt,  dass  er  mich  ver- 
heiratet, 
0,  welcher  Prediger  des  Herrn! 


Diu-  i  cläs  de  tu  mura.  e 
'o  du  quanc  ju  hai  contaz  - 
Di  catäti  a  rase  solo 
Ancimö  no  1'  e  stat  eäs. 

26. 

Lait  a  rosis  in  montagne 
E  puartailis  ca  di  me: 
'o  vei  dalis  al  mio  zovin 
Che  lis  meti  sul  gilt! 

27. 

Se  savessis  fantazzinis 
Ce  ca  son  sospirs  d'amör: 
E  si  mur,  si  va  sot  tiare, 
Ancemö  si  sint  dolor. 

28. 

E  tu,  Pieri,  col  Anute, 
Ce  Rosute  la  col  jö  - 
Simpri  alegri  e  mai  passion! 
I  farin  la  panadute 
E  dirin :  co  tu,  co  jö. 

29. 

No  oress  che  '1  cur  mi  dueli, 
Che  no  vevi  gran  passion, 
A  vede  lu  me  car  zovin 
La  a  servi  Napoleon  — 


Alle  Steine  deines  Hauses 
llali'  gezahlt  ich  —  welche  Zahl! 
Könnt'  ich  dich  zuhause  treffen 
Dich  allein,  ein  einzig  Mal ! 


Pflücket  Blumen  auf  den  Bergen 
Und  dann  bringt  sie  alle  mir: 
Will  sie  geben  meinem  Liebsten 
All'  zu  seiner  Weste  Zier! 


Wenn  ihr  wüsstet,  liebe  Mädchen, 
Was  so  Liebesseufzer  sei'n: 
Ach,  man  stirbt,  man  wird  begraben 
Und  man  fühlt  sie  noch  die  Pein! 


Und  du  Peter,  nimm  das  Ännchen, 
Denn  die  Rosa,  die  ist  mein: 
Und  mm  gehn  wir  Suppe  kochen  - 
Das  ist  mein,  und  das  ist  dein. 


Und  da  soll  mir's  Herz  nicht  wehthun 
Bei  der  grossen  Passion, 
Wo  ich  seh',  dass  jetzt  mein  Liebster 
Dienet  dem  Napoleon  — 


334 


Lange: 


Jö  no  canti  di  ligrie 
Che  jö  canti  di  passiön, 
A  vedeju  du«;  a  chenti 
E  lu  miö  tarit  lontanön ! 

0  montagnis  ribassäisi, 
E  vo  stelis  fait  splendor, 
Tan  che  doi  im'  ocadine 
La  ch'  al  e  'I  mio  prim  amor! 

30. 

\ im ii'  miö,  no  fami  cuintre, 
Par  ufiei  no  vuei  lä : 
Che  se  ves  cualche  pretese, 
Dal  plevan  faimit  clamä! 

31. 

E  ehest  cä  1'  e  1  prim  garoful 
Che  da  te  'o  hai  ricevut, 
Nance  ehest  no  lu  volevi, 
Sul  capjel  mel  han  mitut! 


Ach,  ich  singe  nicht  vor  Freuden, 
Denn  mein  Sang  ist  schmerzbeseelt, 
Da  ich  seh',  dass  alle  andern 
Heim  sind  und  nur  meiner  fehlt! 

Bückt  euch,  Berge,  leuchtet,  Sterne, 
Und  ihr  Flüss'  und  Winde  eilt, 
Dass  ich  sehn  mag  und  erkunden 
Wo  denn  jetzt  mein  Liebster  weilt! 


Sei  nicht  z'wider,  Herzgeliebte, 
Vor  den  Richter  ruf  mich  nicht: 
Hast  du  was  von  mir  zu  fordern, 
Sei  beim  Pfarrer  das  Gericht! 


Schau,  das  ist  die  erste  Nelke, 
Die  mir  einer  schenken  thut, 
Und  auch  die  wollt'  ich  nicht,  andre 
Steckten  sie  mir  auf  den  Hut! 


(Fortsetzung  folgt.) 


Kleine  Mitteilungen. 


Bitten  um  Regen  in  Japan. 
Von  ß.  Lange. 

Die  Sitte,  bei  anhaltender  Trockenheit  den  Himmel  feierlich  um  Regen  anzu- 
flehen, ist  in  Japan  ebenso  verbreitet,  wie  bei  uns  in  katholischen  Ländern.  In 
verschiedenen  Geschichtsbüchern,  wie  dem  Yamatonendaiki  und  dem  Nihonki  wird 
berichtet,  dass  die  Kaiserin  Kökyoku  (642  —  Mö  n,  Chr.),  als  im  sechsten  Monat 
(nach  dem  alten  Mondkalender)  grosse  Dürre  eintrat  und  weder  die  Shinto-,  noch 
die  Buddhistischen  Götter  die  Gebete  um  Regen  erhören  wollten,  nach  dem  Flusse 
Nabuchi,  in  der  Provinz  Yamato,  ging,  zu  Himmel  und  Erde  gefleht  und  sich  an- 
betend nach  den  vier  Himmelsgegenden  verneigt  habe.  Em  starker,  fünf  Tage 
anhaltender  Regen  war  die  Wirkung  dieser  Ceremonie.  Beiläufig  sei  bemerkt, 
dass  diese  Ceremonie  der  Anbetung  der  vier  Himmelsgegenden  noch  heute,  am 
ersten  Tage  des  Jahres  vom  Kaiser  nach  alter  Weise  vollzogen  wird,  jetzt  aber 
den  Zweck  hat,  das  Unglück  im  allgemeinen  für  das  kommende  Jahr  vom  Lande 
fernzuhalten. 

Nach  der  illustrierten  Monatsschrift  für  Sitten  und  Gebräuche  (jap.  füzoku 
gakö),  die  seit  Februar  1889  erscheint,  werden  die  Bittgänge  um  Regen  in  Okuno- 
mura,    einem  Dorfe  im  Kanagawaken,   also  nicht  weit  von  der  Hauptstadt  Tokyo, 


Kleine  Mitteilungen.  335 

in  ganz  eigentümlicher  Weise  abgehalten  Die  männliche  Bevölkerung  des  Dorfes, 
Alt  und  Jung,  versammelt  sieh  vormittags  9  Uhr  in  dem  zum  Tempel  des  buddhisti- 
schen Gottes  Pudö  gehörigen  Bezirk,  indem  sich  alle  mit  Speisen  versehen.  Dort 
ziehen  sie  nun  in  grossen  Haufen  umher,  an  der  Spitze  ein  Sbintöpriester,  dann 
ein  Mann,  der  auf  einer  grossen  Muschel  (ora)1)  bläst  und  hinter  ihm  zwei  bis 
drei  Leute  mit  einem  grossen  künstlich  gefertigten  Drachen'-).  Der  Kopf  dieses 
Tieres  besteht  aus  Gerstenstroh,  die  Ohren  sind  aus  schräg  abgeschnittenen  Bambus- 
rohren, die  Augen  aus  Papierkiigelchen,  auf  die  man  in  der  Mitte  schwarze  Punkte 
gemacht,  der  Bart  aus  den  langen  Blättern  einer  Schilfart  und  die  Schuppen  aus 
den  Blättern  einer  Magnolie  (jap.  hö  no  ki).  Zu  beiden  Seiten  gehen  vier  oder 
acht  Leute  mit  Papierfahnen,  auf  denen  unter  anderm  haohi  ryü  ö  „acht  Drachen- 
könige"  geschrieben  ist,  dann  folgen  1 — 2  Leute  mit  einer  grossen  Pauke,  die  von 
einem  oder  zwei  Leuten  geschlagen  wird.  Nun  schliessen  sich  die  andern  in 
bunter  Reihe  an  und  singen  die  Worte:  O  Sake  no  kurokumo  nishi  kara  ame  ga 
futte  kuru:  Schwarze  Wolke  auf  dem  Gipfel;  vom  Westen  her  kommt  der  Regen. 
Dann  wirft  man  den  Drachen  in  einen  Wasserfall  bei  dem  Tempel  und  nun  be- 
ginnt ein  allgemeines  Zechen,  das  bis  7  Uhr  abends  fortgesetzt  wird.  Hilft  dies 
alles  nichts  und  bleibt  der  Regen  trotzdem  aus,  so  wird  noch  eine  andere  Cere- 
monie,  die  des  Tanzes  der  drei  Löwen  (sambiköjishi)  dazu  gegeben  und  diese 
hilft  dann  auf  jeden  Fall. 

Die  Beschreibung  dieses  Tanzes  findet  sich  in  Nr.  18  der  erwähnten  Sitten- 
zeitung. Diese  Löwentänze,  auch  jübakojishi.  d  h.  „Übereinanderstehende  Kästen- 
Löwen"  genannt,  werden  in  allen  Dürfern  des  Kreises  Saitama  in  der  Provinz 
Musashi  an  bestimmten  Tagen  im  August  und  September  zur  Abwehr  ansteckender 
Krankheiten  getanzt.  Man  errichtet  zu  diesem  Zwecke  an  vier  Ecken  vier  frische 
Bambusstangen,  verbindet  die  Spitzen  durch  ein  Strohseil  und  stellt  an  den  vier 
Ecken  junge  Mädchen  von  12 — 13  Jahren  auf,  die  viereckige  Kästen  mit  Blumen 
auf  dem  Haupte  tragen.  Von  dem  Gestell  hängen  zu  allen  vier  Seiten  Tücher 
herunter,  die  bis  zu  den  Hüften  der  Mädchen  reichen.  In  den  Händen  halten  sie 
zwei  gespaltene  Bambusstäbchen  (sasara),  die  sie  aneinander  reiben  und  mit  denen 
sie  ein  eigentümliches  Geräusch  hervorbringen.  Diese  Mädchen  heissen  daher 
„die  Sasara-Reiberu.  Drei  Männer  erscheinen  als  Löwen  verkleidet,  sie  tragen 
einen  löwenähnlichen  Kopfputz  und  ein  auf  die  Hüften  herabhängendes  Fell.  Zwei 
von  ihnen  haben  am  Hinterhaupt  Hörner.  der  dritte  eine  Kugel,  die  einen  Edel- 
stein vorstellen  soll.  Sie  tragen  alle  drei  eine  Trommel,  nach  deren  Musik  sie 
tanzen.  In  der  Einfriedigung  befindet  sich  ausserdem  ein  Mann  mit  einer  Maske 
und  einem  Fächer  (uchiwa),  der  sogenannte  Fliegenjäger  (hai  oi).  Er  hat  die  Auf- 
gabe, die  Leute  durch  sein  komisches  Benehmen  zum  Lachen  zu  bringen;  ferner 
ein  zweiter,  der  passende  Lieder  zum  Tanz  singt.     Hinter  dem  letzteren  steht  ein 


1)  Diese  Muschel  wird  bis  zu  2  Fuss  lang,  ist  von  weisslich-gelber  Farbe  und  rötlich 
gefleckt.  Ihr  Fleisch  ist  essbar.  Früher  verwendete  man  diese  Muschel  auch  im  Kriege 
zu  Signalen,  weshalb  sie  auch  jingai  „Kriegsnmschel"  heisst.  Auch  die  yamabusti  oder 
stögenja  eine  Untersekte  der  Shingonsekte  bedienten  sich  der  hora,  ursprünglich  vielleicht, 
um  damit  wilde  Tiere  zu  verjagen. 

2)  Dieses  Fantasietier  wird  in  China  und  Japan  als  Schlange  mit  Hörnern  auf  dem 
Haupte  dargestellt  und  türmt  nach  dem  Volksglauben  Regen  erzeugende  Wolken  auf. 
Eine  Unterart  desselben  hat  den  Namen:  amaryö.  d.  h.  Regendrachen,  ist  gelbgrün,  hat 
keine  Hörner,  einen  spitzen  Kopf,  ähnlich  einem  Seepferdchen  und  einen  langen  dünnen 
Schwanz.     Das  Bild  desselben  findet  sich  öfters  in  Wappen. 

Zeitschrift  d.  Vereins  I.  Volkskunde.     1893.  23 


336  Dirksen: 

Flötenbläser.     Die  Arten    der  Tänze    sind    verschieden,    im  ganzen  giebt  es  jetzt 
neun,  früher  zwölf,  die  auch  verschiedene  Namen  tragen. 

Die  den  Tanz  begleitenden  Lieder  sind  wegen  des  Dialektes  auch  für  die 
Japaner  schwer  zu  verstehen.  Ich  führe  eins  davon  an.  das  zum  Mikomai-Tanz 
gesungen  wird: 

mawari  ya  kurunia.  mawari  ya  kurunia. 

kuruma  no  gotoku  ni  hikimawasayona.   hikimawasayona. 

Kono  yama  ni  taka  ga  sumugede  suzu  no  oto, 

taka  ga  gozaranu  o  kagura  no  oto. 

Hi  mo  kureru.  michi  no  mezasa  ni  tsuyu  mo  hiru 

o  itoma  mösh'te  iza  kaesayona,  iza  kaesayona. 

Dreh'  herum  dich,  Rad;  dreh'  herum  dich,  Rad, 

Wie  das  Rad  herum  sich  drehet,  führt  fdie  Löwen]  rings  herum,  führt  [die 

Löwen]  rings  herum. 

In  den  Bergen  hier  scheint  ein  Falk'  zu  weilen,  [da]  ertönt  die  Schelle. 

Doch  es  ist  kein  Falke,  die  Musik  ertönet  zu  dem  Göttertanze. 

Hin  geht  schon  der  Tag:    an  dem  kleinen  Bambus  auf  den  Wegen  schwindet 

schon  der  Tau. 

Nehmet  Abschied  jelzo,  führet  heim  [die  Löwen],  führet  heim  [die  Löwen]! 


Asav  mal  Gemir. 

Ostfriesisches    Mä  r  c  hcn. 
Mitgeteilt  von  Karl  Dirkseu. 

Dar  was  n  mal  'n  köpman.  de  har  dre  dogters;  de  jüngste  hede  Gemir.  En- 
mal  will  de  köpman  up  reise,  do  frög  he  de  oldste  fan  sin  dogters.  wat  he  hör 
mitbrengen  sul.  De  se:  Breng  mi  'n  moje  höd  mit!  De  twede  se:  Breng  mi  "n 
moje  kled  mit!  As  he  im  sin  jüngste  dogter  frög,  de  he  am  lefsten  liden  mug, 
se  se:  Spärd  jo  geld  man:  ji  bruken  mi  niks  mitbrengen.  —  As  de  fader  hör  nu 
absliit  wat  mitbrengen  wul,  do  se  se:  Dan  brengd  mi  n  witte  rose  mit!  —  Do 
n;ira    de    köpman  ofsched   fan  sin  dogters  un  gung  up  reise.    As  he  sin  gescheit 

irgd  har,  do  köfde  he  för  sin  oldste  dogter  de  möiste  höd,  de  he  krigen  kuii 
un  för  de  twede  en  hei  moi  kled:  nu  kirn  he  aber  för  sin  jüngste  dogter  de  uiue 
rose  net  krigen.  Up  de  terügreise  kwam  he  an  'n  gröt  slös  förbi.  För  dat  slös 
lag  'n  grote  gärden,  un  in  de  gärden  bleiden  de  möiste  witte  rosen.  Do  gung  he 
in  dat  slös  un  wul  fragen,  of  he  sük  man  'n  rose  ofplükken  düs.  He  sögde  dat 
hele  slös  dör  un  kun  nüms  finnen.  De  ene  kamer  was  nog  mojer  as  de  anner. 
In  en  kamer  was  de  tal'el  dekd,  un  dat  lekkerste  eten  stun  derup.  Därfan  at  de 
köpman  sük  sat;  dan  gung  he  weg  un  pliikde  sük  'n  witte  rose  of.  As  he  dat 
dän  har.  kwam  up  enmäl  "n  gröt  under  up  hum  lös,  de  se,  wo  he  sük  unnerstän 
kun  un  plükken  dar  'n  rose  of:  därför  sul  he  hum  sin  jüngste  dogter  gefen,  anners 
wul  he  hum  upfreten.  In  sin  angst  fersprök  he  hum  sin  lefste  kind.  As  de  köp- 
man nu  in  hüs  kwam.  do  fertelde  he  al's  un  ök,  wo  hum  't  gän  was  mit  de  witte 
rose.  Se  wassen  alle  regt  trürig:  aber  de  jüngste  dogter  se,  darum,  wil  hör  fader 
dat  segt  har,  wul  se  gän. 

En  pär  dage  later  liul  'n  wagen  för  de  köpman  sin  hus;  darin  sat  dat  under 
im  hol  de  köpman  de  jüngste  fan  sin  wigter  of.  un  brog  hör  na  sin  slös.    Sc  har 


Kleine  Mitteilungen.  337 

dar  en  hei  god  lefen;  al's  wat  se  gern  har,  kun  se  krigen.  Un  dat  ander,  wat 
Asar  hede,  was  altid  bi  hör;  nachts  slep  he  för  hör  bedde,  un  wen  se  in  de  'tun 
keierde,  dan  keierde  he  rnit  hör.  Enmal  keierde  se  nu  6k  in  de  tun  un  mit  en- 
mäl  wus  se  net,  war  dat  under  blefen  was.  Därofer  wur  se  hei  triirig  un  in  hör 
benaudheid  rep  se:  „Asar,  ik  beniin  u!u  —  Köm  har  se  dat  segt.  do  stun 'n  moje 
prins  för  hör,  de  frog  hör,  of  se  sin  frau  wesen  wul;  he  was  dat  der  west  im 
was  nu  wer  n  minske  worden.  Bold  derup  Aren  se  im  6k  hogtid;  un  hör  fader 
un  süsters  kwammen  6k,  un  de  freide  was  grot,  im  se  lefden  hei  glükkelk  mit- 
nander. 

Eine  der  vielen  Varianten  des  Märchens  vom  Tierbräutigam,  dem  Kattenstedter 
Märchen  vom  Wolf  mit  dem  Wockenbriefe  verwandt  (Zeitschrift  III.  S.  189—95),  aber  weit 
näher  der  Gruppe,  welche  oben  S.  198  f.  aufgeführt  ist. 


Zu  dem  Beitrag  von  K.  Yoretzsch  (Zeitschr.  III,  176  ff.). 

1. 

Zu  Lied  Nr.  9  (Mein  Schatz,  der  ist  im  Kriege)  macht  mich  Professor  Suchier 
darauf  aufmerksam,  dass  dasselbe  eine  —  ziemlich  genaue  —  Nachbildung  des 
Ende  vorigen  Jahrhunderts  wohlbekannten  und  weitverbreiteten  ,Malbrough  s'en 
va-t-en  guerre'  ist.     Die  erste  Strophe  lautet: 

Malbrough  s'en  va-t-en  guerre, 
Mirouton,  mirouton,  miroutaine 
Malbrough  s'en  va-t-en  guerre, 
Ne  sait  quand  reviendra. 

S.  das  Lied  vollständig  bei  Louis  Montjoie,  Chansons  populaires  de  la  France 
anciennes  et  modernes.    Paris,  Garnier  Freres  (s.  a.)  S.  24  ff.  und  anderwärts. 

S.  186,  Lied  IIb.  Str.  3,  1    weissen  lies:  braunen. 

S.  188,  Lied  14,  Str.  3,  4  lies:  Noch  zum  letzten  Abendmahl. 

ebenda  4,  1  lies:  Dessen. 

S.  189,  Lied  15,  Str.  1,  4  allzu  lies:  allzeit, 

ebenda  5,  2  naht  lies:  sprach.  Karl  Voretzsch. 

2. 

Oben  S.  183  bemerkt  Voretzsch,  dass  das  Lied  „Die  Sonne  steht  am  Himmel, 
Mit  ihr  da  schied  die  Schlacht,"  Hruschka  und  Toischer,  D.  Volksl.  aus  Böhmen, 
Prag  1891,  S.  84,  sonst  unbekannt  zu  sein  scheine.  Der  Herausgeber  der  Zs.  hat 
indes  in  einer  Anmerkung  darauf  hingewiesen,  dass  ihm  das  Lied  in  einer  Auf- 
zeichnung aus  dem  Spessart  vorliegt.  Ich  selbst  habe  im  letzten  Jahre  1892  die 
beiden  ersten  Strophen  des  Liedes  aus  dem  Munde  eines  Knaben  in  Gries  am 
Brenner  aufgezeichnet.  Leider  wusste  er  nicht  mehr.  Ich  gebe  die  zwei  Strophen 
in  der  zum  Teil  etwas  entstellten  Form  wieder,  in  der  sie  der  Knabe  vorsagte. 

Die  Sonne  sank  im  Westen, 
Mit  ihr  entschwand  die  Schlacht, 
Sie  senkt  hinab  den  Schleier 
Mit  ihr  die  dunkle  Nacht. 

23* 


338  Weinhold: 

Und  mitten  unter  Toten 
und  sterbend  ein  Soldat 
Und  ihm  zu  seiner  Seite 
Sein  treuster  Kamerad. 

Wenn  ich  mich  recht  erinnere,  sagte  mir  der  Knabe,    dass  er  das  Lied  von 

einem  beurlaubten  Soldaten  gehört  habe.  Vermutlich  ist  es  in  Österreich  weiter 
verbreitet. 

München.  A.  Englert. 


Bücheranzeigen. 


The  international  Folk-lore  Congress  1891.    Papers  and  Transactions. 

Edited  by  Joseph  Jacobs  and  Alfred  Nutt,  Chairman  and  Hon 
Secretary  of  the  Literary  Oommittee.  London,  D.  Nutt,  1892.  S.  XXLX. 
472.    8°" 

Das  stattliche,  kürzlich  ausgegebene  Buch  ist  ein  schönes  Denkmal  des  im 
Jahre  18'J1  vom  1.  bis  7.  Oktober  in  London  gehaltenen  zweiten  Internationalen 
Folklore -Kongresses.  Es  enthält  den  geschäftlichen  Bericht,  die  Protokolle  und 
Verhandlungen.  An  die  Spitze  stellt  sich  die  Eröffnungsrede  des  Präsidenten 
A.  Lang.    Dann  folgen  die  Vorträge  der  vier  Sektionen. 

1.  Folktale  Section:  Rede  des  Vorsitzenden  E.  S.  Hartland:  W.W.Xewell, 
Lady  Featherflight,  ein  unbekanntes  Volksmärehen:  E.  Cosquin,  Quelques  observa- 
tions  sur  les  Incidents  communs  aux  contes  europeens  et  aux  contes  orientaux; 
J.  Jacobs,  Die  Wissenschaft  der  Volksmärchen  und  die  Frage  ihrer  Verbreitung, 
mit  einem  Anhang:  List  of  Folktale  Incidents  —  mit  bibliographischen  Nach- 
weisungen  und  einer  kleinen  Karte;  Mac  Ritchie,  The  historical  aspect  of  folk- 
lore  (etwa:  Geschichtliches  wied ergespiegelt  in  der  Volksüberlieferung);  A.  Nutt. 
Probleme  der  Heldensage;  J.  Krohn,  Das  Volkslied  in  Finnland. 

2.  Mythological  Section:  Rede  des  Vorsitzenden  John  Rys;  Ch.  Foix. 
Der  Odysseusmythus  (französisch);  Ch.  Leland,  Etrusko- römische  Reste  in  der 
heutigen  toskanischen  Überlieferung:  W  R  Paton.  Die  heiligen  Namen  der 
eleusinischen  Priester;  J.  S.  Stuart- Gl ennie,  Die  Ursprünge  der  Mythologie: 
Ms.  Mary  Owen,  Unter  den  Voodoos:  J.  E.  Crombie,  Der  Aberglaube  vom 
Speichel. 

3.  Institution  and  Custom  Section:  Rede  des  Vorsitzenden  Fr.  Pollock; 
M.  Winternitz,  Über  das  vergleichende  Studium  der  indo-europäischen  Hochzeit- 
gebräuche (englisch!);  F.  Hindes  Groome,  Der  Einfluss  der  Zigeuner  auf  den 
englischen  Aberglauben;  C.  L.  Tupper,  Indische  Einrichtungen  und  das  Lehns- 
wesen; F.  B.  Jevons,  Das  Zeugnis  der  Volkskunde  für  den  europäischen  oder 
asiatischen  Ursprung  der  Arier;  G.  L.  Gomme,  Der  nicht-arische  Ursprung  der 
Ackerbau -Gebräuche;  J.  S.  Stuart- Gl  ennie,  Der  Ursprung  der  Sitten:  A.  W. 
Moore,  Der  Tinwald  (pingvollr)  auf  der  Insel  Man. 

4.  General  Theory  and  Classification  Section.  E.  B.  Tylor,  Aus- 
stellung   von    Zaubermitteln    und    Anmieten;    Lady  Welby,    Die  Bedeutung  der 


Bücheranzeigen.  339 

Volkskunde;  Hugh  Nevill,  Singalesische  Volkskunde;  W.  F.  Kirby,  Über  den 
Fortgang  der  volkskundlichen  Sammlungen  in  Esthland ;  Ella  de  Schoultz- 
Adajewsky,  Über  den  verstorbenen  Dr.  G.  J.  Schoultz. 

Darauf  folgt  ein  Katatog  von  ausgestellten  Gegenständen  (mit  Abbildungen), 
ein  Programm  von  Unterhaltungen  und  zum  Schluss  ein  Register. 

Den  meisten  Vorträgen  folgte  eine  Diskussion,  über  die  protokollarisch  be- 
richtet wird. 

Interessant  sind  namentlich  die  principiellen  Auseinandersetzungen  zwischen 
den  Herren  Andrew  Lang,  Joseph  Jacobs  und  Emmanuel  Cosquin.  K.  W. 


Uppsalajstudier  tillegnade  Soplius  Bugge  pä  lians  60-ära  födelsedag  den 

5   Januari    1893.     Uppsala   1892.    Almqvist   og  Wiksells  Boktryckeri 

(C.  L.  Lundström  Bokhandel.).     S.  236.    8°. 
Germanistische    Abhandlungen,    zum   LXX.   Geburtstage   Konrad   von 

Maurers  dargebracht.    Göttingen,  Dietrichsche  Verlags -Buchhandlung 

1893.    S.V.  554.    8°. 

Zwei  schöne  grosse  Rücher,  jedes  durch  eine  Vereinigung  dankbarer  gelehrter 
Männer  als  Festgabe  ihren  gefeierten  Lehrern  zu  ihrem  Geburtstage  gewidmet! 
Das  eine  von  schwedischen  Gelehrten  dem  bedeutenden  Norweger  Sophus  Bugge 
bei  Vollendung  des  60.  Jahres  dargebracht;  das  andere  von  Deutschen,  Isländern, 
Dänen,  Norwegern  unserm  Konrad  von  Maurer  in  München  zum  29.  April  1893, 
seinem  siebzigsten  Geburtstage,  zugeeignet. 

Sophus  Bugge  als  Philologe  und  Mythologe  fruchtreich  thätig  —  Konrad 
von  Maurer,  der  gelehrteste  Kenner  und  Lehrer  des  nordischen  Rechtes,  hoch- 
verdient um  die  Kunde  des  skandinavisch -isländischen  Altertums  —  wie  sie  auch 
durch  ihre  Persönlichkeit  weithin  gewirkt  haben,  erscheint  in  diesen  zwei  Bänden. 
Berührt  der  Inhalt  derselben  die  Volkskunde  auch  nur  teilweise,  so  zeigen  wir  sie 
doch  freudig  hier  an,  um  so  mehr,  als  Konrad  von  Maurer  unserm  Verein  von 
Anfang  an  mit  wohlwollender  thätiger  Teilnahme  angehört  und  diese  Zeitschrift 
wiederholt  durch  wertvolle  Beiträge  ausgezeichnet  hat. 

Die  Uppsalastudien  enthalten  folgendes: 

R.  Arpi,  Zur  Graugans.  E  Brate,  Über  das  altschwedische  Wort  själ  (Seele). 
K.  F.  Johansson,  Zur  Lehre  von  der  Femininbildung  im  Sanskrit.  0.  Klock- 
hoff,    König    Harald    und    Heming;     Versuch    in    vergleichender   Sagenforschung. 

E.  Liden,  Kleine  sprachgeschichtliche  Beiträge.  E.  H.  Lind,  Versifikation  im 
Gulatingslag.  M.  Lundgreen,  Beitrag  zur  schwedischen  Namensforschung.  L.  F. 
Läffler.  Beitrag  zur  Erklärung  der  Runeninschrift  auf  dem  Tunestein.  A.  Noreen. 
Mythische  Bestandteile  im  Ynglingatal:  1.  Fiolner;  2.  Sveigder;  3.  Vanland,  Vis- 
burr.  Agne;  4.  Dömarr-Yngve.  P.  Persson,  Über  Bedeutung  und  Ableitung  von 
gr.  ajuaupo'c,  y.a.-'jpo;  mit  einem  Exkurs  über  griech.  und  indoeurop.  u-Epenthese. 
A.  Schager ström,  Lexikalische  und  stilistische  Bemerkungen  zu  Gustav  II. 
Adolfs    Schriften.      R.    Steffen,    Einstrophige    Liedchen    in    unserer    Volkslyrik. 

F.  Tamm,  Anmerkungen  zum  Ostgotalag.  E.  Wadstein,  Alfer  und  älvor.  Eine 
sprachlich -mythologische  Untersuchung. 

Im  Maurerschen  Geburtstagsbuch  finden  wir  folgende  Abhandlungen: 

0.    Brenner,     Die    Überlieferung    der    ältesten    Münchener    Ratssatzungen. 

F.  Dahn,  Zum  merovingischen  Finanzrecht.  C.  Gareis,  Bemerkungen  zu  Karls  d.Gr. 

Capitulare  de  villis.    W.  Golther,  Zur  Faereyingasaga.    Valtyr  Guömundsson, 


340  Meyer: 

Manngjöld-hundraeV.  E.  Hertzberg,  Len  og  veitsla  in  Norges  sagatfd.  Finnur 
Jonsson,  Um  pulur  og  gätur.  K.  Lehmann,  Das  Bahrgericht.  Kauffriede  und 
Friedensschild.  E.  Mayer,  Zoll,  Kaufmannschaft  und  Markt  zwischen  Rhein  und 
Loire  bis  in  das  13.  Jahrhundert.  B.  M.  Olsen,  Sundurlausar  hugleiolngar  um 
stiörnarfar  Islendinga  ä  pjöffveldistimanum.  A.  Petersen,  Oni  indraaning  i  Danmark 
indtil  Christians  V.  Danske  Lov.  V.  A.  Secher,  Om  skurdsmaend  eller  skurs- 
naevninger  og  om  udmseldelsen  af  ransnaevninger  pa  landet  i  Jylland.  Ph.  Zorn, 
Die  staatsrechtliche  Stellung  des  preussischen  Gesamtministerium. 

Einen  sehr  willkommenen  Schmuck  des  Buches  bildet  das  ausgezeichnete 
Porträt  Konrad  von  Maurers  in  Lichtdruck. 

Mögen  beide  hochverdiente  Männer  noch  lange  im  Sonnenschein  wandeln  und 
wirken!  K.  Weinhold. 


J.  Macdonald ,  Religion  and  Mytli.    London,  David  Xutt,  1893.    XIQ  und 

240  S.    gl-.  8°. 

Während  nach  der  Vorrede  der  Verf.  nur  beabsichtigt,  in  populärer  Form  eine 
Anzahl  von  Thatsachen  aus  dem  religiösen  und  socialen  Leben  afrikanischer 
Stämme  mitzuteilen,  versucht  in  Wirklichkeit  sein  Buch  an  der  Hand  dieser  That- 
sachen gleichzeitig  eine  allgemeine  Entwicklungsgeschichte  von  Religion  und 
Mythus  zu  entwerfen.  Es  geschieht  dies  in  der  Weise,  dass  eine  Anzahl  von  Ge- 
bräuchen der  M.  wohlbekannten  Negervölker  in  anschaulicher  Weise  vorgeführt 
und  dann  regelmässig  mit  fortlebenden  Sitten  und  Anschauungen  aus  seiner 
schottischen  Heimat  verglichen  werden  (S.  79  —  80.  90.  95.  107.  140.  153.  180. 
191.  197.  211.  212).  —  Das  allgemeine  Schema  der  Religionsgeschichte,  wie  der 
Verf.  es  sich  denkt,  ist  originell  und  merkwürdig  genug.  Er  macht  die  aber- 
gläubische Verehrung  eines  als  allmächtig  angebeteten  irdischen  Herrschers  zum 
Ausgangspunkt.  Der  König  wird  eben  deswegen  für  alles  Unglück  verantwortlich 
gemacht  und  sobald  sieh  Zeichen  eines  erlahmenden  Einflusses  zeigen,  als  wert- 
loser Fetisch  bei  Seite  geworfen.  Allmählich  gelingt  es  ihm,  die  hiermit  ver- 
bundenen Gefahren  abzuschütteln,  indem  er  für  sich  Stellvertreter ,  opfern  lässt. 
So  gehen  die  Funktionen  des  Königs,  als  des  ursprünglichen  Regenten  der  Sonne, 
der  Fruchtbarkeit,  des  Krieges  an  bestimmte  „Götter"  über  und  es  entsteht  eine 
Scheidung  zwischen  guten  und  bösen  Geistern.  Vor  dem  Bösen  sucht  man  sich 
durch  allerlei  Zaubermittel  und  zuletzt  durch  regelmässige  Teufelaustreibung  zu 
sichern.  Dadurch  erhalten  Zauberer,  Propheten,  Medicinmänner  ungeheure  Macht. 
Aber  überhaupt  wird  das  ganze  Leben  der  Naturvölker  von  diesen  Anschauungen 
beherrscht;  ihre  Behandlung  der  Frauen,  so  gut  wie  ihre  Mythen,  sind  von  dem 
jedesmaligen  Standpunkt  innerhalb  jener  stetigen  Entwicklung  aus  zu  beurteilen. 
Nichts  ist  daher  falscher,  als  den  Negern  die  Religion  abzusprechen;  vielmehr 
durchdringt  diese  ihre  Gewohnheiten  bis  in  das  Kleinste  (S.  173 — 184). 

Dass  dies  von  Macdonald  gegebene  allgemeine  Entwickelungsschema  viel  An- 
hänger finden  wird,  ist  mir  nicht  wahrscheinlich.  Sein  Ausgangspunkt  ist  ein 
höchst  bedenklicher  und  die  Anordnung  der  weiteren  Phasen  nicht  selten  recht 
willkürlich.  Dagegen  wird  man  nur  dankbar  sein  können  für  die  Fülle  der  mit 
entschieden  schriftstellerischem  Geschick  mitgeteilten  Thatsachen.  Viele,  die  Afrika 
betreffen,  sind  freilich  aus  bekannten  Werken  entlehnt,  wobei  der  Verf.  in  eng- 
lischer Weise  citiert.  d.  h.  sich  mit  Nennung  des  Autors  begnügt.  Aber  viele  hat 
er  selbst  erlebt  und  die  schottischen  Parallelen  vom  Mund  anschaulich  geschilderter 
Gewährsmänner  entnommen.     Nur  selten  greift  er  über  jene  Gebiete  hinaus.  z.B. 


Bücheranzeigen.  341 

bei  Erwähnung  der  Mais-,  Reis-  und  Kartoffelgöttinnen  Perus  (S.  139).  Asiatische 
und  afrikanische  Religionsart  werden  (S.  108)  als  grundverschieden  kontrastiert, 
während  sonst  doch  die  vermeintliche  Entwiekelung  der  Neger-Religionen  als  all- 
gemeine Norm  genommen  wird. 

Von  Einzelheiten  hebe  ich  hervor  den  Besuch  beim  Hexendoktor  mit  der 
mehrmaligen  Frage  (S.  119),  die  Parallelen  über  den  Gebrauch  von  Gifttränken 
zum  Gottesurteil  (S.  118).  über  Aufbewahrung  und  Fang  der  Seele  (S.  151).  über 
den  Geistlichen  im  Schill  (vergl.  die  Episode  der  Nibelungennot;  S.  170),  über  das 
Speien  als  religiösen  Akt  (S.  170),  über  Meleager-  und  Wielandsagen  (S.  187  f., 
191),  über  das  Vermeiden  des  Sonnenstrahls  (S.  196 — 97). 

Den  Schluss  bildet  eine  allgemeine  Betrachtung  über  die  Entwickelungsstufe 
der  Neger  (S.  209),  ihre  Moral  (S.  207)  und  Schamhaftigkeit  (S.  209).  Die  milde 
Humanität  des  Urteils  erinnert  an  die  analogen  Auffassungen  von  Waitz  und 
Peschel.  Ebenso  hält  auch  bei  der  Beantwortung  der  Frage  nach  der  Zukunft  der 
Naturvölker  Macdonald  sich  von  jeder  doktrinären  Einseitigkeit  frei  und  spricht 
insbesondere  sich  scharf  gegen  jene  Lehre  aus,  alles  sei  gut,  wenn  der  Neger 
arbeiten  lerne  (S.  221)  Die  psychologischen  Schwierigkeiten  der  Bekehrung  werden 
mit  liebevollem  Eingehen  erörtert  (S.  224  f.)  und  gewisse  Grundlagen  für  die  Er- 
ziehung der  Naturvölker  gegeben  (S.  331).  Und  indem  er  die  Bedeutung  der  ver- 
gleichenden Religions  -  Geschichte  gerade  auch  für  die  Missionen  hervorhebt, 
schliesst  der  Verf.  mit  einem  hoffnungsvollen  Ausblick  das  Werk,  das  durch  seine 
freie  Denkart,  wie  durch  die  von  frischem  Humor  erfüllte  Darstellung,  zu  den 
liebenswürdigsten  Büchern  seiner  Art  gehört. 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 


Incautamenta  magica  graeca  latiiia.  Collegit  disposuit  edidit  Ricardus 
Heim.  (Ex  supplem.  LXX.  annal.  philolog.  seorsum  expressa.)  Lipsiae, 
B.  G.  Teubner.  1892.    8°. 

Es  ist  dankenswert ,  dass  die  von  Herrn  R.  Heim  veranstaltete  Samm- 
lung griechischer  und  lateinischer  Segen  -  und  Beschwörungsformeln  aus  dem 
19.  Supplementbande  der  Fleckeisenscher.  Jahrbücher  für  Philologie  besonders  ab- 
gedruckt und  im  Buchhandel  allen  denen  leicht  zugänglich  gemacht  worden  ist, 
die  sich  für  das  weite  Gebiet,  zu  dem  sie  gehören,  interessieren.  Es  sind  beson- 
ders segnende,  heilende  Formeln,  die  hier  gesammelt  vorliegen,  ferner  kleine  In- 
schriften auf  Anmieten.  Der  Herausgeber  ist  bei  seiner  Arbeit  durch  H.  Usener 
mehrfach  unterstützt  worden.  Für  eine  vergleichende  Behandlung  der  überall 
reichlich  vorhandenen  Sprüche  und  Segen  ist  ein  beememes  Hilfsmittel  hiermit 
geboten,  das  wir  dankend  entgegennehmen. 


Macritcliie,  David,  The  Underground  life.  Edinburgh:  privately  printed  1892. 

S.  47.    8°.    (Mit  Abbildungen.) 

Die  kleine  Schrift  bringt  weitere  Beiträge  des  emsigen  schottischen  Altertums- 
forschers über  die  unterirdischen  alten  Steinbauten,  an  denen  Schottland  und  Irland 
nicht  arm  sind.  Es  ist  eine  Ergänzung  von  thatsächliehem  Material  zu  einer  früheren 
Schrift  des  Herrn  D.  Macritcliie,  die  unter  dem  Titel  The  testimony  of  tra- 
dition  1890  zu  London  (bei  Regan  Paul,  Trench,  Trübner  &  Co.)  erschien,  und  zu 
einem  Vortrag  über  Fians,  Fairies  and  Picts.  gehalten  in  der  Folklore  Societj 


342  Weinhold: 

am  10.  Februar  1892.  Der  Verfasser  knüpft  an  die  Volksüberlieferung  an,  dass 
jene  uralten  Bauten  einem  ausgestorbenen  Volke  angehörten  und  bringt  die  Zwerge 
und  die  Feen,  d.i.  die  elbischen  "Wesen,  mit  den  sagenhaften  Feens  und  Pechts 
in  Verbindung.  Bekanntlich  hat  auch  deutsche  volkstümliche  Auffassung  Hünen, 
Riesen  und  Zwerge  oder  Unterirdische  für  eine  teils  riesen-,  teils  zwerghafte  Ur- 
bevölkerung gehalten  und  nicht  alle  Antiquare  haben  den  Kopf  dazu  geschüttelt, 
denn  was  ist  von  den  , Altertumsforschern"  nicht  alles  geglaubt  und  behauptet 
worden. 


Bayerns  Muudarten.  Beiträge  zur  deutschen  Sprach-  und  Volkskunde. 
Herausgegeben  von  Dr.  Oskar  Brenner  und  Dr.  August  llart- 
mann.    Band  H.  Heft  1.    München.  Christian  Kaiser.  1893.  S.  160.  8°. 

Diese  Zeitschrift,  deren  ersten  Band  wir  früher  (Zeitschr.  I.  345.  II.  210)  an- 
zeigten, war  wegen  geringer  Teilnahme  ins  Stocken  geraten.  Nun  wagen  Verleger 
und  Herausgeber  die  Fortsetzung  in  langsameren  Fristen  der  Hefte.  Möchten  sie 
ihre  Hoffnung  auf  besseren  Fortgang  erfüllt  sehen. 

In  dem  vorliegenden  Heft  II,  1  bilden  den  bedeutendsten  Beitrag  die  zwei 
Regensburger  Fastnachtspiele:  das  erste,  das  Schreinerspiel,  1618  in  Regensburg 
von  den  Schreinern  aufgeführt  und  von  dem  Schreiner  Stephan  Eg]  gedichtet  und 
eingeübt,  ein  Bild  aus  dem  Zunftleben,  dessen  Thema  der  Streit  zwischen  Meister 
und  Gesellen  um  die  Arbeit  bei  Licht  ist.  Das  zweite  kürzere  Spiel,  Von  dem 
Hansel  Frischen  knecht.  ist  ein  bäurisches  Charakterbild  aus  selber  Zeit,  frisch 
und  voll  Humor,  meist  im  niederbayerischen  Dialekt.  Die  Handschrift  rührt  auch 
von  St.  Egl  her,  der  aber  nicht  der  Verfasser  zu  sein  scheint.  Aug.  Hartmann  hat 
beide  Spiele  mit  Erläuterungen  und  einzelnen  Erklärungen  so  sorgfältig  ausgestattet, 
als  wir  es  von  ihm  gewohnt  sind.  Auch  0.  Brenner  hat  sich  um  das  neue  Heft 
verdient  gemacht.  Sonst  begegnen  wir  den  früheren  Mitarbeitern  C.  Franke, 
H.  Gradl,  Himmelstoss.  Xeubauer,  Rothbart.  Wir  machen  alle,  die  sich  für  Volks- 
mundarten und  Volksleben  interessieren,  auf  Bayerns  Mundarten  aufmerksam, 
und  empfehlen  sie  namentlich  auch  den  Bibliotheken,  besonders  den  bayerischen, 
zur  Anschaffung.  K.  Weinhold. 


Müller,  Willibald,    Beiträge   zur   Volkskunde   der    Deutschen   in    Mähreu. 
Wien  und  Olmütz.    Verlag  von  Karl  Gräser.    1893.    S.  443.    8°. 

Das  vorliegende  Werk  über  die  Deutschen  in  Mähren  zerfällt  in  drei  Teile. 
Der  erste  Teil  bringt  Märchen  und  Sagen,  der  zweite  behandelt  die  Mundarten 
und  der  dritte  Brauch  und  Sitte.  Tracht.  Lied  und  Spruch.  Die  Einleitung  bietet 
zuerst  eine  ganz  hübsche  Erklärung  der  Entstehung  von  Mythe.  Sage  und  Märchen. 
Sodann  weist  sie  auf  die  gegenseitige  Durchdringung  der  Deutschen  und  Slaven 
auf  dem  Gebiete  der  Sage  hin.  Nicht  geringer  ist  aber  auch  der  gegenseitige 
Eintluss  auf  Brauch  und  Sitte,  Lied  und  Sprache.  Diese  Zeitschrift  hat  bereits 
(I.  Jahrg.,  4.  Heft)  auf  die  Verwandtschaft  deutscher  und  tschechischer  Volkslieder 
hingewiesen.  Die  Ähnlichkeit  ist  aber  nicht  immer  Folge  der  Entlehnung,  sondern 
beruht  häufig  auf  der  Ähnlichkeit  der  Anschauung  und  Denkweise  und  wohl  auch 
auf  der  ursprünglichen  Verwandtschaft  überhaupt.  So  in  der  schönen  Sage  vom 
Markgrafen  Jecminek  (Gerstenkorn  \  die  in  der  gerstenreichen  Hanna  sich  findet 
und  die  wir  nicht  auf  Wodan  zurückführen  dürfen. 


Bücheranzeigen.  343 

Im  ersten  Hauptteil  werden  die  Sagen  leider  nicht  von  den  Märchen  getrennt. 
Die  Unterabteilung  unterscheidet  allgemeine  und  Burgsagen  (17)  und  Ortssagen  (55). 
Abgesehen  davon,  dass  bei  dieser  Teilung  das  Märchen  einfach  verschwindet,  ist 
sie  auch  sonst  wenig  empfehlenswert.  Es  wäre  wohl  das  Zweckrnässigste,  die 
Sagen  nach  der  Örtlichkeit,  an  die  sie  geknüpft  sind,  und  die  Märchen  nach  dem 
Verbreitungsgebiete  zu  ordnen. 

Noch  etwas  kann  ich  zu  bemerken  nicht  unterlassen.  Da  der  Verfasser,  wie 
er  selbst  in  der  Einleitung,  S.  25,  sagt,  alle  Sagen,  die  in  Zeitschriften  und  andern 
Büchern  erschienen  sind,  zum  Abdrucke  bringt,  so  ist  er  wohl  kaum  imstande, 
bei  jeder  die  Verantwortung  für  ihre  Echtheit  zu  übernehmen.  Meine  Erfahrung 
hat  mich  in  dieser  Beziehung  Vorsicht  gelehrt. 

In  Bezug  auf  die  Mundarten  erscheint  Mähren  dem  Verfasser  als  ein  Deutsch- 
land im  kleinen,  da  der  Süden  und  Norden  Deutschlands  seinen  Einfluss  ausgeübt, 
Wenn  von  norddeutscher  Einwirkung  gesprochen  wird,  so  ist  darunter  wohl  nicht 
das  Norddeutsche  im  eigentlichen  Sinne  zu  verstehen,  denn  dieses  hat  doch  nur 
wenige  Spuren  in  unseren  Mundarten  aufzuweisen.  Wenn  auch  die  Flanderer  in 
mehreren  Städten  Mährens  Tuchniederlagen  schon  zur  Zeit  der  Kolonisation  be- 
sassen,  so  ist  ausser  dem  Namen  Flamänder,  der  zum  Schimpfwort  geworden,  und 
etwa  einigen  Eigennamen  von  ihnen  nichts  mehr  zu  finden.  Wesentlichen  Einfluss 
auf  die  Kolonisation  und  somit  auf  die  Sprache  Deutsch-Mährens  hatte  doch  nur 
Süd-  und  Mitteldeutschland.  Im  ganzen  und  grossen  ist  Nordmähren  mitteldeutsch, 
Südmähren  und  die  Iglauer  Sprachinsel  süddeutsch. 

Nicht  verkannt  hat  der  Verfasser  die  Slavismen,  die  sich  besonders  in  Städten 
mit  slavischer  Umgebung  Geltung  zu  verschaffen  wissen.  -Dass  aber  in  Brunn, 
Olmütz  und  Iglau  „das  Schriftdeutsch  zu  einem  wahrhaft  schäbigen  Lokaldeutsch 
verwaschen  worden  sei",  möchte  ich  als  Übertreibung  bezeichnen.  Auf  die 
Vokalisation  hätte  mehr  Rücksicht  genommen  werden  können. 

Der  letzte  Abschnitt  schildert  uns  zuerst  Brauch  und  Sitte  in  Nordmähren. 
Mit  Recht  erklärt  Müller  das  dortige  Bauernhaus  für  fränkisch.  Die  Hochzeits- 
feier, bei  der  ein  Redmann  (tschech.  recm'k)  auftritt,  weist  wohl  viele  slavische 
Elemente  auf.  Besonders  der  wehmütige  Abschied  der  Braut  ist  slavisch.  Der 
Name  des  Hochzeitsredners  „Druschmann"  ist  slavisch:  er  geht  auf  druz.ba.  der 
Gefährte,  Gespiele,  zurück. 

Im  besonderen  schildert  M.  Brauch  und  Sitte  im  Schönhengster  Ländchen,  im 
Kuhländchen  und  in  den  Sprachinseln  von  Iglau,  Wischau  und  Wacht! -Brodek. 

Hervorzuheben  ist  ein  einfaches  Weihnachtsspiel  ans  Nimlau  bei  Olmütz. 
Wenig  volkstümlichen  Wert  hat  dagegen  ein  im  Jahre  1820  von  professionsmässigen 
Schauspielern  aufgeführtes  Weihnachtsspiel.  Interessant  sind  die  Gebräuehe  des 
„Majesunntog1"  (Majesingen)  und  die  Ostergebräuche. 

Auch  aus  dem  Kuhländchen  wird  ein  Weihnachtsspiel  und  ein  altes  Weihnachts- 
lied abgedruckt.  Daran  reiht  sich  das  Todaustragen  nebst  dem  dabei  gesungenen 
Liede;  der  Maibaum,  den  Mädchen  singend  und  Gaben  heischend  von  Haus  zu 
Haus  tragen.  Die  Lieder  des  Pfarrers  Bayer  haben  für  die  Volkskunde  die  Be- 
deutung von  Sprachproben  und  geben  in  humoristischer  Weise  ein  Bild  von  der 
Denkweise  des  Volkes. 

In  Bezug  auf  die  Iglauer  Sprachinsel  hat  der  Verfasser  einzelne  Aufsätze  von 
mir  über  Taul'e,  Hochzeit  und  Tod,  über  Osterbrauch  und  Schnaderhüpfel  fast 
wörtlich  zum  Abdrucke  gebracht,  ohne  mich  zu  nennen.  Es  wird  sich  für  eine 
zweite  Auflage  empfehlen,  das  litterarische  Eigentum  besser  zu  achten;  selbst  mein 
Name  fehlt  im  Litteratur-Verzeichnisse. 


344  Weinhold: 

Das  die  Schönheit  der  Iglauer  Mädchen  besingende  Liedchen  ist  kein  Volks- 
lied. Aus  der  Sprachinsel  von  Wachtl  -  Brodek  wird  ein  gereimter  Wettstreit 
zwischen  Sommer  und  Winter  gebracht.  Auch  in  der  Iglauer  Sprachinsel  entdeckte 
ich  ein  ähnliches  Lied. 

Aus  dem,  was  ich  nur  andeuten  konnte,  ersieht  man  wohl  zur  Genüge,  dass 
in  Mähren  das  Volkstümliche  in  Fülle  vorhanden  ist,  und  ich  kann  mich  nur  dem 
Wunsche  des  Verfassers  anschliessen,  dass  planmässig  diese  Schätze  gehoben  und 
bearbeitet  werden. 

Iglau,  im  Juni  1893.  Franz  Paul  Piger. 


Was  sich  (las  Volk  erzählt.  Deutscher  Volkshumor.  Gesammelt  und  nach- 
erzählt von  Heinrich  Merkens.  Jena,  H.  Oostenoble,  1892.  S.  XII. 
280.    8°. 

Bekanntlich  sind  im  16.  Jahrhundert  eine  Menge  von  Schwankbüchern  er- 
schienen, welche  lustige  Geschichten  zur  Unterhaltung  und  Ergetzung,  auch  wohl 
zur  moralischen  Nutzanwendung  in  deutscher  und  lateinischer  Sprache  erzählten 
und  teils  aus  vererbten  Historien  der  Vergangenheit,  teils  aus  dem  mündlichen 
Bericht  über  Sitten  und  Leben  der  Gegenwart  zusammengeschrieben  wurden.  Es 
genüge,  an  die  Namen  Johann  Pauli,  Georg  Wickram,  Jakob  Frey.  Mich.  Lindener, 
Val.  Schumann,  Hans  Wilh.  Kirchhof!  zu  erinnern. 

Diese  Litteratur,  im  Inhalt  oft  zotig  und  schamlos,  setzte  sich  im  17.  Jahr- 
hundert fort  und  hat  in  Jahrmarktsdrucken  bis  in  das  19.,  wenn  auch  formal  viel 
verändert,  im  ganzen  auch  zahmer  geworden,  fortgelebt.  In  dem  Munde  von 
Studenten  und  Handwerksburschen  blieb  vieles  erhalten,  alier  nicht  bloss  hier, 
sondern  auch  überall  dort,  wo  man  noch  Freude 'an  alter  lustiger  Unterhaltung, 
an  Schnaken  und  Schnurren,  an  Döntjes  und  Vertellsels  findet.  Manches  hatte  der 
Tag  neu  erzeugt;  gesunder  Witz  und  guter  Humor  sind  die  erhaltenden  Kräfte 
dieser  meist  kurzen  Geschichten. 

Herr  H.  Merkens  hat  nun  eine  neue  Sammlung  humoristischer,  im  Volke  oder 
in  demselben  naheliegender  Schicht  verbreiteter  Histörchen  veranstaltet,  indem  er 
teils  aus  gedruckten  älteren  und  neueren  Quellen  schöpfte,  teils  mündlichen  Bericht 
benutzte.  Das  aus  letzterem  entnommene  wird  vielleicht  nicht  überall  die  Probe 
auf  eine  weitere  Verbreitung,  also  auf  Volkstümlichkeit  bestehen:  es  schliesst  sich 
aber  der  ganzen  Familie  wenigstens  an.  Die  Nachweise  und  Bemerkungen  be- 
richten über  die  von  Herrn  M.  benutzten  Hilfsmittel,  ohne  den  Anspruch,  Ursprung 
und  Verbreitung  der  Geschichtchen  genauer  zu  verfolgen.  Als  unterhaltendes  Buch 
können  wir  das  vorliegende  empfehlen.  K.  A\  . 


Neubaur,  L.,  Neue  Mitteilungen  über  die  Sage  vom  ewigen  Juden.   Leipzig, 

J.  C.  Hinrichssche  Buchhandlung.    1893.    S.  24.    8°. 

Ein  Nachtrag  zu  der  im  Jahre  1884  in  gleichem  Verlage  erschienenen  Schrift 
desselben  Verf.  „Die  Sage  vom  ewigen  Juden".  Es  werden  darin  teils  weitere, 
Herrn  N.  bekannt  gewordene  litterarische  Notizen  über  den  ewigen  Juden  mit- 
geteilt, teils  einige  Berichtigungen  zu  der  früheren  Schrift  gegeben. 

Eine  Bibliographie  der  Sage  vom  ewigen  Juden  hat  Herr  Dr.  Neubaur  in 
O.Hartwigs  Centralblatt  für  Bibliothekswesen.  1893.  Heft  6  — 8  veröffentlicht. 


Bücheranzeigen.  345 

Oerny,  A.,  Mytliiske  bytosce  luziskich  Serbow  (die  mythischen  Wesen  der 
lausitzer  Serben,  1.  Teil).    Bautzen  1893.    S.  243    8°. 
Während  die  deutsche  Wissenschaft  über  den  lausitz-serbischen  Mythus  durch 

die   Sammlungen  Veckenstedts    (Wendische  Sagen   1880)    und    Schulenburgs 

(Wendische  Volkssagen  1880;  Wendisches  Volkstum  1882),  aus  denen  Laistner 
und  andere  reichlich  schöpften,  unterrichtet  war,  fehlte  bisher  in  der  einheimischen 
Sprache  eine  erschöpfende  Zusammenstellung  des  einschlägigen  Materials.  Diese 
Lücke  füllt  nunmehr  das  Werk  Öernys  trefflich  aus;  Ö.  sammelte  alles  erreich- 
bare gedruckte  Material  und  ergänzte  es  durch  Forschungen  und  Fragen  beim 
Volke  selbst;  in  diesem  ersten  Teile  handelt  er  über  den  Glauben  an  Hausgeister, 
Getreidedrachen,  Zwerge  und  Riesen,  die  schlafenden  Ritter,  die  Wildweiber,  das 
Mittagsweib,  Wechselbälge,  über  die  Vorstellungen  von  Krankheit  und  Tod,  von 
atmosphärischen  Erscheinungen  und  vom  wilden  Jäger.  Von  den  Anschauungen 
Tylors  und  Längs  ausgehend,  sucht  Ö.  auch  das  Wesen  der  einzelnen  mythischen 
Gestalten  zu  erkennen,  doch  weicht  er  der  Frage  aus,  was  der  Serbe  nur  vom 
deutschen  Nachbar  entlehnt  und  was  er  selbst,  aus  der  slaviscben  Überlieferung 
her,  erhalten  hat;  das  sorgfältige  Heranziehen  des  Mythus  der  übrigen  Slaven 
verdient  besondere  Anerkennung.  Charakteristisch  ist,  dass  auch  auf  diesem  Ge- 
biete die  Angaben  Veckenstedts.  sowie  sie  etwas  Absonderliches,  Ungewöhn- 
liches bieten,  eine  Prüfung  nicht  aushalten.  Ö.  weist  sie  regelmässig  zurück,  am 
schärfsten  S.  147  f. 

Dem    umsichtigen    und    üeissigen    Sammler    und    Erklärer    ist    die    slavisclie 
Wissenschaft  zu  grossem  Danke  verpflichtet.  A.  Brückner. 


Ethnologische  Mitteilungen  aus  Ungarn.  Zeitschrift  für  die  Völkerkunde 
Ungarns.  Herausgegeben  von  Anton  Herrmann.  III.  Band.  1.  2.  Buda- 
pest 1893.    S.  60.    8°. 

Unter  dem  Protektorate  und  unter  Mitwirkung  Seiner  K.  u.  K.  Hoheit,  des 
Herrn  Erzherzogs  Josef  von  Österreich  erscheinen  diese  Mitteilungen  in  neuer 
Folge  seit  1.  Juni  1893.  Nicht  gering  ist  das  Verdienst  anzuschlagen,  welches  sich 
der  hohe  Protektor  um  die  Wissenschaft  erwarb,  indem  er  die  moralischen  und 
materiellen  Bedingungen  für  das  Gedeihen  dieses  Unternehmens  huldvoll  gab. 
Der  Inhalt  der  neuen  Folge  der  Zeitschrift  (die  nebenbei  erwähnt  für  Mitglieder 
von  Volkskunde-Vereinen  nur  6  Mk.  für  das  Jahr  kostet)  spricht  deutlich  genug  für 
den  Aufschwung,  den  dieselbe  durch  diesen  fürstlichen  Impuls  nahm;  mit  einem 
frisch  und  trefflich  geschriebenen  Artikel  „Mitteilungen  über  die  Zeltzigeuner'' 
stellt  sich  Erzherzog  Josef  selbst  an  die  Spitze  der  Mitarbeiter.  Dr.  Heinrich 
von  Wlislocki,  der  bekannte  Volksforscher,  giebt  dann  „Neue  Beiträge  zur  Volks- 
kunde der  Siebenbürger  Sachsen".  Eine  besonders  ergiebige  Quelle  waren  für 
ihn  die  von  seinem  Grossvater  während  dessen  Wanderschaft  in  Siebenbürgen  zu 
Anfang  dieses  Jahrhunderts  niedergeschriebenen  Lieder,  Hausmittel  luid  Be- 
sprechungsformeln  bei  den  verschiedensten  Krankheiten.  Wlislocki  bringt  darin 
eine  Reihe  von  prägnanten  Beweisen  für  den  von  F.  S.  Krauss,  einem  Mitarbeiter 
von  gutem  Klange,  aufgestellten,  wohl  auch  allgemein  giltigen  Satz,  dass  die 
Krankheitsgeister  eigentlich  nur  Waldgeister  seien,  eine  Anschauung,  die  wir  auch 
in  unserem  „Baum-  und  Waldkult"  für  das  oberbayerische  Volk  bestätigen  konnten. 
Im  Walde  suchte  der  Urmensch  zuerst  seine  Hilfe  gegen  die  Krankheit  er- 
zeugenden, dort  hausenden  Wald-  und  Krankheitsdämonen;  im  Baum-  und  Wald- 


346  Höfler: 

kulte  liegen  jene  ersten  Anfänge  medicinischen  Handelns  und  Denkens  unseres 
Volkes,  denen  nachzuspüren  eine  ungemein  lehrreiche  Aufgabe  und  Arbeit  ist.  die 
jüngst  eine  ganz  wesentliche  Unterstützung  erhielt  durch  Bartels'  vortreffliche, 
eben  erschienene  „Medizin  der  Naturvölker",  da  diese  die  nötigen  Völker-psycho- 
logischen Analoga  liefert.  Der  Glaube  des  Urmenschen  verblasste  eben  bei 
manchen  Völkern  früher,  bei  anderen  später:  seine  noch  aufgespürten  Rudimente 
werden  uns  durch  solche  Arbeiten  erst  verständlicher,  sie  führen  uns  in  jene  Zeiten 
hinauf,  in  welchen  der  Mensch  anfing,  aus  dem  roh  materiellen,  egoistischen  Leben 
sich  zu  den  ersten  Anfängen  einer  etwas  mitleidsvollem  Lebensauffassung  empor- 
zuschwingen, zu  dem  Versuche  der  Hilfe  für  den  erkrankten  Mitmenschen  —  Zeiten, 
die  sicher  weit  ferner  von  unserer  Zeit  abliegen,  als  wir  bisher  anzunehmen  ge- 
wohnt waren.  Auch  die  Arbeiten  der  übrigen  Mitarbeiter  der  ..Ethnologischen 
Mitteilungen  aus  Ungarn-  sprechen  für  die  Gediegenheit  der  neuen  Folge  dieser 
von  Professor  Dr.  A.  Herrmann  mit  Liebe  und  Treue  geschaffenen  Zeitschrift,  der 
wir  ein  weiteres  Blühen  und  Gedeihen  wünschen. 

Tölz.  Höfler. 


V.  Wlislocki,  Heinrich,  Aus  dem  Volksleben  der  Magyaren.    Ethnologische 
Mitteilungen.    München,  K.  Fischer,  1893.    S.  173.    8°. 

Bei  der  Anziehungskraft,  die  das  Volk  der  Magyaren  auf  andere  Völker  aus- 
übt, müsste  es  von  höchstem  Interesse  sein,  einen  Einblick  in  das  innere  Leben 
desselben  zu  gewinnen.  Den  Magyaren  selbst  könnte  es  nur  lieb  und  nützlich 
sein,  wenn  sich  ihre  Welt,  gewöhnlich  eine  terra  incognita,  dem  Auslande  mit 
freundschaftlicher  Annäherung  längst  schon  erschlossen  hätte.  Dazu  wurde, 
mindestens  in  letzter  Zeit,  der  rechte  Weg  allerdings  nicht  eingeschlagen,  da  man 
die  deutsche  Sprache  geradezu  verbannte,  so  dass  Ungarn  nun  mehr  terra  in- 
cognita ist.  als  jemals  früher!  —  Vielleicht  kommt  der  Mann,  der  diese  Mit- 
teilungen bringt,  mit  der  rechten  Leuchte  und  führt  uns  in  die  Magyarenwelt 
hinein! 

Die  Werke,  die  Herr  v.  Wlislocki  bei  der  Ausarbeitung  semes  Büchleins 
„berücksichtigt-  hat.  werden  S.  VIII.  IX  angeführt.  Diese  Angabe  macht  freilich 
einen  seltsamen  Eindruck,  indem  sie  Hauptwerke  übergeht  und  Fernerliegendes 
heranzieht.  Wenn  ein  Volk,  wie  die  Magyaren,  mitten  unter  Aliern  lebt  und  doch 
einer  ganz  anderen  Sprachfamilie  angehört,  da  möchte  man  erwarten,  dass,  zur 
Schilderung  ihres  Wesens,  als  Grundlage  desjenigen,  worin  es  sich  eigentümlich 
unterscheidet,  das  Moment  der  Sprache  vor  allem,  ins  Auge  gefasst  werde. 
Zuerst  der  magyarischen  Sprache  und  der  Sprache  der  sprachverwandten  Völker, 
dann  erst  der  nichtmagyarischen,  und  so  auch  der  Sitten,  Mythen  und  Gebräuche 
zuerst  der  Magyaren,  dann  der  anderen.  —  Indem  wir  diesen  Plan  der  Forschung 
ins  Auge  fassen,  macht  uns  die  angeführte  Litteratur  keineswegs  den  Eindruck 
methodischer  Wissenschaftlichkeit.  Wenn  man  nun  aber  einwenden  wollte,  das 
Buch  wäre  bloss  zu  leichter  Unterhaltungslektüre  bestimmt,  so  fürchten  wir.  dass 
es  sich  auch  dazu  nicht  eigne.  —  Es  besteht  die  ganze  Schrift  aus  Anhäufungen 
von  Einzelheiten,  die  sich  vielfach  wiederholen,  und  so  gewinnen  wir  kein  Bild, 
keinen  prägnanten  Punkt,  der  uns  im  Geiste  beschäftigen  könnte. 

Den  Stoff  hat  Herr  v.  Wlislocki  in  sieben  Abteilungen  geordnet,  zu  denen  wir 
uns  einige  Bemerkungen  zur  Charakteristik  des  Buches  gestatten. 

1.  Der  Höhenkultus.  Freiherr  Ferd.  v.  Andrian  hat  ein  treffliches  Werk 
darüber   geschrieben,    das  Herr  v.  W.  bespricht,    mit  dem  Zusatz,    dass  auch  die 


Bücheranzeigen.  347 

Magyaren  diesen  Kultus  kennen.  Herr  v.  W.  citiert  dazu  gelegentlich  Grimm  609. 
Dass  damit  Jak.  Grimms  Mythologie  in  3.  Auflage  S.  609  gemeint  sei,  wer  kann 
das  sogleich  erraten?  —  S.  17  wird  der  Sage  gedacht  von  einem  wilden  Mann  und 
einem  Holzfäller,  wo  der  erste  sagt:  einmal  blast  ihr,  damit  es  warm,  das  andere 
Mal,  dass  es  kalt  werde,  einem  Zuge,  der  uns  zunächst  aus  Hans  Sachsens  Walt- 
bruder mit  dem  Satyrus  und  aus  Goethes  Satyros  erinnerlich  ist.  —  Es  ist  inter- 
essant, was  hier  über  magyarische  Sagen  vom  wilden  Mann  erzählt  wird.  v.  W. 
citiert  dazu  Mario  Menghini  und  verweist  auf  die  Zeitschr.  d.  Vereins  für  Volks- 
kunde 1.  S.  40  ff. 

Das  IL  Kapitel  bespricht  Festgebräuche.  Unter  dem  magyarischen  Worte 
tor,  Leichenschmaus,  wird  allerlei  berichtet,  von  dem  das  Anziehendste  mit 
weiteren  Hinweisungen  schon  mitgeteilt  war  in  Pfeiffers  Germania  1867  S.  284  bis 
309,  was  Herr  v.  W.  nicht  erwähnt.  —  S.  29  wird  von  einem  seltsamen  Tanz  er- 
zählt, von  dem  Herr  v.  W.  bemerkt,  es  sei  garnicht  daran  zu  denken,  dass  dieser 
Tanz,  der  in  Nagy  bänya  üblich  ist,  slavischen  Ursprungs  sei,  da  dieser  Ort  von 
jeher  eine  rein  magyarische  Bevölkerung  hatte.  Korabinskys  Geographisches 
Wörterbuch  von  Ungarn  sagt  darüber  noch  im  Jahre  1786:  „Die  Einwohner,  die 
Ungarn  und  Deutsche  sind  etc.".  Es  könnte  der  Tanz  denn  ein  deutscher  sein. 
—  Das  Opfermahl  heisst  magyarisch  sonst  äldomäs.  Bemerkenswert  ist  dazu  die 
alte,  in  Siebenbürgen  übliche  Wortform:  almesch,  latein.  almasium  =  mercipotus, 
s.  Schröer,  Mundarten  des  ungarischen  Berglandes:  Sitzungsber.  der  Kais.  Akad. 
d.  Wissensch.  in  Wien  1864  S.  120  [370].  —  Zu  tor,  Leichenschmaus,  sei  nur 
noch  bemerkt,  dass  disznötor  (disznö  =  Schwein)  ein  Mahl  beim  Schwein- 
schlachten, vulgo  deutsch  Sautanz  genannt  wird,  und  weiterer  Erwägung  sei 
empfohlen,  dass  in  der  Gömörer  Gespanschaft  der  Leichenschmaus  slovakisch 
kar  heisst;  vgl.  dazu,  dass  in  den  sette  comuni  (Schmeller,  Cimbr.  Wörterb.  134) 
das  Leichenmahl  kartag  heisst.  Unser  altes  kara,  das  auch  in  Karfreitag  steckt, 
erinnert  ja  auch  an  magyar.  kar,  der  Schade. 

Zu  den  Umzügen  der  Lucia  S.  42  möchten  wir  verweisen  auf  Grimm.  Myth. 
I3  S.  1212,  dazu  Schmeller  22  532.  —  S.  44  finden  wir  den  Namen  der  Bergstadt 
Schemnitz  bereits  in  deutschem  Text  in  magyarischer  Form:  Selmecz.  sowie  man 
immer  mehr  die  magyarischen  Ortsnamen  in  deutschem  Text  magyarisiert  findet, 
was  manche  Irrung  verursacht! 

S.  57  wird  ungenau  übersetzt: 

Hadd  tapodjuk,  hadd  tipodjuk 
war  deutsch  wiederzugeben:  Lass  treten  uns,  lass  stampfen  uns  (nicht  Lass',  treten 
wir,  lass',  stampfen  wir).  —  Das  III.  Kapitel  bringt  Zauber  mit  Körperteilen. 
S.  72  wird  an  die  deutsche  Heldensage  erinnert,  an  den  Chronisten  Keza,  der  die 
Krimbildische  Schlacht  der  Deutschen  erwähnt,  darüber  schon  in  W.  Grimms 
Deutsche  Heldensage  S.  164  und  304  noch  mehr  zu  finden  wäre.  Das  magyarische 
Wort,  das  dort  S.  164  vorkommt:  halhatlan  oder  halhatatlan  bedeutet  aber 
unsterblich,  nicht  „heilig".  -  ■  Einer  Sage  aus  einer  unedierten  Sammlung  des 
Verfassers,  die  nach  Mitteilung  der  übrigen  verlangen  macht,  begegnen  wir  S.  74. 
Ein  hartherziger  Ritter  befiehlt  seinen  drei  schönen  Töchtern,  eine  Menge  Hanf  in 
kurzer  Frist  aufzuspinnen.  Da  kam  bei  Nacht  ein  riesiger  Stier.  Der  spann  den 
ganzen  Hanf  auf.  Aus  seinem  Speichel  entstanden  die  Sommerfäden,  die  man 
daher  auch  Okörnyal  (Ochsengeifer)  nennt.  Der  Berichterstatter  fand  dafür  das 
Wort  ochsengäwer  (Ochsengeifer)  in  der  Bedeutung  für  Sommerfäden  bei  den 
Deutschen  in  Krickerhäu,  siehe  Nachtrag  zum  Wörterb.  der  Mundarten  im  ungar. 
Berglande,  S.  43  [285]  1859. 


348  Schröer:  BficheraDzeigen. 

Der  Schatzgräberei  ist  das  ganze  vierte  Kapitel  gewidmet,  und  hier  sind 
einige  Beschwöruiigssprüche  mitgeteilt,  in  denen  der  hl.  Christoph  vorkommt,  der 
einen  goldenen  Hammer  trägt.  —  Den  Schlüssel  der  Schatzgräberei  besitzt  „Thero- 
phile",  auch  den  Schlüssel  der  grossen  Wissenschaften.  Es  scheint,  dass  der  aus 
der  Faustsage,  d.  h.  aus  der  Geschichte  derselben  bekannte  Theophüus  in  dieser 
Gestalt  nach  Ungarn  versetzt  wurde. 

Im  5.  Kapitel  kommt  der  Hexenglaube  zur  Besprechung.  Die  Hexe  heisst 
magyarisch  boszorkany,  wahrscheinlich  aus  pacra-apa:  Bacchantin,  das  für  thrakisch 
gilt.  Slovakisch  hört  man  die  Form  bosorka.  In  Miklosichs  etymologischem 
Wörterbuch  der  slav.  Sprachen  finde  ich  es  nicht.  Auch  das  grosse  magyarische 
Wörterbuch  der  Akademie  bringt  keine  Aufklärung  über  die  Etymologie  des  Wortes 
boszorkany. 

S.  51  hätten  'wir  unter  den  Festgebräuchen,  die  zu  Ostern  üblich  sind,  auch 
das  Birkenrutenschlagen  erwartet,  das  erst  zuletzt  S.  168  in  dem  VII.  Kapitel, 
wo  über  eine  „Geburtsgöttin1'  allerlei  zusammengetragen  ist.  erscheint,  freilich  nicht 
als  Osterbrauch,  sondern  als  Weihnachtsbrauch.  Zu  diesem  Brauch  sind  wir  in 
der  Lage,  weitere  Züge  beizusteuern,  die  der  Herr  Verfasser  leicht  finden  konnte, 
s.  Schmagöster,  Osterpeitsche  bei  Weinhold,  Schles.  Wörterbuch ,  S.  84.  Dazu 
auch  die  magyarische  Bezeichnung  der  Osterpeitsche  als  Senfkorn:  Nachtrag  zu 
Schröers  Wörterb.  der  deutschen  Mundarten  des  ungarischen  Berglandes,  S.  46. 
In  der  Oberpfalz  wird  die  Osterpeitsche  als  Pfefferkorn  in  dem  Spruch  bezeichnet: 
is  der  pfeffer  räss,  wellts  en  lösen  ab?  (ist  der  Pfeffer  scharf,  wollt  ihr  ihn  lösen 
ab?-).  —  Zu  dem  Ausdruck  Schmeckoster  muss  auch  eine  Form  Osterschmück 
vorkommen,  daraus  sich  die  magyarische  Form  muslär  mag  erklärt,  s.  Magyar 
Täjfzötär  S.  264,  das  sowohl  Osterpeitsche  bedeutet,  als  wörtlich  genommen  Senf- 
korn bedeuten  kann  (muslör:  Senf,  mag:  Kern).  Weitere  Formen  s.  bei  Schröer, 
Wörterb.  der  Mundart  von  Gottschee  (Sitzungsber.  d.  k  Akad.  d.  Wiss.  1869  S.  54). 
In  diesem  letzten  Kapitel  bemüht  sich  Herr  v.  W.,  die  Verquickung  heidnischer 
und  christlicher  Elemente  im  Volksglauben  in  den  Gestalten  der  magyarischen 
Mythe  anschaulich  zu  machen  an  den  Gestalten  der  Boldogasszony  und  der 
Nagyasszony.  Boldogasszony  müsste  man  übersetzen  mit  selige  Frau,  und 
Nagyasszony  mit  grosse  Frau.  Die  Boldogasszony  ist  die  Tochter  der  Nagyasszony 
und  sie  ist  die  Schutzgöttin  der  Wöchnerinnen  und  der  Kinder. 

Wien.  K.  .1.  Schröer. 


Böhmische  Korallen  aus  der  Götterwelt.  Folkloristische  Börsenberichte 
vom  Götter-  und  Mythenmarkte.  Von  Priedr.  S.  Krauss.  Wien, 
Gebrüder  Rubinstein,  1893.    S.  147.    8°. 

Herr  Fr.  S.  Krauss  erleichtert  sein  Herz  in  dem  vorliegenden  Buche  von 
allerlei,  das  ihm  während  längerer  Zeit  auf  dasselbe  durch  verschiedene  Leute 
gefallen  ist,  die  in  Volks-  und  Mythenkunde  ..machen"  und  deren  Erzeugnisse  er 
den  böhmischen  bunten  Glasperlen  vergleicht.  So  werden  denn  eine  Reihe 
„Forscher",  mit  besonderer  Liebe  die  Herren  Veckenstedt  und  Krek,  von  dem 
witzigen  Verfasser  von  allen  Seiten  betrachtet,  schwerlich  zu  ihrem  Vergnügen. 
Weiteres  haben  wir  nicht  zu  sagen. 


Zeitschrift   des   Vereins  für   Volkskunde   \Qgg 


Tal  3. 


-■  Iffli&JiT.  ■'■'"'  "■  ■'      -■ 


£35; 


SU'  V1  mSksS 


's''  5    <       rCC'-  """".V-.»- 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen. 

Von  Friedrich  Vogt. 


I.   Scheibentreibeu  und  Frühlingsfeuer. 

Am  21.  März  des  Jahres  1090  wurde  die  prächtige  Kirche  und  ein 
grosser  Teil  der  übrigen  Gebäude  des  Klosters  Lorsch  durch  Feuer  ver- 
nichtet. Über  die  Ursache  des  Unglücks  berichtet  die  Klosterchronik 
comperta  a  majoribus  verum  fiele  folgendes.  Ipsa,  quam  praediximus  die 
(XII  Kai.  Apr.)  vergente  jam  in  cesperum,  postquam  exemplo  carnalis  Israel 
sedit  populus  manducare  et  bibere,  et  surrexerunt  ludere,  forte  inter  cetera 
ludorum  exercitia,  discus  in  extrema  marginis  hora  (ora),  ut  solet, 
accensus  militari  manu  per  aera  vibrabatur,  qui  acriori  impulsu 
circumactus  orbicularem  flammae  speciem  reddens,  tarn  ostentui  virilem  quam 
oculis  mirantium  spectacidi  gratiam  exhibet.  Is  a  quodam  non  tarn  perniciter, 
quam  infeliciter  tandem  intortus,  ad  summum  ecclesiae  fastigium  imprudenti 
jactu  erolavit,  tibi  inter  tegulas  et  cariosos  asseres  artius  insidens,  animante 
vento  fomitem  incendio  pnvbuit.  (Codex  Laureshamensis  diplomaticus  ed. 
Acadeinia  Theodoro-Palatina  T.  I  p.  200  secni.) 

Diese  Nachricht  von  dem  herkömmlichen  Emporschleudern  einer 
brennenden  Holzseheibe  bei  einem  am  Abend  der  Frühjahrstagundnacht- 
gleiche  stattfindenden  Volksfeste  bildet  den  ältesten  Beleg  sowohl  für  die 
deutschen  Frühlingsfeuer  als  auch  für  eine  besondere  Art  des  Festfeuers, 
welche  teils  bei  diesen,  teils  auch  bei  der  zweiten  Hauptgattung  von 
Jahrzeitfeuern,  bei  den  Sounwendfeuern,  bis  auf  den  heutigen  Tag  vor- 
kommt. Denn  die  Frühlingsfeuer  waren  bisher  nicht  vor  dem  15.  Jahr- 
hundert nachgewiesen  (vgl.  Jahn,  Die  deutschen  Opfergebräuche  S.  93  und 
88),  während  für  jenes  Scheibenschleudern  oder  Scheibenschlagen  und 
Scheibentreiben,  wie  es  gewöhnlich  genannt  wird,  bisher  kein  älteres 
Zeugnis  bemerkt  war  als  eine  Angabe  des  Johannes  Boemus  in  dem 
zuerst  1520  erschienenen,  dann  oft  aufgelegten  Buche  Omnium  gentium 
mores,  leges  et  ritus,  auf  welche  Schmeller,  Bayr.  Wb. "  II,  356  aufmerksam 
macht.  Boemus  schildert  lib.  III  cap.  XV  (de  Franconia)  eine  besondere 
Art  des  Johannisfeuers:  Ante  arcem  in  monte,  qui  urbi  llerbipoli  super- 
eminet,    ab  episcopi  aulicis  etiam  ignis  fit  cid  orbiculi  quidam  lignei  perforati 

Zeitschrift  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893.  24 


350  Vogt: 

imponuntur ,  qui  cum  inflammantur,  flexibilibus  oirgis  praeßxi,  arte  et  vi  in 
aerem  supra  Moganum  amnem  excutiuntur :  Draconem  igneum  volare  putant, 
qui  prius  no7i  viderunt.  Dass  hiernach  vor  der  Burg  des  Würzburger 
Bisehofes  dieselbe  Handlung  bei  der  Sonnwendfeier  vorgenommen  wurde, 
welche  400  Jahre  früher  vor  dem  Kloster  Lorsch  bei  jenem  Frühlingsfeste 
mit  so  unheilvollem  Ausgange  stattfand,  ist  klar.  Und  ganz  wie  Boemus 
uud  die  Lorscher  Chronik  sie  beschreibt,  wird  sie  noch  in  unserer  Zeit 
in  einigen  Gegenden  Kärntens,  Tirols  und  Oberbayerns  am  Johannistage 
oder  an  dessen  Vorabend  geübt.  So  schleudern  dann  im  oberbayerischeu 
Garmischgau  „die  Bursche  Holzscheiben,  die  in  der  Mitte  durchlöchert  und 
an  den  Rändern  rot  glühend  gemacht  sind  (wie  der  discus  in  e.vtrema  mar- 
ginis  ora  accensus),  an  Stöcken  im  Wettspiel,  einer  höher  als  der  andere, 
in  die  dunkele  Luft"  (Bavaria  I.  1.  374)  und  ebenso  geschieht  es  im 
Lesachthale  an  den  Vorabenden  des  Johannes-,  des  Peter  und  Paul-  und 
des  Ulrichtages,  wobei  die  auf  der  Pute  steckende  glühende  Scheibe  auf 
einem  schief  aufgerichteten,  nach  Süden  gekehrten  Brett  in  möglichst  hohem 
Bogeu  abgeschnellt  wird:  Lexer  in  Frommanns  Die  deutschen  Mundarten 
6,  200  und  in  der  Zeitschr.  f.  deutsche  Mythologie  2.  31.  Entsprechendes 
wird  von  der  Sunwendfeier  in  Tirol  bei  Schmeller,  Bayr.  Wb. 2  n.  356, 
bei  Panzer.  Beitrag  zur  deutschen  Mythologie  I.  S.  210  und  bei  Zingerle, 
Sitten,  Bräuche  und  Meinungen  des  Tiroler  Volkes2  S.  15?  Nr.  1354  nach- 
gewiesen. 

Nach  weit  verbreiteterem  Gebrauche  ist  aber  das  Scheibensehlagen 
ebenso  wie  iu  der  alten  Lorscher  Nachricht  ein  Frühjahrsfeuerfest 
oder  Teil  eines  solchem  Die  Zeit  desselben  schwankt  zwischen  Anfang 
und  Ende  der  Fastenzeit.  Für  den  Fastnachtssonntag,  der  auch  die  Weiber- 
fastnacht heisst,  bezeugt  Birlinger,  Aus  Schwaben,  Sagen,  Sitten  und  Ge- 
bräuche II,  31  und  54  das  Scheibensehlagen  im  badisehen  Alemannien. 
Am  Fastnachtabend  geschieht  das  „Scliibefleuge"  nach  Vernaleken,  Alpeu- 
sagen  S.  367  in  der  Gemeinde  Matt  im  Kanton  Glarus  uud  auch  in  einigen 
abgelegenen  Gemeinden  Bündens.  „Zu  angehender  Fastnacht"  wurde  es 
im  J.  1618  „der  jungen  Purst"  in  Rottweil  untersagt  (Birlinger  H,  64), 
..in  der  Fassnacht  und  Fasten"  wurde  es  abgehalten  nach  dem  alemanni- 
schen Zeugen  Lorichius.  der  1593  schrieb  (a.  a.  O.  54).  während  es  nach 
einer  Schilderung  Erckmann-Chatrians  bei  Mannhardt,  Wald-  und  Feld- 
kulte I,  456,  in  den  nördlichen  Vogesen  „am  Anfange  der  Fasteuzeit"  statt- 
findet. Hier  wird  schon  der  sonst  als  eigentlicher  Tag  des  Scheiben- 
schlagens  geltende  Sonntag  Invocavit.  der  erste  der  Fastenzeit,  gemeint 
sein,  der  wegen  dieses  Feuerfestes  der  Funkensonntag  oder  der  Schofsonntag 
(von  Schof,  mhd.  schoiep  Strohwisch),  im  östlichen  Frankreich  dimanche  des 
brandons  genannt  wird.  Auch  der  Hutzelsonntag  heisst  er  wegen  des  ge- 
dörrten Obstes,  welches  die  vom  Feuer  Heimkehrenden  erbitten  und  er- 
halten, im  badischen  Alemannien  aus  entsprechendem  Grunde  der  Küchle- 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen.  351 

sonntag;  sonst  auch  der  Kässonntag,  der  weisse  Sonntag,  die  grosse,  die 
Herren-  oder  die  Allermannsfastnacht.  Am  „sogenannten  Küchelsonntage" 
werden  nach  Schneegans,  Alsatia  1851  S.  196  fg.  auch  in  Wasslenheira  und 
an  anderen  Orten  im  Elsass  die  Scheiben  von  Knaben  geschleudert;  ob 
das  auch  im  Elsass  der  Sonntag  Invocavit  ist,  wo  man  auf  dem  Lande  in 
jedem  Hause  Küchlein  bäckt  (a.  a.  O.  S.  126),  oder  der  Fastnachtssonntag, 
an  welchem  die  Kinder  in  der  Gegend  von  Mülhausen  das  a.  a.  0.  S.  115 
mitgeteilte  Küchlelied  singen,  wird  nicht  klar.  Für  Scharrachbergheim, 
Wolxheim  auf  dem  Hörn  und  andere  elsässische  Ortschaften  bezeugt  Stöber 
a.  a.  O.  S.  120  fg.  das  Scheibentreiben;  ob  es  am  Invocavittage  oder  an 
einem  der  Fastuachttage  stattfindet,  erhellt  auch  aus  seiner  Angabe  nicht. 
Sicher  festgestellt  ist  der  Brauch  am  Sonntage  Invocavit  für  Alemannien 
und  Oberschwaben  durch  Birlinger,  Aus  Schwaben  II,  41.  62,  Volkstüm- 
liches aus  Schwaben  II,  56  fg.  68.  105  fg.  108  fg.  und  durch  Ernst 
Meier,  Deutsche  Sagen,  Sitten  und  Gebräuche  aus  Schwaben  II,  380 
bis  83.  Ihre  Nachweise  betreffen  besonders  das  Wiesenthal,  den  Heuberg, 
Friedingen,  Altshausen,  Waldsee,  Ziegelbach,  Leutkirch,  Wolperschwende, 
Altdorf  Blitzreute,  Baienfurt,  Frohnhofen,  Ravensburg,  Tettnang,  Wangen, 
Kloster  Weingarten.  Von  Tettnang  und  Wangen  aus  sieht  man  nach  Meier 
S.  382  „am  Funkensonntage  auch  in  der  Schweiz,  in  Tirol  und  Vorarlberg 
viele  solcher  feurigen  Scheiben  aufsteigen.  Ebenso  in  Bayern  (natürlich 
bayerisch  Schwaben).  Die  Deutschen  in  Graubünden  halten  gleichfalls 
dies  Scheibenschlagen  auf  hohen  Bergen."  Auch  von  den  Höhen  bei 
Schopfheim  im  Wiesenthal  aus  sieht  mau  beim  Scheibentreiben  an  diesem 
Tage  nach  dem  mündlichen  Bericht  eines  Augenzeugen  zugleich  von  den 
Schweizerbergen  die  Feuerscheiben  fliegen.  Aus  dem  Kanton  Zürich  be- 
legen Staub  und  Tobler,  Schweiz.  Idiotikon  I,  947  den  Brauch  für  Invocavit 
oder  einen  der  Fastnachtstage.  So  wird  denn  auch  für  den  Vintschgau 
und  das  Oberinnthal  das  Hinausschleudern  der  brennenden,  mit  Harz  be- 
strichenen Scheiben  am  Sonntag  Invocavit  in  Frommanns  Mundarten  II, 
233,  in  der  Zeitschr.  f.  d.  Myth.  1,  286  fg.  und  bei  Zingerle,  Sitten  2  S.  140 
Nr.  1225.  1226  bezeugt;  ebenso  für  den  Süden  des  bayerischen  Schwabens 
durch  die  Füssen  betreffende  Beschreibung  Panzers,  Beitr.  I  S.  211,  und 
durch  die  entsprechende  ausführliche  Schilderung  Felix  Dahns  in  der 
Bavaria  II,  2  S.  838  fg.,  welche  sich  auf  das  äussere  Allgäu,  das  Land 
an  der  oberen  Wertach,  insbesondere  auf  das  Gebiet  von  Nesselwang 
bezieht. 

Das  Scheibenschlagen  am  ersten  Sonntag  in  der  Fastenzeit  lässt  sich 
also  vom  äussersten  Westen  des  alemannisch-schwäbischen  Gebietes  bis  zu 
dessen  äusserster  Südost-Grenze  und  bis  nach  Tirol  hinein  verfolgen.  Hier 
findet  jedoch  der  Brauch  daneben  auch  am  Johannistage  statt,  an  welchem 
auch  in  Oberbayern  und  in  Kärnten  die  Scheiben  getrieben  werden. 
während    im    Alemannischen    nur    die   Fastnachtstage    neben  Invocavit    in 

24* 


352  Vogt: 

Betracht  kommen1).  Östlich  von  Tirol  und  vom  bayerischen  Schwaben 
weiss  ich  weder  das  Scheibenschlagen  in  dieser  Frühjahrszeit,  noch  die 
Fastnachts-  und  Invocavitfeuer  überhaupt  nachzuweisen.  Dagegen  werden 
in  Oberbayern  wie  bei  der  Sommersonnenwende  so  auch  zu  Ostern  die 
Scheiben  getrieben:  Auf  den  Bergen  von  Werdenfels  schleudert  man  nach 
Schindler,  Bayr.  Wb.  '  II,  356  in  den  Osternächten  glühend  gemachte  Ab- 
schnitte von  Brunnenrüliren  mit  Stecken  in  die  Luft,  während  in  Mitten- 
wald und  Oberau  nach  Panzer  I  S.  211  fg.  beim  Osterfeuer  Scheiben  oder 
auch  Bolzen  in  derselben  Weise  brennend  emporgeschnellt  werden. 

Nördlich  von  Oberbayern,  Oberschwaben  und  dem  Elsass  ist  meines 
Wissens  aus  neuerer  Zeit  das  Scheibenschlagen  nicht  bezeugt.  Die  Bavaria, 
welche  sonst  die  Feuerfeste  eingehend  berücksichtigt,  bringt  für  jenen 
besonderen  Brauch  weder  aus  Niederbayern  noch  aus  der  Oberpfalz,  noch 
aus  den  fränkischen  Provinzen  Zeugnisse;  und  ebensowenig  ist  mir  sonst 
in  Mitteldeutschland  oder  gar  auf  niederdeutschem  Boden  ein  Beispiel  dafür 
aufgestossen.  Dass  die  Sitte  früher  auch  bei  den  Rheinfranken  und  Ost- 
franken verbreitet  war,  zeigt  die  Nachricht  der  Lorscher  Annalen  und  die 
Angabe  des  Johannes  Boentus.  wobei  es  übrigens  Beachtung  verdient,  dass 
hier  auch  innerhalb  des  fränkischen  Gebietes  das  Scheibenschlagen  fin- 
den westlichen  Ort  in  der  Fastenzeit,  für  den  östlicheren  in  der  Sommer- 
sonnenwende bezeugt  ist. 

Die  Invocavitfeuer,  mit  denen  sich  ja  vor  allem  das  Scheibenschlagen 
verbindet,  sind  ohne  dieses  noch  in  weiterer  Ausdehnung  nachzuweisen. 
Strohfeuer,  an  denen  anderswo  die  Scheiben  entzündet  werden,  brannte 
man  nach  Zeitschr.  f.  d.  Mythol.  3,  166  zu  Stavelot  im  Limburgischen  an 
jenem  Sonntag  in  grösstem  Umfang  ab.  und  nächtliche  Gelage  waren  damit 
verknüpft,  wie  die  Schmauserei  mit  dem  Scheibenschlagen  in  Lorsch. 
Während  das  Verbrennen  einer  an  langer  Stange  befestigten  Strohpuppe, 
welche  die  Hexe  genannt  wird,  in  einigen  Gegenden  Schwabens  zusammen 
mit  dem  Scheibenschlagen  erfolgt  (Meier  a.  a.  0.  380,  Birlinger,  Volkstüm- 
liches 11,  60,  Bavaria  II,  2.  838  fg.),  so  geschieht  das  Abbrennen  grosser, 
um  einen  Baum  gehäufter  Strohmassen  allein  unter  dem  Namen  des  Hexen- 
brennens gleichfalls  am  Sonntag  Iuvocavit  in  der  Umgegend  von  Echternach 


1)  Ob  etwa  das  Elsass  eine  Ausnahme  macht,  weiss  ich  nicht  genau  anzugeben. 
Stöber  bemerkt  zwar  Alsatia  1851  S.  14V.  dass  auch  bei  den  „viel  allgemeiner  verbreiteten 
Johannisfeuern"  brennende  Seheiben  geschlagen  werden,  aber  er  giebt  nicht,  wie  bei  den 
Fastnachtsfeuern,  bestimmte  Ortschaften  an,  und  es  ist  zweifelhaft,  ob  er  hier  wirklich 
elsässische  Gebräuche  im  Auge  hat.  Schneegans  berichtet  ebenda  S.  138  nach  Hörensagen, 
dass  in  Scharrachbergheim  und  Wolxheim  das  Scheibenschlagen  nicht  wie  in  AVasslenheim 
und  auch  sonst  noch  im  Elsass  in  der  Fastnachtszeit,  sondern  am  Johannistage  startfinde; 
aber  das  widerspricht  direkt  der  Angabe  Stöbers  auf  S.  120.  —  Dass  der  weisse  Sonn- 
tag 3.  oben  S.  351)  anderswo  als  der  Sonntag  nach  Ostern  gilt,  gab  in  Erringen  beiEied- 
ling  den  Anlass,  das  Scheibenschlagen  an  letzterem  abzuhalten.  Birlinger,  Volkstümliches 
II,  5ti.  60.  106. 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quollen.  353 

(Zeitschr.  f.  d.  Mythol.  1,  89)  und  ähnlich  in  der  Franche-Comte  (Mannhardt 
a.  a.  0.  456)-    Auch  in  Burgund  brennen  dann  die  Feuer  (Alsatia  1851,  119), 
und  an  der  französiseh-elsässischeu  Grenze  bei  Raon  l'Etape  wird  in  diesem 
Invocavitfeuer  eine  lebendige  Katze  an  einem  Pfahl  verbrannt  (Alsatia  a.a.O.), 
was  in  der  Eifelgegend  nach  Mannhardt  (a.  a.  0.  463.  501)  hinwiederum  mit 
einem  Strohmann  geschieht.   In  der  Eifel  wird  dabei  zugleich  ein  brennendes 
Rad  von  einem  Berge  hinabgerollt,  und  dieselbe  Verbindung  des  Strohmann- 
brennens und  des  Radrollens  erfolgt  beim  Invocavitfeuer  im  Lauterthale  in 
der  Rheinpfalz  (Bavaria  IV,  2,  356).    Das  Feuerrad  wird  an  demselben  Tage 
zu  Konz  bergab  ins  Moselthal  gewälzt  (Mannhardt  a.  a.  0.  501);  die  gleiche 
Ceremonie,    das  Rollen   des  sog.  „Hoalrades",   d.  i.  des  Hagelxades,    wird 
auf  der  Rhön  und  in  angrenzenden  (legenden  bis  zum  Vogelsberg  hin  mit 
einem  Fackellauf  durch  die  Felder  verbunden  (a.  a.  0.  500).    Die  Bavaria 
IV,  1,  242  fg.  bezeugt  aus  der  Rhön  als  Invocavitfeuer  nur  solchen  Fackel- 
lauf auf  den  Höhen,  wobei  mit  den  dazu  benutzten  Hammenden  Strohwischen 
funkensprühende  Räder  geschlagen  weiden.    Auch  in  denjenigen  Gegenden, 
in  welchen  das  Scheibenschlagen  an  gewissen  Orten  heimisch  ist,    werden 
an  anderen  Invocavitfeuer  bezeugt,    ohne   dass  von  jenem  dabei  die  Rede 
wäre.     So  z.  B.  Fackelfeuer  in  Ehingen  an  der  Donau  (Meier  S.  383);    so 
ferner  grosse  Feuer  mit  allerlei  Lustbarkeiten  in  Appenzell  (Tobler,  Appen- 
zellischer  Sprachschatz  S.  207,  vgl.  auch  Verualeken,  Alpensagen  S.  368); 
so    die   Holepfannfeuer   im   Etschthal    (Zingerle,   Sitten,  Bräuche   etc.  des 
Tiroler  Volkes  "  S.  140),   in  Meran,  Ulten,  Passeier   (Deutsche  Mundarten 
2,  233)   und  ähnliches  in   Proveis  (Mannhardt  S.  540).     Aus  verschiedenen 
Schweizerkantoneu   wird   das  Invocavit-  oder  Fastnachtfeuer  in  Staub  und 
Toblers  Schweizer.  Idiotikon  I,  947  und  869  fg.  bezeugt.     Das  Feuer  loht 
da    wiederum    um    eine   Stange    oder   um    eine  Tanne  herum,    auf  der  im 
Luzerner  Gau  auch  die  Strohhexe  ehedem  nicht  fehlte.    Die  Jugend  tanzt 
und  jubelt  um  das  Feuer,    wobei   stellenweise  auch  Fackeln  geschwungen 
werdeu;    dann  kehrt  sie,    alte  Lieder  singend,    ins  Dorf  zurück,    und  dort 
schwärmen    dann    wohl   Burschen    und   Mädchen    die   Nacht    durch.     Aus 
früherer    Zeit    ist    auch    das   Abwärtsrollen    des   Feuerrades   nachgewiesen. 
Am   „Hirsmontag",    dem  Tage    nach  Invocavit,    wurden  nach  Vernalekeu, 
Alpensagen  S.  356,  bei  Zürich  Feuer  (Funken)  angezündet. 

Zur  Fastuacht  fand  die  Verbrennung  der  Strohfigur  nach  Kehrein, 
Volkssitte  in  Nassau  II 143 fg.,  im  Nassauischen  statt;  nach  den  von  Mannhardt 
S.  499  gesammelten  Zeugnissen  auch  in  Wälsehtirol,  am  Züricher  See,  an 
der  Eifel,  in  den  Kreisen  Düren  und  Kempen  und  im  Oldenburgischen, 
wo  dieser  Handlung  das  Feldlaufen  mit  brennenden  Strohbündeln  (Beken) 
voranging.  In  Nassau,  wo  übrigens  auch  wie  in  Raon  l'Etape  eine  lebende 
Katze  die  Stelle  der  Strohfigur  vertreten  konnte,  riefen  die  Beteiligten 
„wir  verbrennen  den  Häl  (Hagel)".  So  wird  denn  auch  mit  dem  „Sengen 
des  Hagels"  am  Fastnachtabend,  welches  im  15.  Jahrhundert  in  den  Statuten 


354  Vogt: 

von  Duderstadt,  verboten  wird,  die  gleiche  Sitte  gemeint  sein:  s.  Jahn, 
Opfergebräuche  S.  88.  In  einer  Visitationsordnung-  des  Pfalzgrafen  von 
Zweibrücken  vom  J.  1579  wird  auch  das  „Hagelfeuer  und  Redderscbieben" 
(gewiss  das  Abwärtsrollen  des  Feuerrades)  verboten  (Bavaria  IY,  2,  356). 
Bei  Dürckheim  wurden  auf  einem  Felsen,  der  ursprünglicli  Bruuhildestul, 
dann  Brummholzstul  genannt  ward,  zur  Fastnacht  hochaufgeschichtete  Holz- 
reiser und  „Zasseln"  verbrannt  (a.  a.  0.).  In  Illzach  bei  Hülhausen  im 
Elsass  lodern  am  Fastnachtsonntage  Feuer,  mit  denen  sich  wiederum  der 
Fackellauf  verbindet  (Alsatia  1851  S.  114). 

Die  Invocavitfeuer.  mit  denen  sich  auf  schwäbisch-alemannischem  Ge- 
biet das  Scheibentreiben  vereint,  reichen  demnach  ohne  dieses  rheinabwärts 
bis  an  die  niederfränkische  Grenze  und  westwärts  nach  Frankreich  hinein, 
während  die  Fastnachtsfeuer  auch,  wenngleich  nur  ganz  vereinzelt,  in 
Niederdeutschland  nachgewiesen  sind.  Natürlich  liegt  hier  überall  dasselbe 
Frühlingsfeuerfest  zu  Grunde;  ob  ursprünglich  etwa  auch  überall  das 
Scheibentreiben  damit  verbunden  war,  lässt  sich  nicht  feststellen:  seiner 
Natur  nach  scheint  dieser  besondere  Brauch  von  vornherein  auf  gebirgige 
Gegenden  beschränkt  zu  sein. 

Aber  auch  an  anderen  Tagen  finden  in  bestimmten  Gebieten  die 
Frühlino-sfeuer  statt.  Zu  Petri  Stuhlfeier,  am  22.  Februar,  also  in  der 
Regel  gleichfalls  um  den  Anfang  der  Fasten,  wurde  nach  Müllenhoff,  Sagen 
und  Märchen  N.  228  in  Nordfriesland  das  Biikenbrennen  vollzogen,  was 
wenigstens  auf  der  Insel  Föhr,  wie  mir  eine  Augenzeugin  berichtete,  noch 
heute  stattfindet.  Panzer  I  S.  213  N.  237  und  S.  215  N.  242  erwähnt  auch 
Feuer  „am  Peterstage"  in  Lochhausen  bei  München  und  in  Deffiugen  im 
bayerischen  Schwaben,  während  ich  in  der  Bavaria  nichts  Entsprechendes 
gefunden  habe.  Jahns  Angabe  a.a.O.  S.  91,  dass  dabei  auch  ein  Scheiben- 
schlagen  erfolgt  sei,  beruht  augenscheinlich  auf  einem  Missverständnis. 

Ton  den  um  den  Anfang  der  Fastenzeit  veranstalteten  Feuern  sind 
die  Petersfeuer  offenbar  am  wenigsten  verbreitet.  Dagegen  sind  die  Oster- 
feuer  in  den  meisten  Gegenden  Deutschlands  bekannt,  und  wenn  sie  auch 
in  Niederdeutschland  sicher  am  üblichsten  waren,  so  treten  sie  doch  in 
Mittel-  und  Oberdeutschland  häufiger  auf.  als  man  nach  Grimm,  Mythol. 
I4  511  fg.  annehmen  müsste:  vgl.  besonders  die  Zusammenstellungen  von 
Mannhardt  a.  a.  0.  502  fg.,   Jahn  a.  a.  0.  151  fg.1).     Soweit  die  Osterfeuer 


1)  Dr.  Rackwitz  hat  durch  Forschungen  an  Ort  und  Stelle,  über  die  er  auf  der 
Anthropologen  -Versammlung  in  Münster  berichtete,  das  Vorkommen  der  Osterfeuer  nach 
Süden  hin  genauer  abzugrenzen  gesucht  (Korrespondenzbl.  d.  Gesellsch-  f.  Anthropologie  21 
S.  160).  Er  zieht  die  Linie  von  Zerbst  über  Bernburg  nach  dem  Südrande  des  Harzes, 
von  da  zum  Kifl'häuser.  über  das  Eichsfeld  bis  zum  Hilfensberg  und  von  da  nach  dem 
Meissner.  Südlich  von  dieser  Linie  hören,  nach  seinen  Untersuchungen,  die  Osterfeuer 
plötzlich  auf  und  es  beginnen  die  Johannisfeuer.  'Westlich  vom  Meissner  in  Hessen  wisse 
man  nichts  von  Osterfeuern,  erst  im  Siegerlande  brenne  man  sie  wieder.  Vgl.  jedoch  über 
ihr   Vorkommen    in    Hessen    Lyncker,    Deutsche   Sagen   und  Sitten    in    hessischen  Gauen 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quollen.  355 

nicht  durch  altkirchliche  Bräuche  beeinflusst  sind,    ist  ein  irgend  wesent- 
licher Unterschied  zwischen  ihnen  und  den  Fastnachts-  und  Invocavitfeuern 
nicht  vorhanden.     Wie  in  Oberbayern  das  Scheibeuschlagen,    so  verbindet 
sich  teils  ebenda,   teils   auch  in  niederdeutschen  Gegenden  das  Rollen  des 
Feuerrades  auch   mit  den  Osterfeuern.     Ebenso  wird  auch  der  Fackellauf 
sowohl    in  Niederdeutschland  (Mannhardt  a.  a.  0.  S.  506  fg.),    als    auch  in 
Mittelfranken,    im  Wörnitzgelände   (Bavaria  III,  2,  956),    als  Osterbrauch 
geübt.     Auch  die  zum  Osterfeuer  dienenden  Reisigmassen  werden  stellen- 
weise um  einen  Baum  geschichtet  (Mannhardt  a.  a.  0.),  oder  die  flammenden 
Strohmassen  umgeben  einen  Pfahl  (Bavaria  III,  2,  934),    eine  Sitte,    die 
wir    beim    Invocavitfeuer    teilweise    als   „Hexenbrennen"    auftreten    sahen. 
Dem    wirklichen  Verbrennen  der  Hexe   oder  einer  männlichen  Strohfigur 
bei   jenen  Feuern    zu  Beginn  der  Fastenzeit  aber  entspricht  beim  Oster- 
feuer augenscheinlich  das  Verbrennen  des  Judas  oder  des  Ostermannes  am 
Charsamstage,  welches  fast  im  ganzen  Mitteldeutschland  sowie  in  Schwaben 
und    in    den    bayerisch- österreichischen j.Ländern   entweder  noch  in  seiner 
eigentlichen   Form    als  Verbrennen    der    aus   Stroh    oder   Holz   gefertigten 
Puppe,  oder  in  Abarten  und  verblassten  Reminiscenzen  nachgewiesen  ist: 
vgl.  Mannhardt  S.  505  fg.  und  die  Litteraturangaben  bei  Jahn  S.  131  Anm., 
bei  denen  Bavaria  I,  2,  1002  fg.  hinzuzufügen  und  IV,  2,  333  in  IV,  2,  393 
zu  bessern   ist.     Vgl.  auch  Schroller,   Schlesien  III,    246  fg.     Alle   die  bei 
den  Fastnachts-  und  Invocavitfeuern  nachgewiesenen  besonderen  Bräuche 
treten    also    in    dieser    oder   jener  Weise    auch    bei    den   Osterfeuern   auf. 
Zwischen    den    beiden   herrscht   zweifellos   eine  grössere  Übereinstimmung 
als    zwischen    den   Osterfeuern    und    den    in    der  Walpurgisnacht   üblichen 
Gebräuchen.    Es  scheint  mir  daher  nicht  berechtigt,  dass  Jahn  a.  a.  O.  die 
Osterfeuer    mit    diesen    zusammen    auf  ein  altes  Feueropfer  in  der  ersten 
Mainacht    zurückführt,    sie    völlig    von    den    im   Anfang   der  Fasten   statt- 
findenden Feuerfesten    trennt    und    diesen    ihrerseits    die  Tage    um   Petri 
Stuhlfeier  als  ursprünglichen  Termin  anweist.    Ebenso  wie  auch  sonst  die- 
selben Gebräuche  in  deii  einen  Gegenden  zur  Fastnachtszeit,  in  den  andern 
in    den  Ostertagen    geübt    werden   -  -  ich    erinnere    nur    an  die  Sitte   der 
Fastnachtsruten   und   des  Schmackosterns  —  ganz   ebenso   hat  sich  meines 
Erachtens    auch  in   den  Fastnachts-  und  Osterfeuern   ein  altes  Frühlings- 
feuerfest  zeitlich  geteilt,  und  ich  halte  die  von  Weinhold,  Deutsche  Jahrcs- 
teilung,  S.  6,  vertretene  Ansicht  immer  noch  für  richtig,  dass  das  ursprüng- 
liche Fest  nach  Einführung  des  Christentums  durch  die  Fasten  auseinander 
gerissen  sei  in  Feiern  um  Fastnacht  und  um  Ostern. 


S.  240  fg.  Rackwitzons  Beobachtungen  fehlt  die  Ergänzung  aus  den  schriftlichen  Zeug- 
nissen. Die  Abweichungen  von  seiner  Regel,  die  sich  in  einzelnen  von  seiner  Grenzlinie 
weit  entfernten  Landschaften,  sowohl  bezüglich  der  Osterfeuer  als  der  Johanuisfeuer  zeigen, 
hat  er  ebensowenig  berücksichtigt,  wie  die  Fastnachtsfeuer.  Hammerau,  Die  Bergfeuer  in 
Deutschland,  Mnnchener  Allg.  Zeitung  1891,  Beil.  88  und  89,  bietet  wenig  Selbständiges. 


356 


Vogt: 


Sein  ursprünglicher  Tennin  würde  daher  in  einer  Zeit  zu  suchen  sein, 
welche  für  gewöhnlich  zwischen  diese  beiden  Grenzen  fällt;  er  würde  der 
Frühlingstaguhdnachtgleiche  näher  gelegen  haben  als  Jahn  annimmt.    Von 
den    verschiebbaren    christlichen   Festtagen  nähert  sich  dieser  Zeit  durch- 
schnittlich   am  meisten   der  Sonntag  Lätare,    an  welchem  bekanntlich  in 
Mitteldeutschland  nach   weit  verbreiteter  Sitte  der  Sommeranfang  gefeiert 
wird.    In  Eisenach  winde  an  diesem  Tage  ehedem  das  Rollen  des  Feuer- 
rades   und    das   Strohmannbrennen   in  der  Weise  vereinigt,    dass  man  die 
Strohpuppe,    welche  mau   den  Tod  nannte,    an  ein  Rad  band,    anzündete 
und   dies   den  Berg  hinunter  laufen  liess    (Witzschel,    Sagen,   Sitten   und 
Gebräuche   aus  Thüringen.   S.  192.  297  fgg.).     Dies  Eisenacher  Lätarefest, 
welches  der  Sommergewinn  genannt  wird,  erklärt  zwar  Mannhardt  a.  a.  O. 
S.  15(5  für  eine  „ursprünglich  unzweifelhaft  slavische  Sitte";  aber  ich  meine, 
mit    deren    Annahme   muss   man   für   das  westliche  Thüringen  schon  etwas 
vorsichtig    sein,    und    sehen   wir  von   der  Bezeichnung  der  Strohpuppe  als 
Tod  zunächst  ab,    so  bleibt  in  deren  Verbrennung  und  in  dem  Radrollen 
eine    oben    zur   Genüge    als    deutscher  Fastnachts-   und  Ostergebrauch  be- 
zeugte Handlung.     Jahn,  S.  89,  will  denn  auch  nicht  diese  selbst,  sondern 
nur    ihre   Übertragung    auf   den    Sonntag  Lätare    slavischem   Einfluss    zu- 
schreiben.    Aber    die  Lätarefeier    erstreckt    sich,    ausser   über   die  mittel- 
deutschen Kolonisationsgel dete   und  Westthüringen,   auch    mindestens  über 
das  ganze  südliche  Franken,  Heidelberg  und  den  linksrheinischen  Teil  der 
alteu  Kurpfalz    eingeschlossen;    hier  noch  den  Ansehluss  an  eine  slavische 
Sitte  vorauszusetzen,    scheint   doch  höchst  gewagt.     Und  dazu  kommt  nun 
—  worauf   schon   Grimm,   Myth.  735,    aufmerksam  gemacht  hat  und  was 
mir    mein    verehrter  Kollege  Nehring   durch   sehr  dankenswerte  Nachweise 
lediglich    bestätigt  --  dass  die  Lätarefeier  nur  in  den  von  mitteldeutscher 
Kolonisation   berührten    slavischen  Ländern    vorkommt,    dass   sie  dagegen 
sowohl  den  oberdeutschen  und   niederdeutschen  Kolonisationsgebieten,    als 
auch  den  deutschem  Einfluss  ganz  entzogenen  Slaven  fremd  ist.    So  gehört 
denn  auch  zu  diesem  Feste  in  der  Kurpfalz  rechts  und  links  des  Rheines  der 
rein  deutsche  Brauch  des  Kampfes  zwischen  Sommer  und  Winter  (Bavaria 
und  Meier  a.  a.  O.),  derselbe  fand  vordem  auch  in  Württemberg  zu  Lätare 
statt   (Birlinger,  Volkst.  II,  92),  und   ohne   nähere   Ortsbezeichnung  giebt 
Sebastian  Franck   von  Donauwörth    in    seinem  Weltbuch    in    dem   Kapitel 
von  Festen    der    römischen  Christen    an,    dass   zu  Mittfasten  am  „Rosen- 
sonntag" (d.  i.  Lätare,  vier  Tage  nach  dem  eigentlichen  Mittfastentage)  an 
etzlichen    orten    die  hüben   an   langen  ruten  bretzlen  rumb   tragen  in  der  statt 
(was  noch  heutigen  Tages  bei  dem  Lätarefest  in  der  Pfalz  geschieht)  und 
zwen  angethane  mann,  eyner  inn  Syngriin  oder  Eppheu,  der  hey/st  der  Sommer, 
der  ander  mit  gemiefs  angelegt,  der  hey/st  der  Winter;    dise  streitten  mit  eyn- 
diKler;    da  ligt  der  Sommer  ob  vnd  erschlecht  den  Winter,  darnach  gehet  man 
darauf  cum    wein    (S.  CXXXI"  der   Ausg.    v.   1534).      Leoprechting.    Aus 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen.  357 

dem  Lechrain,  S.  167,  bemerkt  sogar,  es  werde  der  Sonntag  Lätare.  oder 
Rosensonntag  „als  Sommertag  allenthalben  noch  heute  geehrt.  Der  Umzug 
des  Sommers  und  Winters  an  diesem  Tage  war  sonst  in  ganz  Bayern,  auch 
am  Lechrain  üblich  und  kommt  noch  jetzt,  doch  nur  mehr  vereinzelt  vor." 
Vgl.  auch  Bavaria  I.  1,  369.  Andererseits  lassen  sich  auch  bis  nach 
Westfalen  hinein,  wie  sich  sogleich  zeigen  wird,  die  Spuren  alter  Lätare  - 
gebräuche  verfolgen. 

Das  Rollen  des  Feuerrades  fand,  wie  in  Eisenach,  so  auch  in  Franken, 
am  Sonntag  Lätare  statt.  Die  Nachricht,  aus  der  dies  hervorgeht,  wird, 
seit  Grimm  sie  Myth.  595  (übrigens  fälschlich  unter  den  Fastnachtsbräuchen) 
beigebracht  hat,  stets  aus  Francks  Weltbuch  (S.  LI8  der  Ausg.  v.  1534) 
citiert.  Sie  ist  aber,  wie  so  vieles  andere  bei  Franck,  lediglich  Plagiat 
aus  Johannes  Boemus  (darüber  s.  u.),  und  während  Franck  nur  angiebt, 
dass  «las  betreffende  zu  mitterfasten  geschehe,  weist  Boemus  mit  den  Worten 
in  medio  quadragesimae ,  quo  quidem  tempore  ad  laetitiam  nos  ecclesia  ad- 
hortatur  bestimmter  auf  den  Sonntag  Lätare  hin.  Die  Stelle  lautet  bei 
Boemus  zunächst  weiter:  Juventus  in  jmtria  mea  (d.  i.  das  Städtchen  Aub 
in  Unterfranken,  an  der  Grenze  von  Württemberg  und  von  Mittelfranken) 
ex  Stramine  imaginem  contexit  quae  mortem  ipsam  (quemadmodum  depingitur) 
imitetur:  inde  hasta  suspensam  in  vicinos  pagos  voeiferans  portat.  Ab  aliquibus 
perhumane  susdpitur  <  t  liefe  pisis  siccatisque  pyris  quibus  tum  vulgo  vesci 
solemus  refeeta  domurn  remitUtur:  u  ceteris  quid  malac  rei,  utputa  mortis, 
proenuncia  sif,  humanitatis  nihil  pereipit,  sed  armis  et  ignominia  etiam  adfeeta 
a  finibus  repellitur.  Das  ist  eine  Art  des  bekannten  Todaustragens,  welches, 
bei  den  Slaven  und  im  östlichen  Mitteldeutschland  verbreitet,  in  Franken 
meines  Wissens  westwärts  bis  in  „Gegenden  des  unteren  Maingrundes,  wie 
Faulbach,  Stadtprozelten  und  Dorfprozelten"  (an  der  badischen  Grenze)  zu 
verfolgen  ist,  wo  „der  tote  Mann"  in  den  Main  geworfen  wird  (Bavaria 
P7,  1,  244).  Woher  der  „Kalender  von  1609"  stammt,  aus  welchem 
Birlinger,  Alemannia  1887  S.  119,  eine  Nachricht  über  das  Todaustragen 
mitteilt,  ist  leider  nicht  zu  ersehen;  aber  ganz  ähnliche  Bräuche  sind  aus 
rein  deutschen  Gegenden  sicher  und  reichlich  belegt.  So  wird  z.  B.  in 
Richterschwyl,  am  Züricher  See,  am  letzten  Fastnachtstage  ein  Strohmann 
auf  eine  Bahre  gelegt  und  von  einem  Zuge  Vermummter  auf  eine  Wiese 
getragen,  wo  man  ihn  an  einer  hohen  Stange  befestigt  und  dann  mit 
Fackeln  anzündet  (Mannhardt  a.  a,  0.  499),  und  so  wird  auch  anderswo 
an  demselben  Tage  bekanntlich  eine  Strohfigur  ausgetragen  und  verbrannt, 
ertränkt  oder  vergraben,  an  Orten,  für  die  slavischer  Einfluss  ausgeschlossen 
ist.  Fast  dieselbe  Ceremonie,  welche  in  Richterschwyl  die  Fastnacht  be- 
schliesst,  wird  in  Zürich  am  ersten  Montage  nach  der  Frühlingstag- 
undnachtgleiche vollführt  (Maunhardt  S.  498),  und  nahe  verwandt  ist 
wiederum  die  in  der  Rheinpfalz  vor  der  unteren  Hart  in  Battenberg, 
Weisenheim  a.  Berg,  Grünstadt  u.  s.  w.  am  Lätaresonntage  geübte  Sitte, 


358  Vogt: 

dass  die  erwachsenen  Knaben  in  Begleitung  von  Jung  und  Alt  eine  hohe, 
mit  Stroh  umwundene  Stange,  die  den  Winter  bedeutet,  vor  das  Dorf 
tragen  und  verbrennen  (Bavaria  IV,  2,  358).  Ja  auch  das  Abwerfen  und 
Verspotten  eines  auf  hoher  Stange  aufgerichteten  Bildes,  welches  ehedem 
in  Westfalen  am  Lätaretage  stattfand  (Kuhn,  Westfäl.  Sagen  II,  132)  und 
ähnliche  Gebräuche,  die  am  Montag  nach  Lätare  zu  Halberstadt,  am 
folgenden  Sonnabend  in  Hildesheim  geübt  wurden,  hängen  sicherlich  mit 
dieser  Sitte  zusammen  (Grimm,  Myth.  S.  653.  173).  Das  Austragen  und 
Verbrennen  oder  sonstige  Vernichten  irgend  einer  Figur  bei  dem  Frühlings- 
feste ist  also  jedenfalls  ein  Gebrauch,  den  die  Deutschen  nicht  erst  von 
den  Slaven  erhalten,  sondern  selbständig  neben  dem  Kampf  des  Sommers 
mit  dem  Winter  geübt  haben.  Auch  dass  sie  die  Puppe  wie  einen  Toten 
behandeln,  lässt  sich  in  Gegenden  nachweisen,  wo  an  slavischen  Einfluss 
nicht  zu  denken  ist.  Auf  diesen  mag  höchstens  die  Benennung  und  Dar- 
stellung der  Figur  als  Tod  zurückzuführen  sein.  Das  Einsammeln  von 
Gaben  verbindet  sich  mit  ihrer  Herumführung  in  Zürich  ebenso  wie  in 
Aub,  und  die  besonderen  Speisen,  welche  dabei  den  Einherziehenden  ge- 
schenkt werden,  sind  in  Aub  nach  Boemus'  Nachricht  dieselben,  welche 
auf  der  Rhön  die  vom  Invoeavitfeuer  Heimkehrenden  heischen,  nämlich 
Erbsen  und  Hutzeln;  wie  denn  jenes  Feuer  auf  der  Rhön  das  Hutzelmann- 
breunen  und  der  Sonntag  Invocavit  der  Hutzeltag  genannt  wird  (Bavaria 
IV,  1,  242  fg.).  Ob  auch  das  Rollen  des  Feuerrades,  von  welchem  Boemus 
berichtet,  in  einem  bestimmten  Zusammenhange  mit  dem  Todaustragen 
stand,  ob  er  es  ebenso  wie  dies  gerade  in  seiner  engeren  Heimat  beob- 
achtet hat,  oder  ob  er  es  im  allgemeinen  als  einen  fränkischen  Brauch 
bezeichnen  will,  geht  aus  seinen  Worten  nicht  hervor;  jedenfalls  fanden 
beide  Handlungen  am  Lätaretage  statt.  Boemus  setzt  nämlich  seine  an- 
geführte Mitteilung  wie  folgt  fort.  Eodem  tempore  et  talis  mos  obsen-atur: 
Intexitur  Stramine  vetus  una  lignea  rota,  atque  a  magno  juvenum  coetu  in 
editiorem  montem  gestata  post  varios  lusus  quos  in  Ulms  vertice  Uli  toto  die, 
nisi  frigus  impediat,  celebrant,  circiter  vesperam  incenditur,  et  ita  flammans 
in  subjectam  vollem  ab  alto  rotatur,  stupcndum  certe  spectaculum  praebet,  ut 
plerique  qui  prius  non  viderint  Solem  putent  aut  lunam  coelo  decidere. 

Diese  Lätarefeste  scheinen  im  Verein  mit  den  Beziehungen,  die 
zwischen  den  Osterfeuern  und  den  Fastnachts-  oder  Invocavitfeuern  walten, 
auf  eine  alte  deutsche  Feier  des  Frühlingsanfanges  im  März,  um  die  Zeit 
der  Tagundnachtgleiche,  hinzuweisen.  Jedenfalls  bestand  und  besteht  noch 
jetzt  ein  solches  Märzfest  gerade  auch  in  derjenigen  Gegend,  auf  welche 
sich  die  an  die  Spitze  dieses  Aufsatzes  gestellte  alte  Nachricht  vom  Scheiben- 
schlagen  am  21.  März  bezieht.  Dass  diese  Feier  ursprünglich  überall,  ebenso 
wie  damals  in  Lorsch,  genau  auf  unsern  Kalendertag  der  Frühlingstagund- 
nachtgleiche  gefallen  sei,  braucht  man  nicht  anzunehmen.  Das  Kloster 
Lorsch  hatte  die  Benediktinerregel  erhalten  und  der  21.  März  ist  der  Tag 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen.  359 

des  heiligen  Benedikt.  Freilich  war  nicht  Benedikt,  sondern  Nazarius  der 
Heilige  des  Klosters,  freilich  sagt  auch  die  Chronik  nichts  davon,  dass 
jenes  Fest  zu  Ehren  des  Benediktus  veranstaltet  sei,  ja  sie  bezeichnet  das 
Datum,  welches  sie  angiebt,  nicht  einmal  als  den  Tag  des  Heiligen,  und 
den  weltlichen  Charakter  des  Festes  hebt  sie  deutlich  hervor.  Trotzdem 
weist  schon  die  Feier  in  der  Nähe  des  Klosters  auf  den  Anschluss  an  ein 
kirchliches  Fest  und  die  alte  Märzfeier  wird  in  Lorsch  als  ein  Benediktus- 
Volksfest  begangen  sein.  Sonst  führt  ziemlich  auf  dasselbe  Datum  nur  das 
in  Zürich  am  Montag  nach  der  Frühlingstagundnachtgleiche  übliche  Herum- 
führen und  Verbrennen  der  Strohpuppe,  welches  oben  erwähnt  wurde. 

Als  einen  Teil  dieses  alten  deutschen  Frühlingsfestes  darf  man  das 
Scheibenschlagen  gewiss  betrachten.  In  den  Landschaften,  die  den  eigent- 
lichen Kern  des  Verbreitungsgebietes  dieser  Sitte  darstellen,  ist  sie  auf  die 
Frühlingsfeuer  beschränkt;  erst  in  weiterer  Entfernung  von  ihnen  schwankt 
sie  in  die  Johannisbräuche  hinüber.  So  wird  denn  auch  andererseits  die 
herkömmliche  Ansicht,  dass  das  Abwärtsrollen  des  brenneuden  Rades  ur- 
sprünglich der  Johaunisfeier  eigene,  festzuhalten  sein,  obwohl  dieser  Ge- 
brauch kaum  häufiger  bei  den  Sonnwendfeuern  als  bei  den  Fastnachts-, 
Lätare-  und  Osterfeuern  nachzuweisen  sein  wird.  Jedenfalls  hat  man  ihn 
schon  früh  mit  dem  Abwärtssteigen  der  Sonne  vom  höchsten  Punkte  ihrer 
Bahn  in  symbolische  Verbindung  gebracht  (Mythol.  588),  wie  ja  auch 
Boemus  den  Anblick  mit  einer  vom  Himmel  stürzenden  Sonne  vergleicht. 
Freilich  hat  Boemus  das  Radrolleu  bei  der  Frühlingsfeier,  das  Scheiben- 
treiben am  Johannistage  beobachtet.  Das  ursprüngliche  Verhältnis  wäre 
also  in  diesem  Faille  umgekehrt.  Dagegen  ist  es  z.  B.  in  Schwaben  noch 
gewahrt,  wo  neben  dem  Scheibenschlagen  auf  Invocavit  das  Wälzen  des 
Feuerrades  am  Johaunisfeste  bezeugt  ist.  Nahe  lag  es,  als  Gegenstück  zu 
dieser  Deutung  des  abwärts  gerollten  Johannisrades  in  dem  Aufwärts- 
schleudern der  feurigeu  Scheibe  beim  Frühjahrsfeste  ein  Symbol  für  die 
emporsteigende  Sonnenbahn  zu  seheu,  wie  es  Stöber,  Alsatia  1851  S.  121 
und  Mannhardt,  Wald-  und  Fehlkulte  I,  465  gethan  haben1).  Teilweise 
sind  freilich  die  Scheiben  so  klein,  dass  man  ein  Bild  der  Sonne  in  ihnen 
nicht  mehr  wird  finden  können;  in  einer  Gestalt  jedoch,  wie  sie  Felix 
Dahn  für  die  Nesselwauger  Gegend  beschreibt,  nämlich  „8  Zoll  im  Durch- 
messer   und  am  Rande  mit  Zacken  gleich  den  Strahlen  einer  Sonne  oder 


1)  Nach  indischer  Anschauung  knüpfte  sich  an  den  höchsten  Stand  der  Sonne  bei 
der  Sommersonnenwende  die  Befürchtung  der  Götter,  „dass  die  Sonne  über  den  Himmel 
hinaus  fallen  würde"  und  entsprechend  gab  bei  der  Wintersonnenwende  ihr  niedrigster 
Stand  zu  der  Besorgnis  Anlass,  „dass  sie  aus  dem  Himmel  herabfallen  würde";  s.  Hille- 
brandt,  Die  Sonnwendfeste  in  Alt-Indien,  Romanische  Forschungen  V  (Festschrift  für  Konr. 
Hofmann)  S.  303.  Nach  einer  solchen  Vorstellung  konnte  die  absteigende  Richtung  des 
Johannisrades,  die  aufsteigende  der  Frühlingsfeuerscheibe  ursprünglich  den  Zweck  haben, 
der  Sonne  gewissermasseu  die  Richtung  vorzuschreiben,  die  sie  im  einen  und  im  anderen 
Falle  zu  nehmen  habe. 


3f>0  VoSt: 

eines  Sternes  versehen,"  mögen  sie  wohl  au  die  am  Himmel  aufsteigende 
Sonne  erinnern.  Aber  sicherlieh  ist  der  Brauch  mehr  als  ein  blosses  Bild. 
Den  Charakter  einer  alten  Kultusliandlung  scheint  das  Scheibenschlagen 
noch  durch  verschiedene  Umstände  zu  verraten.  Ich  weiss  nicht,  ob  es  ein 
zufälliges  Zusammentreffen  ist,  dass  es  nach  den  beideu  ältesten  Nachrichten 
das  eine  Mal  bei  einem  Kloster  und  an  einem  bedeutsamen  Heiligentage, 
das  andere  Mal  vor  der  Residenz  des  Bischofs  von  dessen  Hofleuten  vor- 
genommen ist.  Jedenfalls  erhält  es  und  erhalten  die  Invocavit-  und 
Fastnachtsfeuer  überhaupt  nach  den  neueren  Angaben  nicht  selten  eine 
Art  religiöser  Beimischung.  Auf  dem  Heuberg  sagt  man  vor  der  Handlung 
drei  Vaterunser  und  den  Glauben  her  (Birlinger,  Aus  Schwaben  2,  62); 
in  Appenzell  (Innerrhoden)  werden  die  Kirchenglocken  geläutet,  während 
das  Feuer  flammt  (Staub-Tobler  I,  870),  und  aus  verschiedenen  Gegenden 
wird  berichtet,  dass  die  erste  Scheibe  zu  Ehren  der  heiligen  Dreieinigkeit 
geschlagen  wird.  In  Tettnang  sagten  die  Alten,  wenn  der  Mensch  am 
Funkensonntage  keine  „Funken"  mache,  so  mache  der  Herrgott  welche 
durch  ein  Wetter  (Meier,  Sagen,  Sitten  und  Gebräuche  II.  382).  Das  Er- 
füllen des  Brauches  wird  da  gewissermasseu  als  eine  fromme  Pflicht  auf- 
gefasst.  Dass  diese  nicht  christlichen  Ursprunges  sein  kann,  ist  klar:  ich 
brauche  kaum  erst  darauf  hinzuweisen,  dass  die  Kirche  keinen  irgend 
ähnlichen  Brauch  kennt.  Dafür,  dass  er  etwa  aus  römisch  -  heidnischer 
Überlieferuug  stamme,  fehlt  gleichfalls  der  Anhalt.  Er  wird  also  doch 
wohl  national-heidnischer  Herkunft,  aber  dem  Christentum  anbequemt  sein. 
Der  Heuberg  scheint  eine  heidnische  Kultstätte  gewesen  zu  seiu;  wenigstens 
war  er  nach  einer  Nachricht  vom  Jahre  1799  (Alemannia  1884  S.  161) 
beim  Volke  „ebenso  berüchtigt  wie  der  Blocksberg  auf  dem  Harze".  Es 
mochte  hier  besonders  nötig  erscheinen,  der  Handlung  eine  christliehe 
Einleitung  zu  geben.  Wirklich  haftet  ihr  denn  auch  wohl  gelegentlich 
etwas  Heidnisch -teuflisches  an.  So  sah  nach  einer  merkwürdigen  Sage, 
die  Zingerle,  Sitten,  Bräuche  und  Meinungen  '-'  S.  141  mitteilt,  bei  Landeck 
im  Oberinnthal  einmal  ein  Bube  nachts  einen  einäugigen  gewaltigen 
Mann  mit  riesigen  Hörnern  die  Scheiben  schlagen,  so  dass  sie  eine 
Stunde  weit  hinausflogen.  Nach  dem  unten  mitgeteilten  Schopfheimei 
Spruche  und  bei  Panzer  H,  S.  239  wird  auch  dem  Teufel  eine  Scheibe 
gewidmet.  Eine  solche  hat  nach  Panzer  einen  unabsehbaren  Bogen  gemacht. 
Dagegen  scheinen  nach  dem  sogleich  anzugebenden  Bericht  aus  Arzl  durch 
das  Scheibenschlagen  Teufel  vertrieben  zu  werden.  Auf  dem  ehemals 
Brünhilde-  oder  Brinholdestuhl  genannten  Felsen  bei  Dürckheim,  den  wir 
oben  als  Fastnachtsfeuerstätte  kennen  lernten,  sind  in  der  Römerzeit 
mancherlei  Zeichen,  darunter  am  häufigsten  Sonnenräder,  sowie  fünf 
Inschriften  eingehauen,  von  denen  eine  dem  Mercurius  Cisustius  Dens 
geweiht  ist:  Berliner  philologische  Wochenschrift  1889  Sp.  395  fg..  427  fg., 
459  fg.     Der    mit    dem    Brünhildenmythus    in  Verbindung   gebrachte  Fels, 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen.  361 

der  zum  Frühlingsfeuer  dient,  war  also  von  ältester  Zeit  her  ein  heiliger 
Ort1).  Eine  alte  Kultstätte  war  auch  der  oben  S.  353  erwähnte  Ort  bei 
Raon  l'Etape,  an  dem  die  Invocavitfeuer  mit  dem  Katzenopfer  stattfanden. 
Noch  ein  Berner  Mandat  vom  Jahre  1628  verdammt  die  Fastnachtfeuer  als 
heidnisch  (Staub  -Tobler  I,  947). 

Das  Scheibenschlagen  selbst  bietet  gewisse  Berührungspunkte  mit  einer 
deutsch-heidnischen  Sitte,  deren  Hrabanus  Maurus  Opp.  (Coloniae  1626) 
Y,  605  gedenkt,  Bei  einer  Mondfinsternis  hört  er  das  Volk  ein  zum  Himmel 
dringendes  Geschrei  erheben  und  erfährt,  dass  das  geschehe,  um  dem  Mond 
zu  helfen.  Andere  berichten  ihm,  dass  man  bei  ihnen  zu  Hause  zu  dem- 
selben Zwecke  Pfeile  und  andere  Geschosse  auf  den  Mond  zu  schleudere, 
wieder  andere,  dass  bei  ihnen  Brände  zum  Himmel  geworfen  würden; 
damit  sollten  gewisse  Ungeheuer  verscheucht  werden,  die  den  Mond  zu 
Verseilungen  drohten.  Hraban  tadelt  die  Gläubigen  scharf  wegen  dieser 
Handlungen,  die  nur  eine  Folge  ihres  so  oft  verbotenen  Verkehrs  mit  den 
Heiden  seien.  Für  sie  als  Christen  sei  es  lächerlich,  zu  meinen,  dass  sie 
bei  einem  solchen  Ereignis  Gott  Hilfe  bringen  müssten;  als  ob  dieser  die 
Gestirne,  die  er  geschaffen  hat.  nicht  selbst  verteidigen  könnte.  —  Sollte 
nicht  der  wie  eine  fromme  Pflicht  geübte  Brauch,  bei  einem  bestimmten 
Stadium  des  Sonnenlaufes  feurige  Scheiben  (bei  Mittenwald  in  Oberbayeru 
feurige  Pfeile)  in  die  Luft  zu  schlendern,  teilweise  einen  ähnlichen  Grund 
haben?  Bei  der  Frühlingstagundnachtgleiche,  bei  der  erst  der  volle  Sieg 
der  Sonne  über  die  Finsternis  zur  Entscheidung  kam,  wird  es  gegolten 
haben,  ihr  zu  helfen,  feindliche  Gewalten,  welche  die  Macht  des  segens- 
reichen Gestirnes  hemmen  wollen,  zu  verscheuchen,  indem  man  jene 
brennenden  Geschosse  gen  Himmel  warf,  die  zugleich  ein  Bild  der  sieg- 
reich Aufsteigenden  selbst  darstellten.  Die  Widersacher  der  Sonne  und 
ihrer  heilsamen  Wirkungen  aber  sind  die  von  dämonischen  Wesen  herauf- 
geführten Unwetter,  denen  vorzubeugen  ja  denn  auch  nach  der  Rede  der 
Alten  zu  Tettnang  die  ausdrückliche  Bestimmung  des  mit  dem  Scheiben- 
treiben verbundenen  Funkenfeuers  ist.  So  ist  denn  auch  mehrfach,  z.  B. 
in  Tirol,  die  Sitte  verbreitet,  bei  einem  Unwetter  gegen  die  Wolken  zu 
schiessen  oder  ein  Messer  emporzuschleudern,  weil  dann  die  Hexe,  die  das 
Wetter  bringt,  getroffen  wird  und  herniederfallen  muss  (Zingerle  3  S.  61 
Nr.  530 — 532;  vgl.  544  fg.).  Entsprechend  findet  sich  auch  die  Vorstellung, 
dass  das  Scheibentreiben  die  Dämonen  zwinge,  sich  zu  zeigen  und  zu  ent- 
fliehen:   „als  am   ersten  Fastensonntag  in  Arzl,    in  Oberinnthal,   Scheiben 


1)  Das  verdient  gewiss  Beachtung  für  die  mythische  Deutung  der  Brünhildensage 
überhaupt  und  für  ihr.'  Beziehung  auf  einen  Frühlingsmythus  insbesondere.  Aus  der 
Waberlohe  wird  die  Walküre  durch  den  Geliebten  geholt:  durch  das  Frühlingsfeuer  musste 
nach  einem  bei  Mannhardt  a.  a,  0.  463  bezeugten  Gebrauche  die  jüngste  Ehefrau  springen; 
vgl.  auch  das  Springen  von  Liebespaaren  durch  das  Johannisfeuer  ebenda  464  fg.  und  die 
symbolische  Auslegung  dieser  Gebräuche  492  fg. 


362  Vogt: 

geschlagen  wurden,  sah  man  sieben  Teufel,  die  tanzend  und  schreiend  in 
den  Wald  sprangen"  (a.  a.  0.  S.  141  Nr.  1226).  Jenem  Brennen  und  Sengen 
des  Hagels,  von  dem  bei  den  Fastnachts-  und  Invocavitfeuern  die  Rede 
ist,  wird  daher  ganz  besonders  das  Scheibentreiben  gedient  haben,  und 
das  „Hagelrad"  ist  ursprünglich  gewiss  nicht  das  bergabrollende  brennende 
Rad,    sondern  die  zu  den  Wolken  emporsteigende  Feuerscheibe  gewesen. 

Wie  das  Johannisrad  nicht  allein  die  absteigende  Sonne  symbolisiert, 
sondern  zugleich,  wenn  es  in  den  Fluss  hinabrollt,  Fruchtbarkeit  bringt, 
so  verbindet  also  auch  die  Frühlingsfeuerscheibe  das  Symbol  des  Sonnen- 
stadiums mit  der  Beförderung  der  Vegetation  durch  ihr  der  Sonne  hilf- 
reiches, den  Wetterdämonen  schädliches  Emporschnellen. 

Überall  wird  das  Scheibenschlagen  nach  den  Berichten  aus  neuerer 
Zeit  mit  bestimmten  Sprüchen  begleitet1).  Im  Elsass  ist  dies  nach  Stöber 
(Alsatia  1851  S.  120)  ein  Segensspruch  für  die  Eltern,  Geschwister,  Ver- 
wandten oder  Freunde.  Zu  Wasslenheim  im  Elsass  lautet  derselbe 
(Schneegans  a.  a.  O.  S.  196): 

(1)  Schiwälä,  Schiwälä.  rundi  Bein  (?) 
I  schlaa  di  im  (dem)  .  .  .  heim. 

(Hier  der  Name  der  Person,  zu  deren  Ehre  man  das  Scheibleiu  schlägt 
oder  schnellt,  z.  B.  dem  Herrn  Pfarrer,  oder  dem  Herrn  Doktor.) 

Zu  Schopfheim  im  Wiesenthal,  Kreis  Lörrach,  ruft  man  nach  münd- 
licher Mitteilung  des  Stud.  phil.  Rösch,  der  dort  noch  im  vorigen  Jahre 
dem  Scheibentreiben  beiwohnte: 

(2)  Sehibl.  Schibo,  die  Schibe  soll  gö, 
die  Schlba  soll  furo. 

Färt  si  links,  färt  si  rechts 

faxt  si  im  Diufl  ün  sinr  Grossmuedr  ebe  recht 

oder  auch:  färt  si  im  Vreneli  im  sim  Schatz,  oder  im  Herr  Pfarrer  un  Sinei' 
Frau  u.  s.  w.  ebz  recht.  Vgl.  auch  Meier,  Deutsche  Sitten.  Sagen  und  Ge- 
bräuche aus  Schwaben,  S.  382,  wo  noch  folgt  färt  si  nit  so  gilt  si  nit 
u.  s.  w. 

Am  Feldberg,  in  Altglashütten  z.  B..  heisst  es: 

(3)  Schib.  Schib,  Schib. 
schib  wol  über  de  Rhi2). 


1)  Die  von  ihm  selbst  und  die  von  Meier  (Schwab.  Sagen  II)  gesammelten  Sprüche 
hat  schon  Panzer  II,  531)  fg.  zusammengestellt:  er  hat  dabei  auch  schon  einige  mittel- 
hochdeutsche Verse,  aher  nicht  die  wichtigsten,  herangezogen. 

2)  In  diesem  zweiten  Verse  ist  schib  als  Imperativ  von  schiben,  in  drehender  Be- 
wegung dahinfahren,  aufzufassen:  es  ist  in  dieser  Bedeutung  auch  noch  in  der  Variante 
des  2.  Verses  des  9.  Spruches  (eig.  scheib  über  Rhein)  zu  erkennen  und  im  2.  des  6.  in 
Scheible  entstellt.  Rhi  in  diesem  alemannischen  Spruche  kann  nur  auf  den  Fluss  bezogen 
werden    und    lässt    sich    durch    die    Annahme    erklären,    dass    die   Verse    vom    Oberrhein 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen.  363 

Weam  soll  denn  di  Schib  si? 

Die  Schib  got  krumm 

die  Schib  got  grad, 

got  reacht  got  schleacht. 

sie  got  dem  N.  N.  eaben  reacht. 

Got  sie  net  so  gilt  sie  net. 

Birlinger,  Aus  Schwaben  II,  31  fg. 

Zu  Friedingen  an  der  Donau: 

(4)  Scheibo,  Scheibo, 

wem  soll  die  Scheibe  sein? 

Die  Scheibe  fliegt  wohl  über  den  Rhein, 

die  Scheibe  soll  meinem  Schätzle  sein. 

In  Altshausen: 

(5)  Scheib  auf,  Scheib  ab, 

Die  Scheib  geht  krumm  und  grad; 

die  Scheib  geht  links,  geht  rechts. 

geht  aus  und  ein, 

sie  geht  dem  und  dem  zum  Fenster  hinein. 

Am  Bodensee: 

(6)  Scheible  aus,  Scheible  ein, 
Scheible  über  den  Rhein! 
Wem  soll  dies  Scheible  sein? 
Es  soll  dem  und  dem  sein. 

Meier,  Sagen  etc.  aus  Schwaben  S.  381  fg. 
In  Wurzach: 

(7)  Scheib  aus,  Scheib  ein 

das  soll  der  N.  N.  zum  Lädle  'nein 

In  Ertingen: 

(8)  Scheible  auf,  Scheible  ab, 
gät  krumm,  gät  grad, 

gät  reacht,  gät  schleacht, 
gät  über  alle  Äcker  und  Wiese  na, 
der  TS.  TS.  ein  tausend  guete  Nacht. 
Birlinger,  Volkstümliches  aus  Schwaben  II,  59  fg.  67.  106.  108  fg. 
In  Tettnang,  im  Kloster  Weingarten,  und  sonst  hiess  es  bei  der  ersten 
Scheibe:   „Die  Scheibe  soll  der  höchsten  Dreifaltigkeit  sein".     Die  zweite 
Scheibe  verehrte  man  der  Landesregierung;   dann  wohl  eine  dem  Pfarrer, 


stammen.  In  den  schwäbischen  Versionen  könnte  man  an  sich  mit  Panzer  das  ent- 
sprechende Wort  vielleicht  als  Rain  fassen:  vgl.  auch  Birlinger,  Volkstümliches  II,  108, 
über  den  Scheibenrain.  Jedenfalls  wird  aber  den  verschiedenen  Sprüchen  ursprünglich 
dasselbe  "Wort  zugrunde  liegen. 


364  Vogt: 

dem  Schultheiss.  dem  Schatz  und  anderen  guten  Freunden.    Meier  a.  a.  0. 
8.  381  fg. 

Im  bayerischen  Sehwaben  lautet  der  Spruch  ebenfalls: 
(9)    Scheib  aus,  Scheib  ein 

flieg  über  den  Rein  (oder  scheib  überein); 

die  Scheib  die  soll  meinem  Schätzle  (Fastnachtsmädle,  der  N.  N.)  sein. 
An  der  Kamlach  mit  dem  Zusatz  fluigt  se  net  so  gilt  se  net  (Panzer  II 
S.  40  fg.     Bavaria  II.  2,  S.  838). 

In  der  Gemeinde  Matt,  im  Kanton  Glarus,  ruft  man: 

(10)  Schibe.  Sehibe  überribe, 

di  soll  mi  und  N.  N.  Idibe. 

Vernaleken,  Alpensagen,  S.  367. 
Im   äusseren  Allgäu  und  in  Oberbayern  aber  ist  der  typische  »Spruch: 

(11)  O  du  mei  liebe  Scheiben, 
wo  will  ich  dich  hintreiben? 

in  die  (Nesselwanger.  Mittenwalder)  G'meiu. 

Ich  weiss  schon  wen  ich  mein.  — 

mein  herzlieben  Schatz  (die  N.  N.)  ganz  allein. 

Bavaria  a.  a.  O..  Panzer  I  S.  211  fg..  II  S.  539. 
Oder  (12)    Diese  Scheiben  will  ich  treiben 

meiner  Herzallerliebsten  zu  Ehren; 

wer  will's  wehren? 

Bavaria  I,  1.  374.  vgl.  Sehmelier.  Bayr.Wb."  H,  356. 
Oder  (13)    Scheiben  will  i  treiben 

i  waas  schö  wem  i  maa 

(Sepales)  kaater  amuattas  laa.    (?) 

gets  iar  guat 

so  hat  si  s  guat: 

gets  iar  net  guat, 

wird  sie  s  net  für  übal  häbm. 
Eltern.  Bruder  und  Schwester,  „irgendein  geliebtes  Haupt"  werden  für 
Oberbayeru  (Panzer  I  S.  211)  und  ebenso  auch  für  den  Yintschgau  und 
das  Oberinnthal  als  diejenigen  genannt,  denen  man  Scheiben  widmet 
(Deutsche  Mundarten  II.  233).  Davon  wird  Bavaria  I,  1.  374  die  Redens- 
art „jemand  eine  Scheibe  einsetzen",  d.  h.  Ehre  und  Gefallen  thun,  ab- 
geleitet. Der  begleitende  Spruch  heisst  im  Yintschgau: 
(14)    Holepfann!    Holepfann! 

Korn  in  der  Wann, 

Schmalz  in  der  Pfann, 

Pflueg  in  der  Eard! 

Schau,  wie  die  Scheib  aufsireart. 
Zeitschr.  f.  d.  Mythöl.  1.  286  fg.,  Zingerle  2  S.  140  Nr.  1225. 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen.  365 

Für  das  Lesachthal  in  Kärnten  bezeugt  Lexer,  Zeitschr.  f.  d.  Myth. 
II,  31,  die  Anschauung,  wessen  Scheibe  beim  Scheibenschlageu  recht  weit 
im  schönen  Bogen  fliege,  dem  werde  es  durch  das  ganze  Jahr  gut  gehen. 
Bei  der  ersten  Scheibe  wird  dort  nach  Lexer  gerufen:  Ho!  dö  Scheibe,  dö 
Scheibe  schlag  i  zin  an  guotn  Unefank  und  an  guotn  Ausgänk.  Dann  folgen 
gereimte  Sprüche  „oft  der  beissendsten  Art".  Der  Anfang  derselben  lautet 
aber  immer:    Hö!  dö  Scheibe  schlag  t\ 

Die  satirischen  Sprüche  deuten  darauf,  dass  auch  im  Lesachthaie 
ein  Brauch  geübt  wird,  der  für  das  bayerische  Schwaben  mehrfach  bezeugt 
ist.  nämlich  das  Schlagen  von  Schimpfscheiben.  Einer  übelberüchtigten 
Person  zur  Schande,  einer  törichten  zur  Verspottung  kann  die  Scheibe 
getrieben  werden,  wobei  entweder  schon  die  blosse  Einsetzung  des  ver- 
rufenen Namens  genügt,  um  die  sonst  nur  zu  jemandes  Ehre  getriebene 
Scheibe  zu  einer  Schimpfscheibe  zu  machen,  oder  es  wird  auch  die  Be- 
ziehung auf  irgend  einen  dummen  oder  schlechten  Streich  in  den  Spruch 
hineingebracht.     So  z.  B. 

(15)    Scheib  aus,  Scheib  ein, 
flieg  über  den  Rain; 

und  die  soll  jener,  die  den  Ganser  am  Strick  zur  Tränk  geführt 

hat,  sein. 

Panzer  II,  240  fg.  aus  Waldstetten  und  Leinheim. 

Geradezu  als  eine  Art  bäuerlichen  Rügegerichtes  wird  diese  Sitte  nach 
Dahn  im  äusseren  Allgäu  geübt.  „Es  wird  beim  Wurf  des  fliegenden 
Rades  der  Name  eines  solchen  genannt,  an  dem  ein  geheimer  Makel,  eine 
halbbekannte  Schandthat  haftet,  die  aber  von  Polizei  und  Gericht  nicht 
entdeckt  oder  doch  nicht  gestraft  ist.  Das  Sprüchlein  dazu  lautet:  (16)  Ei, 
da  hab  ich  eine  Scheiben  Die  tvill  ich  hinaus  treiben,  und  weiter  dann  z.  B. 
der  Hans  hat  dem  Seppi  die  Gais  gestohlen,  wozu  dann  der  versammelte 
Haufe  dreimal  ruft  Hole  sie,  d.  h.  der  Angeklagte  soll  die  ihm  zu  Schimpf 
geworfene  Scheibe  holen"  (Bavaria  II,  2,  838  fg.,  vgl.  Panzer  I,  S.  210). 
Wie  hier  die  Vergehen,  so  werden  im  nördlichen  Teile  der  Vogesen  beim 
Scheibenschlaaen  harmlosere  Dino'e  aufgedeckt.  Mit  einer  Bocklarve  und 
einem  Fell  maskiert,  verkündet  dort  ein  Hirte  die  sämtlichen  heimlichen 
Liebschaften  und  künftigen  Ehebündnisse  der  Gemeinde,  indem  er  mit 
lauter  Stimme  die  Namen  der  betreffenden  Paare  brüllt,  während  die 
Scheiben  geschleudert  werden  (Mannhardt  a.  a.  O.  S.  456  nach  Erckmanu- 
Chatrian). 

Sucht  man  nach  einer  gemeinsamen  Grundlage  und  Erklärung  für 
diese  begleitenden  Gebräuche,  so  wird  man  sie  wohl  in  einer  Art  Opfer- 
orakel finden  können.  Dass  aus  dem  Opferfeuer,  insbesondere  auch  aus 
dem  Fastnachtsfeuer  geweissagt  wurde,  ist  eine  bekannte  Thatsache.  Haupt- 
sächlich  wurde   es  auf  die  Fruchtbarkeit  des  Jahres  gedeutet,    die  in  dem 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893.  25 


366  Vogt.: 

Vintschgauer  Spruche  auch  mit  der  brennenden  Scheibe  in  Verbindung  ge- 
bracht wird.  Auf  weitere  Prophezeiungen  deutet  dir  Angabe  des  Lorichius 
vom  Jahre  1593,  die  ich  Birlinger  2.  54  entnehme:  ..an  etlichen  Orten  hat 
man  Fassnachtsfeuer,  durch  welches  hellbrennen  und  scheinen  mancherley 
fäl  von  alten  Weibern  vermutet  werden."  Aus  der  Art,  wie  die  Scheibe 
brannte  und  wie  sie  flog,  zog  man  Schlüsse  über  Dinge,  wegen  deren  man 
das  Schicksal  befragte;  so  wird  sie  auch  Aufschluss  über  die  dabei  ge- 
nannten Vergehen  uud  Geheimnisse  gegeben  habeu.  Insbesondere  konnte 
sie  aber  auch  als  ein  Bild  des  Lebensschicksals  aufgefasst  werden.  Wie 
noch  heute  das  Brennen,  Flackern,  Verlöschen  und  Rauchen  der  Altar- 
kerzen auf  das  Leben  der  an  der  jeweiligen  heiligen  Handlung  Beteiligten 
gedeutet  wird,  wie  man  in  der  Flamme  des  Geburtstagslichtes  oder  am 
Silvesterabend  in  den  schwimmenden  Kerzchen  das  Lebensschicksal  ge- 
liebter Personen  vorgebildet  sieht,  so  konnte  auch  die  fliegende  Feuer- 
scheibe als  ein  Lebensorakel  dienen.  So  zeigt  denn,  wie  wir  sahen,  der 
schöne  und  weite  Bogen,  den  sie  beschreibt,  das  Glück  der  Person  an. 
der  sie  gewidmet  ist.  „Geht  sie  (die  Scheibe)  ihr  (der  Geliebten  u.  s.  w.) 
gut,  so  wird  sie  es  gut  haben;  geht  sie  ihr  nicht  gut.  so  wird  sie  das  dem 
Scheibenschläger  hoffentlich  nicht  übel  nehmen":  diesen  Sinn  wird  der 
IM.  Spruch  eigentlich  haben.  Ob  die  Scheibe  krumm  oder  grad,  ob  sie 
rechts  oder  links,  ob  sie  recht  oder  schlecht  geht,  das  hat  gewiss  ursprüng- 
lich seine  bestimmte  Bedeutung:  und  wenn  sie  „nicht  fliegt",  so  soll  sie 
„nicht  gelten",  um  kein  böses  Vorzeichen  für  die  betreffende  Persönlich- 
keit zu  sein.  Denn  leicht  und  unmerklich  vollzieht  sich  der  Übergang 
von  der  Vorstellung,  dass  der  Ausfall  der  Handlung  Glück  oder  Unglück 
vorausdeute,  zu  der,  dass  er  Glück  oder  Unglück  bringe.  So  setzen 
denn  verschiedene  der  angeführten  Sprüche  eine  Auffassung  voraus,  als 
ob  die  Scheibe  glücktragend  dem  zufliege,  zu  dessen  Ehre  sie  geschleudert 
ist:  man  verdient  sich  seinen  Dank,  und  der  Lohn  wird  in  verschiedenen 
Gegenden  nach  Beendigimg  der  Feier  in  0 estalt  eines  bestimmten  Gebäckes 
von  den  Betreffenden  eingefordert.  Aus  dem  Opfer  für  die  Sonne  und 
ein  fruchtbares  Jahr  wäre  auf  diese  Weise  durch  das  Orakel  hindurch  ein 
Opfer  für  geliebte  Personen  geworden;  doch  wird  dabei  auch  das  unten 
zu  berührende  Bild  vom  Glücksrade  mit  eingewirkt  haben.  Dass  sym- 
bolische Gebräuche,  welche  sich  auf  die  Fruchtbarkeit  des  Feldes  beziehen, 
auch  zugleich  eine  Anwendung  auf  das  sexuelle  Leben  erhalten  können 
und  umgekehrt,  hat  besonders  Mannhardt  zweifellos  nachgewiesen.  Aber 
das  Scheibentreiben  wird  gewiss  nicht  auf  diesem  Wege  aus  dem  Gebiete 
des  Naturlebens  in  das  des  Menscheulebens  hineingetragen  sein.  Denn  es 
ist  ja  keineswegs  nur  ein  Liebesbrauch.  Überall  werden  so  gut  wie  für 
die  Geliebte  auch  für  andere  Persönlichkeiten  die  Scheiben  geschlagen, 
insbesondere  auch  zu  Ehren  der  angesehensten  Personen  aus  der  Gemeinde. 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen.  367 

Auch  in  dieser  Beziehung  ist  die  Sitte  älter,  als  es  bisher  nachgewiesen 
war.  Gottfried  von  Strassburg  sagt  im  Tristan  V.  7165  von  dem  König 
Gurmün  Gemuotheit,  der  in  Herzog  Morolt  die  beste  Stütze  seines  Reiches 
und  dessen  tapfersten  Vorkämpfer  verloren  hat: 

diu  schibe,  diu  sin  ere  truoc, 
die  Morolt  friliche  sluoc 
in  den  bilanden  allen, 
diu  was  dö  nider  gevallen. 
Man  hat  das  bisher  auf  das  Glücksrad  bezogen.    Aber  hier  ist  weder  vom 
Glück,    noch    von    einem  Rade    die  Rede.     Oft  genug  ist  es  in  Wort  und 
Bild  dargestellt,  dass  ein  Mensch  mit  dem  um  seine  Achse  sich  drehenden 
Glücksrade    aufsteigt    und    niederstürzt,    niemals   aber   ist  davon  die  Rede 
und  kann  davon  die  Rede  sein,  dass  das  Glücksrad  selbst  niederfällt  (vgl. 
die  Nachweise  bei  Weinhold,  Glücksrad  und  Lebensrad.   Berlin  -     aus  den 
Abhandlungen   der   Akademie   -      1892    und   Wackernagel,    Zeitschr.  f.  d. 
Altert.  6,  134  fg.    Kl.  Schriften  I,  245  fg.).    Wenn  also  Gottfried  von  einer 
Scheibe   spricht,    die  jemand  einem  andern  zur  Ehre  geschlagen  hat  und 
die  nun  herabgestürzt  ist,  so  hat  er  zweifellos  nicht  das  Glücksrad,  sondern 
das  Scheibentreiben  im  Sinne,  das  er  in  jedem  Frühjahr  im  Elsass  beob- 
achten  konnte.     So   kommt   erst  die  ganze  poetische  Schönheit  des  Bildes 
zur   Geltung:    der  Held,    der    in    allen   Grenzlanden    siegreich    für    seines 
Königs   Ehre    kämpft,    erscheint   als  einer,    der  für  den  König  die  Feuer- 
scheibe   frei    vom  Berg   in  die  Lüfte   emporschlägt,    dass  sie,   seine  Ehre 
kündigend,    über  die  Lande  dahinfährt;   da  plötzlich  wird  ihr  stolzer  Flug 
unterbrochen  und  jählings  sürzt  sie  nieder. 

So  dürfen  wir  denn  auch  andere  Stellen  bei  mhd.  Dichtern,  die  sieh 
auf  ein  schicksaldeutendes  Gehen,  „Scheiben"  und  Treiben  der  Scheibe 
beziehen,  mit  unserer  Sitte  in  Zusammenhang  bringen,  wenn  dieser  auch 
nirgend  so  augenfällig  wie  an  der  einen  Stelle  hervortritt.  Sww  käme  so 
min  schibe  ge,  sagt  Tristan  Y.  14474,  als  er,  selbst  unglücklich,  der  Brangaene 
gerne  Liebes  erweisen  möchte.  Min  schibe  gdt  ze  wünsche,  singt  Neidhart 
13,  39  von  seinem  eigenen  Schicksal,  ebenso  63,  21  swie  so  mir  min  schibe 
ze  wünsche  niht  enloufe;  68,  19  dem  sin  schibe  als  ebene  gie  diust  im  vollen 
frcege,  wol  mich  minem  willen  laz;  seine  Worte  91,  13  dem  get  sin  schibe 
enzelt  sie/des  unde  krumbes,  erinnern  an  die  des  3.  und  8.  Spruches  die  Schib 
got  krumm,  die  Schill  got  grad,  got  reacht,  got  schleacht;  vgl.  auch  Martina 
219,  54  dir  gdt  diu  schibe  nu  entwer,  die  du  ml  ungefuoge  da  her  gar  ebin 
sluoge.  ich  solte  in  minen  tagen  och  tuine  schuhen  hän  geslagen.  Eine  ähn- 
liche Vorstellung,  wie  die  im  5.  und  7.  Spruche,  dass  die  Scheibe  dem 
betreffenden  (der  Geliebten)  zum  Fenster  hineingehe,  liegt  den  Versen 
2677  ff.  der  „Erlösung"  zugrunde,  die  here  geluckes  schibe  Marien  dur  ir 
oren  scheip,  während  Stellen  wie  wol  gie  ir  schibe,  Lohengrin  146,  ir  schibe 

25* 


368  v°st: 

gie  für  sich  (ebenda  189)  wieder  nur  an   den  Brauch  im  allgemeinen  er- 
innern. 

Auch   bei    der  Kedensart  trip  dine  schtben  so  si  gdt   (Heinzelin,  Der 
Minne  lere  2012)  könnte  man  noch  an  unser  Scheibentreiben  denken,  da 
es  bei  diesem  darauf  ankommt,  die  zuvor  in  Schwingung  versetzte  Scheibe 
im  rechten  Augenblicke  vom  Stock  abspringen  zu  lassen.    Aber  die  Varia- 
tionen   so    solder    die  schtben   allez  für  sich  triben,    die   wil  si  gieng  so  eben 
Ottaker  52  487  und  die  wü  daz  dinc  also  stet,  daz  diu  schibe  eben  get,  so  sol 
man  si  niht  sten  Mn,   ebenda  79  690  nötigen  zu  einer  anderen  Auffassung. 
Sie  sind  gewiss  auf  das  Glücksrad  zu  beziehen  und  aus  einer  Vorstellung 
zu    erklären,    welche    dem  Bilde    vom   Steigen    und    Stürzen   der   auf  ihm 
Sitzenden    eigentlich    widerspricht    und   doch   mit  diesem  zugleich  bezeugt 
ist,    dass    nämlich    derjenige    glücklich   ist,    dem   sich  das  Ead  unablässig 
dreht.    So  ist  Wigalois  V.  1036  fg.  von  einem  aus  Gold  gegossenen  Glücks- 
rade  die  Rede,    welches  in  steter  Drehung  menschliche  Figuren  aufwärts 
und    abwärts    bewegt,    und   doch   bezeichent  daz  dem  wirte  nie  an  deheinem 
dinge  missegie;  vgl.  dazu  Lohengrin  119  also  daz  uns  gelückes  rat  ob  got  wü 
laufet  sumer  und  die  winder;   Konrad  v.  Würzburg  Engelhart  4400   mir  get 
der  Saiden  schtbe;    Br.  Wernher  (MSH.  2,  229'')  so  vürhte  ich  daz  gelückes 
rat  noch  vor  dem  riche  stille  ste.     Dass   manchmal  auch  an  das  Dahinrollen 
der  Glückskugel  zu  denken  sei,  wenn  von  Bewegungen  der  schibe  in  bild- 
lichem Sinne  gesprochen  wird,    ist  an   sich  wohl  möglich,   da  schibe  auch 
Kugel  bedeuten  kann.    Aber  notwendig  ist  diese  Auffassung  an  keiner  von 
allen    den   Stellen,    welche  Wackernagel  a.  a.  O.   146  fg.  in   diesem   Sinne 
deutet.   Auch  wenn  man  mit  ihm  annimmt,  dass  das  Bild  von  der  Bewegung 
der  Glücksscheibe  durch  ein  unserm  „Boccia"  ähnliches  Spiel,  wie  es  Hugo 
von  Trimberg  schildert,  gelegentlich  beeinflusst  sei,  so  braucht  man  doch 
auch  in  diesem  Falle  nicht  an  Kugeln  zu  denken,   da  wie  diese,   so  auch 
Scheiben    im    eigentlichen   Sinne    zum  Spiele    geschleudert   werden.     Das 
Diskuswerfen,  welches  dem  Hyacinthus  das  Leben  kostete,  nennt  Albrecht 
von  Halberstadt  schtben  triben  (Bl.  102 *-h,  s.  Bartschs  Ausgabe  S.  477 »);  in 
dem    Gedichte    vom    heiligen   Christophorus   wirft  der  Held  im  Wettspiele 
„den  stain  oder  die  schaben"  (Zeitschr.  f.  d.  Altert,  17  S.  91,  V.  194  fg.)  und 
in  den  photolithographischen  Nachbildungen  der  „Miniaturen  der  Manesse- 
schen  Liederhandschrift  von  Kraus  (Strassburg  1887)"  kann  man  auf  S.  1 14 
zwei    junge   Männer   sehen,    die  augenscheinlich  mit  Scheiben  nach  einem 
Ziele    werfen    wollen.     Das  Bild    der    weithin   durch  die  Lüfte  sausenden 
Frühlings -Feuerscheibe  aber  scheint  auf  die  Vorstellung  vom  Glücksrade 
eingewirkt  zu  haben  in  jener  Sage,   nach  welcher  die  zwölf  Johansen  auf 
einer  Glücksscheibe  in  kürzester  Zeit  durch  alle  Lande  dahin  fahren  und 
erkunden,  was  in  der  Welt  geschieht,  wobei  denn  einer  auf  den  Petersberg 
bei  Halle  herabfällt  (Grimm,  Sagen  Nr.  338,  Wackernagel  a.  a.  0.  S.  138). 
Ja  ich  halte  es  nicht  für  unwahrscheinlich,  dass  sich  die  Umgestaltung  der 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen.  369 

Vorstellung  von  dem  Rade  und  der  Kugel  als  Attribut  der  Fortuna  zu 
derjenigen,  dass  jeder  Mensch  seine  eigene  schibe  habe  (Weinhold  S.  9), 
unter  Einwirkung  der  alten  Sitte  des  Scheibentreibens  vollzogen  habe. 
Und  umgekehrt  wird  das  Bild,  dass  die  Feuerscheibe  demjenigen,  welchem 
sie  gewidmet  ist,  als  Glücksbringerin  zufliege,  durch  das  Glücksrad  als 
Symbol  nicht  allein  des  Glückswechsels,  sondern  auch  des  Glückes  selbst 
beeinflusst  sein.  So  hat  wohl  eine  Wechselwirkung  zwischen  den  Vor- 
stellungen stattgefunden,  die  sich  einerseits  an  das  Glücksrad,  andererseits 
an  die  Frühlingsfeuerscheibe  anlehnten. 


IL   Sebastian  Franck  und  Johannes  Bohemus. 

Sebastian  Francks  Weltbuch  ist,  wie  oben  schon  angedeutet  wurde, 
zum  guten  Teil  ein  Plagiat  aus  Joannes  Boemus  Aubanus  omnium  gentium 
mores,  leges  et  ritus.  Das  gilt  insbesondere  auch  von  dem  interessanten 
und  bei  mythologischen  Untersuchungen  viel  benutzten  Kapitel  über  das 
fränkische  Festjahr  (S.  L  der  Ausgabe  vom  Jahre  1534).  Wie  sich  Franck 
hier  zu  Boemus  verhält,  dafür  ist  schon  der  Satz  sehr  charakteristisch,  mit 
dem  beide  diesen  Abschnitt  einleiten.  Boemus  sagt:  Multos  mirandos  ritus 
observat  (Franconia)  quos  ideo  referre  volo,  ne  quae  de  externis  scribuntur 
inanes  fabulae  aestimentur .  Franck:  Sye  (die  Francken)  haben  vil  seltzamer 
breüch  die  ich  darumb  erzölen  will,  das  man  difs,  so  von  aufslendern  gesagt 
wird,  dester  ee  geglaubt  werd  (so!),  vnd  das  wir  nitt  verwennen  die  Juden, 
Türeken,  Heyden  etc.  seyen  allein  narren,  weil  wir  so  torecht  breüch  vor  der 
thür  in  vnfern  landen  haben,  vnd  dannocht  Christen  wollen  sein.  Franck 
schliesst  sich  also  seinem  ungenannten  Gewährsmann  so  genau  an,  dass  er 
auch  dessen  persönliche  Bemerkungen  mit  übernimmt;  aber  sein  selb- 
ständiger Zusatz  zeigt,  dass  er  diese  Volksbräuche  vom  Standpunkte  eines 
beschränkten  Rationalismus  oder  Purismus  aus  verachtet  und  verdammt 
und  zwar  am  meisten  da,  wo  sie  auch  in  das  kirchliche  Volksleben  ein- 
gedrungen sind.  Daraus  erklären  sich  dann  auch  einzelne  Änderungen, 
die  er  au  Boemus'  Text  vornimmt.  Andere  sind  auf  Flüchtigkeit  und 
mangelndes  Verständnis  zurückzuführen.  So  giebt  er  die  oben  S.  349  fg. 
mitgeteilte  Nachricht  des  Boemus  über  das  Scheibentreiben  in  Würzburg 
folgendermassen  wieder:  Das  Bischöflich  ho  f gesind  wirft  auf  disen  tag  bey 
yren  freudenfeür  auf  dem  berg  hinder  dem  schlofs  feurine  kugeln  in  den  flu/s 
Moganum  J'o  meyfterlich  zttgericht,  als  ob  es  fliegend  Trachen  weren.  Die  voraus- 
gehende Beschreibung  der  sonstigen  Johannisfeuer  hat  er  auch  aus  Boemus 
übersetzt,  aber  er  übergeht  dessen  Angabe,  dass  diese  Feuer  fast  in  allen 
deutschen  Flecken  und  Städten  öffentlich  abgehalten  werden,  dass  sich  Mann 
und  Weib,  Alt  und  Jung  mit  Gesang  und  Tanz  daran  beteiligen,  dass  die 
Kränze,  die  sie  dabei  tragen,  aus  Artemisia  und  Verbena  bestehen.  Un- 
vollständiger   und    unklarer    ist    auch   seine  Angabe  über  das  Pflueziehen 


370  \  Ogl  : 

der  Jungfrauen  als  die  spiner  Quelle.  An  dem  Rhein,  Franckenland  vnd 
etlichen  andern  samlen  die  jungen  gesellen  all  dantz  junckfrauwen,  vnd  setzen 
fy  in  ein  pflüg  vnd  ziehen  yhren  fpilman  der  auf  dem  pflüg  sitzt,  vnd  pfeift, 
in  <l<is  waffer,  Pranck.  In  die  cinerum  mirum  est  quod  in  plerisque  locü 
agitur.  Virgines  quotquot  per  annum  choream  frequentaverunt  a  juvenibus 
congregantur,  et  aratro  pro  equis  advectae,  cum  tibicine,  qui  super  illud  modu- 
lans  sedet,  in  fluvium  aut  lacum  trahuntur,  Boemus.  Was  Franck  im  An- 
schluss  daran  über  das  an  andern  Orten  übliche  Ziehen  des  brennenden 
Pfluges  und  über  das  Prellen  des  Strohmannes  berichtet,  ist  selbständiger 
Zusatz.  So  wird  er  auch  aus  eigener  Anschauung  die  Nachricht  des  Boemus 
vom  Tanz  um  das  Christusbild  am  Weihnachtstage  dahin  ergänzt  haben, 
dass  dasselbe  in  eine  Wiege  gelegt  und  gewiegt  wurde.  Bei  Boemus  lautet 
die  Stelle:  Quo  Christi  Jesu  natalem  gaudio  in  templis  non  clerus  solum  sed 
omnis  populus  excipiat,  ex  hoc  attendi  potest,  quod  puerili  stabuncula  in  altare 
coüocata,  quae  nuper  editum  repraesentet,  juvenes  cum  puellis  per  cir- 
cuitum  tripudiantes  choreas  agant,  seniores  cantent  more  haud 
multum  ab  eo  quidem  diverso,  quo  Corybantes  olim  in  Ideae  montis  (nitro  circa 
lovem  vagientem  exultasse  fabulantur.  Unwillkürlich  muss  man  bei  dieser 
Beschreibung  an  das  alte  Verbot  der  Synode  von  Auxerre  im  Jahre  585 
denken  non  licet  in  ecclesia  choros  saecularium  et  puellarum  canticd  exercere, 
eine  Bestimmung,  deren  Beziehung  auf  einen  Volksgebrauch  man  neuer- 
dings ohne  genügenden  Grund  angefochten  hat. 

Einzelne  Ergänzungen  zu  Boemus'  Angaben  finden  sich  auch  sonst 
noch  bei  Pranck  neben  den  Kürzungen,  die  er  an  anderen  Stelleu  mit 
seiner  Vorlage  vornimmt.  Man  nmss  also  bei  den  Angaben  über  das 
fränkische  Festjahr  Boemus  und  Pranck  nebeneinander  benutzen,  jenem 
aber  die  Geltung  und  die  Ehre  des  ersten  Gewährsmannes  lassen. 

In  dem  Kapitel  über  die  Sachsen,  welches  Franck  ebenfalls  wesentlich 
aus  dem  Boemus  übernommen  hat,  findet  sich,  vollständig  wiederum  allein 
bei  diesem,  folgende  merkwürdige  Angabe,  die,  soviel  ich  weiss,  bisher 
nicht  beachtet  ist.  (Templum)  quod  Halberstadio  est  beatae  virgini  sacrum, 
prophanis  non  patet,  tantum  initiati  subeunt.  Inducitur  tarnen  unus  aliquis  e 
populo  cinericio  die  hominum  opinione  neqmssimus.  Hunc  velato  capite  pulla 
veste  sacris  admoveni  quibus  rite  peractis  templo  ejicitur:  ejeetus  toto  jejuniorum 
tempore  nudis  calcibus  urbem  pererrat,  divorum  templa  oisitabundus.  Sacer- 
dotes  Uli  Vitium  suggerunt,  mox  in  dominica  coena  iterum  induetus,  post  olei 
consecrationem  ab  universo  clero  expiatus  dimittitur  elemosyna  prius  aeeepta, 
quam  pie  ofert  templo.  Hüne  Adam  vulgo  vocant,  quin  ut  protoplastus  ille 
omni  vacet  crimine,  per  ewmque  cicitas  creditur  expiata.  Pranck  schreibt: 
Ein  gewonheit  ist  in  dieser  ftatt  dafs  fy  all  jar  den  gröften  fünder  fo  fy  wiffen 
in  yrer  acht  in  <i)i  klüglich  kleyd  an  mutzen,  vnd  am  erften  tag  in  der  faften 
in  die  kirchen  füren,  darnach  o/s  ein  bannigen  wider  aufsftoffen,  der  mufs 
die    gantze  faften    in    der  ftatt   ein!  aufferihalh   teglich    vmb  die  kirchen  geen, 


Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen.  371 

bi/s   auf  den  grünen  Dorn/tag,   fo  füren  fy  yn  wider  in  die  kirch,   vnd  nach 
befchehene  bett  abfolvieren  fy  yn,  der  ift  nachmals  aller  Juni len  reyn  \  vnd  wirt 
Adam  geheyj'fen,  dem  fy  eil  gelts  geben,  das  er  doch  der  leirchen  müfs  laffen, 
vnd  wider  opfern,  fo  ift  er  der  fiinden  frey,  wie  ein  hund  der  flöh.    Was  für 
uns  das  interessanteste  au  der  Sitte  ist,  fehlt  in  Francks  Wiedergabe:  die 
dunkle  Farbe  des  Kleides,  das  Verhüllen  des  Hauptes,  was  sonst  bei  den 
dem  Tode  Geweihten  geschah,  die  Eutsühnung  der  ganzen  Stadt  durch  den 
einen  Bösewicht.     Diese  Züge  deuten  sicherlich  die  symbolische  Opferung 
eines   Menschen,    eines  Verbrechers   zur  Sühne   für   die  Stadtgemeinde  an. 
Und    damit    berühren    sich    nun    merkwürdig  gewisse  Gerichts-   und  Hin- 
riclitungsscenen,    die    an    demselben    Tage,    am    Aschermittwoch,    in    ver- 
schiedenen Gegenden  Deutschlands  als  Festgebrauch  vorgenommen  werden. 
Ein  öffentliches  Narrengericht  wurde  nach  altem  Brauche  an  diesem  Tage 
zu    Stockach    abgehalten;    vergl.    Birliuger,    Aus    Schwaben    II,    47.     Die 
Zimmerische  Chronik   erwähnt  IV,   135    ein    solches    zu  Meringen    (vergl. 
Birliuger  a.  a.  0.  S.  40).    In  Bühl  bei  Tübingen  und  in  andern  Orten  wird 
zur  Fastnacht  gegen  einen  Strohmann,    dessen  Hals  durch  eine  besondere 
Vorrichtung  mit  Blut  gefüllt  ist,  eine  förmliche  Anklage  vorgebracht;    das 
Urteil  wird  über   ihn  gesprochen,    der  Stab  gebrochen  und  der  Kopf  wird 
ihm   abgeschlagen,    so   dass  das  Blut  aus  dem  Halse  spritzt.     Am  Ascher- 
mittwoch   wird    er    beerdigt;    man    nennt    das   „die   Fassnacht    vergraben" 
(Meier,  Deutsche  Sagen,  Sitten  und  Gebräuehe  aus  Schwaben  S.  371).    Im 
Allgäu  wurde  ein  als  Weil)  verkleideter  Mann,  der  die  Hexe  genannt  ward, 
zum  Tode  verurteilt  (Birliuger  II,  33).    In  Rangendingen  wurde  am  Ascher- 
mittwoch „die  Hexe  feierlich  erschossen  und  ins  Pfarrers  Miste  begraben" 
a.  a.  0.  38.     Zu  Forbes,  im  Bud weiser  Kreise,  wird  bei  der  ersten  Hoch- 
zeit  im  Fasching  ein  Hahn  wie   ein  Mensch  gekleidet,    von  zwei  Gästen 
angeklagt,  von  einem  Richter  förmlich  zum  Tode  verurteilt,  dann  in  feier- 
lichem  Zuge    in    die   Mitte    des   Marktfleckens   geleitet  und  dort  öffentlich 
enthauptet    (Yernaleken,    Mythen    und  Bräuche  des  Volkes  in  Österreich, 
S.  303  fg.).    In  Chrudim  wird  der  verurteilte  Hahn  an  den  Galgen  gehängt. 
In  Österreichisch-Schlesien  findet  das  Hahnenschlagen  am  Aschermittwoch 
statt    (a.  a.  0.  S.  304).     Die    scheinbare  Tötung  eines  von   zwei  Burscheu 
dargestellten  Ochsen  am  Aschermittwoch  erwähnt  Birliuger  H,  60  aus  der 
Augshureer  Gegend.     Dass    auch    die    so    weit    verbreiteten   Bräuche    des 
Begrabens    der  Fastnacht    und    des  Hexenbrennens  mit  der  symbolischen 
Opferung  eines  Verurteilten  zusammenhängen,  zeigen  die  eben  angeführten 
Bühler,  Allgäuer  und  Rangendinger  Sitten. 

Zeigten  sich  Sebastian  Francks  Angaben  neben  denen  des  Johannes 
Boemus  schon  als  geringwertig,  so  ist  nun  andererseits  neben  Francks 
Weltbuch  absolut  wertlos  das  „Papisteubuch",  welches  Birliuger  in  der 
Germania  1872  S.  79  fg.  und  zum  zweitenmale  in  „Aus  Schwaben"  n 
S.  157  fü,'.    nach   einer  Handschrift   des  16./17.  Jahrhunderts    mitgeteilt  hat. 


372  Vogt:  Beiträge  zur  deutschen  Volkskunde  aus  älteren  Quellen. 

Es  ist  nämlich  nichts  weiter  als  eine  schlechte  und  unvollständige  Abschrift 
von  Seb.  Francks  Kapitel  von  der  Romischen  Christen  fest-feyr,  S.  CXXbfgg. 
der  Ausgaben  des  Weltbuches  von  1534  und  1542.  Damit  erledigt  sich 
auch  Birlingers  Angabe,  das  Stück  sei  „offenbar  ein  Abklatsch"  aus  Rud. 
Hospinianus,  De  origine,  progressu  etc.  festorum  apud  Judaeos  Graecos  etc. 
Hospinianus'  Werk  ist  58  Jahre  nach  Francks  Weltbuch  erschienen. 

III.   Neujahrsorakel  in  der  ersten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts. 

Honorius  von  Autun  bemerkt  im  Speculum  Ecclesiae  Migne  Patrol. 
T.  172,  842D  bis  843A  über  die  Neujahrsnacht  folgendes.  Sed  heu!  quidam 
miseri  et  nimium  infelices  de  numero  fidelium  hac  sacra  nocte  ritum  seetantur 
gentilium.  Curiositate  quippe  illecti,  immo  a  daemonibus  deeepti,  dum  quaedam 
novo,  et  vana  scire  cupiunt,  in  grave  animae  periculum  corruunt .  . .  Illos  dico 
qui  instinetu  diaboli  in  desertis  locis  per  maleficia  daemones  invocant;  aliis 
incognita  ab  his  discere  desiderant  .  .  .  Sed  hü  qui  hac  nocte  ad  sepulchra 
mortuorum  aliquid  sciscitantiir ,  utique  cum  mortuis  in  infernum  deputantur. 
Omnes  etiam  qui  hac  nocte  ad  aliquem  fontem  vel  arborem  vel  lapidem,  vel 
aliquem  locum  non  consecratum  quasi  aliquid  novi  ibi  cognituri  currunt,  vel 
si  viri  muliebrem  vel  mulieres  virilem  habitum  pro  quolibet  maleficnim  (male- 
fieid)  induunt,  vel  quiequam  quod  sane  fidei  contrarium  sit  hac  nocte  agunt, 
absque  dubio  in  dominium  diaboli  se  tradunt;  sed  qui  eis  talia  facere  consentiunt 
cum  eis  pereunt. 

IV.   Halinjörs. 

Über  schleswig-holsteinische  Weihnachtsbräuche  findet  sich  manches 
interessante  in  folgendem  Büchlein,  welches  von  Müllenhoff  nicht  benutzt 
ist:  Der  Sonderlich  auch  um  die  Weyhnacht-Zeit  bei  dem  sogenannten  Kind 
JEsus  und  bey  dem  Beschehren  der  Christ- Gaben  sehr  leyder!  entheiligte  und 
schändlich  missbrauchte  Name  unsera  Heglandes  JEsu  Christi  ....  ans  Licht 
gestellt  von  M.  Johann  Melchior  Krafften.  Hamburg  1721.  Vor  allem 
verdient  eine  merkwürdige  Vorstellung  Erwähnung,  deren  gelegentlich  der 
auf  S.  48  fg.  besprochenen  Schmausereien  in  den  zwölf  Nächten  gedacht 
wird,  dass  nämlich  in  dieser  Zeit  in  Stapelholm  die  Bahnjörs  „nicht  zwar 
eigentliche  Zauberische  wol  aber  Leute  zwischen  beyden"  in  Küche  und 
Keller  herumgehen,  essen  und  trinken,  auch  an  gewissen  Orten  tanzen, 
wobei  sie  nur  für  gewisse  Leute  sichtbar  sind.  Ich  weiss  den  Namen  weder 
zu  erklären,  noch  sonst  nachzuweisen.  Das  Treiben  der  Halinjörs  erinnert 
an  Vintlers  Blume  der  Tugend  V.  7952  so  findt  man  den  zaubrerin  unrain 
die  den  lütten  den  wein  trinckend  auss  den  kelern  verstolen,  die  selben  haisset 
man  unhollen  (var.  unholen,  unverholen). 

Breslau. 


Das  Saterland.  373 


Das  Saterland. 

Ein  Beitrag   zur   deutschen  Volkskunde 
von  Theodor  Siebs. 

(Schluss.) 


VI.  Tracht. 

Frauen  kl  ei  düng.  Bi  ölden  t/den,  dö  hfden  dö  wiye  en  gri'ne  kape 
med  göHdne  blö"me,  det  was  en  gri'nen  gründ  un  dan  med  rode  blöumen  un 
med  siden  lint,  en  kantigen  strimel  derfär.  Wetseldegs  dragen  dö  wlue  en 
mutsken  fon  rödscharläk  med  gre'n  lint  deräme  un  en  strikelbend  üme  kop,  di 
was  fon  wulen  lint  un  ddn  en  selyern  örirzen,  der  körn  det  mutsken  op  un 
wüd  an  dö  bee  söken  med  'n  knöpnedele  feststiket.  Wa'  man  tryerde,  ddn  körn 
en  swote  kape  op  med  swot  lint  un  en  sljuchten  unten  strlmel.  Wan  det  halge 
dege  wiren,  ddn  körn  en  op  üt  en  göHden  stuk  med  rödsiden  lint  un  en  kantigen 
strlmel.  Det  binelken,  det  was  hole  kante  med  röd  deruner,  un  det  opstiksel, 
det  gii]  so  fon  't  slden  Arne  hoch. 

Ddn  h/den  dö  wlue  en  döuk  uner  med  roden  gründ  un  en  bunten  rand; 
wet  dö  wlue  wircn,  dö  hfden  en  gO"iden  of  en  seluern  kiüs  med  '?«  sämbend 
um  'en  hals  un  med  haken  of  en  slot  op  'e  neke;  wuchtere  hiden  en  seliieme 
kete  med  'n  kiüs  derdn  fiu  stratje  um  'en  hals  un  en  slot  op  'e  neke.  Ddn 
hiden  ze  en  wams  med  kute  sleye  un  med  gö"ldtrese  deri'/me  un  ermhdnske  med 
gö"ldne  of  seluerne  kiiöpe  derän  un  med  'n  tuije  op  'e  hö"nde;  jö  luden  en 
/turnend  fon  wit  linen  med  'n  selyerne  sporje  fär  'e  hals  un  hire  nöme  med 
blökietere  derän  un  med  takci  üme  krage.  Was  det  wams  nü  fon  swot  döuk, 
ddn  was  di  rok  6k  so;  was  det  lodms  röd,  dan  was  di  rok  6k  röd,  med  bunte 
bistemelse  deräme.  Halge  dege,  ddn  hfden  jö  dl  wt'te  dö"ke  üme.  Dö  schorten 
dö  wlren  swot  of  röd  of  greln  dl  so  az  dö  klödere  wiren;  jö  hiden  en  bend 
üme  side  fon  siden  lint,  gefulde  höze  fon  wulen  je'den  med  rode  klicken,  schöue 
med  selyerne  spo>jen. 

Männerkleidung.  Dö  mönljtjde  drügen  en  gräten  wulenen  of  hdze- 
wulnen  hö"d.  det  was  dl,  wet  ze  op  ~e  kop  hiden.  Sündegs  hiden  ze  en  sidenen 
hdlsdöuk,  en  harnend  fon  wit  linen  un  en  rok  fon  swot  of  lidcht  dö"k.  Deröner 
was  en  kamezölken,  ökwi'l  en  demästen  wams  med  'n  rige  selyerne  knöpe.  Ddn 
hiden  ze  en  mes'chiesterne  kitte  bukse  med  selyerne  spoije  dm  biäerkdnte  ben  dö 
gh]en  iuen  vr  dl  knibel.  Un  ddn  wulene  höze,  dö  giijen  irr  en  knibel  un  ivitden 
bupe  di  knibel  bimen.     Dö  schö"e  wiren  med  selyerne  spoi]e  op  'en  fö"t. 

Wetseldiqs  hiden  ze  en  grötiin  hö"d  fon  läumerwule;  bömwulene  hälsdöuke 
un   en   roden  ritmp  fon  wulen  göud,  un  der  wiren  nen  sleye  an;  jö  hiden  en 


374  Siebs: 

wams  fon  blöö  of  swot  wulen  göud,  seluenweuen ,  un  bukst'  fon  gris  linen,  un 
um  dö  f/'tr  (Irrigen  ze  hosken. 

Die  äussere  Erscheinung  der  Saterländer  widerspricht  der  Ansicht, 
die  wir  über  die  Einwanderung  geäussert  haben,  nicht.  Als  Laie  habe  ich 
es  vermieden,  Erhebungen  über  Knochenbau  und  Schädelbildung  anzu- 
stellen, und  ich  kann  nur  den  allgemeinen  Eindruck  schildern,  den  der 
stark  ausgeprägte  Schlag  der  Saterländer  auf  mich  gemacht  hat.  Die 
Männer  sind  kräftig  und  breitschultrig,  aber,  wie  die  meisten  Friesen, 
von  zartem  Knochenbau;  ihre  Grösse  möchte  ich  im  Durchschnitt  auf 
wenigstens  l3/4  ■»>  anschlagen.  Fast  alle  haben  sie  blaue  oder  blaugraue 
Augen  und  dunkelblonde,  ins  Bräunliche  spielende  Haare.  Das  ist  friesische 
Art.  Das  weibliche  Geschlecht  ist  beinahe  durchweg  gross  und  schlank, 
hat  feingeschnittene  Züge  und  eine  frische  Gesichtsfarbe.  Während  aber 
ein  Teil  der  Frauen  sich  durch  hellblaue  Augen  und  hellblonde,  fast  gelb- 
liche  Haarfarbe  auszeichnet,  sind  bei  anderen  die  Augen  dunkler,  die  Ilaare 
bräunlich  wie  die  der  Männer.  Dieser  zwiefache  Typus  ist  auffällig,  und 
weil  die  Saterländer  fast  nur  unter  einander  heiraten  und  Mischehen  mit 
den  Nachbarn  selten  sind,  bin  ich  geneigt,  ihn  durch  die  alte  Mischung 
des  sächsischen  und  friesischen  Blutes  zu  erklären. 

Die  Saterländer  wussten  dereinst  ihre  Erscheinung'  durch  die  Klei- 
dung sehr  vorteilhaft  zu  unterstützen.  Es  ist  schwierig  gewesen,  die 
Eigenart  dieser  um  die  Mitte  unseres  Jahrhunderts  abgekommenen  Tracht 
zu  bestimmen,  denn  heute  findet  man  an  Ort  und  Stelle  nur  noch  ver- 
einzelte alte  Kleidungsstücke  und  Schinuckgegenstände  vor,  die  als  Erbgut 
in  der  Truhe  bewahrt  worden  sind.  Das  Zeug  hat  meist  durch  Mottenfrass 
stark  gelitten,  die  silbernen  Knöpfe  sind  zum  Verkaufe,  die  Stickereien  zu 
anderem  Gebrauche  abgetrennt,  und  es  würde  kaum  gelingen,  ein  echtes 
Muster  der  einst  so  einheitlichen  Kleidung  zusammenzustellen.  Alte 
Schmuckstücke,  nämlich  Knöpfe,  Kreuze  und  Spangen1)  fiuden  sich  noch 
bisweilen.  Sie  sind  sehr  einfach.  Die  Hemdspangen  ähneln  der  (in  dieser 
Zeitschr.  I.  Band,  Tafel  n  abgebildeten)  Jamunder  „Jöpsel",  doch  fehlt  die 
Verzierung.  Nach  den  einzelnen  Stücken,  die  ich  im  Saterlande  vorgefunden 
habe  und  nach  genauen  und  übereinstimmenden  Berichten  alter  Leute  habe 
ich  ein  Trachtenbild  zusammengestellt2).  Einige  Teile,  sowie  auch  ein 
ganzes  Modell  der  Frauenkleidung,  besitzt  das  (irossherzoglich  olden- 
burgische Landesmuseum.     Dessen  Vorstand,  Herr  Direktor  Wiepcke.   hat 


1)  Über  diese,  sowie  überhaupt  über  die  ältere  friesische  TracM,  vgl.  Cornelius 
Kempius,  De  origine,  situ,  qualitate  et  quantitate  Frisiae,  Köln  1588.  S.  84  liebst  es 
vmii  den  Frauen:  „fibulamgue  pro  pectoris  vrnatu  ex  argento  deaurato  ex  putrid,  gestaut 
consuetudine" . 

2)  War  leider  in  Farbendruck  nicht  wiederzugeben  (1).  Red.)  Die  von  Hettema  und 
Posthumus  a.  a.  0.)  gegebenen  Abbildungen  stimmen  nicht  zu  meinen  Berichten:  vgl. 
üben  S.  240. 


Das  Saterland.  375 

die  Güte  gehabt,  mir  mitzuteilen,  dass  er  meine  Beschreibung  uud  Ab- 
bildung für  richtig  halte,  obschon  sie  mit  dem  oldenburger  Modell,  das 
wohl  eine  reiche  Erbin  darstelle,  nicht  übereinkomme.  Abbildungen  dieses 
Modelies  zu  veröffentlichen,  ist  mir  leider  nicht  gestattet  worden. 

Die  stld.  Frauentracht  muss  friesisch  genannt  werden.  Die  Quellen, 
die  von  der  älteren  friesischen  Kleidung  berichten,  fliesseu  allerdings  sehr 
spärlich.  Des  Kempius  Mitteiluugeu  und  Bilder  sind  mit  grosser  Vorsicht 
aufzunehmen;  auch  geben  sie  nicht  die  eigentliche  friesische  Volkstracht, 
sondern  die  von  der  damaligen  Mode  stark  beeinflusste  Tracht  der  Vor- 
nehmen. Dasselbe  gilt  natürlich  von  den  übrigen  Autoren,  die  den  Kempius 
benutzt  haben.  Eine  Vergleichung  mit  der  Tracht  der  übrigen  friesischen 
Gebiete  wird  die  Frage  nach  dem  Ursprünge  am  besten  lösen '). 

Zunächst  die  Kopfbedeckung.  Alle  Friesinnen,  wenigstens  die 
verheirateten,  pflegten  das  Haar  verborgen  zu  tragen.  Die  Saterländerinnen 
banden  es  zunächst  mit  einem  „Streichelband"2)  zusammen,  einem 
langen  wollenen  Haarbande,  mit  dem  der  Kopf  mehrmals  umwickelt  ward. 
Dieses  ward  durch  einen  metallenen  federnden  Bügel  festgehalten,  der  sich 
um  den  Hinterkopf  legte  und  über  den  Ohren  an  den  Schläfen  anklemmte; 
ursprünglich    bestand    dieser    Halbring   wohl   aus   Eisen   und   hiess  deshalb 


1)  Nach  Abschlags  dieser  Arbeit  ist  die  treffliche  Ausgabe  des  Manningabuches  er- 
schienen (Jahrbuch  der  Gesellsch.  für  bikl.  Kunst  und  vaterld.  Altertt.  X.  Emden  1893). 
Diese  von  dem  Häuptlinge  Unico  Manninga  (1529 — 1588)  aufgezeichnete  Hauschronik,  die 
sich  im  Besitze  des  Grafen  zu  Inn-  und  Knyphausen  befindet,  enthält  sehr  wertvolle  Ab- 
bildungen und  Beschreibungen  ostfriesischer  Ritterkleidung  und  —  das  ist  besonders 
wichtig  —  Volkstrachten.  In  dankenswerter  "Weise  hat  Dr.  phil.  Ritter  in  Emden  die 
älteren  bildlichen  Darstellungen  sowie  die  Angaben  der  Chronisten.  Urkunden  und  Rechts- 
quellen in  jener  Ausgabe  zusammengestellt  und  Erläuterungen  hinzugefügt.  Leider  habe 
ich  das  Werk  nicht  mehr  im  einzelnen  berücksichtigen,  sondern  nur  einige  Male  kurz 
darauf  verweisen  können. 

2)  Die  Bezeichnung  stl.  strikelbend  ist  vielleicht  eine  (Jmdeutung  des  altfrs.  nicht 
mebr  verstandenen  stickelbend.  Die  niederdeutsche  Form  dafür  ist  slükelband,  vgl.  ahd. 
stuhha,  bayrisch  die  Stauchen,  der  Stach,  der  Stäuchel  d.  h.  Kopf  binde,  Haube  (Schindler, 
Bayr.  Wrb.  II,  722).  In  ostfriesischen  Gegenden  scheint  im  15.  und  16.  Jahrb.  mit  dem 
stickelbend,  stukelband  ein  grosser  Prunk  entfaltet  zu  sein,  indem  kleine  silber-  uud  gold- 
beschlagene Bäudchen  angehängt  wurden,  die  man  „toppen"  nannte.  Kempius  (S.  168) 
spricht  von  einem  „eircutus  laneus  aut  byssinus,  cui  annexae  erant  parvae  vittae,  qui/ms 
appendebant  foliolae  argenteae  aut  deawratae,  quae  semper  movebantur".  Dazu  stimmen  ur- 
kundliche Berichte,  z.  B.  in  einem  Verzeichnisse  der  Kostbarkeiten  der  Gräfin  Theda,  vom 
Jahre  1475  (Leerort,  Friedländer  Ostfrs.  TJrkdbch.  Nr.  951),  wird  ein  „sulveren  stuckel- 
bant  van  S  topp,'»"  erwähnt;  in  einem  Heiratsvertrage,  zu  Norden  150(1  geschlossen,  werden 
als  silberne  und  goldene  Kleinode  genannt  „eynen  Stickelband  unde  enen  nesschod  (neskert) 
(vgl.  Jahrbuch  d.  Gesellsch.  f.  bild.  K.  10,  72.  80)  unde  eyn  span  (Spange)"  etc.,  ebenda 
Nr.  1659,  vgl.  Nr.  518  (anno  1440);  ebenso  in  einer  Urk.  von  1455  (Nr.  688)  „eyn  sulver 
slukelbant  vorgulf;  in  einer  noch  nicht  gedruckten  jeverld.  Urkunde  vom  17.  Sept.  1529 
wird  Klage  geführt  um  „1  stukelbant  van  VIII  gülden".  Nach  den  Emsiger  Busstaxen 
(Richthofen,  Rechtsq.  S.212.  213)  wird  mit  11  Schillingen  bestraft,  wer  einer  Frau  das 
stickelbend,  ebenso  wer  ihr  die  slinge  (Schleife)  der  hnelze  oder  houwe  abschneidet,  die  das 
Haar  zusammenhält  Die  hnetze  (Jon-  Femininum  zu  hnekka  ..Hinterkopf,  Nacken")  diente, 
wie  die  houwe  oder  *liüoe  (Wurster  Glossar  hufe),  zur  Bedeckung  des  Hinterhauptes. 


376  Siebs: 

örirzen  (westfrs.  jerizer,   afrs.  *ärfser).     Die  Ohreisen   waren  über  Holland, 
Seeland    und    einen    Teil   von  Vlandern   sowie   über  das  ganze   west-   und 
ostfriesische   Gebiet    verbreitet;    sie    wurden    dort  zu   einem  Luxusartikel, 
denn  sie  wurden  aus  Gold  und  Silber  gearbeitet.    Im  Laufe  der  Zeit  haben 
sie  sich  zu  den  verschiedenartigsten  Formen  entwickelt.    Jede  nur  einiger- 
massen    bemittelte  West  friesin  besitzt  ein  goldenes  Ohreisen;    fast  nur 
die  Dienenden  tragen   ein  silbernes.     Es  ist  aber  nicht  mehr  der  dünne 
Keif,  sondern  eine  an  dem  Schädel  anliegende  goldene  Helmdecke,  in  der 
Mitte  gespalten  und  zusammenschliessbar;  man  sieht  davon  nur  eine  (meist 
rosettenförmige)  Verzierung,   die  an  den  Schläfen  hervorsteht,   der  übrige 
Teil  ist  von  der  Mütze  bedeckt.    In  Ostfriesland  ist  das  Ohreisen  zu  Ende 
des  vorigen  und  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  aus  der  Mode  gekommen, 
nur  in  abgelegenen  Gebieten  ist  es  heute  noch  im  Gebrauche  (vgl.  Johan 
Winkler,  De  oude  tijd,  Jahrg.  1871).     Das   saterländische  Ohreisen  ist 
ein  schmaler  silberner  Bügel  ohne  Zierde,  nur  zu  praktischem  Zwecke  be- 
stimmt.    Es  wird  verdeckt  durch  eine  niutse  aus  rotem  Florzeug,    die  mit 
grünem   Lint    (Band,    vgl.  lat.  linteum)   eingefasst  ist.     Statt  dieser  Mütze 
ward  an  Sonn-  und  Feiertageu  die  kape  getragen.    Sie  bestand  aus  einem 
runden  Hinterstücke    und   zwei   Seitenteilen.     Über   eine  steife  Pappform 
war    grüne    oder    blaue   Seide    gespannt    und    mit    bunten,    goldenen    und 
silbernen  Blumen  und  Arabesken  bestickt;    in  den  Kappen,   die  an  hohen 
Feiertagen    getragen    wurden,    war  sogar  der  ganze  Grund  mit  Gold  aus- 
gestickt.    Vorn,    an    der  Stirnseite,    war    ein   Spitzenstreifen    (en  kantigen 
strimel,  vgl.  ahd.  strimil)  eingesetzt,  und  unter  diesem  ragte,  den  grössten 
Teil  der  Stirn  bedeckend,  eine  Kopfbinde  (binelkfoi)  hervor.    In  neuer  Zeit 
ist  statt  dieser  Kopfbedeckung  der  moderne  Hut  (höud)  und  die  Kragen- 
haube  (neyclkape  Nebelkappe)   eingeführt  worden.    ■       Mit  der  alten  stld. 
Kopftracht    stimmt    diejenige    anderer    Gebiete    Frieslands    überein.      Die 
Wangeroogerinnen   trugen  (Frs.  Archiv  II,  43)  jene  dreiteilige  Kappe 
mit  einem  Spitzenstreifen  (oder  auch  statt  dessen  eine  Spitzenmütze  unter 
der  Kappe),  und  die  Kopfbinde1);  derselbe  Brauch  herrschte  in  Jeverlaud 
und  Ostfriesland2).     Wahrscheinlich    war    diese  Binde   das  Abzeichen  der 
verheirateten  Frau,    denn  auf  Wangeroog,    in  Westfriesland   und  auf  den 
Halligen    ward    sie  von  Jungfrauen  nicht  getragen,    und  dazu  stimmt  der 
Bericht  des  Kempius  (S.  168):  „capitis  velamen  sive  ornamentam  erat  primum 
fascia  ex  bysso  vel  subtilissimo  panno  colore  rubeo  aut  viridi,  superius  strictum 
aut  cuneatum,  quod  circum  caput  religabant  solummodo  maritat ae,  ac  praeter 
oculos  et  nasum  faciem  fere  abscondebanV     Bei    diesen  Worten   denkt   man 


1)  Sie  heisst  dort  kneteldäuk  (Knütteltuch),  in  Ostfriesland  bindeken,  oder  mic\\  flepke;  in 
Westfricsland  entspricht  ihr  das  sendük  (Sonnentuch),  vgl.  Haibertsina,  Letterk.  naoogst  1, 185. 

2)  Viele  alte  Stücke  sind  erhalten.  —  Wenn  Kempius  sagt.  (S.  84) :  „et  hodie  in  Frisia 
etiam  multae  mulieres  bireto  vel  ex  panno  auf.  serico  aut  sameto  facto  peplone  capita  tegunt", 
so  sind  damit  wohl  die  Westfriesinuen  gemeint. 


Das  Saterland.  377 

sogleich  an  die  auf  den  nordfriesischen  Inseln,  besonders  auf  Föhr 
herrschende  Sitte,  dass  die  Frauen  das  ganze  Gesicht,  ausser  Nase  und 
Mund,  mit  Tüchern  verhüllen  (vgl.  Tafel  YI  des  Manningabuches).  Sonst 
freilich  hat  die  ostfriesische  Kopfbedeckung  mit  der  auf  jenen  Inseln 
üblichen  wenig  Gemeinsames.  Jensen  (a.  a.  0.  S.  165  fgg.,  wo  auch  sehr 
gute  Trachtenbilder  gegeben  werden)  meint,  dass  sich  die  nordfriesischen 
Abweichungen  erst  in  später  Zeit  auf  den  Inseln  ausgebildet  haben,  und 
dass  z.  B.  die  Silder  Krone  (hüif)  eine  späte  Ausschmückung  der  alten 
einfachen  Mütze  sei.  Ich  möchte  demgegenüber  annehmen,  dass  sich  in 
jener  Silder  Form  eine  besondere  Tracht  der  Vornehmeren  erhalten  hat, 
die  einst  auch  in  Ost-  und  Westfrieslaud  ueben  der  einfacheren  Mütze  vor- 
handen war:  in  ostfries.  Urkunden  seitdem  14.  Jahrhundert  werden  nämlich 
oft  die  padula,  pale  Stiruspauge  und  andere  Schmuckstücke  genannt,  und 
auch  hier  ist  des  Kempius  Nachricht  zu  beachten,  der  (S.  84)  von  den 
matronae  nobiles    seiner  Heimat    erzählt:    „aureus  quasi  Coronas1)  lapidibus 

pretiosis  intewtas  secundum  qualitatem  stirjris  ac  opulentiae  portant et 

virginum  ornatus  in  pretiosis  et  amplissimis  aureis  vel  deauratis  coronis  con- 
sistit."  Aufs  Genaueste  aber  stimmt  zur  ostfrs.  Volkstracht  die  der  Halligen 
und  des  nordfrs.  Festlandes.  Auf  den  Halligen  trugen  die  Frauen  die 
buute,  mit  Blumen-  und  Goldstickerei  verzierte  Mütze,  darunter  entweder 
eine  weisse  Haube  oder  den  aus  weissem  Tuche  bestehenden  „Sträämel"; 
dieses  Stück  fehlt  den  jungen  Mädchen  (Jensen  a.  a.  0.  175).  Über  die 
Haartracht  des  eigentlichen  nordfrs.  Festlandes  endlich  sagt  Nissen  (De 
vrije  Fries  XV,  38),  dass  als  Hauptteile  das  Haarband,  die  Mütze  mit  dem 
Tüllstreifen,  das  weisse  „skidek"  und  die  auf  dem  Hinterkopfe  sitzende  Haube 
zu  unterscheiden  seien. 

Die  Bekleidung  des  Oberkörpers  bestand  aus  drei  Hauptteilen:  dem 
weissleiuenen  Hemde  (harnend),  welches  durch  eine  spot]e  (altfrs.  nestle, 
spon,  spare,  vgl.  span  Urk.  1475,  mhd.  span  u.  s.  w.,  s.  oben  S.  375)  zusammen- 
gehalten ward:  einem  wams  aus  Damast  oder  aus  bestickter  Seide,  mit 
kurzen  Ärmeln  (stiye);  einem  um  Nacken  und  Schultern  geschlagenen 
Tuche.  Die  altfrs.  Rechtsquellen  verlangen,  dass  der  Angriff  auf  eine  Frau 
gebüsst  werde,  je  nachdem  die  äussere  oder  innere  Gewandung  verletzt 
sei  (E  224.  225.  H  339.  340.  F  126),  und  dabei  werden  thriu  kläther  unter- 
schieden: zunächst  das  hemethe;  dann  thet  inre  kläih  (auch  möther,  d.  h. 
Mieder,  genannt);  endlich  thet  üterste  Math,  welches  auch  als  hreclit hrecklin 
bezeichnet  wird,  vgl.  angelsächs.  hrecca  „Nacken".  Das  weisse  Hemd  der 
Saterländerinnen  zeigte  rings  um  den  Kragen  Zacken  von  blauem  oder 
rotem  Garn,  auf  der  Brust  waren  die  Anfangsbuchstaben  des  Namens  mit 
„Blocklettern"  eingemerkt.  Darüber  stickte  man  früher  in  Kettenstich  mit 
blauem  Garn  einen  Baum  mit  Vögeln  auf  den  Zweigen.    Ein  Muster  solcher 


1)    Über  diese  Schmuckstücke  vgl.  Jahrb.  d.  Ges.  f.  bild.  K.  X,  68.  80. 


378 


Siebs: 


bömkeletere1),  wie  sie  sich  in  Hemden  und  Bettlaken  finden,  hat  Herr  Prof. 
Minssen  vor  etwa  50  Jahren  in  Bollingen  aufgenommen  und  mir  gütigst  über- 
wandt. Ich  gebe  es  in  der  Vergrösserung  (s.  Fig.  3).  In  diesen  bömi 
mit  Mannhardt  (Baumkult  S.  46)  ein  Bild  des  „Schicksals-  und  Lebens- 
baumes der  Ehegatten"  zu  sehen,  sind  wir  meines  Erachtens  nicht  be- 
rechtigt. —  Über  dem  Hemde  trug  man  das  Wams.  Da  es  kurze  Ärmel 
hatte,  wurden  die  Arme  mit  langen  ermhänsM  bedeckt,  die  mit  einer 
„Zunge"    über    die    obere    Handfläche    ragten    und    im   Handgelenke    mit 

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goldenen  oder  silbeinen  Knüpfen  versehen  waren2).  Auch  auf  Wangeroog 
ist  dieses  damastene  „Futterhemd"  gebräuchlich.  Auf  den  Halligen  wird 
statt  des  Hemdes  der  nrump"  getragen,  darüber  Wams  und  Halstuch;  auch 
hier  sind  die  mit  silbernen  Knöpfen  verzierten  Ärmel  selbständige  Stücke. 
Ebenso  sieht  man  auf  dem  nordfrs.  Festlande  den  rump  und  darüber  die 


1)  Westfi  .Tapirs  .  vgl.  Halbertsma,  Letterk.  naoogst  I,  186. 

2)  !>a>   "Wort    „Handschuh"    erscheint    im  Altwestfrs.    als    lumdschöeh.    Die    meisten 
ostfrs.  Mundarten  brauchen  ein  anderes  Wort:   in  Strüeklingen  heissen  Handschuhe  >r 
vgl.  wand  Wursten).'  wunihe  (Cadovius),  wunt  (Wangeroog).    In  dem  Beschläge  der  Mouwen 
und  den  Knöpfen  ward  später  grosser  Prunk  entfaltet,  vgl.  z.  B.  Urkunden  von  1473    STr.922  ; 
11 14  (Nr.  938).     Letztere  erwähnt  „enen  yroten  silveren  knoep  mit  enen  golden  ducaten". 


Das  Saterland.  379 

Jacke  mit  den  kurzen  Ärmeln.  --  Schlecht  sind  wir  über  den  Gebrauch 
des  Mantels  (stl.  montel)  in  älterer  Zeit  unterrichtet.  Man  nannte  ihn 
altfrs.  montel  oder  hokke  (hoyke,  stl.  hoike  Schäfermantel),  auch  wohl  süben1). 
Dass  der  Sist  oder  süt  der  nordfriesischen  Inseln,  ein  Pelzrock,  auch  Ihm 
den  Ostfriesen  im  Gebrauche  war,  lehren  die  Formen  'stjitst  (Wursten). 
siust  (Cadovius),  siust  (Wangeroog),  vgl.  hrock  ieftha  tziust  Rechtsquellen 
243,  22. 

Um  die  Hüften  legten  die  Friesinnen  einen  Gürtel  (afrs.  gerdel,  stld. 
gedel).  Während  damit  im  übrigen  Friesland  ein  grosser  Luxus  getrieben 
ward,  trugen  im  Saterlande  die  Frauen  ein  einfaches  Seidenband,  eine 
Schärpe.  Überhaupt  hat  sich  hier  die  Tracht  von  aller  Überladung  frei- 
gehalten. Besonders  wohlthuend  wirkt  die  geschmackvolle  Einfarbigkeit, 
die  im  16.  Jahrhundert  auch  für  die  Volkstracht  Ostfrieslands  noch 
charakteristisch  war'  (vgl.  Tafel  3 — 6  des  Manningabuches).  Meistens  waren 
Wams,  Schürze  und  Eock  alle  von  roter  Farbe,  letzterer  aus  einem  Woll- 
stoffe, der  stld.  bat  heisst,  gefertigt.  Unten  um  den  Rock  zog  sich  ein 
farbiger,  meistens  ein  grüner  Besatz  (blstemelse).  Die  wollenen  Strümpfe2) 
waren  mit  Falten  und  mit  roten  Zwickeln,  die  Schuhe  mit  silbernen  Spangen 
versehen.  Ebenso  trugen  auch  die  Frauen  auf  Wangeroog  einen  Rock  von 
rotem  bm,  mit  grünem  Bande  besetzt,  und  ähnliches  zeigt  die  Tracht  der 
Halligen  und  der  Insel  Helgoland  (gelber  Besatz).  In  Westfriesland  ward 
über  dem  roten,  mit  Besatz  (stems)  gezierten  Rocke  ein  schwarzer  getragen. 

Die  Kleidung  der  Männer  bietet  wenig  Charakteristisches;  was  daran 
eigenartig  war,  ist  schon  vor  der  Mitte  des  Jahrhunderts  ausser  Mode  ge- 
kommen. Der  Hut  ist  durch  die  kipse  (Kappe),  die  kurze  manchesterne 
Hose  mit  den  Spangen  durch  lange  Beinkleider  ersetzt  worden.  Das  Hals- 
tuch, das  seit  alten  Zeiten  getragen  ward3),  ist  noch  allgemein  üblich. 

Es  ist  nicht  meine  Absicht  gewesen,  durch  die  Vergleichung  der  in 
anderen  friesischen  Gebieten  gebräuchlichen  Volkstracht  mit  der  sater- 
ländischen  das  Bild  der  alten  friesischen  Kleidung  zu  konstruieren.  Der 
Eiufluss  fremder  Moden  ist  sicherlich  stark  genug  gewesen,  um  eine  solche 
Methodik  zu  verbieten.  Aber  mehrere  Erscheinungen,  die  in  einander 
fernliegenden  Gebieten  auftreten,  sind  so  eigenartig,  dass  sie  uns  zur  An- 
nahme einer  den  Friesen  gemeinsamen  Volkstracht  zwingen.  Dass  hier 
vor  allem  der  Kopfputz  in  Frage  kommt,  hat  schon  Kempius  (S.  83)  aus- 
gesprochen, indem  er  von  den  Friesinnen  sagte:  „in  praesentem  usque  diem 


1)  Vgl.  z.  B.  Urk.  1481  (Nr.  1058):  „en  zwarten,  suben",  vgl.  bayr.  Schaube,  Schauben 
(Schindler,  Bayr.  Wb.  II,  354). 

2)  iiöze  genannt,  vgl.  westfrs.  höazen,  hozen,  Cad.  hussen,  wang.  huze,  nordfrs.  hös 
Niebüll,  liö;  Ainrum.  Das  altfrs.  Wort  sokke  scheint  in  der  Wurster  Bezeichnung  fisick, 
d.i.  Fusssocken,  zu  stecken    Im  Saterland  sind  höze  lange  Strümpfe,  soke  sind  kurze. 

3)  Eine  öfters  in  den  altfrs.  Rechtsquellpn  erscheinende  Formel  „her  and  halsdök" 
(z.  B.  Rechtsq.  119,  11.  537,  8). 


380  Siebs: 

cum  vicinarum  nationum  mulieribus  tarn  in  exteriori  quam  interiori  habitu  ei 
maxime  capitum  velis  et  ornatu  multum  discrepaf. 

VII.   Aberglaube. 

Die  Bewohner  des  oldenburgisehen  Münsterlandes  stehen  bei  ihren 
Nachbarn  nicht  eben  im  Rufe  hoher  geistiger  Begabung,  und  es  wird  häufig 
gesagt,  dass  die  Kirche  dort  das  selbständige  Denken  unterdrücke.  Aber 
für  die  Saterländer  kann  das  keineswegs  gelten,  denn  sie  sind  von  klarem 
Verstände,  schneller  Auffassung  und  gesundem  Humor,  und  streng  kirch- 
liche Gesinnung  steht  bei  ihnen  im  Verein  mit  selbständigem,  freisinnigem 
Denken  (s.  oben  S.  257).  Der  Aberglaube  ist  verpönt.  Doch  wenn  sich 
die  Leute  auch  für  zu  religiös  und  zu  klug  halten,  um  au  allerlei  Spuk  zu 
glauben,  so  sind  sie  doch  meist  nicht  klug  genug,  um  einzusehen,  dass  der 
Forscher  etwas  daraus  gewinnen  kann.  In  Nord-  und  Westfriesland  wird 
ihm  die  Arbeit  bedeutend  leichter  als  bei  den  Saterländern.  Ich  habe  oft 
das  Gefühl  gehabt,  als  ob  sie  etwas  Unheiliges  zu  thun  fürchteten,  wenn 
sie  von  den  alten  Bräuchen  erzählen  oder  gar  die  geringen  Reste  alten 
Hausrates  und  alter  Kleidung  zeigen  sollten.  —  Vor  fünfzig  Jahren  würde 
die  Ausbeute  für  den  Sammler  weit  reicher  gewesen  sein;  desto  mehr  ist 
zu  bedauern,  dass  Minssen's  Aufzeichnungen  (s.  o.  S.  240)  verloren  sind. 
Von  Strackerjaus  Mitteilungen,  die  grösstenteils  auf  jene  zurückzuführen, 
habe  ich  manches  verwertet. 

Wir  wollen  im  Folgenden  die  wichtigsten  und  für  das  Saterland  charakte- 
ristischen Punkte  herausgreifen.  Zauber1)  im  Sinne  der  Taschenspielerei 
heisst  kokele1  oder  kökelere*,  der  Zauberer  ist  ein  höheler,  das  Zeitwort  heisst 
höhelje  oder  öPgenferkökelje ',  eigentlich  „die  Augen  vergaukeln"  (vgl.  plattd. 
gokeln,  kakeln,  ahd.  coukel,  coucaldri  u.  s.  w.).  Dieses  kokelje  ist  Sache  der 
Gewandtheit;  wenn  aber  eine  höhere  Macht  im  Spiele  ist,  so  redet  man 
von  heksje  (=  hexen).  Einen  besonderen  Ausdruck  hat  man  im  Frs.  fin- 
den Zauber  des  Weissagens:  es  ist  (das  überhaupt  für  den  Begriff  des 
Prophezeiens  gebrauchte)  stl.  vrikje*);  der  Weissager  heisst  wikcr,  Fem.  det 


1)  Die  dem  altwestfrs.  tüverie  (Zauberei)  entsprechende  Form  ist  nicht  vorhanden; 
das  wangeroog.  tüwerk  (Hexe)  und  harling.  tovener  sind  plattd.  Entlehnungen.  —  Hinsicht- 
lich der  sonstigen  frs.  Bezeichnungen  mag  bemerkt  sein,  dass  neuwestfrs.  tjsoene,  tsjüne 
(bezaubern)  nicht,  wie  Grimm  Myth. 4  865  meinte,  zu  an.  kyn,  mhd.  kunder  zu  stellen  ist, 
sondern  zu  ai'rs.  tiona,  tiuna  Subst.,  vgl.  ae.  te'ona  Schaden:  aussergerm.  Beziehungen  sind 
vielleicht  in  griech.  drm/tai  zu  sehen,  vgl.  Fick,  Wb. 4  I,  69.  —  Das  ostfrs.-plattd.  Wort 
bedudden,  beduddern  stelle  ich  zu  westfrs.  dodje  schlummern,  duseln,  doderig  duselig,  vgl. 
afrs.  dudslek  betäubender  Schlag:  wohl  zu  idg.  \'dheudh,  vgl.  griech.  diodka  Geräte  zum 
Bacchusdienst,  skr.  düdhita  verwirren,  vielleicht  auch  kleinruss.  dudva  Schierling  (als 
narkotische  Pflanze)  ebda.  —  Endlich  das  ostfrs.-plattd.  liibben  verschneiden,  schädigen, 
vergiften,  bezaubern  =  ahd.  luppön  ist  in  frs.  nur  vorhanden  als  westfrs.  lobje  kastrieren. 

2)  Man  sagt  stl.  Tk  wol  dl  wet  wikje  ich  will  dir  wahrsagen.  Auf  Wangeroog  heisst 
das  Wort  wik  (in  die  st.  verha  übergetreten:  prät.  wäik,  part.  wikln),  z.  B.  ik  wik  di  däit, 


Das  Saterlana.  381 

wikerwlff.  Wie  überall,  so  galten  auch  im  Saterlamde  die  Zwölften  dereinst 
als  vornehmlichste  Zeit  des  Wickens:  Genaueres  über  die  dabei  gepflegten 
Gebräuche  habe  ich  nicht  erfahren  können,  weder  über  das  Schuh-  und 
Münzenwerfen  in  der  Neujahrsnacht,  noch  über  das  Gitteren  der  künftigen 
Geliebten  in  der  Thomasnacht:  schon  bei  Strackerjan  (I.  S.  88.  89.  93, 
vgl.  ob.  S.  274)  gilt  das  als. geschwundene  Sitte.  Und  ebensowenig  glaubt 
man  heute  an  sonstigen  Vorspuk.  Es  heisst  wohl,  dass  ein  Nordlicht 
künftigen  Krieg  anzeige,  dass  ein  vom  Boden  fallendes  Strohbündel  der 
Vorbote  eines  Todesfalles  sei,  dass  das  Jucken  der  Handfläche  Geldgewinn 
ankündige;  auch  redet  man  wohl  vom  guten  (Pferd)  oder  schlechten  An- 
gang und  erzählt  sich  von  spuksichtigen  Tieren,  dass  z.  B.  das  Pferd,  die 
Rohrdommel  oder  die  Krähe  den  Tod  eines  Menschen  voraussehen,  dass 
das  Rindvieh  durch  Prusten  nahendes  Schneewetter  verkünde,  die  Katze 
dieses  und  jenes  Ereignis  im  Hause  durch  ihr  Gebahren  prophezeie  — 
aber  das  sind  Redensarten,  kein  ernstlicher  Aberglaube1):  „det  wet  wH 
noch  kweden,  man  der  iz  nm  tvöud  fon  wer". 

Insoweit  das  Zaubern  sich  nicht  auf  Weissagung  beschränkt,  heisst  es 
heksje  „hexen"  (s.  u.  S.  387).  Dem  Einflüsse  der  Kirche  ist  es  jedenfalls 
zu  danken,  dass  heutzutage  aller  Zauber  als  schädigend,  als  Teufels-  und 
Hexenwerk  gilt  und  von  heilendem  Zauber  nicht  mehr  die  Rede  ist.  Früher 
scheint  das  anders  gewesen  zu  sein,  wenigstens  berichtet  noch  Strackerjan 
davon.  Man  bannte  Krankheiten  in  leblose  Gegenstände,  die  Gürtelrose 
in  den  Eichbaum,  „den  Pest"  --  das  war  ein  männlicher  Unhold  —  in 
einen  Misthaufen,  und  Blutungen  stillte  man  durch  Bestreichen  mit  Eschen- 
holz (I,  72.  85.  II,  119).  Kopf  und  Zunge  der  heilbringenden  Schlange 
waren  ein  Schutz  gegen  Krankheiten,  und  mancher  Mann  trug  eine  Nattern- 
zunge  in  einem  der  24  Westenknöpfe  verborgen  (I,  66.  n,  108  ff.).  Audi 
Segensprüche,  von  denen  jetzt  nichts  mehr  bekannt  ist,  werden  mitgeteilt2). 


dat  du  noch  °n  dräclit  slgig  heb  silt.  Es  ist  ae.  wiccian;  subst.  wicce  =  engl,  witch  „Hexe", 
vorgerm.  *wigr£i-.  Ich  stelle  das  Wort  zu  idg.  \/veigh',  vgl.  lit.  veziu,  veziau,  vezti  ver- 
mögen, lett.  wifelmt  wollen:  dahin  gehört  auch  awfrs.  wiliga  statt  *wigila  Zaubereien,  ae. 
wiglere  „Zauberer"  u.a.m.  Zu  dieser  germ.  \  wiy  kann  ein  ahd.  wlgan,  mhd.  wigen  „con- 
flcere"  angesetzt  werden,  wozu  mhd.  ich  bin  erwigen,  gewigen  „erschöpft"  gehört.  Diese 
Formen  scheinen  vielfach  mit  den  Formen  von  wlhan  „kämpfen-',  welche  gramatischen 
Wechsel  zeigen,  zusammengefallen  zu  sein. 

1)  Nm-  in  einem  Funkte  ist  der  Aberglaube  unausrottbar:  ist  über  einem  Hause 
bei  hellem  Tage  ein  Feuerschein  gesehen  worden,  so  rnuss  es  abbrennen,  Jahre  können 
freilich  darüber  vergehen,  eine  Zeitfrist  ist  nicht  gegeben.  —  Allgemeine  Teilnahme  ist  dem 
durch  das  unabwendbare  Schicksal  einer  Feuersbrunst  Betroffenen  sicher.  Man  schiesst 
die  Mittel  zusammen,  mit  denen  er  sein  Haus  neu  erbauen  kann:  so  bildet  die  Gemeinde 
eine  allein  durch  die  Gewohnheit  konstituierte  Versicherungsgesellschaft.  Erst  neuerdings 
findet  die  offizielle  Feuerversicherung  allmählich  Eingang. 

2)  „Petrus  und  Maria  ritten,  zusammen  auf  ein  Pferd  und  rillen  über  eine  Brüche,  da 
vertritt  das  Pferd  den  einen  Fuss.  Petrus  sprang  herunter  und  bat  zu  Gott  dem  Vater,  dass 
er  möchte  geben,  dass  alle  Litt  bei  Litt,  Sehnen  bei  Sehnen,  Aden  bei  Aders,  Knochen  bei 
Knochen  ■ und  dasselbige  begehre  ich  hier  auch."     Diese    Umgestaltung    des   Merse- 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893.  26 


382  siebs: 

Im  Mittelpunkte  der  Gestaltenwelt,  die  der  heutige  Aberglaube  kennt, 
steht  der  Teufel.  Wir  finden  noch  Spuren  seiner  heidnischen  Art.  aber  die 
Hauptzüge  hat  ihm  das  Christentum  verliehen,  und  es  hat  wenig  gethan, 
ihn  aus  dem  Glauben  des  Volkes  zu  bannen.  Man  nennt  ihn  im  Saterlande 
mit  der  niederdeutschen  (nicht  mit  der  friesischen)  Wortform  „di  dywel", 
daneben  aber,  wie  überall,  mit  mancherlei  anderen  Namen,  vor  allem  mit 
euphemistischen  Bezeichnungen,  „da  S"lde  knube"  (eig.  ein  knorriger  Aus- 
wuchs am  Baum)  könnte  man  auf  die  Plumpheit  im  allgemeinen  beziehen 
oder  auf  den  Klumpfuss:  dass  aber  dabei  an  den  knorrigen  Ansatz  der 
Hörner  gedacht  wird,  lässt  der  ebenfalls  vorkommende  Xame  „hvubeOwPden", 
d.  h.  Knubbelhorn.  vermuten1).  Mit  hö"dene",  steH  (Sterz)  und  härjsteföH 
(Pferdefuss)  ist  der  Teufel,  wie  überall,  ausgerüstet.  Vereinzelt  erscheint 
er  als  feuerglühender  Mensch.  In  Strücklingen  ward  mir  erzählt:  „bl 
Sintjebärsgät  (Ortsn.),  der  liebe  ze  für  tiden  en  glönigen  kerl  blöüked  —  det 
was  mid  in  'e  sümer  in  V  wicht,  im  det  iz  dl  gbinige  dywel  wezen".  Meist 
alier  heisst  es  „di  sirote  dywel",  und  daher  sind  es  hauptsächlich  schwarze 
Tiere,  in  die  sich  der  Teufel  vermöge  seiner  Macht  des  Gestaltenwechsels 
verwandelt,  Über  dem  Hause  eines  vom  Teufel  Besessenen  kämpfte  eine 
weisse  Taube  mit  einem  schwarzen  Raben,  bis  dieser  unter  inbrünstigem 
Gebete  des  Predigers  tot  niederfiel  —  di  swote  rö*k,  det  weis  di  dywel  (I, 
"254:  ff.).  Die  Strückliuger  wollen  ihn  als  schwarzen  Höllenhund  und  als 
schwarze  Katze  (s.  unten  S.  389)  gesehen  haben,  zu  anderen  3Ialen  als 
Kröte  oder  auch  als  Pferd  im  Busche  von  Bokelesch.  Ein  Ramsloher 
Pastor  hat  den  Teufel  einst  aus  einem  Besessenen  in  einen  Bullen  ge- 
trieben, der  ist  weggerannt  und  an  ein  Meer  gekommen,  das  im  Moore 
liegt:  noch  heute  heisst  es  das  „Bullenmeer'\  und  der  Teufel  soll  dort 
noch  umgehen  und  nächtens  das  Heidekraut  zählen.  Aber  auch  als  dräke, 
als  ein  feuriger  Drache  erscheint  er,  und  in  seinem  Schweife  trägt  er  Gold 
und  Silber  durch  die  Lüfte.  Schiesst  man  auf  den  mit  Erbsilber,  so  fallen 
die  Schätze  zu  Boden  und  gehören  dem  Schützen.  Wir  werden  durch  diese 
Sage  an  den  apokalyptischen  Drachen  (Apokal.  12,  4:  20,  2)  erinnert,  der  mit 
seinem  Schweife  die  Sterne  vom  Himmel  nimmt  und  sie  auf  die  Erde  wirft. 

Venu    es    im   westfriesischen   Rudolfsbuche   heisst    (siehe   Richthofen. 


burger  Zauberspruches  wäre  höchst  interessant;  die  Echtheit  dieser  Segen  aber  ist  mir 
zweifelhaft.  Noch  fraglicher  scheint  mir  die  Herkunft  zweier  gereimter  Sprüche,  eines 
Blut-  und  eines  Bienensegens,  die  aus  dem  Saterlande  handschriftlich  überliefert  sein 
sollen  (I,  68.  69.  105):  die  Sprache  ist  plattdeutsch,  und  die  Reime  lassen  sich  in  einer 
stl.  Übersetzung  nicht  halten.  ..Immemutter  setle  dich,  Gottesmutter  bette  dich  Fest  ans 
grüne  Gras  Und  mach  Honig  und  Wass"  müsste  in  stld.  Sprache  lauten  fest  in  't  greine 
gen  Un  mäk  hünig  im  wäks.  —  Andere  rein  christliche  Mittel,  z.  B.  die  Verwendung  des 
Hechtskopfes   als  Amulet,   da  er  die  Leiden  Christi  enthält,  und  die  christlichen  Formeln 

'iebssegens  (I,  63.  101)  bieten  wenig  Interesse. 

1  Die  Wortform  erlaubt  uns  nicht,  au  eine  Erklärung  als  „Knäuel"  zu  denken  oder 
an  einen  Euphemismus,  vgl.  schwed.  knäkul,  westfäl.  knüvel,  Mythol. 4  S.  825,  836. 


Das  Saterland.  383 

Frs.  Rechtsquellen  430,  15):  „  Willibrord  ioe  dat  leerde  dat  y  fem  da  iwrdsca 
diuelen  keerde",    so    sind  mit  den   „nordischen  Teufeln"   die  Gestalten  der 
heidnischen  Religion  gemeint.     Heidnische  Götter  und  Heroen,  alles,  was 
dem  Christentum  gegenüberstand,  ist  teuflisch:  so  sind  göttliche,  riesische 
und  elbische  Züge  in  der  Gestalt  des  Teufels  vereinigt.    Riesisch  ist  das 
Sinnliche,  Rohe  und  Plumpe.     Er  wird  „di  öulde"  genannt  (vgl.  „de  uald" 
Müllenhoff,  Sagen,  Märchen  und  Lieder  aus  Schleswig-Holstein  und  Lauen- 
burg S.  265);   er  verbündet  sich  mit  den  Menschen,  um  ihnen  bei  grossen 
Bauwerken    zu    helfen  —  so   auch  die  Riesen.     Diese  haben  im  Lnndöbe 
bei  Scharrel   eine  grosse  Ziegelei  gehabt,    in  der  sie  die  Steine  zum  Bau 
der    saterländischen    Kirchen    brannten;    und    als    sie    damit  fertig  waren, 
wollten    sie   nicht   weichen  und  konnten  nur  mit  Mühe  verjagt  werden   (I, 
411).     Eibisch    ist    die   Verschlagenheit.     Für    die    enge    Verbindung 
riesischer    und   eibischer  Züge  im  Teufel  giebt  uns  eine  stl.  Sage  ein 
besonders    interessantes    Zeugnis.     Bekannt  ist   der  eddische  Mythus    (vor 
allem    aus   Gylfaginning) ,    dass    der  Riese  Smidr  den  Äsen  um  den  Preis 
von  Freya,    von   Sonne  und  Mond  eine  Burg  bauen  will;    Löki  lenkt  das 
Ross  Svadilfari  von  der  Arbeit  ab,   und  der  Baumeister  wird  nicht  fertig. 
Er  gerät  in  Riesenzorn:  da  erkennen  die  Götter,  dass  er  ein  Riese  ist,  und 
Thörr,  der  Gott  des  Gewitters,  erschlägt  ihn.     Mit  diesem  Mythus  hängen 
verschiedene  Volkssagen  zusammen,    die  in  Skandinavien  und  in  Deutsch- 
land bis  heute  erhalten  sind.    In  kleinen  Zügen  weichen  sie  von  der  alten 
Fassung  ab.    Der  Baumeister  ist  entweder  ein  Riese  oder  ein  kunstfertiger 
Zwerg  oder  der  Teufel;  er  verspricht,  einen  Bau  während  der  Nacht  aus- 
zuführen und  verlangt  als  Lohn  die  Seele  eines  Menschen.   Berücksichtigen 
wir  sodann,  dass  es  sich  im  Mythus  um  die  Gewinnung  der  Freya  handelt, 
so  ist  erklärlich,  dass  auch  in  der  Volkssage  die  Frau  eine  Rolle  spielt.  Eine 
häufige  Variation  ist  auch  folgende.    Der  Hahn  ist  ein  Gewittervogel:  man 
denke  an  den  roten  Hahn  als  das  Sinnbild  des  Feuers,  au  den  Wetterhahn 
und  au  den  Glauben,  dass  ein  im  Keller  eingemauerter  Hahn  gutes  Wetter 
bringe.    So  konnte  es  kommen,  dass  in  der  Sage  anstatt  des  Gewitters  des 
Thörr  der  Hahnenschrei  die  Vernichtung  des  Baumeisters  herbeiführte, 
mnsomehr,   als  die  Hahnenkrat  das  Tageslicht,   den  Zerstörer  alles  nächt- 
lichen Teufelswerkes,   verkündigt  und  nach  der  christlichen  Überlieferung 
die  Verleugnung  Christi  beendet.    Den  mythischen  Zug  endlich,  dass  Smidr 
erst  vernichtet  wird,  nachdem  seine  riesische  Art  erkannt  ist,  hat  die  Volks- 
sage darin  bewahrt,  dass  der  Baumeister  nur  dann  sein  Ziel  erreicht,  wenn 
nicht  sein  Name  erraten  wird.    Im  Saterlande  nun  erscheint  diese  alte  Sage 
in  zweierlei  Gestalt  (I,  273).    Ein  Zimmermeister  hat  den  „babylonischen" 
Turm   zu  bauen,    wird  aber   damit  nicht  fertig   (dieses   letzte  Moment   ist 
jedenfalls  der  Grund  gewesen,   dass  man  an  den  Turm  zu  Babel  dachte); 
da  kommt  ein  Männchen  namens  „La Her  Fink"  und  verspricht  ihm  Hilfe, 
wenn  er  ihm  geben  wolle,   was  seine  Frau  unter  der  Schürze  trage.     Der 

26* 


384  ■   Sie,,s : 

Meister  sagt  das  zu;  als  ihm  aber  nachher  einfällt,  dass  sein  Weib  schwanger 
ist,  gerät  er  in  grosse  Angst.  In  der  letzten  Nacht  vor  der  Vollendung 
des  Turmes  weckt  eine  alte  Nachbarin,  die  eine  kluge  Frau  ist,  durch 
Händeklatschen  den  Hahn:  der  kräht,  und  plötzlich  ist  alles  Teufelswerk 
verschwunden.  Neben  dieser  Sage  ist  noch  eine  andere  erhalten.  Ein 
Mann  wird  mit  dem  Kirchenbau,  den  er  übernommen  hat.  nicht  fertig.  Da 
begegnet  ihm  ein  altes  Männchen  und  verspricht  ihm  zu  helfen,  doch  nach 
drei  Tagen  müsse  der  Meister  ihm  mit  Leib  und  Seele  angehören,  wenn  er 
nicht  seinen  Namen  erraten  könne.  Die  Kirche  wird  vollendet;  der  Meister 
rät  und  rät  —  vergebens.  In  seiner  Not  kommt  er  an  einer  kleinen  Hütte 
vorbei,  und  da  hört  er  einen  Knaben  singen:  „heute  Abend  kommt  Yatter 
Fink  nach  Hause  und  bringt  noch  einen  mit".  So  ist  das  alte  Männchen 
um  seinen  Lohn  betrogen.  Ähnliche  Sagen  werden  aus  den  verschiedensten 
Gegenden  berichtet,  vgl.  Myth. 4  454.  856  Nachtr.  158.  302.  Ich  glaube 
nun,  dass  wir  bei  der  Vergleichung  grosses  Gewicht  auf  den  Namen  des 
bösen  Zwerges  legen  müssen.  Auf  Süd  wird  erzählt,  dass  eine  Zwergin 
das  Wiegenlied  singt  „morgen  kommt  dein  Tater  Finn  mit  dem  Kopf 
eines  Mannes";  dazu  vergleiche  man  die  Silder  Sage  von  dem  Meermanne 
Ekke  Nekkepenn,  die  Dersauer  Sage  vom  Knirrficker  (Müllenhoff  a.a.O. 
Nr!  411.  419.  416),  die  Erzählung  von  dem  Trold  Fin,  der  dem  Esbern 
Snare  die  Kallundborgkirche  bauen  hilft,  und  von  dem  Riesen  Finn,  dem 
Erbauer  der  Kirche  zu  Lund  (Myth.4  856.  454).  Ich  vermute  zwischen  diesen 
Namen  einen  Zusammenhang.  Schon  H.  Möller  hat  (das  aengl.  Yolksepos 
Kiel  1883  S.  74fgg.,  vgl.  Müllenhoff,  Zs.  f.  Gesch.  YIH,  239)  mit  Recht 
hervorgehoben,  dass  der  auf  Süd1)  erscheinende  Name  Vater  ..Finn''  auf 
langes  I  zurückweisen  muss:  urfrs.  *F!n,  welches  mit  Diminutivsuffix  -k(e) 
im  Stl.  Fii]k  ergeben  konnte.  Das  Wort  scheint  mir  eine  -rao-Bildung  von 
der  idg.  Wurzel  peik  (peiq)  zu  sein,  vgl.  lit.  piktas  böse,  peikiU  fluche, 
altpreuss.  pikuls  Teufel  (vgl.  got.  fuiliipa.  ahd.  fehida  Fehde).  Der  Stamm  idg. 
*pikenö-  germ.  *fiyina-  müsste  urfrs.  *Fin  ergeben,  der  Stamm  *pikn6-  aber 
würde  nach  dem  Gesetze  der  germ.  Konsonantendelmung  zu  der  Form  *fikk 
führen,  die  mit  dem  -er  der  Nomina  agentis  verbunden,  in  dem  Namen 
Knhifkker  erhalten  zu  sein  scheint  (eig.  einen  „bösen  Drängegeist"  be- 
deutend). Auch  der  nordische  Troldname  Finn  lässt  sich  (unter  Annahme 
alter  Wurzelbetonung)  aus  *fihinaz  erklären").  Also  erstreck:  sich  die 
interessante  Übereinstimmung  dieser  stldischen  mit  der  nordfriesischen 
und  skandinavischen  Sage  auch  auf  die  ^amensform  und  das  Beiwort 
„Vater". 


1)  Vgl.  urfrs.  *min  mein,  Süd:  min;  aber  sin  Sinn,  Sild :  sen.  Vgl.  Siebs,  Z.  Gesch. 
d.  engl.-frs.  Sprache  S.  138.  213. 

2)  Vgl.  Noreen,  Ältisld.  Gramm.  2.  Aufl.  §  5ti.  Der  nord.  Zwergname  Fmrtr  ist 
lautlich  damit  nicht  zu  vereinigen,  sondern  ist  wohl  Übertragung  des  Völkemamens  Finur 
(der  l'i 


Das  Saterland.  385 

Was  sich  sonst  an  Teufelssagen  im  Saterlande  bewahrt  hat,  gipfelt  in 
zwei  Momenten,  einerseits  im  Teufelsbündnisse,  anderseits  in  der  Be- 
schwörung des  Teufels.  Von  einem  Pakt  mit  dem  Bösen  haben  wir  soeben 
erzählt;  ähnliches  wird  mehrfach  berichtet.  Ein  Mann  hat  sich,  um  mit 
seinem  Bau  fertig  zu  werden,  dem  Teufel  verschrieben,  und  seine  Zeit  ist 
abgelaufen.  Da  bittet  seine  Frau  den  Bösen,  er  möge  so  lange  Geduld 
haben,  bis  die  Kerze,  die  sie  in  der  Hand  halte,  ausgebrannt  sei.  Er  willigt 
ein,  die  Frau  schluckt  das  Licht  hinunter  und  der  Mann  ist  gerettet.  —  Sogar 
ein  Pastor  in  Strücklingen  stand  mit  dem  Teufel  im  Einvernehmen.  Der 
hat  ihn  einst  in  Gestalt  eines  schwarzen  Hundes  verteidigt;  und  als  einem 
Mädchen  des  Kirchspieles  von  einem  Langholter  ihr  goldenes  Kreuz  ge- 
stohlen war  und  der  Pastor  bekannt  machte,  der  Teufel  werde  dem  Diebe 
den  Hals  umdrehen,  ward  das  gestohlene  Gut  schleunigst  zurückgebracht. 
Ein  solcher  Erfolg  ist  natürlich  nur  dann  denkbar,  wenn  nicht  die  Diebe, 
wie  es  oft  der  Fall  ist,  selbst  mit  dem  Teufel  verbündet  sind.  Das  aber 
kann  man  niemals  wissen.  Sicher  ist  es  bloss  von  einer  einzigen  Klasse 
von  Leuten:  den  Freimaurern.  Sie  sind  sehr  eifrig  bemüht,  ihre  Zahl  zu 
vermehren,  weil  in  jedem  Jahre  einer  von  ihnen  durchs  Loos  bestimmt 
wird  zu  sterben;  dem  dreht  der  Teufel  den  Hals  um. 

Zur  Beschwörung  ist  alles  Christliche,  alles  Kirchliche  gut:  der  Name 
Gottes,  das  Kreuz,  auch  ein  sogenanntes  hilgedöm,  ein  kleines  Täschchen 
mit  einem  Heiligenbilde,  das  man  als  Amulet  trägt.  Begegnet  einem  der 
Teufel  auf  dem  Wege,  so  kann  man  ihn  durch  Schläge  vertreiben,  es 
müssen  aber  je  drei  Hiebe  oder  doch  wenigstens  deren  eine  ungrade  Zahl 
sein;  kommt  er  ins  Haus,  so  ist  ein  Schuss  in  den  Schornstein  von  Nutzen. 
In  Strücklingen  erzählte  man  mir  folgende  Geschichte: 

„Op't  Master  (Kloster  in  Bokelesch),  der  iz  sö'n  gewisen  Gerd  Hyrman 
wezen,  un  dö  iz  'er  wdigeen  trüg  de  busk,  un  det  föütpad  iz  gern  ür  'e  lorje 
treie  (Holl.  tri'e  Steg).  Un  az  'er  bi  de  lorje  trete  kumt  un  wol  'er  ür  (über), 
dö  sit  di  dywel  der  bi  strid  (grätschweise  vgl.  stridje  grätschen)  ür  de  treie. 
Un  dö  kwad  'er:  „schike  bi  (mach,  dass  du  weg  kommst!),  det'k  derür  kon!" 
Det  wol  di  dywel  nit.  Dö  gwqt  'er  bi  un  nimt  sin  stok  un  lait  him  treie  (drei) 
deriir.  Dö  gu)ji  'er  bi  un  paket  en  stok  op't  öür  end  öun  un  slacht  Mm  wier 
treie  ür.  Dö  kwad  di  dywel,  hi  schel  noch  emäl  slö.  „Na,"  kwet  'er,  „un  nimt 
den  stok  wier  üme  un  slacht  him  noch  wier  treie  ür.  Dö  wikt  di  dywel.  Dö 
gui]t  Gerd  Hyrman  deriir  un  eter  hüs  töü.  De  öür  wicht  dö  kumt  'er  >  n  stemi 
buper  'n  schöstfn:  „Gerd  Hyrman,  wir  beste?"  Dö  guijt  'er  bi  un  gript  det 
röür  (Rohr,  d.  h.  Flinte)  un  schiyt  (schiesst)  in  'n  schöstin;  eters  het  In  niks 
wier  fori  'n  dywel  herd." 

Der  Teufel  erscheint  auch  manchmal  in  Bezeichnungen  und  Redens- 
arten, die  auf  ernstlichem  Aberglauben  nicht  beruhen.  Eine  Pflanze 
(rauunculus  sceleratus)  heisst  dywelsbit.  Ein  gebräuchlicher  Spruch  ist: 
„zcan   't  rint   un   de  sune   schint,    dan  sit  de   dywel  op   Widsbe'rgen  un  bukt 


386  Siebs: 

pörjküke".  Oft  auch  hört  man  sagen:  ,,best  da  dl  dywel,  ddn  ben  ik  din  gröt- 
)i)ö"tlrr.-'  Wir  dürfen  darin  das  riesische  Moment  erkennen,  dass  die  Mutter 
(vgl.  Grendles  mödor)  mächtiger  ist,  als  der  Teufel  selbst.  Auch  in  einer 
saterländischen  Sage  «'ischeint  des  Teufels  Grossmutter  (II,  10).  Ein 
junges  Mädchen  ward  an  der  Himmelsthür  abgewiesen,  weil  sie  bei  Leb- 
zeiten sehr  eitel  gewesen  war.  „Sie  ging  wieder  zurück  auf  den  Himmels- 
weg, der  nahe  am  Himmel  schön  und  lieblich  war,  dann  aber  schmal  und 
dornig  wurde,  und  wanderte  solauge,  bis  sie  zu  einem  andern  Wege  kam, 
der  breit  und  anmutig  anzusehen  war  .  .  ."  Das  ist  rein  biblisch.  „Blumen 
und  allerlei  blühendes  Gesträuch  prangten  am  Wege  und  dufteten  gar  lieb- 
lieh" u.  s.  w.  —  eine  Schilderung,  die  lebhaft  an  das  Märchen  von  der  Frau 
Holle  erinnert.  „Wie  sie  eine  gute  Strecke  gewandelt  war.  gelangte  sie 
endlich  an  die  Hölle.  Dort  wurde  sie  freundlich  bewillkommnet"  (die  Gross- 
mutter, Mutter  oder  Schwester  des  Kiesen  und  des  Teufels  zeigt  sich  immer 
zunächst  mildgesinnt  und  mitleidig!)  „und  eine  alte  Frau,  die  in  einem 
grossen  Sessel  sass,  trat  auf  sie  zu  und  hatte  ein  grosses  Hörn  in  der  Hand, 
und  durch  das  grosse  Hörn  blies  die  alte  Frau  sie  an,  da  stand  sie  auf 
einmal  in  hellen  Flammen  und  musste  nun  ewig  brennen."  Merkwürdig 
ist  in  dieser  Sage,  dass  hier  nicht  wie  sonst  nur  von  einem  Anblasen  zum 
Zwecke  der  Bezauberung  die  Rede  ist,  sondern  dass  das  Hornblasen  hier 
der  Entzündung  des  Höllenfeuers  vorangeht  (vgl.  auch  die  „ubele  hornbläse" 
der  Kaiserchronik  Myth.  *  886). 

Wie  die  Riesen-,  so  scheinen  auch  die  Elbensagen  ganz  im  Teufels- 
und Hexenglauben  aufgegangen  zu  sein. 

Von  Zwergen  ist  mir  nichts  bekannt  geworden,  weder  von  den  Alrunen 
(I,  396)  noch  von  den  ölken  oder  ölkers.  Sie  sollen  (Kuhn  und  Schwartz, 
Nordd.  Sagen  etc.  S.  288  fgg.  324.  485)  bei  Holleberg,  in  der  Nähe  von 
Hollen  gehaust  haben:  sie  stahlen  den  Leuten  ihr  Hausgerät,  molken  die 
Kühe,  ja  sie  raubten  gar  einmal  ein  Mädchen.  Als  ihr  König  gestorben 
war.  sind  sie  ausgewandert  und  haben  sich  von  einem  Fährmann  in  Leer- 
ort über  die  Ems  setzen  lassen.  Diese  Sage  von  dem  Abzüge  des  kleinen 
Volkes  ist  ja  auch  aus  anderen  Gegenden  bekannt.  In  grossen  Grabhügeln 
sollen  die  ölkers  beerdigt  sein,  und  die  Urnen,  die  darin  gefunden  werden, 
heissen  darum  „ölkerspött" .  Was  der  Name  ölk  eigentlich  bedeutet,  und 
inwieweit  er  mit  alk,  ülk,  iillerk  —  so  heissen  anderwärts  die  Zwerge  — 
verwandt  ist  (vgl.  mini,  ülve),  ist  nicht  sicher;  ich  möchte  an  eine  (wenn 
auch  erst  späte)  Verknüpfung  mit  ostfrs.-plattd.  ölk  „böse,  hässlich"  denken, 
vgl.  ndl.  oolijk,  mnld.  odelijc  „gering".  —  Einen  anderen  Zwergnamen  er- 
wähnt Beninga  in  seiner  ostfries.  Chronik.  Vor  langen  Zeiten  seien  die 
Normännchen,  kleine  Leute  aus  Norwegen,  ins  Saterland  gekommen,  hätten 
die  Einwohner  unterworfen  und  verlangt,  sie  sollten  sich  vor  ihnen  beugen. 
Düs  halie  der  König  der  heidnischen  Normännchen  nicht  erreicht  und  habe 
darum  ganz  niedrige  Kirchthüren  und  diese  gegen  den  christlichen  Brauch 


Das  Saterland.  387 

alle  an  der  Nordseite  anlegen  lassen:  wenn  nun  die  Saterländer  zum  Gottes- 
dienst gehen  wollten,  mussten  sie  sich  bücken  (II,  225).  Woher  kommt 
diese  eigentümliche  Sage?  Man  könnte  meinen:  weil  die  Zwerge  heidnisch 
sind,  die  Normannen  aber,  welche  den  Friesen  durch  die  wiederholten 
Invasionen  bekannt  waren,  als  hethena  tldad  y.af  efopjr  galten,  so  bezeichnete 
man  das  Zwergvolk  als  „Normännchen".  Indes  bin  ich  geneigt,  die  ganze 
Sage  als  eine  volksetymologische  Deutung  des  Normannemiamens  zu  er- 
klären: när  ist  „elend,  winzig,  enge"  (germ.  Stamm  *narwa-),  also  „die 
winzigen  Männchen'-. 

Zu  dem  Teufel  stehen  in  engster  Beziehung  die  Hexen:  fast  alle 
Hexerei  (hchtc /•<•<)  beruht  auf  einem  Bündnisse  mit  ihm,  sei  es,  dass  dieses 
direkt  mit  dem  Bösen  abgeschlossen,  sei  es,  dass  die  Kunst  des  Hexens 
ererbt  oder  freiwillig  erlernt  ist.  Die  völlige  Abhängigkeit  der  Hexen  von 
der  Gestalt  des  Teufels  hat  sich  wie  diese  selbst  natürlich  erst  unter  christ- 
lichen Einflüssen  in  später  Zeit  ausgebildet.  Man  schwört  Gott  und  die 
Heiligen  ab,  indem  man,  eine  schwarze  Henne  in  den  Armen,  dreimal 
den  Kirchhof  gegen  die  Sonne  umwandelt:  auch  durch  Formeln  kann  es 
geschehen  (I,  295).  Solche  Mittel  der  Lossagung  vom  Guten,  anderseits 
die  Gebete,  mit  denen  man  sich  wieder  vom  Teufelsbüudnisse  lösen  kann 
und  alle  die  rein  christlichen  Mittel  gegen  Behexung1)  sind  auch  in 
anderen  Gegenden  bezeugt.  Hier  sollen  nur  die  wichtigsten  heidnischen 
Zü°e  erwähnt  werden.  —  Das  saterländische  Wort  hehe  ist  aus  dem  Hoch- 
deutschen entlehnt.  Es  bedeutet  wohl  den  weiblichen  bösen  Dämon2), 
der  im  Walde  haust,  und  zu  dieser  Bezeichnung  stimmt,  dass  die  Hexen 
—  im  Gegensatze  zu  den  Riesen,  Eiben,  Maren  u.  s.  w.  —  stets  böse, 
niemals  s'ütige  Gesinnung  zeigen.    Aller  Hexenzauber  wirkt  schädigend. 


Jov 


1)  Das  Zeichen  des  Kreuzes,  das  Weihwasser,  das  hilgedöm  (s.  o.  S.  385),  Glocken- 
geläute, Anschreiben  der  Buchstaben  C.  M.  B.  (Caspar,  Melchior,  Balthasar  sind  die 
Namen  der  heiligen  drei  Könige)  u.  a.  m. 

2)  Zu  vergleichen  ist  skr.  ddsyul  ..der  dm  Göttern  feindliche  Dämon-,  ein  mit  idg. 
Suffix  -tu-  aus"  der  idg.  Wurzel  des  „feindlich  sein,  anfeinden"  gebildetes  Maskulinum. 
Ein  von  derselben  Wurzel  germ.  tes  abgeleitetes  -;'<;-Femininum  ist  urgerm.  *tüjö.  altengi. 
tiss(e),  althochd.  -zisse,  -zissa.  Da  der  Dämonen  Reich  die  Luft  ist,  sind  feindliche  Dämonen 
erklärlicherweise  Personifikationen  des  Sturmes  und  Unwetters.  Das  lehren  viele  Sagen 
und  Ausdrücke.  Die  Hexen  („Wetterhexen")  gelten  im  Volke  als  Erregerinnen  des  Ge- 
witters: ahd.  zessa,  mhd.  zesse  bedeutet  „Sturm1',  „Unwetter",  und  Geiler  von  Kaisersberg 
nennt  die  Hexe  eine  ..Zessmmacherin".  Dieses  zessa  scheint  ebenfalls  ein  von  der  idg. 
Wurzel  des  gebildetes  Femininum  zu  sein:  idg.  *desnä-  wird  germ.  *tessö-,  ahd.  i 
Berühren  sich  nun  hierin  die  Hexen  als  physikalische  Gottheiten  eng  mit  den  Walküren, 
die  durch  Luft  und  Wasser  ziehen,  so  dachte  man  sie  sich  wie  auch  diese  im  Walde 
hausend:  ahd.  hagzissa,  vgl.  mnld.  haghetisse,  altengi.  Iia-gles,  heegtesse.  Das  «  der  ahd. 
Formen  hagazussa,  Iiagzus  ist  wohl  volksetymologische  Anlehnung  au  Formen  der  germ. 
Wurzel  tus  (ahd.  ;äs)  „zausen".  [Der  früher  viel  umstrittene  Käme  der  augsburgischen 
Göttin  dsa,  Zmi  (Mythol.  *  242  ff.)  ist  längst  als  eine  zur  Erklärung  des  Nameus  Ciesbure 
gemachte  Erfindung  abgethan  worden;  es  ist  aber  nicht  ausgeschlossen,  dass  zu  dieser  das 
Wort  -zissa  in  der  oben  erklärten  Bedeutung  mitgewirkt  hat.  zumal  ja  öfters  Namen  von 
Halbgottheiten  auf  die  Götter  angewandt  werden.] 


388  Siebs: 

Er  richtet  sich  entweder  direkt  gegen  die  Menschen,  besonders  gegen  die 
wehrlosen  Kinder,  oder  wider  den  Besitz  und  die  Arbeit  der  Menschen, 
nämlich  gegen  das  Yieh,  gegen  Land-  und  Hauswirtschaft.  Schon  der 
Blick  der  Hexe,  das  Ansehen  mit  dem  mal'occhio,  kann  Menscheu  und 
Tieren  schaden  oder  gar  den  Tod  bringen.  Dieses  „Entsehen"  wird  in 
gewissen  frs.  Gegenden,  z.  B.  auf  Wangeroog  als  sehn-  bezeichnet,  d.  h. 
„genau  ansehen"  (vgl.  verschieren  Bremer  Wörterb.  IV.  H61).  „Djü  fieks 
h,j  üz  half  schird,  et  li/t  'er  al  fjaurbaind  streiket,"  heisst  es  dort,  wenn  die 
Hexe  das  Kalb  „entsehen"  hat,  dass  es  „vierbeinig  gestreckt"  daliegt  (vgl. 
Frs.  Arch.  H.  14).  Man  vermeidet  ängstlich,  dass  ein  verdächtiges  Weib 
ein  neugeborenes  Kind  ansehe  oder  es  gar  lobe  und  berühre.  Doch  auch 
Erwachseneu  können  die  Hexen  Krankheit  und  sonstiges  Unheil  bringen, 
besonders  indem  sie  ihnen  Kränze  flechten  und  heimlich  in  die  Betten 
stecken.  Der  Mensch,  dessen  Lagerstatt  diese  Verschlingungen  enthält, 
erkrankt  und  muss  sterben,  sofern  das  böse  "Werk  nicht  bald  entdeckt  und 
verbrannt  wird  (1.308);  so  auch  das  Vieh,  dessen  Stall  solche  Dinge  birgt. 
Dieser  im  Saterlande  sehr  verbreitete  Aberglaube  ist  auch  aus  anderen 
friesischen  Gegenden  bekannt.  Müllenhoff  (Schleswig-holst.  Sagen  S.  223) 
erzählt,  wie  ein  junges  Ehepaar,  in  dessen  Bett  die  Hexen  Ringe  und 
Kränze  gestopft  und  Unfrieden  geflochten  haben,  in  Zank  und  Hader  gerät. 
Das  erinnert  an  die  aus  anderen  Gebieten  stammenden  Berichte  vom  Nestel- 
knüpfen, das  Zwietracht  unter  jungen  Eheleuten  stiftet.  Schlingen  und 
Winden  ist  die  Arbeit  der  Xornen:  „deet  Wyrd  geweef  bezeichnete  dem 
Angelsachsen  das  Wirken  der  Schicksalsmächte.  Hier  berühren  sich  die 
Hexensagen  aufs  engste  mit  dem  Glauben  an  die  unheilvollen  Schwestern, 
die  den  Schicksalsfaden  weben1). 

Den  Feldbau  verheeren  die  Hexen,  nicht  nur.  indem  sie  Unwetter 
erregen,  sondern  auch  dadurch,  dass  sie  Ungeziefer  über  das  Land 
bringen.  In  den  ostfriesischen  Hexensageu  spielt  die  ftTäuseplage  eine 
grosse  Rolle.  Man  hat  die  fruchtspendende  Xerthus  als  Urbild  der  heiligen 
Gertrud  von  Xivelles  betrachtet,  die  als  Schutz  gegen  Mäusefrass  augerufen 
ward:    im   Gegensatze    dazu    erscheinen   die  Hexen   als  Mäusemacherhmen 


1)  Der  altnord.  Name  norn  (germ.  *norno,  Plur.  an.  norner,  nach  Analogie  der 
imme  I  edeutet  wahrscheinlich  „Verschlingung,  Verknüpfung".  Ich  stelle  das  Wort 
indessen  nicht  mit  Schade  zu  einer  idg.  Wurzel  snerk*  [germ.  suhst.  *norhni-),  sondern  halte 
ir  ein  abstraktes  nö-Femininum,  welches  mit  der  Tiefstufe  nr  der  idg.W.  ner  gebildet 
ist,  vgl.  lit.  neriii,  nerti  .einfädeln'-,  narinu  .einen  Knoten,  eine  Schlinge  machen".  Fi.  k 
et.  Wb.  I  *  503  hat  ohne  Grund  diese  W.  ner  von  der  W.  ner  .eintauchen-  geschieden. 
Die  Wurzel  ist  in  beiden  Fällen  die  gleich.  (Leskien,  Der  Ablaut  im  Lit.  S.  337)  und  somit 
dieselbe,  die  Weinhold  seiner  Deutung  der  Nomen  als  Wassergöttinnen  zugrunde  gelegt 
hat  (Zs.  i'.  d.  Alt.  VI.  460).  Auch  für  diese  Auffassung  der  Nomen  bietet  übrigens  die  frs. 
Sage  .ine  Anknüpfung,  indem  die  drei  Hexen  (die  englischen  Weirdsisters),  nachdem  sie 
Beratung  gehalten,  auf  dem  Meere  als  Sturzwellen  ein  Schiff  zu  vernichten  suchen  (siehe 
die  Wangerooger  Saue  im  frs.  Archiv  II.  82  fgg.  und  die  Silder  Sage  b.'i  Müllenhoff 
a.  a.  0.  S.  224). 


Das  Saterlana.  389 

(Myth.  912):  es  gilt  als  Zeichen  einer  ausgelernten  Hexe,  vollkommene 
Mäuse  schaffen  zu  können,  während  es  ihr  in  der  Lehrzeit  meist  nur  ge- 
lingt, ungeschwänzte  zu  machen.  Man  geht  zu  weit,  wenn  man  solche 
Sagen  mit  dem  Glauben  an  die  Verwandlung  der  Seele  in  Tiergestalt  ver- 
bindet; sie  sollen  eben  nur  das  verderbliche  Thun  der  Hexen  bekunden. 
Die  Schädigung  ist  der  Inbegriff  all  ihres  Zaubers;  es  ist  undenkbar,  dass 
sie  je  Gutes  wirken  könnten.  Ihre  Gaben  verwandeln  sich,  wie  die  des 
Teufels,  in  Kot;  nicht  einmal  das  Unheil,  das  sie  selbst  berufen  haben, 
können  sie  bannen.  Eine  Hexe  gestand  ihrem  Manne  ein,  dass  sie  Gewitter 
erregen  könne  und  bezeichnete  zum  Beweise  einen  Baum,  den  der  Blitz 
treffen  sollte.  Der  Mann  band  sie  daran  fest,  und  sie  ward  erschlagen 
(I,  342). 

Mancherlei  Mittel  giebt  es,  die  gegen  den  bösen  Hexenzauber  schützen. 
Von  den  auf  späterem  christlichen  Einfluss  beruhenden  sehen  wir  ab.  —  Die 
meisten  Hexen  fallen  schon  durch  ihr  Aussehen  auf,  sie  verraten  sich  durch 
die  geröteten,  triefenden  Augen,  durch  den  Bart  oder  durch  die  tiefe  Stimme; 
doch  giebt  es  auch  solche,  die  sich  nur  in  gewissen  Situationen  oder  durch 
Zauberin ittel  erkennen  lassen.  Läuft  die  Hexe  hinter  einem  Wiesel  (^wizelke) 
her,  so  fällt  sie.  Es  braucht  nicht  das  Hermelin  zu  sein,  das  schon  seiner 
weissen  Farbe  halber  als  heilig  gilt;  auch  das  braune  Wiesel,  das  Sinnbild 
der  schönen  Frau,  ist  ein  geheimnisvolles  Zaubertier,  über  das  die  Hexe 
keine  Macht  hat  (Myth.  254.  494).  Unter  einer  Egge,  besonders  einer  Erb- 
egge liegend,  kann  man  unbeschadet  dem  Treiben  der  Hexen  zusehen  — 
sei  es,  dass  hier  das  Ackergerät  als  solches,  sei  es,  dass  nach  christlicher 
Anschauung  die  Kreuzstellung  der  Nägel  Schutz  gewährt.  Bekannt  ist  auch, 
dass  gewisse  Kräuter  geistersichtig  machen:  wie  es  in  manchen  Gegenden 
z.  B.  vom  Gundermann  gilt,  so  im  Saterlande  vom  Brombeerstrauch.  Auf 
ihn  verwünscht  man  die  wälriderske  (s.  u.  S.  392),  aus  seinem  Gedeihen 
weissagt  man  die  Ernte,  und  man  erkennt  die  Hexen,  wenn  man  heimlich 
einen  Brombeerzweig  bei  sich  trägt.  Sowreit  die  Erkennung;  als  die 
kräftigsten  Gegenmittel  gegen  allen  Hexenschaden  gelten  erklärlicher- 
weise die  Symbole  der  Fruchtbarkeit:  Salz,  Erde  und  Brot;  ferner  das 
Feuer,  das  im  Feuer  gehärtete  Eisen  und  das  weisse,  leuchtende  Silber. 
Weit  verbreitet  ist  ja  der  Brauch,  das  Vieh  vor  dem  ersten  Austrieb  mit 
Salz  zu  bestreuen  (I,  353).  Man  sagte  mir:  „wa?i  det  fe'  bi  förjlrsdai  det 
erste  mal  ntlet'  wüd,  dein  wüd  'er  sält  öpsmiten,  un  det  wüd  in  de  he're  0un- 
writ/en,  det  et  deräne  bleu."  Neugebornen  Kindern  legt  man  Salz  auf  die 
Zuuffe,  dem  neuo-ebornen  Vieh  Salz  oder  Erde.  Besonders  die  mit  Gras 
bewachsene  Erde  hat  schützende  Kraft:  mit  grünem  Rasensoden  bedeckt 
ist  man  gegen  Zauber  gefeit.  Salz  und  Brot  ist  den  Hexen  sehr  gefähr- 
lich. Schiesst  man  mit  Brotkrumen  nach  ihnen,  wenn  sie  in  der  Gewitter- 
wolke daherziehen,  so  fallen  sie  in  Menschengestalt  tot  zu  Boden.  Auch 
der  Schuss  mit  ererbtem  Silber  kann  sie  verwunden.    Ein  Müllerknecht  zu 


390  Siebs: 

Scharrel  sah  bei  Melenkif/s  (Mühleukreuz)  eine  Menge  Katzen;  da  lud  er 
einen  vom  Vater  ererbten  silberneu  Knopf  in  die  Büchse  und  schoss:  am 
folgenden  Tage  waren  verschiedene  Frauen  im  Dorfe  verwundet  (I.  356). 
Auch  die  glühende  Kohle,  die  am  juid; '  fhir  (s.  Ostergebräuche  S.  274)  ent- 
zündet ist,  schützt  gegen  Zauber.  Der  heimische  Herd,  auf  dem  sie  brennt, 
ist  das  Sinnbild  des  Hauses,  und  in  seinem  Bereiche  ist  man  gesichert. 
Deshalb  werden  die  jungen  Kälber  nicht  über  die  Schwelle  des  Hauses  ge- 
trieben, sondern  getragen,  als  ob  sie  so  in  seinem  Schutze  verblieben.  — 
Alle  diese  Mittel  aber  werden  nicht  nur  wirkungslos,  sondern  sogar  verderb- 
lich, wenn  wir  sie  aus  unserer  Macht  geben.  Darum  ist  es  höchst  gefähr- 
lich, Salz,  Brot  oder  gar  die  Kohle  vom  Herde  auszuleihen. 

Der  Schutz  gegen  die  Hexen  ist  dadurch  erschwert,  dass  sie  ihre 
Gestalt  wandeln  können.  Meist  sind  es,  wie  auch  in  den  Teufelssagen, 
bösartige  oder  verachtete  Tiere;  wird  eine  Farbe  genannt,  so  ist  es  in  der 
Kegel  die  schwarze;  Tiere,  die  in  der  christlichen  Religion  Sinnbild  der 
Gottheit  sind,  wie  Lamm  und  Taube,  kommen  selbstverständlich  nicht  mehr 
in  Frage.  Dass  diese  Sagen  mit  dem  Aberglauben  vom  Angang  zusammen- 
hängen, ist  erklärlich.  Die  grösste  Rolle  spielt  im  Hexen-  und  Kobold- 
glauben überall  die  Verwandlung  in  Katzen,  nicht  etwa,  weil  die  Katze  der 
Frija  heilig  war  (Myth.  873),  sondern  weil  sie  das  geheimnisvollste  der 
Haustiere  und  ein  Nachttier  ist.  Schon  oben  haben  wir  erzählt,  dass  Hexen 
in  solcher  Gestalt  gesehen  wurden.  Eine  andere  Geschichte  berichtet  mau 
in  Scharrel  (Nordd.  Sagen  S.  287,  vgl.  I,  331).  Einem  Bauer  ward  immer 
über  Nacht  das  Bier  ausgetrunken,  darum  beschliesst  er,  beim  Braukessel 
Wache  zu  halten.  Da  kommen  viele  Katzen,  und  er  ruft:  ..kommt  pusken, 
kommt  katken,  kommt  wurmet  ju  /mt.'-  (saterld.  müsste  es  heissen  „kwmt 
püsken,  kwmt  katken,  kumt  wärmet  jöö  u-et!").  Sie  setzen  sich  ums  Feuer;  da 
bespritzt  er  sie  mit  kochendem  Wasser,  und  im  Nu  ist  alles  verschwunden. 
Am  andern  Morgen  aber  hat  des  Bauers  Frau  ein  ganz  verbranntes  Ge- 
sicht gehabt.  Zuweilen  erscheinen  die  Hexen  auch  als  Hasen  (I,  333); 
gewöhnlicher  ist  die  Gestalt  der  Sau,  des  Bockes,  der  Kröte  u.  a.  m.  Tiere 
spüren  solchen  Spuk  weit  eher  als  der  .Mensch,  besonders  Pferde  und 
Hunde  gelten  als  geistersichtig.    In  Scharrel  hörte  ich  darüber  Folgendes: 

„En  pör  hunert  trede  (Schritte)  in  't  weste  fori  hulk  äPger  (vgl.  oben 
S.  274),  der  iz  dl  hirjstekolk  (Hengstkolk),  wir  ze  töfdren  's  medens  med  dai- 
weden  (Tagwerden)  en  schimel  ütkümen  blöked  (gesehen)  hebe  wolne,  dleter'n 
lindepöl  bl  Geders  kiys  ferbi  ronen  weze  schel.  Hlr  wolen  ze  vk  noch  mör  spök 
blöked  hebe:  enige  fertele  fon  'n  mute  med  färgere  (Sau  mit  Ferkeln),  üer  fon 
twö  wpuljgde  med  'n  sek  (Sack)  op  'e  kop.  Di  lindepöl,  wir  nü  gSrslönd  (Gras- 
land) iz,  was  töfärne  weiter,  un  hat  ök  nü  noch  lind,  nur.  Insen  brochtene 
fente  (Jungen)  der  dö  harjste  in  'e  wede  un  hälden  ze  's  medens  med  dai- 
schimerjen  wier,  un  dö  kernen  him  ök  dö  mute  med  'e  färgere  jün,  wirür  ze 
däne  bot]  (gehörig  bange)  wüdene.    Dö  ständen  jö  det  le'd  ön  „dt  liöue  meden 


Das  Saterland.  391 

kumf  (der  liebe  Morgen  kommt)  un  gfven  stiMwigend  an  den  spök  firbl. 
Man  dö  halste  spitsindi  dö  öre  un  fvnene  (ferjin)  ön  tö  frenskjin  (wiehern), 
az  wan  ze  ök  wet  blöked  Juden,  det  n/t  (g)jucht  (recht)  was.  Det  iz  wer,  dö 
harjste  siö  (sehen)  öfter  mar  az  de  mdnskeni,  apdrt  (besonders)  wan  welsßrye 
möt.  (>k  dö  hünde  scheine  so  wet  wo  hone  un  sete  sik  dan  op  'i  irs  un  Jini/, 
in  ens  föd." 

In  Tiergestalt  erscheinen  die  Hexen  häufig  beim  nächtlichen  Luft- 
rit.t.  Ausfahrt  und  Körpertausch  werden  durch  Formeln  und  durch  Ein- 
schmieren mit  einer  Salbe  erleichtert,  die  auch  Hexenbutter1)  genannt 
wird.     Von   solchem  Zauber  ward   mir  in  Strücklingen  Folgendes  erzählt: 

„Ölde  loni  Hemer,  dl  iz  in  'Bdljene  (Hellingen)  wezen,  un  dl  iz  bi  sümir- 
dai  etir  't  Raiderlöund  wäigeen  tön  miöen  (mähen),  der  Iwd  'er  gers  mehid  op 
Märjenköer.  Un  dl  knecht,  di  hed  liim  fertelt,  det  di  bür  sin  vom  jü  was  in 
Jtek.se.  Dö  kwed  Remer  tö"  den  kriecht,  h't  schel  'er  tanken  of  dwö  (er  soll 
denken  davon  thun,  d.  h.  daran  denken),  wan  jü  herüt  gwnt  de  nacht  Her. 
Dö  Jied  ze  en  pulkin  stein  op  n  schöstenbositn,  der  iz  sölyi  (Salbe)  an  wezen, 
dr  hed  ze  sik  med  smert,  un  dänkwed  ze:  „lierütirdltüt!*)  tö^n  schösten  herüt, 
dwer  lni.sk  un  bräke  un  det  tu"  Bremen  in  'n  w/nkeler."  Det  Jiert  di  Jenecht, 
dl  gunt  nü  ök  bi  un  smert  sik  un  guijt  ök  uner  'n  schösten  stöunde  un  kwed 
Sk:  „herütirditüt  tö^n  schösten  herüt  dar  busk  un  bräke".  Dö  kumt  di  knecJd 
bi  det  wlumänske  tö"  Bremen  in  'n  winkeler,  un  dö  Modere  (Kleider)  synt  dl 
küt  ritin  (entzwei  gerissen),  we'l  det  er  trog  busk  un  bräke  was  kernen.  Dö 
site  ze  so  loi/e  tö"  de  medentid  (Morgenzeit),  dö  kwede  ;<"■  tö"nöner:  „nü  i:  t 
tid  fon  eter  hüs."  Dö  gunt  det  wiu  bi  un  rakt  sik  in  Vi  segebuk  (giebt  sich 
in  einen  Ziegenbock),  dö  kwed  ze  tö"  'n  knecJit,  nü  schel  'er  op  jü  site  gune. 
Dö  sprini  ze  bet  Twiskenänir  mer,  man  jü  kwed  färtid  tö"  him,  Jü  nio"t  nen 
wud  (Wort)  kwede.  Nü  synt  ze  für  Twiskinänir  mir,  un  dö  nimt  de  segebuk 
sik  op  un  sprint  ür  't  mer  (über  das  Meer),  un  dö  wunert  sik  di  knecht  un 
kwed:  „det  iz  'in  göuden  sprorj  fon  'n  twebenen  buk".  Dö  feilt  J/i  dirö",  un 
dö  Jied  lii  twi-'u  deg\    gein  er  er  bi  't  winmdnske  kernen  iz  op  Mdrienköir. 

Zu  Trinkgelagen  und  Schmausereien ,  besonders  aber  zu  Tänzen 
kommen  die  Hexen  nachts  an  bestimmten  Orten  zusammen.  Solche  Plätze 
sind  im  Saterlande  bei  dem  genannten  Melenkiüs  im  Kirchspiele  Scharrel, 
sodann  unter  dem  Hudenkiböm  und  bei  dem  Budenjq>ö"l3)  in  Strücklingen. 
Es  kommt  vor,  dass  zur  Nachtzeit  die  Hexen  den  Wanderer  dort  zum 
Tanze  auffordern  und  ihn,  wenn  er  Folge  leistet,  mit  Gold  belohnen;  ihre 


1)  Dieser  Name  soll  dann  auf  eine  Pilzart  übertragen  sein  (Nordd.  S.  S.  378,  512'. 
vgl.  unsere  „Hexen"-  und  ..Satanspilze". 

2)  Man  wird  hier  an  das  Hornblasen  der  Hexen  erinnert,  vgl.  Myth.  886;  die  Sprache 
ist  plattdeutsch. 

3)  Hudenkeböm  (nicht  Hudeiijeböm  Nordd.  S.  S.  287,  vgl.  I,  316)  bedeutet  wahrschein- 
lich „Hornbaunr',  d.  h.  Eekbaum  (liuclen  =  Hörn)  oder  „Hornisseubaunr  (vgl.  ndd.  hornke). 
Budenjepöul  =  Quellpfuhl  (*buden  =  Born,  Quelle). 


392  Siebs: 

Gaben  aber  verwandeln  sich  wie  die  des  Teufels  nachher  oft  in  Kot.  In 
Strücklingen  erzählte  man  mir: 

,.Gröt  Hinerk  fon  Hohler  fän  un  Jan  Frans  üt  Römelse  käme  in  de 
medentld  fon  'n  Berselder  merked  un  käme  in  Bälenje  bi  Mudenkeböm.  Dö 
kwede  dö  hekse?i  tö"  Frans,  of  ze  wel  en  spil  spilje  icoln,  ddn  schein  ze  '«  dükät 
hebe.  Wän  det  ene  spil  üt  iz,  ddn  kwedi  :<  „Jan  Frans,  noch  an  döns,  miden 
(morgen)  en  göHden  dükät."  Jün  Y  medentld  kumtJän  Frans  in  'n  sle'p,  un 
Jti  hed  mend,  hi  hed  in  n  sesel  seien,  un  dö  sit  'er  op  en  hänsteki  fei,  un  sin 
göHden  dükät  -sit  in  sin  täsl 

Mit  dem  Hexenglauben  berühren  sieh  in  verschiedenen  Punkten  die 
Marensagen.  Sie  haben  wahrscheinlich  ihren  letzten  Grund  im  Seelen- 
glauben  und  in  der  Annahme  einer  Seelenwanderuug,  und  so  erscheinen 
auch  die  Maren  oft  in  Tiergestalt,  vornehmlich  als  Pferde  oder  als  Böcke. 
Die  Maren  kommen  aus  England,  das  ja  als  Heimat  der  seelischen  Geister 
gilt.  Auf  Besenstieleu  fahren  sie  durch  die  Lüfte  oder  rudern  auf  einem 
Sielte  durch  die  Flut.  Sie  erscheinen  dann  als  schöne  Jungfrauen,  und 
lieblich  tönt  ihr  Saug.  Nimmt  man  ihnen  Ruder  und  Sieb,  so  hat  mau 
sie  in  der  Gewalt.  In  allen  diesen  Punkten  herrscht  Übereinstimmung  mit 
den  Walkürensagen.  —  Im  Saterlande  heisst  die  Mare  wälriderske',  trotz  aller 
Bemühungen  aber  habe  ich  diese  Bezeichnung  nur  in  der  Redensart  gehört 
jü  wälriderske  hed  rni  ünerheüd",  d.  h.  „der  Alp  hat  mich  untergehabt". 
Auch  andere  friesische  Namen  der  Mare  beruhen  auf  dem  Glauben,  dass 
sie  reitet,  sei  es  auf  einem  Pferde  oder  auf  einem  Stocke.  Die  Wangeroouer 
nennen  sie  ridimg'r  (nach  Ehrentraut,  Frs.  Arch.  I,  386;  II,  16  ridliihr), 
d.  h.  „Reitmähre";  es  ist  wohl  eine  volksetymologische  Angleichung  der 
a-Form  (vgl.  ags.  mara  Mare)  an  wang.  mäh-  „Mahre.  Stute",  sowie  auch 
das  mittelniederländ.  Wort  -mare  im  neundld.  zu  (nachi)merrie  geworden 
ist.  Diese  ridäm&rs  oder  bdkheksen  reiten  auf  einem  bäizemstpk,  den  nordi- 
schen tünridur  vergleichbar.  Da  nun  altfries.  walu-,  wale-  (ags.  waht) 
„Stock"  bedeutet  (vgl.  nordfrs.  Festland  wäle,  Süd  wal).  so  sind  wir  be- 
rechtigt, stld.  wälriderske  als  „Stockreiteriu"  zu  erklären1).  Die  Übersetzung 
„Totenreiterin"  und  die  daraus  gefolgerte  Beziehung  zu  dem  Namen  der 
Walküren  (vgl.  Mogk,  Grundriss  d.  germ.  Phil.  I,  1014)  braucht  man  also 
nicht  anzunehmen. 

Die  eigentlichen  Marensagen  (I,  37.3  fgg.)  sind  heute  vollkommen  in 
dem  Hexenglauben  aufgegangen,  und  selbst  das  Charakteristische,  der  Alp- 
druck, ist  zu  einem  Hexenzauber  geworden.    Nur  aus  vereinzelten  kleinen 


1)  Das  ostfrs.-plattd.  wälrtder,  wanger.  wälrider  (wöelrider  Frs.  arch.  I.  386  habe  ich 
nicht  gehurt:  es  ist  wohl  ein  Lehnwort  aus  dem  Plattd.  scheinen  spätere  Maskulin- 
bildungen nach  wälriderske  zu  sein:  man  vgl.  den  Glauben  an  weibliche  Werwölfe.  — 
Das  stl.  Wort  wälriderske  (Xdd.  Sagen  S.  419)  habe  ich  nicht  vorgefunden;  an  eine  Form 
weilriderske  und  au  die  daraus  gefolgerte  Beziehung  zum  Spinnrade  stl.  ire'l  glaube  ich 
nicht  J.  390  . 


Das  Saterland.  393 

Zügen  lassen  sich  die  älteren  Verhältnisse  noch  erkennen,  z.  B.  daraus, 
dass  die  Maren  bisweilen  auch  Gutes  wirken:  dass  ihre  (laben  im  Gegen- 
sätze zu  denen  der  Hexen  gering  scheinen,  sich  aber  später  in  Schätze 
verwandeln  u.  a.  m.  Die  Maren  handeln  nicht  wie  die  Hexen  aus  freiem 
bösem  Triebe,  sondern  durch  eine  unglückselige  Bestimmung  gezwungen. 
Das  um  Glitte  Oktober  in  der  Galluswoche  geborene  Mädchen  ist  eine 
wälriderske;  unter  sieben  Mädchen  ist  stets  eine  Mare.  Man  schützt  sich 
vor  ihr  am  besten,  indem  man  Schlüssellöcher  und  Thürritzen  verstopft, 
denn  nur  durch  diese  darf  sie  eindringen;  auch  ist  es  gut,  dass  man  eine 
Hechel  mit  Zinken  über  sich  lege,  um  die  Mare  aufzuspiessen,  oder  dass 
man  die  Schuhe  umgedreht  vor  das  Bett  stelle  —  dann  glaubt  sie,  man 
sei  nicht  daheim. 

Selten  nur  hört  man  vom  Werwolfe  reden.  Über  die  eigentliche  Be- 
deutung dieses  Wortes  geben  uns  auch  die  niederdeutschen  und  friesischen 
Mundarten  keinen  Aufschluss,  denn  eine  einheitliche  Grundform  lässt  sich 
nicht  gewinnen.  Auf  altes  e  scheint  ndd.  wenuulf  zurückzuweisen,  woraus 
mit  volksetymologischer  Umdeutung  wederwulf  gemacht  ist  (Doornkaat 
Ostfrs.  Wb.  III,  543,  Mnd.  Wb.  V,  609);  ndd.  warwulf  erinnert  an  wargest 
„Unfrieden  stiftender  Geist,  Wirrgeist?"  Eine  (nicht  umgelautete)  a-Form 
setzen  sowohl  ndd.  maarwulf  (Bremer  Wb.  V,  201,  vgl.  ndl.  waren  „um- 
gehen, spuken"),  als  auch  die  auf  Wangeroog  geltenden  Bezeichnungen 
voraus.  Hier  nennt  man  scheltend  einen  gewaltthätigen  Menschen  wöerwvlf 
oder  auch  möerwvlf  (ik  möer  „ich  morde").  Im  Saterlande  habe  ich  von 
dem  Wolfe  nur  als  von  einem  Korndämon  gehört  (vgl.  Mannhardt,  Roggen- 
wolf passim),  und  zwar  scheint  er  hier  mit  dem  Kornbär  verschmolzen  zu 
sein,  denn  man  nennt  ihn  bärewulf.  „Bärewulf  sit  in  'n  rüge  un  gript  dö 
be'dene  (Kinder),  wdn  jl  in  de  rage  käme"  (Hollen).  Alle  diese  frs.  Formen 
können  weder  mit  einem  alten  wer  zusammengestellt  werden,  noch  mit 
ahd.  *wariwolf  (ags.  werewulf),  welches  Kögel  (Gruudriss  d.  germ.  Phil.  I, 
1017)  mit  got.  wasjan  verknüpft  und  treffend  als  „Wolfskleid"  erklärt  hat: 
dem  ahd.  *wariwolf  müsste  altfrs.  *werewulf,  wanger.  *w$riwülf  entsprechen. 
Ich  vermute,  dass  ahd.  *wariwolf  wie  so  viele  andere  Formen  (wederwulf: 
ivehrwolf;  vgl.  meenvolf,  beerwolf  Myth.  III,  316)  die  volksetymologische 
Umgestaltung  eines  nicht  mehr  verstandenen  Wortes  war.  Das  altnord. 
vargülfr  bietet  hier  jedenfalls  die  beste  Stütze:  ich  glaube,  dass  wir  einer- 
seits an  got.  wargs,  altsächs.  warg,  anderseits  an  got.  (ga)ivargjan,  ags. 
wergan  (iveriari)  ahd.  wergan  anknüpfen  und  damit  sowohl  die  a-  als  auch 
die  e-Formen  erklären  müssen. 

Wir  haben  Hexen  und  Maren  als  Luftfahrende  kennen  gelernt;  aber 
davon,  dass  sie  im  Gefolge  der  grossen  Götter  erscheinen,  weiss  die  heutige 
Sage  nichts  mehr.  Strackerjan  (I,  369  fgg.)  erzählt,  dass  die  Saterländer 
den  wilden  Jäger  mit  dem  früheren  Herrn  von  Esterwege  im  Kirchspiele 
Lorup  identifizierten:    mit  bellender  Meute  ziehe  der  Wojnjäger  durch  die 


394  Siebs: 

Lüfte,  das  ganze  Jahr  hindurch  müsse  er  jagen  —  mit  Ausnahme  der 
hellen  Nächte.  Der  Name  Wojnjäger  =  Wodanjäger  klingt  ebenso  verdächtig 
wie  der  angebliche  Name  des  vierten  Wochentages  =  Goudensdej  (II,  24) '). 
Man  sagt  in  Hollen  „dl  wäien  wed  jaget" ,  d.  h.  „der  Wagen  wird  gejagt, 
schnell  gefahren",  also  kann  „Wojnjäger"  im  Stl.  einen  „Wagenjäger"  be- 
deuten. Vielleicht  weist  das  auf  die  namentlich  in  Westfalen  verbreitete 
Sage  hin  (Kuhn,  Westfäl.  Sagen  IT,  87),  dass  der  wilde  Jäger  den  Himmels- 
wagen (d.  h.  den  grossen  Bär)  lenke.  Da  nun  nicht  nur  die  Plejaden- 
gruppe,  sondern  auch  der  Wagen  oft  als  Siebengestirn  bezeichnet  wird,  so 
scheinen  mit  der  Sage  vom  „Wojnjäger"  die  von  Strackerjan  erwähnten 
und  gar  oft  wiederholten  „duukelu  Beziehungen  des  wilden  Jägers  zum 
Siebengestirn"  gemeint  zu  sein.  Von  der  wilden  Jagd  und  vom  „Welt- 
jäger" (Nordd.  S.  S.  290.  427.  504),  überhaupt  von  Wödan  und  Frija  habe 
ich  sonst  keine  Spur  vorgefunden.  In  Scharrel  freilich  ward  mir  erzählt, 
dass  ein  Schäfer  mit  seiner  Herde  nächtens  spuken  solle. 

„En  scheper,  dl  schel  hir  med  'n  kopel  schepe  's  nilchens  herüme  wedje; 
det  wed  fon  ewige  hir  kiueden,  det  ze  'n  wurtelk  (wirklich)  blöked  hebe.  Fon 
Farmesünd  (Fennessaud)  kumt  er  her  un  drift  eter  schepmer  wai."  Es  wäre 
alier  gesucht,  darin  eine  Beziehung  auf  Wodan  als  Hirten  sehen  zu 
wollen. 

Wir  haben  hier  wahrscheinlich  mit  einem  Nachspuk  zu  rechnen,  wie 
er  an  mehreren  Orten  umgehen  soll  und  namentlich  da,  wo  ein  Mord 
geschehen  ist.     Ein  alter  Scharreier  erzählte  mir  Folgendes  (vgl.  II,  226). 

„In  ölde  tiden,  der  schelen  hir  tu-,  u  wt  zen  hebe,  dö  hebe  sik  en  'en  fier 
herütfreged,  (herausgefordert),  det  jö  wölne  sik  hööe ,  un  dö  hebe  :e  sik  der 
hööen  bi  MyUrs  Ins  />/  de  Ilebreg,  je.  Dir  i:  <li  ene  dr>d  kernen.  Un  dö  sy?it 
ze  bigen  hir  un  hebe  Mm  der  en  sten  sct\  un  dt  sten  dz  schM  sei  'n  twen  bet 
tredel  föt  (2 — 273  Fuss)  in  't  fiöörkant  (Viereck)  weze.  Un  bope  was  dl 
plat,  un  der  ivas  en  f/öökantie/  gat  önhööen,  un  der  hed  en  kifjts  (Kreuz)  eine 
sten.    Je,  den  sten,  den  heb  ik  noch  blöked,  man  det  k/f/s,  det  wa'  ehr  al  fite. 

In  Uten  de  ward  mir  folgende  Spukgeschichte  berichtet: 

..Det  iz  nie  triöhunert  jir  her,  dö  sunt  'er  twi'n  bröVere,  dö  fre'e  eter  en 
wucht  (Mädchen),  un  t'e'irtns  (abends),  as  ze  eter  hüs  tö"  gui]e,  gur/t  di  ene 
farüt,  un  bi  Krakenbernds  hüs  töu  Ütende,  dö  gut]t  hl  uner  de  tre'e  (Steg) 
siten;  as  dl  ö"er  kumt  op  djü  tre'e,  dö  stat  hl  him  med  't  säks  (Messer)  in  7 
liv.  Dö  riip  hl:  „te'rme  in  mm  r'rme"  (Gedärme  in  meinen  Armen)  un 
störw.  Di  det  nü  de'n  hed,  iz  weg  ronen  un  iz  med  'e  mute  ür  de  e'  faden 
(gefahren),    dö   iz    hl    eter    de   Berfke   (Flurname)    ronen  un  der  hed  hl  sik 


1)  Alle  fries.  Mundarten,  die  den  alten  Namen  bewahrt  haben,  zeigen  anlautendes 
w,  z.  B.  neuwestfrs.  wänsdl  (Grouw),  wänsde  (Hindeloopen)  etc.,  nordfrs.  winsdai  (Süd), 
wetMnsdäi  (Oldsum),  wlensdei  (Wiodingharde)  u.  s.  w.;  vgl.  ostfrs.-plattd.  umnsdag.  Anl.  g 
ist  nur  im  Xdd.  zu  belegen,  z.  B.  gudeiisdag  1475  (Friedländer  Nr.  lö^O) ,  neuwestfiil. 
gut  nsdag. 


Das  Saterland.  395 

ferhäled  (erholt);  wir  hl  eters  bliün  iz,  det  wct  ik  nit.  Nu  schel  ht  noch 
spöukenje:  wan  der  'n  mutjer  wai  fort,  dein  let  'er  sik  ürsete  un  bltälet  twe'n 
gröte,  dö  lad  'er  op  'in  mestbdrjk  del." 

Solche  Geschichten  erhalten  sich  meist  in  einer  ganz  bestimmten 
Fassung:  zu  verschiedenen  Zeiten  sind  sie  mir  mit  fast  gleichen  "Worten 
erzählt  worden;  ja  zuweilen  stimmen  sie,  soweit  das  aus  dem  hochdeutschen 
Texte  zu  erschliessen  ist,  fast  wörtlich  zu  den  Berichten  Strackerjans,  die 
um  ein  halbes  Jahrhundert  älter  sind  (vgl.  z.  B.  I,  184;  II,  226). 


VIII.   Lebensweise  und  Erwerbsquellen. 

Die  Beschreibung  der  Lebensweise  und  des  Erwerbes  sind  nicht  zu 
trennen.  —  Früher  waren  die  meisten  Saterländer  Schiffer  (bötjer).  Sie 
verdienten  ihr  Brot  damit,  dass  sie  die  Produkte  Westfalens,  die  zu  Lande 
nach  Ellerbrok  gebracht  wurden,  von  dort  in  ihren  Booten  die  Leda  hinab 
nach  Leer  und  Emden  fuhren  und  Erzeugnisse  Ostfrieslands,  namentlich 
Butter  und  Käse,  als  Rückfracht  nahmen;  andere  zogen  in  ihren  Booten 
grosse  Steine,  die  aus  der  Gegend  des  Hümmling.  von  Lorup  und  Wrees, 
auf  Wagen  nach  Ellerbrok  geschafft  waren,  stromabwärts  nach  Utende,  wo 
sie  zu  weiterem  Transporte  verladen  wurden.  Diese  bötjere1  gab  schweren 
und  nur  geringen  Verdienst.  Sie  hat  ganz  aufgehört,  seitdem  durch  die 
Bisenbahnen  ein  bequemerer  und  schnellerer  Verkehr  zwischen  dem  west- 
fälischen Hinterlande  und  der  Nordseeküste  ermöglicht  ist.  Einzelne 
Schiffer  nur  haben  das  Gewerbe  aufrecht  erhalten:  die  einen  haben  kleine 
Seeschiffe  (schipe),  mit  denen  sie  nach  Emden  und  dann  über  See  fahren: 
die  anderen  haben  sogenannte  muten  (eigentlich  „Säue")  oder  auch  höhte 
(halbe)  muten,  die  in  Strücklingen  gebaut  sind  und  darin  führen  sie  auf 
den  Kanälen  Torf  nach  Barssel  und  Augustfeim. 

Mit  diesem  Schiffergewerbe  hängen  verschiedene  Weisen  der  Moor- 
knltnr  zusammen.  In  erster  Linie  nämlich  geschieht  sie  durch  die  grossen 
Kanalanlagen,  die  1840  begonnen  und  seitdem  stetig  gefördert  worden 
sind.  Der  Bau  dieser  wichtigen  Wasserstrassen  hat  sich  nur  dadurch  er- 
möglichen lassen,  dass  die  Moorstrecken,  durch  welche  sie  führen  sollten, 
besiedelt  wurden;  denn  die  ausgegrabene  Masse  musste  zur  Torffabrikation 
verwandt  werden.  Darum  sind  grosse  Torfgräberkolonate  gegründet 
worden,  und  diese  sind  laut  der  Bevölkerungsstatistik  in  gutem  Auf- 
schwünge. Kolonisation  und  Kanalbau  schreiten  gemeinsam  allmählich 
weiter  aufwärts,  z.  B.  ist  der  bei  Ubbehausen  in  die  Saterems  mündende 
und  von  da  begonnene  „Saterländische  Westkanal"  bis  nach  Strücklingen 
südwärts  fortgeführt  (s.  oben  S.  239);  der  ausgegrabene  Torf  ist  mit  Booten 
die  Leda  abwärts  gebracht  worden.  Natürlich  tritt  durch  diese  Anlagen 
das  Saterland  in  engere  Verbindung  mit  der  Aussenwelt;  und  wie  jene 
Siedlungen    in    den    letzten    zehn   Jahren    das  Kirchspiel   Strücklingen  in 


396  Siebs: 

seinem  Charakter  sehr  verändert  haben,  so  werden  sie  vielleicht  auch  bald 
die  Eigenart  des  übrigen  saterläudischeu  Gebietes  vernichten. 

Eine  andere  Art  der  Urbarmachung  ist  die  sogenannte  „Fehnkultur" 
(plattd.  fen,  vgl.  stl.  fän  „Moor").  Die  obere  Schicht  des  Moores  wird 
abgestochen  und  als  Torf  auf  den  Wasserstrassen  in  die  Marsch  geführt. 
Von  dort  bringen  die  Schiffer  tierischen  Dünger  und  Schlick  zurück;  der 
wird  auf  die  abgetorfte  Fläche  geworfen  und  giebt,  mit  dem  Moorboden 
vermischt,  ertragfähiges  Land.  Das  Aussehen  solcher  Strecken  ändert  sich 
bald:  an  die  Stelle  des  Gagelstrauches  (post)  der  Sumpf  beide  und  der 
gemeinen  Heide,  welche  hauptsächlich  die  Flora  des  unkultivierten  Moores 
ausmachen,  treten  das  duftende  Ruchgras  und  verschiedene  Arten  des 
Klees.  Diese  Art  der  Bodenverbesserung  ist  natürlich  nur  dort  denkbar, 
wo  Wasserstrassen  den  Transport  erlauben.  Die  Ausfuhr  des  leichten, 
billigen  Torfes  der  oberen  Moorschichten  hat  dann  zur  Gründung  von 
grossen  Fehnanlagen,  Torfexportplätzen,  geführt,  unter  denen  Rhauderfehn 
und  Augustfehn  die  bedeutendsten  sind.  Diese  letztere  Anlage  hat  dem 
Lande  besonders  grossen  Vorteil  gebracht,  da  sie  selbst  grosse  Massen  von 
Torf  verbraucht.  In  Hüttenwerken  wird  dort  nämlich  Roheisen  verarbeitet, 
und  der  billige  Torf  wird  teils  als  Brennmaterial,  teils  in  Form  von  Torf- 
gas zur  Eisen-  und  Stahlbereitung  verwandt. 

Eine  dritte  Art  der  Melioration,  die  Überdeckuug  des  zu  beackernden 
Moorbodens  mit  einer  Sandschicht  (Dainmkultur),  hat  im  Saterlande  keinen 
Erfolg  gehabt,  und  auch  die  Versuche,  den  Ackerbau  durch  Auftragen  von 
Kunstdünger  (namentlich  von  Kali)  auf  das  Heideland  zu  fördern,  haben 
nachgelassen.  Im  eigentlichen  Saterlande  herrscht  im  allgemeinen  noch  die 
alte  Brandkultur.  Das  Moor  ist  von  der  Gemeinde  (bzw.  vom  Staate) 
auf  bestimmte  Zeit  au  die  einzelnen  Hauern  „ausgewiesen",  und  die  }>e- 
trachten  es,  so  lange  sie  es  bewirtschaften,  als  ihr  Eigentum.  Ist  es  einige 
Jahre  lang  genutzt,  so  muss  es  Jahrzehnte  hindurch  brach  liegen:  es  fällt 
an  die  Gemeinde  zurück,  und  der  Bauer  erhält  ein  anderes  Stück  zur 
Bewirtschaftung. 

Sobald  der  Winter  vorbei  und  das  Moor  zugänglich  ist.  um  Ende  März 
oder  Anfang  April,  beginnt  dort  die  Arbeit.  Gesetzt,  man  hat  ein  fän  von 
50  Schritt  Breite  (die  Längenausdehnung  ist  selbstverständlich  nicht  be- 
grenzt) und  will  davon  einen  klep  (d.  h.  Abschnitt,  300  Fuss)  bearbeiten, 
so  muss  man  zuerst  Abzugsrinnen  graben  (grupje).  Durch  diese  teilt  man 
10  Äcker,  jeden  von  .r>  Schritt  Breite  und  100  Schritt  Länge,  ab:  dann 
hackt  man  sie  auf  (hekfe')  und  lässt  sie  trocknen.  Ist  die  Witterung  günstig, 
so  geht  das  schnell,  und  bald  kann  gebrannt  werden  (smrle).  Man  nimmt 
dann  eine  alte  Pfanne  (pövkükspone)  voll  fän,  zündet  das  an  und  lässt, 
indem  man  die  Äcker  entlang  geht,  hier  und  da  etwas  Feuer  fallen.  Bei 
Sonne  und  starkem  Wind  brennt  das  Moor  gut  ab  und  bleibt  nun  bis  Ende 
Mai    liegen.     Anfang   Juni    wird   Buchweizen  (böuMte)   gesäet  und  mit  der 


Das  Saterland.  397 

Egge  (aide)  eingeharkt;  ist  das  Land  noch  neu,  so  wird  er  auch  wohl  mit 
der  umgedrehten  Egge  eingeschläuft  (öumlurje).  Den  Pferden,  die  vor- 
gespannt werden,  bindet  man  kleine  runde  Holzbricken  (härjstebrike)  unter 
die  Hufe,  um  ihnen  eine  grössere  Fläche  zu  geben  und  so  das  Einsinken 
auf  dem  Moorboden  zu  verhindern.  Ist  der  Acker  geebnet  (sliuchtje),  so 
lässt  man  den  Buchweizen  keimen,  wachsen  und  reifen  (kine ,  wäkse,  np 
wi'de),  uinl  zu  Anfang  September  kann  man  ihn  mähen  (m/n,  prät.  me'nde, 
part.  me'nd).  Man  bindet  ihn  in  Garben  (f/lnhne,  d.  h.  ausnehmen),  lässt 
ihn  acht  Tage  lang  trocknen,  wendet  einmal,  lässt  ihn  noch  ein  paar  Tage 
liegen  und  fährt,  ihn  dann  ein.  Zu  Hause  wird  er  gedroschen  (trrske), 
und  dann  wird  er  entweder  gemahlen  und  als  Mehl  zu  Pfannkuchen  ver- 
braucht, oder  er  wird  nach  Holland  verkauft,  wo  Grütze  (gorte)  daraus 
gemacht  wird. 

Aber  auch  das  unkultivierte  Moor  liefert  dem  Saterländer  wertvolle 
Erzeugnisse:  die  Heide  und  den  Torf.  Ist  der  Winter  nicht  allzu  streng, 
so  gehen  die  Männer  hinaus  zu  hedehööen  (Heidehauen).  Es  giebt  zwei 
Sorten  Heidekraut,  die  döphede  (Kopfheide)  und  die  gewöhnliche  Heide; 
jene  wird  gepflückt  (nicht  gemäht)  und  dann  zu  Besen  (be'zeme)  und  Heid- 
quasten verwertet  (hedbersele,  eig.  Heidebürsten,  kleine  Handbesen  zum 
Scheuern;  in  Jeverland  heissen  sie  böner,  vgl.  ags.  bönian  „polieren");  die 
andere  Heide  wird  mit  der  Sichel  (di  shl)  gehauen  und  als  Kuhfutter,  Streu, 
Düngmittel  oder  —  wenn  sie  lang  genug  ist  —  zum  Dachdecken  (teke) 
gebraucht. 

Mit  dem  ersten  Frühling  schon  beginnt  eine  andere  und  wichtigere 
Arbeit  auf  dem  Moore:  das  Torfgraben.  Dazu  gehören  immer  zwei 
Leute,  der  Gräber  und  der  Karrer  (greuer,  karder').  Der  Gräber  macht 
zunächst  eine  Grube  (öundöbe),  in  der  er  stehen  will,  und  dann  sticht  er 
eine  Ausreutung  („en  wödemje  stete")1)  ab.  Die  Torfgrube  (det  edgreb)  wird 
12  Soden  tief  und  30  Soden  breit.  Der  Gräber  sticht  nun  die  einzelnen 
Soden  mit  dem  Spaten  ab,  der  Karrer  spiesst  sie  mit  einer  prike  aus  der 
Grube,  legt  sie  auf  die  Karre  und  bringt  sie  in  die  spredenje  (Aus- 
spreitung),  wo  sie  trocknen.  Dann  werden  sie  in  kleine  runde  Haufen 
von  neun,  später  in  grössere  von  12  Soden  geordnet  (litje  und  gröte  rirje), 
wobei  die  untersten,  noch  zu  feuchten  Soden  einstweilen  zurückbleiben; 
schliesslich  wird  alles  in  grosse  Bülten  (belte)  gehäuft.  So  ist  es  Brauch, 
wenn  man  für  den  eigenen  Bedarf  sticht;  bei  den  grossen  Torfgräbereien 
werden  die  Soden  in  wäle  gebracht:  das  heisst  in  wäle  fle'e  oder  botjkje, 
eigentlich  „aufbauken". 

Schliesslich  liefert  das  Moor  indirekt  noch  ein  anderes  wichtiges  Pro- 
dukt, den  Honig.  Die  Bienen  sammeln  ihn  in  grosser  Menge  aus  den 
duftigen  Heidekräutern,  und  so  sichert  die  Imkerei  manchem  einen  guten 


1)   aus  *waudunge;  ich  stelle  es  zur  germ.  |  weud,  vgl.  as.  wiodön. 

Zeitschr.  d.  Vereius  f.  Volkskunde.     1893.  27 


398  Siebs: 

Nebenverdienst.  Sieht  der  Imker  (imker)  einen  Schwärm,  so  folgt  er  ihm, 
bis  er  sich  an  einen  Baum  setzt.  Der  Mann  legt  sofort  seine  Mütze  (kipse) 
dabei  nieder  —  das  ist  nach  Bienenrecht  ein  Zeichen  des  Anspruches  — , 
holt  von  Hause  einen  Bienenkorb  (Jmetehie)  und  setzt  den  Schwärm  ein. 
Der  sammelt  nun  eifrig.  Ist  der  Korb  voll  Honig,  und  hilft  kein  Auf- 
setzen (d.  h.  Vergrössern  des  Korbes),  so  hat  die  Königin  noch  Samen  in 
den  Zellen  (jü  müer  heil  noch  sPd  in  dö  mverdope'),  und  man  inuss  schwärmen 
lassen.  Manchmal  kommen  dann  noch  ein  oder  zwei  Nachschwärme  (eter- 
swörme).  —  Die  Gewinnung  des  Honigs  im  September  geschieht  wie  überall : 
die  Drohnen  (dräneri)  werden  mit  Schwefel  {svmuel)  getötet;  der  Honig 
(det  hfmig)  wird  ausgebrochen,  erwärmt  und  in  einem  Beutel  ausgedrückt 
(üibreke";  wörm  mäkje;  in  'n  pijt  üttäp,  Faktitiv  zu  tjö  ,,ziehen");  das  Wachs 
(wäks)  wird  ausgeschmolzen  und  ausgepresst.  --  Manche  Imker,  die  eine 
grössere  Zucht  betreiben,  ziehen  im  Frühling  mit  den  Bienen  nach  Ost- 
friesland, wo  die  Rapsblüte  eine  gute  Weide  bietet;  ist  auch  dort  noch 
nichts  zu  finden,  so  müssen  sie  mit  Honig  füttern.  Sie  kehren  erst  zurück, 
wenn  die  Bienen  geschwärmt  haben  und  im  Saterlande  Heide  oder  Buch- 
weizen blüht. 

Die  ganze  Arbeit  der  saterländischen  Bauern  verteilt  sich  auf  drei 
Stätten:  auf  das  Moor  --  dessen  Nutzung  haben  wir  kenneu  gelernt;  ferner 
auf  Haus  und  Hof;  endlich  auf  das  nicht  fern  vom  Hause  gelegene  Wiesen- 
und  Weideland  und  die  Eschländereien1).  Esche  (tsk  aus  *itsk?  vgl.  got. 
atkk  Saatfeld)  heissen  die  kleinen  zerstückelten  Felder  in  nächster  Nähe 
des  Dorfes,  deren  einzelne  Parzellen  meist  verschiedenen  Besitzern  gehören 
und  die,  weil  die  Zugäuge  gemeinsam  sind,  möglichst  gleichzeitig  be- 
wirtschaftet werden  müssen.  Wie  schon  ein  Blick  auf  die  Karte  lehrt, 
sind  dieser  Grundstücke  nicht  viele,  denn  das  Saterland  ist  nur  ein 
schmaler  Strich  Sandbodens.  Von  grösserem  Grundbesitze  ist  hier  nicht 
die  Rede.  Fast  jeder  aber  ist  Eigentümer  seines  Hauses,  seines  Grundes 
und  Bodens;  dass  noch  einzelne  Stücke  dazu  angepachtet  werden,  kommt 
wohl  vor,  ist  aber  nicht  die  Regel.  Dieser  Grundbesitz  ist  im  Saterlande 
fast  durchgehends  verschuldet.  —  Bezüglich  der  Erbschaftsregulierung 
herrscht  das  Recht  der  freien  Teilbarkeit  des  Grundes.  Wenngleich  die 
Regierung  die  Festlegung  desselben  durch  Errichtung  von  Grunderbestellen 
in  dem  Sinne  begünstigt,  dass  der  Grunderbe  (der  älteste  Sohn)  20  pCt. 
des  schuldenfreien  Wertes  der  Stelle  als  „Voraus"  erhält,  die  übrigen 
80  pCt.  aber  zu  gleichen  Teilen  gehen,  so  ist  im  Saterlande  von  dieser 
Einrichtung  doch  kein  Gebrauch  gemacht  worden. 

Auf  den  Eschen  wird  Gemüse,  vor  allem  aber  Getreide,  und  zwar 
Roggen  gebaut.  Betrachten  wir  einmal  diese  Feldarbeit.  Im  Frühling 
muss  zuerst  das  Land  für  die  Sommerfrucht  gedüngt  werden:  das  nennt 


1)   Über  den  Flächeninhalt  siehe  Kollmann,  Zs.  d.  Vereins  f.  Volkskunde  I,  394. 


Das  Saterland.  399 

man  ürmiük&je,  übermisten.  Dazu  dient  tierischer  Dünger,  der  mit  dünnen 
runden  Soden  der  Gras-  oder  Heidenarbe  (plage) ')  vermischt  ist.  Ist  dann 
gepflügt  oder  umgegraben,  so  wird  die  Sommerfrucht,  besonders  Hafer 
(häwer)  gesät  und  werden  Erbseu,  Bohnen  und  Kartoffeln  (arte,  böne,  tufelke) 
gesetzt.  Auf  dem  Gemüseland  ist  viel  zu  thun:  es  muss  tüchtig  gejätet 
werden  (Jude),  und  die  Erbsen  müssen  strüke  zum  Ranken  haben:  um  das 
Getreide  braucht  man  sich  nicht  kümmern.  Zu  Sent  Jökub  (Jakobi,  25.  Juli) 
erntet  man  die  Erbsen  und  Bohnen  ein  (öplüke,  eig.  aufziehen);  die  Kar- 
toffeln bleiben  bis  September  in  der  Erde,  dann  werden  sie  entweder  mit 
der  fiirke  ausgenommen  (vtkrige)  oder  ausgepflügt  (med  'e  plö"g  ütdriye). 
Hafer  wird  Ende  August  gemäht,  Gerste  etwas  früher.  Der  Buchweizen 
wird  fast  nur  auf  dem  Moore  gebaut  und  nur  vereinzelt  auf  Sandboden, 
damit  er  das  Unkraut  vertilge.  Gerste  (jerste)  giebt  es  wenig.  Früher 
baute  ein  jeder  wenigstens  soviel  davon,  dass  er  für  seinen  Hausbedarf 
das  Bier  brauen  konnte  (biör  biöue);  das  hat  aber  längst  aufgehört.  Selbst 
die  Sitte,  bei  der  Geburt  eines  Kindes  zu  brauen  --  die  Wöchnerinnen 
mussten  doch  Bier  haben!  —  ist  nun  abgekommen. 

Einfacher  ist  die  Arbeit  bei  der  Winterfrucht.  Ist  das  Stoppelfeld 
gefalgt  (fölgje),  gedüngt,  gepflügt  (tilje  afrs.  tilia?  vgl.  ahd.  zila  Zeile?)  und 
geeggt  (aidje),  so  kann  im  Herbste  der  Roggen  (di  röge)*)  gesät  werden. 
Man  lässt  das  Feld  ruhig  liegen  bis  Jakobi,  dann  ist  er  reif,  wird  gemäht, 
in  Garben  (djirue)  gebunden  und  bleibt  in  Hocken  (hohe)  stehen,  bis  man 
ihn  einfährt.  Damit  die  Garben  nicht  vom  Wagen  fallen,  wird  oben  ein 
Balken  (punter)  darüber  festgebunden.  Daheim  wird  der  Roggen  auf  den 
Boden  gefleit  und  wird  mit  dem  Flegel  (flaiene)  gedroschen,  wann  man 
gerade  Zeit  dazu  hat.  Das  Stroh  wird  verfüttert;  das  Korn  aber  kommt, 
nachdem  es  entweder  durch  Schwenken  in  der  Wanne  (wone)  oder  durch 
Wehen  mit  einem  Fächer  (wäffir)  von  Spreu  gesäubert  ist  (schenigje  ,  in 
die  Mühle  (meine).  Geld  wird  für  das  Mahlen  nicht  bezahlt.  In  Strück- 
lingen  ist  eine  Privatmühle,  die  Scharreier  haben  eine  Genossenschafts- 
mühle.  die  Mühlen  in  Neuscharrel  und  Hollen  gehören  der  Gemeinde: 
aber  überall  besteht  der  Mahllohn  in  einem  Anteil  (ja  male),  den  der 
Müller  erhält,  und  zwar  det  sögenuntwntigste  kärel  (das  27.  Korn).  Nur  für 
die  Graupenbereitung  wird  bar  Geld  bezahlt:  25  Pfennig  für  ein  fiödep 
(48  Liter,  s.  oben  S.  250).  Kommt  das  Roggenmehl  aus  der  Mühle  zurück, 
so  wird  es  entweder  im  Hause  zum  Brotbacken  verbraucht,  oder  es  wird 
verkauft. 

Auch  der  Flachsbau  wird  im  Saterlande  betrieben.  Ende  April  wird 
der  Lein  (lin)  auf  einer  umgebrocheneu  und  gedüugten  Dreesche  (tridrski 


1)  Demgegenüber  heissen  dicke  viereckige  Soden  .-<  <l  . 

2)  Im  Saterlande  versteht  man  unter  holden  (Korn)  nicht  den  Roggen,  sondern  den 
Hafer.     Das  einzelne  Samenkorn  heisst  kärel. 

27* 


400  Siebs: 

s.  unten)  gesät,  Das  Unkraut  (jöd)  muss  gut  ausgerottet  werden;  im  übrigen 
ist  bei  dem  Flachs  (det  fläks)  nichts  zu  tliun,  bis  die  Kapseln  (dö  hole)  reif 
sind.  Dann  wird  er  ausgezogen  (oplüke)  und  in  grosse  Reniel  gebunden 
(in  rifimeU  binde).  Ist  er  dann  geriffelt  (ripelje),  so  werden  die  Stengel 
(dö  hedele,  plattd.  harrel)  zu  kleinen  Bündeln  (böte)  vereinigt,  von  denen 
etwa  zwanzig  auf  einen  Remel  gehen,  und  nun  kommt  der  Flachs  ins 
Wasser,  d.  h.  in  die  Röste  (rete).  Tst  er  genug  gefault,  so  werden  die 
böte  mit  einem  Seil  umschlungen  und  ausgebreitet  zum  Trocknen  auf- 
gestellt (öpstükje).  Bald  werden  sie  nach  Hause  gebracht,  uud  der  Flachs 
kann  verarbeitet  werden:  er  wird  auf  der  Diele  mit  einem  gerippten  Holz- 
hammer gepocht  (trotte),  mit  hölzerner  und  dann  mit  eiserner  Flachsbreche 
gebrochen  (bräkje,  slibräkje),  mit  dem  Rippeisen  gerippt  (med  't  ribirzen 
ribje),  durch  die  Hechel  gezogen  (Mtselje)1)  und  dann  auf  dem  Spinnrade 
gesponnen  (op  'et  wPl  spine).  Aus  deu  getrockneten  Kapseln  wird  der 
Same  (det  s<  </)  ausgedroschen. 

Damit  haben  wir  die  Nutzung  der  Eschländereien  in  den  Hauptzügen 
besprochen;  auch  über  die  Bewirtschaftung  des  Wiesenlandes  (greld 
Grünland)  ist  einiges  zu  sagen.  Zwei  Arten  Heuländereien  (kölö'^nd)  giebt 
es  im  Saterlande:  die  einen  liegen  niedrig,  werden  im  Winter  überschwemmt 
und  brauchen  nicht  gedüngt  zu  werden;  die  anderen  aber  sind  hochgelegen 
und  trocken,  sogenannte  Dreeschen3),  welche  umgebrochen  und  bemistet 
werden  müssen.  Das  geschieht  entweder  Anfang  März  oder  auch  erst  im 
Mai.  Ende  Juni  ist  das  Gras  (gers)  lang  genug,  dass  man  heuen  (köie) 
kann;  ist  viel  Klee  (kleuer)  darunter,  mäht  man  auch  wohl  schon  zu  Anfang 
des  Monats.  Je  vier  Schwaden  (det  med,  plur.  do  mede)  werden  zu  langen 
Reihen  zusammeiigeharkt  (wirijc),  und  diese  wirze  werden  abends  in  Haufen 
gesetzt  (höhe;  nicht  koke  wie  beim  Roggen),  tags  aber  wieder  mit  der  Harke 
(rlue)  zum  Trocknen  ausgebreitet.  Ist  das  Heu  fertig,  so  wird  es  auf  deu 
Wagen  geladen,  eine  Leiter  (kraue)  wird  darüber  festgebunden,  und  dann 
wird  es  eingefahren.  —  Das  Land,  welches  vorher  gedüngt  worden  ist, 
bringt  im  August  noch  einen  zweiten  Grasschnitt  hervor,  welcher  gram 
genannt  wird  (vgl.  Grummet?). 

Anderes  Grünland  ist  zur  Weide  für  das  Vieh  bestimmt,  besonders 
für  die  Rinder  (do  be'ste).  Sie  werden  sowohl  zur  Milchwirtschaft,  als 
auch  zum  Einschlachten  und  zum  Verkaufe  gehalten.  Die  Kälber  werden 
zuerst  mit  süsser  Milch  (swe'te  molk},  späterhin  mit  Buttermilch  (sedene  molk) 
gefüttert.  Ein  Jahr  lang  bleiben  sie  auf  dem  Stalle,  dann  bringt  mau  sie 
auf  die  Weide  (ütjägje").  Die  milchenden  Kühe  (melkt  b>  ste-)  werden,  wenn 
sie  entbehrlich  sind,  gern  verkauft,    denn  man  bekommt  60  bis  80  Thaler 


1)  Daneben:  trug  de  hit  .las  wird  auch  bildlich  gesagt:    hi  hat  him  gehörig 
trug  de  hitsi            ■    ,er  hat  ihm  gehörig  die  Wahrheit  gesagt"). 

2)  stl.  triärsie,  trie(r)slce  =  altfrs.  *thriaske  würde  hochdeutsch  „Driesche"  sein:   vgl. 
das  ablautende  plattd  druskland  Brachland.   Brem.  Wb.  I,  623. 


Das  Saterland.  401 

dafür;  geben  sie  nicht  reichlich  Milch,  so  lässt  man  sie  trocken  werden 
(gest  u-e'de)  und  macht  sie  fett,  um  sie  im  Herbst  entweder  zu  verkaufen 
oder  zu  eigenem  Gebrauche  zu  schlachten.  -  Das  Kindvieh  kommt  im 
Mai  auf  die  Weide  (wede),  jeden  Morgen  wird  es  von  den  Kindern  aus- 
getrieben und  abends  eingeholt.  Das  dauert  so  lange,  bis  draussen  nicht 
genügend  Nahrung  mehr  ist:  dann  wird  das  Vieh  zu  Hause  mit  Stroh 
(sm%  Heu,  Heide  und  Häcksel  gefüttert  (hekelse) ;  trockene  Kühe  bekommen 
kaltes  Wasser  zu  saufen,  milchende  (mölkrekmde)  warmes  Wasses  mit  Mehl, 
Häcksel,  Kohl  oder  dergleichen.  Diese  werden  drei-  oder  viermal  am  Tat;'' 
gemolken  und  die  Milch  wird  grossenteils  zum  Buttern  (sedenje  „kamen") 
gebraucht;  zur  Käsebereitung  (slz)  reicht  sie  nicht  aus. 

Pferde  (Juhj.ste)  hält  man  nur,  soviel  zur  Landwirtschaft  nötig  sind: 
Fohlen  (fölen)  werden  wenig  aufgezogen.  Recht  ansehnlich  aber  ist  für 
das  kleine  Ländchen  die  Schaf-  und  Schweinezucht.  Ein  grosser  Unter- 
schied ist  zwischen  den  rheinischen  Schafen  {rinske  sche'pe)  und  den  Heid- 
schnucken  (hedwlu'pe).  Jene  werden  im  Sommer  beim  Hause  angebunden 
(stikje),  wintertags  im  Stall  mit  Heu  und  Stroh  gefüttert;  die  Heidschnucken 
hingegen  werden  gekoppelt  (in  V  kopele  jaget),  sie  finden  das  ganze  Jahr 
hindurch  auf  der  Heide  ihr  Futter,  und  nur  wenn  viel  Schnee  liegt,  müssen 
sie  zu  Hause  versorgt  werden.  Obschon  die  rheinischen  Schafe  in  der 
Reo-el  zwei,  die  Heidschafe  nur  ein  Lamm  bekommen,  werden  diese  doch, 
weil  sie  billiger  zu  halten  sind,  sehr  bevorzugt:  der  Bauer  hält  von  ihnen 
zwanzig  bis  vierzig  Stück,  rheinische  aber  nur  eins  oder  zwei.  Auch  die 
Schurzeit  ist  verschieden:  bei  den  rheinischen  Schafen  liegt  sie  im  April, 
bei  den  Heidschnucken  um  Johannis.  Die  Wolle  wird,  nachdem  sie  mit 
heisser  Sodalösung  abgebrüht  und  in  der  &  gewaschen  (schultsje)  ist,  im 
Hause  gesponnen.  —  Im  Herbste  werden  mehrere  Heidschafe  in  jedem 
Hause  geschlachtet;  die  übrigen  werden  den  Winter  über  durchgefüttert 
und  im  Frühjahr  wenn  möglich  verkauft. 

Auch  mit  den  Schweinen  wird  viel  Handel  getrieben.  Die  Ferkel 
(fdrgere)  werden  nach  drei  bis  vier  Wochen  von  der  mute  abgenommen 
und  teils  sofort  verkauft,  teils  durch  Winter  gefüttert,  um  im  nächsten 
Frühjahr  als  Faselschweine  (fezelswine)  auf  den  Markt  zu  kommen.  Die 
mute  wird  gemästet  und  im  Herbste  geschlachtet:  die  Schinken  kommen 
zum  Abkaufe;  das  übrige  wird  teils  in  Pökel  (pikel)  eingesalzen  und  am 
Wiemen  (wime)  getrocknet,  teils  zu  Wurst  verarbeitet.  Die  Mastschweine 
füttert  man  mit  Roggenmehl,  Kartoffeln,  Wurzeln,  Rüben  und  dergl.;  für 
die  Faselschweine  wird  allerhand  Abfall  (öugerfäl)  mit  Kaff  (sef,  Spreu)  und 
Mehl  zusammen  gebrüht  (brate),  auch  wird  ihnen  Korn  auf  die  Diele  ge- 
worfen zum  Aufschuüffeln  (niyskje). 

Auf  Geflügelzucht  wird  kein  Gewicht  gelegt:  Gänse  und  Enten  werden 
höchstens  zum  eigenen  Gebrauche  gehalten,   und  der  Pflege  der  Hühner 


402  Siebs: 

wenden  die  Saterländer  erst  seit  kurzem  grössere  Sorgfalt  zu,    da  sie  die 
Eier  zu  hohen  Preisen  verkaufen  können. 

Im  Handel  verstehen  die  Saterländer  ihren  Vorteil  nicht  wahrzu- 
nehmen, und  das  ist  bei  Leuten,  die  nie  über  die  Grenze  ihres  kleinen 
Ländchens  hinausgekommen  sind,  nicht  zu  verwundern.  Sie  bringen  ihre 
guten  Waren.  Mehl.  Eier  und  Butter,  ja  sogar  die  mühselige  Arbeit  ihrer 
Hände,  die  gesponnene  Wolle  und  das  Leinengewebe  nicht  etwa  auf  einen 
Markt,  wo  Nachfrage  ist.  sondern  tragen  sie  zum  „Kaufmann"  ihres  Dörf- 
chens, um  Lebensmittel  dafür  einzutauschen.  Es  ist  ein  Tauschhandel,  der 
natürlich  nicht  zum  Vorteil  des  Anbietenden  ausfällt,  umsoweniger,  da  sie 
in  der  Regel  bei  den  Kaufleuten  in  Schuld  stehen  und  daher  von  ihnen 
abhängig  sind.  Diese  Kaufleute  aber  sind  die  wohlhabendsten  Leute  im 
Saterlande.  denn  ihrer  sind  nur  sehr  wenige,  und  sie  haben  die  ganze 
Ein-  und  Ausfuhr  in  Händen.  Nur  den  Viehhandel  betreiben  die  Bauern 
selbständig:  sie  bringen  die  Tiere  auf  den  Markt  nach  Ramsloh.  der  zwei- 
mal im  Jahre  stattfindet,  auch  wohl  nach  Strücklingen  oder  Rhanderfehn. 
Fremde  Händler  kaufen  dort  trächtige  Kühe  und  besonders  das  Jungvieh 
auf  und  führen  sie  auf  auswärtige  Märkte  (merked),  z.  B.  nach  Ankum  zum 
Weiterverkauf.  Die  saterländischen  Märkte  sind  zugleich  grosse  Belusti- 
gungen für  das  Volk.  Da  wird  eine  Bude  aufgeschlagen,  in  der  tanzen 
die  jungen  Leute  (det  jutj  föulk);  die  Alten  sitzen  im  Wirtshaus  beim 
Schnaps  und  scherzen  (gnegelß)  miteinander.  An  der  Kirchhofseite  sind 
Zelte  errichtet  mit  Stuten  (stütetelten,  d.  h.  Weissbrodzelte),  Spielzeug  für 
Kinder  und  allerlei  Hausgerät.  Dass  diese  armseligen  Verkaufsbuden  für 
das  Saterland  nicht  ohne  Bedeutung  sind,  ist  begreiflich,  denn  Gewerbe 
und  Handwerk  giebt  es  dort  kaum.  Der  Kaufmann  (köpmon)  des  Dorfes 
hat  in  seinem  Laden  nur  Sachen,  die  öfter  verlangt  werden;  im  Handwerk 
wird  nur  das  Notwendigste  geleistet:  da  sind  der  Müller  (muUr  plattd.), 
der  Schmied  (smtt)  und  der  Zimmermann  (timermon),  sowie  Schneider 
(snfdär)  und  Schuster  (sch&'ster),  allenfalls  noch  ein  Schlächter  (stächt* 
der  auf  Bestellung  in  den  einzelnen  Häusern  arbeitet.  Aber  sie  würden 
zumeist  von  ihrem  Handwerke  nicht  leben  können  und  bewirtschaften 
darum  nebenher  ihr  Land.  So  ist  von  Arbeitsteilung  im  Saterlande  wenig 
zu  merken:  die  meisten  Leute  arbeiten  nur  für  ihre  eigene  kleine  Wirt- 
schaft. Knechte  (kriecht  plattd.)  und  Mägde  (ja.  fööne)  werden  daher  in  den 
wenigsten  Häusern  angenommen,  denn  mau  winde  sie  nicht  dauernd  be- 
schäftigen können.  Und  ist  die  Arbeit  sehr  dringend,  so  finden  sich  immer 
Leute,  die  auf  Taglohu  (däüön  oder  däihire,  d.  h.  Tagheuer)  ausgehen. 
W  ährend  der  Ernte  sind  sie  natürlich  sehr  gesucht:  doch  auch  in  der 
übrigen  Zeit  brauchen  sie  nicht  müssig  zu  gehen.  Früher  war  das  anders: 
da  waren  sie  oft  genötigt,  auf  Arbeit  nach  Ostfriesland  zu  wandern:  aber 
jetzt    können    sie    immer    beim    Kanalbau  Beschäftigung   finden  oder  auch 


Das  Saterland.  403 

zwischen   Strücklingen    und  Ramsloh  Raseneisenerz    für    die   Osnabrücker 
Hüttenwerke  graben. 

So  beschaffen  sich  die  Saterläuder  durch  ihren  kleinen  Betrieb  der 
Mooruntzung,  Landwirtschaft,  Viehzucht  und  Hausindustrie  in  erster  Linie 
ihre  eigene  Nahrung,  Kleidung  und  Feuerung;  was  an  Getreide,  Butter, 
Eiern,  Honig.  Garn,  Leinen  und  Wolle,  vor  allem  aber  an  Vieh  über  den 
eigenen  Bedarf  hinaus  gewonnen  wird,  verkaufen  sie  und  decken  mit  dem 
kleinen  Verdienste  ihre  sonstigen  Ausgaben. 

Nachdem   wir   die  Erwerbsquellen  kennen  gelernt  haben,    bleibt  über 
das    tägliche    Leben    der    Saterläuder    nur   wenig   zu  sagen.     In  kurzen 
Worten  will  ich  zu  schildern  versuchen,  wie  sie  ihren  Tag  verbringen.    Es 
ist  Winter.     Abends    vor    dem   Schlafengehen    wird   das  Feuer   in  Asche 
eingerakt  (med  eske  töustrlke)  und  mit  der  Feuerstülpe  (fiürstelpe  oder  fiwr- 
köru)  bedeckt.    Nicht  allzufrüh,  etwa   um  sieben  oder  acht  Uhr,  steht  man 
auf,   trinkt  eine  Tasse  Kaffee  (köfje),  der  meist  in  einem  dünnen  Aufguss 
auf  gebrannten   Roggen  besteht,  oder  auch  Thee.    Dann  gehen  die  Männer 
an  die  Arbeit.    Erst  wird  das  Vieh  gefüttert  und  wet  en  leze  op  V  t/U  krtyen 
(„eine  Lage   auf  die  Diele   gekriegt'1,    d.  h.   einmal  die  Diele  voll  gelegt) 
und  gedroschen;    auch  muss  an  der  Schnittlade  (snidläde)  Häcksel  für  das 
Vieh    geschnitten    werden.     Unterdessen   hat   die   Frau   einen  Buchweizen- 
pfannkuchen  (böuMtepär]küh      gebacken,    und    der    wird    mit    einer    Tasse 
Kaffee  verzehrt;  nachher  wird  ein  Butterbrod  (bütje)  gegessen.    Ist  es  nun 
nicht  zu  kalt,  so  gehen  die  Männer  aufs  Moor  (eter  färi),  um  Gruppen  zu 
machen,  zu  hacken  und  Heide  zu  hauen;  verbietet  aber  das  Wetter  solche 
Arbeit,  so  wird  der  Tag  auf  andere  Weise  verbracht.     Manche  gehen  auf 
die   Jagd    (jegerje).     Die   war   einstmals  frei,    aber   seit  langen  Jahren  ist 
das  nicht  mehr,    und  jetzt  kostet  die  Jagdkarte  drei  Thaler.     Dafür  muss 
doch    auch    etwas    geschossen   werden:    an   Hasen  (haze)   ist  kein   Mangel, 
auch  giebt  es  Füchse  (föks),  Rebhühner  (petmhdne)  und  Holztauben  (hölt- 
diiwe).     Es    ist    streng    verboten,    die   Hasen  in  Stricken   (hazenstrik  plur. 
-strih")  zu  fangen:  darauf  steht  hohe  Brüche  (breite)',  aber  immer  versuchen 
die  Leute  es  von  neuen,  denn  es  ist  sehr  einträglich.     Die  Hasen  werden 
nämlich   nach  Frankreich  geschickt  und  dort  hoch  bezahlt.     Erlaubt  aber 
ist   es,    die  Krammetsvögel  (drözelke)  in  Stricken  zu  fangen,    und  das  ge- 
schieht   im   Herbste   viel.     So  finden  die  Jäger  draussen  immer  Beschäfti- 
gung;   die  Männer,   die  nicht  jagen,    kommen  miteinander  zusammen,   um 
zu  schwatzen;  andere  tlnin  die  Hausarbeit:  manche  auch  sind  im  Spinnen, 
Weben,  Stricken  (braidjt)  oder  im  Besenbinden  und  Korbflechten  erfahren 
und    wissen    den   Tag   nützlich  damit  hinzubringen.     Die  Frauen  bleiben 
im  Winter  stets   daheim,    um  Essen  zu  kochen  und  die  nötige  Hausarbeit 
zu    besorgen.     Die  Milchwirtschaft   kostet    viel  Mühe,    und  dann  giebt  es 
auch    immer   das   sogenannte   löpene   werk,    die   laufende  Arbeit:    da  ist  zu 
flicken    (lapje)    und    zu    stopfen    (stöpje),    und    dann    muss   bald  gewaschen 


404  Siebs: 

(w«s/.r),  bald  gebacken  (bäke)  werden.  Die  Zeit,  die  noch  übrig  bleibt, 
wird  auf  die  Flachs-  und  Wollbearbeitung  verwandt.  —  Bind  die  Männer 
auswärts,  so  wird  erst  um  vier  Uhr  zu  .Mittag  gegessen:  andernfalls  aber 
wird  die  übliche  Zeit  (zwischen  12  und  1  Uhr)  eingehalten  und  um  i  Uhr 
etwas  Kaffee  und  Butterbrot  gevespert.  Zur  Abendmahlzeit  um  8  Uhr  kocht 
man  Brei  oder  wärmt  Reste  des  Mittagessens  auf.  Um  10  Uhr  gehen  die 
Leute  zu  Bett  (eter  l 

Ganz  anders  natürlich  gestaltet  sich  das  Leben  im  Sommer.  Da  winl 
um  •">  oiler  6  Uhr  aufgestanden.  Die  Männer  trinken  dann  Kaffee  und 
gehen  aufs  Feld  au  ihr  Tagewerk.  In  älteren  Berichten  (Hoche.  Hettema) 
heisst  es.  dass  die  Frauen  allein  die  Arbeit  thun,  die  Männer  aber  faul- 
lenzen:  das  mag  vor  Zeiten,  als  noch  die  Schulfahrt  blühte,  manchmal  der 
Fall  gewesen  sein,  für  heute  aber  ist  es  durchaus  nicht  gütig.  Natürlich 
gehen  Frauen,  namentlich  wenn  ihrer  mehrere  in  einem  Hause  sind,  mit 
aufs  Feld  hinaus,  wenn  die  Arbeit  drängt.  Aber  in  erster  Linie  hat  die 
Hausfrau  ihren  häuslichen  Pflichten  nachzukommen  und  dafür  zu  sorgen, 
dass  alle  zu  rechter  Zeit  ihr  Essen  erhalten.  In  der  Frühe  müssen  die 
Arbeitsleute  Kaffee,  um  !>  Uhr  Kaffee  mit  Buchweizeupfaunkuchen  haben 
—  der  ist  die  Hauptnahrung  der  Vaterländer.  ATird  draussen  auf  dem  Eseh 
gearbeitet,  so  bringt  man  .Mittagessen  und  Vesper  hinaus:  haben  aber  die 
Leute  fern  im  Moore  zu  thun,  so  nehmen  sie  morgens  Brot.  Butter  und 
Trinken  mit  und  bekommen  erst  abends  warmes  Essen  (seden  ~tt<>t  gesottenes 
Essen).  In  der  Bereitung  des  Mittagsmahles  herrscht  wenig  Abwechslung: 
Suppe.  Kartoffeln  und  Fleisch  werden  in  einem  Topfe  zusammengekocht. 
Frisches  Fleisch  giebt  es  nur  zu  Anfang  des  "Winters,  wenn  geschlachtet 
ist;  allenfalls  hat  man  im  Herbste  frisches  Schaffleisch.  Aber  sonst  isst 
man  jeden  Tag  —  natürlich  ausser  Freitags,  denn  dann  wird  streng  ge- 
fastet --  gesalzenes  Rind-,  Schweine-  oder  Hammelfleisch.  Kälber  werden 
selten  geschlachtet.  Für  frisches  Grünzeug  sorgt  im  Sommer  der  kleine 
Garten  am  Hause,  dort  wachsen  Erbsen  und  Bohnen.  "Wurzeln  (wurtele), 
Rüben  (reue),  Kohl  (hol),  Salat  (salät)  und  dergleichen:  im  Winter  bieten 
eingemachte  Bohnen.  Sauerkohl,  Steckrüben  und  Graupen  den  hauptsäch- 
lichen Ersatz  für  das  frische  Gemüse.  Etwas  Besonderes  aber  giebt  es  an 
grossen  Feiertagen:  dann  wird  eine  Henne  oder  ein  Hähnchen  (haue,  litje 
hönke)  für  die  Suppe  geschlachtet:  wer  das  nicht  leisten  kann,  der  nimmt 
eine  Wurst  oder  eine  Schweinsrippe  zu  Mittag.  Und  dann  werden  trockene 
Kartoffeln  gekocht  und  die  stippt  (stijrje)  man  in  eine  Tunke,  die  ein 
Gemengsei  (märjehe)  von  süsser  Milch,  Mehl  und  ausgelassenem  Speck  ist 
(spekfut  Speckfett).  Der  ausgebratene  Speck  wird  regelrecht  geteilt.  Und 
Sonntags  und  Feiertags  abends  giebt  es  Speckpfannkuchen  von  Buchweizeii- 
mehl,  und  dazu  wird  Thee  getrunken.    Das  ist  die  Nahrung  der  Saterländer. 


Das  Saterland.  405 


IX.    Sprache. 


Die  friesische  Mundart  des  Saterlandes  (s.  o.  S.  240,  241  Anm.,  242) 
ist  für  die  germanische  Sprachforschung  wichtig,  weil  sie  ausser  dem 
Wangeroogischen  der  einzige  überlebende  Nachkomme  der  alten  Sprache 
Ostfrieslands  ist.  Sie  hat  sich  von  niederdeutschen,  ja  auch  von  hoch- 
deutschen Einflüssen  nicht  ganz  frei  gehalten1).  Namentlich  innerhalb  der 
letzten  zwanzig  Jahre  sind  manche  plattdeutsche  Wörter  eingedrungen,  und 
der  sehr  einfache,  die  Unterordnung  fast  ganz  vermeidende  Satzbau  büsst 
an  Ursprünglichkeit  ein3).  Doch  scheidet  sich  das  Saterländische  noch 
heute  vom  Niederdeutschen  so  scharf  ab,  dass  es  den  Bewohuern  der 
Nachbargebiete  ganz  unverständlich  ist.  Ich  will  versuchen,  in  sehr  kurzer, 
auch  dem  Laien  verständlicher  Weise  die  Eigenart  zu  kennzeichnen. 

Im  Vokalismus  teilt  das  Stld.  gewisse  Eigentümlichkeiten  mit  dem 
Plattd. :  das  alte  1  und  ü,  welches  im  Hochd.  als  ei  und  au  erscheint,  ist 
bewahrt,  z.  15.  rlk  reich,  grlpe  greifen,  hüs  Haus,  söge  saugen.  Das  plattd. 
(5,  das  dem  hochd.  au  oder  ö  entspricht,  zeigt  sich  meistens  auch  im  Stld., 
und  ebenso  erscheint  das  plattd.  e,  welches  durch  hochd.  ei  oder  e  vertreten 
ist,  in  den  meisten  Fällen  als  e  (in  anderen  a,  «),  z.  B.  böm  Baum,  bröd 
Brot,  bm  Bein,  ivete  Weizen,  sne  Schnee.  Dasjenige  plattd.  ö,  welches  im 
Hochd.  durch  ü  vertreten  ist,  wird  in  Scharrel  als  6  (in  Hollen  als  0",  in 
Shüeklingen  als  öu)  gesprochen,  z.  B.  g<~>"d  gut,  do"k  Tuch.  Die  Verlängerung 
der  kurzen  Vokale  vor  dehnenden  Konsonantverbindungen  und  in  offener 
Silbe  ist  noch  weiter  durchgeführt  als  im  Plattd.,  z.  B.  löund  Land,  je'ld 
(ield,  sende  senden,  blind  blind,  gründ  Grund,  höuden  (aus  hörn)  Hörn, 
strik  plur.  str/hr  Strick,  küme  kommen,  breke  brechen.  —  Nun  zu  den  Ab- 
weichungen. In  erster  Linie  ist  wichtig,  dass  bereits  in  der  urfrs. 
Sprache  das  kurze  a  in  geschlossener  Silbe  zu  e  geworden  ist,  z.  B.  stld. 
gles  (plur.  glvci-,  mit  Dehnung  des  e  in  offener  Silbe)  Glas,  gcrs  (mit  Um- 
stellung) Gras,  Med  Blatt,  be'den  (mit  Dehnung  des  e  vor  rn,  aus  altem 
barri)  Kind.  Dieser  Übergang  des  a  zu  e  ist  aber  unter  dem  Einflüsse 
gewisser  Konsonanten  unterblieben,  z.  B.  in  der  Verbindung  war,  sowie 
vor  l-  und  c/<-Yerbindungen:  swörm  Schwärm,  sält  Salz,  nacht  Nacht  (Hollen: 
sält,  nacht  s.  unten);  vor  Nasalen  geht  a  nicht  ine,  sondern  in  o  über,  z.B. 
dorn  Damm,  pone  Pfanne,  lö"nd  Land  (mit  Dehnung  des  o  vor  nd).  Ein 
zweites  Merkmal  ist,  dass  das  alte  germanische  e  im  Prs.  (vgl.  auch  das 
Englische)  erhalten  ist,  während  das  Hochd.  und  Niederd.  statt  dessen  <7 
zeigen;  in  Scharrel  spricht  man  e,  in  Hollen  e\  in  Strücklingen  ei,  z.  B. 
se'd  Saat,  bre'de  braten,  schf'p  Schaf  (vgl.  engl,  seed,  sheep);  nur  vor  Nasalen 


1)  Vgl.  dii'  sprachstatistischen  Mitteilungen  von  Kollmann,  Zs.  d.  V.  f.  Volkskunde  I, 
377  ff. 

2)  Man  vgl.  z.  B.  den  auf  S.  274  gegebenen  Text  gegenüber  dem  auf  S.  394. 


406  Siebs : 

hat  sich  das  e  zu  ö  entwickelt:  möPne  Mond  (engl.  moon).  Drittens  sind 
die  Umlauterscheinungen  charakteristisch:  während  das  Plattd.  und  Hochd. 
unter  Einfluss  der  «'-Laute  ein  ä,  ö,  ii  entwickeln,  zeigt  das  Stl.  als  Umlaut 
der  langen  Vokale  e>  (e,  ei),  als  Umlaut  der  kurzen  Vokale  e,  z.  B.  grr'n 
grün,  he'de  Häute,  ge'ze  Gänse  (plattd.  göse),  meine  Mühle,  geten  gegossen 
(Dehnung  des  e  in  offener  Silbe).  Endlich  ein  Wort  über  den  Diphthong, 
der  in  althochd.  Sprache  durch  io  und  iu,  im  Neuhoclid.  durch  ie  und  eu 
repräsentiert  wird.  Ersterer  lautet  im  Stl.  ir,  (selten  iä),  letzterer  %ü:  wenn 
es  also  althochd.  heisst  ßoc/an  fliegen,  fliugist  du  fleuchst,  so  entspricht  d-mi 
im  Stld.  fliöge,  fliuc/tst.  Das  sind  alte  Diphthonge  und  streng  zu  trennen 
von  zwei  jüngeren:  1)  einem  iö,  welches  durch  Accentrwechsel  aus  lä  ent- 
standen ist  (miö  mähen,  kriö  krähen);  2)  einem  iu,  das  aus  i  (e)  vor  cht,  chs, 
ngw,  nho  entwickelt  ist,  z.  B.  riuchi  recht,  miuks  Mist,  iiune  singen,  stmnke 
stinken. 

Im  Konsonantismus  steht  das  Stld.  im  allgemeinen  auf  dem  Stand- 
punkte des  Plattd.;  auch  der  Ausfall  der  Nasale  vor  Spiranten  ist  beiden 
gemeinsam,  z.  B.  gös  Gans,  flu  fünf.  Nur  vier  wichtige  Unterschiede 
giebt  es.  Wo  das  Englische  stimmloses  th  zeigt,  hat  das  Stl.  ein  ?,  dns 
Plattd.  aber  d:  engl,  thin  stld.  teh  dünn,  engl,  ihrough  stld.  trüg  durch. 
Ferner:  plattd.  w  oder  f,  welches  einem  hochd.  b  entspricht,  erscheint  im 
Stld.  als  u,  z.  B.  wm  Weib,  schirme  schreiben,  köly  Kalb  (nach  l,  r  wird  ausl. 
v  von  jüngeren  Leuten  in  Hollen  als  ig  gesprochen,  z.  B.  körig  Korb).  Ein 
drittes  Merkmal  ist  folgendes:  während  das  gutturale  g  spirantisch  ge- 
sprochen wird  wie  im  westfälischen  Plattd.,  ist  palatales  g  im  Frs.  zu  /' 
geworden,  z.  B.  stld.  je'ld  Geld,  jeden  gern;  daher  hat  sich  auch  frs.  eg  in 
geschlossener  Silbe  zu  ei,  ai  und  ebenso  eg  zu  ai  QU)  entwickelt:  dai  Tag, 
wai  Weg,  fliiin  geflogen  (mit  »-Umlaut),  käi  Schlüssel  (altengl.  cceg).  End- 
lich ist  charakteristisch  die  Assibilierung  des  k  und  des  gg  vor  palatalen 
Vokalen:  k  erscheint  im  Anlaute  als  s,  im  Inlaute  als  ts,  gg  wird  zu  z, 
z.  B.  siz  Käse  (engl,  cheese),  serke  Kirche,  sedene  Butterkarne,  Mtselje  hecheln, 
leze  liegen,  weze  Wiege. 

Die  Flexion  zeigt  wenig  Merkwürdiges.  Die  drei  Geschlechter  der 
Substantive  werden  durch  die  Artikel  Mask.  dl  (de),  Fem.  (d)jft  (oder  de), 
Neutr.  det  unterschieden;  im  Plural  gilt  für  alle  Genera  und  Kasus  dö. 
Der  Gen.  Sing,  kann  sowohl  durch  Anhängung  von  -s  gebildet  werden,  als 
auch  durch  Umschreibung  mit  Präposition  oder  Possessivpronomen,  z.  B. 
min  susters  hfts  oder  det  litis  fon  min  suster  oder  min  swter  hlr  hüs.  Die 
übrigen  Kasus  werden  beim  Mask.  durch  den  Artikel  den  charakterisiert 
(welcher  dann  wie  im  Plattd.  oft  auf  den  Nom.  übertragen  wird),  beim 
Fem.  und  Neutr.  unterscheiden  sie  sich  nicht  vom  Nom.    Der  Plural  wird 

-    abgesehen    von    einigen    wenigen    alten  Umlauterscheinungen    (föH  - 
fv'te,  f/o"s — g&ze)  und  Formen  auf  -ere  (klödere,  lönmere.  >ii<n-)  in  der  Hegel 
bloss   durch  Auhängung   eines   -/    gebildet,    z.  B.   dt  sten  —  du  stene  Stein. 


Das  Saterland.  407 

jü  sted  —  dö  stede  Stadt,  det  spil  —  dr>  spJle  Spiel;  nur  die  auf  -e  auslautenden 
Worte  hängeu  -n  au,  z.  B.  dl  tjüge  —  dö  tjogen  Zeuge;  jü  stre'te  —  dö  stre'ten 
Strasse.  Die  Flexion  der  Verba  weicht  vom  Plattd.  wenig  ab:  die  erste 
Pers.  Sing.,  die  drei  Personen  des  Plural  und  der  Infiu.  lauten  gleich,  die 
zweite  Pers.  Sing.  Präs.  und  Prät.  endet  in  der  Regel  auf  -st,  die  dritte 
Pers.  Sing.  Präs.  auf  -t.  Die  Tempusbildung  der  starken  Verba  zeigt 
klar  die  Ablautsverhältnisse,  sogar  Sing,  und  Plur.  Prät.  haben  in  manchen 
Fällen  noch  den  Vokalwechsel;  das  Part.  Prät.  ist  meistens  umgelautet. 
Also:  ik  söge  (sauge),  dft  suchst,  hl  sucht;  wi,ji,jö  svge.  Prät.  sog,  Plur. 
segen;  Part.  säin.  Oder:  sürye  sterben,  Prät.  störy.  —  stüruen,  Part,  stüruen. 
Unter  den  schwachen  Verben  sind  zwei  Hauptklasseu  zu  scheiden.  Die 
erste  bildet  den  Infin.  auf  -e  (altfrs.  -a,  altengl.  -an),  Prät.  -(e)de,  Part. 
-(e)d,  z.  B.  stiüre  (steuern),  stiürde,  stiürd;  nur  wenn  ein  Dental,  bisweilen 
auch  wenn  ein  Guttural  im  Auslaute  der  Wurzel  mit  dem  Dental  des 
Präteritalsuffixes  zusammentraf,  sind  lautgesetzliche  Veränderungen  ein- 
getreten, z.  B.  bWde  (bluten),  biete,  biet':  le'Je  (läuten),  Ute,  let;  tärjke  (denken), 
föchte,  tocht.  Die  zweite  Klasse  bildet  den  Inf.  auf  -je  (altfrs.  -ia,  altengl. 
-ian,  althochd.  -öra),  Prät.  -(e)de,  Part.  -(e)d,  z.  B.  tilje  (pflügen),  tilede, 
tdnl.  —  Von  den  Zahlwörtern  zeigen  nur  die  drei  ersten  den  Unter- 
schied der  Geschlechter:  an  ene  in,  twe'n  twö  twö,  tre1  triö  triö. 

Aber  nicht  nur  die  eigenartigen  Lautverhältnisse  machen  das  Sater- 
ländische  einem  Niederdeutschen  unverständlich,  sondern  auch  der  Wort- 
schatz. Wie  aus  den  oben  mitgeteilten  Texten  ersichtlich  ist,  weicht  die 
stld.  Sprache  gerade  in  der  Benennung  vieler  sehr  gebräuchlicher  Begriffe 
vom  sächsischen  Plattd.  ab:  als  Part,  von  Uö  (sehen)  gilt  blöuked  (hochd. 
eigentlich  „belügt");  das  Wort  „geben"  wird  durch  reke  (Prät.  rate,  Part, 
rät)  „reichen"  ersetzt:  Vater,  Mutter,  Onkel,  Tante  heissen  habe,  meme, 
öm  und  mü'e;  für  Kind,  Mädchen,  Junge  braucht  man  beiden,  wucht  und 
went  (statt  fent);  „schön"  wird  durch  flüg  oder  fräi,  „böse"  durch  b?p  oder 
kwöd  bezeichnet,  spreke  wird  nur  noch  ganz  selten  gebraucht,  und  zwar 
in  der  Bedeutung  „prahlen";  die  üblichen  Worte  für  „sagen,  sprechen" 
sind  kwede  und  bdle;  „es  donnert"  heisst  et  grumelt  (idg.  Wurzel  ghrem, 
vgl.  slav.  groviii  „Donner",  griech.  xQe^Cco)  u.  a.  m.  —  Ganz  eigenartig  auch 
sind  die  Personennamen.  Männliche  Vornamen  wie  Aljet,  Rävs,  Elze,  Köp, 
Epken,  Haute,  Hamken,  Lö"tje ,  Rainer,  Sike,  Wybe  erscheinen  uns  ebenso 
auffällig  wie  die  Frauennamen  Libet,  Nö"?itje,  Sinke,  Erjele,  Be{ke,  Heike. 
Metje,  Mode,  Sisken,  Tjäberg,  Talke  u.  a.  m.  An  anderer  Stelle  gedenke  ich 
diese  Dinge  eingehend  zu  behandeln. 

In  einigen,  wenn  auch  nicht  wesentlichen  Punkten  unterscheiden  sich 
die  Mundarten  der  einzelnen  stld.  Dörfer,  besonders  der  drei  Kirchspiele. 
Wir  haben  schon  darauf  hingewiesen,  dass  das  o"  und  e'  des  Ramsloh- 
Hollener  Dialektes  in  Strücklingen  öü  und  ei,  in  Scharrel  6  und  <7  gesprochen 
wird;    e'  und  0"   vor  r  erscheinen   in  Hollen  als  l  und  ü,    z.B.  wir  wahr, 


408  Siebs: 

brüer  Bruder;  statt  be'den  (Kind),  me>den  (Morgen),  tö"den  (Dorn).  ho"den 
(Hörn)  u.  s.  w.  sag!  man  in  Scharrel  beden,  töden  etc..  in  Strücklingen  aber 
biden,  tuden;  ferner  ist  das  stld.  ä  in  Ramsloh-Hollen  zu  ä  geworden  (nacht, 
liäcM).  Alles  das  giebt  der  Mundart  dieses  Kirchspieles  gegenüber  den 
anderen  eine  gewisse  Breite.  Die  Saterländer  empfinden  das  sehr  wohl 
und  sagen,  darin  zeige  sich  das  Temperament:  ..in  Ramsloh  schlafen  die 
Leute,  in  Strücklingen  wachen  sie.  in  Scharrel  aber  sind  sie  flügge". 

X.   Poesie. 

Das  Saterland  ist  sehr  arm  an  Gaben  der  Poesie.  Im  Munde  des 
Volkes  leben  heute  keine  Lieder,  und  auch  von  schriftlicher  Überlieferung 
aus  früherer  Zeit  ist  nicht  die  Rede.  Ausser  einigen  ganz  kleinen  Sprach- 
proben und  zwei  in  unzuverlässiger  Fassung  mitgeteilten  Liedern1)  ist 
überhaupt  kein  stld.  Text  bekannt.  Aber  ein  Zeugnis  lässt  vermuten,  dass 
es  vor  hundert  Jahren  echt  saterländische  Volkslieder  gegeben  hat.  I  loche 
(s.  o.  S.  240)  berichtet,  er  habe  solche  singen  hören,  sie  aber  nicht  ver- 
standen: den  Inhalt  eines  besonders  schönen  Liedes  habe  er  sich  erzählen 
lassen:  es  besinge  das  Schicksal  der  treuen  Grete,  die  noch  als  Witwe  in 
Scharrel  lebe.  Ein  schönes  saterland isches  Mädchen  kommt  nach  Emden 
und  verliebt  sich  in  einen  Kapitän.  Um  ihm  nah  zu  sein,  verkleidet  sie 
sich  und  geht  als  Schiffsjunge  bei  ihm  in  Dienst.  Aus  dem  Mastkorbe 
singt  sie  ihr  Liebesleid,  doch  der  Kapitän  versteht  sie  nicht.  Sie  rettet 
ihm  auf  hoher  See  das  Leben.  Als  er  sie  aus  Dankbarkeit  ans  Herz 
drücken  will,  wird  ihm  ihr  Wesen  kund,  und  sie  wird  seine  Gattin.  Den 
Bericht  Hoches  über  dieses  echte  Volkslied  halte  ich  deshalb  für  glaub- 
haft, weil  ein  alter  Scharreier  mir  sagte,  er  erinnere  sich,  in  früher  Jugend 
davon  gehört  zu  haben;  von  dem  Liede  wisse  er  nur  die  Worte:  hir  $it 
tk  un  MIß  un  MIß  („hier  sitz  ich  und  weine  und  weine").  —  Ein  anderes 
Zeugnis  ist  mir  durch  die  traditionelle  Erzählung  vom  Spuk  beim  Lindepöl 
(s.  o.  S.  390)  bekannt  geworden.  Es  heisst  da.  Kinder  hätten  das  Lied 
gesungen  „di  liS"e  müden  kumt*  (der  liebe  Morgen  kommt):  die  Leute 
wissen,  dass  es  dieses  Lied  gegeben  hat,  aber  nichts  weiter.  —  Aus  dem 
Jahre  1848  soll  ein  Lied  stammen,  welches  zur  Genügsamkeit  auffordern 
und  der  Auswanderung  steuern  will.  Leider  habe  ich  nur  die  erste  Strophe 
erfahren  können: 

„Seiter,  tätet  üs  hir  bliue,  „Satern,  lasset  uns  hier  bleiben. 

hir  bl  de  <■    in  Setterlö^nd!  Hier  am  Fluss  im  Saterland. 

hir  kon  wi  op  beste  liyß,  Hier  ist  es  am  besten  leben, 

hu-  iz  fän  un  gers  un  söund."  Hier  ist  Moor  und  Gras  und  Sand." 


1)    Frs.  Archiv  I,  159:    Straekerjan  a.  a.  0.  I.  415:    unzuverlässig   sind  die  Texte  bei 
Hettema  und  Posthumus  a.  a.  0.  und  Firmenich.  Germaniens  Völkerstimmen  I,  233/4. 


Das  Saterland.  409 

Das  ist  nicht  etwa  ein  Spottlied:  Bewirtschaftung  des  Moores,  des  Wiesen- 
und  Ackerlandes  sowie  Schiffahrt  auf  dem  Flusse  sind  ja  die  Erwerbs- 
quellen des  Saterländers ! 

Dieses  Lied  ist  echt  saterländisch;  von  anderen  aber  lässt  sich  ver- 
muten, dass  sie  aus  dem  Hoch-  oder  Niederdeutschen  übersetzt  worden 
sind.  Für  zwei  Stücke  bin  ich  geneigt,  westfälischen  Ursprung  anzu- 
nehmen. In  Hollen  ward  mir  erzählt,  es  habe  früher  ein  Kinderlied 
gegeben: 

„dl  litje  snider  fon  Härkebrig,         „Der  kleine  Schneider  von  Harkebrügg, 
dl  schel  üz    bi'den  'e  kape  sS>e."       der  soll  unserm  Kinde  eine  Kappe 

nähen." 

Hier  weist  der  Ortsname  auf  Westfalen  hin.  Das  andere  ist  das  sogenannte 
„hägeböuken  efaijelien  secundum  David  Knost",  jenes  als  „Knost  un  sine  drei 
stöhne"  bekannte  Lügenmärchen,  das  in  Westfalen  im  Evangelientone  ge- 
sungen werden  soll.  Es  scheint  von  den  Saterländern  aufgenommen  und 
erweitert  zu  sein  (vgl.  Strackerjan  II,  297;  Unland,  Schriften  III,  229; 
Münsterische  Legenden  und  Sagen.  Münster  1825.  S.  232  ff.).  In  Hollen 
habe  ich  es  so  gehört: 

„Der  bete  det  Asterwäld     was  en  bür,  Di  ene  fersorjk,     di  ür  ferdroijkde, 

di  hide  tre1  süne:  di  t/rede  körn  gar  nit  wier, 

Di  ene  hlt  Jöust,     di  ür  hit  Knöust,  Un  di  gar  nit  wier  hörn, 

di  trede  Jan  Berendfent.  di  körn  in  'en  gröt  wöld, 

Di  ene  was  blind,     di  ür  was  lom,  der  stüd  en  gröte  serke. 

dl  trede  splinlerblö"dnäkend.  Un  in  jü  gröte  serke, 

Dö  girjen  ale  tri'  wi'l  op  V  jacht;  il  r  was  en  büsbömnen  pestöur 

Di  blinde  schöt  en  haze,     di  läme  un  en  holtenen  koster. 

grep  'ne,  Di  pestö"r,  dl  delcle  det  we'wäter  med 
dl  nakende  stat  'ne  in  'en  böuzem.  'e  knepel  üt. 

Dö  girjen  jö  noch  en  b/tsken  fere,  Glukselig  iz  di  mim, 

dö  kernen  jö  bi  en  gröt  weiter,  di  det  w&wäter  entlöpe  kon. 

un  op  det  weiter  ligen  triö  schlpe.  Dö  ron  ik  üt  de  serk'  üt 

Det  ene  was  lek,     det  ür  was  gebrek,  un  state  ml  for  de  töne, 

det  trede  was  gär  nun  böltden  mör  an.  det  det  blöud  sprorj  ml  bete  üt  'e  heke  üt. 

Der  gar  nein  bö"den  mör  an  was,  Un  dö  was  det  hägeböukin  efarjelien  üt. 
■  I<e  girjen  ze  ale  tre1  an  site. 

Vor  etwa  50  Jahren  machte  der  Pastor  Frerichs  (f  als  Hofprediger 
in  Oldenburg),  der  grosses  Interesse  für  das  Neuostfriesische  hatte,  von  seiner 
Pfarre  Wangeroog  aus  eine  Reise  ins  Saterland.  Er  hat  dort  ein  Volks- 
lied aufgezeichnet.  Die  Fassung  ist  unvollständig;  die  Lücken  aber  lassen 
sich  allenfalls  nach  den  Strophen  der  dreizeiligen  deutschen  Texte  ergänzen 
(vgl.  die  Lieder  bei  Mittler,  D.  Volksl.  Frankfurt  1865  S.  245  —  247  und 
Anhang  S.  10,  wo  auch  die  Litteratur;  ferner  in  „des  Knaben  Wunderhorn" 


410 


Siebs:  Das  Saterland. 


H,  204  ff.).    Die  Reime  in  Strophe 
machen  eine  hochdeutsche  Vorlage 

l.1)   Ik  gif]  wel  bi  dö  nagd, 
djü  nagd,  djü  waz  so  tjijster, 
det  mi  nen  stirne  mör  sag. 

2.  [ik  giij  far  min  liöuste  hlr  hüs:] 
„wwcht,  stand  op,  let  ml  derin, 
un  rin  hont  far  dö  döre". 

3.  .''/'  I'7ti-  di  der  nit  in.] 

ik  stönd<:  nit  op,  Ute  di  der  nit  in 
er  du  mi  dö  triö  fersprekst.' 

4.  „[dö  triö  /-,-/,■  d;  di  nit,] 
ik  wol  di  wel  wet  gekjö. 
man  hilkje  dwö  ik  di  nit." 

5.  Dö  systere  wirrte  der  tri", 
dö  junste,  djü  derhl  waz, 
djü  Ute  den  fent  derin. 

6.  Jö  latene  htm  bope  in  't  hvs, 
[man  jö  gitjen  nit  eter  bede,} 


trügt  finster  mosf  hl  dt  r  wier  üt. 

7.  Hi  fei  sik  op  'en  st  >i. 
hi  fei  sik  tirö  ri/be  hat, 
dertö  det  riuchte  bin. 

8.  Der  moste  un  dokter  käme, 
tö  helfen  dyzJ  brek, 

hi  möt  wier  weze  klör. 


b  und  fi  (Drei  —  herein,  haus — heraus) 
wahrscheinlich. 

1.  Teil  ging  wohl  bei  der  Sacht, 
die  Nacht,  die  war  so  düster, 
dass  man  keinen  Stern  mehr  sah. 

2.  [Ich  ging  vor  Liebchens  Thür:] 
..Mädchen,  steh  auf,  lass  mich  hinein, 
Ein  Ring  hängt  cor  der   Thüre." 

3.  .[Ich  lass  dich  nicht  herein.] 

,        ich  stehe  nicht  auf,  lass  dich  nicht  ein, 
Eh  du  mir  die  Treu  versprichst.' 

4.  „[Die  Treu  geb'  ich  dir  nicht,] 
ich  will  dich  wohl  was  narren, 
doch  heiraten  thue  ich  dich  nicht." 

5.  Die  Schwestern  waren  zu  drein, 
die  jüngste,  die  dabei  war, 

die  Hess  den  Burschen  herein. 

6.  Sie  führten  ihn  oben  ins  Haus, 

[„und  ich  glaubt,  ich  kam"  ins 

Federbett."  oder 

..ich   dacht',   sie  führt  mich 
schlafen." | 

durch 's  Fenster  mussf  er  wieder  hinaus. 

7.  Er  fiel  hin  auf  einen  Stein, 

er  fiel  sich  zwei  Rippen  entzwei, 
dazu  das  rechte  Bein. 

8.  Da  musste  ein  Doktor  kommen, 
Zai  heilen  diesen  Bruch. 

Er  muss  wieder  sein  gesund. 


Dass  dieses  Lied  aus  dem  Deutschen  übersetzt  ist.  ist  um  so  ■wahr- 
scheinlicher, als  auch  Prof.  Minssen  um  dieselbe  Zeit  verschiedene  sater- 
ländische  Lieder  vorgefunden  hat,  die  man  nachweislich  dort  vorher  nur 
hochdeutsch  gesungen  hatte.  Die  handschriftlichen  Texte  und  Musikbeilagen, 
die  mir  gütigst  von  Herrn  Prof.  Minssen  übergeben  worden  sind,  gedenke 
ich  demnächst  mitzuteilen. 


1)    Nach  einer  Mitteiluni;-  von  Prof.  Minssen.     Ich  gebe  dessen  Orthographie,  jedoch 
mit   Anwendung-  meiner  Typen. 


Villotte  friulane  (Friaulische  Dorflieder). 


411 


Villotte  friulane  (Friaulische  DorfLieder). 

Mitgeteilt  von  Dr.  E.  Schatziuayr  in  Triest. 

(Schluss.) 


Urtext. 

'6-2. 

Une  volle  lis  beluzzis 
E  lor  lavin  a  marit, 
E  cumö  van  dutis  quantis 
Di  ehe  bände  di  San  Vit! 

33. 

Une  volte  nii  disev's: 
Ma  che  venji,  soi  parön  - 
Ma  cumö  voltais  lis  spalis 
E  burlais  senze  resön! 

Volintir  mi  vedaressis 
Sun  che  tanle  distirat, 
Po'  ben  dopo  vo  diressis, 
Ch'  a  soi  muart  inamorat! 

34. 

Hai  mangiäd  'ne  mandulute 
L'  hai  mangiad  c  m  ha  plazut  — 
Sinipri  alegri  e  mai  passion!  — 
La  domande  di  che]  zovin 
Si  la  fe  che  in'  ha  plazut! 


Nachdichtung. 

Ehmals  wurden  unsre  Schonen 
Alle,  alle  bald  gefreit  — 
Heute  gehn  sie  alle  balde 
Auf  die  Seite  zu  S.  Veit! 

(d.  i.  dem  Friedhof  in  Udine.) 

Ehmals  sagtest  du  mir:  komm  nur, 
Bist  mein  Herr  zu  jeder  Stund  — 
Jetzo  kehrst  du  mir  die  Schultern 
Und  verhöhnst  mich  ohne  Grund! 

Gerne  sähest  du  mich,  gerne 
Liegen  auf  der  Totenbahr', 
Und  du  sprachest  dann:  vor  lauter 
Liebe  starb  der  arme  Narr! 


Eine  Mandel  ass  ich  einsmals 
Und  sie  schmeckte  mir  gar  sehr  — 
Immer  fröhlich  und  nie  betrübt  — 
Doch  die  Werbimg  meines  Liebsten 
Die  gefiel  mir  noch  viel  mehr! 


Balistu,  Pieri? 

„Si  'o,  che  bali"  — 

Tu,  cu  lis  zoculis, 

Jö  cu   I  batali1)! 

Tum,  la,  la,  tum,  la,  la! 

36. 

Velu   lä,   velu   la  vie 
Ch'  al  mi  spache  il  fazolet  (Fetzel 
d.  i.  Taschentuch)  - 
Liu  al  fäz  par  saludami: 
Mandi,  mandi,  benedel! 


Tanzest  du,  Peter? 
„Ja,  freilich  tanz'  ich"  — 
Du,  mit  den  Holzschuhn 
Ich  mit  Pantoffeln! 
Tum,  la,  la,  tum,  la,  la! 


Sieh  da,  sieh  da,  mein  Leben, 
Vie's  Tüchel  weht  vom  Platz  — 
Er  will  damit  mich  grüssen: 
Grüss  göd,  grüss  göd,  mein  Schatz! 


1)  oder  dalmani,  die  halbhölzerne,  weithin  klappernde  Fussbekleidung  der  Furlanerinnen. 


412 


Schatzmayr: 


37. 

Se  Sintis  a  di,  ninine, 
Che  soi  muart  in  ehest  pais", 
Mi  dires  im  „de  profundis", 
Che  us  al  torni  in  paradis. 

38. 

Hai  audrit  'ne  cnlumbute 
t !'  une  rame  di  uliv. 
E  cumö  che  1'  hai  nudride 
Vei  amäle  önch'  jo  in'. 

39. 

Benedei  chel  troi  di  braide 
La  che  I"  evi  a  far  I'  ainör  — 
Hai  credut  di  col  un  zuvin 
E  hai  colet  un  traditor! 

40. 
Hai  mangiat  an  rap  di  ue  (grappo 

lll     HVil). 

Pai  sclari  mi  un  poc  la  vöz, 
E  cumö  che  Y  hai  sclaride 
Vei  fä  un  eant  al  miö  moros. 

41. 

( 'hi'i  rizzös  faz  a  cadene 
Lor  mi  puartin  vie  il  cur: 
Se  jö  fos  in  sepolture 
.16  par  lör  saltares  für! 

42. 

Ores  (Volessi)  muri  d'une  muart  dolee 

Par  pode  risuscitä  — 

Viva  F  amor!  — 

Par  tornä  ne  volte  sole 

Cul  mio  ben  a  morosä ! 


Wann  du  hören  wirst.  Geliebte, 
Dass  ich  tot,  dann  bete  fromm, 
Bet'  für  mich  ein  De  profundis, 
Dass  ich  in  den  Himmel  komm'. 


Hab'  ein  Täubchen  aufgezogen 
Mit  'nein  Ölzweig'  sorgenbang  — 
Nun  es  gross  ist  und  erwachsen, 
Will  ich's  lieben  lebenslang. 


Jener  Feldpfad  sei  gesegnet, 
Wo  ich  erste  Liebe  sah: 
Glaubte  Treulieb  da  zu  finden, 
Ach.  und  fand  nur  Falschheit  da! 


Hab'  gegessen  eine  Traube, 
Dass  sich  klär'  die  Stimme  mein 
Jetzt,  da  ich  geklärt  sie  habe, 
Sing'  ich  meinem  Schätzelem. 


Ach.  jene  holden  Ringellocken, 
Sic  raubten  Kopf  und  Herze  mir: 
Lag'  ich  begraben,  aus  der  Erde 
Sprang'  ich  um  sie  heraus  —  zu  Dir! 


Aföeht'  eines  sanften  Todes  sterben, 
Um  wieder  jung  dann  aufzustehn  — 
Es  lebe  die  Liebe!  — 
Dass  ich  nur  einmal  wieder  könnte, 
Mit  meinem  Schatz  spazieren  gehn! 


Se  l'amor  foss  scrit  in  carte 

Ce  cartone  che  saress! 

Une   barce   no  la  jeve    (leva 

=  leverebbe) 
Une  nav  no  bastaress. 


Non  voi  andar  plui  alla  nioda 
Gale  plui  lKin  voi  portar: 
Jö  voi  ir  fanciulla     odsi 

Non  mi  vo(gl)io  plui  sposar. 


Wenn  die  Liebe  war'  geschrieben  auf 

Papier 
Welche  Papiermasse  das  wäre! 
Eine  Barke  würde  sie  nicht  heben 

(=  tragen), 
Ein  Lastschifi'  würde  nicht  genügen. 

Nicht  will  ich  gehn  mehr  modisch, 
Gala  mehr  nicht  mag  ich  tragen: 
Ich  will  einhergehn  als  gesetztes 

Mädchen, 
Nicht  mag  ich  mich  mehr  verheiraten. 


Villotte  Eriulane  (Friaulische  Dorflieder). 


413 


3.    Lis  montagnis  si  slontanin 
E  lu  eil  si  va  slargiand: 
E  cussi  la  mc  morose 
E'  si  va  dismenteand. 


4.  E  tu  aghe,  e  tu  aghe, 
Anchie  tu  tu  vas  in  jü  - 
0  saludimi  il  miö  zovin, 
Anchie  lui  aventi  jü  (.giü). 

5.  0  ce  biei  lusor  di  lune 

Ch'  el  Signor  nus  ha  mandat, 
A  bussä  fantattis  biellis 
Xo  T  e  fregul  di  peccat! 

G.    Hai  zirätt  (girato)  dutte  la  Carnje 

Hai  ziratt  dutt  il  Priul 

Par  cattami  une  morose: 

Mai  nissune  no  mi  (v)ul! 

7.    Dula  mai  si  catte  im  zovin 
Come  me  disfortunät, 
Da  fantazz  e  da  fantattis 
E  da  duc  abandonat! 


Die  Berge  entfernen  sich  (weichen 

zurück) 
Und  der  Himmel  wird  immer  weiter 

(geht  sich  weitend): 
Und  so  auch  meine  Geliebte, 
Sie  gerät  in  Vergessenheit  (Sie  sich 

geht  entsinnend). 

Und  du  Wasser,  und  du  Wasser, 
Auch  du.  du  gehst  hinab  — 
0  griisse  mir  meinen  Jungen  (Liebsten), 
Auch  er  zog  dort  hinab. 

0  welch  schöner  Glanz  des  Mondes, 
Den  der  Herrgott  uns  geschickt  hat! 
Zu  küssen  schöne  Mädchen 
Ist  ja  kein  Krümchen  von  Sünde. 

Hab'  durchwandert  ganz  Kärnten, 
Hab'  durchwandert  ganz  Friaul, 
Um  zu  fahn  mir  eine  Liebste: 
Aber  keine  nicht  mich  will! 

Wo  je  findet  sich  ein  Junge 
Wie  ich  glücklos, 
Von  Burschen  und  von  Mädchen 
Und  von  allen  verlassen! 


Maridaissi '),  fantazzinis, 
Maridaissi  al  prin  ch'  al  ven, 
Vjodis  ben  che  anchie  la  jerbe 
Quan  che  e  seccie  e'  va  in  fen. 


9.    Une  volte  scarpis  njovis 

E  cumö  („cum  hoc"  tempore) 

scarpezz  frujaz : 
Une  volte  tang  biei  zovins, 
E  cumö  tang  biei  soldaz! 


10.    Fantazzinis,  fait  crosettis, 

Che  i  fantazz  s'  in  van  soldaz  — 
Avodaissi1)  a  zuess  (zotti)  e  gobbos, 
Calzumiz  e  strupiaz  (scalzi  e  stroppj)! 


Heiratet,  Mädchen, 
Heiratet  den  ersten,  der  kommt. 
Ihr  seht  wohl,  dass  auch  das  Gras, 
Wann  es  trocken  ist,  zu  Heu  wird 
(übergeht  in  Heu). 

Einstmals  in  neuen  Schuhen 
Und  nun  in  alten  zerrissenen: 
Einstmals  so  schöne  Burschen, 
Und  nun  so  —  schöne  Soldaten! 

Mädchen  macht  Kreuze   (=  verzichtet, 

entsaget), 
Denn  die  Burschen  gehn  fort  (als) 

Soldaten  - 
Widmet  (verlobet)  euch  den  Lahmen 

und  Buckligen, 
Den  Lottern  (Entstrumpften)  und 

Krüppeln ! 


1)    Slavisches  Reflexiv  (sich)   anstatt  Maritate  vi  (verheiratet  euch) 
(Avouez-vous). 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893. 


Avotatevi 


28 


414 


Schatzmayr: 


11.  II  pais  uei  saludalu, 
Che  mi  toccie  di  parti, 

Che  mi  toccie  dilä  a  Vienne 
Fra  lis  armis  a  muri. 

12.  Jö  soi  pizzul,  iö  soi  miser, 
No  soi  bon  di  fa  il  soldat: 
Daimi ')  in  brazz  une  bambine 
Che  jö  1'  ami  insin  ch'  ai  flat. 


13.    E  iö  canti,  canti,  canti, 
E  no  sai  ben  soi  parce 
E  iö  canti  solamenti 
Soi  par  consolami  me. 


Das  (Vater-)Land  will  ich  grüssen, 
Denn  ich  muss  („mich  trifft's")  abreisen, 
Denn  ich  muss  dort  in  "Wien 
Zwischen  den  Waffen  sterben. 

Ich  bin  winzig,  ich  bin  schwächlich, 
Ich   tauge  nicht  zum  Soldaten  (Nicht  bin 
gut  zu  machen  den  Soldaten): 
Gieb  mir  in  Arm  ein  kleines  Mädel, 
Dass  ich  es  liebe,  so  lang'  ich  atme. 

Und  ich  singe,  singe,  singe, 

Und  nicht  weiss  ich  wohl  selbst  warum  — 

Und  ich  singe  einzig  und  allein 

Nur  um  zu  trösten  mich. 


(Vergl.  hierzu  H.  Heines: 

Wenn  die  Kinder  sind  im  Dunklen. 
Wird  beklommen  ihr  Gemüt, 
Und  um  ihre  Angst  zu  bannen, 
Singen  sie  ein  lautes  Lied  .  .) 


14.  Je  che'  furbe  di  to'  mari 
Che  no  va  mai  a  durmi: 
.Iö  cun  te  vorress  discorri 
Che  doman  hai  di  parti. 

15.  Jö  doman  partiss,  voi  vie, 
Poverin  disforrunat: 

II  mio  cur  ati  tel  doni 
E  tu  tenla  conservat. 

16.  Oh,  ce  strente  di  manine 
Co  '1  cur  miö  ti  consegnai! 
Oh,  ten  cont  di  lui,  ninine, 
Par  infin  che  tornarai! 


17.  No  vai,  anime  bielle, 
No  vai  e  sospirä: 

Jö  lä  dentri  no  ti  lasci, 
Für  di  la  ti  uei  menä. 

18.  Di  chell  sospir  di  che'  bocchiutte, 
Distaccat  propri  dal  cur, 

Ti  soi  grat,  o  bambinutte, 
Ti  soi  grat  infin  che  mur. 


0  wie  schlau  ist  deine  Mutter  (jene 

.  Schlaue  von  deiner  M.), 
Die  niemals  schlafen  geht: 
Ich  möchte  mit  dir  plaudern. 
Denn  morgen  muss  (hab')  ich  ab(zu)reisen. 

Ich  verreise  morgen,  gehe  weg, 
Ärmster,  Unglücklicher  (ich): 
Mein  Herz,  dir  schenk'  ich  es 
Und  du  halt'  es  wohlverwahrt. 

Oh,  welche  Händchendrücke 

Mit   dem  Herzen  mein  (ich)  dir  übergab! 

Oh,  bewahr'  es  wohl  (halte  Rechnung 

seiner),  Liebchen, 
Solauge  bis  ich  zurückkehre. 

Nicht  weine,  schöne  Seele, 

Nicht  weine  und  seufze: 

Ich  dort  drinnen  nicht  dich  lasse, 

Heraus  von  dort  will  ich  dich  führen. 

Für  den  Seufzer  jenes  Mündchens, 
Gekommen  (Gepflückt)  wirklich  vom 

Herzen, 
Bin  ich  dir  dankbar,  o  lieb  Rindchen, 
Bin  ich  dir  dankbar,  bis  ich  sterbe. 


1)    Slavisch.  ital.  dammi  (gieb  mir  . 


Villott  e  friulane  (Friaulische  Dorflieder).  415 

19.  Se  m1  in  voi  iö  vic  di  chenti  Wenn  ich  scheide  (mene  vo)  von,  der 
Cui  sa  mai  se  tornarai,  Heimat 

Cui  sant  che  mi  consoli  Wer  weiss,  ob  ich  je  zurückkehre, 

Des  passions  che  puartarai?  Wer  wird  sein,  der  mich  tröste 

Der  Leiden,  die  ich  tragen  werde? 

20.  Dul  (di  oltre)  di  nie,  dul  de  mc'  vite    Ausser  mir,  ausser  meinem  Leben, 
Dul  di  me  tant  zovenin,  Ausser  mir  dem  noch  so  jungen, 
Doi  la  muart  a  me'  morose  Geb'  ich  den  Tod  meiner  Geliebten, 

Se  iö  tili  il  numcr  prin!  Wenn  ich  ziehe  die  Nummer  Eins!  (bei 

der  Auslosung  der  Rekruten). 

(Diese  Sammlung  kann,  um  ein  treuer  Spiegel  der  furlanischen  Volks- 
seele zu  sein,  fortgesetzt  werden  in  die  Hunderte.) 


Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen 
im  Niederländischen. 

Von  August  Gittee  in  Lüttich. 


Es  ist  eine  sehr  eigentümliche  Aufgabe,  den  Meisen  nachzuforschen, 
in  welchen  der  Spott  sieh  in  dem  Volke  offenbart.  Dass  er  vom  Volks- 
geist untrennbar  ist,  bedarf  wrohl  keines  Beweises.  Die  komische  Litteratur 
hat  einen  populären  Ursprung  und  findet  —  wie  gross  auch  heute  die  Kluft 
sei  zwischen  dem  eigentlichen  Volke  und  der  ..gantierten"  Litteratur  — 
ihre  Typen  und  Inspirationen  meistens  im  Leben  und  Weben  der  unteren 
Klassen. 

Bei  diesen  tritt  denn  auch  die  Spottlust  mehr  in  den  Vordergrund. 
Hat  La  Fontaine  von  der  Jugend  gesagt:  „Get  äge  est.  sans  pitie",  so  ist 
dieses  Wort  ebenso  sehr  auf  das  Volk  anwendbar.  Für  jeden  Moment  im 
Leben,  für  jede  Lage  bat  es  eiu  Wort,  das  in  die  Prosa  des  menschlichen 
Daseins  Abwechslung  bringt  und  uns  einen  Augenblick  in  heitere  Stimmung 
versetzt. 

Im  besonderen  da,  wo  sich  Schwachheiten  und  Unvollkommenheiten 
offenbaren,  wird  der  Volksgeist  sich  —  ohne  Bösartigkeit  jedoch  -  -  lustig 
machen. 

Eine  besondere  Gattung  dieser  Äusserungen  des  Volkscharakters  bilden 
die  Eigennamen,  welche  scherzhaft  und  spottend  angewendet  werden.  Aus 
dem  Vorhergehenden  wird  schon  hervorleuchten,  wo  man  dieselben  am 
zahlreichsten  antreffen  wird.     Sie  sind  hauptsächlich  gang  und  gäbe  unter 

28* 


4K;  Gittee: 

den  niederen  Ständen,  immer  häufiger,  je  tiefer  man  die  Stufenleiter  der 
Gesellschaft  hinabsteigt.  Solche  Eigennamen  sind  in  grosser  Zahl  vor- 
handen in  den  litterarischen  Urkunden  über  das  Volksleben,  in  Spott- 
und  Schimpfgedichten,  sowie  auch  in  den  Schwänken  und  Lustspieleu  aus 
früheren  Jahrhunderten. 

1. 

Anlass  zur  komischen  Anwendung  von  Eigennamen  konnte  das  Volk 
schon  finden  in  dem  Bestehen  bedeutungsvoller  Personen-  und  Ortsnamen. 
In  vielen  Fällen  ist  die  Bedeutung  der  Wurzeln,  trotz  der  im  Laufe  der 
Jahrhunderte  erlittenen  Änderungen,  noch  deutlich  erkennbar,  ohne  dass 
es  nötig  wäre,  dass  der  ausgedrückte  Begriff  sich  rechtfertigen  lasse.  So 
hiisst  gegenwärtig  wohl  auch  ein  kleiner  Mann  De  Groot  oder  De  Groote 
(gross)  und  ein  rothaariger  De  Swarte  (schwarz).  „Auch  die  Natur  begeht 
Irrtümer." 

Die  Gewohnheit  des  Volkes,  Beinamen  zu  ersinnen,  besteht  überall. 
Intel'  den  niederen  Ständen  sind  diese  noch  heute  so  sehr  verbreitet,  dass 
eine  Person  im  gewöhnlichen  Umgang  w^ohl  unter  ihrer  populären  Be- 
nennung, nicht  aber  unter  ihrem  Familiennameu,  bekannt  ist.  Man  findet 
es  leichter,  ein  Wort  zu  behalten,  das  dem  Geiste  etwas  sagt.  Der  wirk- 
liehe Name  ist  für  den  Volksgeist  zu  unbedeutend;  und  es  geht  diesen 
Namen,  wie  gewissen  Worten  aus  dem  gewöhnlichen  Wortschatz,  welche 
sich  allmählich  verlieren  unter  der  Konkurrenz  witzigerer  Wörter,  reicher 
an  Farbe  und  Ausdruck,  oder  solcher,  welche  zu  dem  Verstand  oder  der 
Einbildung  kräftiger  reden.  Das  Witzige,  das  ist  es  eben,  was  das  Volk 
in  seinen  Sprachveränderungen  beabsichtigt,  und  das  ist  ebenfalls  der 
Charakter,  unter  welchem  sich  die  scherzhaft  angewendeten  Eigennamen 
hervorthun. 

In  jeder  Sprache  sind,  anstatt  der  wesentlichen  Namen,  für  zahlreiche 
Sachen  andere  Namen  gebräuchlich,  welche  an  irgend  einen  frappierenden 
Zug  des  Gegenstandes  erinnern.  Auch  gemeine  Substantive  erleiden  und 
erlitten  in  früheren  Jahrhunderten  solche  Abänderungen.    Heutzutage  sasen 

O  DO 

wir  z.B.  pillendraaier  (=  Pillendreher)  für  Apotheker;  sabelsleeper 
(=  Säbelschlepper)  für  Soldat;  pennelikker  (=  Federlecker)  für  Beamte; 
steek  (=  Spitzhut),  Zwartrok  (=  Schwarzrock),  Hemeldragonder 
(=  Himmeldragoner)  für  Geistliche;  speldezoeker  (=  Stecknadelsucher) 
für  Polizeibeamte  u.  a.  m.  Breero,  ein  niederländischer  Lustspieldichter 
des  XVTL  Jahrhunderts,  nennt  den  Backofen  Swartjan  (Schwarzer  Johann). 
In  den  niederländischen  mittelalterlichen  Volksliedern  (Uoffmannn  v.  F., 
Horae  Belgicae,  II2,  n.  144)  heisst  ein  Schuhmacher  ein  peckedraet 
(=  Pechfaden),  ein  Schneider  eine  spetluis  (=  Stichlaus),  ein  Bäcker  ein 
kijkinoven    (=  Guck-in-den-Ofen),    ein  Küster   ein  klinckerdiclanc 


Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen.  417 

(vom  Glockenschall),  ein  Krüppel  ein  huppenstup  (von  huppen, 
hupp elen  =  hüpfen),  Benennungen,  welche  noch  heute  zum  Teil  bekannt 
sind.  Man  vergleiche  ein  schup  -  en -hessempie  (=  Schaufel-  und 
Beseuchen).  die  Overyselsche  Benennung  für  einen  Kärrner. 

Schläge  erhielten  in  der  Volkssprache  ebenfalls  komische  Namen.  All- 
gemein sagt  man  rottingolie  (--  Rohröl)  in  Holland,  und  vet(=Pett)in 
Flandern:  man  unterscheidet  handgeld  und  voetgeld,  auch  in  Deutsch- 
land Handgeld  und  Fersengeld;  kontfeest  (kont  =  Hintere)  in 
Limburg:  Vondel  (Warande  der  Dieren,  Ausg.  van  Lennep-Unger, 
p.  19.  vs.  14)  gebraucht  stokkenbrood  und  Breero  (Symen  vs.  372) 
stoevis  met  vuystloock  overgoten  (=  Stockfisch  mit  Faustlauch  über- 
gössen). Audi  der  Strick  wurde  so  zu  einem  hennipe  venster  (=  hänfen 
Fenster)  bei  Breero  (Koe,  vs.  8).  Im  Wallonischen  spricht  man  von  der 
cravate  di  fier  (=  eiserne  Kravatte)  für  Pranger  (Dejardin  et  De- 
frecheux,  Dict.  des  Spots  Wallons  n.  835). 

In  den  älteren  germanischen  Sprachen  findet  man  Misshandlungen  und 
Schläge  aufgefasst  als  Trank,  der  geschenkt  wird.  Bekannt  sind  die 
Worte  Reinharts  zu  seinem  Oheim  Brune,  der  im  Baume  gefangen  ist: 

(Vs.  705)    Hier  coomt  Lamfroit  ende  sal  u  scinken, 
Haddi  gheten,  so  soudi  drinken. 
(Hier  kommt  Lamfroit.  der  Euch  einschenken  wird: 
Bei  'der  Mahlzeit  muss  man  trinken.) 

Vs.  2172  kommt  der  Ausdruck  vor:  hier  brauwen,  auch  2175  mede 
blanden  (=  Meth  mischen),  und  Tibert  der  Kater  bruwt  dem  Fuchs 
cloosterbier  (vs.  1951).  Cfr.  noch  im  Nibelungenlied  1918,  4:  hie 
schenket  Hagne  daz  aller  wirsiste  traue;  und  im  Ludwigslied  53: 
Her  skaneta  cehanton  sinan  fianton  bitteres  lides.  --  Die  An- 
wendung von  tracteeren  (=  bewirten),  für  Schläge  geben,  musste  ganz 
natürlich  aus  solchen  Benennungen  hervorgehen. 

Im  Vorübergehen  will  ich  noch  auf  eine  andere  Art  farbenreicher 
Volksausdrücke  hinweisen.  In  seiner  Liebe  zu  witzigen  Redensarten  ge- 
braucht das  Volk  oft  Worter,  welche,  sonst  nur  für  heilige  Sachen  gebraucht, 
durch  eine  Anwendung  auf  ganz  menschliche  Handlungen  sozusagen  in  die 
Parodie  der  echten  und  ursprünglichen  Bedeutung  übergehen.  In  dieser 
Weise  heisst  das  Volk  eine  Reihe  Flüche  eine  litanie;  eine  Kneipe  ein 
kapelleken  in  Flandern,  ein  heilig  huisje  in  Holland:  eine  Flasche 
Wein  wird  zu  einer  zwarte  zuster  (=  schwarze  Schwester)  in  Flandern, 
und  in  Holland  zu  einem  Domin ee  (=  Pfarrer);  drei  untrennbare  Freunde 
heisst  man  die  heilige  Drievuldigheid  (=  H.  Dreifaltigkeit);  ist  eine 
ganze  Familie  durch  gewisse  gemeinschaftliche  Eigentümlichkeiten  gekenn- 
zeichnet, so  heisst  sie  bald  die  H.  Familie;  eine  Diarrhoe  wird  mit  einem 
Wortspiel  zum  vollen  aflaat  (=  Ablass);  das  Kartenspiel  heisst  bei  Breero 
(Symen  vs.  539)  de  Bijbel  met  52  Maren  (=  die  Bibel  mit  52  Blättern), 


418  üittce: 

und  für  ilie  zehn  Finger  besteht  die  komische  Benennung  de  tien  ge- 
boden  (die  zehn  Gebote),  ein  Ausdruck,  der  sein-  alt  ist,  da  er  sich  schon 
bei  Shakespeare  nachweisen  lässt.  In  Henry  VI  (2d  part,  A.  I,  Sc.  3) 
spricht  keine  Geringere  als  die  Herzogin  von  Gloster  diese  für  die  Sitten 
der  Zeit  sehr  bedeutungsvollen  Worte:  J'd  set  my  ten  commandraents 
in  your  face. 

In  mittelalterlichen  Urkunden  kommen  die  Beinamen  sehr  zahlreich 
vor,  ein  Beweis,  dass  diese  Neigung  schon  früh  bei  dem  Volke  thätig  war. 
Lächerlich  sind  dieselben  immer,  unverschämt  häufig.  Alte  Familienakten 
aus  Flandern  erwähnen  Personen  mit  Namen  als  De  Kromme  (krumm), 
De  Manke  (=  hinkend,  lahm),  De  Dikkop,  De  Kasse  oder  Bult 
(=  Buckel),  De  Bierbolle  (=  bolle  =  Kopf,  wahrscheinlich  =  Dickkopf) 
u.  a.  m.  In  den  Deventer  Cameraers  oder  Stadt- Rechnungen  werden 
Personen  genannt  wie  Calverstert  (=  Kalbsschwanz),  Peerdesvoet 
(=  Pferdefuss),  Schele  Heyn,  Lambert  mitten  enen  Haut,  Dyrickx 
wyf  mitten  oranghen  oghen,  ir.  s.  w. 

Wie  populär  solche  Namen  in  vorigen  Jahrhunderten  waren,  beweisen 
die  alten  niederländischen  Kluehten,  d.  i.  Schwanke,  welche  das  Volks- 
leben so  treu  schilderten.  Die  Beispiele  sind  zahlreich.  In  Breeros  Klucht 
van  de  Koe  tragen  fast  alle  die  Personen,  von  denen  die  Rede  ist.  einen 
Namen,  der  einer  körperlichen  oder  sittlichen  Eigentümlichkeit  entlehnt 
ist.  Vriesse  Grietze,  die  köstliche  Wirtin  zum  Swarte  Paert,  erzählt 
uns  (vs.  209)  von  dem  fröhlichen  Leben,  das  eine  Dirne  geführt  hat  mit 
Doove  Jas  (doof  =  taub),  mit  Maneke  Klaas,  mit  Droncke  Piet 
(dronken  =  trunken)  und  anderen.  Der  Tölpel,  der  sich  seine  Kuh 
stehlen  lässt,  und  sich  auf  den  Weg  macht,  um  sie  selbst  zu  veidcaufen, 
lehrt  uns,  was  für  ein  Mann  Lange  Dirck  ist,  der  reiche  Bauer,  und 
dessen  Tochter  Magre  Grietje,  um  welche  gefreit  wird  von  Pied  Quist- 
goed  (Peter  Verschwend- Gut),  welcher  es  „wohl  durchbringen  wird": 

....  Vreckebart  was  het  goet  te  vergaren  een  last, 
En  om  dat  op  te  krijgen,  had  Lichthart  nacht  noch  dag  rast  (vs.  363). 
(Geizbart  war's  eine  Lust,  das  Gut  zu  sammeln,  und  um  es  zu  verschwenden 
hatte  Leichtherz  weder  Nacht  noch  Tag  Ruhe.) 

An  einer  andern  Stelle  (Symen  vs.  395)  kommt  Pieter  driebochgelde 
neus  (Peter  mit  der  dreihöckerigen  Nase)  vor. 

In  vorigen  Jahrhunderten,  als  die  Civil-Register  noch  nicht  eingerichtet 
waren,  mussten  viele  solcher  Namen  dazu  dienen,  um  die  Personen  zu  unter- 
scheiden. Die  Freiheit  im  Ausdruck,  welche  die  mittelalterliche  Gesell- 
schaft kennzeichnet,  findet  sich  auch  in  den  angewendeten  Namen,  um  so 
mehr,  als  die  in  dieser  Weise  getauften  Personen  weder  Edelleute  noch 
Priester  waren  und  überhaupt  nicht  zu  den  höheren  Klassen  gehörten.  In 
dem  Masse,  wie  der  Begriff  der  Anständigkeit  sich  später  entwickelte, 
wurden    die    unsittlichen    Namen    geändert    oder    aufgegeben;    heute   aber 


Scherzhaft  gebildete  and  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen.  419 

finden  sich  deren  noch  mehrere,  welche  die  Berufung  an  den  Landesherrn 

rechtfertigen  würden '). 

In  der  Volkssprache  wird,  nicht  selten  als  Sprichwort  oder  Spruch, 
mancher  Eigenname  scherzhaft  angewendet,  um  einen  ganz  entgegen- 
gesetzten Begriff  hervorzurufen,  als  den  ausgedrückten. 

Vielfach  bestehen  dieselben  aus  einem  Wurzelwort  mit  einer  Endung. 

Ein  Geizhals  wird  also  in  Flandern  Gevaert  (geven  =  geben)  heissen, 
wobei  häufig  hinzugefügt  wird:  Gevaert  is  dood,  maar  Hebbaert  leeft 
nog  (=  Gebhart  ist  tot,  Habhart  lebt  aber  noch).  Ein  träger  Mensch  Jan 
Tijdgenoeg  (=  Johann  Zeitgenug);  wer  sich  wie  einen  Reichen  stellt, 
eigentlich  aber  nichts  besitzt,  der  Typus  des  armen  Edelmannes,  Baron 
Geegoed  (=  Kein  Gut,  accentuiert  auf  der  ersten  Silbe).  Er  führt  die 
Firma:  Pauvrete,  Misere  &  Cie. 

Dünkt  sich  jemand  sehr  klug,  so  nennt  man  ihn  Rappaert  (rap 
=  rasch,  klug)  oder  Slimbroeck  (slim  =  schlau,  klug),  oder  auch,  wie 
in  Limburg,  Slimmeke.  Oft  wird  alsdann  eine  Anspielung  auf  eine  der 
Heldenthaten  Slimmekes  hinzugefügt:  „Als  Slimmeke  dood  is,  heisst 
es.  zal  inen  u  Slimmeke  makeu;  Slimmeke  ging  voor  den  spiegel  staan, 
met  zijn  oogen  toe,  om  te  zieu  hoe  hij  er  uit  zag  terwijl  Inj  sliep!"  (Wenn 
S.  tot  sein  wird,  wird  man  dich  zum  S.  machen;  S.  stellte  sich  vor  den 
Spiegel,  mit  den  Augen  zu,  um  zu  sehen,  wie  er  aussah,  als  er  schlief.) 
In  Overijsel  kennt  man  Leepertje  (leep  =  schlau):  Als  Leepertien 
dood  is,  sbl  ie  Leepertien  wörren. 

Unartigen  Kindern  wird  versprochen,  dass  sie  mitgehen  werden  „op 
Thuisblij vers  (oder  Jan  Blijfthuisens)  wagen"  (thuis  =  zu  Hause; 
blijven  =  bleiben). 

Mittels  Zusammensetzungen  können  solche  Eigennamen  ebenfalls  ge- 
bildet werden,  ob  man  nun  entweder  mit  Adjektiven  und  Substantiven  den 
Gedanken  direkt  ausdrückt,  oder  ob  derselbe  nur  indirekt  hervorgerufen  wird 
durch  einen  Teil  des  Wortes.  Nicht  selten  dient  im  letzten  Fall  ein  Orts- 
name, er  bestehe  nun  als  Name  eines  wirklichen  Ortes  oder  sei  nur  ersonnen; 
darum  bekümmert  sich  der  Volksgeist  durchaus  nicht.  Viele  bestehenden 
Ortsnamen,  in  welchen  ein  Teil  zu  einem  Wortspiel  Anlass  geben  kann, 
werden  in  dieser  Weise  angewendet;  noch  zahlreicher  vielleicht  sind  die, 
welche  von  dem  Volkswitz  „geschmiedet"  werden. 

So  erhält  z.  B.  eine  Frau,  welche  wenig  weiss,  warum  die  Natur  ihr 
Lachmuskelu  geschenkt  hat,  in  der  Volkssprache  den  Namen:  Madam 
Moe-vaii-Lachen  (moe  =  müde).  Dem  nord-niederländischen  Sprach- 
gebrauch gemäss  gehört  sie  nach  Grimberg  (grim  =  grimmig)  zu  Hause, 
oder  ist  vielleicht  zu  Botterdam,  der  Stadt  der  botteriken  (bot  =  plump), 


1)    S.    Van   Hoorebeke,    Etüde    suv   les   Noms   patronymiques    flamands 
(1870)  p.  2G4. 


420  Gittee: 

getauft  worden.  Übrigens,  sagt  De  Brune,  ein  jetzt  fast  vergessener 
Schriftsteller  des  XVII.  Jahrhunderts,  „men  vind  menschen,  die  alles  op 
het  wrevelighste  nernen  en  op  het  schots  duyden,  wat  haar  voorkomt;  die 
gheen  ander  vaart  en  hebben  als  op  Spitsbergen  om  haecken  en  harpoenen 
te  ghebruycken".  Das  Wortspiel  liegt  in  schots  (von  schiessen)  und  in 
S  p  i  t s b  e  r g e n  (=  spitz). 

Solch  eine  Dame  ist  gewiss  eine  Nichte  der  Madam  van  Kwikkel- 
berge  (kwikkelen.  vlämisch  für  pruttelen  =  murren)  oder  der  Vrouw 
Snavelsnel  (=  Schnabelschnell);  und  sie  hat  vielleicht  Verwandte  im 
„Hause  zu  Klappenburg,  wohin  dir  Plauderer  (klappen  =  plaudern) 
gehören",  welche  immer  allerlei  Neues  mitzuteilen   haben. 

Sie  haben  inzwischen  gut  Acht  zu  geben,  denn  neben  Klappenburg 
liegt  Kloppenburg.  d.h.  der  Ort.  wo  kloppen  oder  klappen  (=  Klapfe, 
Schläge)  ausgeteilt  werden. 

Es  ist  daher  vorsichtiger,  mit  den  Schweigsamen  nach  Zwijgland  zu 
gehören. 

Sonderbar  ist  auch  der  Eigenname,  welcher  angewendet  wird,  wenn 
ein  heiratsfähiges  Mädchen  sich,  in  Worten  wenigstens,  stellt,  als  ob  sie 
der  Heirat  abgeneigt  sei.  ..Ja."  sagt  der  Volkswitz,  „warte  nur  bis  Jan 
van  Pas  (van  pas  =  zur  gehörigen  Stunde)  sich  einstellt".  Bei  derselben 
Gelegenheit  gab  De  Brune  die  folgende  Warnung  an  Mädchen,  welche  sich 
all  zu  wählerisch  zeigen:  „Passt  nur  gut  auf,  dass  es  euch  nicht  gehe  wie 
Freiern,  welche  am  keurboom  (=  Wahlbaum)  vorübergehend,  nachher 
mit  vuylboom  (=  Faulbaum)  vorlieb  nehmen  müssen."  Und  dann  geraten 
dergleichen  oft  in  den  Zorghoeck  (=  Sorge;  hoeck  =  Ecke). 

Ein  heiratslustiges  Fräulein  heisst  bei  Breero  (Symen  vs.  339)  Lijsje 
waar  is  Jan?  (Lijsje  =  Elisabeth).  Ebenso  bei  Coster,  einem  andern 
dramatischen  Dichter  des  XVII.  Jahrhunderts  (Teeuwis  vs.  363).  In  alten 
Schwänken  ist  Lijsje  ziemlich  allgemein  der  Name  der  Frau,  ebenso  wie 
Jan  für  den  Mann;  in  verschiedenen  Gegenden,  unter  andern  in  Flandern 
und  Overysel.  sagt  man  heutzutage  meistens  Trien  (=  Trine):'  z.B.  een 
gekke  Trien,  een  domme  Trien,  een  holte  (=  hölzerne)  Trien;  Tjanne 
(=  Johanna)  für  eine  Bäuerin,  Pect  oder  Pee  (=  Peter)  für  einen  Bauern. 

Allgemeiu  im  Gebrauch  ist  noch  die  Benamung  Kruidje-roer-mij- 
niet  (=  Kräutchen  rühr-mich-nicht-an)  für  einen  unduldsamen  Menschen. 
Teuntje  Beert  mij  niet  (Teuntje  =  Anton)  bei  Breero  (Symen  vs.  246) 
zeigt  sich  als  nicht  besonders  umgänglich  und  schilt  auch  Symen  tüchtig 
den  Rücken  voll.  Im  Französischen  kennt  man  auch  Mamzelle  Nitouche 
(=  n'y  touche). 

Busken  Huet,  der  Verfasser  von  Lidewijde,  spricht  daselbst  (p.  230) 
von  einer  Juffrouw  ongeloof  (=  Fräulein  Unglauben).  Er  schrieb  eine 
Minuskel:  es  scheint  aber  unzweifelhaft,  dass  es  ein  ranz  in  solcher  Weise 
gebildeter  ersonnener  Eigenname  sei. 


Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen.  421 

Zu  derselben  Klasse  gehört,  der  Schütze  aus  dem  west-vlämischen 
Sprichwort:  Bykans  (=  Beinahe)  schoss  einen  Spatzen,  er  traf  ihn  aber 
nicht. 

Mit  einem  klassischen  Anstrich  wird  das  Publikum  zum  Heer  Omnes, 
bei  Breero  (Griane  2759,  Molenaer  17)  gebraucht  als  gemeines  Sub- 
stantiv.   „Het  heromuenes  is  van  alle  deught  vervremt",  sagt  Triin  Jans. 

Der  heutige  Sprachgebrauch  sagt  in  demselben  ungünstigen  Sinn  Jan 
Alleman. 

Nicht  nur  für  Personen  werden  derartige  Namen  ersonnen:  auch  für 
Tiere  und  Sachen,  sogar  für  gewisse  Handlungen. 

Ein  Hund  z.  B.,  welchen  man  als  hässlich  bezeichnen  will,  heisst 
Te-lang-uit-'t-water  (=  Zu  lange  aus  dem  Wasser). 

Will  man  ausdrücken,  dass  man  für  etwas  gleichgültig  ist,  dann  ersinnt 
der  Volkswitz  eine  Hausinschrift  und  sagt  in  Flandern:  Ich  wohne  in't 
Plezierken  (demin.  v.  plezier  =  frz.  plaisir).  Dieser  Ausdruck  ist  ge- 
gründet auf  die  Antwort:  dat  doet  me  plezier  (=  das  macht  mir  Vergnügen), 
in  manchem  Falle  ein  Euphemisni  für:  das  ist  mir  egal. 

Ein  „Spei  van  Bedriegt-den-boer"  (=  betrügt  den  Bauern)  ist  eine 
Redensart,  welche  in  Flandern  oft  auf  den  politischen  Streit  angewendet 
wird:  im  besonderen,  wenn  von  den  Zinsen  die  Rede  ist.  wobei  stets  auf 
ein  Volkslied  angespielt  wird  mit  dem  Refrain:  „De  boer  zal't  al  be- 
talen".  Hiermit  wird  darauf  hingedeutet,  dass  die  Grossen  am  Staats- 
ruder den  gemeinen  Mann  bei  der  Nase  führen:  kein  Wunder  also,  dass 
der  spottlustige  Volksgeist  für  die  ganze  Komödie  (denn  spei  muss  hier 
in  seiner  mittelalterlichen  Bedeutung  gefasst  werden)  einen  Namen  ersann. 

Ebenfalls  ein  fiktives  Spiel  ist.  diesmal  aber  in  der  eigentlichen  Be- 
deutung des  Wortes,  das  von  Breero  (Koe  vs.  42)  gemeinte,  wenn  er  sagt: 
„Haesop  na  Kuilenburg  speien".  Das  bedeutet  nämlich  flüchten  (von  haas 
=  Hase)  nach  dem  Freiplatz  (Asyl)  Kuilenburg  in  Geldern. 

Ein  ersonnenes  Lied  wird  erwähnt  von  Breero  (Koe  vs.  434)  und 
anderen  in  einem  Ausdruck  für  Festfeiern  und  trinken:  van  Aaltge 
singen.  Hiermit  wird  angespielt  auf  den  Frauennamen  Adelheid,  zu 
gleicher  Zeit  aber  auf  das  mittelndl.  ale,  eine  Art  Bier  (cf.  engl.  ale). 

Noch  muss  der  freie  Ausdruck  erwähnt  werden,  „den  Lubbert  in  de 
wei  baten"  (Breero,  Koe  vs.  514),  ein  Wortspiel  zwischen  dem  Manns- 
namen Lubbert  und  dem  jetzt  veralteten  lubbe  oder  lobbe  (=  das 
männliche  Glied),  wovon  noch  lubben  (=  kastrieren). 

II. 

Zahlreiche  Namen  von  wirklich  bestehenden  Orten,  welche  an  allgemein 
o-angbare  Wörter  erinnern,  luden  gewissermassen  zu  solchem  Scherz  ein. 
Derartige    sind    z.    B.    Bettingen    in    Schwaben    und    Dummsdorf    in 


422 


i  rittee: 


Sachsen.  Neben  den  bestehenden  bildete  die  Volkssprache  deren  eine 
Menge  anderer. 

Wünscht  man  auszudrücken,  dass  man  etwas  ungenau  auffasst,  so  wird 
im  besonderen  auf  die  Redensart  „ich  meine  es"  geantwortet:  „Meenen 
lio-t  bij  Kortrijk".  Täglich  hört  man  diese  komische  Antwort  in  Flan- 
dern, welche  an  zwei  dort  bestehende  Städtchen  erinnert.  Auch  „Meenen 
und  missen  (sich  irren)  fangen  mit  demselben  Buchstaben  an".  In  der 
letzten  Redensart  beruht  das  Wortspiel  nicht  mehr  auf  dem  Ortsnamen 
Meenen,  sondern  auf  dem  Verbum.  Im  bolspel  (ein  flandrisches  Spiel 
mit  hölzernen  Scheiben,  bollen  genannt)  wird  zu  einem  gesagt,  der  zu 
kurz  wirft:  Ge  zijt  van  Kortrijk  (kort  =  kurz). 

Kortrijk  wird  ebenfalls  in  Verbindung  gebracht  mit  dem  Ortsnamen 
Düren  in  Deutschland:  Düren  (der  Stadtname  oder  das  Verbum  =  dauern), 
heisst  es,  is  eene  schoone  stad,  maar  Kortrijk  (d.  i.  kurzes  Reich)  ligt 
er  over  (oder:  dicht  bij).  In  Holland  heisst  die  Redensart:  Düren  is 
eene  schoone  stad,  die  aan  het  Sparen  (=  Plussname  in  Nord-Holland, 
oder  Verbum  =  sparen)  ligt.  De  Potter  (Het  Boek  der  Vermaarde 
Uithangborden,  Gent  1861,  p.  33)  erwähnt  folgende  Aufschrift  einer 
Kneipe  in  Plaudern: 

In  Düren  tapt  men  lekker  nat: 
Is  Düren  niet  een  schoone  stad? 

Ptwas  Unwahrscheinliches,  Unmögliches  oder  Unwahres  ist.  sagt  die 
vlämische  Volksrede,  geschehen  zu  Waregem  und  erzählt  zu  Lcugegem 
(leugen  =  Lüge),  oder  ausgeläutet  zu  Sottegem  (zot  =  Geck).  Waregem 
und  Sottegem  sind  zwei  Dörfer  in  Flandern;  das  andere  Leugegem 
würde  man  vergebens  auf  der  Karte  suchen.  Beim  Ersinnen  half  das  be- 
stehende Leupegem  in  Flandern  nach. 

Für  einen  Gecken  musste  natürlich  das  Wort  mit  Sottegem  an- 
gewendet werden:  „Der  kommt  aus  Sottegem":  auch  geht  die  Uhr  oft 
„mit  Sottegem". 

Man  kommt  „von  Teriiath"  (in  Brabant)  wenn  man  mit  nassen 
(=  nat)  Kleidern  nach  Hause  kehrt. 

Wenn  die  flandrischen  Bauernknechte  zu  Mittag  essen,  trinken  sie 
alle  aus  einem  Glas;  wer  zuletzt  trinkt,  muss  dem  folgenden  einschenken. 
Unterlässt  er  dies,  so  vergreift  er  sich  an  allen  Regeln  der  Anständigkeit 
und  es  wird  von  ihm  gesagt,  er  sei  aus  Bottelare  (bot  =  plump),  einem 
Dorf  in  Flandern. 

Wer  dummes  Zeug  redet,  ist  aus  Seevergem  (in  Ost-Flandern).  In 
dieser  Bedeutung  (plappern)  gebraucht  noch  heute  der  Flamländer  das  noch 
bei  Breero  vorkommende  Verbum  zeevereu. 

In  Holland  ist,  nach  De  Brune.  von  den  Einwohnern  des  Seebades 
Domburi;  in  Walcheren  nicht  viel  zu  erwarten: 


Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen.  423 

Dio  wysheid  ran  een  dwaes  begheert, 
Die  is  ooek  zelfs  die  name  weerdt. 
(Wer   Weisheit    von   einem  Narren  begehrt,    der   verdient  selber  auch  diesen 
Namen.) 

Merkwürdig  ist  die  Verwendung  eines  sehr  verbreiteten  Schwankes,  zu 
welcher  dieser  Stadtname  Anlass  gab.  Dass  eine  Sage  entsteht  als  Er- 
klärung eines  Ortsnamens,  geschieht _  öfter,  wie  wir  weiter  noch  sehen 
werden;  dass  aber  ein  Schildbürgerstreich  zu  diesem  Zweck  angewendet 
wird,  ist  nicht  sehr  gewöhnlich. 

Über  die  Ableitung  des  Namens  des  Städtchens  Domburg  wurde  ver- 
schiedenes aufgestellt.  Nach  der  ältesten  Schreibart  üumnburch  in  einer 
Verordnung  aus  dem  Jahre  1223  hat  man  gesucht,  denselben  auf  domini- 
burg  zurückzuführen,  Burg  des  Landesherrn,  oder  auf  doemburg,  Burg 
wo  gedoemd,  i.  e.  Recht  gesprochen  (cf.  engl,  to  doom)  wurde.  Andere 
suchten  darin  dilinburg  (duin  =  Düne).  Der  Volkshumor  weiss,  wo 
nicht  etwas  Besseres,  dann  doch  etwas  Ergötzlicheres. 

Der  Name  entstand  nämlich  beim  Kirchbau.  Man  suchte  da  mit  viel 
Mühe,  aber  vergebens,  einen  langen  Balken  in  der  Quere  durch  eine  Thür- 
öffnuug  hineinzubringen.  Zu  gleicher  Zeit  sah  man  einen  Vogel  mit  einem 
langen  Strohhalm  im  Schnabel  in  ein  Loch  der  Mauer  fliegen  und  be- 
merkte, dass  der  Vogel  den  Halm  nicht  in  der  Quere,  sondern  der  Länge 
nach  trug,  und  da  war  ihnen  geholfen.  Die  Leute  waren  erstaunt  über 
das  einfache  Mittel  und  konnten  nicht  umhin  auszurufen:  Wat  zijn  we 
toch  domme  burgers!  und  so  wurde  der  Ort  Domburg  genannt1). 

De  Brune  lässt  einen  Mann,  der  zu  einem  solchen  Ort  gehört,  in  seinem 
Boec  der  Amoreusheyt  erklären: 

Plomp  sonder  arch,  myn  Heeren, 

Dats  rnynen  name,  wildyt  weten. 

Ick  hebbe  oyt  al  te  gheerne  wittinghen  gheten, 

"Want  te  Malleghem  ben  ik  ghebroet, 

Ende  die  van  Sotteghem  hebben  my  ghevoet, 

Met  suyvele  van  den  Keiberschen  driessche. 

d.  h.  Plump  ohne  Argwohn,  meine  Herren,  das  ist  mein  Name,  müsst  ihr 
wissen;  ich  habe  immer  zu  gerne  Weissfisch  (Wortspiel  zwischen  wit 
=  weiss  und  weten  =  wissen)  gegessen,  denn  zu  Malleghem  (mal  =  dumm) 
bin  ich  ausgebrütet  worden,  und  die  von  Sotteghem  haben  mich  gefüttert 
mit  Butter  und  Käse  von  dem  „Keybergscheu  Driesch". 

Van  Dale  (Taalgids  VIII,  p.  146),  sprach  mit  Recht  die  Meinung  aus 
dass  auch  de  Keyber(g)sche  driesch,  d.h.  K.'sche  Wiese,  zu  den  scherz- 
haft gebildeten  Namen  gehört,  wiewohl  in  Gelderland  ein  Weiler  Keien- 
borch  besteht.    In  mancher  Redensart  kommt  das  Substantiv  kei  (=  Kiesel) 


1)    Kesteloo,  Domburg'  en  zijne  Gesehiedenis.  Middelburg  1890,  p.  3. 


424  Gittee: 

yor  in  Verbindung  mit  Thorheit  und  Albernheit,  Man  sagt  z.B.:  hij  h«eft 
een  kei  in't  hoofd;  hij  is  met  den  kei  gekweld  (=  gequält):  een 
kei  van  een  vent  (=  .Mann).  In  einem  Schauspiel  von  1561  heisst  eine 
der  Personen  „Maes  van  Keyendaal".  Vielleicht  geht  dieses  Kei  zurück 
auf  den  Artusritter  Keye.  der  zwar  ein  tapferer  Degen,  aber  durch  seine 
Spottsucht  verhasst  war.  Im  Jahre  1661  erschien  de  Keyklucht  van 
.Tock  eu  Ernst  von  Freiherrn  Everard  Meyster.  (Über  Keye  s. 
J.  te  Winkel,  Geschiedenis  der  Xederl.  Letterk.  I.  p.  181). 

Plompardye  (von  plomp  =  plump)  gehört  ebenfalls  zu  dieser  ein- 
gebildeten Welt.  „Men  vindt,  sagt  de  Brune.  groote  lichamen  uit  Plom- 
pardye zoo  grof  als  boonstroo,  die  niet  een  greintjen  zouts  en  hebben." 
Für  einen  Thoren  besteht  das  Sprichwort:  Er  kommt  von  Plompardye, 
nicht  von  Scherpenisse  (scherp  =  scharf)1). 

Dieses  Scherpenisse,  gebildet  nach  Ortsnamen  wie  Hontenisse  in 
Zeeland,  liegt  gewiss  am  andern  Ende  jenes  Landes.  *In  der  Nähe  liegt 
der  Geburtsort  der  Betrüger:  man  muss,  sagt  wieder  De  Bruue,  aus 
Schalckeroort  oder  Vosmeer  (vos  =  Fuchs)  sein,  um  durch  die  Welt 
zu  kommen. 

Es  ist  begreiflich,  dass  die  Wortspiele,  in  welchen  Geiz  und  Habsucht 
bespottet  werden,  zahlreich  sind. 

Sehr  bekannt  ist  z.  B.:  Hij  is  uit  't  land  van  Cleven.  wobei  an 
kleven  (kleben)  gedacht  wird.  In  Holland  wird  auch  gesagt:  Hij  is  van 
de  Familie  van  Van  Kleef.  und  mit  einem  Reim  wird  hinzugefügt:  hij 
houdt  van  de  heb.  maar  niet  van  de  geef  (er  hält  vom  Halten,  nicht 
vom  Geben). 

In  Flandern  lautet  das  Reimchen: 

Hij  is  van  Bevor, 
Licver  houder  dan  gever. 

Bever  (e,  en)  ist  der  Name  verschiedener  Dörfer  in  Flandern:  er  kam 
im  Reim  zu  statten. 

Ein  Geizhals  (=  vrek)  kommt  in  Flandern  von  Yreckhem.  einem 
Weiler  in  Ost-Flandern:  schon  oben  wurde  Yreckebaert  aus  Breeros 
Klucht  van  de  Koe  erwähnt. 

In  demselben  Lustspiel  lässt  er  einen  Mann  aus  der  nämlichen  Familie 
„varen  op  Cape  de  Gryps"  (vs.  28).  Dieses  Kap  stellt  natürlich  nur  auf 
der  Karte  der  Habgierigen  (Gryps  von  grijpen  =  greifen).  In  Flandern 
lebt  dieser  Ausdruck  noch  fort  unter  der  durch  Volksetymologie  ent- 
standenen Form  von  Pak-ende-gryp.  Im  Deutschen  sagt  man:  Er  ist 
vom  Stamme  Nimm. 

Geringe  Leute,  sowie  die  Sippe  des  schon  erwähnten  Baron  Geegoed, 
werden  ebenfalls  vom  Volkshumor  bedacht. 


1)    Harrebomee,  Spreekwoordenboek. 


Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen.  425 

Solche  sind  die  „poorters  van  Nergenshuizen  in  Geenland"  (=Bürger 
von  Nirgendshausen  in  Keinland);  unter  diesen  hebt  ein  Lustspiel  aus 
dem  Anfang  des  XVIII.  Jahrhunderts  einen  „Graaf  van  Nergenshuizen" 

hervor. 

Der  Typus  des  Vagabunden,  der  „Heer  van  Bystervelt",  erfreut  sich 
eines  ehrwürdigen  Alters.  Er  kommt  schon  vor  in  dem  vlämischen  „rede- 
rijker"  A.  De  Roovere,   der  in  seinen  Rhetorischen  Werken  schreibt: 

Tvolck  was  ghestelt,  tis  im  confuys, 

AI  sonder  ghelt  en  sonder  cruys 

Al(s)  Bystervelt,  daer  is  graen  noch  gruys. 

d.  h.  Das  Volk  war  (darum  ist  es  verwirrt)  durchaus  ohne  Geld  und  Kreuz 
wie  Bystervelt:  da  giebt  es  weder  Korn  noch  Grütze. 

Bystervelt  besteht  noch  als  der  Name  von  zwei  Weilern  in  Holland. 
Es  bedeutet:  ein  wüstes  und  wertloses  Stück  Land.  In  einem  Brief  der 
Stadt  Zwolle  au  Kämpen  von  1671  wird  gesprochen  von  Ländereien,  welche 
„byster  en  onbeheert"  liegen,  und  in  Zwolleschen  Prozessakten  von  einem 
„voormaals  bijstere,  dog  im  wederom  beheerde  dijk"  (=  Damm). 

Und  in  dem  „Opregte  Zandvoorder  Speelwagen",  einem  alten  Lieder- 
buch, heisst  es  weiter: 

Hoe  siegt  is  't  nu  met  my  gesteld, 

Ik  leef  als  heer  van  Bystervelt, 

Ik  heb  gheen  geld  noch  eenig  pand  .... 

(d.  i.  Wie   schlecht   ist  es  jetzt  mit  mir  bestellt,   ich  lebe  wie  der  Herr 
von  B.,  ich  habe  weder  Geld  noch  irgend  eine  Habe  .  .  .) 

Glücklicherweise,  sagt  De  Brune,  giebt  es  noch  Hausfrauen  „in  de  konst 
van  zuyniglieid  (Sparsamkeit)  ervaren  en  die  de  reyse  naar  Hongeryen 
(Wortspiel  mit  Hongarije  =  Ungarn  und  Hunger)  door  spaarzaamheyt 
beletten"  (=  verhindern). 

Die  Begierde  nach  Geld  fand  eine  Personifikation  in  Teeuwen 
Zoeck-geldt  (=  Matheus  Suchgeld),  eine  Person  ebenfalls  aus  De  Brune. 
Teeuwen  geriet  aber  nicht  dahin,  wohin  er  wollte,  denn:  „Teeuwen 
Zoeck-geldt  al  zijn  vermögen  te  koste  ghelegt  hebbende  om  zeker  rijck 
en  leelick  wijf  op  sijn  dam  te  krijghen,  naer  dat  hy  een  ghekoppelt  schaep 
gheworden  was,  moest  hy  somtyds  hooren,  dat  hy  Schoonhoven  ghemist 
en  te  Leelickendam  gherocht  was"  (d.  h.  nachdem  T.  Z.  all  sein  Vermögen 
zu  Grunde  gerichtet  hatte,  um  ein  gewisses  reiches  und  hässliches  Weib  auf 
seine  Seite  zu  kriegen,  musste  er,  als  er  ein  „gekuppeltes  Schaf"  geworden 
war,  bisweilen  hören,  dass  er  Schoonhoven,  d.  i.  Schönhof,  verfehlt  und 
nach  Leelickendam,  d.  i.  Hässlichendamm,  geraten  war). 

De  Brune  tröstet  unsern  Helden  an  einer  andern  Stelle  seines  Werkes 
und  bemerkt  mit  Recht:  „Liever  noch  Mevrouw  van  Leelickendam, 
die  wat  in  de  melk  te  brocken  heeft,  als  31  ad  am  e  van  Schoonhoven, 
daer  de  kasse  schoon  en  ledigh  is  (d.  i.  lieber  noch  Frau  von  L.,  die  etwas 


426  Gittee: 

in  die  3Iilc.li  zu  brocken  hat,  als  die  Dame  von  S.,  wo  der  Schrank  schön 
und  leer  ist).  In  einem  solchen  Haus,  sagt  Breero  (Spaansche  Bra- 
bander  vs.  487)  „wordt  honger  ghebakken  en  dorst  ghebrouwen". 
—  Auch  das  Sprichwort  kennt  dasselbe:  „bei  Schraalhans  (von  Schraal 
=  dürftig,  mager)  ist  Magerman  Koch,  und  Magermans  Gäste  überessen 
sich  selten". 

Essen  und  Festfeiern  und  beider  Folgen  nehmen  im  Volkshumor,  so 
wie  man  sieht,  eine  grosse  Stelle  ein.  Sich  mal  etwas  recht  Gutes  anthun, 
liebt  der  Mensch  gar  sehr,  man  wohne  auch  „in  den  Penninckhoeck 
(=  Pfennigecke).  Schon  De  Brune  nennt  die  Herren  Smeermond 
(smeer  =  schmieren)  und  Spaermond,  welcher  letztere  jenem  Haus  und 
Erbe  abkauft.  In  Flandern  ist  noch  heute  Lammeke  Smeerbuik 
(Lammeke  von  Guillaume  =  Wilhelm;  Smeerbuik  =  Schmierbauch) 
sehr  populär. 

Gewisse  Menschen  taugen  nur  dazu,  des  Lebens  zu  gemessen;  unter 
andern  Jufvrouw  Nietenburg  (niet  =  nichts),  die  ein  Lustspieldichter 
des  XVII.  Jahrhunderts  auftreten  lässt:  „Jufvrouw  Nietenburg",  sagt 
der  Vater  in  W.  de  Geests  Manzieke  Vrijster  zu  seiner  Tochter,  welche 
sich  nicht  anständig  beträgt,  „was  willst  du  unternehmen?  Bist  du  im  Stande 
dir  die  Kost  zu  gewinnen?" 

Der  vlämische  Volkshumor  hat  sogar  einen  komischen  Gerichtshof  er- 
sonnen, der  seinen  Sitz  hat  zu  Gheel,  einem  Flecken  in  der  Provinz 
Antwerpen.  Es  besteht  an  diesem  Orte  eine  Anstalt  für  Irrsinnige  und 
daher  ist  Gheel  der  Geburtsort  und  auch  der  Aufenthalt  aller  Thorheit. 
Die  Einwohner  der  Stadt  Mecheln  hielten  einmal  das  Licht  des  Mondes 
auf  ihrem  Turme  für  einen  Feuerbrand  und  eilten  herbei  mit  Eimern  und 
Spritzen.  Als  dieser  Vorfall  im  Lande  bekannt  wurde,  regnete  es  Spott- 
schriften. Eine  dieser  berief  die  Mechler  vor  den  Grossen  Rat  von  Gheel, 
welcher  für  diese  Gelegenheit  zusammengesetzt  wurde  aus  edlen  Herren, 
wie  die  Herren  von  Apegem  (aap  =  Affe),  die  Grafen  von  Bottegem. 
von  Dul-en-Dwaes  (dul,  dwaas  =  dumm,  albern)  und  von  Sottegeni. 

Eine  andere  Gattung  von  Äusserungen  des  Volksscherzes  umfasst  die 
Eigennamen,  welche  an  die  letzte  Ruhestelle  erinnern. 

Jemanden  zu  „Blijenberge"  beerdigen,  erklärt  sich  aus  dem  Wort- 
spiel mit  blij  (=  froh,  cf.  engl,  blithe).  Als  Ortsname  erscheint  es  au  einem 
Weiler  bei  Löwen. 

Denselben  Gedanken  drückt  der  Volkswitz  aus  durch  den  Namen 
des  Dorfes  Lovendeghem  bei  Gent,  wobei  an  loven  (=  loben)  zu 
denken  ist. 

Die  fiktiven  Eigennamen  für  das  Jenseits  rufen  in  ganz  prosaischer 
Weise  den  Gedanken  an  den  traurigen  Aufenthalt  unserer  körperlichen 
Hülle  hervor. 


Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen.  427 

Man  geht,  safft  das  Volk,  wenn  man  stirbt  oder  Anstalten  dazu  macht, 
nach  dem  Pierenland,  d.  h.  dem  Lande  der  Erdwürmer,  oder  nach 
dem  Mollenland  (dem  Lande  der  Maulwürfe).  Ebenso  spricht  der  Fran- 
zose von  dem  Pays  des  Taupes  und  der  Wallone  von  dem  Pays  des 
Foyans  (foyan  =  Maulwurf)  oder  von  dem  Pays  des  Viers  (Vier 
=  Wurm). 

In  Holland  wird,  um  denselben  Gedanken  zu  äussern,  angespielt  auf 
Ortsnamen  wie  Kuilenburg  (kuil  =  Grube),  Aardenburg  in  See- 
ländisch-Flandern  (aarde  =  Erde);  oder  auf  Zandwerven,  einen  Weiler 
in  Nord -Holland. 

Nur  mit  einem  Wort  sei  liier  noch  erwähnt,  dass  der  Volkswitz  auch 
bei  andern  Völkern   in   ganz  denselben  Fällen  dergleichen  Namen  ersann. 

Das  Zubettgehen  wird  oft  durch  einen  humoristischen  geographischen 
Namen  ausgedrückt.  An  vielen  Orten  Deutsehlands  spricht  man  von  „nach 
Bethlehem  gehen",  obschon  diese  Redensart  auch  zuweilen  angewendet 
wird,  um  den  Begriff  des  Betteins  auszudrücken.  In  Thüringen  kennt 
man  Bettenhausen,  auch  Federhausen;  in  Sachsen  „nach  Ruhland 
gehen",  ebenso  in  Amsterdam  naar  Rusland  gaan,  mit  einem  Wortspiel 
auf  rust  (Rast);  im  Elsass  „nach  Bettli-Alp",  zu  Basel  und  in  Schwaben 
„nach  Bettingen",  ein  dort  vorkommender  Ortsname.  Ein  Geizhals  kommt 
in  Deutschland  oft  aus  Anhalt  oder  aus  Holfast.  Wenn  etwas  ohne 
Kosten  angeschafft  wird,  kommt  es  in  Nord- Deutschland  aus  Kostnitz. 
Wer  sich  gern  rühmt,  ist  aus  Rom,  und  wer  sich  dumm  anstellt,  ist  aus 
Domnau  oder,  in  Sachsen,  aus  Dummsdorf. 

Der  Franzose,  mit  einem  Wortspiel  auf  äne  (Esel),  sagt  in  diesem 
Fall:  Tu  as  fait  ton  cours  h  Asnieres  (spr.  Anieres,  bei  Paris). 

Hat  man  Eile,  so  „gehört  man  nach  Eilenburg"  oder  „nach  Eilau"; 
in  Flandern  „hat  man  von  Loopegem"  (hebben  van  mit  einem  Orts- 
namen bedeutet:  die  Krankheit  haben  von  dem  angedeuteten  Orte,  in 
welchem  Fall  der  dort  verehrte  Heilige  Hilfe  bringt).  Wer  nicht  viel 
spricht,  ist  von  Stumstorf,  einem  Ort  in  der  Nähe  von  Halle  a.  S.,  und 
wer  arm  ist,  „geht  nach  Strassburg  auf  die  Hochzeit".  Wer  mehr  über 
diese  Bildungen  wünscht,  schlage  Andresen  nach  (Über  Volksetymologie. 
4.  Aufl.  p.  74  u.  ßg.) 

HI. 

Der  spottlustige  Volksgeist  hat,  in  den  Niederlanden  wie  überall,  und 
ohne  damit  ein  Zeugnis  der  Ehrfurchtlosigkeit  oder  des  Unglaubens  abzu- 
legen, Heilige  ersonnen  als  Vertreter  gewisser  Leidenschaften,  Neigungen 
und  Laster.  Sinte  Luyaert  (=  Sankt  Faulenzer),  der  in  den  Nieder- 
ländischen Volksliedern  so  oft  vorkommt,  kann  als  Beispiel  dienen  für 
diese  Kategorie  der  Volksscköpfungen. 


428  ,;>tte^ : 

Zuerst  aber  eine  Bemerkung. 

Volkssprache  und  Volksglauben  hängen  eng  miteinander  zusammen 
und  üben  aufeinander  einen  gewissen  Einfluss  aus.  Der  Laut  vermochte 
in  manchem  Fall  einen  bestehenden  Glauben  zu  ändern,  ja  genügte  bis- 
weilen, um  gewisse  Glaubensvorstellungen  entstehen  zu  lassen;  anderer- 
seits bildete  sich  manches  Wort,  mancher  Name  als  direkter  Ausfluss  des 
bestehenden  Glaubens.  Diese  beiden  Seiten  der  Einwirkung  aufeinander, 
des  Wortes  und  der  Sache,  erklären  die  Schöpfung  von  zahlreichen  That- 
sachen  in  dem  Volkshumor,   im  speciellen  in  Hinsicht  des  Heiligenkultus. 

Wenn  der  H.Valentin  in  Deutschland  der  Schutzpatron  gegen  Fall- 
sucht oder  Epilepsie  ist;  S.  Blasius  in  Flandern  die  Geschwüre  oder 
huidblaasjes  heilt,  und  in  Dänemark  gegen  den  blasenden  Wind  be- 
schützt: S.  Lambertus  angerufen  wird  gegen  Lahmheit;  S.  Bosa  gegen 
die  Böse  (d.  i.  den  Botlauf):  Ste.  Ciaire  in  Frankreich,  um  klarsehend 
zu  werden;  wenn  St.  Cloud  dort  die  Geschwüre,  im  Französischen  clou, 
zu  seiner  Specialität  hat;  so  stehen  wir  hier  vor  Ideen,  welche  nur  auf 
dem  beruhen,  was  man  ein  mythologisches  Wortspiel  nennen  könnte. 

Dass  dieser  schöpferische  Einfluss  des  Lautes  schon  im  Jahre  1566  be- 
achtet wurde,  darf  einigermassen  seltsam  scheinen.  Das  Zeugnis  des  Fran- 
zosen Henri  Estienne  hierüber  ist  sehr  merkwürdig,  wenigstens  für  diese  Zeit. 
„A  quelques  saincts,  sagt  er,  on  a  assigne  les  Offices  suivant  leurs  noms, 
comme  (pour  exemple)  quant  aux  saincts  medecins,  on  a  avise  que  tel 
sainct  guariroit  de  la  maladie  qui  avoit  un  nom  approchant  du  sien1)". 

Umgekehrt  giebt  es  Heilige,  für  die  ein  Beiname  ersonnen  wurde, 
gebildet  nach  der  Verehrung,  deren  Gegenstand  dieselben  waren.  Numen, 
nomen!  Der  Beiname  hat  manchmal  den  echten  Namen  verdrängt.  So 
kennt  man  in  Frankreich  St.  Criard,  der  die  schreienden  Kinder  heilt; 
St.  Languit,  St.  Vivra,  St.  Mort,  drei  Heilige,  welche  zu  Bäte  gezogen 
werden,  wenn  man  den  Verlauf  einer  Krankheit  kennen  will:  St.  Estropie 
und  andere  mehr;  alles  Heilige,  deren  wahrer  Name  in  Vergessenheit  ge- 
raten ist. 

Es  kann,  gegenüber  solchen  Schöpfungen  der  Volksphantasie,  nicht 
mehr  verwundern,  dass  der  Volkshumor,  schon  im  Mittelalter,  sogar  für 
gewisse  Laster  einen  Schutzgeist  ersonnen  hatte.  Das  Wortspiel,  denn 
darauf  beruhen  alle  die  oben  angeführten  Thatsachen.  nimmt  in  der 
Glaubensgeschichte  einen  viel  grösseren  Baum  ein.  als  man  sich  vorstellt. 

In  dieser  Weise  geschah  es  oftmals,  dass  ein  Heiliger  von  einer  Gilde 
oder  Genossenschaft  zum  Patron  erwählt  wurde,  bloss  durch  den  Laut 
seines  Namens.  St.  Vincent  z.  B.  ist  wegen  der  Übereinstimmung  im 
Laut  mit  vin  zum  Schutzpatron  geworden  der  Weinbauer  in  einigen  Teilen 
Frankreichs.     Ja,   zahlreiche  populäre  Äusserungen   der  Kunst  lassen  sich 


1     S.  .Melusine  IV,  col.  507. 


Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen.  429 

nur  erklären  durch  eine  Doppelsinnigkeit,  von  welcher  der  Künstler  seinen 
Vorteil  zog. 

Solche  Ideenassociation  ist  so  natürlich,  dass  sie  keine  Verwunderung 
erregen  und  in  keinem  Fall  kindisch  scheinen  darf,  wenn  man  bedenkt, 
dass  sie  aus  einer  Zeit  stammt,  als  die  Schreibekunst  so  wenig  verbreitet 
war.  Der  calembour  unter  der  Form  einer  Figur  oder  rebus  behielt 
seinen  ursprünglichen  ideographischen  Charakter  und  konnte  für  den  grossen 
Haufen,  welcher  weder  lesen  noch  schreiben  konnte,  die  Buchstabenschrift 
ersetzen. 

Diese  Vorstellung  einer  Idee  mittels  eines  Bildes  zeigt,  wie  naiv  der 
Mensch  vor  einigen  Jahrhunderten  noch  war.  Diese  "Weise,  um  etwas 
für  die  Menge  begreiflich  zu  machen,  war  übrigens  allgemein.  Die  noch 
heute  bekannten  sprechenden  Wappen  sind  ein  Überbleibsel  aus  einer  Zeit, 
in  der  sogar  die  besseren  Stände  noch  nicht  weit  genug  in  der  Bildung 
über  den  unteren  standen,  um  solche  Bildschrift  entbehren  zu  können. 
Es  bleibt  aber  eine  Thatsache,  welche  beweist,  wie  sehr  das  "Wortspiel 
zwischen  Laut  und  Bild  die  Gunst  besass.  Darum  führte  das  holländische 
Haus  "Wassenaer  in  seinem  Schilde  wachsende  Monden  (wassen  = 
wachsen),  auch  wassenaars  im  Niederländischen  genannt;  die  Geldersche 
Familie  van  der  Renne  ein  rennendes  Pferd;  die  englische  Familie 
And  das  Zeichen  &.  Die  Abtei  Corbie  in  der  Picardie  hatte  darum  einen 
Raben  in  ihrem  Wappenschild,  weil  der  Laut  des  Ortsnamens  an  den 
Namen  des  Vogels  (corbeau)  erinnerte;  die  Abtei  Pontigny  bei  Auxerre 
führte  eine  Brücke  (pont)1). 

Die  Chronikschreiber  des  Mittelalters  Hessen  sich  sogar  durch  solche 
Gleichheit  im  Laute  verführen,  auf  eigener  Hand  etymologische  Sagen  zu 
schmieden. 

Das  Städtchen  Hasselt  in  der  belgischen  Provinz  Limburg  führt  eine 
Haselstaude  in  seinem  Wappen.  Nachdem  dieser  Wappenschild  schon 
lange  Zeit  bestanden  hatte,  entdeckte  der  verständige  Man'telius,  der  eine 
Chronik  von  dem  Lande  Loon  verfasste,  dass  der  Name  der  Stadt  nur  von 
einem  Haselwalde  stammen  konnte,  welcher  die  entstehende  Stadt  um- 
ringt haben  muss.  --  Aarschot,  ein  Städtchen  in  Brabant,  wird  so  ge- 
nannt, weil  Julius  Caesar  hier  einst  einen  merkwürdig  grossen  Adler 
schoss:  dass  das  Wort  Adler  (adelaar)  hier  unter  einer  veralteten,  jetzt 
poetischen  Form  (aar)  vorkommt,  schreckt  solche  humoristischen  Ety- 
mologen nicht  ab.  —  Das  Dorf  Raveschoot  in  Ost -Flandern  heisst  so, 
eines  glücklichen  Schusses  (schot)  wegen,  durch  welchen  ein  Edelmann 
eines  Tages  drei  Raben  (raven)  zugleich  erlegte.  —  Die  Sage  von  dem  Ur- 
sprung der  Stadt  Antwerpen  (=  Hand  werfen)  setzt  dieser  Manie  die  Krone 


1)    Melusine  IV,  col.  517. 

Zeitschrift  d.  Vereins  f.  Volkskuüde.    1893.  29 


430  Gittee : 

auf,  ist  aber  zu  sehr  bekannt,  als  dass  ich  dieselbe  hier  wiederholen 
sollte '). 

Es  ist  nun  eine  sehr  auffallende  Thatsache,  welche  uns  einen  tiefen 
Blick  in  das  vielbewegte  Leben  des  Mittelalters  werfen  lässt,  dass  die 
ersonnenen  Heiligen  nur  in  Beziehung  stehen  zu  Trank  und  Müssig- 
gang.  Unsere  alten  Volkslieder  sind  voll  Anspielungen  auf  dergleichen 
Heilige,  und  es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass  auf  deren  Altar  von  den 
lebenslustigen  Vorfahren  mit  Überzeugung  geopfert  wurde. 

Sinte  Reynuit  (rein-aus)  war  der  Patron  der  Zechbrüder.  Hier  folgen 
die  Worte,  in  welchen  ein  Lied  aus  dem  XVII.  Jahrhundert  die  Anbeter 
von  Trank  und  Gesang  einlud,  mitzufahren  nach  Sinte  Reynuit: 

Ja,  komt  hier  nu  altemael, 
Die  door  't  zuipen  zijn  zeer  kaal, 
Weest  nu  vrij  vrolijek  en  verheugt. 
Schoon  u  neering  niet  en  deugt, 
"Want  een  schoon  schip  nooit  gehoord 
Te  Texel  leyt  aan  Boord, 

d.  h. :  Ja,  kommt  nun  hierher,  Ihr  alle,  welche  vom  Saufen  ganz  kahl  seid. 
Seid  nun  fröhlich  und  heiter,  obschon  Euer  Handwerk  nicht  tauge;  denn 
ein  schönes  Schiff,  schöner  als  je  gesehen,  liegt  zu  Texel  am  Ufer. 

Wie  der  Schutzheilige  zu  seinem  Namen  kam,  ist  deutlich.  Unter 
den  zahlreichen  „costumen  ende  usagien",  welche  unsere  Vorfahren  beim 
Trinken  beobachteten,  war  wohl  eine  der  wichtigsten,  dass  man  sein  Glas 
„schoontjes  uit"  (rein  aus)  trank,  es  „met  een  snaers  veegde"  (es  mit 
einem  Zug  ausfegte)  oder  wie  die  Redensarten  sind,  die  man  dafür  bei 
Breero,  Starter  und  anderen  Schriftstellern  antrifft.  „Dieser  Heilige,"  sagt 
Dr.  Kalff  in  seinem  schätzbaren  Buch  über  das  niederländische  Lied2), 
„war  aber  nicht  der  einzige  Schutzpatron  der  Zunft".  In  einem  anderen 
Liede  lesen  wir: 

Sinte  Noywcrc  hebic  vercoren 
Tot  mynen  alderbesten  patroon, 

d.  h.  Sankt  Noywerc  (aus  noy,  noode  =  ungern;  werk  =  Arbeit)  habe 
ich  erwählt  zu  meinem  allerbesten  Patron. 
Und  etwas  weiter: 

Sinte  Luyaert  hebic  omghedraghen 

En  Sinte  Noywerc  hebic  gheviert, 

Ic  hebse  ghedient  bi  nachte,  bi  daghe  .  . , 

d.  h.  Sankt  Luyaert  (=  Faulenzer)  habe  ich  umgetragen,  und  Sankt 
Noywerc  habe  ich  gefeiert;  ich  habe  ihnen  Nacht  und  Tag  gedient. 


1)  J.  W.  Wolf,  Niederl.  Sagen,  n.  53,  54,  82. 

2)  Het  Lied  in  de  Middeleeuwen  (Leiden  1884"  p.  46S  u.  flg 


Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen.  431 

Kein  Wunder,  dass  diejenigen,  welche  so  eifrig  dem  Herrn  „van 
Seldenvroet"  (seiden  =  selten;  vroet  =  gescheidt)  dienten,  zuPoveren- 
dycke  (Pover  =  arm,  vom  franz.  pauvre,  dijk  =  Damm)  wohnten,  im 
Hause  genannt  zur  Plattebor se  (zur  flachen  (leeren)  Börse).  In  Lüttich 
kennt  man  den  Comte  de  Plate  Bourse.  Sankt  Hebniet  war  früher 
sehr  populär.  Und  wie  konnte  es  anders  sein,  insbesondere  bei  der  grossen 
Menge  reisender  Landsknechte,  welche  nur  auf  Genuss  und  Vergnügen 
bedacht,  inmitten  von  Tanz  und  Musik  und  den  Becher  in  der  Hand,  das 
Leben  sorglos  durchzubringen  suchten? 

Man  bilde  sich  nicht  ein,  dass  diese  ersonnenen  Heiligen,  Heilige 
welche  nicht  ernsthaft  aufzunehmen  sind,  nur  in  Flandern  zu  finden  seien. 
Anderswo  bestehen  sie  ebenso. 

Im  französischen  Sprachgebrauch  unserer  Zeit  ist  Ste.  Touche  eine 
sehr  gewöhnliche  Benennung  für  den  Tag,  an  welchem  man  seinen  Gehalt 
erhält  (toucher). 

St.  Boudin  oder  St.  Cochon  werden  gefeiert  bei  der  Mahlzeit,  welche 
beim  Schweinschlachten  gehalten  wird. 

Ein  Gefrässiger  ist  ein  „Diener  von  St.  Goinfrain",  mit  einem  Wort- 
spiel auf  goinfre,  d.  i.  gefrässig. 

Ein  Trunkenbold  verehrt  St.  Lichard,  einen  ersonnenen  Heiligen, 
dessen  Name  zurückgeführt  werden  muss  auf  lecher  (lecken  für  trinken) 
oder  Ste.  Chopinette  (dimin.  von  chope  =  Bierglas). 

Das  Entstehen  einer  Schutzheiligen  wie  Ste.  Bouteille  (=  Flasche) 
lag  nach  der  Rabelaisischen  Verehrung  der  dive  bouteille  nicht  weit. 
Die  Zunft  der   Zelateurs   de   Ste.  Beuverie  war  im  Mittelalter  gross1). 

Ist  das  Kind  im  Begriff  zu  weinen,  so  ist  es,  nach  dem  französischen 
Sprichwort,  auf  dem  Weg  nach  Ste.  Lärme.  Im  Niederländischen  sprechen 
wir  in  diesem  Fall  von  den  Waterlanders  (=  Wasserländer),  und  es 
scheint  mir  nicht  zu  bezweifeln,  dass  wir  hier  wieder  einen  ersonnenen 
geographischen  Namen  haben;  dass  aber  zur  Verbreitung  der  Redensart 
das  echte  Waterland  in  der  Nähe  von  Amsterdam  —  gut  bekannt  durch 
Broek  in  Waterland  —  beigetragen  hat,  halte  ich  für  sehr  wahr- 
scheinlich. 

Kennt  die  Volkssprache  heute  nicht  mehr  Sankt  Noywere,  d.  h.  den 
Schutzpatron  des  Müssiggangs,  so  lebt  doch  der  H.  Maandag  (Montag) 
fort,  ebenso  in  den  Niederlanden  wie  in  Frankreich  und  England.  Der 
Galizische  Wasserträger  Gil  Peregil  war,  nach  dem  Zeugnis  des  gemüt- 
lichen Washington  Irving,  sehr  treu  im  Feiern  aller  Heiligenfeste,  „and 
of  St.  Monday  into  the  bargain". 

Zu  derselben  Familie  gehört  bei  den  Wallonen  St.  Fadou  (von  fade 
schlaff,  faul)  und  der  noch  nicht  kanonisierte  Lazybones  der  Engländer. 


1)    Stecher,  Hist.  d.  1.  Litter.  Neerl.  en  Belgique  p.  199. 

29* 


432  Gittee: 

Ferner  werden  in  der  Volkssprache  auch  Heiligennamen  ersonnen, 
um  einen  Zeitpunkt  in  einer  eigentümlichen  Weise  anzudeuten.  In  der 
pittoresken  Sprache  der  französischen  Schuljugend  heisst  z.  B.  der  Tag, 
wenn  die  Ferien  anfangen.  St.  Fout-le-Camp. 


IV. 

Der  Ursprung  solcher  Bildungen  liegt  in  der  Analogie  mit  einer  Menge 
allgemein  gebräuchlicher  Zeitbestimmungen.  Wir  wissen  alle,  dass  der 
gemeine  Mann  die  Namen  der  Heiligen  anwendet  zur  Bezeichnung  gewisser 
Zeiten,  nach  welchen  er  seine  Beschäftigungen  regelt.  Wir  lesenden  Stände 
würden  wahrscheinlich  in  keiner  geringen  Verlegenheit  sein,  wenn  man 
uns  erklärte,  dass  diese  oder  jene  Pflanze  an  dem  und  dem  Heiligenfeste 
gesäet  werden  müsse,  wie  z.  B.  die  Zwiebel  auf  St.  Gregorius  d.  i.  den 
1"2.  März. 

So  ersann  der  Volkshumor  bei  uns  Heilige  wie  S.  Nimmermeer,  den 
Bruder  des  deutschen  S.  Nimmerliug  oder  S.  Nimmerlein,  sowie  auch 
des  S.  Jamais  der  Franzosen. 

Diese  Zeitbestimmung  ist  jedoch  nicht  so  verbreitet  als  gewisse  andere, 
gebildet  durch  einen  Wortverband,  aus  dessen  komischer  Zusammen- 
Stellung  die  Unmöglichkeit  oder  die  Uliwahrscheinlichkeit  von  selbst 
hervorgeht. 

Schon  im  Mittelniederländischen  kommen  Redensarten  vor,  in  welchen 
örtliche  und  zeitliche  Bestimmung  scherzhaft  zusammengeworfen  wird. 

Reinaert,  der  Schalk,  bindet  dem  Löwen  die  schlau  erfundene  Fabel 
auf  von  dem  Schatz,  der  zu  Kriekeput  vergraben  liegt.  Der  König  kennt 
aber  deu  schlauen  Gast  und  fürchtet,  chiss  Kriekeput  ein  „geveinsde  (er- 
sonnener)  Name"  sei.     Nein,  König,  antwortet  Reinecke  darauf: 

....  ghi  sijter  also  na, 

Alse  van  Colne  tote  Meie   (vs.  2G41) 

d.  h.  Sie  sind  soweit  davon,  als  von  Köln  bis  zum  Mai  =  was  Sie  denken, 
ist  unmöglich. 

Dergleiches  Wortkoppeln  ist  also  sehr  alt  und  bis  auf  unsere  Zeit 
bekannt  geblieben.  Noch  heute,  scheint  es,  bestehen  in  Süd -Deutschland 
zahlreiche  Ausdrücke  wie  zwischen  Pfingsten  und  Strassburg,  oder 
zwischen  Pfingsten  und  Esslingen,  mit  der  Bedeutung  von  nirgends, 
als  Antwort  auf  Fragen,  welchen  man  ausweichen  will1). 

Auch  in  den  lateinischen  Gedichten  des  Mittelalters  finden  sich  Bei- 
spiele.    Inter  Pascha  Remisque    (zwischen  Ostern  und  Rheims)   liest 


1)  S.  van  den  Vos  Reinaerde  (Ed.  Martin)  Anm.  zu  vs.  2641.  Auch  ed.  Jonck- 
bloet,  Bijvoegsel  zum  Glossar.  S.  ferner  C.  Müller-FraurtMi th:  Die  deutschen 
Lügendichtungen  bis  auf  Münchhausen  (Halle  1881)  p.  104  (Anm.  62). 


Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen.  433 

man  im  Reinardus  II,  vs.  690;  und  weiter  (ib.  IV,  vs.  970)  inte.r  Clu- 
niacum  et  sancte  festa  Johannis  obiit  (d.  i.  er  starb  zwischen  Cluny 
und  S.  Johannes). 

Tuinman  (Nederduitsche  Spreekwoordeu  I,  p.  334)  erwähnt 
den  niederländischen  Ausdruck:  van  Aken  tot  Paschen  (=  von  Aachen 
bis  Ostern);  auch  hat  er:  tusschen  Kalis  und  Sinte  Reinuit,  welches 
er  aber  nicht  erklärt.  -  -  Noch  heute  ist  die  französische  Redensart:  cela 
s'est  passe  entre  Maubeuge  et  la  Pentecöte  (das  ist  geschehen  zwischen 
Maubeuge  und  Pfingsten)  in  vollem  Gebrauch. 

Pierrot  in  Molieres  Don  Juan  ou  le  Festin  de  Pierre  (II,  1) 
spricht  von  einer  „garderobe"  (=  Schürze)  aussi  large  que  d'ici  ä 
Paques.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  Moliere,  um  den  komischen 
Effekt  zu  steigern,  seiner  Person  eine  dieser  populären  Massbestimmungen 
in  den  Mund  gelegt  hat. 

Es  giebt  zahlreiche  Redensarten,  um  eine  Zeit  anzudeuten,  welche 
niemals  kommen  soll.  Dabei  nimmt  der  Volksgeist  oft  seine  Zuflucht  zu 
kirchlichen  Festen,  wobei  dann  eine  komische  Unmöglichkeit  hinzu- 
gefügt wird. 

Sehr  gewöhnlich  ist  unter  anderm  die  Redensart:  als  Paschen  en 
Pinkster  op  een  dag  Valien  (wenn  Ostern  und  Pfingsten  auf  einen 
Tag  fallen);  oder:  als  Paschen  op  een  Maandag  valt  (wenn  Ostern 
auf  einen  Montag  fällt). 

Es  giebt  sogar  ersonnene  Festnamen,  um  dasselbe  auszudrücken:  te 
Pruimpaschen  heisst  es  in  Limburg,  als  de  kalveren  op  't  ijs 
dansen  (Pruimpaschen  aus  pruim  =  Pflaume,  und  Paschen;  wenn 
die  Kälber  auf  dem  Eise  tanzen).  Statt  Pruimpaschen  sagt  man  auch 
Siut  Jutmis  oder  Juttemis,  ein  Ausdruck,  der  schon  1738  bei  Marin 
(Dict.  franc.  hollandais)  vorkommt. 

Auch  im  Französischen  finden  sich  dergleichen  komische  Redensarten. 
Cela  arrivera,  heisst  es,  si  le  Careme  dure  sept  ans  (=  das  wird 
geschehen,  wenn  die  Fasten  sieben  Jahre  dauern);  oder  auch:  la  Semaiue 
des  trois  Jeudis  (=  die  Woche  der  drei  Donnerstage).  Zuweilen  wird 
dieser  letzten  Redensart  hinzugefügt:  quarante  jours  apres  Jamais 
(=  vierzig  Tage  nach  Nimmer). 

In  demselben  Falle  antwortete  der  Italiener  mit  einem  assonantischen 

Reim: 

II  di  di  San  Bellino, 

Tre  di  dopo  il  giudidio 

(d.  i.  den  Tag  des  S.  Bellino,  drei  Tage  nach  dem  letzten  Urteil).   S.  Bellino 
ist  ebenfalls  ein  ersonnener  Heiliger1). 

Man  könnte  diese  Redensarten  ohue  Mühe  vermehren;  die  gegebenen 


1)    S.  Rolland,  Rimes  et  Jeux  de  l'Enfance  (Paris  1881)  p.  289. 


434  Gittee: 

Beispiele  mögen  aber  genügen.  Wir  haben  noch  für  das  niederländische 
Sprachgebiet  eine  Redensart  zu  erwähnen,  bei  welcher  wir  einen  Augen- 
blick stillzustehen  wünschen. 

Niemals  heisst  oft  in  Limburg:  als  de  klaver  uit  't  veld  is 
(=  wenn  der  Klee  aus  dem  Felde  sein  wird);  aber,  viel  charakteristischer, 
in  Flandern  in  der  Umgangssprache  ganz  gewöhnlich,  und  sogar  in  ge- 
schriebener Rede:  In't  jaar  Een,  als  de  Uilen  preeken  (=  im  Jahr 
Eins,  wo  die  Eulen  predigen).  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  dieselbe  durch 
ganz  Belgien  geht;  bisweilen  aber  finden  sich  Abweichungen,  sowie  in 
Maastricht,  wo  sie  lautet:  in  et  jaor  ein  esten  uil  preek1).  In  West- 
Flandern  sagt  man  auch:  In't  jaar  blök  als  de  uilen  kraaien  en  de 
koeien  met  patijnen  gaan  (=  im  Jahr  Block,  wo  die  Eulen  krähen 
und  die  Kühe  mit  Holzschuhen  gehen)3). 

Über  den  Ursprung  dieser  Redensart  sind  mehrere  Vermutungen  aus- 
gesprochen worden.  G.  D.  Frnnquinet  versuchte  die  folgende  Erklärung: 
Könnte  man,  sagt  er,  den  Ursprung  dieser  Redensart  nicht  in  der  Volks- 
überzeugung suchen,  dass,  im  Gegensatz  zu  unserer  christlichen  Zeit- 
rechnung und  zu  der  Predigt  des  Wortes  Gottes,  eine  neue  Jahrzählung 
und  insbesondere  eine  Predigt  des  dummen  Unglaubens  (hier  vorgestellt 
durch  eine  Eule,  das  Symbol  der  Finsternis  und  des  Unverstandes)  un- 
möglich sind? 

Nicht  mehr  Wert  hat  die  Mutmassung  von  J.  De  Smet3).  Er  will 
nämlich  die  Eule  in  dieser  Redensart  für  einen  Spottnamen  ansehen,  der 
im  Jahre  1801  den  Priestern  gegeben  ward,  welche  sich  vor  den  fran- 
zösischen Sansculotten  verbergen  mussten  und  genötigt  waren,  des  Nachts 
zu  predigen.  Das  Bestellen  dieses  Spottnamens  hat  er  durch  nichts  be- 
wiesen und  sich  sogar,  um  die  Redensart  für  seine  Erzählung  passend  zu 
machen,  erlaubt,  in  derselben  das  Tempus  des  Verbums  zu  änderu:  In  het 
jaar  Een,  als  de  uilen  preekten.  Dass  dieses  die  echte  Form  nicht  ist 
und  die  Volkssprache  wirklich  das  Präsens  anwendet,  erhellt  aus  Schuer- 
maus  Algemeen  Vlaamsch  Idiotikon,  s.v.  jaar. 

Alles,  was  zur  Erklärung  dieser  Redensart  angeführt  ward,  ist  daher 
wenig  gründlich.  Der  Ursprung  liegt  auch  wahrscheinlich  ausserhalb 
Flanderns  und  geht  weiter  zurück  als  zum  Anfang  unseres  Jahrhunderts; 
denn  auch  Deutschland  kennt  ein  Jaar  Een;  „das  Jahr  Eins  nämlich, 
wo  die  Elbe  brannte  und  die  Bauern  mit  Strohwischen  löschen 
kamen4)". 

1)  (1.  D.  Franquinet,  Hoe  het  Volk  spreekt  te  Maastricht  in  der  Zeitschrift 
Maasgouw  (1880-1886)  in  Nr.  2894. 

2)  De  Bo,  Westvlaamsch  Idiotikon  (2.  Aufl.  1892)  s.v.  blök. 

3)  Overleveringen,  Legenden  en  Bijgeloovigheden,  Gebruiken,  Uit- 
vindingen,  Gedenkstukken,  enz.  der  Menapiers.  (Brügge  1886)  p.  284.  Ein 
albernes  Buch. 

4)  f.  Müller-Fraureuth,  Lügendichtungen,  p.  104. 


Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen.  435 

Leider  können  wir  für  das  Alter  weder  der  niederländischen,  noch 
der  deutschen  Redensart  Belege  beibringen.  Die  äussere  Form  dieser 
letzten  erinnert  aber  an  die  Menge  anderer,  in  denen  der  komische  Effekt 
erreicht  wird  durch  eine  Verwechselung  zwischen  Subjekt  und  Prädikat. 
Solche  Umkehrung  geschieht  mehr  in  der  Volkssprache.  Fragt  das  Kind 
z.  B.,  was  oder  wieviel  es  bekommen  werde  für  einen  oder  den  anderen 
kleinen  Dienst,  den  es  geleistet,  so  antwortet  die  vlämische  Mutter  scherz- 
haft: Alle  guldens  drij  maanden  {■=  jeden  Gulden  drei  Monate).  Ist 
es  nicht  eine  ähnliche  Umstellung,  welche  den  Worten  der  Marschälle  des 
Brautzugs  auf  der  schwedischen  Insel  Huckö  zu  Grunde  liegt,  wenn  sie, 
um  der  Gesellschaft  den  Durchzug  zu  erkaufen,  versprechen,  dass  „Jeder 
Mann  ein  Stoof  Heu,  jedes  Pferd  ein  Bund  Bier  erhalten"  werde1)? 

In  der  Litteratur  früherer  Jahrhunderte  sind  solche  Umstellungen  un- 
gemein zahlreich.  Fischart,  eine  sehr  reiche  Quelle  für  die  Geschichte 
des  Komischen,  sagt  unter  anclerm  in  seinem  Binenkorb  (200):  Zur 
zeit,  da  die  bach  branten  und  man  mit  stroh  leschte,  die  bauren 
bollen,  die  hund  mit  spissen  herausloffen,  uemlich  zur  zeit  des 
strengen  Finkenritters. 

Die  Erwähnung  von  dem  Namen  des  Finkenritters  führt  uns  mitten 
in  die  komische  Litteratur  des  XVI.  Jahrhunderts,  von  welcher  die  unter 
diesem  Titel  bekannte  Sammlung  von  Schwänken  und  Erdichtungen  die 
beste  Vorstellung  giebt...  Dieses  Buch  erschien  etwa  1559,  es  ist  aber  nur 
eine  Kompilation  von  Stoffen,  welche  schon  lange  unter  dem  Volke  gäng 
und  gäbe  waren. 

Bis  auf  unsere  Zeit  hat  das  Volk  sein  Vergnügen  daran  gehabt,  Un- 
sinn und  Lügen  zu  ersinnen;  es  hat  auch  wohl  zuweilen  Unsinn  dichten 
wollen.  Bis  heute  sind  Lügenlieder  und  Lügenmärchen  bekannt  geblieben, 
in  Holland3)  wie  in  Flandern,  in  Frankreich  wie  in  Deutschland.  So  sehr 
findet  das  Volk  Vergnügen  an  den  Bildern,  welche  es  sich  schafft,  wenn 
es  seiner  Phantasie  die  Zügel  schiessen  lässt,  dass  noch  heute,  in  Flandern 
wie  anderswo,  häufig  ein  Streit  um  die  grösste  Lüge  eine  Nummer 
des  Kirmessprogramms  ist. 

Es  besteht  eine  ganze  Litteratur  lügenhafter  Fiktionen,  von  denen  die 
ältesten,  welche  uns  bekannt  sind,  zum  XL  Jahrhundert  hinaufreichen. 
In  diesen  findet  mau  auch  die  Quelle  von  all  den  Lügen,  welche  noch 
heute  unter  dem  Volk  umlaufen. 

Das  Jahr  Eins,  auch  das  Jaar  Een  der  Flamländer,  scheint  mir  zu 
diesen  Schöpfungen  zu  gehören,  von  denen  mehrere  in  der  heutigen  Volks- 
sprache übrig  geblieben  sind,  in  erster  Stelle  der  Name  des  ersonnenen 
Landes. 


1)  L.  v.  Schröder,  Hochzeitsgebräuche  der  Esten,  Berlin  1888,  p.  63. 

2)  S.  Kalff,  o.e.  p.  489. 


436  Gittee: 

Für  das  niederländische  Sprachgebiet  liefert  wohl  die  älteste  Anspielung 
auf  dasselbe  eine  Stelle  der  mittelniederländischen  Klute  (=  Schwank)  van 
Pleyerwater.  Die  Frau  beauftragt  Werrenbraclit,  ihren  Mann,  player- 
water,  d.h.  Spielwasser  (von  plaren,  spielen,  cf.  eng.  to  play)  zu  holen. 
Dieses  Wasser  ist  eine  Erdichtung  der  spielerischen  Phantasie.  Auf  seine 
Frage,  wo  dieses  zu  finden  sei,  antwortet  die  Frau: 

(vs.  46)     Tonvreen.  in  oest  laut,  in  het  vloeyt  hoghe 

Uten  berghe  van  ontwijste  bij  tal  van  drofheyen. 

Professor  Moltzer  (Middelnederl.  dramatische  Poezie,  Groningen, 
J.  B.Wolters,  1873)  erklärt  p.  260  diese  Stelle:  „Tonvrede.  d.  i.  te 
onvrede.  dus  zooveel  als  in  onrust  en  bekommering:  de  vrouw 
maakt  er  maar  wat  van,  ora  Werrenbraclit  te  verschalken"  (d.  h.  ton- 
vrede. d.  i.  zu  Unfrieden,  also  soviel  als  in  Unruhe  und  Besorgnis: 
die  Frau  macht  nur  etwas  daraus,  um  W.  zu  hintergehen". 

Bis  dahin  Moltzer.  Die  Stelle  muss  wohl  ganz  anders  aufgefasst 
werden.  Die  Frau,  meine  ich,  gebraucht  ersonnene  Ortsnamen,  deren  wir 
früher  soviel  Beispiele  gaben:  Zu  Onvrede,  der  Berg  von  Ontwijste, 
d.  i.  der  Unweisheit  oder  Thorheit:  das  Thal  van  Droefheid,  d.i.  Trüb- 
sinn. Alle  diese  Orte  werden  vom  Dichter  selbst  nach  Oest  laut  (=  Ost- 
land) verlegt,  das  ebenfalls,  trotz  unserer  mittelalterlichen  Lieder,  welche 
eine  historische  Farbe  haben,  als  ein  fiktives  Land  wird  aufgefasst  werden 
müssen '). 

Zu  demselben  Gebiet  gehört  das  Engeland,  das  in  niederländischen 
Liedern  aus  früherer  und  späterer  Zeit  vorkommt  und  von  Mannhardt  ge- 
deutet wird  als  das  Land  der  Engel  oder  das  Seelenland2). 

Mehr  populäre  Namen  für  ein  ersonnenes  Land  sind  das  Luilekker- 
land  (=  Schlaraffenland)  und  die  Verkeerde  Wereld  (=  Verkehrte 
Welt).  Bevor  wir  aber  auf  diese  zwei  Schöpfungen  des  Volkshumors 
näher  eingehen,  müssen  wir  noch  mit  einem  einzigen  Wort  eine  andere 
Redensart  erwähnei.  in  den  südlichen  Niederlanden  wohl  geläufiger  als 
in  den  nördlichen. 

Loop  naar  Bommelskont  (Lauf  nach  B.)  ist  eine  Art  Ver- 
wünschung, in  welcher  wieder  ein  fiktives  Land  zu  stecken  scheint.  Das 
Wort  Bommelskont  findet  sich,  nach  Harrebomee,  noch  in  einer  anderen 
Redensart:  Hij  gaat  naar  Bommelskont.  sagt  mau.  drie  uren  boven 
de  hei.  daar  de  honden  met  het  gat  blaffen,"  (d.h.  er  geht  nach 
Bommelskont.  drei  Stunden  über  der  Hölle,  wo  die  Hunde  mit  dem  Hiutern 
bellen)  angewendet  im  Falle,  wenn  man  sich  mit  Sachen  abgiebt,  welche 
nicht  zu  entwirren  sind. 


1)  G.  Kalff,  o.e.  p.  369. 

2)  G.  Kalff,  o.e.  p.  492. 


Scherzhaft  gebildete  und  angewendete  Eigennamen  im  Niederländischen.  437 

Das  Schlaraffenland  und  die  Verkehrte  Welt  sind  zwei  ganz 
verschiedene  Schöpfungen. 

Der  älteste  Bericht  über  das  Schlaraffenland  im  Niederländischen 
reicht  bis  zum  NY.  Jahrhundert;  nicht  als  Luilekkerlaud,  sondern  mit 
dem  Namen  von  Cockaenghen.  Es  ist  schwer  zu  bestimmen,  wann  dieses 
Wort  ausser  Gebrauch  gekommen  ist,  aber  Kiliaen  (XVI.  Jahrhundert) 
kennt  nur  Luy-leckerland.  Der  Titel  der  Sproke  (=  Schwank),  in 
welcher  dieses  ideelle  Land  erwähnt  wird:  „üit  is  van  dat  edele  laut  von 
Cockaenghen"  weist  zurück  auf  eine  französische  Quelle,  welche  in  dem 
Fabliau  de  Coquaigne  gesucht  werden  dürfte,  der  ins  XIII.  Jahrhundert 
gehört l). 

Die  bestbokannte  Schilderung  des  Luilekkerlandes  ist  die,  welche 
Hans  Sachs  in  seinem  ergötzlichen  Schwank  Das  Schlauraffen  Land 
vom  Jahre  1530  lieferte.  Es  liegt  bei  ihm,  nach  einer  Ortsbestimmung, 
welche  wir  schon  früher  kennen  lernten,  „drey  meil  hinter  weynachten". 
Die  Arbeit,  die  man  zu  vollbringen  hat,  um  dahin  zu  gelangen,  ist  ganz 
in  Übereinstimmung  mit  dem  Charakter  des  Landes:  man  muss  einen  Berg 
von  Reisbrei  von  drei  Meilen  durchessen.  Nicht  nur  Faulheit,  sondern 
auch  all  die  übrigen  Laster  und  Fehler  werden  mit  Gut  und  Würdigkeiten 
belohnt,  während  derjenige,  welcher  sich  verständig  und  ehrbar  zeigt,  in 
jenem  Lande  nicht  zurecht  kommt.  Diese  Züge  sind  ungefähr  dieselben 
als  die,  welche  man  in  einem  niederländischen  Lied  des  XVII.  Jahr- 
hunderts antrifft,  welches  Kalff  mitteilt2). 

Wahrend  das  Schlaraffenland  sich  gewissermassen  auffassen  lässt 
als  eine  Farodie  des  christlichen  Paradieses,  ist  die  Verkehrte  Welt  ein 
Mythus,  welcher  sich  ziemlich  spät  nach  den  Erdichtungen  der  Volkspoeteu 
aus  früherer  Zeit  von  der  Sippschaft  des  Finkenritters  gebildet  hat. 
Waren  dergleichen  Märchen  schon  früher  bei  dem  Volke  beliebt,  wie  der 
Finkenritter  zur  Genüge  beweist,  so  erhielten  sie  in  der  Schöpfung  der 
Verkehrten  Welt  einen  festen  Körper.  Der  ganze  Mythus  beruht  auf 
einer  Umstellung  zwischen  Subjekt  und  Objekt:  in  dem  Finkenritter  wird 
gesprochen  von  einem  Ort,  wo  unter  anderm  die  Frucht  den  Baum  trägt, 
die  Hunde  von  dem  Hasen  erwischt  werden,  die  Schafe  die  Wölfe  hängen, 
Hühner  und  Gänse  die  Füchse  belauern,  und  die  Mäuse  die  Katzen  fressen. 
Zu  der  Befestigung  und  Verbreitung  des  Mythus  trugen  ohne  Zweifel  die 
populären  Kinderbilder  bei,  und  von  der  Verkehrten  Welt  ist  nl.  ein 
sehr  bekauutes  Bild  vorhanden,  das  noch  heute  zu  Epinal  und  Metz  immer 
neu  aufgelegt  wird.  Auch  in  den  Niederlanden  kannte  man  dieses  Bild; 
es    gehört    sogar    zu    denjenigen,    welche    „der    niederländischen    Jugend 


1)  F.  J.  Poeschel,  Das  Märchen  vom  Schlaraffenland.    (Halle  1878)  p.  22. 

2)  o.  c.  p.  490. 


438  Höfler: 

wenigstens  zwei  Jahrhunderte  zum  Vergnügen  dienten  und  die  Einkünfte 
des  Schulmeisters  nicht  wenig  vermehrten1). 

Hiermit  wollen  wir  unsere  Liste  von  scherzhaft  angewendeten  Eigen- 
namen schliessen.  Die  angeführten  Beispiele,  welche  ohne  Mühe  ver- 
vielfältigt werden  könnten,  genügen,  um  uns  einen  Einblick  zu  öffnen  in 
die  Volkspsychologie.  Sie  werfen  ein  helles  Licht  auf  die  stets  in  den 
Vordergrund  tretende  Spottlust  des  Volkes,  welche  durch  die  Feder  eines 
einigermassen  begabten  Dichters  zu  einer  reichen  Quelle  komischer  Effekte 
und  Situationen  werden  kann.  Die  Autorität  eines  Mannes  von  Talent 
trägt  manchmal  kräftig  dazu  bei,  um  manchen  dieser  Redensarten  und 
Ausdrücke,  welche  sonst  nur  zur  Volkssprache  gehören  und  deshalb 
meistens  als  trivial  verurteilt  werden,  in  den  allgemein  gebrauchten  "Wort- 
schatz Eingang  zu  verschaffen.  Für  das  niederländische  Sprachgebiet  hat 
Breero  gewiss  mehr  als  eine  solcher  Redensarten,  wo  nicht  weiter  bekannt 
gemacht,  so  doch  am  Leben  erhalten.  So  übt  das  Volk  stets  Einfluss  auf 
die  Bildung  oder  Bereicherung  des  Wortschatzes  der  Sprache,  und,  unter 
den  linguistischen  Thatsachen,  auf  welche  es  sein  persönliches  Siegel  prägt, 
o-iebt  es  keine,  in  welchen  sich  sein  Charakter  und  seine  eigentümliche 
Philosophie  besser  abspiegelt,  als  die  scherzhaft  gebildeten  oder  scherzhaft 
angewendeten  Eigennamen. 


Der  Geruch 

vom  Standpunkte  der  Volkskunde. 
Von  Dr.  M.  Höfler. 


Die  Entwickeluugsgeschichte,  die  grosse  Lehrmeisterin  und  Pfadfinderin 
in  der  Physiologie,  wies  nach,  dass  die  Geruchsmembrane  der  Nase  beim 
Embryo  aus  Hautgebilden  entsteht;  die  Sinnesempfindungen  des  Geruchs- 
organes  sind  demnach  nur  Modifikationen  der  ursprünglich  bloss  der  Haut 
zukommenden  Empfindungen.  Die  Nase,  das  Schutz-  und  Traggerüst  für 
die  Geruchshaut,  welcher  ein  ganz  bestimmter  Kreis  von  Empfindungs- 
Qualitäten  zukommt,  ist,  wie  „der  biblische  Medikus"  (1743)  sich  aus- 
drückt, „zu  nicht  geringer  Zierde  des  menschlichen  Körpers  mitten  in  dem 
Angesicht  hingestellt",  zwischen  die  Augen  und  oberhalb  des  Geschmack- 


1)    G.   D.  .f.   Schotel,    Vaderlandsclie    Volksboeken     en    Volksspro  okje 
I,  p.  304. 


Der  Geruch  vom  Standpunkte  der  Volkskunde.  439 

organes.  Wo  dieser  Sinn  besonders  entwickelt  ist,  wie  z.  B.  beim  .Spür- 
hunde, da  ist  auch  dieses  Knochengerüst  besonders  weit  vorgestreckt.  Die 
Anthropologen  der  Neuzeit  würdigen  bei  ihren  Messungen  des  Gesichts- 
schädels die  Grössenverhältnisse  des  Nasengerüstes  zum  übrigen  Gesichts- 
schädel eingehender  Untersuchungen.  Nach  seinen  Messungen  findet  z.  B. 
J.  Eanke  (Beitr.  z.  Anthropol.  Bayerns  1892  S.  107)  „die  Anschauung,  dass 
die  Form  der  Nase  ein  Wertmesser  der  Physiognomik  sei,  für  wirklich 
begründet,  so  dass  die  Nase  als  Merkmal  für  die  Gehirnentwickelung 
innerhalb  gewisser  Grenzen  einen  diagnostischen  Wert  erhält". 

Für  den  Forscher  auf  volkskundlichem  Gebiete  braucht  es  darum 
keine  Entschuldigung,  wenn  er  diesen  sogenannten  niederen  Sinn  auch  in 
das  Gebiet  seiner  Aufmerksamkeit  einbezieht  unter  Berufung  auf  das  Wort 
des  Terenz:  Nil  humani  a  me  alienum  puto;  dem  Arzte  ist  diese  Auf- 
merksamkeit ohnehin  eine  Berufsaufgabe.  „Ehrlichen  und  reinlichen  Leuten 
ist  es  allerdings  eine  Scheu  und  Schande,"  meinte  der  Koburger  Arzt 
Kolreuter  (1574),  „die  Nase  mit  Gunsten  über  allen  Unlust  zu  recken;  wir 
Ärzte  müssen  es  aber  doch  bisweilen  thun,  alles  dem  Menschen  zum  Besten 
und  um  unseres  Berufes  willen." 

Vom  kulturhistorischen  Standpunkte  aus  erinnert  uns  der  Geruchssinn 
so  recht  an  das  Piatosehe  „Tier  für  sich  innerhalb  des  Menschen",  an  die 
rein  tierischen  Triebe  des  Menschen,  den  Nahrungs-  und  Geschlechts- 
trieb, diese  mächtig  drängenden  Faktoren  in  «ler  menschlichen  Kultur- 
entwickelung. 

So  veredelt  und  verfeinert,  ja  fast  fadenförmig  uns  auch  heutzutage 
der  Zusammenhang  des  Geruchsinnes  mit  dem  Geschlechtstriebe  erscheinen 
mag,  immerhin  dürfte  ein  solcher  doch  noch  bestehen;  nimmt  man  doch 
an,  dass  die  Nasengrösse  mit  der  Grösse  der  Geschlechtsorgane  beim 
Menschen  eine  gewisse  Kongruenz  habe.  Wahrhaft  poetisch  schildert 
Ranke  („Der  Mensch"  I.  556)  den  Zusammenhang  der  Höhe  der  Sinnes- 
eindrücke mit  den  verschiedenen  Altersstufen:  „die  Sinne  sind  die  eigent- 
lichen Freudenbringer  des  Menschen,  jeder  in  verschiedenem  Masse  für 
die  verschiedenen  Lebensalter;  die  erste  lugend  hat  ihre  grösste  Freude 
an  den  Empfindlichkeiten  des  Geschmackssinnes;  dann  suchen  der 
schwärmerische  Jüngling  und  die  Jungfrau  im  Dufte  der  Blumen  und 
Blüten  freudigen  Genuss  .  .  .  das  Auge  ist  der  Freudensinn  des  Alters." 
Das  geschlechtlich -apathische  Alter  ist  für  Gerüche  sehr  abgestumpft  und 
bei  vielen  Greisen  fehlt  nach  J.  L.  Prevost  das  Geruchsvermögen  ganz. 
Bei  sexuellen  Irritationszuständen  beobachtet  man  nicht  selten  auch 
Geruchshalluciuationen.  Je  duftender  der  „Schmeckbüschel"  der  bäuer- 
lichen Geliebten,  je  feiner  das  Parfüm  des  Billet-doux,  desto  wonniger 
fühlt  sich  der  Verehrer.  Wenn  der  verliebte  Bursche  seiner  Auserwählten 
einen  Apfel  zu  essen  giebt,  den  er  vorher  eine  Zeitlang  unter  der  Achsel 
getragen  hat,  so  liegt  dieser  Spende  die  Hoffnung  auf  Gegenliebe  zu  Grunde, 


440  Höfler: 

die  dieser  Geruch  erwecken  könne.  Der  Manznnille-Baum  (Hippomane 
Mancinella)  sollte  --  allerdings  nur  im  Glauben  der  Alten,  dem  vielleicht 
keine  Erfahrungsthatsache  zu  Grunde  lag  —  durch  seinen  Blütenduft  eine 
au  die  Rosswut  (hippo-mane)  grenzende  physische  Liebe  erzeugen.  Dass 
aber  jeder  Wohlgeruch  zugleich  auch  ein  wohlthuendes  Aufregungsmittel 
für  das  sensuelle  Leben  überhaupt  sei,  ist  kein  blosser  Glaubenssatz. 
Lüstlinge  gebrauchen  zur  Erregung  ihrer  geschlechtlichen  Sinne  gar  oft 
der  verschiedensten  Parfümerieen,  die  einen  Geruchsrausch  erwecken,  ähn- 
lich den  Wollustdüften  des  Orientalen. 

Wir  wollen  aber  diesen  Gedankengang,  der  uns  auf  niedrigere  Kultur- 
stufen oder  Entwickelungszustände  zurückführen  würde,  nicht  weiter  ver- 
folgen. 

Viel  auffälliger  und  jedem  riechenden  Menschen  bekannt  ist  nun  der 
Zusammenhang  des  Geruchsiunes  mit  dem  Nahrungstriebe.  Wie  feinfühlig 
ist  diesbezüglich  die  Tierwelt  vom  naseweisen  Spürhunde  bis  zur  eilfertigen 
Aasfliege;  allerdings  übertrifft  der  Geruchsinn  der  meisten  Säugetiere  den 
des  Menschen  weit,  obwohl  letzterer  z.  B.  noch  0,000  000  5  mg  Moschus 
und  0,000  000  1  Cumarin  riecht;  letzteres  ist  in  den  volksüblichen  Geruchs- 
mitteln (Heublumen,  Waldmeister,  Steinklee,  Gartenraute  etc.)  enthalten; 
ebenso  ist  das  menschliche  Geruchsvermögen  für  Essigsäure  0,000  3  mg 
besonders  empfindlich.  Dieser  feine  Geruchsinn  ist  eiue  regulatorische 
Einrichtung  für  die  Nahrungsaufnahme  auch  beim  Menschen;  wie  oft  führt 
das  sich  entwickelnde  Kind  seine  Finger,  die  einen  ihm  noch  unbekannten 
Gegenstand  halten,  mit  diesem  zuerst  zur  Nase  und  dann  zum  Munde  und 
auch  später  noch  riecht  das  grössere  Kind  mit  Vorliebe  und  nach  Affenart 
an  allen  neuen  Gegenständen;  unbewusst  scheinbar  will  es  lernen  den 
Geruch  zu  trennen  vom  Geschmacke;  denn  Geruchs-  und  Geschmacks- 
empfindungen verschmelzen  gerade  beim  bearmten  Geschöpfe,  das  sich 
seine  Nahrung  herbeilangen  kann,  am  innigsten;  ja  sogar  so  innig,  dass 
z.  B.  bei  dem  Alemannen-  und  Bayern-Volke  noch  heute  „schmecken" 
ausschliesslich  für  „riechen"  landläufig  geblieben  ist1).  Das  Volk  denkt 
nicht  daran,  die  Geruchsempfindungen  von  den  Geschmacksempfindungen 
sprachlich  zu  trennen,  weil  eben  unter  den  gewohnten  Verhältnissen  ein 
zugleich  schmeck-  und  riechbarer  Stoff  mit  dem  Geschmacksinne  auch 
immer  den  Geruchsinn  anregt  gemäss  dem  anatomischen  Bau  der  Nasen-, 
Rachen-  bezw.  Mundhöhle,  in  der  die  flüchtigen  Substanzen,  die  auf  die 
Zunge  gebracht  werden,  durch  die  Choanen- Öffnung  auch  in  die  Nasen- 
höhle dringen. 

Neben  den  Nerven  des  Geruchsinnes  (Olfactor)  besitzt  die  Nase  gleich 
der  Zunge  auch  Nerven  (vom  ersten  und  zweiten  Ast  des  Trigeminus),  die 
der    allgemein    verbreiteten  Tastempfindung    dienen  und  so  bethätigt  die 


1)   Verweis  auf  ahd.  mild.  Wörterbücher  und  Schmeller. 


Der  Geruch  vom  Standpunkte  der  Volkskunde.  441 

Nase  ihre  Teilnahme  an  dem,  was  in  der  Mundhöhle  vorgeht,  nicht 
bloss  durch  die  eigentlichen  Geruehsempfindungen,  sondern  auch  durch 
(prickelnde,  beissende,  stechende  etc.)  Tastempfindungen.  Während  aber 
beim  Geschmacksiuue  nur  süss,  sauer,  salzig  (oft  mit  „sauer"  uicht  bloss 
vom  Kinde,  sondern  auch  vom  Erwachsenen  verwechselt)  und  bitter 
(„hantig")1)  geschmeckt  wird,  alles  Übrige  aber  undefinierbar  „eigentüm- 
lich" bleibt,  sind  die  physiologischen  Reizquantitäten,  die  die  physikalischen 
Agentien  der  Düfte  und  Gerüche  auslösen  und  sich  dem  Sinne  kundgeben, 
weit  mannigfaltiger.  Der  weit  leichter  bewegliche  Geruchsnerv  kommt  so 
dem  nahegelegeneu,  aber  in  Bezug  auf  Reizempfindungen  langsameren 
Geschmacksorgan  sehr  zu  Hilfe.  Wäre  ein  uicht  riechender  Mensch  in 
Bezug  auf  die  Auswahl  seiner  Nahrung  ganz  allein  auf  die  Selbsterfahrung 
seiner  Zunge  angewiesen,  er  würde  den  Mangel  dieses  niederen  Sinnes 
sehr  bald  beklagen  müssen,  auch  wenn  er  gerade  kein  Gastrosophos  wäre; 
ein  fein  riechender  Mensch  wird  auch  caeteris  paribus  eine  bessere  Küche 
haben  und  gesunder  wohnen.  Die  Trennung  der  Lust-  und  Unlust- 
Empfindungen  ist  eine  bei  allen  sensitiven  Nerven  vorkommende  That- 
sache,  da  jeder  solcher  Nerv  derartige  subjektive  Qualitätsempfindungen 
auslöst,  so  auch  beim  Geruchsnerv,  der  sogar  grössere  und  individuelle 
Freiheiten  in  dieser  Beziehung  erlaubt  und  die  vielseitigsten  Accomo- 
dationen  zulässt.  Ob  es  wohl  auch  eine  individuelle  Harmonie  der  Gerüche 
giebt,  die  uns  die  Anhänglichkeit  an  die  Heimat,  den  hochentwickelten 
Heimatssinn  mancher  Tiere  (Hunde,  Katzen  u.  a.),  wenigstens  zum  Teil, 
erklären  könnte? 

Starke,  namentlich  ungewohnte  Gerüche  werden  fast  immer  zuerst 
unangenehm  empfunden.  Geisteskranke  haben  fast  ausschliesslich  un- 
angenehme Gerüche;  Hypnotisierte  riechen  ungemein  weit  und  selten  Un- 
angenehmes. Der  allmählich  angewöhnte,  zuerst  unangenehm  empfundene 
Geruch  eines  Stoffes  kann  nach  und  nach  zu  einem  individuell  beliebten 
Parfüm  werden  (Jodoform,  Karbolsäure  z.  B.  bei  Ärzten)  oder  sich  sehr 
abstumpfen.  Die  Lieblichkeit  des  Geruches,  die  allerdings  viel  öfter 
individuell  ist,  setzt  im  allgemeinen  eine  gewisse  Verdünnung  des  Geruchs- 
Agens  in  dem  jeweiligen  Menstruum  voraus,  damit  sie  als  solche  sich 
bemerkbar  macht. 

Man  könnte  nun  die  Frage  aufwerfen,  ob  das  Landvolk  Geruchs- 
empfindungen schlechter  pereipiert  als  der  Städter?  Wenn  man  auch  zu- 
geben muss,  dass  der  Städter  im  allgemeiuen  in  einer  weniger  reinen 
Athemluft  lebt  und  dementsprechend  die  Geruchsempfindungen  sich  bei 
ihm  abstumpfen  könnten,  [eine  Abstumpfung,  die  auch  das  von  den  euro- 
päischen Kulturstätten    aus  ins  Landvolk  verbreitete  Tabaksclinupfen  als 


1)    „hantig"    ist    sowohl    bitter,   scharf,   als    salzig   und   sauer,    stets   im  Gegensatz 


442  Höfler: 

Abwechselung-  bietendes  Nasenreizmittel  nus  erklären  könnte]  und  wenn 
man  auch  wieder  zugeben  nrass,  dass  der  Städter  und  namentlich  der 
Gastrosoph  eine  grössere  Auswahl  von  Geruchsbezeichnungen  hat,  weil  er 
auch  mehr  Vorstellungskreise  besitzt,  die  er  damit  in  Verbindung  bringen 
kann,  so  wTäre  es  doch  irrig,  daraus  auf  eine  mangelhaftere  Geruchs- 
perception  beim  Landvolke  zu  schliessen.  In  der  volksüblichen  Sprache 
Altbayerns  fehlen  allerdings  die  Ausdrücke:  „riechen",  „modern",  „duften", 
„ranzig  sein"  u.  s.  w.;  das  Volk  kennt  aber  „schmecken"  und  „stinken" 
und  schafft  sich  aus  dem  Kreise  seiner  Vorstelluugsbegriffe  durch  das 
Deminutiv- Anhängsel  „ein"  eine  Reihe  von  Geruchsbezeichnungen,  deren 
Anzahl  für  eine  solche  Armut  an  Geruchs-Prototypen  gerade  nicht  beweisend 
ist,  z.  B.  schmiergeln  (zu  Schmer,  Fett),  grawein  (zu  grau,  nach  grauem 
Schimmelpilz  der  Speisen  riechen),  schimmeln,  böckeln,  muffeln,  fauleln. 
räucheln,  brandein.  möseln,  schwitzein.  kutteln,  höseln  u.  a.  Es  sreht  hier 
beim  Geruchsinne  wie  beim  Farbensinne:  das  Landvolk  kommt  z.  B.  mit 
ungefähr  10  Farbenbezeichnungen  aus,  der  Grossstädter  aber  hat,  wie 
\Y.  Schwartz  in  dieser  Zeitschrift  1892  S.  249  nachwies,  133  solche  Be- 
zeichnungen von  Farben:  der  Städter  sieht  ebenso  viele  Farben  wie  das 
Landvolk;  er  hat  nur  mehr  Bezeichnungen  für  die  einzelnen  Unterarten. 
Unter  normalen  Verhältnissen  ist  für  Gerüche  eigentlich  jeder  Mensch, 
dessen  Nasenschleimhaut  gesund  ist,  empfänglich,  auch  bei  sonst  verschie- 
denen Bedingungen1);  immer  aber  sind  es  nur  subjektive  Vergleiche 
mit  bestimmten  realen  Typen,  mit  denen  wir  diese  Geruchseindrücke  be- 
zeichnen. Ein  besonderer  Feinschmecker,  Baron  Vaerst.  fand  einmal  z.  B. 
in  der  Schweiz,  dass  ein  Hammelbraten  nach  Veilchen  rieche.  Diesen 
Vorrat  an  Prototypen  schuf  und  erweiterte  erst  die  fortschreitende  Kultur, 
die  das  Bedürfnis  nach  solchen  (durch  die  Notwendigkeit,  die  Geruchsart 
zu  fixieren  und  sprachlich  zum  Ausdrucke  zu  bringen  gegebenen)  Geruchs- 
bezeichuungen  setzte.  Die  Ursache  des  Bedürfnisses  ist  nach  dem  Pflüger- 
schen  Gesetze  auch  die  Ursache  zur  Befriedigung  des  Bedürfnisses.  Der 
Handels-  und  Warenverkehr  war  es  namentlich,  welcher  durch  die  Unter- 
scheidung frischer  von  alter  Ware,  echter  und  falscher  Stofle  die  Geruchs- 
bezeichnungen erweitern  half,  nachdem  längst  vorher  schon  und  in 
erster  Linie  die  Nahrungsauswahl  die  Veranlassung  zu  differenten  Geruchs- 
benennungen gegeben  hatte. 

Eine  der  ältesten  Bezeichnungen  für  riechende  Stoffe  ist  z.  B.  das  Aas  (ahd.  äs) 
=  O-as,  Ab-ass,  Ab-uzz,  abseits  gelegtes  oder  weggeworfenes  Essen2).  Hierher  reihen 
sich  an:  Abwasser  -  faules,  übelriechendes  Wasser:  Abkraut.  Abwurz  =  übelriechendes 
Kraut:  Abfleisch  =  ungeniessbares,  faules  Fleisch:  Abfeil  (A-fel)  =  (übelriechende?)  Haut- 
ablösung: Abgeschmack  =  übelschmeckend,  geschmacklos. 


1)  Selbst  der  Schwerkranke  erfreut  sich  noch  am  Dufte  der  Blumen,  und  noch  der 
Scheintote  reagiert  auf  Geruchsempfindungen,  selbst  wenn  alle  anderen  Sinnesreize  ohne 
Einfluss  geblieben  waren. 

2)  O-aett  (Unland)  =  ekelerregend. 


Der  Geruch  vom  Standpunkte  der  Volkskunde.  443 

Auffällig  ist,  dass  das  Wort  „stinken",  dem  (nach  Kluge)  das  griechische  zayyve 
-  ranzig,  etymologisch  am  nächsten  steht,  im  Althochdeutschen  und  bis  zum  frühen  Mittel- 
alter noch  bedeutete:  „einen  Genich  von  sich  geben",  ja  sogar  noch  „duften".  Hierher 
gehören  die  verschiedenen  Stink-Blumen,  Stink- Tiere  (Wiesel  und  Wanze),  Stink -Wasser 
(meist  Schwefelwasser). 

Das  „Riechen"  ist  eigentlich  hierzulande  nicht  volksüblich;  wie  schon  erwähnt,  tritt 
hierfür  „Schmecken"  (GVhmaeh)  ein:  riechen  ist  noch  mhd.  auch  =  rauchen,  Rauch  und 
Geruch  verbreiten.  Das  Wort  „Wass"  ahd.  uuäz  =  feiner  Geruch  ist  ebenfalls  nicht  mehr 
üblich  (zu  oCm,  oöov)  (A-wasel  =  Aas).  Hierher  die  verschiedenen  Ruchgräser,  Ruchbäume, 
Schmeckblumen,  schmeckende  Wasser  etc. 

Die  übrigen  Geruchsbezeichnungen  stammen  grösstenteils  oder  fast 
ausschliesslich  aus  dem  Vergleiche  mit  südlichen  Produkten,  wie  sie  durch 
die  Einführung  römischer  Gartengewächse  und  orientalischen  Rauchwerkes 
dem  Volke  schon  sehr  gut  bekannt  geworden  waren,  z.B.  Rosen,  Kümmel, 
Wein,  Nelken,  Zimmt,  Moschus,  Balsam  etc.  Die  Ärzte  und  Klostermönche, 
Kräutersammler  und  Warenhändler  waren  es,  die  diese  nicht  einheimischen 
Geruchsbezeichnungen  volksüblich  machten  und  bei  botanischen  Objekten 
den  geruchlosen  oder  anders  riechenden  Pflanzen  den  Beinamen  Hund-, 
Kuh-,  Wild  etc.  gaben.  Die  übrigen  einheimischen  Ruchpflanzen  haben 
Namen,  die  mit  ähnlichen  einheimischen  Gerüchen  verglichen  werden;  die 
Kräutersammler  verfuhren  bei  deren  Auswahl  gerade  nicht  ästhetisch,  des- 
halb können  wir  diese  Namen  zum  Teil  übergehen;  Bock,  Wanze,  Schwein, 
Esel,  Kröten,  Katze  etc.  lieferten  nicht  wenige  solcher  Vergleiche.  Als  In- 
begriff eines  besonders  feinen  Aromas  gilt  auch  heutzutage  noch  die  Apo- 
theke, die  vielen  Pflanzen  die  Geruchs -Signatur  gab;  „mein  Wiesen -Heu 
schmeckt  wie  eine  Apotheke"  kann  man  hier  und  da  aus  bäuerlichem 
Munde  hören.  Der  Schwefelgeruch  (Schwefel  ist  ein  gemein-germanisches 
Wort,  das  nach  Kluge  erstickender,  tötender,  einschläfernder  Stoff  bedeutet) 
kommt  bloss  dem  Teufel  und  Gespenstern  zu  im  Volksmunde;  der  ur- 
germanische  Lauch,  dessen  Geruch  vielleicht  einer  der  am  längsten  be- 
kannten Pflanzengerüche  ist,  wurde  nach  der  Edda  (Sigrdrifa-Lied  8) 
dazu  verwendet,  um  den  Meth  auf  beigemischte  giftige  und  berauschende 
Gewürze  zu  prüfen,  wobei  daran  zu  erinnern  ist,  dass  man  noch  heute  mit 
Vorliebe  auf  das  erste  Gericht  Schnittlauch  streut.  Der  Speisengeruch 
und  der  Feuerungsrauch  wird  wohl  für  den  in  Not  befindlichen  Menschen 
stets  eine  Art  von  „kostlicher"  Witterung  gewesen  sein;  der  Almhütten- 
rauch und  der  Geruch  der  sogenannten  Samstagnudeln  ist  noch  heute  eine 
solche  für  Wilderer  und  Bettelleute. 

Die  Witterung  der  Tiere  ist  besonders  lehrreich;  so  behaupten  die 
Jäger,  dass  die  Gemsen  und  das  Hochwild  vor  den  in  Sennhütten  ein- 
geräucherten Wildschützen  und  Hirten  weniger  Scheu  hätten,  als  vor  den 
kostümierten  Jägern  und  Jagdherren.  Hunde  auf  Einzelgehöften  wittern 
streunende,  ihre  Wäsche  selten  wechselnde  Vaganten  viel  rascher  als  ihnen 
fremde  Einheimische;  ebenso  wittern  die  Hunde  ganz  rasch  die  Hundefleisch- 
Verzehrer.    Als  das  Christentum  den  Genuss  des  heidnischen  Pferdefleisches 


444  Höfler: 

verbot,  bezw.  auf  das  noch  732  hier  zu  Lande  wild  lebende  Pferd  ein- 
schränkte, musste  dem  Volke  der  eigentümlich  süssliche  Geruch  auffallen, 
den  die  Hautausdünstung  der  Rossfleisch  verzehrenden  Altgläubigen  hatte 
und  den  noch  heute  das  Volk  verabscheut.  Vielleicht  hat  der  Name 
Hunde-Ross-Kraut  mit  diesem  Gerüche  des  Hundefleisch-  oder  Pferdefleisch- 
Opfers  in  der  Heidenzeit  einen  Zusammenhang.  Von  Pflanzennamen  sei 
hier  noch  „Siebengezeit"  erwähnt  (Melilotus  caeruleus,  Foenum  graecum), 
das  seinen  Namen  davon  haben  soll,  dass  es  siebenmal  in  der  Tageszeit 
dufte;  es  ist  aber  wahrscheinlicher,  dass  es  seinen  Namen  von  den  sieben 
kanonischen  Zeiten  (horae)  der  Klostermönche  hat,  die  die  wohlriechende 
Pflanze  in  die  betreffenden  Abschnitte  ihrer  Gebetbücher  legten,  wie  noch 
heute  das  sogenannte  Bauernherbarium  in  Gebetbüchern  zu  finden  ist.  Die 
Klöster,  namentlich  die  Nonnenklöster,  verfertigten  auch  kunstvoll  gefasste 
kleine  Ossuarien  aus  Teilchen  von  Reliquien,  wie  sie  noch  heute  zu  finden 
sind.  Die  Einbalsamierung  der  Heiligen-Reliquien  und  der  damit  getriebene 
Handel  brachte  dem  Volke  neue  „wunderbare"  Gerüche  zur  Kenntnis. 
„Caeterum  ex  reliquiis  Sanctorum  saepenumero  odorem  suavissimum  fuisse 
emissum  passim  docent  scriptores,"  schreibt  Meichelbeck  in  seinem  Chr. 
Benedictorum  unterm  Jahre  1053.  Solche  Heiltümer  verbreiteten  in  ihrer 
Umgebung  die  Düfte  orientalischer  Balsame  und  Harze  und  so  stand 
mancher  Zellenmönch  „im  Gerüche  der  Heiligkeit,"  den  die  anderen  nicht 
genossen. 

Wie  viele  Gerüche  in  einem  Räume,  z.  B.  einer  Wohnstube  vorhanden 
sind,  so  können  sie  für  den  darin  Wohnenden  vollständig  durch  Abstumpfung 
verschwinden:  nach  Kussmaul  sind  schon  die  Neugeborenen  für  beständige, 
auch  starke  Gerüche  bald  abgestumpft.  So  gewöhnt  sieh  der  Mensch  mit 
der  Zeit  an  die  übelriechendste  Atmosphäre  (z.  B.  Kutscher  an  den  Stall- 
geruch), die  auf  den  nicht  daran  gewöhnten  Mitmenschen  oder  fremden 
Reisenden  eine  geradezu  betäubende  Wirkung  haben  kann.  So  kommt  es, 
dass  fast  jedes  Volk  das  andere  als  stinkend  bezeichnet  (Völker-Geruch); 
vergl.  die  orientalischen  Juden  noch  heute  (im  Mittelalter  war  „Stinker" 
ein  Schimpfname  für  Juden),  den  Neger-Geruch  u.  s.  f.  Die  geringere 
Hautpflege,  die  künstlichen  Hautschmieren,  die  verschiedene  Bekleidung 
(Wolle,  Pelze  etc.)  und  vor  allem  die  verschiedene  Nahrung  werden  daran 
mehr  Schuld  tragen,  als  der  noch  sehr  zweifelhafte  specinsche  Rassen- 
Geruch.  Allerdings  duftet  auch  der  Mensch  unter  abnormen  Verhältnissen 
verschieden,  z.  B.  Wöchnerinnen,  Menstruierende,  Totkranke  (moschusartiger 
odor  mortis,  der  vielleicht  die  Veranlassung  gab  zur  Fabel  vom  Tode  durch 
Blumendüfte).  Blattern-,  Masern-,  Influenza-,  Rheumatismus-,  Syphilis- 
Kranke  riechen  ganz  verschieden;  „er  stinkt  wie  die  Pest"  ist  noch  land- 
läufiger Ausdruck  (Sepsis-Geruch);  es  sind  dies  aber  abnorme  Verhältnisse 
mit  abnormen  Stoffwechselvorgängen.  Der  Hircus  axillaris  scheint  inter- 
national  zu   sein;    lästig  wurde  dieser  manchen  Deutschen  erst  im  Mittel- 


Der  Geruch  vom  Standpunkte  der  Volkskunde.  445 

alter,  wie  man  daraus  schliessen  darf,  dass  erst  mit  der  Verwendung  der 
Mineralbäder  (15.  Jahrhundert)  dieser  Geruch  eine  der  Indikationen  für 
deren  Gebrauch  abgab. 

Einen  unangenehmen  Geruch  durch  andere  Gerüche  zu  verdecken,  ist 
durchaus  keine  moderne  Erfindung;  sie  ist  sicher  so  alt  als  die  Beigabe 
von  wohlriechenden  Harzen  oder  harzreichen  Holzarten  zum  Brandopfer; 
der  kirchliche  Weihrauch  ist  eigentlich  nur  eine  Aldösungsferni  für  das 
volle  Brandopfer;  man  wollte  mit  der  Beigabe  wohlriechender  Harze  dieses 
Brandopfer  der  Gottheit  angenehmer  oder  „annehmbarer"  machen.  Ob  die 
von  Tacitus  (Germania  c.  37)  beim  Leichenbrande  berühmter  Männer  er- 
wähnten „besonderen  Holzarten"'  fremdländisch  waren,  ist  zu  bezweifeln; 
wahrscheinlich  bedienten  sich  die  Germanen  des  einheimischen  Wachholders, 
dessen  Beeren  als  „Lohbeeren",  „heilige  Weih-Eicheln"  verbrannt  wurden; 
er  lieferte  die  Wodansgerte  (Lebensrute)  und  alte  Pestmittel.  Der  Opfer- 
rauch (Geruch)  hat  als  hl.  3  Königsrauch,  Rauchkerzchen,  Eäucher-Essenz 
noch  immer  seine  nach  dem  Volksglauben  reinigende  Wirkung  und  Ver- 
wendung. Der  heilige  Rauch  (Weihrauch)  sollte  Seuchen,  Krankheits- 
Schelme,  Hexen  und  Teufel  vertreiben;  die  Fäulnis  der  Luft  sollte,  wie 
die  Fäulnis  des  Fleisches,  durch  Geruchsmittel  vertrieben  werden;  daher 
noch  heute  der  stinkende  Bock  im  Viehstalle,  früher  der  Wachholderrauch 
in  den  Pest-Kontumaz-Häusern,  „Rauchhäusern",  das  Wachholder-,, Gluti" 
in  den  Spitälern  (Mitte  des  19.  Jahrhunderts),  das  Aufhängen  von  stark- 
riechenden Hexenkräutern  gegen  Krankheits -  Schelme  (Schrätzlein,  Putzl, 
Nörkeln,  Heinzein,  Wichtlein.  Kunter,  Kasermannl,  Witemannl,  Bilweizen, 
Töckeln,  Trnden,  Alperer,  Gefraischlein,  Holzwt  ibl,  wilde  Ochsner  etc.  etc.), 
welche  volkstümlichen  Krankheitsdämone  zur  Zeit  der  humoral  -  patho- 
logischen Medizinschulen  auf  den  Namen:  „phlegmatischer  Schleim"  oder 
„schwarze,  verbrannte  Galle"  sich  umtaufen  Hessen,  während  sie  heutzutage 
als  Kommabazillus  (sogar  mit  specifischem  Sippen -Geruch)  als  Typhus-, 
Milzbrand-Bazillus  etc.  der  modernen  Kulturmenschheit  ihre  Visitenkarten 
abgeben.  Aus  den  staubigen  Winkeln  der  Häuser  sucht  man  die  Hexen- 
kraft  zu  bannen  durch  antipymotische,  starkriechende  Frauendreissigstkräuter 
(Wohlmut.  Baldrian,  Münze,  Wachholder,  Weinraute,  Teufelsdreck  etc.) 
und  aus  den  Truhen  und  Schränken  durch  die  motten-,  fäulnis-  und  pest- 
widrige Citrone1)  alles  schelmenhafte,  verzauberte  und  hineinverhexte  Un- 
geziefer zu  vertreiben.  Lavendel,  Myrte,  Thymian,  Salbey,  Speik,  Ros- 
marin etc.  sind  solche  Wäschekräuter,  durch  deren  Geruch,  wie  durch  den 
der  übrigen  G'wand-  und  Queudelkräuter ,  Kittelkräuter,  Laubquesten 
(Ruchbirke)  etc.  man  alle  krankhaften  Agentien  zu  entfernen  bestrebt  war. 


1)  An  deren  Stelle  ist  heute  meist  der  „Schmalzapfel"  getreten,  d.  h.  ein  wohl- 
riechender, zur  hesseren  Konservierung  mit  Sehmalz  bestrichener,  glänzender  Apfel  Die 
Apfelsalbe  ipmiiadai  mag  darum  zu  den  alteren,  Ungeziefer  vertreibenden  kosmetischen 
Mitteln  gehören. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893.  30 


446  Hötler: 

In  diese  doppelte  Rolle  eines  Unholdinnen  uud  Schelmen  vertreibenden 
und  dabei  kosmetischen  Geruchmittels,  das  stets  bei  sich  zu  tragen  ein 
menschliches  Verlangen  war,  teilte  sich  der  „Gürtler"  oder  „Schmecker", 
der  als  „Sonnwendgürtel"  vom  Weibe  verwendet  wurde.  Das  kraut-  und 
küchenkundige  Weib,  das  stets  auch  des  Schmuckes  und  Liebreizes  nicht 
vergass.  musste  zuerst  auf  wohlriechende,  fäulniswidrige,  Motten  und  Geziefer 
vertreibende  Pflanzen  seine  Fürsorge  gerichtet  haben,  die  ihm  auch  den 
Vorteil  eines  für  die  Pesttage  bestimmten  Kosmetikum  boten.  Das  älteste 
volksübliche  Wohlgeruchsmittel  des  deutschen  Weibes  ist  vielleicht  die 
Raute  gewesen.  Unter  dem  Namen  Baute  versteht  aber  das  Volk  stets 
wohlriechendes,  grünes,  vielfach  verzweigtes,  gelapptes  Krautblätterwerk 
von  Blumen  verschiedener  Arten,  hauptsächlich  den  Beifuss  (biböz  =  Beistoss 
=  Beiwürze  zur  alltäglichen  Küchenspeise)  —  Artemisia  vulgaris  (Schoss- 
wurz  oder  Johannesgürtel),  Artemisia  spicata  (Gürtler,  Speik,  Stabwurz), 
Artemisia  nana,  Artemisia  nitida  (Schosswurz).  Artemisia  abrotanum  (Eber- 
raute, Stabwurz),  Artemisia  mutellina,  Tanacetum  balsamite  (Schmecker, 
Gürtler,  Mutterstab,  Frauenblatt),  Valeriana  celtica  (Magdalenenkraut,  Speik) 
(Tirol),  Senecio  incanus  (Edelraute),  Asplenium,  Fumaria,  Galega.  Thalictrum, 
Veroniea,  Ruta  graveolens  etc.  etc.  Der  Name  „Raute"  (Rauten)  ist  so 
verbreitet,  dieses  ureinheimische  Kraut  so  volksüblich  und  bekannt,  seine 
volksmedizinische  Verwendung  bei  Frauenleiden  aller  Art  so  allgemein, 
bei  Milchmangel  seine  Benutzung  durch  Hirten  und  Senner  so  alltäglich, 
darf  man  fast  sagen,  dass  au  dem  germanisch -deutschen  Indigenate  dieses 
ältesten  Küchenkrautes  (das  allerdings  mit  vielen  anderen  rautenähnlichen 
Blättern  früher  oft  verwechselt  worden  sein  mag)  nicht  zu  zweifeln,  und 
die  Entlehnung  desselben  aus  dem  Lateinischen  höchst  unwahrscheinlich 
ist;  auch  Kluges  Wörterbuch  hält  das  lateinische  ruta  für  „urverwandt" 
mit  dem  ahd.  ruta;  die  Raute,  das  G'raut,  ist  in  der  That  „die  Mutter 
aller  Kräuter";  sie  war  die  Beiwürze  (Beistoss,  Beifuss)  zur  alltäglichen 
Speise  wegen  ihres  Geruches  und  Geschmackes,  sie  ist  das  Sonnenwend- 
kraut, das  mit  dem  ebenfalls  uralten  Eisenkraut  ins  Sonnwendfeuer  ge- 
worfen wird,  mit  dem  sich  die  Jugend  beiderlei  Geschlechter  bekränzte 
auf  Sommersonnenwendzeit,  wovon  vier  Bündel  in  der  Kammer  gegen  die 
Hexen  aufgehangen  werden,  womit  sich  die  Jugend  beim  Kirchengange 
heute  noch  mit  Vorliebe  ziert1),  mit  dessen  Rauch  man  den  „Kunter"  in 
den  Stalluugen  vertreibt,  womit  sich  das  Wiesel  (=  Jungfrau)  beim  Kampfe 
mit  der  Schlange,  wie  Lonicerus  schreibt,  stärkt,  eine  so  allgemein  ver- 
wendete Pflanze,  auf  die  jede  Sennerin  heute  noch  hoch  und  teuer  schwört, 
dieses  Kraut  kann  nie  und  nimmer  ein  entlehntes  oder  erst  eingeführtes 
sein.     Die    fremdländischen  Kräuter    verraten   sich  nicht  nur  durch  ihren 


1)    „Herzschmecken"  und  „Hutbüschel"  werden  diese  wohlriechenden  Kräuterbündel 
genannt. 


Der  Geruch  vom  Standpunkte  der  Volkskunde.  447 

Namen,  sondern  vor  allem  durch  die  Art  und  Weise  ihrer  Verwendung 
und  durch  die  Krankheitsnamen,  gegen  die  sie  gebraucht  werden:  die 
Raute  ist  aber  geradezu  ein  Prototyp  einer  ureinheimischen  Pflanze,  die 
ihrem  Wohlgeruche  ihre  frühzeitige  Verwendung  gegen  alle  Faulheiten 
des  Fleisches  und  der  Luft  verdankt:  sie  wurde  zur  Mutter  aller  in  der 
Küche  verwendeten  Kräuter:  als  wohlriechender  Rautengürtel  wurde  dieses 
Schosskraut,  Frauenblatt,  Gürtelkraut,  Hollenkraut,  Schmeckerkraut  etc. 
auf  dem  blossen  Schoss  oder  Bug  (Schenkel)  getragen,  daher  sie  auch 
„Bungler"  genannt  wurde  (Schmeller-Frommann  a  I.  206.  217  II.  302  der 
Zillerthaler  nennt  seine  Schenkel  noch  „Bunglen"). 

Mit  steigender  Kultur  trat  an  die  Stelle  des  wohlriechenden  Heulagers 
(Heublumen)  das  mit  solchen  Kräutern  gefüllte  Bettkissen.  Dem  Bettgaste 
legte  man  im  Mittelalter  solche  Ruchsäcklein  aufs  Kopfkissen:  „ez  smecket 
so  manz  ieuder  regt,  alsam  ez  vollez  balsmen  si"  saug  Walther  von  der 
Vogelweide  (L.  54,  14)  und  der  „Schlafkienzl".  „Schlafmützen"  von  der  wohl- 
riechenden Rose  (heute  von  Rosa  canina)  (Rosenkönig  auch  genannt)  wurde 
als  Wunscherfüller  und  Fruchtbarkeitsmittel  unters  Schlafkissen  gelegt;  so 
kam  auch  der  Thymian  zur  Benennung:  „Unser  Frauen-Bettstroh". 

Die  wohlriechenden  Öle  und  Salben  lernte  das  Volk  des  Mittelalters 
erst  durch  die  Kreuzzüge  kennen,  desgleichen  die  warmen  Wannenbäder 
mit  wohlriechenden  Blumen  (Rosen,  Liebstöckl,  Lavendel,  Chamille  etc.), 
die  als  Zwagkräuter,  Badekräuter,  Laugeublumen,  Waschkräuter  etc.  solche 
Verwendung  fanden ;  so  warf  man  auch  im  Mittelalter  Rosen  iu  die 
Badewannen  (Wolfram  von  Eschenbach,  Pareival  166,  26  Lachm.)  und 
die  „Rosenbusch-Jungfern"  waren  an  den  Höfen  eine  ganz  gewöhnliche 
Beigabe  zum  Männerbade.  Überhaupt  legte  das  Mittelalter  grossen  Wert 
auf  aromatische  Bäder,  namentlich  bei  Frauenleiden.  Die  Badestuben- 
Gelehrten  jener  Zeit,  die  sogenannten  Bader,  wissen  auch  allerlei  Wir- 
kungen zu  erzählen  von  der  frischen  „Ruchbirke"  gegen  Hautkrank- 
heiten etc.  (s.  des  Verf.  Volksmedizin  und  Baum-  und  Waldkult)  und  dem 
wohlriechenden,  amulettartig  am  Hinterkopfe  getragenen  „Hauptkisschen" 
gegen  Schläfrigkeit  und  Gedächtnisschwäche. 

Das  Volk  der  Berge  hat,  wie  jeder  Reisende  sich  überzeugen  kann, 
grossen  Sinn  für  Farben,  der  sich  in  verschiedener  Weise  bemerkbar  macht, 
aber  auch  für  feinere  Gerüche.  Die  Bäuerin  pflegt  im  Wurzgarten,  auf 
der  Laube  und  hinterm  Fenster  nicht  bloss  farbenprangende,  sondern  vor 
allem  „schmeckende".  Blumen  und  selbst  der  ältere  Bauer  steckt  sich  noch 
eine  Wiesenblume  auf  den  Hut,  aber  dann  nur  eine  „schmeckende"  (Mai- 
glöckchen und  Schmeckprimel);  das  junge  Volk  aber  liebt  nicht  bloss 
diese,  es  ziert  sich  mit  Lamberten,  mit  dem  Rauten,  mit  dem  Nagerl 
(Nelke),  für  deren  Diebstahl  nicht  jeder  Geistliche  Absolution  erteilt.  Für 
die  reine  Luft  der  Berge  hat  auch  der  Gebirgsbauer  Sinn,  er,  der  an  dem 
würzigen  Gerüche  des  Tannenharzes,  am  Dufte  blühender  Wiesen  ebenso 

30* 


,i<^  Schwartz: 

teilnahmslos  vorübergeht,  wie  an  der  Düngerstätte  und  an  dem  Krautfasse, 
die  ihn  gerade  so  gleichgiltig  lassen,  wie  den  Hamburger  der  Steinkohlen- 
Geruch  oder  den  Venetianer  der  Lagunen-Geruch. 
Tölz  in  Bayern. 


Kleine  Mitteilungen. 


Noch  einmal  die  gefesselten  Götter  bei  den  ludogermaneu. 
Von  Wilhelm  Schwartz. 

Wenn  ich  noch  einmal  auf  den  Artikel  „Die  gefesselten  Götter  bei  den 
Indogermanen"  im  II.  Bd.  unserer  Zeitschrift  S.  197  zurückkomme,  so  geschieht 
es,  weil  ich  inzwischen  noch  eine  höchst  interessante  Notiz  zur  Sache  gefunden 
habe,  die  den  behaupteten  Hintergrund  der  dahin  schlagenden  Vorstellungen  in 
bedeutsamer  Weise  erweitert  und  bestätigt. 

Im  ersten  Artikel,  um  ihn  kurz  zu  rekapitulieren,  hatte  ich.  gemäss  der  An- 
frage von  Miss  Gertrude  Godden  inbetreff  der  gefesselten  Götter,  namentlich 
Göttermythen  herangezogen,  welche  sich  der  Naruranschauung  anschlössen,  dass 
die  Winde  (und  überhaupt  die  Gewitterwesen)  gewöhnlich  „eingeschlossen"  bezw. 
„gefesselt"  erschienen  und  im  Unwetter  dann,  wenn  sie  an  der  Arena  des  Himmels 
auftreten,  ihre  Bande  angeblich  sprengten,  bezw.  am  Ende  des  Wetters  in  neue 
geschlagen  wurden.  Wie  die  „Wolke",  aus  der  die  Stürme  hervorbrachen,  als  ein 
„Berg",  eine  „Höhle'',  in  der  sie  eingescldossen  gewesen,  dabei  in  der  Urzeit  auf- 
gefasst  wurde,  so  galten  unter  anderm  die  „Blitze",  welche  man  dabei  als  „zauber- 
hafte Fäden"  ansah,  als  wunderbare  Bande,  die,  so  fein  sie  wären,  doch  schwer 
zerreisbar  seien,  wie  es  noch  der  Mythos  vom  Bande  Gleipnir,  welches  den  Fenris- 
wolf,  d.  h.  den  heulenden  Sturmeswolf,  fesselt,  in  der  Edda  in  eingehender  Weise 
ausführt  (s.  I.Artikel  S.  197  Anm.  4). 

Eine  Stelle  des  Eunapios  von  Sardes  nun.  auf  die  ich  zufällig  stiess,  lenkte 
meine  Aufmerksamkeit  nachträglich  noch  auf  den  zauberhaften  Gebrauch  des 
sogenannten  Windzaubers  und  lässt  diesen  höchst  bedeutsam  für  die  ganze 
Sache  werden.  Wenn  wir  denselben  nämlich  bisher  nur  bei  den  Nordgermanen 
und  Finnen  (nach  .1.  Grimm,  M.  -  S.  606  und  1041)  kannten,  so  lehrt  uns  die  er- 
wähnte Stelle,  dass  er  auch  in  Griechenland  heimisch  war,  und  lässt  weitere 
Folgerungen  für  unser  Thema  daran  knüpfen,  indem  überall  auch  in  einem 
Gebrauch  das  Fesseln  der  Winde  sich  als  ein  Hauptmoment  ergiebt. 

Denn  Eunapios  berichtet,  dass  noch  zur  Zeit  Kaiser  Konstantins  allgemeiner 
Glaube  in  Byzanz  war.  jemand  könne  nach  Wunsch  Winde  „fesseln"  und  so  ihr 
Wehen  verhindern.  Er  erzählt  nämlich,  der  beim  Kaiser  hochangesehene  Philosoph 
Sopatros  sei  von  demselben  seinen  Gegnern  preisgegeben  und  getötet  worden,  weil 
sie  ihn  während  einer  Hungersnot  in  Byzanz  verleumdeten,  er  habe  die  Südwinde 
„gefesselt"  ^/.-xiibr^i),  damit  Getreideschiffe  nicht  in  die  Propoutis  einlaufen  und 
die  Stadt  verproviantieren  könnten. 


Kleine  Mitteilungen.  449 

Unter  dein  Reflex  dieser  Thatsache  gewinnt  aber  die  gelegentlich,  hervor- 
tretende Vorstellung  bei  Homer  vom  „Fesseln"  der  Winde  durch  die  Götter  je 
nach  Bedürfnis1),  vor  allem  das  Bild,  wie  Aiolos  dies  ausführt,  ein  besonderes 
Interesse.  Er  giebt  bekanntlich  dem Odysseus  einen  Schlauch,  in  dem  alle  Winde 
bis  auf  den  West,  der  ihn  in  seine  Heimat  tragen  soll,  mit  einer  glänzenden 
silbernen  Schnur  gefesselt  sind,  welche  die  Geführten  des  Odysseus  dann  aus 
Leichtsinn  lösen,  so  dass  die  eingeschlossenen  Winde  herausstürmen.  Od.  10,  23  IV. 
heisst  es: 

vrji  ö'ä'i  7Xa<j)ijp?|  xci.noei  (die  im  Schlauch   eingeschlossenen  Winde) 

U£pui.\)l    (f>OlEtI>'/j  , 

>  r,  /  /  ,-,    , 

ap^upsv).   ivct  y.'i'ji  nu.pa,7Tv£vfii  G/.170V  nsp. 
Und  nachher: 

ßouXvj  0£  xot.xyi  vixycrev  sraipuiV 

äirxov    ij.sv  XuVav,    ii'fuoi   ö'ey.    navTec  opavarcKV. 

Das  Bild  erhält  nun  unter  Voraussetzung  eines  dahin  schlagenden  Volks- 
glaubens auch  in  Griechenland  eine  neue,  charakteristische  Bedeutung,  zumal  es 
in  dem  Kern  der  Ausführung  genau  zu  dem  Verfahren  der  nordischen  Zauber- 
weiber beim  Windzauber  passt.  Diese  verstehen  es  (wie  J.Grimm,  Myth.  ■  1041 
sagt)  angeblich  „Wind  und  Unwetter  in  einen  Sack  zu  schliessen,  dessen  Knoten 
sie  zu  gelegener  Zeit  lösen,  wobei  sie  ausrufen:  „Wind  in  Teufels  Namen!"  Dann 
fahrt  Sturm  heraus,  verheert  das  Land  und  stürzt  Schiffe  im  Meere  um".  Das  ähn- 
liche Verfahren  des  Aiolos  ist  nach  allem  nun  nicht  mehr  eine  poetische  Fiktion  des 
Dichters,  sondern  derselbe  hat  nur  eine  alte,  auch  griechische  Tradition  vom  Wind- 
zauber, die  sich,  wie  so  viele  Arten  der  Zauberei,  als  ein  altes  Erbe  aus  der  Ur- 
zeit entpuppt,  seiner  Darstellung  verwebt,  indem  so  es  ihm  möglich  wurde,  den 
Gefährten  des  Odysseus  die  Rolle  zuzuweisen,  die  guten  Absichten  des  Aiolos  zu 
vereiteln. 

Der  zauberhafte  Gebrauch  aber  an  sich  ergiebt  sich  in  seinem  Ursprung,  wie 
die  meisten  ähnlichen  Zauberstücke  der  Urzeit,  als  eine  einfache  jutjur^ig  angeb- 
licher Vorgänge  am  Himmel,  indem  der  Naturmensch  durch  Nachahmung  derselben 
dieselben  Erfolge  zu  erzielen  gedachte,  die  mit  jenen  dort  oben  verbunden  zu  sein 
schienen,  in  diesem  Falle  also  das  Lenken  der  Winde  nach  Belieben  ).  Die 
Wolke  wird  dabei  repräsentiert  durch  einen  Sack  (Windsack,  Windbeutel),  der 
Blitzesfaden  durch  einen  Strick3),  und  wenn  weiter  dabei  das  Schürzen, 
bezwr.  Lösen  der  Knoten  an  dem  Strick  eine  besondere  Rolle  spielte,  ja  allein 
schon  stellenweise,  z.  B.  bei  den  Vinländern  unter  Wegfall  eines  Sackes  als 
Zaubermittel  zum  Windzauber  galt*),    so  geht  dies  Moment  speciell  auf  die  sich 


1)  Od.  10,  20  f.  heisst  es  vom  Aiolos:  sviht  5k  ßvxjäiov  ürt/uoy  xax&btjae  x&Xev&a, 
xsTvov  yüg  ra/iu/v  ave/icov  itoirjoi  Kgoviav;  ähnlich  von  der  Athene  5,  3S3:  rjroi  liäv  ä)la>v 
ävi/Mov  xareStjae  xsXevdovq  —  bis  auf  den  Boreas,  der  den  Odysseus  zu  den  Phäaken 
bringen  sollte. 

2)  Über  die  der  Hauptmasse  der  alten  Zauberei  zu  Grunde  liegende  iiiinjai^  siebe 
Prahlst.  Studien  die  im  Index  unter  Mimesis  angeführten  Stellen,  sowie  meinen  Aufsat/ 
über  prähistorische  Mythologie,  Phänomenologie  und  Ethik  in  der  Zeitschr.  der  Berliner 
anthropol.  Gesellsch.  vom  Jahre  18S5  S.  539  1'. :  vorgl.  auch  den  II.  Bd.  unserer  Zeitschr. 
S.  76  Anm.  7. 

3)  Über  die  Wolke  als  „Sack"  s.  Poet.  Naturauseh.  II  2,  über  dm  Blitz  als  „Faden" 
oder  „Seil",  ebendas.  104. 

4)  Globum  enini  de  filo  faciunt,  heisst  es  in  einem  Bericht  aus  dem  XIV.  Jahrh., 
et   diversos    nodos    in    eo   connectentes  usque  ad  tres  nodos  vel  plures  de  glol strahl 


450  Schwartz: 

kreuzenden  Blitze,  welche  ja  auch  sonst  so  im  Aberglauben  aufgefasst  er- 
scheinen, z.  B.  dem  nodus  Herculeus,  dem  Nestelknüpfen  und  dergl.  zu  Grunde 
liegen ') 

Auf  dem  Standpunkte  der  Zauberei  also,  die  Hegel  schon  seinerzeit,  das 
Richtige  ahnend,  mit  als  die  älteste  Religionsphase  bezeichnete2),  erscheint 
hier  auch  schon  dieselbe  gläubige  Vorstellung  einer  Fesselung  der  Winde  als 
sachliches  Element  verwendet,  welche  hernach  in  der  Zeit  anthropomorphischer 
Auffassung,  als  man  in  den  betreffenden  Erscheinungen  überirdische  Naturwesen 
wirkend  wähnte,  sich  an  diese  unter  anderen  Formen  und  Bildern  anschloss3;.  und 
die  dabei  hervortretende  Analogie  stützt,  bei  allem  Fortschritt  in  der 
sonstigen  Auffassung  der  Erscheinungen,  nicht  unwesentlich  die  Richtigkeit 
der  seiner  Zeit  von  mir  gegebenen  Deutung. 


Ich  gebe  zum  Schluss  die  Stelle  aus  dem  Eunapios  ausführlich  wieder,  zumal 
sie  sonst  wenig  beachtet  worden  ist  und  doch  nicht  nur  in  prägnanter  "Weise  den 
erwähnten  Volksglauben  schildert,  sondern  auch  neben  einzelnen  anderen  inter- 
essanten Momenten  anschaulich  zeigt,  wie  der  Glaube  an  Zauberei  noch  im  vierten 
Jahrhundert  n.  Chr.  die  öffentliche  Meinung  gelegentlich  in  Griechenland  bis  zum 
Kaiser  hinauf  beherrschte.  Dies  wird  auch  nach  anderer  Seite  hin  bedeutsam, 
indem  sich  daraus  erklärt,  dass  die  christliche  Kirche  (Augustin)  auch  dieser  Art  von 
Aberglauben  gegenüber  specielle  Stellung  nahm,  womit  derselbe  dann  nach  aussen 
hin  in  eine  neue  Art  von  Entwickelungsphase  trat.    Denn  wenn  bis  dahin  —  wie 


praeeipiunt,  seeundum  quod  voluerint  ventum  habere  fortiorem  etc.  J.  Grimm  denkt  bei 
dem  Globus  an  den  magischen  turbo,  der  bei  Horat.  epod.  17,  7  vorkommt,  ich  mehr 
an  einen  Zauberknäuel,  wie  er  bei  den  Esthen  eine  so  prägnante  Rolle  spielt  siehe 
Kreutzwald,  Esthnische  Märchen.  Halle  1869.  S.  10.  14.  106  ff.),  und  daselbst,  wenn  er  in 
der  Nacht  wie  die  Sonne  strahlt,  sich  als  eine  Apperception  eines  sogenannten  Kugel- 
blitzes ergiebt;  siehe  Poet.  Naturansch.  IL  S.  106. 

1)  In  betreff  der  Blitzkreuze  bezw.  Knoten  u.  s.  w.  s  Zeitschr.  der  Berl.  anthropol. 
Gesellschaft  vorn  Jahre  1855,  S.  540.  Der  Blitz  als  Waffe  in  den  Händen  des  Indra  heisst 
auch  der  hundertknotige. 

2)  Welcker  und  selbst  auch  J.  Grimm  sträuben  sich  freilich  nach  ihrem  ganzen 
Standpunkt  dagegen,  dies  voll  anzuerkennen  und  praktisch  zu  verwerten,  s.  Welcker, 
Griech.  Götterlehre.  IL  1860.  S.  153.  —  Wenn  Hegel  übrigens  der  Religion  der  Zauberei, 
welche  er  voranstellt,  die  Religion  der  Phantasie  folgen  lässt,  so  ist  dies  nicht  ganz 
richtig,  und  es  reflektiert  in  dieser  Ansicht  der  Standpunkt  der  damaligen  mythologischen 
Wissenschaft  bei  ihm.  Denn  die  inzwischen  erblühten  prähistorischen  Studien  und  der 
überall  analog  hervortretende  Charakter  der  niederen  Mythologie  zeigen  deutlich,  dass 
das  erste  religiöse  Denken  des  Naturmenschen,  wie  es  sich  in  den  Formen  einer  gewissen 
Dämonologie  und  eines  Zauberglaubens  bekundete,  in  gleicher  Weise  von  der  Phantasie 
(oder,  wie  man  jetzt  sagt,  „Apperception")  ausging.  Freilieh  ist  dann  bei  dem  Ent- 
wickelungsprozess  der  Dämonologie  zum  Polytheismus  die  Phantasie  die  besonders  treibende 
Kraft  gewesen,  die  im  Anschluss  an  den  kulturellen  Fortschritt  der  Menschen  immer  neue 
Bilder  entfaltet  und  ausgebildet  hat.  —  Über  die  Dämonologie  als  prähistorischen  Hinter- 
grund auch  der  klassischen  Mythologie  s.  unter  anderm  meinen  Indogerm.  Volksglauben 
S.  229-241. 

3*1  In  lebendigen  Schilderungen  kehren  noch  heutzutage  oft  solche  Bilder  wieder. 
So  heisst  es  in  Fr.  Gerstäckers  „Inselwelt"  3.  Aufl.  S.  322:  „Jetzt  schienen  aber  die  Geister 
des  Sturmes  auch  znm  erstenmale  die  Fesseln  zu  brechen,  die  sie  bis  dahin  in  Schranken 
gehalten,  und  während  noch  der  Donner  in  weiter  Ferne  nachrollte,  kam  der  brausende 
Orkan  jubelnd  und  jauchzend  über  das  Meer  daher"  ähnlich  wie  auch  die  Winde  bei 
Homer  immer  in  Saus  und  Draus  leben).   Poet.  Naturansch.  IL  S.  53  f. 


Kleine  Mitteilungen.  451 


fast  überall.  -  -  so  auch  in  Griechenland  das  Volk  gegen  Zauberer  nur  gelegent- 
lich reagierte,  wenn  man  sie  dieser  oder  jener  Untliat  beschuldigte1),  die  ge- 
bildeteren Schichten  aber  sich  von  dem  Glauben  an  Zauberei  immer  mehr  ab- 
wendeten, so  wurde  von  den  Kirchenvätern  dieselbe  doch  „als  vorhanden"  anerkannt, 
indem  man  sie  nur  als  ein  Teufelswerk  hinstellte  und  als  solches  je  länger  je 
mehr  verfolgte,  was  dann  im  Mittelalter  zu  dem  epidemisch  auftretenden  Wahn- 
witz der  Hcxenverfolgungen  führte. 

Eunapios  (4., 5.  Jahrhundert)  erzähl!  also  in  seinem  Werke  ß.oi  <j)i/.;-o'if)uji<  xa\ 
a-c(\iijTw\'  und  zwar  in  der  Vita  AioVcrio.;  (in  der  Ausgabe  von  Boissonade,  Amsterd. 
1822,  2  vol.)  I.  p.  21  Folgendes:  xo.\  sc  Tca-o-'ircv  -ye  e^ixera  (sei.  "^wnctTpos) -.)  crodj>!.a.g 
zcw  üijvo.ubujz,  wc  a  /xsv  ßaniksvc  (sei.  KiüVtTTavrTvog)  kzXwxsi  ts  vn'  a.üru:  xo.<.  ovjuona 
<7M<?cfpoK  Hföv,  si;  tov  fisfyav  xo.f)i''uji'  ranov  ....  Darüber  wurden  andere  Personen 
am  Hofe  (7rapao\jva<rreuovres)  neidisch  (fivfyw pi.evOL  riy  <bfloi'ui)  und  suchten  nach 
einer  Gelegenheit,  den  verhassten  Philosophen  zu  stürzen.  Diese  fand  sich  bald. 
Konstantinopel  war  damals,  durch  des  Kaisers  Schuld,  übervölkert  und  litt  daher 
öfters  Hungersnot,  zumal  bei  ungünstigen  Winden.  Denn  die  Getreide- 
schiffer aus  Asien,  Ägypten,  Syrien  u.  s.  w.  konnten  in  die  Propontis  nicht  ein- 
laufen, av  ,uv]  xarttJTvet/o-*]  vqtoz  äxpar^s  xctl  äfj.ixro;  (p.  23).  Nun  war  gerade  damals 
solcher  r.iui;;  das  Volk  strömte  ins  Theater  xa\  —  so  heisst  es  p.  23  weiter  — 
tov  ßatriksa,  xars'iyjv  aftti^uia.  xo.\  oi  naXo.i  ßtx.<rxo.lvovTEC  (sei.  den  Sopatros)  evpv\xevcu 
xoupov  yflovy-evoi  xoiXkio-TOv,  „«XX«!  ~S.mna.Tpoc  ye,  'üpaeav,  o  napa.  treu  riy.wfj.svoi  xars- 
ö-/\o-s  tovc  a.vs'y.ouc  fit  vTrspßohjv  o-0(\>lag,  qv  xoli  aiiroc  sncnivslc,  xo.i  fix  rv  tri  toT; 
ßaetksioi;  syxa.dy,-ai  Opo'voic".  xal  o  KujvtrTavrivog  to-uto.  äxovtra;  x«t  o-vy-nsio-Wstc 
xo.to.xo  nrjvai    xsXsusi    tov   avopo.,   xcii   lyivsro    oi*   tovc    ßa,G-xa,lvovTa.c,   toSito.    \)uttov  •/; 

sks^STO. 

Berlin,  September  1893. 


„Die  falsche  Braut"  in  Niederösterreick. 

Bezugnehmend  auf  eine  in  dieser  Zeitschrift  HI.  88  f.  erschienene  Anfrage 
wegen  der  „falschen  Braut",  erlaube  ich  mir  mitzuteilen,  dass  diese  Sitte  in 
Niederösterreich  wohl  bekannt  ist,  und  zwar  im  ganzen  Viertel  unter  dem  Manharts- 
berg,  im  grössten  Teile  des  Viertel  ober  dem  Manhartsberg,  ferner  an  der  Leitha 
und  im  Wechselgebiete  an  der  steirischen  Nordostgrenze;  hingegen  ist  sie  unbekannt 
in  den  Alpen. 

Die  hierbei  sich  abspielenden  Gebräuche  sind  beispielsweise  in  Stranzendorf 
(Bezirk  Hollabrunn,  Kreis  unterm  Manhartsberg)  folgende: 

Nachdem  die  beiderseitigen  Hochzeitsgäste  im  Hause  der  Braut  sich'  ver- 
sammelt haben,  tritt  der  „Bittmann",  das  ist  der  Beistand  des  Bräutigams,  vor  und 
hält  folgende  Ansprache : 

„Nun  müsst  ihr  uns  nicht  übel  aufnehmen,  dass  wir  euch  so  grob 
„überlaufen;  es  wird  euch  wohl  wissentlich  sein,  dass  ein  gewisser  Heirats- 
„kontrakt  entschlossen  sei;  wenn  zwei  oder  drei  darunter  sind,  die  gerne 


1)  Plato,  Menon.  p.  80.     Demosthenes  gegen  Aristogiton.  I.  p.  793. 

2)  Im  Papeschen  Wörterbuch   wird  der  Name  Sopatros  mit  Ahlwardt  übersetzt:    oh 
mit  Recht,  lasse  ich  dahingestellt. 


452  Frischauf: 

..wissen  möchten,  was  der  Jungherr  Bräutigam  seiner  Jungfrau  Braut  ver- 
heiratet, dies  will   ich  euch  kurz  erklären: 

„1.  Verheiratet  der  Jungherr  Bräutigam  seiner  geliebten  Jungfer  Braut 
„Haus  und  Hof, 

„2.  Einen  gesunden,  frischen  Leib, 

„3.   Eine  ehrliche  Freundschaft, 

„4.  Wollen  wir  euch  bitten,  eine  kurze  Antwort  zu  geben  und  die  Braut 
..ausbitten  zu  lassen." 

Hierauf  antwortet  der  „Heiratsmann"  (Beistand  der  Braut): 

„Wenn  der  Herr  Bräutigam  und  die  eingeladenen  Hochzeitsgäste 
„wissen  wollen,  was  die  Jungfer  Braut  ihrem  Herrn  Bräutigam  verheiratet, 
„nämlich: 

..1.    4000  Gulden  Geld, 

,,2.    Einen  gesunden  Leib, 

„3.    Eine  ehrliehe  Freundschaft  —    und 

„wenn  der  Herr  Bräutigam  sich  die  Braut  gemerkt  hat,  so 
„will  ich  sie  vorführen/1 

Nun  wird  unter  dem  Gelächter  der  Hochzeitsgäste  ein  halbwüchsiges,  etwa  in 
der  Küche  beschäftigtes  Mädchen  vorgeführt.  Der  Bräutigam  sagt:  „Dö  is  nid, 
dö  is  ma  z  jung".  Hierauf  geht  der  „Heiratsmann"  kopfschüttelnd  wieder  hinaus 
und  bringt  unter  erhöhter  Heiterkeit  des  Publikums  ein  altes  Mütterlein  herein, 
worauf  der  Bräutigam  sagt:  „Dö  is  ä  nid,  dö  is  ma  z'  old". 

So  wird  der  jedenfalls  schon  viele  Jahrhunderte  alte  Witz  noch  einige  Male 
wiederholt,  wobei  der  Bräutigam  auch  Gelegenheit  finden  kann,  seinen  Mutterwitz 
zu  entfalten,  bis  er  endlich  sagen  kann:  „Das  ist  die  Rechte". 

Im  Bezirke  Eggenburg,  im  Viertel  unter  dem  Manhartsberge,  war  es  eine  noch 
vor  30  Jahren  übliche  Sitte,  dass  die  falsche  Braut  den  Bräutigam  mit  Schmähungen 
überschüttete  und  schliesslich  unter  dem  Rufe  „DI  habts  enga  Drongöld"  dem- 
selben ein  Bündel  mit  Glasscherben  vor  die  Füsse  warf:  im  Bezirke  Malzen  ist 
es  heute  noch  gebräuchlich,  dass  die  falsche  Braut  unter  obigem  Rufe  einige  Silber- 
Zwanziger  zu  Boden  wirft. 

Nachdem  die  richtige  Braut  endlich  gefunden  ist,  bittet  das  Brautpaar  um  den 
elterlichen  Segen,  nach  dessen  Erteilung  zur  Kirche  aufgebrochen  wird. 

Wien.  Dr.  Eugen  Frischauf. 


Des  Schneiderleius  Glück. 

„Ein  armes  Schneider-Bürschchen  ging  seiner  Wanderschafft  nach,  einesmahls 
kam  er  in  einen  sehr  grossen  Wald,  und  weil  er  die  Wege  nicht  wüste,  ging  er 
irre,  die  Nacht  überfiel  ihn,  und  er  muste  sich  entschliessen,  an  diesem  ihm  so 
furchtsamen  Orte  zu  campiren,  dahero  er  sich  nach  einem  Platz  umsähe,  wo  er 
vor  dem  Anlauff  der  wilden  Thiere  und  andern  Gefährlichkeiten  sicher  zu  seyn 
vermeynte.  Dicserwegen  stieg  er  auf  das  oberste  einer  sehr  hohen  Eiche,  das 
Bügel-Eisen  schützte  ihn  vor  der  Gewalt  des  Windes,  welcher  ihn  sonst  zweifels- 
frey  treffliche  Lufft-Sprünge  würde  haben  machen  lehren.  Da  er  nun  solcher- 
gestalt einige  Stunden  mit  Zittern  und  Zagen  zugebracht  hatte,  erblickte  er  nur 
ein  paar  Hundert  Schritte  von  sich  den  Schein  eines  Lichts,    dahero  er  urtheilete, 


Kleine  Mitteilungen.  453 

dass    jemand    hiernechst    wohnen    müsse,    stieg    demnach    von   seinem    selbst  ge- 
wachsenen Wacht-Thurme  herunter,    und  ging  diesem  Lichte  zu.     Er  kam  an  ein 
kleines  von  Bohr  und  Binsen    verfertigtes  Häussgen.    auf  sein  Anklopffen  trat  ein 
überaus  alt  Männgen  zu  ihm  heraus,    welches  mit  vielerley  farbigten  Lumpen  be- 
kleidet,   und    fragte    was    sein   Begehren?    er    erwiederte,    wie    er    als    ein   armes 
reisendes  Handwercks-Bürschgen    in    dieser  Wildniss    von   der   Nacht  überfallen 
worden,    bäthe    dahero   ihn   biß  Morgen  zu  beherbergen.     Ey!    mit  solchen  Land- 
Läuffem  mag  ich  nichts  zu  thun  haben,    gegenredete  der  Alte,    es  ist  ihnen  nicht 
allezeit  zu  trauen,  drum  sehet,  wo  ihr  bleibet,  und  hiermit  wolte  er  wieder  hinein 
gehen;   doch  das  Bürschel  fasste  ihn  bey  einem  Rock-Zipffel  und  hörte  nicht  auf 
zu    bitten    und    betteln,    biß    er    ihn  überredete.     Der  Alte  wiese  ihm  hierauf  ein 
ziemlich  gutes  Nacht-Lager  in  einem  Winkel  der  Hütte  an,  nachdem  er  ihm  vorher 
etwas  zu  Essen  gereichet.    Der  arme  Schelm  brauchte  keines  ehrwiegens,  sondern 
er  schlieft  unbesorgt  bis  an  den  lichten  Morgen,  würde  auch  wohl  noch  lange  nicht 
ans   Aufstehen    gedacht    haben,    wenn   er   nicht  durch  einen  grossen  Tumult  wäre 
erwecket  wurden,  denn  ein  lautes  Geschrey  und  Gerassel  erschallte  vor  der  Hütte. 
Er    erschrak    zwar    anfangs   heft'tig,    doch    warft  er  seine  Hülle  um   sich  und  lief 
hinaus    zu    sehen,    was   vorginge.     Er  erblickte  kaum  einen  Büchsen -Schuss  weit 
einen    grossen    schwartzen   Ochsen '     mit    einem   schönen  Hirsche   heutig  streiten; 
diese   Thiere    schienen    so    ergrimmt    auf  ein   ander,    dass  von  ihren  Stössen  und 
Getrampel   die  Erde  unter  ihnen  erbebete,    das  Blut  üoss  Strom-Weise  von  ihnen 
herab,    und    es   schiene  ungewiss,    welches  von  beyden  obsiegen  würde.     Endlich 
gelückte  dem  Hirsch  ein  Stoss  in  des  Ochsens  Bauch,   dass  dieser  mit  erschreck- 
lichem Brüllen  zu  Boden  suncke  und  zu  sterben  schiene,  worüber  der  Hirsch  sich 
ungemein  erfreut  bezeugte,  und  den  iiberwundnen  Theil  mit  Füssen  vollends  zum 
Tode  beförderte.    Der  Schneider  sähe  diesem  allen  mit  Verwunderung  von  weiten 
zu.  aber  ach!  in  was  vor  Erstaunen  wurde  er  versetzt,  als  er  den  sieghafften  Hirsch 
in    vollem   Springen    auf   sich   zueilen   sähe,    der  tödtliche  Schrecken  Hess  ihn  an 
keine  Flucht  gedenken,    welche   ihm  jedoch  wenig  würde  genutzet  haben,    weilen 
der  Hirsch  ihm  bereits  auf  dem  Halse,    und  auf  sein  Geweihe  gefasset  halte.     Fr 
eilte    sogleich    schnellen  Lauffes    mit    seinem   mehr  todt  als  lebenden  Reuter  fori 
über  Stock  und  Stein,    durch  Thal   und  Wald,    bis  er  an  einen  Pluss  kam,    über 
selben    schiene    er    mehr    zu  fliegen   als   zu  schwimmen,    bald  darauf  kam  er  vor 
einen   Felsen,    legte   sich   auf  die  Erden,    dass  also  das  arme  Schneideigen  gantz 
sanfft   herab    fiel;    als  er  sich  ein  wenig  wiederum  ermuntert  und  zu  sich  selber 
kommen    war,    sähe    er  den  Hirsch   annoch  vor  sich  stehen,    und  wurde  zugleich 
einer  grossen  eisernen  Thüre  in  dem  Eelsen  gewahr,    in  dem  sähe  er  den  Hirsch 
mit  gröster  Gewalt  mit  den  Geweihen  darwider  stossen,    wovon   die  Thür  jehling 
aufsprang,    zugleich  fuhren  viel  Feuer-Flammen  heraus,   denen  ein  dicker  Dampf 
folgte,  welcher  dem  Schneider  den  Hirsch  aus  den  Augen  brachte. 

Als  er  nun  bey  sich  erwegte,  was  er  nun  anfangen  oder  wohin  er  sich  wenden 
solte,  dass  er  wieder  zu  Leuten  gelangte:  so  hörte  er  eine  Stimme  aus  dem  Felsen: 
Junger  Schneider!  komm  herein,  fürchte  dich  nicht,  dir  soll  kein  Leid  wieder- 
fahren. Er  konnte  sich  zwar  lange  zu  nichts  gewisses  entschliessen,  doch  eine 
heimliche  Gewalt  nöthigte  ihn,  dass  er  sich  zuletzt  mit  langsamen  Schritten  hinzu 
nahete,  und  mit  tausend  wider  einanderlauffenden  sorgsamen  Gedanken  durch  die 
Thüre  hinein  trat.    Das  was  sich  seineu  Augen  vorstellete.  war  ein  grosser  geraumer 


1)  Auch  iu  dem  Märchen  von  Reinhold  dem  Wunderkind  bei  Curtze,  Volksüberliefe- 
rungen aus  Waldeck,  Nr.  20,  tritt  der  Zauberer  in  Stiergestalt  auf  und  kämpft  mit  lieiu- 
hold,  der  den  Zauber  bricht  uud  die  Prinzessin  erlöst. 


454  Ullrich: 

Saal,    dessen   Decke.   Wände   und  Boden   mit  hell  polirten  Quatersteinen  besetzet. 
auf   deren    jeden    ein    ander   unbekandter  Cbaracter   eingegraben  zu  befinden  war. 
Nachdem  sich  das  gute  Schneider -Bürschgen  allhier  satsam  umgesehen,    wolte  er 
wieder  hinaus  gehen,   indem  hörete  er  die  obige  Stimme:    Trit  auf  den  mittelsten 
Stein    dieses   Saals,    so   wird  dein  Glück  vollkommen  seyn.     Als  er  diesem  Folge 
leistete,    sanek    der  Stein  unter  seinen  Füssen  und  er  zugleich  viele  Klafftern  mit 
hinunter  in  die  Tieffe.    Hier  fandt  er  mehr  zu  betrachten  und  zu  bewundern.    Denn 
er    sähe    sich    in    einem  sehr  geraumen  weitlüufftigeii  und  dem  obigen  an  Grösse 
fast    gleichen  Saal,    dessen  Wände  voller  Fache  oder  vielmehr  Löcher  waren,    in 
deren  jedem  ein  helles  Glaß  zu  befinden,    in   welchen  vielerley  Farbigter  Spiritus 
oder    dem  Rauch    gleiche  Materie   zu  sehen.     In  der  Mitten  dieses  Saals  stunden 
zwey  grosse  Gläserne  Behältnisse;    da  sich  der  Schneider  hinzu  machte,  erblickte 
er   in    dem    einen    ein    überaus    zartes   Scblößgen   oder  adelichen  Hoff  mit  vielen 
andern  kleinen  Häusergen,  Höffgen,  Ställen,  Scheunen  und  unbeschreiblichen  vieler 
andern    artigen   Sachen    mehr:    solches    alles   schiene   ein  überaus  schönes  Kunst- 
Stück  einer  mühsamen  Hand  zu  sein,    und  er  bildete  sich  gäntzlich  ein,    daß  das 
gantze  Werckgen    so    sauber   geschnitzt    oder   gedrechselt    sey.     Er    würde    seine 
Augen    von   Betrachtung    dieser  Seltenheiten  noch  nicht  abgewendet  haben,    wenn 
sich    nicht    die    erste   Stimme  wiederum   hätte  hören  lassen:    Beschaue  doch  auch 
das    übrige.     Hiermit  wandte  sich  der  Schneider  zu  dem  andern  Glaß -Kasten,    in 
welchem  er  eine  über  alle  massen  schöne  und  wohlgebildete,  gantz  nackende,  und 
der  Länge   lang   ausgestreckte  Weibes-Person    liegen    sähe.     Selbige    hatte    zwar 
Anfangs  die  Augen  geschlossen,  und  lag  sunder  einige  Bewegung,  bald  aber  öffnete 
sie    selbige    zugleich    mit  dem  Munde,    und  redete  folgender  Gestalt:    Du  siebest 
allhier    ein    unglückseeliges   AYeibes-Bild    vor    dir,    welche   durch   die  vcrteuftelte 
Kunst  eines  verfluchten  Zauberers  in  diesen  ivnglückseeligen  Zustand  gerathen:  das 
gütige  Geschick  des  gerechten  Himmels  hat  dich  an  diesen  Ort  gebracht,    meines 
Unglücks  Ende,    und    den   Anfang    deines    vollkommenen  Wohlseyns    zu  machen, 
darum  befreye  mich  lebendig  begrabene,  durch  Wegschiebtmg  dieses  Riegels  aus 
diesem  gläsernen  Grabe,    so   will  ich  alsdann  ausführlich  mit  dir  reden,    und  dir 
zeigen,    daß  meine  Worte  auf  lauter  Wahrheit  gegründet.     Das  Schneidergen  war 
bey  Anschauen    so   wunderbahrer  Begebenheiten  und  Anhörung  so  schöner  Worte 
nicht  mehr  recht  bey  sich  selbst,  ja  er  wüste  bey  nahe  nicht,  ob  er  wachte,  oder 
ob  ihm  traumete,  jedoch  zog  er,  als  zum  Gehorchen  gebohren,  den  bezeichneten 
Riegel  weg,  worauf  als  bald  die  schöne  nackende  herausstieg.    Sie  lief  eilends  in 
eine  Ecke  des  Saals,    hub  einen  falschen  Stein  aus  der  Mauer,  und  nahm  aus  der 
dahinter  verborgenen  Hole  sehr  kostbare  Frauenzimmer  Kleider  hervor,  welche  sie 
in  möglichster  Eyl  anlegte,  darauf  näherte  sie  sich  dem  Schneider  wieder,  empfing 
ihn    als    ihren  Erlöser    mit    einem    freundlichen  Kuß   und   sagte:    Ich  hoffe  nichts 
straffbares  zu  begehen,  wenn  ich  dir  zum  Zeichen  meiner  vollkommnen  Dankbar- 
keit solchergestalt  begegne,    zumahl,    weil  ich  wünsche,   mit  dir  als  meinem  vom 
Himmel  selbst  erkiesten  Ehe-Gemahl,  bis  an  das  Ende  meines  noch  übrigen  Lebens. 
vergnügte  Tage  zu  zählen:  und  damit  du  weißt,  mit  wem  du  zu  thun,  so  vernimm 
folgende  LTmstände: 

Ich  bin  ein  gebohrnes  Gräffliches  Fräulein,  meine  Eltern  stürben  in  meiner 
noch  zarten  Jugend,  ihr  Absterben  setzte  meinen  bereits  erwachsenen  altern  Bruder 
in  schmertzlich  Leidwesen,  er  lebte  dem  letzten  Willen  unserer  Eltern  treulieh 
nach,  indem  er  mich  brüderlich  liebte.  Wir  besassen  die  ererbten  schonen  Güther 
in  aller  Eintracht  mit  einander,  des  einen  Meynung  war  des  andern  Wille,  dahero 
entschlossen  wir  uns.  niemahlen  zu  heyrathen,  sondern  bis  an  unser  Lebens-Ende 


Kleine  Mitteilungen.  455 

beysammen  zu  wohnen.    Die  löbliche  Tugend  der  Gast-Freyheit,  welche  wir  gegen 
Nachbarn    sowohl    als   Fremde    ausübten,    muste  Gelegenheit  zu  unserm  erfolgten 
Unglück    geben.     Denn    einstens    kam   an  einem  Abend  eine  ansehnliche  Mannes- 
Person  in  unser  Schloß  eingeritten  und  bath  um  eine  Nacht- Herberge,  man  nahm 
ihn,    wie    gewöhnlich,    mit    aller  Höfflichkeit   auf,    und  er  wurde  noch  denselben 
Abend  an  unsere  Taffei  gezogen,    er  unterhielt  uns  mit  denen  alier-angenehmsten 
Gesprächen,   so  daß  es  eine  Lust  war.  ihn  reden  zu  hören,  indes  beobachtete  ich, 
daß    er    mich   beständig  anschauete  und   mit  durchdringenden  Blicken  betrachtete, 
mein   Bruder    aber   hatte  ihn  bereits  so  lieb  gewonnen,    dass  er  ihn  inständig  er- 
suchte,   ein  paar  Tage  auf  unserm  Schlosse  zu  verziehen,    worin  er  endlich  nach 
einem    verstellten  Weigern    willigte.     Und  also  wurde  vor  diesmahl  die  Tafel  ge- 
endet,   dem  Frembden  wurde  ein  gutes  Bette  angewiesen,    und  ich  verfügte  mich 
bald    darauf   in    mein   Schlaff- Zimmer,    ließ   mich  von  meiner  Leib -Dienerin  ent- 
kleiden,   und   legte,    weil    es    spät  in   die  Nacht  war,    meine  der  Ruhe  begierige 
Glieder    in    die    weiche    Federn.     Kaum   war  ich   ein   wenig  eingeschlummert,    so 
wurde    von    einer  gantz   unvergleichlich  schönen  Music  wieder  aufgemuntert.     Ich 
konnte  nicht  begreiffen,  wo  selbige  herkähme,  und  wolte  meine  im  Neben-Zimmer 
schlaffende  Cammer-Mädgen   aufraffen,    befand  aber  mit  grossem  Erstaunen,    daß 
eine  mir  unbekannte  Gewalt  mir  die  Sprache  hemmete,  so  daß  ich  nicht  vermögend, 
den  geringsten  Laut  von  mir  zu  geben.     Indem  tratt  der  verdammte  Zauberer  vor 
mein  Bette,    obgleich    zwey    fest   verschloßne   Thüren  jedermann  den  Zugang  bis 
dahin    verwehreten.     Er   brachte  viel  ungereimte  verliebte  Reden  vor,    und  unter- 
stund sich  Sachen   von   mir  zu  begehren,    welche  zu  erwehnen  mir  die  Jungfräu- 
liche  Zucht  verbietet.     Da  er  nun  sähe,  daß  ich  ihn  nicht  einmahl  einer  Antwort 
würdigte,  sagte  er  voller  Verdruß:  Ob  ich  mich  zwar  gleich  itzo  meiner  habenden 
Gewalt  bedienen  könnte,   ihren  Hochmuth  zu  bezwingen,  so  will  jedoch  mich  der 
Rache    auf    eine    gelegenere   Zeit  bedienen,    welche  ihr  schwer  genug  fallen  soll. 
Mein  Zorn  und  Grimm  über  diesen  Un-Menschen  nahm  mich  so  ein,    daß  ich  in 
eine  schwere  Ohnmacht  gerieth,  und  also  dieses  Ungeheures  Abschied  nicht  gewahr 
ward.     Da  nun  endlich  meine  Lebens -Geister  sich  wieder  erholet,    sähe  ich,   daß 
es  bereits  Tag  war,  ich  warff  mein  Nacht-Kleid  über  mich,  willens  meinem  Bruder 
so  fort  zu  hinterbringen,  was  mir  von  dem  Frembden  begegnet.    Ich  fand  meinen 
Bruder  nicht  in  seinem  Zimmer,    und  als  ich  die  Bedienten  nach  ihm  fragte,    be- 
richteten sie  mir,  wie  er  mit  unserm  Gast  mit  anbrechendem  Tage  hinaus  schiessen 
gegangen,    mir  schwahnte  gleich   ein  Unglück,    dahero  kleidete  mich  vollends  an. 
ließ  meinen  Leibzelter  satteln  und  ritte  in  Begleitung  eines  Pagen  in  vollem  Jagen 
dem  Walde    zu,    um  meinen  Bruder  daselbst  anzutreffen.     Mein  Page  stürzte  mit 
dem  Pferde,    welches    einen    Schenkel    brach,    dahero    konnte  er  mir  nicht  mehr 
folgen,    dessen    ungeachtet    ritte    ich    fort,    wenig  Minuten    darauf   sähe    ich    den 
Teufels-Banner  von  weitem  auf  mich  zukommen,  er  führete  einen  schönen  Hirsch 
an    der  Hand  bey  einer  Leine,    ich  schrye  ihm  gleich  zu,    wo  er  meinen  Bruder 
gelassen,    und    wo   er  zu  diesem  Hirsch  kommen,    an  welchem  ich  gewahr  ward, 
daß  Thränen  aus  seinen  Augen  flössen.     An  statt  mir  zu  antworten,   fing  jener  an 
laut  zu  lachen;  ich  erzürnete  hierüber  hefftig,  ergriff  eine  Pistohl,  und  druckte  es 
auf  den  Zauberer  ab,   doch  die  Kugel  prallete  von  seiner  Brust  zurück,  und  fuhr 
so  tief  in  meines  Pferdes  Kopff,  daß  Knall  und  Fall  bei  selbigem  eins  war,  dahero 
stieg  ich  halb  verzweifelt  ab.     Der  Zauberer  murmelte  einige  Worte,    welche  die 
Krafft  hatten,  mich,  meiner  Sinne  auf  einige  Zeit  zu  berauben. 

Wie  es  weiter  zugegangen,  kann  ich  selbst  nicht  sagen,  ausser  da  ich  die  edle 
Würckung  meiner  Sinnen  und  Vernunfft  wieder  empfand,    befand  ich  mich  gantz 


456  Ullrich: 

nackend  in  dieser  unterirdischen  Grufft.  und  zwar  in  diesem  Glase  verschlossen. 
Der  Zauberer  stellte  sich  meinen  Augen  dar,  berichtete  mir,  daß  er  meinen  Bruder 
in  einen  Hirsch  verwandelt,  mein  Schloß  mit  allem  zubehörigen  in  diese  kleine 
Forme,  in  jenem  gläsernen  Behältnisse,  und  alle  meine  Haußgenossen  in  Rauch 
verwandelt  in  diesen  vielen  kleinen  Gläsern  in  seiner  Gewahrsam  hielte,  würde 
ich  nun  seinen  Willen  erfüllen,  wolte  er  alles  bald  wieder  in  vorigen  Stand  setzen, 
dann  setzte  er  hinzu,  ich  darf!'  nur  jedes  Gelasse  öffnen,  so.  geschiehet  das  übrige 
von  sich  selbst.  Ich  saune  zwar  so  Tag  als  Nachts  auf  ein  Mittel,  mich  aus  diesem 
Rercker  zu  erlösen,  aber  es  war  alles  umsonst:  einstens  träumte  mich  mit  vielerley 
artigen  Umstanden,  ich  würde  von  einem  jungen  Schneider  Hüllte  empfangen,  und 
nun  sehe  ich  die  Erfüllung  meines  nachtlichen  Gesichts,  bin  daher  gesonnen,  alles 
genau  zu  beobachten,  was  mir  damahls  vorkommen.  Vor  ltzo  helffet  mir,  mein 
Freund,  dieses  Gebisse,  worinnen  mein  Schloß  ist,  auf  jenen  rothen  Stein  heben, 
redete  das  bisher  verwünscht  gewesene  Fräulein  fort,  damit  dazu  der  Anfang  ge- 
macht werde. 

Als  dieses  der  Schneider  bewerkstelligen  helffen,  erhübe  sich  der  Stein  mit 
beyden  darauf  fest  stehenden  Personen,  zu  samt  der  andern  Last  sehr  schnell, 
sehr  schnell  in  die  Höhe,  und  hörete  nicht  auf  zu  steigen,  bis  sie  sich  wieder  auf 
wohnbarem  Erdreich  befanden.  Das  Fräulein  öffnete  das  Glas-Gefäß,  alsbald  fing 
das  darinnen  befindliche  Schlößgen  mit  höchster  Verwunderung-  des  Schneiders  an 
zu  wachsen  und  vergrössert  zu  werden,  bis  es  nach  und  nach  zu  völliger  und 
erster  Gestalt  gelangete.  Hierauf  machten  sich  beyderseits  wieder  hinunter  in  die 
unterirdische  Hole,  setzten  alle  sieh  tiarinnen  befindliche  Gläser  auf  obbemeldeten 
rothen  Stein,  welcher  bis  in  den  Sehloß-Hoff  sich  damit  erlnib.  Das  Fräulein  er- 
öffnete auch  diese  Gläser,  and  der  in  einem  jeden  befind],  Rauch  verwandelte  sich 
sofort  in  einen  lebendigen  Menschen,  welche  die  Fräulein  alle  samt  vor  die 
Ihrigen  erkante.  Nachdem  sie  sich  nun  mit  einander  über  diese  glückliehe  Ver- 
wandlung zur  Gniige  erfreuet,  so  hielte  auch  das  Fräulein  dem  vorher  armen 
Schneider  ihr  Versprechen,   indem  sie  ihm  bald  darauf  die  eheliche  Hand  reichte." 

Und  hiermit  endigte  Polidors  alte  Muhme  ihre  läppische  Erzehlung,  welche 
als  ein  Model  vieler  andern  hier  einfliessen  zu  lassen,  mich  nicht  wohl  habe  ent- 
ziehen können. 

(Das  verwöhnte  Mutter -Söhngen  oder  Polidors  gantz  besonderer  und  überaus 
lustiger  Lebens-Lauff  auf  Schulen  und  Universitäten  nebst  vielerley  andern  curieusen 
Avanturen  zum  beliebigen  Zeit -Vertreib  und  Gemüths-  Ergötzung  mitgetheilet  von 
Sylvano. 

Freyberg'  1728.     S.  22—32.) 

Chemnitz.  Dr.  Herrn.  Ullrich. 


Das  Märchen  von  der  Königstochter,  die  nicht  lachen  konnte. 

Mitgeteilt  von  Heinrich  Carstens. 

Von  der  Königstochter,  die  nicht  lachen  konnte,  habe  ich  in  Ditmarschen  vier 
Fassungen  aufgezeichnet,  die  ich  hier  zur  Mitteilung  bringe 

I. 
Einsl  lebte  ein  König,    der  hatte  eine  Tochter,    die  nicht  lachen  konnte.     Da 
in  seinem  ganzen  Reiche  bekannt  machen,  wer  seine  Tochter  zum 
Lachen   brächte,  der  solle  sie  zur  Frau   haben. 


Kleine  Mitteilungen.  457 

Nun  war  in  demselben  Lande  auch  ein  Schäfer,  der  hatte  Schafe  mit  goldener 
Wolle.  Kamen  zu  ihm  einst  zwei  Mädchen,  die  fragten  ihn,  ob  sie  nicht  eine 
Handvoll  Wolle  von  seinen  Schafen  nehmen  dürften. 

Sprach  der  Schäfer:  „Ja,  nehmt  nur  eine  Handvoll.''  Kaum  aber  hatten  sie 
nur  eben  die  Schafe  berührt,  so  sprach  der  Schäfer:  „Himpamp,  hol  fass!"  lud 
sofort  sassen  die  Mädchen  an  den  Schafen  fest  und  konnten  nicht  wieder  los- 
kommen, so  sehr  sie  sich  auch  abmühten.  Nun  zog'  der  Schäfer  mit  seinen  Schafen 
fort.  Kommt  er  da  zu  einem  Wirt,  und  als  dieser  die  Mädchen  losreissen  will, 
ruft  der  Schäfer:  „Himpamp,  hol  fass!"  Und  auch  der  Wirt  sass  fest  und  konnte 
nicht  loskommen.  Der  Wirt  ruft  nun  seinen  Knecht  und  dieser  kommt  mit  der 
Düngergabel  und  will  seinen  Wirt  befreien.  Der  Schäfer  aber  ruft  abermals: 
„Himpamp,  hol  fass!'"  Und  auch  der  Knecht  sass  fest  und  konnte  nicht  loskommen. 
Der  Schäfer  zog  mit  dem  „Himpamp"  weiter.  Kommt  da  von  ungefähr  ein  Pastor 
in  seinem  Summar  und  als  der  den  wunderlichen  Aufzug  sieht,  spricht  er: 

„Was  hat  denn  das  zu  bedeuten?"  Sprechen  alle:  „Wir  können  nicht  los- 
kommen."    Da  will  der  Pastor  den  „Himpamp"  auseinanderreissen. 

Kaum  aber  hat  derselbe  auch  nur  einen  berührt,  so  spricht  der  Schäfer: 
„Himpamp,  hol  fass!"  Und  auch  der  Pastor  sass  fest  und  konnte  nicht  wieder 
loskommen.  Der  Pastor  ruft  seinen  Küster,  und  als  der  nun  kommt  und  seinen 
Pastor  befreien  will,  ruft  der  Schäfer  nochmals:  „Himpamp,  hol  fass!"  Und  auch 
der  Küster  sitzt  fest. 

So  kommt  der  Schäfer  denn  endlich  nach  dem  Kömgsschlosse  hin.  und  als 
die  Königstochter  den  wunderlichen  Aufzug  sieht,  lacht  sie  laut  auf. 


Aus  Dahrenwurth  bei  Lund 


en. 


II. 

Ein  König  hatte  eine  Tochter,  die  nicht  lachen  konnte.  Da  Hess  der  König 
überall  in  seinem  Reiche  und  darüber  hinaus  bekannt  machen,  wer  seine  Tochter 
zum  Lachen  brächte,  der  solle  sie  zur  Frau  haben.  Da  meldeten  sich  viele  Prinzen, 
aher  keinem  wollte  es  gelingen,  die  Prinzessin  zum  Lachen  zu  bringen  Da  liess 
der  König  zum  andern  Mal  bekannt  machen,  wer  seine  Tochter  zum  Lachen  brächte, 
der  solle  sie  zur  Frau  haben;  er  sei,  wer  er  sei. 

LTm  diese  Zeit  lebte  ein  Schäferjunge,  der  wollte  auch  hin  zur  Königstochter. 
Sein  Vater  aber  sprach:  „Was  willst  du  da?  Du  bringst  sie  ja  doch  n"ht  zum 
Lachen!"  „Doch,"  sprach  der  Junge,  „man  kann  nicht  wissen,"  und  so  reiste  er 
denn  fort.  Unterwegs  nun  verirrte  er  sich  in  einem  Walde.  Da  gewahrte  er  ein 
kleines  Licht.  Darauf  geht  er  zu  und  kommt  nach  einer  kleinen  Hütte.  Darin 
wohnte  eine  alte  Frau,  die  wohl  eine  Hexe  war.  Diese  fragte  ihn:  „Wohin  willst 
du?"  „Ich,"  sprach  der  Schäferjunge,  „ich  will  hin  und  die  Königstochter  zum 
Lachen  bringen  "  „Dabei  will  ich  dir  behilflich  sein,"  sprach  die  Alte.  „Hier  hast 
du  eine  Gans,  die  nimm  mit  in  die  Stadt.  Kommt  da  jemand  an  die  (»ans,  so 
sprichst  du  nur:  „Kleb'  an!"  und  sofort  sitzt  der  dann  fest  an  der  Gans."  Der 
Schäferjunge  geht  nun  mit  der  Gans  fort.  Als  er  nun  in  die  Stadt  kommt,  kommt 
da  auch  schon  bald  einer  und  spricht:  „Hast  du  eine  fette  Gans?"  und  befühlte 
sie.  Sprach  der  Schäferjunge:  „Kleb'  an!"  und  der  Mann  sass  an  der  Gans  fest, 
und  so  sehr  er  sich  auch  abmüht,  los  kann  er  nicht  kommen  und  muss  mit  fort. 
Der  Junge  geht  weiter.  Da  kommt  er  an  einem  Haus  vorbei.  Da  steht  ein 
Mädchen  gerade  in  der  Thür,  die  ruft:  „Ach,  Herr  Jesus,  das  ist  ja  mein  Bräuti- 
gam," läuft  hin  und  will  ihren  Freier  losreissen.  Da  ruft  der  Schäferjunge  aber- 
mals:   „Kiel/  an!"    und  auch  die  sitzt  fest.     Und  so  kommen  noch  viele,  aber  so 


458  Carstens: 

bald  sie  die  Gans  berühren  und  der  Junge  ruft:  ..Kleb'  an!"  so  sitzen  alle  fest. 
So  kommt  der  wunderliche  Zug-  denn  auch  bald  nach  dem  königliehen  Schlosse 
und  als  die  Prinzessin  dies  sieht,   fangt  sie  laut  an  zu  lachen. 

Der  Schäferjunge  hatte  sie  also  wirklieh  zum  Lachen  gebracht  und  bekam  die 
Prinzessin  auch  wirklich  zur  Frau. 

\na  meinem  87jährigen  Pflegevater,  einem  geborenen  Heider.  Nach  einer 
anderen  Fassung  hat  derjenige,  der  die  Königstochter  zum  Lachen  bringt,  einen 
Schlitten,  woran  alle  festkleben;  und  ein  Knecht,  der  gerade  mit  der  Mistschaufel 
draussen  steht,  schlägt  mit  der  Schaufel  dazwischen,  aber  auf  das  "Wort:  „Kleb" 
an!-  sitzt  auch  er  samt  seiner  Schaufel  fest.) 

III. 

Es  war  einmal  ein  Schlächter,  der  handelte  mit  Fleisch.  Da  lief  ihm  ein 
grosser  Hund  nach  und  bellte  gewaltig  nach  dem  Fleisch  Da  fragte  der  Schlächter: 
..Willst  du  auch  Fleisch  kaufen'?-  „Wauwau!"  sagte  der  Hund.  .Das  kostet  aber 
so  und  soviel."  sprach  der  Schlächter.  ,¥au,  wau!"  bellte  der  Hund.  Da  gab 
er  dem  Hunde  das  Stück  Fleisch.  Nachher  aber  wollte  der  Hund  nicht  bezahlen. 
Da  ging  der  Schlächter  mit  dem  Hund  hin  zum  König-  und  verklagte  den  Hund. 
Sprach  der  König:  „Der  Hund  hat  ja  kein  Geld,  der  kann  nicht  bezahlen  -  _Ja,': 
sagte  der  Schlächter,  und  griff  dem  Hund  nach  dem  Beutel.  ..er  hat  einen  ganzen 
Beutel  voll."  Da  lachte  die  Königstochter,  die  bisher  nicht  hatte  lachen  können, 
laut  auf. 


Von  demselben. 


IV. 


Einst  lebten  drei  Brüder.  Der  jüngste  von  ihnen  hiess  Dumm -Hans  und 
dieser  stotterte  auch  gewaltig.  Einst  wollten  die  beiden  ältesten  Brüder  hin  und 
wollten  die  Königstochter,  die  nicht  lachen  konnte,  zum  Lachen  bringen.  Da 
stotterte  Hans:  „Da — da — dann  wi — wi — will  ich  auch  mit."  _Ach,"  sagten  die 
andern  beiden.  ..was  willst  du  dummer  Kerl,  bleib  du  nur  hier."  Die  beiden 
ältesten  zogen  sich  nun  hübsch  an.  setzten  sich  zu  Pferde  und  ritten  fort.  Hans 
aber  stolperte  auf  seinen  Holzpantoffeln  hinterher.  Als  er  eine  Strecke  gegangen 
war.  fand  er  eine  alte  Pfannkuchenpfanne  mit  einem  Loch  darin.  Nun  fing  er  an, 
auf  seiHe  Brüder  zu  rufen,  dass  er  etwas  gefunden  habe.  Als  die  Brüder  nun 
zurückkamen  und  die  alte  Pfanne  sahen,  wurden  sie  böse  und  prügelten  Hans 
tüchtig  durch.  Darauf  ritten  sie  wieder  fort  und  Hans  ging  hinterher.  Als  er 
wieder  eine  Strecke  gegangen  war,  fand  er  einen  alten  Nagel  und  fing  abermals 
aus  Leibeskräften  auf  seine  Brüder  an  zu  rufen,  dass  er  etwas  Merkwürdiges  ge- 
funden habe.  Sprachen  die  beiden:  „"Was  der  dumme  Bengel  denn  nur  schon 
wieder  hat?  Wir  müssen  ja  hin  und  einmal  nachsehen."  Als  sie  hinkamen  und 
Hans  weiter  nichts  hatte,  als  einen  alten  verrosteten  Nagel,  prügelten  sie  ihn  aber- 
mals gehörig  durch  und  ritten  fort.  Hans  „tüffelte"  wieder  hinterher.  Da  fand  er 
einen  Schiss,  der  schon  ganz  vertrocknet  war.  Wieder  rief  er  aus  Leibeskräften 
auf  seine  Brüder  und  nochmals  kehrten  diese  um.  Als  sie  aber  sahen,  was  er 
gefunden,  wurden  sie  eist  recht  zornig  und  prügelten  ihn  noch  mehr  durch,  als 
die  beiden  ersten  Male  und  ritten  davon.  Endlich  kamen  die  beiden  nach  der 
Prinzessin,  und  so  sehr  sie  sich  auch  abmühten,  so  gelang  es  ihnen  doch  nicht. 
dieselbe  zum  Lachen  zu  bringen,  und  mussten  unterrichteter  Sache  wieder  ab- 
ziehen. Nun  kam  auch  Hans  hereingestolpert.  .,Gu— gu— guden  Dag,  Kon- 
Kon—  Konfessin."  sagte  er.  ..wat  sühs  du  rot  ut."    ..Ja.-  sagte  sie,  -ich  habe  auch 


Kleine  Mitteilungen.  459 

Feuer  im  Mars."  „Na,"  meinte  Hans.  ..de— de— denn  kö—kö— könnt  \vi  ok  Pann- 
koken  brat'n,"  und  zeigte  seine  Pfanne.  „Ach  was."  meinte  die  Prinzessiw,  ..darin 
ist  ja  ein  Loch."  .,0,  o— o,u  meinte  Hans,  „da— da— dat  ma— ma— mak  \vi  mit'n 
Nagel  to,"  und  krieehte  seinen  Nagel  aus  der  Tasche.  ..Eil  Schiit  ok!"  rief  die 
Prinzessin.  „De  — de  — den  hefl'  ik  ok."  sagte  Hans,  und  schüttete  seinen  ver- 
trockneten Schiss  in  die  Pfanne.  Ua  fing  die  Prinzessin  an  zu  lachen. 
Mündlich  ans  Schwienhusen. 

(Zu  dem  Märchenstoff:  eine  Prinzessin  will  den  heiraten,  der  sie  im  Reden 
überbietet  oder  der  sie  zum  Lachen  bringt,  hat  Rcinh.  Köhler  gehandelt  in  Pfeiffers 
Germania  XIV,  '269  f.  und  in  der  Zeitschrift  für  roman.  Philologie  II,  617.  Eine 
lothringische  Version  bei  Cosquin,  Contes  populaires  de  Lorraine  II,  132. 

K.  W.) 


Zu  Glücksliafen  und  Wettlauf1). 

In  einer  deutschen  Rhetorica  meiner  Bibliothek,  aus  dem  XVI.  Jahrhundert, 
ohne  Titelblatt,  von  einem  gewissen  Küngspach  -),  ist  neben  vielen  anderen 
Curiosis  und  interessanten  Formularien  und  Beispielen,  enthalten  von  einem  Mark- 
grafen ausgestellt,  ein  Ausschreiben  eines  gemeinen  gesellen  schiessens 
(Seite  184 — 189,  einseitig  paginierte  Blätter).  Nach  den  minutiösen  Bestimmungen 
für  das  Schcibenschiesscn  folgt  die  Anordnung  eines  Glückshafens,  eines  Pferde- 
laufens und  anderen  kurzweiligen  Wettbewerbes.  Diesen  Abschnitt  will  ich  hier 
wörtlich  mitteilen:  „Wir  haben  auch  zu  disem  schiessen  verordnet  vnd  für- 
genommen ein  hafen  mit  nachuolgenden  gewinnen.  Also  dz  der  erst  zedel  der 
ausz  dem  hafen  kumpt,  oder  genommen  würdt,  einen  guldin  haben,  vnd  nach- 
uolgend  das  bösst  zweintzig  guldin,  der  sibenzehn  guldin,  der  dritt,  fünffzehn 
guldin,  der  vierd,  zwölff  guldin,  der  fünfft,  zehen  guldin,  der  sechst,  siben  guldin, 
der  sibend,  fünf  guldin,  der  achtend,  vier  guldin,  der  neiind,  drei  guldin,  der 
zehend,  zwen  guldin,  der  eilfft,  zwen  guldin,  der  zwölfft,  ein  guldin,  vnnd  der  letst 
zedel  auch  ein  guldin  Rheinischer.  Vn  1  wer  in  disem  Hafen  die  meisten  creützer 
legt,  vnnd  zedel  haben  würdt,  der  soll  einen  Panen  vmb  zwen  guldin  gewonnen 
haben,  vnd  wölcher  in  solchen  Hafen  zulegen  lusst  hat,  der  mag  allweg  auff  einen 
zedel  ein  Creützer  legen,  dargegen  soll  desselben  namen  vnd  waraulf  er  eingelegt 
hat,  mit  fleisz  verzeichent  werden.  Wir  wollen  auch  einem  jeden,  so  der  Hafen 
ausz  ist.  als  vngeuerlieh  vmb  N.  zeit  schier  ist  kommend  beschehen  sol,  sein  ge- 
winnen zuhanden  verordnen  vnd  heim  schicken.  Weiter  haben  wir  auch  in 
sollichem  schiessen  mit  laulfenden  Rossen  vnguerlich  ein  renn  meil  wegs  weit 
fürgenommen  ein  gerenn  zuhalten.  Nämlich  auff  N.  tag  der  do  ist  der  N.  tag  des 
monats  N.  schier  ist,  so  die  glock  achte  schlecht  mit  den  kniffenden  Pferden  auff 
dem  gewonlichen  anlasz  des  rennwegs  allhie  zu  N.  zuerscheinen,  vnd  sich  am 
N.  tag  nechst  daruor,  vnserm  verordneten  Rennmeister,  vmb  die  zwölffte  vr  in 
mittemtag  anzuzeigen  vnd  bescheid    (wie  rennens  oder  pl'erdlauffens  gebrauch  ist) 

1)  E.  Friede!,  Vom  Glückstopf  und  Glücksliafen.  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  Volkskunde 
I.  446—419.   —   K.  Weinhold,  Der  Wettlauf  im  deutschen  Volksleben;  ebenda  III.  1-23. 

2)  Es  ist  mir  auch  mit  Hilfe  des  Bibliothekars  an  hiesiger  Kgl.  Bibliothek.  Herrn 
Dr.  H.  Meisner,  nicht  gelungen,  diesen  Küngspach  und  sein  Buch  aufzuspüren.        K.  W. 


460  Hermann: 

zuempfahen.  Allda  sollen  alle  grosse  vnnd  kleine  Rosz  geschnitten  vnml  m- 
geschnitten  zugelassen  werden,  vnder  den  knaben  zulavffen.  Aber  die  Pferds- 
müttern (sie  wem  geschnitten  oder  nit)  sollen  hiemit  zulauffen  auszgeschlossen 
sein,  vnd  wölcher  sich  also  angesagt  hat.  alszdann  auff  sein  pferd  so  er  lauffen 
lassen  will,  dem  Rennmeister  als  bald  dasselbig  verzeichent  vnd  besigelt  würdt, 
einen  guldin  Reinisch  in  gold  oder  sechtzehen  batzen  dafür  zustellen,  vnd  wölches 
Pferd  als  dann  vnder  denselben  zugelassen  bes igelten  Rossen,  vor  allen  andern 
den  selben  bluffenden  Pferden  über  die  gelegten  ströwin  zuuorderst  vnd  am  ersten 
kompt,  das  hat  ein  rot  tu  eh  zweintzig  fünff  guldin  Rheinischer  werd  gewonnen. 
Das  ander  vnnd  ttäehstlauffend  Rosz  darnach  einen  feürstahl  oder  schieszzeiig. 
Das  dritt  darnach  gewinnt  ein  Reitsclnvcrdt.  Vnd  das  letst  Rosz  nach  allen  andern 
laufenden  Rossen,  soll  gewonnen  haben  ein  Sauw.  wie  roszlauffens  gebrauch  vnd 
recht  ist.  Darzu  wollen  wir  auch  insolchem  schiessen  vorgemelts  Zinstags,  ein 
manns  und  darnach  ein  frawen  lauffen  haben,  doch  jedes  nach  dem  andern,  vnnd 
wölches  das  ander  zum  ersten  über  das  fürgenommen  zil  mit  lauffen  fürkompt. 
dem  soll  zu  einem  gewinnen  ein  stuck  Vlmer  barchats  gegeben  werden.  Darneben 
wir  auch  vmb  kurtzweil  willen,  dem  zulaufl'enden  geraeinen  volck  einen  tantz 
halten,  der  zwölff  reien  nach  ein  ander  weren,  vnd  wölcher  knecht  am  höchsten 
vnd  basten  springen  mag.  der  soll  ein  Haan  mit  vergültem  Schnabel  vnd  klawen 
ertantzt  haben.  —  Item  wölcher  mit  dem  mund  zum  bösstem  wispeln  oder  pfeiffen 
kan.  dem  soll  vier  ein  roter  Vlmer  barchats  zu  einem  Wammas  volgen.  —  Item 
wiileher  das  grö§zt  vnnd  weitest  maul  hat,  wölches  mit  einem  zirkel  (der  jme  im 
mund  auszgespannt)  vnnd  wider  herausz  gezogen  worden,  der  soll  einen  creütz 
käsz  gewonnen  haben.  —  Item  wölcher  ausz  eigner  stäreke  einiche  frembde  hilft 
ausz  einem  Wiszbom  X.  ein  hoch  steigen  mag,  der  soll  ein  par  lindischer  hosen 
vnser  hoffarb  gewonnen  habe 

Budapest.  A.  Herrmann. 


Über  das  Wendische  Sprachgebiet. 

Aus  einem  Briefe  des  Herrn  Diakonns  Müller,  d.  d.  Spremberg.    den  21.  Sept.  1871, 
an  Herrn  Di   Richard  Andree. 

Die  wendische  Sprache  zerfallt  bekanntlieh  in  zwei  Hauptdialekte,  den  Ober- 
lausitzischen und  den  Niederlausitzischen,  aber  zwischen  beiden  liegt  ein  Mittel- 
oder Zwischendialekt  in  zwei  Schattierungen.  Der  ganze  Spremberger  Kreis  und 
das  Senftenberger  Amt  im  Kalauer  Kreise  bildet  einen  Zwischendialekt  der  Niederl. 
Sprache,  und  nähert  sich  dem  Oberl.  Dialekte  nur  in  der  Aussprache  mancher  End- 
silben und  einzelner  Buchstaben  (z.  B.  das  gelinde  I.  geschrieben  I,  wird  hier  w 
wie  in  der  Oberlausitz  ausgesprochen,  und  das  Niederl.  psch  in  verschiedenen 
Wörtern  als  r).  Im  Hoyerswerdaer  Kreise,  namentlich  diesseits  der  Stadt  Hoyers- 
werda, und  in  den  Muskauschen  Dörfern  (Rothenburger  Kreis),  welche  an  den 
Spremberger  Kreis  grenzen,  herrscht  hingegen  der  Oberl.  Zwischendialekt,  welcher 
sich  wieder  in  der  Aussprache  einiger  Wörter  und  Endsilben  dem  Niederlausitzischen 
nähert.     Man   könnte  an  der  Grenze  zwischen  der  Ober-  und  Niederlausitz  füglich 

n :  es  wirft  jeder  Dialekt  einen  schwachen  Wiederschein  von  sich  über  die 
Grenze  hinaus.  Im  Spremberger  Kreisgerichte  kommen  daher  alle  4  Dialekte  vor. 
die  beiden   reinen  und   die   beiden  Zwischendialekte,    imd    es   hatte   für  mich   als 


Kleine  Mitteilungen.  461 

Dolmetscher  des  Kreisgerichts  anfangs  einige  Schwierigkeiten,  um  mich  in  alle 
diese  Dialekte  einzustudieren. 

Zur  Beurteilung  der  Frage,  ob  eine  Gegend  ausschliesslich  wendisch  zu  nennen 
sei,  ist  es  nicht  massgebend,  dass  in  einer  solchen  Parochie  auch  noch  wendisch 
gepredigt  wird,  sondern  ich  erachte  die  häusliche  und  geschäftliche  Umgangs- 
sprache hierin  als  entscheidend.  Denn  wir  haben  in  unserer  wendischen  Gegend 
Parochieen,  wo  aus  Mangel  an  wendischen  Predigern  ein  deutscher  genommen 
werden  musste,  z.  B.  in  Jessen  (seit  15  Jahren)  und  in  Gross-Bukow  i.  seit  2  Jahren) 
im  Spremberger  Kreise,  und  im  Senftenberger  Amtsbezirk  in  Sorno  (auch  wendisch 
Sorno  genannt,  meine  Geburt s- Parochie)  fungirt  seit  40  Jahren  ein  deutscher 
Prediger.  Und  doch  ist  in  diesen  Dörfern  das  Wendische  fast  durchgängig  die 
Umgangssprache.  Es  lässt  sich  aber  nicht  läugnen,  dass  in  den  Dörfern,  wo  keine 
wendische  Predigt  mehr  gehört  wird,  das  Deutsche  viel  schneller  zunimmt,  namentlich 
bei  der  Jugend,  wie  denn  überhaupt  in  den  Schulen  des  Spremberger  und  Kalauer 
Kreises  etwa  seit  einem  Viertel  Jahrhundert  nur  die  deutsche  Sprache  gebraucht 
wird,  ausgenommen  in  einigen  ganz  wendischen  Dörfern,  wo  bei  den  kleinen 
Kindern  das  Wendische  noch  als  Verständigungsmittel  angewendet  werden  muss. 
Anderenteils  steht  es  aber  auch  fest,  dass  in  Parochieen,  wo  sonntäglich  noch 
wendisch  gepredigt  wird,  ein  Abnehmen  des  Wendischen  kaum  zu  verspüren  ist, 
denn  die  Wenden  nehmen  ihre  Liebe  zu  ihrer  Muttersprache  und  überhaupt  ihre 
sprachliche  Nahrung  meist  nur  aus  der  Predigt  und  ihren  wendischen  Andachts- 
büchern. 

Im  Ganzen  lässt  sich  bemerken,  dass  im  Spremberger  und  Kalauer  Kreise  alle 
Wenden  die  deutsche  Sprache  ziemlich  vollkommen  verstehen,  und  nur  selten 
brauchen  alte  Leute  einen  Dolmetscher  im  Gerichte,  wogegen  die  Leute  aus  den 
Oberlausitzischen  Dörfern  jenseits  der  Spremberger  Kreisgrenze  oft  kein  Wort 
deutsch  verstehen.  In  den  Dörfern  bei  Spremberg  habe  ich  oft  von  ganz  wendischen 
Leuten  gehört,  dass  sie  eine  grosse  Freude  darüber  hatten,  dass  ihre  Kinder  so 
gut  deutsch  sprechen  könnten,  weil  die  Leute  die  Überzeugung  haben,  dass  ihnen 
zu  ihrem  geschäftlichen  Leben  und  Fortkommen  die  richtige  Kenntnis  der  deutschen 
Sprache  unumgänglich  notwendig  ist.  Es  ist  aber  doch  zu  beklagen,  dass  die 
Sprache  eines  sonst  so  dominierenden  Volksstammes  sich  nach  und  nach,  und 
wenn  es  auch  noch  Jahrhunderte  dauert,  in  den  Sand  verläuft.  Meine  Erfahrungen, 
auf  welche    ich    die    vorstehenden    Notizen    stütze,    reichen    wenigstens    00  Jahre 

zurück. 

Was  nun  die  Grenzorte  der  wendischen  Sprache  anbelangt,  so  kann  ich  sie 
in  betreff  des  Kalauer  Kreises  nur  im  Senftenberger  Amtsbezirk  angeben,  da  ich 
von  der  nördlichen  Gegend,  bei  Alt-Döberu,  Kalau,  Vetschau  und  Lübbenau,  keine 
so  genaue  Ortskenntnis  mir  zutraue,  und  auch  voraussetze,  dass  Herr  Prediger 
Burscher  in  Cottbus  darüber  berichtet  haben  wird.  Im  Senftenberger  Amte  ist 
das  Wendische  im  allgemeinen  wohl  noch  die  Umgangssprache,  jedoch  an  der 
westlichen  Grenze,  namentlich  von  dem  Dorfe  Sallhausen  bis  Ruhland,  verschwimmt 
das  Wendische  ganz  in  dem  Deutschen,  so  dass  die  älteren  Leute,  namentlich 
auch  die  aus  andern  wendischen  Dörfern  dorthin  Verheirateten  und  Dienstboten, 
wohl  noch  einige  Kenntnis  der  wendischen  Sprache  haben,  aber  nur  selten  davon 
Gebrauch  machen,  die  Jugend  hingegen  das  Wendische  zu  lernen  gar  keine  Ge- 
legenheit mehr  findet  und  sich  nur  ausschliesslich  der  deutschen  Sprache  bedient. 
Die  westliche  Grenze  des  Wendischen  geht  also  von  Sallhausen  (Barzig,  Worm- 
lage,  Dollenchen  sind  ganz  deutsch)  über  Drocho,  Klettwitz,  Zschiepkau, 
Tzschornegosda  und  Naundorf  bei  Ruhland,  in  welchen  Dörfern  es  wohl  einige 

31 
Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1893. 


462 


Bolte : 


Kenntnis  der  wendischen  Sprache  giebt,  aber  aus  der  Umgangssprache  ist  sie  ganz 
verschwunden.  Naundorf,  Tzschornegosda,  Friedrichsthal  und  Kostebrau  sind  wohl 
ganz  deutseh  zu  nennen.  In  Meuro  und  Zschiepkau  wird  von  älteren  Leuten 
mitunter  noch  wendisch  gesprochen.  In  den  übrigen  Dörfern  des  Senftenberger 
Amis  ist  das  Wendische  im  allgemeinen  noch  die  Umgangssprache,  nur  das  jüngere 
Geschlecht  bedient  sich  ortsweise  sehr  oft  der  deutschen  Sprache. 

Jenseits  der  westlichen  und  teilweise  südlichen  Grenze  bis  zum  Dorfe  Peick- 
witz  und  Niemitsch,  wo  das  Wendische  wieder  anfängt,  ist  alles  deutsch.  In 
Senftenberg  in  der  wendischen  Kirche,  in  welche  die  umliegenden  Dörfer  ein- 
gepfarrt  sind,  wird  sonntäglich  wendisch  gepredigt,  in  Lauta  und  Gross-Räschen 
nur  zuweilen,  und  in  Klettwitz  mit  dem  Pilial  Sallhausen  seit  ;>0  Jahren  nicht 
mehr,  und  in  Sorno  giebt  es  keinen  wendischen  Prediger. 

Im  Spremberger  Kreise  ist  das  Wendische  noch  die  allgemeine  Umgangs- 
sprache, wiewohl  die  Jugend,  namentlich  in  den  nächsten  Dörfern  bei  Spremberg, 
sich  auch  häufig  der  deutschen  Sprache  bedient,  besonders  die  in  hiesigen  Fabriken 
beschäftigten  Wenden.  Dubrauke  ist  die  deutscheste  Parocbie,  wo  seit  40  Jahren 
nicht  mehr  wendisch  gepredigt  wird,  es  hat  auch  jetzt  einen  deutschen  Prediger. 
In  den  übrigen  Parochieen  (ausser  Jessen  und  Gross-Bukow  aus  Mangel  an 
wendischen  Predigern)  wird  sonntäglich  wendisch  gepredigt:  in  der  Spremberger 
Landkirche,  in  Graustein,  Homow,  Gross-Luja  und  Stradow.  Ausserhalb 
der  Spremberger  Kreigrenze,  was  zu  dem  Cottbuser,  Hoyerswerdaer  und  Rothen- 
burger (Muskau)  Kreise  gehört,  ist  alles  noch  viel  wendischer  als  im  hiesigen 
Kreise,  nur  in  den  Grenzdörfem  des  Sorauer  Kreises  (Forste)  verschwimmt  das 
Wendische  allmählich  und  endet  bald  in  ganz  deutschen  Dörfern. 

Dass  die  Gegend  von  der  westlichen  Grenze  des  Kalauer  Kreises  bis  an  die 
Elbe  wohl  noch  teilweise  im  vorigen  Jahrhundert  wendisch  gewesen  sein  muss, 
scheint  daraus  hervorzugehen,  dass  die  dortigen  Ortschaften  immer  noch  be- 
sondere wendische  Namen  haben,  welche  wohl  in  dortiger  Gegend  nicht  mehr 
bekannt  sein  mögen,  aber  von  den  hiesigen  Wenden  stets  noch  wendisch  benannt 
werden.  So  heisst  z.  B.  Finsterwalde  Grabin,  Sonnenwalde  Grozischcio,  Kirchheim 
Kostkow,  Doberlug  ist  schon  für  sich  eine  wendische  Bezeichnung,  Golssen  Solischyn, 
Schlieben  Sliwin,  Liebenwerda  Rykow,  Elsterwerda  Wikow  u.  s.  w.  In  Bautzen 
beim  wendischen  Buchhändler  Smaler  ist  eine  slavische  Landkarte  der  Ober-  und 
Niederlausitz  zu  haben,  betitelt:  Luzyce  od  reformaeji  do  1SG1  R.  Ulozyl  Wilhelm 
Boguslawski.  welche  zwar  die  Grenzen  der  wendischen  Sprache  in  der  Ober-  und 
Niederlausitz  durch  Farbendruck  ziemlich  richtig  angiebt,  aber  in  den  Ortsnamen, 
welche  slavisch  genannt  werden,  und  in  der  Lage  derselben  viel  Unrichtiges 
enthält. 


Nochmals  das  Märchen  von  den  sieben  Grafen. 

(Bd.  2,  201.  244.  3,  61.) 

Von  der  vielgelesenen  lateinischen  Novelle  des  Jesuiten  Jakob  Bidermann,  die 
auf  der  alten  Ballade  vom  Grafen  von  Rom  fusste,  sind  mir  durch  den  schönen 
Katalog  der  Wiener  musikalischen  Ausstellung  noch  zwei  weitere  Bearbeitungen 
in  dramatischer  Form  bekannt  geworden:  1)  M.  Martinus  Lintner,  J.  U.  S.,  List- 
und  Lust-Spiel  Ehlicher  Treu,  Oder  Von  seiner  Gemahlin  Ansberta  Auß  Band  und 
ilen    unverhofft  erlöster  Bertulfus.     Saltzburg  1687.    4°.    (Archiv  Salzburg),  und 


Bücheranzeigen.  463 

2)  Paulus  Aler  S.  J.,  Ansberta,  sive  Amor  Conjugalis  tragoedia.  2.  ed.  ,Coloniae 
1711.  8°  (Stadtbibliothek  Köln).  1726  spielte  die  Kauf beurer  Agentengesellschaft »j, 
wie  mir  Karl  Trautmann  freundschaftlich  mitteilt,  ,Vom  weiblichen  Lautenisten, 
oder  Bertulfus  und  Ansberta,  zweimal,  und  das  nachspihl  vom  Weiberregiment'. 

Recht  wichtig  wäre  einmal  eine  Untersuchung  der  in  Schwyz  aufbewahrten 
Handschrift  des  1643  daselbst  von  Kaspar  Abyberg  gedichteten  vieraktigen  Schau- 
spiels in  Versen  ,Graf  Paquevillc',  das  schon  Baechtold  (Geschichte  der  deutschen 
Litteratur  in  der  Schweiz  1892  S.  466.  471)  mit  dem  späteren  Walliser  Drama 
gleichen  Titels  und  dem  österreichischen  Marionettenspiele  in  Verbindung  ge- 
bracht hat. 

Zu  dem  Bd.  3,  65  abgedruckten  Liede  vom  , Markgrafen  Backenweil'  hat  mir 
Herr  Professor  F.  M.  Böhme  in  Dresden  freundlichst  eine  bei  Kretzsehmer  und 
Zuccalmaglio  (Deutsche  Volkslieder  1840  2,  13  Nr.  4)  gedruckte  Variante  vom 
,Grafen  Wattenwill'  nachgewiesen.  Der  Text  enthält  23  Strophen,  also  sechs 
weniger  als  unsere  Fassung,  und  soll  ,in  Lothringen  erhalten'  sein.  Die  Melodie 
ist  die  bekannte  ,Ich  stand  auf  hohen  Bergen"  vom  Jahre  1782  (Erk,  Deutscher 
Liederhort  185C  Nr.  18  a). 

Auf  S.  64  bitte  ich  noch  zwei  störende  Druckfehler  zu  verbessern.  Zeile  22: 
,Die  Geschichte  Philiberts  von  Paqueville  finden  wir  auch  in'  .  .  .  Zeile  4  v.  u. 
lies:  ,Minor  in  der  Vierteljahrsschrift  für  Litteraturgeschichte  1,  280'. 

Zu  dem  noch  heut  im  Volke  lebenden  Märchen  von  der  treuen  Frau  ist  auch 
eine  russische  Fassung  zu  vergleichen:  Goldschmidt,  Russische  Märchen  1883 
S.  124  ,Der  Gusslispieler'. 

Berlin.  J-  Bolte. 


Bückeraiizeiaen. 


Stern,  L.  Will.,  Die  Analogie  im  volkstümlichen  Denken.  Eine  psycho- 
logische Untersuchung.  Mit  einer  Vorbemerkung  von  M.  Lazarus. 
Berlin,  Philos.-hist.  Verlag  Dr.  R.  Salinger.    1893.    S.  IV.  162.    8°. 

Der  Verf.  der  vorliegenden  Untersuchung  will  einen  Gegenstand  der  Logik, 
die  Analogie,  psychologisch  und  methodologisch  behandeln  und  nachweisen,  dass 
dieselbe  der  elementarste  und  häufigste  Denkprozess  und  die  Grundlage  aller 
höheren  Schlussarten  ist.  Er  führt  den  Beweis  hauptsächlich  durch  die  Resultate 
der  Beobachtung,  welcher  er  das  Denken  des  nicht  wissenschaftlich  gebildeten 
Teils  der  Menschen,  des  sogenannten  Volkes  und  der  Kinder  unterwirft.  Er  giebt 
damit  einen  interessanten  Einblick  in  die  ersten  Stadien  der  geistigen  Entwicklung 
des  Menschen  und  einen  Beitrag  zur  modernen  Psychologie,  der  sich  durch  sorg- 
same Beobachtung  und  besonnenes  Urteil  auszeichnet. 


1)    Vgl.  über  diese  Trautmann,  Archiv  für  Litteraturgeschichte  14,  225. 

31* 


■Ifi-l  Stolz: 

Lukas,   Franz,    Die  Grundbegriffe   in   der  Kosmogonie   der  alten  Völker. 

Leipzig.  Friedrich,  1893.    S.  Till.  277.   8°. 

Verl',  behandelt  die  Kosmogonien  der  Babylonier,  der  Genesis,  der  Ägypter, 
Inder.  Eranier,  Phönizier,  Griechen,  Römer  und  Etrusker,  Kelten,  Germanen.  Er 
erklärt,  dass  seine  Untersuchungen  -überall  bis  auf  die  Grundtexte-  zurückgehen, 
doch  gilt  das,  abgesehen  vom  Lateinischen,  Griechischen  und  vielleicht  Hebräischen, 
nur  in  dem  Sinne,  dass  die  Übersetzungen,  deren  sich  der  Verf.  bediente,  nach 
den  Urtexten  gemacht  sind.  Er  hat  sich  aber  fleissig  in  der  zu  den  Quellen 
gehörigen  Litteratur  umgesehen  und  urteilt  besonnen,  nur  in  Bezug  auf  die  Ägypter 
wohl  etwas  zu  vertrauensvoll  in  die  Sicherheit  des  Erkennbaren.  Heim  Wesso- 
brunner  Gebet  und  den  Angaben  der  Edden  über  die  Weltschöpfung  spricht  er 
sich  gegen  Verwertung  biblischer  Gedanken  aus.  gesteht  vielmehr  den  eddischen 
Kosmogonien  durchaus  nordischen  Charakter  zu.  Er  handelt  überhaupt  im 
zusammenfassenden  Schlussabschnitt  sehr  einsichtig  über  die  Wahrscheinlichkeit 
kosmogonischer  Entlehnungen  und  legt  über  Ähnlichkeiten  in  Schöpfungsmythen 
und  Spekulationen  Ansichten  dar,  die  auch  für  das  weitere  Gebiet  der  .Mythologie 
gelten.  Seine  Erörterungen  sind  überall  geschult  und  klar,  nur  mehrfach  breiter, 
als  für  ihre  Deutlichkeit  nötig  gewesen  wäre.  Kleine  Irrtümer  mögen  auch  da 
vorkommen,  wo  ich  sie  nicht  zu  erkennen  vermag,  und  der  Druckfehler  sind  mein. 
als  die  Berichtigungen  angeben. 

Berlin.  Max  Roediger. 


Chr.  Schneller,  Beiträge  zur  Ortsnamenkunde  Tirols.  I.  Heft.  Heraus- 
gegeben vom  Zweigverein  der  Leo-Gesellschaft  für  Tirol  und  Vorarl- 
berg.   Innsbruck.  Verlag  der  Vereinsbuchhandlung,  1893.   XI  und  92  S. 

Nachdem  Seh.  bereits  in  seinem  Buche  .Tirolische  Namenforschungen",  die 
sich  mit  den  Namen  des  Lagerthaies  in  Wälchtirol  beschäftigten  (vergl.  meine 
Anzeige  dieses  Buches  im  ersten  Jahrgange  dieser  Zeitschrift  S.  i"22f.)  auch  viele 
Ortsnamen  aus  dem  übrigen  Tirol  in  den  Kreis  seiner  Untersuchung  gezogen  hatte, 
giebt  er  in  dieser  neuesten  Arbeit  eine  sehr  dankenswerte  Auslese  von  Ortsnarnen- 
erkdärungen  aus  seinen  reichen  Sammlungen,  die  zum  grösseren  Teile  nach  sach- 
lichen Gesichtspunkten  geordnet  ist.  Am  umfangreichsten  ist  die  im  vierten  Ab- 
schnitt gegebene  Zusammenstellung  jener  Ortsnamen,  deren  Herkunft  auf  Ver- 
schiedenheit des  Besitzes  und  der  Siedelung,  der  Wohnungen  und  Bauten  sich 
gründet.  In  diesem  meines  Erachtens  die  sichersten  Ergebnisse  enthaltenden 
Kapitel  sind  ungefähr  340  Namen  auf  38  lateinische  oder  mittellateinische  Etyma 
zurückgeführt,  die  mit  Ausnahme  von  zweien  (^eumpanea  it.  compagnia  und  *morantia 
'stanza  abiiazione'  frz.  de-meurence  '"Wohnort")  als  wirklich  gebrauchte  Wörter  über- 
liefert sind.  Auch  die  beiden,  unmittelbar  sich  anschliessenden  Abschnitte,  von 
denen  der  erstere  auf  Bezeichnungen  von  Ställen  und  Gehege  zurückgehende  Orts- 
namen erklärt  (es  sind  im  Ganzen  sieben  aus  dem  Mittellatein  bezeugte  Etyma), 
der  letztere  eine  kleine  Anzahl  interessanter  Namen  zu  deuten  versucht,  welche 
nach  Amt  und  Würde  des  einstmaligen  Besitzers  geschöpft  zu  sein  scheinen, 
liefern  der  Hauptsache  nach  einleuchtende  Ergebnisse.  Aber  entschieden  zu  weit 
gehend  scheint  mir  der  dritte  Abschnitt,  in  welchem  Ortsnamen  auf  -ae  und  -ag 
untersucht  werden.  Nach  des  Verfassers  Ansicht  sollen  sie  zum  Ausdrucke  alter 
Rechts-,  Zins-  und  Lehensverhältnisse  gedient  haben.  Diese  Deutung  trifft  bei 
einem  Teile  der  in  Rede  stehenden  Ortsnamen  allerdings  zu,  aber  für  den  andern, 


Bücheranzeigen.  465 

nicht  kleineren,  für  den  auch  die  Etyma  nur  erschlossen  nicht  belegt  sind,  vcrgl. 
z.B.  Magnago  zu  *manducaticum,  wälschtir.  magnar,  essen,  „von  der  Verpflichtung, 
dem  Herrn  Mahlzeiten  zu  bereiten  oder  bestimmte  Esswaren  zu  liefern",  Pinzagen, 
entweder  zu  *pensaticum  'Zins'  oder  *pinsiatieuni  von  pinsiare,  it.  pigiare  'zer- 
stampfen, quetschen,  besonders  von  Trauben',  also  soviel  als  Abgabe  au  „Prasch- 
glet",  scheinen  mir  die  Deutungen,  so  scharfsinnig  sie  erschlossen  sind,  doch  gar 
zu  weit  hergeholt.  Ich  kann  wirklich  nicht  einsehen,  warum  Seh.  gar  so  sehr 
gegen  Flechias'  Deutung  solcher  Ortsnamen  aus  keltisch-römischen  Eigennamen 
eingenommen  ist,  die  auch  P.  Orsi  angenommen  hat.  Ist  wirklich  die  Deutung 
von  Sedriago  aus  einem  nur  nach  Analogie  von  se.rteriaiicum  (Getreidemass)  er- 
schlossenen *septeriaticum  wahrscheinlicher  als  Orsi's  Ableitung  von  einer  gi  ns 
Setria  (etrusk.  seftri  oder  sebre)?  t'ber  Tobiach,  das  eher  slavischen  Ursprungs  zu 
sein  scheint,  hat  sich  schon  Dr.  R.  Müller  in  einer  Besprechung  unserer  Schrift, 
die  auch  einige  andere  beachtenswerte  Bemerkungen  beibringt,  in  dem  Österr. 
Litteraturblatt  des  Jahres  1893  (II.  Jahrg.)  S.  656  ff.  geäussert.  Zwei  Abschnitte 
(I.  und  II.)  handeln  von  lat.  MN  und  von  dem  Auslaut  DR  und  NDR  in  Orts- 
namen. Sehn,  nimmt  auf  Grund  einiger  Namendeutungen,  die  mir  keineswegs  allzu 
sicher  zu  sein  scheinen,  Assimilation  von  MN  zu  -mm-  an.  Das  verträgt  sich  aber 
doch  keineswegs  mit  der  von  ihm  selbst  citierten  Beobachtung  von  Meyer-Lübke 
Born.  Gramm.  I  410,  dass  -mn-  im  Bätischen  zu  -nn-  werde,  z.  B.  engad.  dunna. 
Ein  ohnehin  problematisches  lat.  *sedamen  müsste  demnach,  wenigstens  nach  der 
für  eine  exakte  Forschung  allein  anzuerkennenden  Methode  der  Analogie,  "sedanmes 
*sedannes  *Stans,  nicht  aber  Slams  ergeben.  Bezeichnend  ist  auch,  dass  die  einzige 
wirklich  überlieferte  Form  mit  altem  -mtl.,  nämlich  Alagumna  zu  Algun-d  geworden 
ist.  Doch  ich  will  nicht  weiter  auf  Einzelheiten  der  interessanten  Schrift  eingehen, 
die  in  ihrem  siebenten  Abschnitt  noch  „Einzelnes",  darunter  auch  wiederum,  wie 
mich  dünken  will,  recht  kühne  Deutungen,  wie  beispielsweise  die  von  Latzfons 
Schenna  u.  a.  beibringt  und  im  letzten  Abschnitt  „harte  Nüsse"  zum  Knacken 
vorlegt. 

Die  von  mir  vorgebrachten  Bemerkungen  beanspruchen  nur  Geltung  von  dem 
Standpunkte  allgemeiner  Sprachforschung,  und  wenn  ich  von  diesem  aus  Bedenken 
äussern  zu  müssen  glaubte,  so  stehe  ich  andererseits  nicht  an,  die  ausserordent- 
liche Sprachkenntnis  und  den  eindringlichen,  von  der  Leuchte  der  Phantasie  ge- 
leiteten Spürsinn  des  Verfassers  aufs  wärmste  anzuerkennen. 

Zum  Schlüsse  noch  folgende  Bemerkung.  Schneller  hat  S.  13  f.  dieser  Schrift 
den  Namen  des  Dorfes  Nauders,  alt  Nudre,  Nudris  u.  s.  w.,  wie  ich  glaube,  mit 
grosser  Wahrscheinlichkeit  an  den  von  Claudius  Ptolomaeus  überlieferten  Namen 
'hov'rpiov  angeknüpft,  den  er  mit  Recht  für  vorrömisch  hält.  Hier  hat  der  Zufall 
uns  eine  ältere,  allerdings  etwas  civilisierte  Form  erhalten,  die  zur  Erklärung  des 
seltsamen  Namens  „Nauders"  sehr  willkommen  ist.  Warum  nun.  frage  ich.  soll 
man  andere  Namen  um  jeden  Preis  auf  das  Prokrustesbett  des  Romanischen 
spannen  und  nicht  lieber  zugeben,  dass  sie  nicht  romanischer  Herkunft  sind? 

Innsbruck.  Fr.  Stolz. 


Volksglaube   und   Volksbraucli   der    Siebenbürger   Sachsen.     Von    Dr. 

Heinrich  von  Wlislocki.     (Beiträge  zur  Volks-  und  Völkerkunde. 
I.  Band.)     Berlin,  Verlag  von  Emil  Felber,  1893. 

„Für  den  Volksforscher,  sagt  Verfasser  im  Vorwort,  ist  Siebenbürgen  mit  seinen 
himmelanstrebenden  Bergen   und  Zinnen,   seinen  weltverlassenen  Hochlandsthälern 


466  Jolln: 

ein  fruchtbarer  Boden,  ein  Eldorado  der  Volkskunde.  Brod-  und  heimlos  habe  ich 
im  Dienste  der  Volkskunde  dies  wundervolle,  bezaubernde  Märchenland  nahezu 
15  Jahre  lang,  bis  auf  den  heutigen  Tag  fast  ununterbrochen,  durchpilgert  und  im 
Kreise  der  einzelnen  Völkerschaften  ein  bedeutendes  Material  zusammengebracht, 
das  für  religionsgeschichtliche  Forschung  und  Völkerkunde  der  Beachtung  wohl 
wert  ist."  In  der  That  ist  dies  schätzbare  Buch  sowohl  auf  guter  Eigenforschung 
als  auf  umsichtiger  Benutzung  verdienstvoller  Vorarbeiter  aufgebaut.  Die  Haupt- 
sache bei  der  Ausarbeitung  des  Buches  war  dem  Verfasser  weniger  kritische  Er- 
örterung als  vielmehr  möglichst  reiche  und  umfassende  Beschaffung  von  Stoff  und 
Material.  Mit  Riesenschritten,  sagt  er,  scheint  die  Zeit  zu  nahen,  wo  deutscher 
Brauch  und  deutsche  Sitte  in  KKngsors  Lande,  in  Siebenbürgen,  verschwunden  ist. 
Fremde  überfluten  in  hastigem  Jagen  nach  Gold  und  Genuss  das  stille  Eiland 
mittelalterlicher  Romantik,  und  wo  einst  der  Weidruf  deutscher  Ritter  und  der 
Allelujagesaug  frommer  Pilger  erklang,  dort  braust  das  Dampfross;  im  flutenden 
Völkergetümmel  taucht  bald  diese  kleine  Insel  deutschen  Volkslebens  unter"  — 
gewiss  beherzigenswerte  Worte  auch  für  die  Volksforscher  anderer  deutscher  Lande, 
welche  urdeutsche  Bräuche  von  der  Sturmflut  modernen  Lebens  gefährdet  sehen. 
Reichhaltig  und  erschöpfend  ist  denn  auch  der  Inhalt  des  Buches,  der  uns  in  den 
Volksglauben  und  die  Volksbräuche  der  Siebenbürger  Sachsen  führt.  Die  ein- 
zelnen Kapitel  lauten:  I.  Dämonen,  IL  Festgebräuche,  III.  Segen  und  Heilmittel, 
IV.  Glück  und  Unglück,  V.  Tiere  im  Volksglauben,  VI.  Tod  und  Totenfetische; 
mit  einer  Fülle  interessanter  Einzelheiten  und  einer  seltenen  Reichhaltigkeit  der 
Proben  und  Sammlungen.  Der  Freund  des  fernen  deutschen  Bruderstammes,  der 
Volkskundige,  der  Ethnologe  wird  seine  Freude  an  diesem  Buche  haben. 

Eger.  Alois  John. 


More  Englisk  Fairy  Tales  collected  and  edited  by  Joseph  Jacobs, 
illustrated  by  John  D.  Batten.  London,  David  Nutt  1894.  S.  XII. 
243.    8°.    Mit  8  Vollbildern  und  vielen  kleineren  im  Text. 

Mrs.  Joseph  Jacobs,  der  Herausgeber  der  Zeitschrift  Folk-Lore,  lässt  als  eine 
Weihnachtsgabe  auf  1893/94  für  englische  Kinder  seinen  Fairy  Tales  von  1889 
eine  weitere  Märchensammlung  folgen,  Nr.  44 — 87,  in  jener  geschmackvollen  aller- 
liebsten Ausstattung,  welche  das  frühere  Buch,  sowie  seine  Celtic  Fairy  Tales 
und  die  Indian  Fairy  Tales  auszeichnete.  Der  grössere  Teil  der  in  dem  vor- 
liegenden Werke  gedruckten  Märchen  ist  bisher  nicht  bekannt  gewesen.  Mrs. 
Jacobs  hat  die  einzelnen  Stücke  von  überallher  genommen:  aus  den  Vereinigten 
Staaten  Nord -Amerikas,  aus  dem  schottischen  Unterland  (was  er  im  besonderen 
rechtfertigt),  aus  mündlicher  Überlieferung,  einige  hat  er  aus  alten  Balladen  her- 
gestellt. Englischer  Ursprung  war  seine  Forderung,  und  englischer  volkstümlicher 
Erzählungsstyl,  was  er  äusserlich  erreichen  wollte.  Seine  Verteidigung  seines  Vor- 
gehens gegen  die  gestrengen  kritischen  folk-lore  friends,  die  es  Entheiligung  des 
reinen  Textes  der  originalen  Überlieferung  schelten,  ist  in  seiner  Vorrede  lesens- 
wert. Sehr  schätzbar  sind  die  Anmerkungen  (notes  and  references)  zu  den  ein- 
zelnen Märchen,  welche  den  Schluss  des  Buches  (S.  215 — 243)  bilden.  Mrs. 
Jacobs  giebt  darin  1.  die  Quelle,  2.  die  Parallelen  und  3.  wo  es  nötig  schien,  er- 
läuternde Bemerkungen.  K.  W. 


Bücheranzeigen.  4ß7 

Harou,  Alfred,  Melanges  de  Traditionisme  de  la  Belgique  (Collection 
internationale  de  la  Tradition.  Vol.  X).  Paris,  E.  Leclievalier. 
1893.    S.  150.    1-2°. 

Harou,  Alfred,  Le  Folklore  de  Godarville  (Hainaut).  Anvers,  J.Vancanegliem. 
1893.    S.  148.    kl.  8°. 

In  dem  wallonischen  Belgien  wendet  man  der  Volkskunde  jetzt  sehr  lebhafte 
Thätigkeit  zu.  Zwei  Zeitschriften  bezeugen  es:  die  von  der  Societe  du  Folklore 
Wallon  durch  Prof.  Monseur  in  Lüttich  herausgegebene,  und  die  von  M.  0.  Colson, 
ebenfalls  in  Lüttich,  geleitete  Wallonia.  Unter  den  Sammlern  ist  Kapitän  A.  Harou 
in  Antwerpen  besonders  eifrig,  von  dem  wir  zwei  neue  Veröffentlichungen,  die  oben 
bezeichneten,  liier  kurz  anzeigen.  —  Die  Melanges  bringen  eine  sehr  reiche  Menge 
von  Volksüberlieferungen,  teils  aus  gedruckten,  teils  aus  mündlichen  Quellen  und 
berücksichtigen  auch  die  flämischen  Landschaften.  Sie  berühren  alle  Teile  des 
volkstümlichen  Schatzes  mit  Ausschluss  der  Sagen  und  Lieder,  welche  einem 
eigenen  Werke  vorbehalten  blieben.  —  In  dein  Folklore  de  Godarville  legt  Herr 
A.  H.  die  Ergebnisse  einer  Sammlung  des  Aberglaubens,  der  Meinungen,  Gebräuche, 
Spiele  und  poetischer  Stücke  aus  einem  abgelegenen,  wallonischen  Dorfe  Godarville 
im  Hennegau  vor,  welches  den  vielversprechenden  Namen  des  Hexenlandes  (pays 
des  sorcieres)  bei  den  Nachbarn  führt.  Es  kann  nicht  fehlen,  dass  viel  interessantes 
darunter  ist. 

So  vermehrt  sich  das  volkskundliche  Material  für  Belgien,  und  das  kommt 
auch  uns  zu  gute.  K.  W. 


La  poe'sie  populaire  par  Mme  la  Comtesse  E.   Martinengo-Cesaresco. 

Paris.    E.  Leclievalier.    1893.    S.  VHI.    81.    kl.  8°. 

Das  elfte  Bändchen  der  von  Prof.  H.  Carnoy  herausgegebenen  Collection 
international  de  la  Tradition  bringt  unter  dem  Titel  La  poesie  populaire  zwei 
Essays  einer  geistreichen  und  gelehrten  Dame,  der  Contessa  E.  Martinengo- 
Cesaresco,  einer  Engländerin  von  Geburt,  Italienerin  durch  ihre  Vermählung,  und 
Französin,  wie  der  Herausgeber  schreibt,  „par  le  temperament,  Fesprit,  le  style, 
la  connaisance  de  notre  langue."  Contessa  M.  C.  hat  bereits  1886  Essays  in  the 
Study  of  Folk-Songs  zu  London  herausgegeben,  die  in  England  Beifall  fanden. 
In  dem  vorliegenden  Büchlein  giebt  sie  zuerst  eine  c'-tude  historique  über  die 
Volkspoesie.  wTorin  sie  im  ersten  Abschnitt  über  die  Balladen  und  ihre  Beziehungen 
zu  den  alten  geschichtlichen  Liedern,  und  im  zweiten  über  die  Lieder  der  Bauern 
(namentlich  bei  den  Erntefesten)  und  die  Liebes-  und  Kinderliedchen  plaudert.  Der 
zweite  E-say  ergeht  sich  über  die  Schicksalsidee  in  den  Volksüberlieferungen  des 
europäischen  Südens  (Griechenland  und  Italien).  Die  feingebildete,  belesene  Frau, 
die  angenehm  zu  schreiben  versteht,  zeigt  sich  überall.  K.  W. 


Deutsche  Volkslieder.  In  Niederhessen  aus  dem  Munde  des  Volkes 
gesammelt,  mit  einfacher  Ciavierbegleitung,  geschichtlichen  und  ver- 
gleichenden Anmerkungen  herausgegeben  von  Johann  Lewalter. 
4.  Heft.    Hamburg,    Gustav  Fritzsehe.    1893.    S.  VIII.    72.    kl.  8°. 

Den    drei    ersten    Heften,    die    von   1890 — 92   erschienen,    ist  nun  ein  viertes 
gefolgt,  das  von  neuem  beweist,  wie  reich  noch  heute  Hessen  an  Volksliedern  ist. 


468  Brückner: 

Herr  Lewalter  hat  bei  seiner  Sammlung  das  musikalische  Element  in  dankens- 
wertester Weise  in  den  Vordergrund  gestellt,  was  ihm,  dem  Musiker,  zwar  am 
Herzen  lag,  wofür  wir  ihm  aber  dankbar  sind.  Blosse  Texte  der  Volkslieder 
geben  nur  die  eine  Seite  derselben.  Interessant  ist,  dass  in  den  verschiedenen 
deutschen  Ländern  dieselben  Texte  nicht  selten  auf  ganz  abweichende  Melodien 
gesungen  werden.  Belege  dafür  bietet  das  Vorwort  dieses  Heftes.  In  den  An- 
merkungen giebt  Herr  L.  Nachweise  über  die  Verbreitung  der  Texte.  Das  4.  Heft 
bringt  47  Lieder.  K.  W. 


Öesky  Lid.  Sbornik  venovany  studiu  lidu  ceskeho  v  Cecliäeh,  na  Morave, 
ve  Slezsku  a  na  Slovensku.  Redaktori  Dr.  L.  Niederle,  Dr.  C.  Zibrt. 
Bd.  II  (Trag  1893),  Heft  2—6  (S.  106—740  und  V);  Bd.  III,  Heft  1 
(S.  1—96). 

Mit  dem  neuen  Jahrgang  ist  die  Änderung  getroffen  worden,  dass  in  jedem 
Hefte  der  kulturhistorisch-ethnographische  und  der  anthropologisch-archäologische 
Teil  streng-  gesondert,  dem  ersten  je  vier,  dem  zweiten  je  zwei  Bogen  eines  Heftes 
zugewiesen  werden.  Dieser  Änderung'  stimmen  wir  ohne  weiteres  bei;  erwähnen 
ausserdem,  dass  die  Redaktion  besonderes  Gewicht  auf  populäre  Darstellungen 
legen,  streng  fachgemässes  auf  Referate  und  dergl.  beschränken  will. 

Unter  den  kulturhistorischen  und  ethnographischen  Beiträgen  —  nur  über  diese 
berichten  wir  hier  —  zeichnen  sich  die  des  Herausgebers,  Dr.  Z.  Zibrt,  durch 
Weite  des  Gesichtspunktes,  Heranziehen  der  gesammten  einschlägigen  Litteratur 
und  kritische  Gründlichkeit  aus;  besonders  gilt  dies  von  seinem  Studium  ..das 
Todaustragen  und  dessen  ältere  und  neuere  Deutungen"  (S.  453 — 472  und 
549  -  5G0).  Nach  Erschöpfung  eines  sehr  reichen  Materials  lässt  er  uns  allerdings 
über  sein  eigenes  Endurteil  im  Zweifel  —  die  Annahme  des  heidnischen,  originalen 
Untergrundes  dieses  Brauches  hat  offenbar  noch  zu  viel  Bestechendes  für  ihn. 
Dasselbe  gilt  von  der  zugleich  reich  illustrierten  Abhandlung  über  den  mährischen 
und  slovakischen  „Königsritt"  zu  Pfingsten,  verwandt  mit  den  deutschen  Maigrafen- 
festen (S.  105 — 129),  sowie  über  das  Herumgehen  zu  Weihnachten  mit  einem  roh 
nachgeahmten  Pferd  u.  a.  (klibna.  vermummte  Gestalt,  Maske,  S.  345—370). 
In  deutsche  Volkskunde  schlägt  mit  ein  die  Erwähnung  des  Rübezahl  in  einem 
Buche  des  H.  Zalansky  über  die  bösen  Engel  oder  Teufel  (1618,  Prag):  im 
böhmischen  Riesengebirge  erscheine  öfters  ein  Mönch,  Rubical,  geselle  sich 
freundlich  dem  Wanderer,  erbiete  sich  ihn  zu  geleiten  und  wenn  er  ihn  nun  in 
Abgründe  verführt,  springe  er  auf  einen  Baum  und  lache  und  höhne,  dass  der 
ganze  Wald  schalle.  Einen  hübschen  Beitrag  für  die  Rätsellitteratur  gewährt  der 
Alxlruck  (in  Auswahl)  eines  böhmischen  Rätselbuches,  s.  1.  et  a.,  aus  dem 
17.  Jahrhunderte,  ein  getreuer,  öfters  unverstandener  Abdruck  noch  älterer  Texte 
(vor  15(37). 

Von  Beiträgen  und  Aufsätzen  anderer  seien  erwähnt  ein  illustrierter  Bericht 
über  Zeichnungen  mährischer  Ostereier  von  Prof.  Klvana,  sowie  andere  Beiträge 
zur  Volksornamentik,  darunter  auch  über  Vignetten  und  dergl.  von  Gebetbüchern, 
zumal  des  17.  und  18.  Jahrhundertes ;  dann  über  Weihnachtsspiele;  über  Kinder- 
spiele in  Mähren;  über  Volksgebete  u.  dergl.  m.  Mitteilungen  von  Volkstexten, 
Erzählungen,  Liedern,  Hirtenrufen  u.  dergl;  ethnographische  Schilderungen,  be- 
sonders eingehend  die  des  böhmischen  Hauses,  einzelner  Gewerbe,  Tänze,  Bräuche: 
Beiträge  zur  Geschichte  der  Trachten,  des  Hausgerätes  u.  s.  w.  wechseln  in  bunter 


Protokolle.  469 

Folge.  Der  Aufsatz  von  Bi\  Jelfnek  (Denkmäler  slavischer  Urzeit  in  Ortsnamen 
mit  besonderer  Rücksicht  auf  Böhmen)  bringt  reiches  Material,  doch  geht  der  Verf. 
mit  der  Sprache  allzu  willkürlich  um.  Das  von  einer  Menge  über  ganz  Böhmen 
verbreiteter  Korrespondenten  beigesteuerte  Material  betrifft  Fasten-  und  Ostern- 
bräuche.  A.  Brückner. 


Aus  den 

Sitzungs-Protokollen  des  Vereins  für  Volkskunde. 


Berliu,  Freitag,  26.  Mai  1893.  Herr  Prof.  Dr.  R.  Lange  sprach  über  das 
Allerseelenfest  in  Japan,  dessen  Feier,  bei  der  allgemeinen  Umkehr  zum  Alten  im 
Lande,  mit  neuem  Eifer  begangen  wird,  obwohl  es  die  Tendenz  zeigt,  zu  einem 
Kinderfeste  herabzusinken;  über  die  Sitten  und  Bräuche  während  der  dreitägigen 
Bon-Feier,  das  Illuminieren  mit  Laternen,  das  Festmahl,  den  Gräberbesuch,  die 
Tänze  u.  s.w.;  auch  legte  der  Vortragende  die  reich  illustrierten  Bände  der 
japanischen  Zeitschrift  für  Volkskunde  zur  Ansicht  vor.  —  Herr  Geh.  Rath 
Weinhold  hob  die  übereinstimmende  Ausstattung  und  dergl.  des  walisischen 
Neujahrsapfels  und  des  schlesischen  Weihnachtsapfels  hervor;  Prof.  Brückner 
wies  auf  die  Übereinstimmung  zwischen  Lausitzer  Schlosssagen  und  der  Schloss- 
sage in  der  böhmischen  Chronik  des  Dalemil. 

Freitag,  27.  Oktober.  Herr  Privatdozent  Dr.  R.  M.  Meyer  sprach  über 
die  Anfänge  der  deutschen  Volkskunde;  griff  auf  die  Alten  zurück,  um  ihre  Ge- 
sichtspunkte bei  volkskundlichen  Berichten  klarzustellen,  ging  zum  Mittelalter 
(Karl  der  Gr.  u.  a.)  über,  hob  das  vielseitige  Interesse  der  Reformationszeit 
(Dürer,  Luther,  Agricola,  Fischart)  hervor,  hierauf  die  Anfänge  einer  wissenschaft- 
lichen Aufzeichnung  (Neocerus,  Rockenphilosophie  u.  a.)  und  den  seit  1774  durch 
Moser,  Herder,  später  die  Romantiker  erneuten  Sinn  dafür.  Zuletzt  besprach  er 
die  Gegenwart  der  Volkskunde,  wie  sie  namentlich  in  der  Litteratur  (seit  Walter 
Scott)  auftritt,  die  dagegen  durch  Platen  und  Gutzkow  geltend  gemachte  Opposition, 
die  Düsseldorfer  Schule,  Riehl  und  das  Bairische  Nationalmuseum,  endlich  die  der 
Pflege  der  Volkskunde  gewidmeten  Vereine. 

Nach  diesem  Vortrage  wurden  kleine  Mitteilungen  gemacht  von  Herrn  Direktor 
Dr.  W.  Schwartz  über  das  im  Havellande  vorkommende  Wort  Muggel  für  Kröte, 
von  Geh.  Rat  Dr.  Meitzen  über  die  Pferdeköpfe  an  den  Firstbalken  der  Häuser. 
und  vom  Vorsitzenden  über  einen  verdienten  Volksforscher  in  Jütland,  den 
Pastor  Feilberg  in  Askov  bei  Vejen.  A.  Brückner. 


Register. 


Aberglaube  bei  Hochzeiten  147.  bei  Kindern 
149.  isländischer225.  jüdischer  142.  morgen- 
ländischer 23.  130.  238.   saterländischer  380. 

Abyberg,  K.  463. 

Adam  und  Evaspiel  221. 

Adamopfer  370. 

Adventspiel  222. 

cAgiba  133. 

Alding  100. 

aidomäs  347. 

Alexander  am  Pflug,  von  Metz  03  f. 

Algäu   10. 

Allerseelenfest,  japanisches  4. 

Altarkerzen  147.  366. 

Altkunig  68. 

Altmark  4.  6. 

An  der  Weichsel  gegen  Osten  179. 

Analogie  463. 

Ansrana;  135. 

Ansberta  63.  462  f. 

Appelpepels  Tochter  230. 

Apulejus  203. 

Arbeit  40  ff. 

Asa  (=  Asega)  249.  250. 

Aschermittwoch  371. 

Artis  98. 

Aufgebot,  kirchliches  146.  156. 

Ausfahrt  zum  Fischfang  165  f. 

Avancini  63. 

Backenweil,  Graf  65  f.  463. 

Backofenschüssellauf  15. 

Badekräuter  447. 

Balm  44. 

Barfüssigkeit  16. 

Barchentlaufen  19—21.  460. 

Barrelaufen  18. 

Bartos  113. 

Bastian  237. 

Bauernregeln  278. 

Bauerntöchter,  drei,  Meisterges.  60. 

Bauknecht  46. 

Baumklettern  7.  23.  460. 

Baumspalt  36. 

Bayern  8.  13.  19.  21. 

Becheraustrinken  134. 

Begräbnis  151  f. 

Bei  Sedan  auf  der  Höhe  180. 

Beilager  auf  Kornfeld  277. 

Beisswürmer  17.3. 


Bekenstag  273. 

Belgien  111.  167. 

Kertulfus  und  Ansberta  63.  462. 

Beschwörung  385. 

Besenbinders  Tochter  229. 

Bett,  unterm  34.     Bettfrau  148. 

Bettingen  427. 

Bettkissen  447. 

Bettlerhochzeiten,  Reime  228  f. 

S   Beuverie  431. 

Bibliotheque  de  Carabas  232. 

Bidermann.  J.  63. 

Bielenstein  235. 

Bikenbrennen  273.  354. 

Birl  43. 

Bissen  auf  die  Erde  gefallen  28. 

Bittmann  451. 

S.  Blasius  428. 

Blatt,  singendes,  tanzendes  199. 

Blick,  böser  26. 

Blitzesfäden,  Blitzkreuze  449  f. 

Blindlaufen  17. 

Blocklettern  377. 

Blume  gewünscht  199.  201. 

Blutstag  54. 

Boemus,  J.  349.  357.  369  f. 

Böhmerwald,  geistliche  Spiele  208.  217. 

Bömkeletere  378. 

Bommelskont  436. 

bosorka  348. 

böser  Blick  26.    böser  Geist  87. 

bötjer  395. 

S.  Boudin  431. 

S  Bouteille  431. 

Brandkultur  396. 

Brauch  42. 

brauen  399. 

Braut,  falsche  89.  451.  Braut  fanden,  stehlen 
14.  Brautbett  148.  266  f.  Brautempfang 
265.  Brautbaus  160.  Brautkranz  147. 
Brautlauf  13  f.  265  f.  Brautüed  166.  Braut- 
wagen 265.    Brautwerbung  146.  156. 

Breslau  18.  21. 

Breunen  99. 

Brot  bei  Sterbefällen  verteilt  175. 

Brotbacken  52. 

Brück  a.  d.  M.  279. 

Bructerer  241. 

Brüder,  drei  findige  %. 

Brünhildensage  361. 


Register. 


471 


Brunhildestuhl  354.  360. 
Bugge  339. 

Bulgarische  Märchen  113. 
Bundbrüderschaft  103.  105  f. 
Bungler  447. 

Bürstenbinderstochter  221). 
Bütner,  W.  63. 
Buttermilch  175. 
Bystervelt  425. 

Catulls  Galliambus  98. 

Cechische  Volkskunde  113. 

Chauken  241. 

S.  Chopinette  431. 

Christkiudlspiel  308. 

Christus  und  Petrus  127. 

Cinderella  233. 

Citronen  152.  445. 

S.  Cloud  428. 

Cochem,  Marianus  von  208  f.  300-529. 

S.  Cochon  431. 

Cosquin,  E.  339. 

Cnpido  und  Psyche  202. 

Cursus  palii  19. 

Dachdeckung  162. 

Daidale  88. 

Dämonen  139. 

Dämonologie  450. 

Danaiden  58. 

Däumling  90. 

Dauslöper  4.    Daustriker  4.  6. 

Deutsche  in  Mähren  342. 

Deviuettes  110. 

Diele  261. 

Dille  45. 

Dimanche  des  brandons  350. 

Dodolafest  85. 

Domburg  423. 

Donnerkeil  40. 

Drache  japanischer  335. 

Dreikönigspiel  222. 

Druschman  343. 

Durchkriechen  als  Heilmittel  232. 

Egl  Stephan  342. 

Ehebedürfnisse  175. 

Ehehalten  46. 

Ehen  zwischen  Blutsverwandten  115. 

Eidbruder  104. 

Eier  39.    Eierlauf  17. 

Eigennamen,  scherzhafte  416  ff. 

Ein  Fähnrich  zog  184. 

Eins,  Jahr  434. 

Eisen  gegen  Zauber  29.  34.  39. 

Elephantenwirtshaus  280.  283. 

Elsasser  Adamspiel  221. 

Emoritische  Gebräuche  24  fi.  130  ff. 

Entlebucher  Huldigung  16. 

entsehen  388. 

Ephesia  grammata  131. 

Erbgang  54. 

Erbsenwerfen  148. 

Erler  Passion  221. 

Erntefeste  10.  277. 

Erzherzog  Joseph  346. 

Es  hat  sich  ein  Fähnrich  178. 

Es  lebten  zwei  187. 

Essenruf  48. 


Etrusker  99. 
Etschländereien  398. 
Eulennamen  112. 
Eunapios  448.  450. 

Fackellaut'  274.  355. 

Facken  50. 

S.  Fadou  431. 

Faeringer  165. 

fseröisches  Volksleben  155  ff.  285—293. 

Fasten  49.  Fastnacht  272.  371.  Fastnachts- 
feuer 353  ff.  360.  Fastnachtspiele  Regens- 
burger 342.    Fastnachtsonntag  351. 

Fatsche  207. 

Fehnkultur  396. 

Fehrbellin,  Schlacht  125. 

Feige  (la  fica)  26. 

Feldarbeit  398  f. 

Fenster  verstopft  29. 

Festruhe  272. 

Feuer,  Gebräuche  27. 

Feuerbrand  34.    Feuerrad  353.  359. 

Feuerstatt  45.  47. 

Fink  Vatter  383. 

Finkenritter  437. 

Finn  384.    Finnen  235. 

Fischdörrhaus  164.    Fischfang  166. 

atzein  271. 

Flachsbau  399. 

Flatnitzalpe  1.  10. 

flechten  388. 

ileischdörrhaus  164.    Fleischkost  154. 

flet  262. 

Flurumritt  9. 

Flüstern  der  Heilsprüche  138. 

F'olklore-Kongress  338.  Folklore,  belgischer 
111.    von  Poitou  HO. 

Formeln,  dunkle  131. 

iüstrbrodir  104.    föstbrredralag  103.  106. 

fostri  104. 

Franck,  Sebastian  356.  369  f. 

Frau,  treue,  Märchen  463. 

Frauentreue  von  M.  Erythräus  63. 

Frauenwettlauf  18  f.  460. 

freie  Knechte,  freie  Töchter  20.  21. 

Freimann  20. 

Frerichs  409. 

Freundschaft  trennen  134. 

Friauler  Liedchen  329  f.  411  f. 

Friedrieh  Karl,  Prinz  128. 

Friesen  241  f.  246  f.  376  f. 

Fritz,  der  alte  124.  126. 

Frühgeburt  142. 

Frühlingsfest  358  f.    Fr.feuer  349  f. 

Fuchs  135.    F.schwanz  26.  F.zahn  141. 

Funken  28.     Funkensonntag  350.  360. 

Gaidoz  232. 

Galdr  101. 

Galgensplitter  141. 

gänga  undir  j  ardarmen  106.  224. 

gängeln  272. 

Gans,  goldene  173. 

Gänsefüsse  139. 

Garbe,  letzte  11. 

Gebet  42. 

Geburt  149.  264. 

Gefesselte  Götter  89.  448. 

Geegoe'd,  Baron  419. 


472 


Register. 


Gelbbrote  155. 

gemeiner  Weiber  Wettlauf  19. 

Geruch  438  f.     Genichsvermögen  440. 

Geschichte  im  Volkssinn  117. 

Geschirr  263. 

Gestaltenwechsel  25.  102.  390.  453. 

Getränke  154. 

Gevaert  419. 

Gheel  426. 

Glasstube  165.  291. 

Glockeninschrift  256. 

Glückshafen  459. 

Glückskugel  368.     Glücksrad  367. 

Glückswirkung  28. 

Godarville  467. 

S.  Goinfrain  431. 

Gossensass  40  f. 

Götter,  gefesselte  89.  448. 

Gottfried  von  Strassburg  367. 

Grabinschriften  280  f.  284. 

Graf  254.    Gr.  v.  Rom  61—64. 

von  den  sieben  Grafen  61  f.  462. 

Graumäunlein  171. 

Grenzbegaug  17.     Grenzlauf  16  f. 

Grenzen  151. 

grindabod  285. 

Gröllhesl  208. 

Grossmutter  des  Teufels  386. 

Grozdanka  88. 

Gschnalsjuchzer  174. 

Guckuek  97. 

gudensdäg  394. 

Guirlandenrcnnen  18. 

Gürtel  379.    Gürtler  446. 

Haar,  geschorenes  24. 

Hagelfeuer  353.    Hagelrad  362. 

Hager,  Georg  59. 

haghetisse  387. 

Hahn  31.  383.  Hahnenfüsse  139.  Hahnen- 
ritt 14.  Hahnentanz  12.  460.  Hahnjürs  372. 
Hahnopfer  371. 

Halberstadt  6.  370. 

Halleiner  Spiele  222. 

Halligen  377. 

Hammeltanz  12. 

Handel  402. 

Hände  verschränkt  33. 

Hansmnff  273. 

Hans  mein  Igel  204. 

hantig  441. 

Harzsagen  109. 

Hauben  der  Braut  148. 

Haus,  friesisches,  sächsisches  263.  Hausarbeit 
52.  Hausbau  43.  161.  257-264.  Hausfrau 
46.  Hauseinrichtung  43.  Haushochzeit  161. 
Hausinschriften  278.  Hausname  54.  Haus- 
sprüche 43. 

Haut  Saone  234. 

S.  Hebmet  431. 

Hegel  450. 

Heide  397.     Heidebauern,  Heideboden  67. 

Heigras  4. 

Heilige,  ersonnene  430,  parodische  427. 

Heimat  54. 

Heiratsantrag  146. 

Heiratsmann  452. 

Hemd  377. 

Hennekled  269. 


Hennen  265.  267.    Heunenritt  14. 

Henry,  V.  57. 

Herd  50.  261.  266. 

Hruberg  360. 

Heuschreckenei  141. 

Hexen  39.  86.  172.  348.  387  f. 

Hexenbrennen  352.  355.  371. 

Hexentanz  391. 

Hienzei  in  Ungarn  67. 

hikken  un  sprikken  91. 

Himmelsmammele,  -tatta  54. 

Hirsch  135. 

Hirsmontag  353. 

Hirtenfeste  5.    Hirtenspiele  3. 

Hochfilzen  1. 

Hochzeitabend  157.  H  bitter  147. 156.  H.bräuche 
färöische  156.  saterländ.  264.  schlesische 
146-49.  Hessen  147.  266.  H.geschcnkc 
148.  152.  157.  159  —  61.  H.laduug  265. 
H.tag  ^66.    H.trunk  266.     H.zug  147.  159. 

Holepfannfeuer  353.  364. 

Holz  43.    H.weibel  97. 

Honig  397. 

Honorius  von  Autun  372. 

Höritzer  Passion  208. 

Hose  379.    Hosenlaufen  17. 

Hosclipreis  beim  Wettlauf  19. 

Hühner  31.  38.  51.    H.nest  39. 

Hund  135.     Hundstein  1. 

Hutzelsonntag  350.  358. 

Hydromantie  27. 

Ich  hab  als  armer  Tischlergesell  188. 
Ich  stand  auf  hohem  Berge  17S. 
Illyrier  99. 

In   Böhmen  liegt  ein  Städtchen  182. 
In  einem  Städtchen  in  einem  tiefen  Thal  185. 
Incantamenta  gr.  et  lat.  341. 
Indische  .Märchen  108. 
Inschriften  aus  den  Alpen  278. 
-   z.  german.  Mythol.  231. 
Inv.K-avitfeuer  350.  352.  360. 
Isarthal  93. 

Jahr  Eins  434.     Jahrgeschenke  150. 

Japan  324. 

.Iccminek  343. 

Jeverland  263. 

Jochberg  1. 

Johannes  Boemus  349.  357.  369. 

Johauuisfeuer  349.  354.  369.    Johannisrad  359. 

Johannistag  351. 
Judasbrennen  355. 
Jude,  ewiger  344. 
Jungfrauen,  drei  93. 
Jura  243. 

Kabul  137. 

Kampfspiele  1. 

Kanaaniter  139. 

Karfreitag  4. 

Karl  d.  Gr.  246.     Karl  IV.   120. 

kärntisches  Passionsspiel  320. 

Karrenrennen  10. 

Kartoffeln  155. 

Kasertörggelen  172. 

Käserindeis  Tochter  230. 

Kässonntag  351. 

Katzen  50.  353.  390. 


Register. 


473 


Kei  423. 

Kerl  44. 

Kindbetterin  41. 

Kinderlied  46. 

Kinderpredigt  120.    K.tod  176. 

Kindergeisterzug  172„ 

Kirchenabbildungen  iio. 

Kirchgang  der  Wöchnerin  14.'. 

Kirmsse  11. 

Kleider  als  Preise  19.  460. 

Kleidung  52. 

Klibna  468. 

Knaust,  Heinr.  62. 

Knochengalgen  4     Knocbenopfei  5. 

Knoten  der  Winde  gelost  449. 

Kochen  beschleunigt  36. 

Kochlöffellaufen  17. 

Konfirmationsfeier  145. 

Königshusaren  177.    K.ritt  46b. 

Körnleinsuchen  150. 

Kortrijk  422. 

Kosmogonie  464. 

Köteldümke  90. 

Kränze  147.  152. 

Kreuzesnagel  141-  n„ 

Krippelspiel  aus  Hitzendort  30o. 

Kuchelsonntag  351. 

Kuchenlauf  16.    Kucheuplatzen  154. 

Küngspachs  _Rhetonca  45J. 

Kupalniza  85. 

Kuren  (Volk)  234. 

Kurfürstenzeit  119. 

Kuss  erlösend  198. 

Laekja  165. 
LambS,  Lamböm  6. 
Lang,  Andr.  232.  234.  339. 
S.  Lärme  431. 
Lätaresonntag  9.  228.  35h. 
Lattich  32. 
Laube  45. 
laufende  Pferde  19.  459. 

lausen  197.  ,    ..     ,   ,. 

Leichenberührung,  heilend  ib. 
Leichenbitter.  Leichenschau  Jb.). 
Leichengebräuehe  151.  175. 
Leidiungfern  152.  _. 

Leiden  Christi.  Gurkthaler  Spiel  320. 
Leinöl  155. 

Lemke,  E.  238. 

Letten,  Lettgallen  234. 

S.  Lichard  43  L 

Lichter  bei  Leichen  28. 

Ljöarabogi  164. 

Littauer  235. 

Liven  234. 

Lorsch  34t). 

Löweneckerchen  200. 

Lubbert  421. 

Luftritt  391. 

Lügenlieder  435. 

Luilekkerland  436. 
Lukenrahmen  164. 
Lustig  ists  Soldatenlehen  185. 
S  Luyaert  430. 

S.  Maandag  431. 

MädchenwetÜaui  6.  11-  lb-M.  -- 

Magyaren  346. 


Mähren,  Deutsche  in  342. 
mährische  Volksüberlieferungen  113. 

äSSSÄ  7.  23.  276.  343. 
Maierafenfest  10.  468.  ^ 

Maisingen  343.    Maitauritt   i. 
Mannblrdt,  W.  3.  4.  378. 
Manningabuch 875. 
Mansteinscbe  Brigade  \K>. 
Mantel  379. 
Manzanillehaum  440. 

SÄ  ff.  237.336.452.456.463.466. 

Maren  392. 
Märkte  402. 

KSÄeht,  saterlandisches  250-52. 

Maurer,  K.  v.  239. 
Maul,  grösstes,  belohnt  461. 
Mäuse  389.  .  .         .  SF. 

Mein  Schatz  der  ist  im  Kriege  185. 
Meistersang  59.     Meistersinger  bS. 
Melodie  und  Text  84. 
Menschenopfer  9. 
Mikomaitauz  337. 
!  Milch  47.  50.  170. 
Milchbruder  104. 
Mimesis  449. 

mittelhochdeutsche  Dichterstellen  ob*. 

Mittwinter  269. 

Mollenland  427. 

Mondfinsternis  361.  .„„   «gg. 

Morgenländischer  Aberglaube  23.  130.  £»■ 

Mooranlagen  395. 

Möringer,  Sage  65. 

Muggel  469. 

Mühlen  399. 

Miinchener  Wettlaute  19. 

Münsterland  248, 

Münzen,  saterländische  loi. 

MÜÄ  das  deutsche  Leben  186 

Mvfcn,Lntstclnu1g.57.  r^hrng^; 
Mythologie,  germanische  Entw  ic  B  rang 
Mythus  und  Religion  340. 

Nachbarhilfe  269. 

Nachtjäger  96  f. 

Nacktheit  38. 

Nägelein  (.Nelken)  53.  m 

Namentausch  von  Mann  und  Hau  14- 

Nase  438. 

N  anders  465. 

Neger  341. 

Neujahvsapt'el  469. 

Neujahrsorakel  3(2. 

neunern  -ls  .    T1,..i  iqü 

Nicht  weit  von  hier  in  e    t.  1ha    WO. 
Nicht  weit  von  Württemberg  181. 
Niederländische  Scherznamen  415. 
Niederlausitz  11. 
niesen  132. 

Niklaslieder  92.  .„„ 

S.  Nimmerling,  B.  N">»«ermeev  432. 
nordfriesisch  263,  Tracht  377. 
Nördlinger  Laufen  19.  ü- 
Norg  171  f. 


474 


Register. 


Nom  388. 

nost  269. 

S.  Noywerc  430. 

0  Strassburg  182. 
Oberaudorfer  Passion  222. 
i  »herberger  See  173. 
Obergrnnder  Weibnachtspiel  215. 

uifer  68. 
Olireisen  376. 
olken.  ölkers  386. 

Opfer  9.  11.  365.  371.    O.feuer  365. 
Orakel  365.  372. 
Oramuschel  335. 
Ornamente  468. 
Ortsnamen,  scherzhafte  419  f. 
Ortsnamenkunde  Tirols  464. 
Ostern  274.  432.     O.bräuche,  böhmische    469. 
1 1.  teuer  274.  352-54.     O.spiele  5.  Oz.it  4. 
Ostfriesisch  242.  263.  377.  405. 

Palio  19. 

Palmzweig  44. 

panno  scarlatto  19. 

Papistenbuch  371. 

PaqueviUe,  (iraf  64  ff.  463. 

Paradeisspiel  208.  211.  218.  220  ff.  301  f.  327. 

Parchent  20  f. 

parodische  Namen  417. 

Paschen  274.  432. 

Passionsspi.de  20S-23.  300-329. 

Patengeschenk  149. 

Pelzlaufen  22. 

Pest  171. 

Petersfeuer  254.    Petri  Stuhlfeier  354. 

Petrus  und  Christus  127. 

Petrus  und  Johannes  5. 

Pflegbrüderschaft  105. 

Pferde,  laufende  19.  459. 

Pfingsten  5.  7.  275. 

Piingstaustrieb    4.      Pf.braut    9.      Pf.butz   8. 

Pf.käm  4.    Pf.könig  —in  275  f. 
Pfingsü    8.     Pf.quack    10.     Pf.reiten   6  —  9. 

Pf.schiessen  275. 
Pflugziehen  370. 
Pierenland  427. 
Pilgerlied  67. 
Plaierwater  436. 
Plattehorse  431. 

Plutarchs  quaestiou.  romanae  232. 
Poitou  110. 

Polidors  Lebenslauf  456. 
Popel  97. 
Poverendycke  431. 
Preise  beim  Wettlauf  19.  459  f. 
Pressburg  68. 

Prinzessin,  die  nicht  lachen  konnte  456. 
Pruimpaschen  433. 
Przemyslsage  114. 
Psyche  und  Cupido  202  f. 

Eahe  32. 

ranggeln  1. 
Rasengang  106.  224. 
Räten  (Rhaeti)  99. 
Rätsel  71.  110  f.  293. 
Rätselbuch  468.    Rätsellied  69. 
Raiichfiss,  Rauchfuss  7. 
Rauchstube  163.  291. 


Raute  446. 

Redlich  ist  das  deutsche  Leben  186. 

Regen,  Gebete  darum  334. 

Regenzauber  85. 

Reinhold  erlöst  die  Schwestern  204. 

Religion  56.  340. 

S.  Reynuit  430. 

riechen  441. 

Riegelwerk  162.  164. 

Rindendach  163. 

Ringspiele  1.  10. 

Rosen,  drei  198,  singende  199. 

Rosensonntag  357. 

Rosmarin  145.  147. 

rote  Bänder  147.    rote  Farbe  136. 

roter  Faden  26.  134.    roter  Lappen  26. 

Rübezahl  468. 

Ruchpflanzen  443. 

Russland  112. 

Saal  45. 

Sachs,  Hans  211. 

sächsischer  Haustypus  263. 

Sack  der  Winde  449. 

Sacklaufen  18. 

Sagen  im  Stubai  169  f. 

Sagenbildung  119. 

Salzburger  Paradeisspiel  221. 

Samstag  53. 

Sarg  269. 

Saterland  239-278.  373  ff.  Aberglaube  380. 
Feldbau  397.  Geschiebte  241.  248.  Handel 
402.  Herkunft  241.  kirchliche  Verhältnisse 
255.  Lebensweise  395.  403.  Mass  und  Ge- 
wicht 250  f.  Namen  243.  Poesie  408. 
Recht  und  Verfassung  248.  255.  Sitten 
264.  Sprache  405.  Tracht  373.  Viehzucht 
400.    Wohnung  257. 

Sau  15.  20. 

Säubrigkeit  51. 

sauer  441. 

Schäferlauf,  -spruug  11. 

Schäferspiel  aus  Mitterndorf  302. 

Schallen,  Lukas  64. 

Scharlachlaufen  19. 

Scharre]  246. 

Schätze  blühen  173. 

Scheibentreiben  349.  359. 

Scheitelfrisur  25. 

Scherznamen  im  Niederländischen  415  f. 

Schildhornsage  121. 

Schimpfscheiben  365. 

Schlachtschilderung  129. 

Schlafstellen  163. 

Schlange  37.  97.  115.  138.  203. 

Schlangenhaut  verbrannt  199. 

Scblangenkönigin  203. 

Schlaraffenland  436. 

Schlauch  der  Winde  449. 

Schlesien  6.  11.  18.  144  f.  226. 

Schleswig  13. 

Schlosssagen  469. 

Schluff  43". 

Schlüssellauf  14. 

Schmagoster  348. 

Schmalzapfel  445.     Schmalzblume  8.  9. 

schmecken  440.    Schmecker  446. 

Schneiderleins  Glück  452. 

Schnickerle  155. 


Register. 


475 


»chofsonntag  350. 

Schopf  24. 

Schreck  heilend  138. 

ScHürzenrennen  18. 

Schwaben  7.  11. 

Ichwedenzeit  119. 

Schwein  135.     Schweinskopf  270. 

ichweizerisches  Idiotikon  107. 

Ichwellehocken  154. 

Schwestern,  lispelnde  58  f. 

Schwingfeste  1. 

eelen,  Verbleiborte  237. 

eidr  101. 

einen  47. 

ehne,  Kindtaufschmaus  264. 

emgallen  235. 

ennerin  53. 

ieb  33. 

ieben  39.     Siebengezeit  444. 

iebenbürger  Sachsen  465. 

ist,  sist  379. 

iälkar  162. 

limmeke  419. 

ommerfäden  347.     S.gewinn  356. 

ommersonutag  228.  357. 

ommer-  und  Winterspiel  226.  344.  356. 

onntagsdienst  46. 

lämenn,  späkonnr  101. 

perher  als  Preis  20. 

peiseu  48.  152—154.  270.  404 

pielanger,  — berg,  — bühel,  — feld,  —  wang  1. 

pinnrocken  beim  Brautzuge  265. 

pinnstube,  faeröische  291. 

prachgrenze,  wendische  460. 

iringen  267.  276. 

prüche  49,    beim  Scheibenschlagen  362. 

pukgeschichte  97. 

;ams  465 

:apelholm  372. 

ieffentag  272. 

:ephansritt  13. 

einbauten,  unterirdische  342. 

:einer-Mandl  45. 

einschütten  161. 

eirisches  Passionsspiel  315. 

:erbende  melden  sich  176. 

ickelband,  stukelband  375. 

ickerei  377. 

iergestalt  des  Zauberers  453. 

inken  443. 

.reiclielband  375. 

rohpuppe  verbrannt  355. 

ubaithal  169  f. 

:ube,  gute  54. 

laheli  236. 

innwendfest  10.  359. 

innwendfeuer  350. 

ippe,  platschuass  47. 

ibacklaufen  17. 

igeslauf  der  Arbeit  47. 
m  z  158  f  276.  335. 
mbe  48.  204. 
uifeu  149.  152.  264. 
ufr  102. 
^Herlaufen  17. 
;ufel  175.  382  f. 
leophilus  348. 
Therese  41. 


Tiere  50.    gespenstische  170. 
Tiergestalt  verstorbener  170. 
„  verzauberter  195. 

Thorah -Wimpel  205. 
Thuner  267.  276. 
tilberi  225. 
Tilly  120. 
Tirols  Urbevölkerung  99. 

„      alte  Ortsnamen  464. 
Tisch  48. 
tison  de  Noel  34. 
ti'soene  380. 

Töchter  Gottes  213.  328. 
Tod  und  Begräbnis  150  f.  268  f. 
Todaustreiben  9.  356  f.  468. 
tor  347. 

Torfdach  163.    Torfgraben  397. 
Tosefta  24  f. 
Tote  32  f.  238. 

Totengriff  25.    T.waclic  175.  T.weg  265. 
S.  Touche  431. 
Tracht,  friesische  374,  Saterländer  373,  schle- 

sische  144,  tiroler  53. 
Traueressen  153. 
Trauung  147.  265.  267. 
fcrefoir  34. 
treue  Frau  62. 
Trinkspruch  133. 
Tuch  als  Preis  19. 
Tunsker  272. 
Twerasor  Passion  213. 

Unland  67.    Unlands  guter  Kamerad  79. 
Ungeschicht  171. 
Uppsalastudier  339. 
Urin  37. 

Vajapejaopfer  22. 

Vampyr  35. 

Verbrennen  der  Tierhaut  199. 

der  Habe  des  Toten  137. 
verkehrtes  Thun  beim  Zauber  33. 
Verlobung  264. 
Vesperessen  155. 
Viehzucht  400. 
Villotte  l'riulane  329  f.  411  f. 
Volksdichtung  79.  467. 
Volkshumor  344. 
Volkskunde,  Anfänge  469.     von  Belgien  111. 

Böhmen  113.    Poitou  110.    Russland  112. 
Volkslieder  114.    böhmische,  hessische  176  f. 

337.  467.    fteröische  292.    friaulische  329. 

Saterländer  408. 
Volksmedicin  115.  232.  345. 
Volkspoesie  467. 
Volksrätsel  71.  293. 
Volksschauspiele,  geistliche  208—223.  300  bis 

329.     Sechische  114     polnische  115. 
Volksschwänke  115.  344. 
Vollbauchabend  270. 
völva,  völur  101. 
Vordernberger  Paradeisspiel  211. 
Vorgeschichte  der  Mark  123. 
Vorspuk  381. 
Vorzeichen  135. 

Wachholder  445. 
Wächter,  L.  64. 
Wahlbrüderschaft,  bulgarische  113. 


476 


Register. 


Wahrsagerei  101.  380. 

Waldmensch  174. 

walen  277. 

Walfischfang  286. 

Wallburgen  94. 

Walriderske  38'.).  392. 

Wams  378. 

W  angerooger  376. 

Wappenbüder,  redende  429. 

Waschekräuter  445. 

"Was  hört  man  jetzt  neues  189. 

Wasen  46. 

Wassergeister  13.    W.guss  35  f.   WJaufen  17. 

VV.vogel  8  f. 
Waterlanders  43  f. 
Wattcnwill,  Graf  403. 
\\  eilmachtsblock  34.    W  .messe  174.    W.pferd 

168.     W.spiele  68.   111.  211.  215.  327.  343. 

Wtanz  370. 
Weihrauch  445. 
Weissagen  380. 
Weissdorn  29. 

Weisser  Wolf,  Märchen  196.  201. 
Welcker  tön. 
Welt,  verkehrte  436. 
Wenden,  Lausitzer  345.  460. 
Wenn  mau  in  späten  Enkeltagen  188. 
Wepelrute  270. 
Werwolf  35.  393. 
Westfalen  6.  248.  252. 

nesen  245. 
Wettkämpfe,   religiöser  "Charakter    1.  3.  7.  9. 

11.  23 
Wettlauf  1—23.  459. 
Wett-  und  Wunschlieder  67. 

rglocken  173. 
wicejan  381. 


Wichtel  171. 

Wiesel  135.  389. 

Wiesenbau  400. 

vdkje  380. 

Wildemannssage  347. 

wilder  Jäger  393. 

Wildmösersee  174. 

Wimpel  206. 

WiuJzauber  418. 

Witterung  der  Tiere  443. 

Wochenstube  29. 

Wuehentagsuamen  und  Personennamen  S7. 

Wöchnerin  149. 

Wockenhrief  195. 

Wodan  394. 

Wojnjäger  394. 

Wolf  Königssohn  201. 

Wnlf  mit  dem  Wockenbriefe  189.  336. 

Wolfsgestalt  der  Dämonen  35. 

Wolke  448  f. 

Wunsdag  395. 

Wursten  263. 

Zahlen,  gerade  und  ungerade  26.  S8. 

Zaniiach.  J.  63. 

Zauber  i01.  380.  450. 

Zauberknäuel  450. 

Zeit-  und  Ortsbestimmungen  432  f. 

zes>a  387. 

Zieten  126. 

Züchten  148. 

Zuckmantler  Passion  217. 

Zuträger  225. 

Zutrinken  154. 

i    e  124.  139.  386. 
Zwölfnächte  372. 


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S  248  7.  21  v.  u.  muslar.    Z.  19  v.  u.  rauslur  lies  mustür. 


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